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German Pages 354 [358] Year 2018
J bKG Band 20 · 2018 Franz Steiner Verlag
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte herausgegeben von Daniel Bellingradt Holger Böning Patrick Merziger Rudolf Stöber
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte Band 20
Publiziert mit Unterstützung der Stiftung Presse-Haus NRZ
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte JbKG 20 (2018)
Franz Steiner Verlag
ja h r bu c h f ü r ko m m u n i k at i o n s g e s c h i c h t e Herausgegeben von Daniel Bellingradt (Erlangen), Holger Böning (Bremen), Patrick Merziger (Leipzig) und Rudolf Stöber (Bamberg) beirat
Frank Bösch (Potsdam), Hans Bohrmann (Dortmund), Norbert Frei (Jena), Dagmar Freist (Oldenburg), Joan Hemels (Amsterdam), Arnulf Kutsch (Münster), Maria Löblich (Berlin), Reinhart Siegert (Freiburg), Bernd Sösemann (Berlin), Jürgen Wilke (Mainz) r e da k t i o n
Wilbert Ubbens, Mendestr. 25, 28203 Bremen, [email protected] rezensionen
Jun.-Prof. Dr. Daniel Bellingradt, Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Buchwissenschaft, Katholischer Kirchenplatz 9, 91054 Erlangen, [email protected] Jun.-Prof. Dr. Patrick Merziger, Universität Leipzig, Institut für Kommunikationsund Medienwissenschaft, Burgstr. 21, 04109 Leipzig, [email protected] www.steiner-verlag.de/jbkg Hinweise zur Manuskriptgestaltung unter www.steiner-verlag.de/programm/jahrbuecher/ jahrbuch-fuer-kommunikationsgeschichte/publikationsrichtlinien.html
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Druck: Laupp & Göbel, Nehren Satz: Annegret Ullmann, Ganderkesee Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 1438-4485 ISBN 978-3-515-12239-9 (Print) ISBN 978-3-515-12254-2 (E-Book)
Inhalt
FORUM KOMMUNIKATIONSGESCHICHTE
Massimo Rospocher (Trient) What Is the History of Communication? An Early Modernist Perspective…………………………………………………….…….... 9 Daniel Bellingradt (Erlangen-Nürnberg) Annäherungen an eine Kommunikationsgeschichte der Frühen Neuzeit……………………………………………………………… 16 Maria Löblich / Niklas Venema (Berlin) Kommunikationsgeschichte in der Kommunikationswissenschaft …... 22
AUFSÄTZE
Simone Zweifel (St. Gallen) Ein Blick hinter die Produktion von Kompilationen im 16. Jahrhundert am Beispiel Johann Jacob Weckers………...………... 27 Alexandra Schäfer–Griebel (Mainz) Die Arbeitspraxis im Nachrichtendruckgewerbe. Religionskriegsnachrichten im Heiligen Römischen Reich um 1590..... 42 Heiko Droste (Stockholm) Das Geschäft mit Nachrichten. Ein barocker Markt für soziale Ressourcen…………………………………………………………... 71
MISZELLEN
Klaus-Dieter Herbst (Jena) Der Schreibkalender der Frühen Neuzeit und seine Autoren. Ergebnisse der Forschung. Mit einer Personalbibliografie seit 2006… 94 Albrecht Hoppe (Berlin) Das »Schottische Moorhuhn« – oder: Vom Nutzen und vom Niedergang der »Zeitungsberichterstattung« preußischer Verwaltungsbehörden (1722–1918)………………………..………. 125 Holger Böning (Bremen) Von »Lügen-Presse«, »Fake-News« und »Medien-Mainstream«. Gedanken zu einigen Neuerscheinungen zum Thema und zum Zustand der gegenwärtigen Presseberichterstattung………..………... 144 Rudolf Stöber (Bamberg) Kommentar zur Miszelle von Holger Böning…………….….…….. 179 Buchbesprechungen……………………………………………….. 183 Bibliografie (Wilbert Ubbens, Bremen)……………………..…………. 243 Register……………………………………………………………. 353
Emmy Moepps † Wir trauern um Emmy Moepps, Mitarbeiterin und innovative Pressehistorikerin über Jahrzehnte am Institut für Deutsche Presseforschung an der Universität Bremen. Sie starb in ihrem 90. Lebensjahr am 4. April 2018. Als Autodidaktin teilte sie die Begeisterung für die von ihr bearbeiteten Quellen mit der von ihr bewunderten Else Bogel, die maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die Frühgeschichte der Zeitungspresse aus dem Dunkel geholt wurde, in dem professionelle Historiker sie bis in die 1970er belassen hatten. Ohne den Bogel/Blühm wüssten wir nur wenig über das erste Jahrhundert der deutschen Zeitungspresse. Zur Universität von Emmy Moepps wurde die Zusammenarbeit mit Martin Welke, dessen Begeisterung für die historische Zeitung sie mit ihm ebenso teilte wie die Überzeugung, dass zur Erhellung der Pressegeschichte eine quellenorientierte Grundlagenarbeit nötig ist. Zu diesem Zweck erarbeitete sie mit ihm eine aus zehntausenden von Karteikarten bestehende Datenbank zur Presse des 18. Jahrhunderts und trug eine Bibliothek zur deutschen Pressegeschichte zusammen, die bis heute grundlegendes Arbeitsmittel der Bremer Presseforscherinnen und Presseforscher ist. Ihre Arbeiten waren mitverantwortlich für das gemeinsam mit dem Autor dieser Zeilen entwickelte Programm eines biobibliographischen Handbuchs der deutschen Presse, das sich das Ziel stellte, Ort für Ort des deutschen Sprachraums ein auf Autopsie beruhendes Verzeichnis der Periodika – Zeitungen, Zeitschriften, Intelligenzblätter, Kalender, Almanache, Jahrbücher, Neujahrswünsche, periodisch erscheinende Notendrucke, Predigtentwürfe usw. usw. – zu erstellen, das umfassend über Erscheinungsform, Akteure und Inhalte der periodischen Presse informiert. Für Hamburg und die Nachbarorte dieser Stadt hat sie gemeinsam mit mir gut 1250 dort erschienene periodische Drucke ausfindig gemacht, per Fernleihe nach Bremen beschafft und sie bibliografisch und nach ihren wichtigsten Inhalten beschrieben. In ihren Publikationen hat sie sich darüber hinaus mit dem russischen Zaren Peter auseinandergesetzt, der auch der Große genannt wurde, ihre Liebe aber galt dem großen Altonaer Arzt und Aufklärer Johann Friedrich Struensee, der mit tragischem Ende für einen kleinen Augenblick Geschichte schreiben durfte und dafür verantwortlich war, dass auf einem deutschsprachigen Territorium, dem dänischen Altona, erstmals für einen kurzen Augenblick die Freiheit der Presse Realität werden konnte. Die Zusammenarbeit mit Emmy Moepps über viele Jahre war ein großes Geschenk, das mich mit Dankbarkeit erfüllt; mit ihr durfte ich einer eindrucksvollen Frau begegnen: warmherzig, stilsicher, uneigennützig und von unübertroffener Menschenkenntnis. Für die Herausgeber, Holger Böning
Forum Kommunikationsgeschichte Das ›Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte‹ widmet sich seit nunmehr 20 Jahren der Vielfalt an möglichen Zugängen und interdisziplinären Perspektiven zu historischer Kommunikation. Die anhaltenden Fragen zu Konturen, Werkzeugen und Denkmustern kommunikationshistorischer Erkenntnisinteressen geben uns Anlass, ein Beitrags-Forum zu begründen, dessen Grundfrage »Was ist Kommunikationsgeschichte« in den nächsten Jahren aus unterschiedlichen Forschungsrichtungen und aus dem Blick auf verschiedene Epochen erörtert werden soll. Die bewusst kurz gehaltenen und mit wenigen Anmerkungen versehenen Beiträge dieses Forums sollen fragende, einordnende und anregende Impulse geben, um »Kommunikationsgeschichte« innerhalb historisch arbeitender Disziplinen konzeptionell zu schärfen. In diesem Sinne werden die einzelnen Beitragenden das eigene (fachliche) Verständnis von Kommunikationsgeschichte vorstellen, begründen sowie Potentiale und Grenzen der eigenen Ansätze erörtern
Massimo Rospocher
WHAT IS THE HISTORY OF COMMUNICATION? AN EARLY MODERNIST PERSPECTIVE 1. WHAT IS THE HISTORY OF (EARLY MODERN) COMMUNICATION? Communication today is one of the principal fields of historiographical enquiry. Nowadays, it seems evident that in order to understand the past of a given society it is necessary to know how its communicative system functioned. So too scholars of the early modern period have demonstrated the necessity of a historical approach to communication, assessing it within the social, political, material and cultural context of preindustrial Europe. But what do we mean when we talk about the history of early modern communication? What distinguishes it from the history of the media? What are the objectivities and modalities used to reconstruct this history? At present, an agreed definition of the history of communication does not exist. Instead, we confront a broad domain of research in which media studies, the history of information, media history, communication research, literary studies, social and cultural history, and the history of publishing converge. In trying to delimit the analytical scope of a field that crosses disciplinary boundaries and is still in a phase of formation, it is appropriate to adopt an inclusive and pragmatic notion of the history of communication; inclusive both from the point of view of communicative processes and from that of the media involved. Rather than as a fully conceptualized field, communication history can be conceived in broad terms,
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Massimo Rospocher
»understanding it as written, spoken, or other mediated representations of signifying events and practices in the past«.1 In general, as Robert Darnton has written, the history of communication has as its object »the problem of how societies made sense of events and transmitted information about them«.2 More specifically, the aim to historicize a phenomenon like communication – a term that emerges and enters into the political vocabulary of early modernity – means considering not only messages, but also the manner in which they were transmitted and the social actors involved in the production and reception of communicative acts. Thus, the history of communication analyses methods of collecting information and modes of interpreting it; interactions between the instruments involved in disseminating it, sharing it, censoring it or falsifying it; the spaces and agents engaged in communicative processes; the effects of the media on the daily lives of individuals and more generally on historical processes. In the last two decades this inclusive history of early modern communication has seen important innovations in its approaches, concepts, and methodologies. From a theoretical point of view, historians of the early modern period have questioned and redefined some of the interpretative models and fundamental concepts of the historical study of communication, such as those of the public and private sphere, or of propaganda. The focus has shifted from the message to the medium, and then from the study of (individual) media towards the analysis of the mediality of history. Currently, much attention is being paid to the intermediality integral to the communicative systems of the ancien régime, based on the assumption that, then as now, communication was conveyed in and to countless combinations of intended and actual publics, meanings, and effects, and in myriad forms, including images, performances, rituals, objects, and spoken, sung, manuscript, and printed words interacting with each other. In the following pages, I seek to survey the state of this discipline in Italy, shed light on the original contribution of Italian historiography to this field of research, and finally to point towards some new methodological perspectives and possible risks in the near future of the history of communication. 2. EARLY MODERN ITALIAN HISTORIOGRAPHY AND COMMUNICATION For decades, communication has had only a marginal role in Italian historiography.3 Still now, the history of communication struggles to find its academic niche and is almost absent from the curricula of history faculties. There is no scientific journal in
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Peter Simonson / Janice Peck / Robert T. Craig / John P. Jackson, Jr.: The history of communication history. In: Peter Simonson et al. (ed.): The handbook of communication history. New York: Routledge 2013, p. 13–57, here p. 13. Robert Darnton: An early information society: News and the media in eighteenth-century Paris. In: The American historical review, 105, 2000, p. 1–35, here p. 1. The influential »Empire and communications« by Harold Innis, for instance, was translated into Italian only in 2001; Harold A. Innis: Impero e comunicazioni. Roma: Nautilus ed. 2001. For an excellent historiographical overview: Gabriele Balbi: Una storia della storia dei media. Mappa di una disciplina in formazione. In: Problemi dell'informazione, 2, 2011, p. 163–192.
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Italian which concentrates on communication from a historical perspective. More specifically, there is an almost complete lack of works of synthesis examining the question of communication in the early modern period.4 Only since the 1990s have Italian early modernists shown explicit interest in communication as a historical theme. Prior to that, Italian historiography confronted the question of communicative processes and practices only in an implicit manner, within established research fields and without being made explicit or theorized. What has changed, above all, is the emphasis on the communicative element in historical processes, or rather the accent on this element in the ambit of »traditional« subjects of study. For example, we can point to the history of diplomacy, whose lexicon has been studied as a language of political communication and as an operative praxis from the perspective of the control and manipulation of information.5 In the field of religious history, the impact of various media, including vehicles of communication such as preaching and cheap print, have been the subject of increasing attention.6 The history of political thought has historically analysed and debated some important categories of early modern communication, above all that of public opinion.7 In the new political history, the emphasis on communication has meant greater interest not just in the message, but also in the audience and the messengers involved in its transmission as producers or intermediaries.8 And there has been some examination, in a comparative perspective, of the public character of the law, its communicative dimension and modes of divulgation in the urban spaces of early modern Europe.9 Among the reasons one might cite for what was in the past an essentially implicit history of communication, is a certain reluctance demonstrated by Italian historiography with regards to conceptualization. German historiography, in comparison, boasts a more developed theoretical tradition; thanks also to the influence of thinkers such as Habermas or Luhmann who have put early modern media and communication at the centre of their philosophical and sociological reflections. However, the current organization of research and the mobility of younger generations of historians are rendering
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Among the exceptions: Sandro Landi: Stampa, censura e opinione pubblica in età moderna. Bologna: Il Mulino 2011. Isabella Lazzarini: Communication and conflict. Italian diplomacy in the early Renaissance, 1350– 1520. Oxford: Oxford University Pr. 2015, p. 104–119. S. Dall'Aglio: Reading the preacher's voice. Sermons, orality and writing in Early Modern Italy. Oxford [forthcoming]; Massimo Rospocher: Il papa guerriero. Giulio II nello spazio pubblico europeo. Bologna: Il Mulino 2015. Sandro Landi: Naissance de l’opinion publique dans l’Italie moderne. Sagesse du peuple et savoir de gouvernement de Machiavel aux Lumières. Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2006. Filippo de Vivo: Patrizi, informatori, barbieri. Politica e comunicazione a Venezia nella prima età moderna. Milano: Feltrinelli 2012. Émilie Delivré / Massimo Rospocher: La legge e la piazza. Comunicare la legge negli spazi pubblici dell’Europa moderna. In: Christoph Cornelissen / Paolo Pombeni (ed.): Spazi politici, società e individuo: Le tensioni del moderno. Bologna: Il Mulino 2016, p. 135–162.
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such distinctions between different national historiographies ever more nebulous, as well as multiplying occasions for dialogue.10 Nonetheless, if not a national character or a defined theoretical input, it is possible to identify an original methodological contribution that can be attributed to Italian historiography on the history of early modern communication. Drawing both on Italy's strong philological and microhistorical traditions, recent research in the field of communication history has proposed a microhistorical analysis of political and social events and processes, bringing to light the dynamics and mechanisms that characterized the early modern communication system. Analysis of circumscribed contexts has allowed the ways in which international events were reflected in and influenced local experiences to be described, in addition to the investigation of how the instruments of communication contributed to the creation of a collective and shared memory of events. The reduction of scale has permitted historians to verify the practical use of various media on the part of individuals, not to mention to assess the level of agency of the social actors involved. Placing people at the forefront of their study, this approach has meant that one of the aims of the history of communication could be achieved: that of illuminating the gap between production and consumption-reception. By means of approaches typical of historical anthropology, for example, an investigation into a revolt that occurred in sixteenth-century Murano has been used to shed light on how the circulation of information through the media of the time (print, rumour, gossip, songs, proclamations read out or stuck up on walls) influenced the political actions of the people.11 The study of the image of a Renaissance pope became a paradigmatic case for reconstructing the mechanisms of political communication in the European public sphere, based on the constant interaction between various media in local and transnational contexts.12 Or the focus on an »exceptionally normal«13 event such as the Interdict against Venice in 1606 revealed the functioning of the structures of communication in an early modern urban context.14 Such an approach to communication has produced two principal results. Above all, it has thrown light on the action of new protagonists, and not just passive audiences, in communicative processes: artisans, shopkeepers, merchants, doctors, notaries who contributed to the pluralistic early modern public sphere. At the same time, the spatial turn in historiography has encouraged an interest in the physical urban spaces in which communicative acts such as conversations, performances, cries, songs and recitations took place. This has delineated a new topography of communication in which the streets, piazzas, taverns, markets and pharmacies have come to rank alongside more recognized spaces such as theatres, 10
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For instance, the international doctorate programme financied by DFG (»Politische Kommunikation von der Antike bis ins 20. Jahrhundert«) in cooperation among the universities of Frankfurt, Innsbruck, Bologna, Pavia, Trento and active between 2004 and 2015, which focused on political communication. Claire Judde de Lavirière: La révolte des boules de neige: Murano face à Venise, 1511. Paris: Fayard 2014. Rospocher (2015) (wie Anm. 7). The oxymor »exceptional normal« was introduced by Edoardo Grendi: Micro-analisi e storia sociale. In: Quaderni storici, 35, 1977, p. 506–520. Vivo (2012) (wie Anm. 8).
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churches and courts. More generally, the city has affirmed itself as the principal unit of measure for the history of early modern communication.15 3. NEW APPROACHES The microhistorical approach and the urban dimension are interwoven with other perspectives in the field of communication history. For example, the city was the theatre of that »culture or community of presence« (Anwesenheitsgesellschaft) in which communication was determined by physical presence, according to the theory elaborated by Rudolf Schlögl to understand media flows within the urban society of early modern Europe.16 A similar orientation has been proposed, if not theoretically developed, in the analysis of completely different contexts. In a region like Florida, for instance, deprived of a regular postal system and of print culture at least until 1730, personal and face to face exchange was the constitutive element of the network of communication which allowed the flow of information between the population of native Americans, but also between European colonists, throughout the early modern period.17 Jean Paul Ghobrial has analysed everyday practices of communication which took place between individuals in cities like Paris, London, and Istanbul during the XVII century. As part of the growing attention to the dynamics of circulation across geographic and linguistic barriers in early modern history, he shows how »wider information flows that connected Europe and the Ottoman world were themselves the product of interpersonal exchanges that took place at the small-scale level of everyday communication«.18 Quotidian practices of communication, based on face to face interactions, from the oral exchange of news to the circulation of gossip to the informal sociability of individuals, interacted with and were echoed by other media: the city was a »resonating box« within which the echoes of different media reverberated incessantly.19 The early modern city is also a hub for currents of information, a contact zone which enables translocal connections and lends itself to an analysis of communication that relates the micro and macro levels. In the history of communication too, one sees that intertwining of the local and the global suggested by the adoption of the term microspatial history; a translocal microhistory able to examine information flows across geographical and cultural borders in a society as politically fragmented as that of the
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Juraj Kittler: The city. In: Peter Simonson et al. (ed.): The handbook of communication history. New York: Routledge 2013, p. 273–288. Rudolf Schlögl: Politik beobachten. Öffentlichkeit und Medien in der Frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für historische Forschung, 35, 2008, p. 581–616; Rudolf Schlögl: Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit. In: Geschichte und Gesellschaft, 34, 2008, p. 155–224. Alejandra Dubcovsky: Informed power. Communication in the early American South. Cambridge: Harvard University Press 2016. John-Paul Ghobrial: The whispers of cities: Information flows in Istanbul, London, and Paris in the age of William Trumbull. Oxford: Oxford University Press 2013, p. 7. Daniel Bellingradt: The early modern city as a resonating box: Media, public opinion, and the urban space of the Holy Roman Empire, Cologne, and Hamburg ca. 1700. In: Journal of early modern history, 16, 2012, p. 201–240.
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ancien régime.20 A translocal microhistory also integrates and interacts with the perspective of a histoire croisée, a connected or entangled history of early modern media and communication.21 A microspatial approach to the history of communication allows us to confront one of the many challenges that the global approach imposes on historians. Among the risks of a global history of early modern communication is that of painting too impressionistic a picture of a connected world linked by the circulation of people, goods and objects or by currents of news, information and ideas. A translocal microhistory of communication presents an alternative to this problematic and anachronistic vision. Through the interaction between the micro and the macro, this approach offers a better way of representing the unevenness, patchiness and asymmetric nature of communication in the early modern world. Aside from the challenges posed by the global dimension of historical research, in coming years the history of communication cannot ignore the theoretical suggestions emanating from the social sciences and media studies. Acknowledging the irreducible differences between the »information society« of today and that of the early modern period, the connections between physical spaces and communicative spaces in communication flows recalls the concept of a »space of flows« outlined by the sociologist Manuel Castells22. The language of flows is used as a means of describing the circulation of social practices and of information in the digital age, in which industries simultaneously concentrate their activity and decentre it thanks to systems of electronic communication. Such theoretical abstraction could be historicized and applied also to the movement of news in preindustrial Europe, a system in which the international or global dimension of networks interacted with the local context, giving birth to a multiplicity of spheres of information, where urban centres acted as hubs of interaction. Once applied to the historical reality of early modernity, it is evident how the »language of flows« assumes very different meanings from those attributed by sociologists of the digital era; in particular, it should allow us to reveal an information society characterized by asymmetries, compared to the contemporary scenario in which uniformity seems to prevail. 4. CONCLUSION The notions that we live in a »connected world« and have entered an »information age« defined by digital communication for creating, disseminating and sharing information have motivated early modern historians to react to these generalizations and to reflect 20
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Christian Giuseppe de Vito: Verso una microstoria translocale (micro-spatial history). In: Quaderni storici, 3, 2015, p. 815–833. Paola Molino: Connected news. German Zeitungen and Italian avvisi in the Fugger collection (1568–1604). In: Media history, 22, 2016, 3/4, p. 267–295; Daniel Bellingradt: The dynamic of communication and media recycling in early modern Europe: Popular prints as echoes and feedback loops. In: Massimo Rospocher / Jeroen Salman / Hannu Salmi (Hg.): Crossing borders, crossing cultures. Popular print in Europe (1450–1900). Berlin: de Gruyter 2019 [im Druck]. On the socio-economic roots of this concept, see Manuel Castells: The informational city. Information technology, economic restructuring and the urban-regional process. Oxford: Blackwell 1989.
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on parallels with the past. Above all, they have sought to show how every historical epoch is an age of information.23 Through the analysis of networks of relations, historians have tried to backdate an important concept of today's communication, that of contemporaneity, or the perception, shared by a multitude of people, of living the same experience or being informed about the same event more or less at the same time.24 During many periods of history people have complained about the »information overload« that has been seen to characterize contemporary society, as when uncontrolled number of print publications began to appear towards the mid sixteenth century.25 Another typical phenomenon of contemporary communication, sensationalism, has been analysed historically, and its origins identified in Germany between the sixteenth and seventeenth centuries, in the context of a proliferation of printed information about heinous crimes, extraordinary events, natural disasters and catastrophes.26 Early modern historians have even considered the beginnings of fake news, of practices of disinformation and the problem of the manipulation of information, pointing to more or less audacious similarities with the past. It is obvious how all these studies risk falling into two of the capital sins of the historian: anachronism and presentism. Nonetheless, the weight of the present and the omnipresence of communication in the contemporary world reminds us that communication was not in fact something abstract in ancien régime societies. On the contrary, it was an amalgam of concrete practices and activities, sounds, words and images, people and material objects. Communication was an exchange closely interwoven into various moments of cultural, economic, political and social life and as such it had a major impact on the lives of men and women in the preindustrial age. Korrespondenzanschrift Massimo Rospocher, Ph.D. Istituto storico italo-germanico / Italienisch-deutsches Historisches Institut, Fondazione Bruno Kessler, V. S. Croce 77, 38122 Trento, Italia Email: [email protected] Massimo Rospocher is a full-time Research Fellow at the Institute for Italian and German Historical Studies and adjunct professor of Digital Humanities at the University of Trent
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Darnton (2000) (wie Anm. 2). Brendan Maurice Dooley (ed.): The dissemination of news and the emergence of contemporaneity in early modern Europe. Farnham: Ashgate 2010. Ann M. Blair: Too much to know: Managing scholarly information before the modern age. New Haven: Yale University Press 2010. Joy Wiltenburg: True crime: The origins of modern sensationalism. In: American historical review, 109, 2004, p. 1377–1404.
Daniel Bellingradt
ANNÄHERUNGEN AN EINE KOMMUNIKATIONSGESCHICHTE DER FRÜHEN NEUZEIT Mit dem vorliegenden Essay sollen Perspektiven kommunikationshistoriografischer Zugänge und Ansätze präsentiert und reflektiert werden. Ein solches nach Potentialen und Horizonten einer Kommunikationsgeschichte suchendes Unterfangen, in dem heuristische Modelle sowie systematische Analysemethodiken aus interdisziplinären Kontexten Anwendung finden, verlangt beizeiten auch nach terminologischen und konzeptionellen Festlegungen. In diesem Sinne verstehen sich meine Ausführungen als Beitrag und Vorschlag zu einer noch ausstehenden Theoriebildung darüber, was historische Kommunikation und ihre Erforschung ausmacht und umfassen sollte. Die in den folgenden Zeilen vorgestellten Überlegungen sind zwar aus den Blickwinkeln eines Frühneuzeitlers formuliert, aber erkunden ebenso übergeordnete kommunikationshistoriografische Erkenntnisziele und Fragestellungen. In diesen Annäherungen an eine Kommunikationsgeschichte (der Frühen Neuzeit) wird für eine inklusive Kommunikationsgeschichte plädiert, deren Konturen von einem weiten Kommunikationsverständnis sowie einem offenen Medienbegriff vorgegeben werden. Als Kommunikationsgeschichte lässt sich eine historiografische Perspektive beschreiben, die geleitet ist von einem Fokus auf menschliche Kommunikationen und deren medialen sowie sozialen Resonanzen. Resonanz wird hierbei als (mediale) Anschlusskommunikation zu zuvor beobachteten kommunikativen Vorgängen verstanden bzw. als diejenigen (sozialen) Auswirkungen, die in menschlichen Lebensräumen strukturierende Kraft erlangen. Eine derart verstandene Kommunikationsgeschichte analysiert die Medialität menschlichen Zusammenlebens vornehmlich aktions- und interaktionsorientiert, d.h. als kommunikative Praktiken und Aktivitäten, und fragt nach den Kontexten, Bedeutungen und Funktionen von menschlicher Kommunikation für Individuen und Kollektive.1 Ein interaktionsorientierter Zugang zu medialer und sozialer Resonanz setzt das Vorhandensein von individuellen kognitiven Beobachtungs- und Verarbeitungsleistungen voraus, die Kommuniziertes prinzipiell unmittelbar und mittelbar, direkt und indirekt, gleichzeitig und zeitversetzt wahrnehmen, in unterschiedlicher Art und Weise je nach eigenem Sinnhorizont intellektuell verarbeiten und potentiell Anschlusskommunikationen auszulösen vermögen. Als soziale Praxis ist Kommunikation auch zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert eine menschliche Aktivität, die bewusst und unbewusst stattfinden kann und die nicht zwingend an eine konkrete Beobachtungsverarbeitung gebunden sein muss – sei sie multisensorisch (akustisch, audiovisuell, olfaktorisch) erlebt, aus Erinnerungen aktiviert, oder durch eine zeichengestützte, d.h. schrift- oder bildbasierte, Medienrezeption ausgelöst. Es sind menschliche kommunikative Praktiken, die körperlich Ausdruck finden (z.B. Gestik, Mimik, Lautäußerungen), mittels körperlicher Präsenz aktional bzw. performativ darstellen (wie z.B. Tanz, Spiele, Demonstrationen) oder auf unterschiedliche 1
Exemplarisch zu aktions- und interaktionsorientierten Perspektiven von Kommunikationsgeschichte: Emanuel Kulczycki: Communication history and its research subjects. In: Analele Universitatii din Craiova, Seria Filosofie, 33, 2014, 1, S. 132–155.
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Art und Weise mediale Formen hervorbringen wie z.B. Sprache, Schrift, Bilder.2 Diese situativ und historiografisch wahrnehmbaren medialen Formen kommunikativen Verhaltens lassen sich phänomenologisch als Kommunikationsakte (»acts of communication«) bezeichnen. Hierbei gibt es prinzipiell keine Unterscheidung oder Hierarchisierung der medialen Formen nach Kriterien ihrer Materialität (z.B. bei in Stein geritzten Graffiti, papiernen oder pergamentenen Buchpublikationen) oder historiografischen Flüchtigkeit (z.B. bei mündlichen oder performativen Kommunikationsakten). Zur Analyse von Kommunikationsakten und ihrer kulturhistorischen Kontexte ist eine Berücksichtigung der ausgewählten Kommunikationssituation und des sie rahmenden Kommunikationsprozesses vonnöten. Mit anderen Worten formuliert, geht jeder Momenterfassung eine Einordnung in größere Zusammenhänge voraus. Zur Analyse einer Kommunikationssituation (»communicative setting«) ist folglich ein multiperspektivischer Blickwinkel geboten, der gewährleistet, dass quellenkritisch die relevanten ereignis-, struktur- und wirkungshistorischen Rahmungen eines »eingefrorenen« Moments erfasst und berücksichtigt werden können. Bei der Analyse von Kommunikationssituationen ist es wichtig, die jeweiligen potentiellen und tatsächlichen situativ einwirkenden »Eigengesetzlichkeiten«3 des Moments zu vergegenwärtigen. Kommunikationsakte eines bestimmten Moments sind u.a. abhängig von geografisch-territorial unterschiedlich ausgeprägten regulativen und befördernden Faktoren wie dem Vorhandensein von (Medien-) Gesetzgebungen und deren Normdurchsetzung oder Kommerzialisierungsgraden bei der Produktion von Schrift- und Bildmedien. Zur Berücksichtigung des Kommunikationsprozesses gehört – in den Worten von Frank Bösch – also eine Thematisierung der »kulturellen Konstellation«4 der betrachteten Kommunikationsakte. Mit der Erfassung des kommunikativen Prozesses und der darin »eingefrorenen« Kommunikationssituation geht eine historiografische Positionierung einher, die tendenziell überregionale Zusammenhänge erfasst und Besonderheiten von Kommunikationsakten und -wirkungen auf verschiedenen Ebenen konturiert. Mittels eines Blickes auf die kulturelle Konstellation werden vor allem Differenzierungen möglich, welche vor allem die Variabilität von Kommunikationsprozessen und Medienwirkungen hervorheben können. So gelingt beispielsweise eine umsichtige Bewertung der Verbreitung und Nutzung von »Medieninnovationen« (inklusive deren sozialen Auswirkungen), wenn die Eigengesetzlichkeiten des Kommunikationsprozesses ebenso berücksichtigt werden wie die kulturelle Konstellation. Als Beispiel: Die sogenannte Medieninnovation des vormodernen Buchdrucks mit beweglichen Lettern – in Europa an Gutenberg im 15. Jahrhundert orientiert und in Ostasien bereits um das Jahr 1200 erprobt – erscheint in einer differenzierten Betrachtung als unabhängig voneinander stattgefundene, jeweils kulturell
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Siehe exemplarisch das Plädoyer für ein weites Kommunikationsverständnis von Marco Mostert: New approaches to medieval communication. In: Marco Mostert (Hg.): New approaches to medieval communication. Turnhout: Brepols 1999 (= Utrecht studies in medieval literacy, 1), S. 15–39. Jörg Requate: Öffentlichkeit und Medien als Gegenstand historischer Analyse. In: Geschichte und Gesellschaft, 25. Jg. 1999, S. 32. Frank Bösch: Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen. Frankfurt a.M.: Campus-Verl. 2011, S. 38.
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begünstigte technische Mehrfacherfindung, deren kulturelle Nutzung und Verbreitung sowohl im asiatisch-europäischen als auch im innereuropäischen Vergleich in sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten, Ausprägungen und mit sehr unterschiedlichen Auswirkungen verlief. Um es in aller Kürze zu formulieren: Es ist eine besondere Anforderung und Leistung kommunikationshistoriografischer Ansätze, umsichtig und multiperspektivisch ausgewählte Situationen in längere Prozesse und kulturhistorisch relevante Kontexte zu positionieren und dort gebührend zu konturieren.5 Bei der Analyse einer historischen Kommunikationssituation werden im Idealfall alle für den »eingefrorenen« Moment relevanten Aspekte zur Bewertung der Kommunikationsakte und ihrer medialen Ausprägungen systematisch für die Kommunikationsgeschichte berücksichtigt.6 Eine solche Pluralbetrachtung ist Grundlage einer inklusiven Kommunikationshistoriografie. Neben den erwähnten kulturellen Rahmenbedingungen und möglichen rechtlichen, ökonomischen, politischen, infrastrukturellen und technischen Eigengesetzlichkeiten – der sogenannten historischen Bedingtheit der Situation – bedeutet dies vor allem eine Berücksichtigung aller beteiligten Akteure auf Initiatoren- und Kommunikatoren-Ebene. Ein solcher Ansatz fragt ebenso nach den von Initiatoren geprägten Phasen des Planens, also der ideellen Produktion von späteren Kommunikationsakten und deren medialer Ausformung, als auch nach den vielfachen Ausprägungsoptionen auf Kommunikatoren-Ebene – z.B. vom performativen Straßensänger über den an der materiellen oder organisatorischen Herstellung eines handschriftlichen Manuskripts beteiligten Akteur aus einer Schreibstube bis hin zu den an der möglichen Distribution beteiligten Akteuren, welche vom ambulanten Buchhändler (»Kolporteur«) bis hin zum Post- und Botenreiter reichen können. Ein breiter Blick auf die Sozialität kommunikativer Aktivität bedeutet grundlegend, die Interaktionsmuster medialer Produktion besser zu verstehen und beleuchten zu können.7 Geleitet vom Sozialitätsblick, ermöglicht sich fast zwangsläufig eine Perspektive einerseits auf die materiellen Bedingungen von Kommunikationsakten. Welche Materialien beispielsweise für ein Publikationsprojekt Voraussetzung sind, wie z.B. Druckpresse, Papier, Tinte, darf in der Bewertung von Kommunikationssituationen nicht vernachlässigt werden. Zugleich beeinflusst die Materialität bestimmter medialer Formen deren potentielle 5
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Vgl. Hans Bohrmann: Methodenprobleme einer Kommunikationsgeschichte. In: Manfred Bobrowsky / Wolfgang R. Langenbucher (Hg.): Wege zur Kommunikationsgeschichte. München: Ölschläger 1987, S. 46. Vgl. zur Modellierung einer zugleich synchronen und diachronen Perspektive auf historische Kommunikationssituationen Daniel Bellingradt: Flugpublizistik und Öffentlichkeit um 1700. Dynamiken, Akteure und Strukturen im urbanen Raum des Alten Reichs. Stuttgart: Steiner 2011 (= Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, Bd. 26), S. 34–35; Volker Depkat: Kommunikationsgeschichte zwischen Mediengeschichte und der Geschichte sozialer Kommunikation. Versuch einer konzeptionellen Klärung. In: Karl-Heinz Spieß (Hg.): Medien der Kommunikation im Mittelalter. Stuttgart: Steiner 2003 (= Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, Bd. 15), S. 9–48, bes. S. 45. Vgl. Jeroen Salman / Daniel Bellingradt: Books and book history in motion. Materiality, sociality and spatiality. In: Daniel Bellingradt / Paul Nelles / Jeroen Salman (Hg.): Books in motion in early modern Europe. Beyond production, circulation, and consumption. Cham: Springer International Publ. 2017 (= New directions in book history), S. 1–11.
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Wirkweise – ein gebundenes Buch verfügte über eine andere Funktionalität als etwa Flugpublizistik; eine gesprochene Predigt vermochte situativ eindrucksvoller den Zuhörer zu beeindrucken, während die gleiche Predigt in gedruckter Form potentiell nachhaltiger wirken und auch nicht vor Ort Anwesende in einen Kommunikationsprozess einbeziehen konnte. Eine Differenzierung zwischen adressierten Publika sowie den tatsächlich erreichten Rezipientenschichten ist hierbei grundlegend von hoher Bedeutung. Erstrebenswert sind zudem kombinierte Aussagen zu öffentlichen und klandestinen Aspekten von Kommunikationsvorgängen, da neben einem Fokus auf Massenkommunikation auch zwingend Fragen zur Individualkommunikation und zu den Momenten und Phasen kommunikativer Inaktivität bzw. Geheimhaltung bestimmter Personen und Personengruppen etabliert sein sollten. Mittels des Konzepts des Medienverbunds lässt sich die mediale Vielfalt eines Betrachtungsmoments oder -prozesses umsichtig würdigen. Verstanden als die mediale Vielfalt eines Kommunikationsprozesses in Gänze konstituiert sich der Medienverbund – wie eingangs erwähnt – als Folge von individuellen und kollektiven Beobachtungsleistungen und anschließenden kommunikativen Praktiken (aus denen mediale Äußerungen resultieren). Hierbei ist der Medienverbund phänomenologisch gekennzeichnet durch eine prinzipielle Kombinationsoffenheit (Permeabilität) und strukturell daraus möglichen Interaktionsmomenten. Mit dem naturwissenschaftlichen Begriff der Permeabilität (lat. permeare = durchgehen, passieren) sind die durchlässigen, offenen und prinzipiell vernetzenden Strukturen innerhalb der medialen Vielfalt berücksichtigt. Als heuristisches Modell dient der Medienverbund dem Verständnis von möglichen und tatsächlichen Beziehungsmustern innerhalb einer bestimmten medialen Konfiguration. Das bedeutet, dass einzelne mediale Komponenten aus der konzeptionell »eingefrorenen« gesamten medialen Konfiguration prinzipiell kombinierbar und somit anschlussfähig für weitere Kommunikationsakte sind. Aus einer multisensorisch »erlebten« Hinrichtung in der Frühen Neuzeit konnte leicht ein publizierter »Tatsachenbericht« mit Bildbeigaben avancieren, welcher wiederum neue mündliche Anschlusskommunikationen in einem typischen Mehrstufenfluss auszulösen vermochte: neue Gespräche über die beobachtete Hinrichtung bei Rezipienten der Publikation, eventuell weitere handschriftlich fixierte Berichte (Korrespondenzen in Briefform) über das sich nun formende Medienereignis und dessen Medialität, bis hin zu neuen Druckwerken, die das Thema ggfs. aufgriffen, variierten sowie beantworteten und damit im Medienverbund präsent hielten und in der Weltwahrnehmung und Weltdeutung der Zeitgenossen zu verankern vermochten. Eine solche Weiterverwendungsdynamik von medialen Komponenten konnte zum einen künstlerisch motiviert sein, wenn beispielsweise bei der Erstellung eines Einblattdruckes ein neuer Bildanteil in Kupfer gestochen werden musste und ein passender Textanteil einfach aus einem zeitgenössisch bekannten Lied genutzt wurde. Zum anderen dominierte neben sozialen Kalkülen einer exklusiven Weitergabe von Nachrichteninhalten (etwa im Fall von handgeschriebenen Zeitungen) insbesondere eine wirtschaftliche Motivation, gezielt Informationen aus dem Medienverbund weiterzuverwenden. Das Nachrichtenwesen der Frühen Neuzeit basierte, so lässt sich auf Theorie-Impulsen von Johannes Arndt aufbauen, zu einem Teil aus einem ökonomisch
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motivierten re-ordering von beobachteten medialen Komponenten.8 Der auswählende Grundmodus einer solchen schrift- und bildorientierten kompilierenden Verarbeitung angesichts vorliegender bzw. im Gedächtnis memorierbarer Medieninhalte charakterisiert nicht nur sehr präzise die epochetypischen Formen semi-journalistischer und gelehrter Schriftlichkeitspraxis (z.B. im Vorwurf der »Buntschriftstellerei«, bei Enzyklopädieprojekten, in jeder Weiterverwendung von Exzerpten anderer). Es war vielmehr geradezu epochentypisch für die Frühe Neuzeit, Themen, Texte und Bilder, die innerhalb der zahlreichen Varianten der handschriftlichen und gedruckten Medienspektren aufgetaucht waren, in neuen Anschlusskommunikationen multimedial zu verarbeiten oder/und in medialen Patch-Work-Schöpfungen weiterzuverwenden: in Flugpublizistik, in Kalendern, in handschriftlichen und gedruckten Zeitungen, in Zeitschriften, in Buchpublikationen. Die Praktiken dieses Neuzusammensetzens zeugen von einem Verständnis des Medienverbunds als inspirative Ressource und adaptiv zu nutzender Kompilations- und Kopien-Fundus. Dass beobachtete Kommunikation oftmals zu Anschlusskommunikationen führte, ist für die Kommunikationshistoriografie bereits als Befund wichtig; die Frage nach den Motivationen und Anlässen dieser Weiterverwendung von im Medienverbund zirkulierenden bzw. einmal wahrgenommenen Komponenten formuliert sich indes als eine wichtige Aufgabe einer Kommunikationsgeschichte der Frühen Neuzeit. Selbstverständlich berücksichtigt eine solche Perspektive auch jene Anschlusskommunikationen, die nicht nur das geschäftige Treiben von Autoren, Verlegern und Publizisten ergründen, sondern auch nach nicht-ökonomischen Beweggründen von Informationsweitergaben und Wissenstransmissionen fragen. Bezogen auf schrift- und bildbasierte mediale Formen der Frühen Neuzeit bietet sich historiografisch eine Verflechtungsperspektive an, welche die kommunikativen Dynamiken von Anschlusskommunikationen zum einen als Interaktionszusammenhänge und zum anderen als inspirierte, adaptierte und kopierte Recyclingprozesse kennzeichnet. Miteinanderverflochtene Interaktionszusammenhänge finden sich z.B. in der städtischen Lebenswelt der Epoche, die als urbaner medialer Resonanzraum verstanden werden kann, weil hier in erhöhter Art und Weise aktiv beobachtet und aufeinander bezogen mit sozialem Gestaltungswillen kommuniziert wurde.9 Die urbane Medialität erscheint als zusammenhängendes Gebilde des gegenseitigen Beobachtens und kommunikativen aufeinander Reagierens, in dem kommunikative Reaktionsketten eine Vielfalt an medialen Echos nahezu kontinuierlich produzieren und miteinander vernetzen. Dass (beobachtete und vermutete) Kommunikationsakte in urbanen Kontexten zunehmend selbst zum Thema werden – beispielsweise in selbstreferenziellen Flugpublizistik-Duellen – lässt sich historiografisch über eine auf Interaktionen ausgerichtete Verflechtungs-
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Johannes Arndt: Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit. Die publizistische Darstellung politischer Konflikte im Heiligen Römischen Reich 1648–1750. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 224). Vgl. Daniel Bellingradt: The early modern city as a resonating box: Media, public opinion, and the urban space of the Holy Roman Empire, Cologne and Hamburg ca. 1700. In: Journal of early modern history, 16, 2012, 3, S. 201–240; Filippo de Vivo: Information & communication in Venice. Rethinking early modern politics. Oxford: Oxford University Pr. 2007.
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analyse gut untersuchen. Zum anderen ermöglicht sich über eine Verflechtungsperspektive ein erweiterter Einblick in die Recyclingprozesse des Medienverbundes. Aufbauend auf den erwähnten Weiterverwendungsdynamiken innerhalb des Nachrichtenwesens lässt sich das (überregionale, ggfs. zeitversetzte) mediale »Auftauchen« bestimmter Themen, Texte und Bilder in diversen Publikationsformen und somit auch innerhalb des multimedialen Medienverbundes über die dahinterliegenden Kommunikationsakte analysieren. Versteht man jenes »Auftauchen« von bestimmten medialen Formen und Inhalten als nicht zufällig, sondern als resonante Echo-Effekte zu zuvor beobachteten Kommunikationsvorgängen und Medienrezeptionen, so erscheinen die dahinterliegenden Kommunikationsakte als (Resonanz-)auslösende und miteinander über konkrete Beobachtungsverarbeitungen verbundene Praktiken von Anschlusskommunikationen.10 Eine europäische Perspektive auf Kommunikationsprozesse und Ideentransmissionen orientiert sich nicht an sprachlichen oder territorialspezifischen Resonanzräumen, sondern sucht nach grenzüberschreitenden Kommunikationsprozessen und fragt nach Mustern, Anlässen und Hintergründen einer möglichen Verbundenheit von medialen Äußerungen. Korrespondenzanschrift Daniel Bellingradt, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Buchwissenschaft, Katholischer Kirchenplatz 9, 91054 Erlangen Email: [email protected] Prof. Dr. Daniel Bellingradt ist Juniorprofessor für Buchwissenschaft, insbesondere Historische Kommunikationsforschung, an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Mitherausgeber des ›Jahrbuchs für Kommunikationsgeschichte‹.
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Vgl. Bellingradt, Daniel: The dynamic of communication and media recycling in early modern Europe: Popular prints as echoes and feedback loops. In: Massimo Rospocher / Jeroen Salman / Hannu Salmi (Hg.): Crossing borders, crossing cultures. Popular print in Europe (1450–1900). Berlin: de Gruyter 2019 [im Druck].
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KOMMUNIKATIONSGESCHICHTE IN DER KOMMUNIKATIONSWISSENSCHAFT Das Editorial zum 20. Jubiläum des Jahrbuchs für Kommunikationsgeschichte betont, wie wichtig eine interdisziplinäre Kommunikationsgeschichte ist. Geschichts-, Kultur-, Medien-, Kommunikationswissenschaft sowie weitere Fächer sind (in dieser Reihenfolge) eingeladen, zu diesem Periodikum beizutragen. Die Herausgeber legen ihrem Verständnis von Kommunikationsgeschichte einen weiten Medienbegriff zugrunde, der auch Denkmäler umfasst und damit der interdisziplinären Ausrichtung entgegenkommt.1 Interdisziplinär war das Jahrbuch von Anfang an angelegt, jedoch mit dem Ziel, kommunikationshistorische Forschung innerhalb der Kommunikationswissenschaft zu fördern.2 Schon der ersten Herausgeberrunde mit zwei Kommunikationswissenschaftlern war aber klar, dass das Periodikum mit Beiträgen allein aus der Kommunikationswissenschaft nicht zu füllen sein würde. Denn die institutionelle Basis historischer Forschung in diesem Fach ist immer schwächer geworden. Es hängt heute vor allem von den persönlichen Interessen einzelner Hochschullehrer ab, ob Kommunikationsgeschichte in Lehre und Forschung präsent ist. 3 Hinzu kommen die Publikationsanforderungen in der Kommunikationswissenschaft, die von den historisch interessierten Nachwuchswissenschaftlern verlangen, in englischsprachigen Fachzeitschriften und online auffindbar zu publizieren (und zu zitieren). Aus diesen Gründen ist es ganz klar: Autoren und Leser aus verschiedenen Fächern müssen die Zielgruppe sein. Wir hingegen entwickeln unser Statement als disziplinär verortete und von einem sozialwissenschaftlichen Verständnis angeleitete Autoren der Kommunikationswissenschaft. Wir begreifen Kommunikationsgeschichte als wesentliche Erkenntnisperspektive unseres Fachs und knüpfen in deren Definition an das Vorwort der ersten Ausgabe des Jahrbuchs an. Holger Böning, Arnulf Kutsch und Rudolf Stöber rückten damals die historischen Zusammenhänge zwischen öffentlicher Kommunikation und Gesellschaft in den Mittelpunkt ihres Vorhabens, insbesondere die »Verdichtung, Ausdifferenzierung und Professionalisierung der öffentlichen Kommunikation sowie [...] die Popularisierung der Medien seit den ersten Anfängen des Buchdrucks«. 4 In der Kommunikationsgeschichte geht es folglich um historische Prozesse und Strukturen öffentlicher Kommunikation und ihre Wechselwirkungen mit Gesellschaft. Öffentliche Kommunikation meint dabei zuerst massenmediale Kommunikation als leistungsfähigste
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Daniel Bellingradt / Holger Böning / Patrick Merziger / Rudolf Stöber: Editorial http:// www.steiner-verlag.de/programm/jahrbuecher/jahrbuch-fuer-kommunikationsgeschichte/ editorial.html [27.06.2018]. Holger Böning / Arnulf Kutsch / Rudolf Stöber: Vorwort. In: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, 1. Jg. 1999, S. V–VI, hier S. V. Michael Meyen: Die historische Perspektive in der Kommunikationswissenschaft. Spuren einer Verlustgeschichte. In: Patrick Merziger / Rudolf Stöber / Esther-Beate Körber / Jürgen Michael Schulz (Hg.): Geschichte, Öffentlichkeit, Kommunikation. Festschrift für Bernd Sösemann zum 65. Geburtstag. Stuttgart: Franz Steiner 2010, S. 271–280. Böning/Kutsch/Stöber (1999) S. V (wie Anm. 2).
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Ebene moderner Öffentlichkeit, aber auch andere öffentliche Kommunikationsformen (etwa auf der Ebene der Begegnungs- und Versammlungsöffentlichkeit).5 Die Geschichte hybrider, halböffentlicher oder privater Kommunikation ist immer dann relevanter (historisch aber bislang schwierig zu untersuchender) Forschungsgegenstand, wenn sie Entstehung und Veränderung historischer Öffentlichkeit zu verstehen hilft und Einfluss auf öffentliche Meinungsbildung und gesellschaftliche Entwicklung genommen hat. 6 Aus dieser historischen Perspektive auf öffentliche Kommunikation und Massenkommunikation als leistungsfähigster Form von Öffentlichkeit ist ein zu breiter Medienbegriff zu vermeiden. Auch wenn die Kommunikationsgeschichte, wie die Kommunikationswissenschaft insgesamt, wichtige Impulse aus anderen Disziplinen erhält, darf Interdisziplinarität nicht Beliebigkeit der Perspektiven und Gegenstände bedeuten. Ein breiter Medienbegriff, der Denkmäler und Tageszeitungen auf eine Stufe stellt, ignoriert das Wissen um Medienwirkungen und die Logiken von Massenmedien und Journalismus zu unterschiedlichen Zeiten. Er ebnet somit wichtige Unterschiede ein. Publizistische Medien und Denkmäler erfüllen unterschiedliche Funktionen für die Gesellschaft. Denkmäler sind »objektivierte Kultur«, Materie und Bedeutungsträger, geben Auskunft über das historische Selbstverständnis von Herrschern und sind Gedächtnis einer Gesellschaft.7 Massenmedien sind hingegen Organisationen und Institutionen, die aus bestimmten Zeichensystemen und Kanälen bestehen und ein komplexes gesellschaftliches Subsystem bilden.8 Sie stellen permanent Bilder der Wirklichkeit bereit und beeinflussen über ihre Realitätskonstruktionen die Gesellschaft. Organisierte und institutionalisierte publizistische Medien sind genau wegen dieses Einflusses und im Unterschied zu Denkmälern Element der »gesellschaftlichen Kräftekonstellation« geworden. 9 Das Erkenntnisinteresse an der Geschichte öffentlicher Kommunikation hat sich als »spezifische erklärungsträchtige, eben disziplinäre Perspektive« 10 entwickelt. Es be-
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Jürgen Gerhards / Friedhelm Neidhardt: Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit: Fragestellungen und Ansätze. In: Stefan Müller-Doom / Klaus Neumann-Braun (Hg.): Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation. Beiträge zur Medien- und Kommunikationssoziologie. Oldenburg: BIS 1991, S. 31–89; Rudolf Stöber: Der politische Witz: Ein Genre politischer Kommunikation und Maßstab politischer Freiheiten. In: Communicatio Socialis, 38. Jg. 2005, Nr. 4, S. 378–394. Winfried B. Lerg: Das Gespräch. Theorie und Praxis der unvermittelten Kommunikation. Düsseldorf: Bertelsmann 1970; Franz Dröge: Der zerredete Widerstand. Zur Soziologie und Publizistik des Gerüchts im 2. Weltkrieg. Düsseldorf: Bertelsmann 1970. Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Jan Assmann (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 9–19. Ulrich Saxer: Der Forschungsgegenstand der Medienwissenschaft. In: Joachim-Felix Leonhard / Dietrich Schwarze / Erich Strassner (Hg.): Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. Berlin: de Gruyter 1999, S. 1–14. Kurt Koszyk: Probleme einer Sozialgeschichte der öffentlichen Kommunikation. In: Manfred Bobrowsky / Wolfgang Duchkowitsch / Hannes Haas (Hg.): Medien- und Kommunikationsgeschichte. Ein Textbuch zur Einführung. Wien: Braumüller 1987, S. 29–36, hier S. 30. Ulrich Saxer: Von wissenschaftlichen Gegenständen und Disziplinen und den Kardinalsünden der Zeitungs-, Publizistik-, Kommunikationswissenschaft. In: Beate Schneider / Kurt
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schränkt sich nicht auf Beschreiben, sondern will erklären: Kontinuitäten, Wandel, Kontexte.11 Es ist nicht zuletzt deshalb relevant, weil es sich in – auch kritischer – Auseinandersetzung mit den theoretischen und methodischen Orientierungen im Fach entwickelt hat.12 Diese disziplinäre Perspektive sollte Referenzpunkt für historische Arbeiten im Fach bleiben, um Beliebigkeit und Außensteuerung zu vermeiden. Auch wenn »Medienwandel-« und »Online-Forschung« im Moment auch für die Kommunikationsgeschichte Aufmerksamkeit und Legitimation zu versprechen scheint: Kommunikationsgeschichte sollte sich nicht über das »fremde Qualitätskriterium der zeitlichen Aktualität« definieren.13 Das Hinzukommen eines neuen Materialobjekts wie das Internet reicht als Argument nicht aus, um eine »online«- oder »web-history« zu begründen.14 Der Kommunikationswissenschaftler Ulrich Saxer hat nach Einführung des privaten Fernsehens vor »der additiven Aneignung undisziplinierter Gegenstände« im Fach gewarnt. Diese würden Beliebigkeit, Identitäts- und Legitimationsprobleme im Fach verschärfen. Im Laufe der Fachgeschichte sei »mehr und mehr akademisch [...] herrenloses Gut dem Materialobjekt der Zeitungswissenschaft zugeschlagen [worden], erst die Zeitschrift, dann Radio und Fernsehen, gelegentlich Film, Buch, Tonträger, ja die Briefmarke, die
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Reumann / Peter Schiwy (Hg.): Publizistik. Beiträge zur Medienentwicklung. Festschrift für Walter J. Schütz. Konstanz: UVK 1995 (= Journalismus, Bd. 37), S. 39–55, hier S. 40. Rudolf Stöber: Kommunikationsgeschichte. In: Matthias Karmasin / Matthias Rath / Barbara Thomaß (Hg.): Kommunikationswissenschaft als Integrationsdisziplin. Wiesbaden: Springer 2014, S. 41–58. Vgl. exemplarisch Winfried B. Lerg: Pressegeschichte oder Kommunikationsgeschichte? In: Elger Blühm (Hg.): Presse und Geschichte. Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung. Münster: Verlag Dokumentation 1977, S. 9–24; Manfred Bobrowsky / Wolfgang Langenbucher (Hg.): Wege zur Kommunikationsgeschichte. München: Ölschläger 1987; Koszyk (1987) (wie Anm. 9); Kurt Koszyk: Kommunikationsgeschichte als Sozialgeschichte. In: Max Kaase / Winfried Schulz (Hg.): Massenkommunikation. Theorien, Methoden, Befunde. Opladen: Westdeutscher Verlag 1989, S. 46–56; Jürgen Wilke: Historische Forschung in der Publizistikwissenschaft. In: Jürgen Wilke (Hg.): Fortschritte der Publizistikwissenschaft. München: Alber 1990 (= Alber-Broschur Kommunikation, Bd. 18), S. 57–68; Michael Schmolke: Kommunikationsgeschichte. In: Rudi Renger / Gabriele Siegert (Hg.): Kommunikationswelten. Wissenschaftliche Perspektiven zur Medien- und Informationsgesellschaften. Innsbruck: Studien-Verlag 1997, S. 19–44; Rudolf Stöber: Martin Luthers »Passional Christi und Antichristi«. Ein Plädoyer für die historisch-systematische Kommunikationswissenschaft. In: Publizistik, 45. Jg. 2000, Nr. 1, S. 1–19; Erik Koenen / Arnulf Kutsch: Kommunikationsgeschichte in Fachzeitschriften – ein mäandrierendes Feld. In: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, 6. Jg. 2004, S. 247–260; Arnulf Kutsch: Journalismus als Profession. Überlegungen zum Beginn des journalistischen Professionalisierungsprozesses in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts. In: Astrid Blome / Holger Böning (Hg.): Presse und Geschichte. Leistungen und Perspektiven der historischen Presseforschung. Bremen: edition lumière 2008, S. 289–324. Horst Pöttker: Nicht so hastig. Zeitliche Aktualität hat nichts mit Innovation zu tun. In: Aviso, Nr. 38, 2005, S. 9–10. Stefanie Averbeck-Lietz: Wenn wir uns nicht erinnern, verlieren wir den Gesamtzusammenhang. In: Medien & Zeit, 31. Jg. 2016, Nr. 3, S. 43–44.
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Neuen Medien und, spät, spät, auch das Telefon«.15 Saxer forderte, die Fachentwicklung über »innerwissenschaftliche Normen« zu steuern. Nicht Phänomene, sondern disziplinäre Perspektive, Forschungsstand, Theorien und Methoden sollten definieren, welche Art von Digital- oder Onlinekommunikationsgeschichte untersucht wird. 16 Solchermaßen formulierte Formalobjekte helfen auch, Distanz gegenüber (wissenschafts)politischen oder wirtschaftlichen Interessen zu wahren, denen auch historische Forschung ausgesetzt sein kann. Welche Folgen hat unser Beharren auf einer systematischen Erkenntnisperspektive für neue Erkenntnisse und Ansätze, für die Weiterentwicklung von Wissen in diesem Forschungsfeld? Wirkt sie hemmend? Zum einen bringt die Arbeit mit Theorie Perspektivwechsel und liefert neue Fragestellungen und Interpretationsmodelle.17 Das haben Beiträge aus der Kommunikationswissenschaft immer wieder verdeutlicht. 18 Die Arbeit mit Theorie gehört – anders als kürzlich in einem unzureichend recherchierten Beitrag behauptet19 – zum Arsenal kommunikationsgeschichtlicher Forschung.20 Zum anderen sorgt allein die Gegenwartsgebundenheit von Geschichtsschreibung dafür, dass neue Fragen entstehen:21 Was die Kommunikationshistorikerin in der aktuellen Öffentlichkeit beobachtet und ob und wie das mit dem zusammenzubringen ist, was sie aus der Geschichte schon weiß, sorgt für neue Ideen und Widersprüche. Und ebenso sorgt ihr eigener biographischer Hintergrund für spezifische Neugier. Deshalb sind auch Presse- und Rundfunkgeschichte sicher noch nicht ausgeforscht. Was fehlt in der Kommunikationsgeschichte? Rudolf Stöber hat auf fehlende Strukturforschung verwiesen: »sowohl Nachzeichnungen der äußeren Form der Presseprodukte als auch der Eigentumsverhältnisse, der Konzentration der Medienlandschaft 15 16 17 18
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Saxer (1995) S. 42 (wie Anm. 10). Averbeck-Lietz (2016) (wie Anm. 14). Pöttker (2005) (wie Anm. 13); Stöber (2005) (wie Anm. 5). Vgl. Michael Meyen / Anke Fiedler: Journalisten in der DDR. Eine Kollektivbiografie. In: Medien & Kommunikationswissenschaft, 59. Jg. 2001, Nr. 1, S. 23–39; Kutsch (2008) (wie Anm. 12); Peter Gentzel / Erik Koenen: Moderne Kommunikationswelten – von den »papiernen Fluten« zur »mediation of everything«. Ein Beitrag zur disziplinär-kognitiven Identität des kommunikationswissenschaftlichen Forschungsfelds »mediatisierte Kommunikation«. In: Medien & Kommunikationswissenschaft, 60. Jg. 2012, Nr. 2, S. 197–217; Thomas Wiedemann: Walter Hagemann. Aufstieg und Fall eines politisch ambitionierten Journalisten und Publizistikwissenschaftlers. Köln: Halem 2012; Rudolf Stöber: Neue Medien. Geschichte von Gutenberg bis Apple und Google. Medieninnovation und Evolution. Bremen: edition lumière 2013. Benjamin Krämer / Philipp Müller: Is a theory of media and communication history possible (and necessary)? In: Studies in Communication | Media (SCM), 5. Jg. 2016, Nr. 3, S. 307– 333. Vgl. Klaus Arnold / Markus Behmer / Bernd Semrad (Hg.): Kommunikationsgeschichte. Positionen und Werkzeuge. Ein diskursives Hand- und Lehrbuch. Münster: Lit 2008; zur kritischen Diskussion von Theorien in der Kommunikationsgeschichte vgl. etwa Stöber (2005) (wie Anm. 5), Stöber (2013) (wie Anm. 18). Thomas Mergel / Thomas Welskopp: Geschichtswissenschaft und Gesellschaftstheorie. In: Thomas Mergel / Thomas Welskopp (Hg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft: Beiträge zur Theoriedebatte. München: Beck 1997, S. 9–35.
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ebenso wie Programmgeschichten von Hörfunk und Fernsehen [...]. Hierzu gehört auch die Frage, wie groß die Redundanz bzw. Konsonanz der Berichterstattung in den Medien zu verschiedenen Zeitpunkten gewesen ist.« 22 Strukturen helfen zu verstehen, von welchen Bedingungen Öffentlichkeit in der Vergangenheit beeinflusst war, wer Zugang zu öffentlicher Kommunikation hatte, welche Regeln hinter der Bündelung, Vermittlung und Interpretation von Inhalten wirkten und welche Meinungen und Themen ausgeschlossen waren. Wir unterstützen diesen Vorschlag, denn Medienstrukturgeschichte hilft beim Verständnis des aktuellen Medienwandels, und erweitern ihn um die Frage, wie Strukturen der öffentlichen Kommunikation historisch eigentlich »gemacht« und sozial konstruiert worden sind. Was sind die damit verbundenen Prozesse gewesen, und wie wurden diese Strukturen im Zusammenwirken von Akteuren produziert, verteidigt und geändert, weil ihnen bestimmte Bedeutungen zugeschrieben wurden?23 Den Blick auf das »Gemachtsein« von Kommunikationsgeschichte und die Bedeutung von Strukturen für Akteure liefern beispielsweise Verknüpfungen von Akteurs- und Systemtheorie oder Diskurstheorien. Korrespondenzanschrift Prof. Dr. Maria Löblich / Niklas Venema, M.A., Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Freie Universität Berlin, Garystr. 55, 14195 Berlin Email: [email protected]; [email protected] Maria Löblich ist Professorin, Niklas Venema Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Arbeitsstelle Kommunikationsgeschichte und Medienkulturen der Freien Universität Berlin.
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Stöber (2014) (wie Anm. 11). Vgl. Mergel/Welskopp (1997) S. 21 (wie Anm. 21).
Aufsätze Simone Zweifel
EIN BLICK HINTER DIE PRODUKTION VON KOMPILATIONEN IM 16. JAHRHUNDERT AM BEISPIEL JOHANN JACOB WECKERS 1. EINLEITUNG 1582 publizierte Johann Jacob Wecker die »De Secretis libri XVII. Ex varijs authoribus collecti, methodiceque digesti«.1 Wie es der Titel verrät, enthält dieses Publikation Inhalte von verschiedenen »authores«. Deren Vielfalt und -zahl wird deutlich, wenn man einen Blick auf die Liste der »authores« wirft: Darin sind 129 Namen verzeichnet, unter anderem Albertus Magnus, Alexander Pedemontanus, Avicenna, Cleopatra, Fallopius, Felix Platter, Galen, Konrad Gesner, Hermes Trismegistos sowie Paracelsus. Wecker kombinierte demnach Wissensbestände aus der Antike mit zeitgenössischem Wissen sowie solches aus den unterschiedlichsten Bereichen und Wissenstraditionen. Diese Wissensbestände »colligierte« er, wie er es selbst nannte, aus verschiedenen bestehenden Büchern – teilweise auch aus mündlichen Quellen – und brachte sie in eine neue Ordnung, wodurch neue Bücher entstanden.2 Damit bediente er sich der Textproduktionspraktik der Kompilation, die sich dadurch auszeichnet, dass bestehendes Wissen beziehungsweise bestehende Textelemente gesammelt, neu geordnet und durch Rekontextualisierung zu Neuem verarbeitet werden.3 Kompilation ist nach Volker Hertel »eine grundlegende, lange tradierte Form der Wissensaneignung, der Wissensverarbeitung (einschließlich der Wissenssystematisierung) und der Wissensvermittlung«.4 Die Kompilation war eine typische Praktik zur Herstellung von Schrift- und Bildmedien im 16. Jahrhundert und findet sich nicht nur bei »Books of Secrets« wie den »De Secretis libri XVII«, sondern auch bei anderen Publikationen. Dazu zählen enzyklopädisch ausgerichtete Sammlungen wie »Theatri«, »Pandectae«, oder »Bibliothecae«, Tierbücher, Herbarien, Kosmographien, Chronographien, Florilegiensammlungen, weniger systematisch geordnete Publikationen der Bunt-
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Johann Jacob Wecker: De Secretis libri XVII. Ex varijs authoribus collecti, methodice`que digesti. Basileae: [s.n.] 1582. Siehe u.a. Johann Jacob Wecker: Brief an Theodor Zwinger. Universitätsbibliothek Basel, Frey-Gryn Mscr II, 4, N° 328. Vgl. Susanne Kaup: De beatitudinibus. Gerhard von Sterngassen OP und sein Beitrag zur spätmittelalterlichen Spiritualitätsgeschichte. Berlin: Akademie-Verlag 2012, S. 129f.; Ann M. Blair: Reading strategies for coping with information overload ca.1550–1700. In: Journal of the history of ideas, 64 Jg. 2003, Nr. 2, S. 11–28, hier S. 12. Volker Hertel: Kompilieren, Klassifizieren, Contrafactieren. Aspekte gelehrter Textproduktion in der Frühen Neuzeit. In: Ingrid Wiese / Irmhild Barz / Ulla Fix (Hg.): Fachtextsorten, gestern und heute. Ingrid Wiese zum 65. Geburtstag. Frankfurt am Main: Lang 2008, S. 27– 46, hier S. 33.
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schriftstellerei, aber etwa auch Flugblätter, Brief-Summarien und Nachrichtensammlungen.5 Die Praktik der Kompilation erlaubte es, Wissensbestände aus unterschiedlichen Zeiten und Wissenstraditionen zusammenzubringen und diese rasch weiterzuverbreiten. Dies verdeutlicht das Fallbeispiel des Johann Jacob Wecker: Zu seinen Lebzeiten wurden rund 30 Publikationen in seinem Namen veröffentlicht, danach ungefähr noch einmal so viele. Die Weckerschen Publikationen wurden ins Französische und Englische übersetzt und in zum Teil stark überarbeiteten Ausgaben neu gedruckt. Dabei handelt es sich um eine stetig wachsende Textmenge, die in unterschiedlichen Büchern temporär fixiert wurde. Eine solche Textmenge zu produzieren und derart viele unterschiedliche Wissensbestandteile zusammenzubringen, war nur möglich dank des »Kompilationsnetzwerks«, das hinter den jeweiligen Drucken stand. Das »Kompilationsnetzwerk« umfasst nicht nur in die Text- und Buchproduktion involvierte Personen, sondern auch Dinge – wie etwa Bücher – und andere für die Produktion relevante Faktoren. Hinter dem Begriff »Kompilationsnetzwerk« steht ein Konzept, das in diesem Aufsatz ein erstes Mal eingeführt wird. Bevor jedoch ausführlicher auf das Konzept eingegangen wird, wird die Publikationstätigkeit Johann Jacob Weckers umrissen, da diese zusammen mit seiner Korrespondenz die Materialbasis dieser Ausführungen bildet. Des Weiteren wird kurz das Sammeln von Wissen in Kompilationen thematisiert, da die Idee des »Kompilationsnetzwerks« im Kontext der frühneuzeitlichen Kompilationsproduktion anzusiedeln ist. 2. DIE PUBLIKATIONEN DES JOHANN JACOB WECKER Johann Jacob Wecker war im späten 16. Jahrhundert Stadtarzt von Colmar. Neben seiner Arzttätigkeit veröffentlichte er zwischen 1559 und seinem Tod im Jahre 1586 oder 1588 knapp 30 Drucke. Zum einen publizierte er »De Secretis«, die zur Tradition der
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Siehe u.a. Helmut Zedelmaier: Navigieren im Textuniversum. Theodor Zwingers »theatrum vitae humanae«. In: metaphorik.de, 14. Jg. 2008, S. 113–135, insbes. S. 114; Martin Schierbaum (Hg.): Enzyklopädistik 1550–1650. Typen und Transformationen von Wissensspeichern und Medialisierungen des Wissens. Münster: LIT 2009 (= Pluralisierung & Autorität; Bd. 18); Theo Stammen / Wolfgang E. J. Weber (Hg.): Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien. München: Oldenbourg 2004 (= Colloquia Augustana, Bd. 18); Flemming Schock (Hg.): Polyhistorismus und Buntschriftstellerei. Populäre Wissensformen und Wissenskultur in der Frühen Neuzeit. Berlin: De Gruyter 2012 (= Frühe Neuzeit, Bd. 169); Flemming Schock: Wissensliteratur und »Buntschriftstellerei« in der Frühen Neuzeit: Unordnung, Zeitkürzung, Konversation. In: Helmut Zedelmaier / Martin Mulsow (Hg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. Tübingen: Max Niemeyer 2001, S. 1–20; Wolfgang Harms / Michael Schilling (Hg.): Das illustrierte Flugblatt der frühen Neuzeit. Traditionen, Wirkungen, Kontexte. Stuttgart: Hirzel 2008; Cornel Zwierlein: Fuggerzeitungen als Ergebnis von italienischdeutschem Kulturtransfer 1552–1570. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, 90. Jg. 2010, S. 169–224, insbes. S. 177.
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»Books of Secrets« gezählt werden können.6 Dies sind Sammlungen von Rezepten für medizinische Produkte, wie etwa Seifen, Farben, destillierte Wasser, Latwerge, aber auch Speisen.7 Die Weckerschen Ausgaben reichen von direkten Übersetzungen bis hin zu ausgebauten Editionen mit nur noch minimalem Bezug zu den »De Secretis del reverendo Donno Alessio Piemontese«, die 1555 erstmals bei Sigismondo Bordogna erschienen sind.8 Zusätzlich zu den »De Secretis« kompilierte Wecker Antidotarien.9 Sie enthalten Wissen über alle damals bekannten Ausgangssubstanzen für medizinische Produkte sowie mögliche Anwendungsweisen, was theoretisches und praktisches medizinisches Wissen miteinschliesst. Einige theoretische Elemente der Antidotarien verwendete Wecker auch für die »Medicae Syntaxes, medicinam universam ordine pulcherrimo complectentes« – oder umgekehrt.10 Darin findet sich, wie es der Titel verrät, die gesamte damals bekannte Heilkunst in einer »wunderschönen« Ordnung. Letztere findet sich in den synoptischen Tabellen wieder, in die das medizinische Wissen disponiert wurde. Dahinter stand ein Verfahren, das Petrus Ramus (1515–1572) geprägt hatte und durch das Wissen in eine dichotomische Ordnung gebracht werden kann.11 Dass neben den »De Secretis« auch die Antidotarien und die »Medicae Syntaxes« als Neuproduktionen von Bestehendem verstanden werden können, zeigen die Korrespondenz, die Listen von »authores«, die inhaltlichen Überschneidungen sowie – bei Letzteren – der Begriff »Syntaxes« im Titel, der auf ein »Zusammenordnen« verweist. Übernommen wurde das Bestehende meist aus Büchern, die in ihrer Materialität vorhanden sein mussten, damit aus ihnen kopiert werden konnte.12 Wecker war mit seiner Kompilationstätigkeit jedoch nicht allein, vielmehr schrieb er sich in eine Praktik ein, die in seiner Zeit äußerst beliebt war.
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Zu »Books of Secrets« siehe insbes. William Eamon: Science and the secrets of nature. Books of secrets in medieval and early modern culture. Princeton NJ: Princeton University Press 1996. Vgl. Eamon (1996) Introduction (wie Anm. 6). Siehe z.B. Wecker (1582) (wie Anm. 1). Zu Bordognas Ausgabe: Alessio Piemontese: Secreti del reverendo donno Alessio piemontese [...]. Venetia: Sigismondo Bordogna 1555. Ob dies tatsächlich die erste Ausgabe war und jene Ausgabe, mit der Wecker arbeitete, kann nicht eindeutig gesagt werden. Denn 1559 waren bereits mehrere Editionen der »Secreti« auf dem Markt, so dass es auch möglich wäre, dass eine andere Ausgabe Grundlage seiner Übersetzung war. Siehe z.B. Johann Jacob Wecker: Antidotarium speciale. Basilea: [s.n.] 1574; Johann Jacob Wecker: Antidotarium generale. Basilea: [s.n.] 1576. Johann Jacob Wecker: Medicae Syntaxes, medicinam universam ordine pulcherrimo complectentes. Basileae: Episcopius 1562. Siehe u.a. Helmut Zedelmaier: Wissensordnungen der Frühen Neuzeit. In: Rainer Schützeichel (Hg.): Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Konstanz: UVK 2007, S. 835–845, hier S. 840. Solche Listen finden sich in mehreren Weckerschen Publikationen. Siehe z.B. Wecker (1574) (wie Anm. 9); Wecker (1576) (wie Anm. 9).
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3. WISSEN SAMMELN IN KOMPILATIONEN Im 16. Jahrhundert wurden alle möglichen Wissensbestände, Zitate, Kräuter und Rezepte gesammelt, in eine Ordnung gebracht und neu publiziert. Dabei wurde häufig kompiliert, d.h., dass bestehendes Material wiederverwendet wurde, wobei letzteres verändert, reorganisiert und durch neues ergänzt wurde.13 Ann Blair spricht bezüglich dieser Zeit auch von einer »info-lust«, einer Lust, so viel Information wie möglich zu versammeln und zu managen.14 Diese war einerseits Resultat des Phänomens, das in der Forschung als »information overload« oder »information explosion« bezeichnet wird.15 Gleichzeitig trug diese »info-lust« aber auch dazu bei, dass sich die Menge an Information weiter vergrößerte. Den gefühlten »Überfluss« von Büchern widerspiegelt beispielsweise Conrad Gesners »Bibliotheca univeralis« (1545), ein »Verzeichnis aller irgendwie bezeugter Schriften«.16 Noch deutlicher wird er, wenn man Johann Fischarts »Catalogus catalogorum perpetuo durabilis« (1590) hinzuzieht: In diesem fiktiven Buchkatalog, der auf dem satirischen Katalog des »Pantagruel« von François Rabelais aufbaut, wird die Gesnersche Sammlung durch eine noch umfangreichere Akkumulation von Büchern und dadurch, dass daraus »reale zitiert« wird, aufs Korn genommen.17 Diese satirische Verarbeitung des Büchersammelns macht deutlich, dass das möglichst umfangreiche Sammeln – hier von Büchern – auffällig wurde. Aus dieser »info-lust« resultierten ungeordnete Sammlungen wie jene der Buntschriftstellerei, enzyklopädische Publikationen wie »Spiegel«, »Theatri«, »Bibliothecae« oder »Pandectae«, aber auch Kompilationen, die auf einen spezifischen Bereich fokussierten.18 Dass auch im Feld der Medizin fleissig Wissen gesammelt wurde, macht Walther Hermann Ryffs Vorrede zu seinem »Kleinen Apothek und Confectbüchlein« deut-
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Vgl. Kaup (2012) S. 129f. (wie Anm. 3); Blair (2003) S. 12 (wie Anm. 3). Ann M. Blair: Too much to know. Managing scholarly information before the modern age. New Haven: Yale University Press 2010, S. 6; Blair (2003) S. 11 (wie Anm. 3). Siehe u.a. Daniel Rosenberg: Early modern information overload. In: Journal of the history of ideas, 64. Jg. 2003, Nr.1, S. 1–9, insbes. S. 2, 7. Conrad Gesner: Bibliotheca Universalis, sive Catalogus omnium Scriptorum locupletissimus [...]. Tiguris: Christophorum Froschouerum 1545, Epistola. Zitat: Jan-Dirk Müller: Universalbibliothek und Gedächtnis. Aporien frühneuzeitlicher Wissenskodifikation bei Conrad Gesner. (Mit einem Ausblick auf Antonio Possevino, Theodor Zwinger und Johann Fischart.) In: Dietmar Peil / Michael Schilling / Peter Strohschneider (Hg.): Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Kolloquium Reisensburg, 4.–7. Januar 1996. Tübingen: Niemeyer 1998, S. 285–309, hier S. 285. Zu diesem Gefühl des »Überfluss« von Büchern, siehe auch Blair (2003) S. 11 (wie Anm. 3). Dirk Werle: Copia librorum. Problemgeschichte imaginierter Bibliotheken 1580–1630. Berlin: De Gruyter 2007, S. 175–180. Zu den Texten: François Rabelais: Pantagruel. In: Michelle Huchon / François Moreau (Hg.): Rabelais. Œvres complètes. Paris: Gallimard 1994, S. 209–337; Johannes Fischart: Catalogus catalogorum perpetuo durabilis [...]. Strassburg: Bernhard Jobin 1590; Gesner (1545) (wie Anm. 16). Siehe u.a. Schock (2012) (wie Anm. 5); Schock (2001) S. 1–20 (wie Anm. 5); Zedelmaier (2008) S. 114 (wie Anm. 5).
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lich. Darin steht, dass »von vilen Buochtruckern/ vilerley klitterbuechlin/ sunderlich in der loblichen vnnd heilsamen kunst der artzney/ von mancherley seltzamen vngereimpten stucken/ liederlich zuosamen gepletzt vnd gflickt werden/ [...]«.19 Im Gegensatz zu den bestehenden »Klitterbuechlin« solle in Ryffs Buch jedoch nichts »vergeblich vnd überflüssig« sein. Dieses Zitat verdeutlicht, unabhängig von seiner rhetorischen Funktion, die Hauptcharakteristik dieser Texte: Sie waren »geklittert«, »zuosamen gepletzt vnd geflickt«, also kompiliert. Dieses Merkmal wird dadurch noch stärker hervorgehoben, dass dafür drei unterschiedliche Begriffe verwendet wurden. Dieses Charakteristikum findet sich auch bei den Weckerschen Publikationen; er bezeichnete die Tätigkeit als »colligieren« oder als »conscribere«, also als Zusammenlesen respektive Zusammenschreiben.20 Das Kompilieren half, Ordnung in das wahrgenommene Chaos von Wissen, das in unterschiedlichen Büchern publiziert war, zu bringen. Ein Beispiel dafür findet sich in der Vorrede des »Artzney Buch[s]« von 1575.21 Darin schrieb Wecker, dass der hoch- und wohlerfahrene Alexander Pedemontanus viele nützliche und bewährte »Kuͤnst«, also Rezepte, zusammengetragen habe. Sie seien durch etliche geldgierige Personen »vermischet / verwirret vnn verduncklet« gedruckt worden.22 In diesen Büchern könne keine Ordnung ausgemacht werden – zudem seien sie verdrießlich zu lesen. Eine solche Unordnung würde den Leser mehr verwirren, als ihm von Nutzen sein, weshalb Wecker in seinem »Artzney Buch« diese »Kuͤnst«, wie es auf der Titelseite zu lesen ist, »ordenlich zusammen verfasset« habe.23 Hier diente das Mittel der Kompilation nach Wecker dazu, Ungeordnetes durch neue Ordnung lesbar und nutzbar zu machen. Der Verweis auf die Ordnung auf der Titelseite und in der Vorrede deutet darauf hin, dass die ordnungsstiftende Funktion von Kompilationen so bedeutsam war, dass man sie auch als Verkaufsargument benutzen konnte. Die aus verschiedenen Büchern zusammengesammelten Textpassagen übernahm Wecker zum Teil direkt, teilweise veränderte er Details, wie etwa einzelne Wörter, manchmal aber auch mehr. Ein Beispiel dafür ist die Anleitung »Candela ardens sub aqua deferatur« (wie eine brennende Kerze unter Wasser gebracht wird). Sie stammt aus der »Magiæ naturalis« von Johannes Baptista della Porta – möglicherweise aus der Ausgabe von 1562.24 Übertragen wurde sie in die »De Secretis libri XVII« von 1582, jedoch nicht in ihrer Gänze: nur etwa der erste Drittel, der Kern der Anleitung, wurde Teil der Weckerschen Wissenssammlung.25 Diese Kürzung ermöglichte es Wecker und
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Walther Hermann Ryff: Der erst theyl der kleinen Apoteck oder Confectbüchlins [...]. Strassburg: [s.n.] [1552], Vorrede. Siehe u.a. Johann Jacob Wecker: Brief an Theodor Zwinger. Universitätsbibliothek Basel, Frey-Gryn Mscr II, 4, N° 328. Johann Jacob Wecker: Artzney Buch. Des Wolgelehrten Herren Alexij Pedemontani gar nach allerhandt Kranckheiten zu Curieren fast dienstlich. Basel: Pietro Perna 1575, [Vorrede]. Ebd. Ebd. Johannes Baptista Porta: Magiæ Naturalis, siue, De Miraculis rerum Naturalium Libri IIII. Antverpiæ: Johannes Stelius 1562, S. 58f. Wecker (1582) S. 43f. (wie Anm. 1).
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seinen Kooperierenden zu verdichten. Damit wurde bei Weckers Publikationen ähnlich gearbeitet wie bei anderen zeitgenössischen Kompilationen, wie beispielsweise beim »Theatrum Vitae Humanae« (1565) des Theodor Zwinger (1533–1588).26 Für diese Publikation waren nach Helmut Zedelmaier alle Einträge bestehenden Texten entnommen worden; der Wortlaut sei entweder direkt übernommen, oder aber leicht bis stark abgeändert worden.27 Betrachtet man diese Art der Textproduktion, so wird klar, dass hier nicht nur die Schreibenden von großer Bedeutung waren, sondern auch die Bücher in ihrer Materialität: Ohne deren Vorhandensein konnte weder »colligiert« noch kopiert werden. Sie waren wichtige Elemente der frühneuzeitlichen Kompilationsproduktion – und damit auch Teil des »Kompilationsnetzwerks«. Dieser Begriff umfasst alle Akteurinnen und Akteure sowie weiteren Elemente, die auf die Form und den Inhalt eines spezifischen Buches Einfluss nahmen. Was ich mir unter dem Begriff vorstelle und welche Vorannahmen dahinterstehen, ist Thema des nächsten Abschnitts. 4. ZUM KONZEPT DES »KOMPILATIONSNETZWERKS« Die Vorstellung des »Kompilationsnetzwerks« wurde in einem immer wieder spiegelnden Verfahren zwischen Empirie und Theorie entwickelt. Die empirische Materialbasis bilden Korrespondenzen und Publikationen, die von Johann Jacob Wecker verfasst oder unter seinem Namen erschienen sind. Methodologisch bildete die Mikrogeschichte den Ausgangspunkt: Sie versucht, ausgehend vom Kleinen, einen Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und so viel Kontext wie möglich zu berücksichtigen, wodurch bislang Unbeachtetes in den Blick gelangen kann.28 Für diese Arbeit ist insbesondere das mikrohistorische Tool des »Zoomens« von Bedeutung, das eine Multiperspektivität ermöglicht.29 Denn für das Konzept des »Kompilationsnetzwerks« war der »Zoom« hinter den Text ausschlaggebend: Er machte dieses Geflecht von Akteurinnen und Akteuren, aber auch von Büchern, die für die Kompilationsproduktion von grosser Bedeutung waren, erst sichtbar. »Gezoomt« werden kann folglich hinter Bücher und Texte, aber auch auf Menschen und deren sozialen Beziehungen, auf Räume und auf Dinge.30 Die beiden letztgenannten Elemente
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Theodor Zwinger: Theatrum vitae humanae [...]. Basileae: Froben 1565. Zedelmaier (2008) S. 129 (wie Anm. 5). Otto Ulbricht: Mikrogeschichte. Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main: Campus Verlag 2009, insbes. S. 13–15. Zur Mikrogeschichte, siehe u.a. Carlo Ginzburg: Mikro-Historie. Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß. In: Historische Anthropologie, 1. Jg. 1993, S. 169–192. Zum »Zoomen«, siehe Gianna Pomata: Close-ups and long shots: Combining particular and general in writing the histories of women and men. In: Karin Hausen / Hans Medick (Hg.): Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven. Göttingen: Wallstein 1998, S. 101–124. Auch Daniel Bellingradt und Jeroen Salman fordern, materielle, räumliche und soziale Faktoren stärker in die Buchforschung miteinzubeziehen – dies jedoch ohne mikrohistorische Perspektive als Hintergrund. Siehe Daniel Bellingradt / Jeroen Salman: Books and book history in motion: Materiality, sociality and spatiality. In: Daniel Bellingradt / Paul Nelles /
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sind nicht traditionell Teil der Mikrogeschichte. Dennoch bin ich überzeugt davon, dass sie Teil einer mikrohistorischen Herangehensweise sein können, da letztere eine möglichst umfangreiche Kontextualisierung fordert.31 Folglich wende ich eine mikrohistorische Perspektive auf die Produktion von Texten und Büchern an. Diese kombiniere ich mit Ideen aus der Buchforschung, der Praxistheorie und Forschungen zur Materialität, wenn sich dies in Kombination mit dem Forschungsmaterial aufdrängt. Die mikrohistorische Perspektive fordert dazu auf, möglichst viel Kontext zu berücksichtigen. In Bezug auf die Buchproduktion haben insbesondere Robert Darnton sowie Thomas R. Adams und Nicolas Barker viel Vorarbeit geleistet: Sie zeigen in ihren Modellen auf, welche Akteurinnen und Akteure an der Buchproduktion beteiligt waren und sind und was für zusätzliche Faktoren relevant waren und sind.32 Da diese auch für die hier betrachteten Publikationen gelten, wird kurz auf diese Modelle eingegangen. Darnton beschreibt in seinem Modell den Lebenskreislauf eines Buches, ausgehend von den darin involvierten Personen: Der Kreislauf geht vom Autor über den Verleger, den Drucker, über die »Verschiffer« oder Spediteure zu den Buchverkäufern und weiter zu den Lesern, die wiederum einen Einfluss auf die Autoren haben.33 Ebenfalls genannt werden die Zulieferer von Materialien sowie die Materialien selbst, die für ein Buch gebraucht werden. Dazu zählen unter anderem Papier, Tinte und Drucktypen, wobei Darnton auch die dafür nötigen Bäume und Schafe erwähnt.34 Sie waren auch für Weckers Buchproduktion relevant, die ohne diese Elemente nicht möglich gewesen wäre. Dasselbe gilt für die äußeren Faktoren, die Darnton wie folgt benennt: »intellectual influences and publicity«, »political and legal sanctions«, »economical and social conjuncture«.35 Wie diese Faktoren mit den Akteurinnen und Akteuren zusammenhingen und -hängen, wird aus dem Modell jedoch nicht ersichtlich. Selbiges trifft auf die von Adams und Barker genannten äußeren Elemente zu. Als solche führen sie politische, rechtliche und religiöse Einflüsse, den kommerziellen Druck, das soziale Verhalten und den Geschmack sowie intellektuelle Faktoren auf.36 Im Gegensatz zu Darntons
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Jeroen Salman (Hg.): Books in motion in early modern Europe. Beyond production, circulation and consumption. Cham: Springer International Publishing 2017, S. 1–11. U.a. Ulbricht (2009) S. 15 (wie Anm. 28). Robert Darnton: What is the history of books? In: Daedalus, 111. Jg. 1982, Nr. 3, S. 65–83, hier S. 67f.; Thomas R. Adams / Nicolas Barker: A new model for the study of the book. In: Nicolas Barker (Hg.): A potencie of life. Books in society. London: British Library 1993, S. 5–43, insbes. S. 14. Dass hier ausschließlich die männliche Form verwendet wurde, liegt daran, dass die Frauen in diesem Modell nicht miteinbezogen zu sein scheinen. Zumindest wurde Darnton vorgeworfen, dass das Modell sehr androzentriert sei und die Funktion von Frauen im frühneuzeitlichen Buchdruck vernachlässige. Frauen waren jedoch oftmals »hidden players« in der Buchproduktion, wie Helen Smith betont, und müssten ebenfalls berücksichtigt werden. Vgl. Helen Smith: Grossly material things. Women and book production in early modern England. Oxford: Oxford University Press 2012, Introduction, insbes. S. 6. Darnton (1982) S. 67f. (wie Anm. 32). Darnton (1982) S. 68 (wie Anm. 32). Adams/Barker (1993) S. 14 (wie Anm. 32).
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Modell stehen hier nicht die Menschen, sondern die Produktionsschritte im Zentrum: »publication«, »manufacture«, »distribution«, »reception« und »survival«.37 Man könnte meinen, dass die buchproduzierenden Menschen in diesem Modell verschwunden seien. Dies liegt sicherlich auch an der Kritik Adams’ und Barkers am Darntonschen Modell, dass letzteres zu sehr die Menschen und zu wenig die Bücher in den Vordergrund stelle.38 Dennoch sind auch hier die Menschen relevant: Sie stehen für Adams und Barker am Anfang eines jeden Buches: »The decision to publish, not the creation of a text, is, then, the first step in the creation of a book.«39 Damit sind die Personen, die über den Druck entscheiden, fast bedeutsamer als die Autorinnen oder Autoren des Textes. Dies trifft auch auf die Weckerschen Publikationen zu: Immer wieder musste er sich dafür einsetzen, dass ein Buch überhaupt gedruckt wurde.40 Denn ohne die Unterstützung von seinen Druckern würden wir heute keine Bücher, die unter dem Namen Weckers veröffentlicht wurden, in Bibliotheken finden. Die Modelle von Darnton und Adams/Barker zeigen auf, dass mehrere Personen in die Publikation von Büchern involviert waren und sind, dass die Publikationstätigkeit mehrere Schritte umfasst und dass auch kulturelle, politische und soziale Faktoren die Entstehung von Büchern beeinflussen konnten und können. Sie zeigen jedoch nicht, wie diese äußeren Faktoren mit den Akteurinnen und Akteuren zusammenhängen oder -hingen, was hier thematisiert werden soll. Beide Modelle befassen sich zudem mit der Herstellung von Büchern – nicht aber mit der dahinterstehenden Produktion von Text. Letztere ist zwar mit ersteren verknüpft; dennoch sind und waren darin weitere Personen, Elemente sowie Praktiken eingebunden, die in den beschriebenen Modellen nicht berücksichtigt sind. Diese Erkenntnis wird nur dank des »Zoomens« hinter den Text möglich. Es macht deutlich, dass weitere Praktiken und Personen bedeutsam waren und sind, die in den hier angesprochenen Modellen nicht auftauchen. Bezüglich der frühneuzeitlichen Kompilationsproduktion sind insbesondere das Korrespondieren und Beschaffen von Büchern mit den darin involvierten Personen sowie die Bücher selbst als Elemente der Textproduktion zu nennen. Demnach trenne ich die Text- von der Buchproduktion. Ich gehe davon aus, dass sich Text im Moment des Druckes zum Buch materialisiert, wobei eine temporäre Fixierung des Textes stattfindet.41 Dass diese Fixierung eine temporäre war, verdeutlicht folgender Briefausschnitt: »Wie eß vmb meine tabulas stende, ob man sie anfache zů trucken, oder wie sie euch gefallen, mechte ich wol vernemmen. kann wol erkennen, vnd weiß wol, dz sie
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Ebd. Adams/Barker (1993) S. 12 (wie Anm. 32). Adams/Barker (1993) S. 16 (wie Anm. 32). Siehe z.B. Johann Jacob Wecker: Brief an Theodor Zwinger. Universitätsbibliothek Basel, Frey-Gryn Mscr II, 4 fol. 317. Bei dieser Vorstellung orientiere ich mich an Roger Chartier: La main de l'auteur et l'esprit de l'imprimeur. XVIe-XVIIIe siècle. Paris: Gallimard 2015, S. 14f.
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viel verbesseret mechten werden. Aber man můß aůff diß mal für gůtt haben, biß ich ein mal eher zeitt vnd besser gelegenheitt haben mag.«42 Wecker fragte bei Theodor Zwinger nach dem Stand der Arbeit an den Tafeln, danach, ob man schon begonnen habe, diese zu drucken. Nach der Nachfrage, wie Zwinger die Tafeln gefallen würden, schrieb er, dass er wohl erkennen könne – und wohl wisse – dass sie noch großen Verbesserungsbedarf hätten. Für dieses Mal müsse man es aber »für gut haben«, bis er, Wecker, ein anderes Mal eher Zeit und Gelegenheit haben würde. Der Verweis auf »diß mal« macht deutlich, dass Wecker von einem anderen Mal ausging, also von einer zukünftigen Gelegenheit, den Text zu verbessern. Diese Aussage zeigt, dass Neuauflagen bei der Produktion eines Buches zum Teil bereits mitgedacht wurden: Ein Buch konnte immer wieder verbessert werden. Im Kontext der Kompilationen kommt zur Verbesserung die Erweiterung dazu: Nur durch diese war es möglich, so viele – auch zeitgenössische – Autorinnen und Autoren wie möglich zu versammeln, was bei Kompilationen bedeutsam war.43 Der Text veränderte sich demzufolge immer wieder und wurde durch jeden Druck neu fixiert und materialisiert. Dies nicht nur in unterschiedlichen Ausgaben, sondern auch in verschiedenen Sprachen: Die Publikationen Weckers wurden sowohl ins Französische als auch ins Englische übersetzt.44 Die Vorstellung, dass es sich bei Editionen um jeweils neue Drucke – und nicht etwa ein Werk – handelt, findet sich auch bei Roger Chartier: »La ›même‹ œuvre, en effet, n’est plus la même quand changent sa langue, sa ponctuation, son format ou sa mise en page.«45 Dies gilt auch für die Weckerschen Publikationen. Sie konnten sich, trotz zum Teil gleichen Titeln, formell und inhaltlich unterscheiden und werden hier als einzelne Materialisierungen von Text zu jeweils einem Buch verstanden. Doch nicht nur die einzelnen Drucke unterschieden sich: Die Texte veränderten sich auch durch die Lesenden, etwa, indem sie neue Rezepte von Hand einfügten.46 Damit wird hier Text als etwas Fluides verstanden, das temporär durch den Druck fixiert wurde; dies jedoch nur temporär, da der Text nach dem Druck durch Rezeption und Weiterverbreitung weiter verändert wurde. Dies ist gerade im Kontext der Produktionen von frühneuzeitlichen Kompilationen bedeutsam, bei denen das Wachsende des Textes ein wichtiges Charakteristikum darstellte. Um Text und auch Bücher herstellen zu können, mussten verschiedene Praktiken ausgeführt werden. Auf einige dieser Praktiken, wie etwa das Publizieren, Distribuieren
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Johann Jacob Wecker: Brief an Theodor Zwinger. Universitätsbibliothek Basel, Frey-Gryn Mscr II, 4 fol. 315. Siehe dazu z.B. Johann Jacob Wecker: Brief an Theodor Zwinger. Universitätsbibliothek Basel, Frey-Gryn Mscr II, 4, N° 326. U.a. Johann Jacob Wecker: Les secrets et merveilles de nature. Recueilis de divers autheurs & divisez en 17, livres. Lyon: B. Honorati 1586; Johann Jacob Wecker / R. Read: Eighteen books of the secrets of art & nature being the summe and substance of naturall philosophy, methodically digested. London: Simon Miller 1660. Chartier (2015) S. 15 (wie Anm. 41). Zur Veränderung von Text durch die Lesenden, siehe u.a. Chartier (2015) S. 15, 24f. (wie Anm. 41).
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und die Rezeption von Büchern haben unter anderem Adams und Barker verwiesen.47 Im »Kompilationsnetzwerk« kommen jedoch weitere Praktiken dazu: das Sammeln von Textbestandteilen, aus denen neuer Text entwickelt werden konnte, das Korrespondieren und Beschaffen von Büchern, das Lesen, das Exzerpieren, das Selektionieren, das Ordnen, das Zusammenfügen sowie das Korrigieren von Textmaterial.48 Diese Praktiken werden hier als »Buchpraktiken« bezeichnet, also auf das Buch ausgerichtete Praktiken. In viele dieser Praktiken waren mehrere Personen involviert: sie – und nicht etwa Wecker allein – machten die frühneuzeitliche Kompilationsproduktion erst möglich. Ein Beispiel dafür ist die Beschaffung von Büchern, die Wecker brauchte, um aus ihnen kompilieren zu können. Für diese wandte er sich etwa an Theodor Zwinger, an den er 1572 schrieb: »Ob man die Tabulas Veneri in Chyrurgiam nitt auch zů Basel finde zů kauffen, wellen mich wessen lassen.«49 Neben Zwinger war auch Samuel Grynæus (1539–1599) in die Buchbeschaffung involviert: »Mein Antidotarium speciale ist außgemacht, bin ietz an den Generale, manglen mir noch etliche buͤcher, so D. Grineus mir zů schicken soll von Frankfurt, welche man zů Basel nitt bekummen mag [...].«50 Er agierte als Kontaktperson in Frankfurt. Ohne diese Personen und deren Handlungen wären die Grundlagen der Weckerschen Publikationen und demzufolge auch deren Endergebnisse andere gewesen. Deshalb werden diese, wie auch alle anderen an der Veröffentlichung eines bestimmten Buches beteiligten Personen als Teil eines »Kompilationsnetzwerks« betrachtet. In die »Buchpraktiken« von Kompilationen waren jedoch nicht nur Menschen involviert: Auch Dinge, wie etwa Papier und Tinte, konnten und können die Buchproduktion beeinflussen.51 Dies unterstreicht Donald F. McKenzie: »Almost all texts of any consequence are the product of the concurrent inter-action of ideologies and institutions, of writers, publishers, printers, binders, wholesalers, travellers, retailers, as well as of the material sources (and their makers and suppliers) of type, paper, cord, and all the appurtenances of a printing house.«52 Bei den »material sources«, auf die McKenzie verweist, handelt es sich um die materiellen Grundlagen, die für die Produktion eines Buches – nicht eines Textes – notwendig sind. Für die Produktion von Text bei Kompilationen waren weitere »material sources« unabdingbar: die Bücher, aus denen Text kopiert wurde. Denn viele »Buchpraktiken«, die zu Kompilationen führten, konnten nur ausgeführt werden, wenn
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Adams/Barker (1993) S. 14 (wie Anm. 32). Zu diesen Praktiken, die sie jedoch nicht als solche bezeichnet, vgl. Blair (2003) S. 12 (wie Anm. 3). Johann Jacob Wecker: Brief an Theodor Zwinger. Universitätsbibliothek Basel, Frey-Gryn Mscr II, 5 fol. 94. Johann Jacob Wecker: Brief an Theodor Zwinger. Universitätsbibliothek Basel, Frey-Gryn Mscr II, 28 N° 374. Adams/Barker (1993) S. 14, 18f. (wie Anm. 32); Darnton (1982) S. 68 (wie Anm. 32). Donald F. McKenzie: 5. The London Book Trade in 1644. In: Donald F. McKenzie / Peter D. McDonald / Michael F. Suarez (Hg.): Making meaning. »Printers of the mind« and other essays. Amherst: University of Massachusetts Press 2002, S. 126–143, hier S. 128.
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Menschen mit nicht-menschlichen Elementen, in diesem Falle insbesondere Büchern, verbunden waren.53 Denn was für andere Praktiken nach Elizabeth Shove, Mika Pantzar and Matt Watson gesagt werden kann, gilt auch für »Buchpraktiken«: »[...] practices emerge, persist and disappear as links between their defining elements are made and broken.«54 Zu diesen definierenden Elementen zählen nicht nur Menschen, sondern auch Dinge wie Bücher. Auf die Handlungsfähigkeit von Dingen und deren Assoziationen mit anderen Elementen hat insbesondere Bruno Latour aufmerksam gemacht: Er spricht Dingen je nach Kontext die gleiche Handlungsfähigkeit wie Menschen zu.55 Diese Annahme möchte ich nicht übernehmen.56 Dinge werden hier als Elemente von Praktiken verstanden, die letztere jedoch nicht aktiv auslösen können. Meine Vorstellung basiert auf jener von Shove, die davon ausgeht, dass Praktiken eine aktive Reproduktion und Performance voraussetzen.57 Praktiken sind in dieser Vorstellung relational, sie existieren nur so lange, wie die darin involvierten Elemente miteinander verbunden sind.58 Übertragen auf die frühneuzeitliche Kompilationsproduktion gehe ich davon aus, dass das Kopieren von Textbestandteilen nur dann ausgeführt werden konnte, wenn das Buch, aus dem Textbestandteile übernommen werden sollten, in seiner Materialität vorhanden und mit einer buchproduzierenden Person verbunden war. Letztere war es jedoch, die den handlungsinitiierenden Schritt auslösen musste. Diese Vorstellung von Praktiken hat eine weitere Implikation: War ein Buch veröffentlicht, so waren die darin involvierten Akteurinnen und Akteure nicht mehr miteinander verbunden, das »Kompilationsnetzwerk« war aufgelöst. Es musste, so die Annahme, für jede Buchproduktion neu hergestellt werden. Denn so, wie sich jede Edition durch unterschiedliche Formen und Inhalte auszeichnet, so waren es auch unterschiedliche Personen, die sich zum jeweiligen »Kompilationsnetzwerk« formierten, das hinter einer Ausgabe stand. Viele dieser Akteurinnen und Akteure konnten über mehrere Editionen die gleichen bleiben; dennoch mussten sie sich jeweils neu verbinden, 53
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Ann Blair nennt das Speichern, Auswählen, Ordnen und Zusammenfassen von Information als wichtige Elemente der Kompilation: Blair (2003) S. 12 (wie Anm. 3). Elizabeth Shove / Mika Pantzar / Matt Watson: The Dynamics of social practice: Everyday life and how it changes. Los Angeles: Sage 2012, S. 21. Siehe u.a. Bruno Latour: Reassembling the social. An introduction to actor-network-theory. Oxford: Oxford University Press 2005, S. 107; Bruno Latour: Where are the missing masses. Sociology of a few mundane artefacts application. In: Wiebe E. Bijker / John Law (Hg.): Shaping technology – building society. Studies in sociotechnical change. Cambridge (Mass.): MIT Press 1992, S. 225–259, hier S. 241. Latour wurde dafür, dass er Dingen die gleiche »agency« zuspricht wie Menschen, auch kritisiert, u.a. von Langdon Winner: Upon opening the black box and finding it empty. Social constructivism and the philosophy of technology. In: Science, technology & human values, 18. Jg. 1993, Nr. 3, S. 362–378. Elizabeth Shove: Everyday practice and the production and consumption of time. In: Elizabeth Shove / Frank Trentmann / Richard Wilk (Hg.): Time, consumption and everyday life: Practice, materiality and culture. Oxford: Berg 2009, S. 17–33, hier S. 18. Shove/Pantzar/Watson (2012) S. 14f., 21, 40 et passim (wie Anm. 54).
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um erneut die Praktiken ausführen zu können, die am Ende zu einem Buch führten. Einzelne Akteurinnen und Akteure waren auch ersetzbar. Dies zeigt sich darin, dass auch nach Weckers Tod viele Editionen in seinem Namen herausgegeben wurden – seine Position im Netzwerk wurde dabei durch eine andere Person ersetzt. »Buchpraktiken« waren nicht nur von den Assoziationen einzelner Personen sowie von den Verbindungen zwischen Mensch und Buch beeinflusst, sondern auch von äußeren Faktoren. Anhand dieser richteten die in die Buchproduktion involvierten Personen Handlungen aus. Diese Faktoren werden mit Mustafa Emirbayer und Ann Mische als »agentische Orientierungen« (»agentic orientations«) verstanden. Die beiden Forschenden gehen davon aus, dass Handlungen auch innerhalb von Routinen und strukturellen Kontexten temporal und relational sind: Akteurinnen und Akteure können aus verschiedenen Handlungsoptionen wählen, wodurch sie über eine gewisse Agency verfügen.59 Sie definieren Agency als ein »temporally embedded process of social engagement, informed by the past (in its habitual aspect), but also oriented toward the future (as a capacity to imagine alternative possibilities) and toward the present (as a capacity to contextualize past habits and future projects within the contingencies of the moment)«.60 Handlungen können sich an der Vergangenheit, der Zukunft oder der Gegenwart ausrichten, also nach Emirbayer und Mische iterational, projektiv oder praktisch-evaluativ sein.61 Die iterationale Orientierung bezieht sich nach Emirbayer und Mische auf die selektive Reaktivierung bestehender, also vergangener Muster von Gedanken und Handlungen, die als Routinen in die praktische Aktivität inkorporiert werden.62 Im Kontext der Weckerschen Buchproduktion kann beispielsweise das Verfassen und Einbinden einer Widmungsvorrede in eine Publikation als iterational betrachtet werden. Denn Widmungsschreiben sind seit dem dritten vorchristlichen Jahrhundert bekannt und waren im 16. Jahrhundert fester Bestandteil sehr vieler Publikationen.63 Damit orientierte sich Wecker an bestehenden Routinen und führte diese Praktiken nach bestehenden Mustern aus. Die projektive Orientierung berücksichtigt mögliche zukünftige Handlungsoptionen.64 Als projektiv ausgerichtete Handlung kann man zum Beispiel die Überlegung verstehen, wie ein Buch gestaltet werden kann, damit es sich am besten verkauft. In diesem Zusammenhang werden der Markt und der mögliche Profit relevant, die sich
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Mustafa Emirbayer / Ann Mische: What is agency? In: The American journal of sociology, 103. Jg. 1998, Nr. 4, S. 962–1023, hier S. 963f., 1000. Emirbayer/Mische (1998) S. 962 (wie Anm. 59). Emirbayer/Mische (1998) S. 964–1000 (wie Anm. 59). Emirbayer/Mische (1998) S. 971 (wie Anm. 59). Vgl. Andre Horch: Buchwidmungen der Frühen Neuzeit als Quellen der Stadt-, Sozial- und Druckgeschichte. Kritische Analyse der Dedikationen in volkssprachlichen Mainzer Drucken des 16. Jahrhunderts. Unter Verwendung statistischer, netzwerkanalytischer und textinterpretatorischer Methoden. Frankfurt am Main: Lang 2014, insbes. S. 69–71. Emirbayer/Mische (1998) S. 983f. (wie Anm. 59).
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auf die Produktion eines Buches auswirken konnten und können.65 Dies gilt auch für das 16. Jahrhundert, in dem Publikationen zum Teil einem Zielmarkt angepasst wurden.66 Die Entscheidung für oder gegen eine solche Adaption sowie jene für oder gegen eine Profitorientierung sind damit mögliche Handlungsausrichtungen, mit denen sich buchproduzierende Personen in der Frühen Neuzeit auseinandersetzten. Es ist davon auszugehen, dass der Profit auch bei den Weckerschen Publikationen ein wichtiger Faktor war. Dies kann deshalb angenommen werden, weil die Praktik, Bestehendes – und wohl auch Erfolgreiches – neu zu publizieren, auch in anderen Kontexten aus finanziellen Überlegungen heraus angewandt wurde.67 Einen Einfluss auf den Verkauf hatten auch Genre und Format, die wiederum durch den geplanten Gebrauch beeinflusst waren: Johann Jacob Wecker druckte beispielsweise die »Practica medicinae generalis« im »duodecim«-Format: Das kleine Büchlein, das Wissen zur Medizin, aber auch zu Medikamenten enthielt, konnte problemlos in einer Tasche zu einem Krankenbesuch mitgenommen werden.68 Damit sind nicht nur Genre und Form, sondern auch der geplante Gebrauch Faktoren, die sich auf das am Ende produzierte Buch auswirkten und auswirken. Doch nicht nur auf das Buch – auch der Text wird dementsprechend anders gestaltet, weshalb diese Faktoren sowohl für die Text- als auch für die Buchproduktion bedeutsam waren und sind. Die Handlungsausrichtung bei diesen Entscheidungen war eine projektive: man wusste vorher nicht, ob Verkauf und/oder Gebrauch am Ende tatsächlich so ausfallen würden wie geplant. Neben den Handlungsausrichtungen auf die Vergangenheit und die Zukunft gibt es nach Emirbayer und Mische eine dritte Form, die »agentische Orientierung«. Sie orientiert sich an der Gegenwart, in der Unsicherheiten, Ambiguitäten und Konflikte zu unterschiedlichen Handlungsoptionen führen. So kann man etwa einen Konflikt eingehen oder diesem ausweichen, was zwei verschiedenen Handlungsmöglichkeiten entspricht.69 Ein Beispiel für eine praktisch-evaluative Handlung bei Wecker ist der Konflikt mit Pietro Perna, der in einigen Briefen Weckers Thema ist. Dabei geht es um eine Publikation von »De Secretis«, bei der lange unklar war, ob Perna sie drucken 65
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Zur Bedeutung des Marktes und des Profits für die frühneuzeitliche Buchproduktion, siehe u.a. Valentina Sebastiani: Sales channels for bestsellers in sixteenth-century Europe. In: Matthew McLean / Sara Barker (Hg.): International exchange in the early modern book world. Leiden: Brill 2016, S. 3–14; Adams/Barker (1993) S. 16–18 (wie Anm. 32). Siehe z.B. Nina Lamal: »This book hath been often call’d for«: Translations of Italian works on the Dutch revolt and the European book market. In: Matthew McLean / Sara Barker (Hg.): International exchange in the early modern book world. Leiden: Brill 2016, S. 124– 146. Diese Praktik kann in der Frühen Neuzeit häufig beobachtet werden, siehe u.a. Lamal (2016) (wie Anm. 66). Johann Jacob Wecker: Practica medicinae generalis […]. Baseileae: Hieron. Frobum, & eius affinem 1585. Auf die Bedeutung der Form für die Herstellung von Sinn hat insbesondere Donald F. McKenzie aufmerksam gemacht: Donald F. McKenzie: Bibliography and the sociology of texts. Cambridge: Cambridge University Press 2004, S. 12 et passim. Emirbayer/Mische (1998) S. 971, 998 (wie Anm. 59).
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würde. Wecker entschied in diesem Fall, Zwinger als vermittelnde Instanz einzuschalten. Hätte er sich gegen diese Handlungsoption entschieden, wäre das Resultat – dass die Zusammenarbeit weiterhin bestand – möglicherweise ein anderes gewesen.70 Die drei Formen der Handlungsorientierungen nach Emirbayer und Mische können im Weckerschen Publikationskontext folglich alle gefunden werden. Dieser Hintergrund ist wichtig für das Konzept des »Kompilationsnetzwerks«, weil es die äußeren Faktoren, die schon bei Darnton und Adams/Barker Thema sind, mit den handelnden Akteurinnen und Akteuren verbindet. Damit werden diese Faktoren als »agentische Orientierungspunkte« der »Buchpraktiken« verstanden. Letztere wurden und werden von Menschen ausgeführt, wobei häufig auch Dinge, insbesondere Bücher, darin involviert waren und sind. All diese Faktoren, Menschen und Dinge waren dann Teil des »Kompilationsnetzwerks« eines spezifischen Buches, wenn sie deren Inhalt und Form mit beeinflussten. 5. SCHLUSS Ziel vieler frühneuzeitlicher Kompilationen war es, so viel Wissen wie möglich zu (ver)sammeln. Die Wissensbestände wurden meist von bestehenden Büchern übernommen, wobei die einzelnen Textbestandteile neu geordnet und kontextualisiert wurden. In diese Art der Text- und Buchproduktion waren nicht nur mehrere Personen, sondern auch Dinge, insbesondere Bücher, involviert. Waren sie miteinander verbunden, so konnten sie Praktiken ausführen, durch die Bücher entstehen konnten. Zu diesen »Buchpraktiken« zählten und zählen nicht nur das Lesen, das Selektionieren von Textbestandteilen und das Neuordnen derselben, sondern auch das Korrespondieren und Beschaffen von Büchern, die traditionellerweise nicht in den Blick gelangen, wenn man auf die Buchproduktion fokussiert. »Zoomt« man jedoch hinter den Text, angelehnt an eine mikrohistorische Herangehensweise, zeigen sich auch diese Praktiken, die nicht direkt die Buch-, sondern die Textproduktion betreffen. Dabei wird davon ausgegangen, dass ein Buch eine temporäre Fixierung von Text darstellt, der sich, sobald er rezipiert wird, wiederum verändert. Folglich wird der frühneuzeitliche Kompilations-Text als etwas Fluides betrachtet, an deren Herstellung nicht nur Menschen, sondern auch Dinge beteiligt waren. Zudem beeinflussten äußere Faktoren, wie etwa der geplante zukünftige Gebrauch, den am Ende produzierten Text. All diese Elemente bildeten jeweils ein »Kompilationsnetzwerk« für ein spezifisches Buch. Deren Zusammenwirken machte die Produktion frühneuzeitlicher Kompilationen erst möglich. Zusammenfassung Frühneuzeitliche Kompilationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie viele Textbestandteile enthalten, die bestehenden Büchern entnommen wurden. Diese wurden neu geordnet und kontextualisiert, wodurch neue Bücher entstehen konnten. In diese Praktiken der Buchproduktion waren nicht nur Menschen, sondern auch Dinge – insbesondere Bücher – involviert: Zusammen bildeten sie »Kompilationsnetzwerke«, die hinter
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Zu diesem Konflikt, siehe z.B.: Johann Jacob Wecker: Brief an Theodor Zwinger. Universitätsbibliothek Basel, Frey-Gryn Mscr II, 4, N° 328.
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der Produktion von Kompilationen standen. Das Ziel dieses Aufsatzes ist eine erste Einführung in das Konzept des »Kompilationsnetzwerks«. Summary Early modern compilations often contain text elements, which are copied out of other books. The actors who produced such compilations brought these elements into a new order and context and created new books out of them. This kind of book production was only possible because books and people were linked to each other. Therefore, I consider not only people, but also books as elements of the »compilation networks«, which were responsible for the production of early modern compilations. This paper aims to give a first introduction to the concept of the »compilation network«. Korrespondenzanschrift Simone Zweifel, Universität St. Gallen, School of Humanities and Social Sciences, Fachbereich Geschichte, Müller-Friedbergstr. 6/8, CH-9000 St. Gallen E-Mail: [email protected] Simone Zweifel ist wissenschaftliche Assistentin im Fachbereich Geschichte an der Universität St. Gallen.
Alexandra Schäfer-Griebel
DIE ARBEITSPRAXIS IM NACHRICHTENDRUCKGEWERBE. RELIGIONSKRIEGSNACHRICHTEN IM HEILIGEN RÖMISCHEN REICH UM 1590 1. ARBEITSPRAXIS IM NACHRICHTENDRUCKGEWERBE ALS FORSCHUNGSDESIDERAT Unsere Kenntnisse zu Nachrichtenpublikationen aus der Zeit vor der periodischen gedruckten Zeitung ab dem 17. Jahrhundert wurden in den letzten Jahren erheblich erweitert.1 Die Perspektiven reichten dabei von der Erschließung des Nachrichtentransports2 über das Nachzeichnen europäischer Nachrichtennetzwerke und Kulturtransferbeziehungen3 bis hin zur Aufschlüsselung des medialen Spektrums.4 Inhalte der Publikationen wurden ebenso wie die Rolle von medialer Öffentlichkeit intensiver betrachtet.5 Dagegen stand die Praxis, wie Offizinen ihre gedruckten Nachrichtenpublikationen erstellten, nicht im Fokus der Forschung. Selbstredend existieren Überblickswerke6 und auch Studien zu einzelnen Werkstätten,7 welche Aspekte der Druckpraxis
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Vgl. u.a. Oswald Bauer: Zeitungen vor der Zeitung. Die Fuggerzeitungen (1568–1605) und das frühmoderne Nachrichtensystem. Berlin: Akademie-Verlag 2011 (= Colloquia Augustana, Bd. 28); den ersten Teil von Andrew Pettegree: The invention of news. How the world came to know about itself. New Haven: Yale University Press 2014. Vgl. Wolfgang Behringer: Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 189). Vgl. Paola Molino: Connected news. German Zeitungen and Italian avvisi in the Fugger collection (1568–1604). In: Media history, 22. Jg. 2016, Nr. 3/4, S. 267–295; Joad Raymond / Noah Moxham (Hg.): News networks in early modern Europe. Leiden: Brill 2016 (= Library of the written word, Bd. 47 / Library of the written word. The handpress world, Bd. 35); Cornel A. Zwierlein: Fuggerzeitungen als Ergebnis von italienisch-deutschem Kulturtransfer 1552–1570. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, 90. Jg. 2010, S. 169–224. Vgl. z.B. Beate Körber: Messrelationen. Geschichte der deutsch- und lateinischsprachigen »messentlichen« Periodika von 1588 bis 1805. Bremen: edition lumière 2016 (= Presse und Geschichte. Neue Beiträge, Bd. 92); Zsuzsa Barbarics-Hermanik: The coexistence of manuscript and print. Handwritten newsletters in the second century of print, 1540–1640. In: Malcom Walsby / Greame Kemp (Hg.): The book triumphant. Print in transition in the sixteenth and seventeenth centuries. Leiden: Brill 2011, S. 347–368. Vgl. z.B. Eva-Maria Schnurr: Religionskonflikt und Öffentlichkeit. Eine Mediengeschichte des Kölner Kriegs (1582 bis 1590), Köln: Böhlau 2009 (= Rheinisches Archiv, Bd. 154). Z.B. die entsprechenden Kapitel in Andreas Würgler: Medien in der Frühen Neuzeit. 2.Aufl. München: Oldenbourg 2013 (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 85). Vgl. z.B. Irmgard Bezzel: Leonhard Heußler (1548–1597). Ein vielseitiger Drucker und geschickter Verbreiter von Neuigkeitsberichten. Wiesbaden: Harrassowitz 1999 (= Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem deutschen Bucharchiv München, Bd. 62); Paul Arblaster: From Ghent to Aix. How they brought the news in the Habsburg Netherlands, 1550–1700. Leiden: Brill 2014 (zu Abraham Verhoeven).
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mitbehandeln, doch diese widmen sich nicht dezidiert dem Prozess der Herstellung von Nachrichtenpublikationen. Die Erforschung der Arbeitspraxis wird zusätzlich dadurch erschwert, dass sowohl Autorenangaben und Druckeradressen als auch Quellen zur Verortung der Werkstätten meist fehlen.8 Welche Offizinen sich auf welche Weise Informationen zu einem konkreten Ereignis beschafften, wie sich die Aneignungs-, Selektions- und Umschreibeprozesse gestalteten, ist bisher nicht systematisch erforscht.9 In diese Forschungslücke stößt die vorliegende Studie, welche die Arbeitspraxis im Nachrichtendruckgewerbe in einem konkreten Publikationszusammenhang untersucht. Anhand von gedruckten Nachrichtenpublikationen zu einer bestimmten Phase der Französischen Religionskriege, nämlich 1588/1589, werden im Folgenden die Profile der Druckwerkstätten, ihre Organisation und Arbeitsweise herausgearbeitet, indem Informationsakquise, Nachrichtenselektion, Bearbeitung und Übersetzung näher beleuchtet werden. Mit den Religionskriegsnachrichten 1588/1589 sind ein Berichtsgegenstand und Zeitraum klar umrissen, für den eine dichte Überlieferung vorliegt. »Religionskriegsnachrichten« beinhaltet sämtliche gedruckten Mitteilungen zu den Französischen Religionskriegen, deren rhetorische Aufmachung und funktionale Ausrichtung (informieren, unterhalten …) sowie Publikationsform (Amtsschriften, Neue Zeitungen, …) noch nicht eindeutig definiert und daher vielgestaltig war. Hierunter fallen Flugschriften, Flugblätter und Einblattdrucke. Einblattdrucke umfassten sämtliche Drucke, die – inhaltlich und funktional nicht weiter spezifiziert – aus einem Einzelblatt bestanden. Flugblätter waren oft im Hochformat bedruckte Einzelblätter von der Größe eines halben oder ganzen Druckbogens. Zu dem meist im Typendruck gehaltenen Textteil der Flugblätter stand der normalerweise als Holzschnitt gearbeitete Bildteil in einem ausgewogenen Verhältnis. Demgegenüber umfassten Flugschriften mehrblättrige Druckschriften, die in zunächst ungebundener Form im Quart- oder Oktav-Format erschienen. Es handelte sich um selbständige, nicht-periodische Publikationen, die sich mit Gegenständen von aktueller Relevanz beschäftigten. Ein Gegenstand, der europaweit großes Interesse fand, waren in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Französischen Religionskriege. Diese erreichten 1588/1589 einen Höhepunkt, was sich nicht nur in der Dichte der Ereignisse und der Bedeutung des Geschehens für den weiteren Konfliktverlauf zeigte, sondern auch in der außerordentlichen Präsenz in den Medien. Mit der Phase von der Ermordung der Brüder Guise, der Anführer der oppositionellen katholischen Liga, im Dezember 1588 über den offenen Aufstand großer Teile des katholischen Frankreichs bis zur Ermordung König
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Vgl. zu dieser Einschätzung Cornel Zwierlein: Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006 (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 74), S. 569. Einige Ausnahmen existieren, wie z.B. die schon ältere Arbeit Denis Pallier: Recherches sur lʼimprimerie à Paris pendant la Ligue, 1585–1594. Genf: Droz 1976; jüngst Alexandra Schäfer-Griebel: Die Medialität der Französischen Religionskriege. Frankreich und das Heilige Römische Reich 1589. Stuttgart: Steiner 2018 (= Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, Bd. 30), bes. S. 266–295 (zum Heiligen Römischen Reich). Der vorliegende Beitrag basiert auf dem genannten Werk.
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Heinrichs III. im August 1589 beschäftigten sich mehr Flugschriften und Flugblätter im benachbarten Heiligen Römischen Reich als mit jeder anderen Phase der Religionskriege. DIE RELIGIONSKRIEGSNACHRICHTEN: WERKSTÄTTEN UND DIE PRAXIS DER DRUCKPRODUKTION 2.1. Werkstattprofile Die Religionskriegsnachrichten im Reich wurden zuvorderst von etablierten, schon über einen längeren Zeitraum ortsansässigen Nachrichtendruckern mit meist kleineren bis mittleren Werkstätten innerhalb großer Druckzentren besorgt.10 Zu den zentralen Druckorten für Religionskriegsnachrichten zählten neben den kommunikativen Knotenpunkten im Reich wie Köln und Anrainern wie Basel die Reichsstädte, die zu den französischen Protestanten besonders enge Beziehungen pflegten wie Nürnberg, Straßburg und Frankfurt am Main.11 In diesen Städten sowie in Heidelberg und Augsburg waren bereits vor 1589 über Jahre hinweg gedruckte Religionskriegsnachrichten angefertigt und vertrieben worden.12 Diese etablierten Offizinen im Bereich der Nachrichtenproduktion hatten fast sämtlich bereits über einen längeren Zeitraum hinweg Flugschriften oder Flugblätter mit Religionskriegsnachrichten produziert und steigerten ihre Produktion noch in der sogenannten »Zeit der Liga« (1585–1593).13 Der Basler Druckerverleger Samuel Apiarius bspw. baute seine Produktion zu den Religionskriegen zwischen 1585 und 1590 aus, wobei allein 1589 fünf Werke in sechs Ausgaben in seiner Werkstatt ent-
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Diese Auswertung beruht auf einem Quellenkorpus von 91 Flugschriften und 25 Flugblättern aus dem Heiligen Römischen Reich, die sich mit der Phase von der Ermordung der Guise-Brüder im Dezember 1588 bis zum Mord an Heinrich III. im August 1589 mit den Französischen Religionskriegen befassten. Diese Quellen wurden auf Basis des VD16 und lokaler Kataloge ermittelt sowie vor Ort gesichtet, u.a. die Sammlungen des GNM in Nürnberg, der HAB in Wolfenbüttel, der SBB in Berlin, der BSB und UB in München, der ÖNB in Wien, der UB in Frankfurt sowie der BNF Paris. Zu den Beziehungen der Reichsstädte nach Frankreich vgl. Ruth Kohlndorfer: Diplomatie und Gelehrtenrepublik. Die Kontakte des französischen Gesandten Jacques Bongars (1554–1612). Tübingen: Niemeyer 2009 (= Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext, Bd. 137), S. 129–169. Vgl. Cornel A. Zwierlein: Franzettes. Etude des écrits volants imprimés en Allemagne concernant la France 1559–1600. Avec une bibliographie provisoire. (masch.) 1996 / 1997, S. 57f. Die Angaben zu der Flugschriftenproduktion der einzelnen Werkstätten in diesem Kapitel beruhen auf einer Auswertung der im VD 16 verzeichneten Publikationen. Zusätzlich wurden Nachschlagewerke – bes. Christoph Reske: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzing. Wiesbaden: Harrassowitz 2007 (= Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen, Bd. 51); Josef Benzing: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet, 2. verb. und erg. Aufl. Wiesbaden: Harrassowitz 1982 (= Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen, Bd. 12) – und Literatur zu den einzelnen Offizinen (in den seltenen Fällen, wo solche vorhanden ist) herangezogen.
Die Arbeitspraxis im Nachrichtendruckgewerbe
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standen.14 Der Kölner Stecher, Radierer, Drucker und Verleger Franz Hogenberg fertigte verstärkt ab 1587 Einblattdrucke zu den Religionskriegen und brachte 1589 mindestens vier Blätter heraus.15 Hinzu traten Werkstätten, die auf Nachrichten spezialisiert waren, aber einen anderen geographischen Schwerpunkt besaßen. Sie fertigten als Gelegenheitsproduktion Flugblätter oder Flugschriften mit Religionskriegsnachrichten wie bspw. der Augsburger Druckerverleger Josias Wörli, der nur im Jahr 1589 Flugschriften zu den Französischen Religionskriegen druckte.16 Auch der Formschneider Lucas Mayer in Nürnberg und der
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1589 erschienene Schriften von Apiarius: Drey Warhafftige newe Zeitung. || Aus Franckreich [...] 1589 || Gedruckt zu Basel/ bey SAMVEL APIARIO.; 4°, [4] Bl. – Wien: ÖNB, Sign. 20.T.521/Sigel: Alt Prunk; Erklaͤrung/ || Auß was Ursachen Koͤnig=||liche Mayestat inn Franckreich/ zu [...] Hinrichtung des || Hertzogen von Guisen/ [...] be=||wogen worden. || Getruckt zu Basel/ bey Samuel Apiario/ || Anno 1589.; 4°, [4] Bl.; VD16 ZV 23135 – München: UB LMU, Sign. 4 Hist. 2142:1; Gewisse Zeytung auß Franckreich. [...] Zu Basel bey Samuel Apiario/ 1589.; 4°, [8] Bl.; VD16 G 1926 – Wolfenbüttel: HAB, Sign. T: 946.4 Helmst. (16); zweite Ausgabe: Zürich: ZB, Sign. 18.1522,7; Newe Zeitung von Pleeß aus Franckreich. [...] Gedruckt zu Basel/ Durch || Samuel Apiarium.; [1589]; 4°, [4] Bl.; VD16 ZV 25996 – Wien: ÖNB, Sign. 308825-C.Adl.20/Sigel: Alt Mag; Warhafftige Zeittunge von Bleess […] Gedruckt zu Basel/ Durch Samuel || Apiarium. || Annio 1588.; [1588 = 1589?]; 8°, [8] Bl.; VD16 ZV 17795 – München: BSB, Sign. Gall.g. 1025 m. Zur Werkstatt von Apiarius vgl. Reske (2007) S. 85 (wie Anm. 13); Benzing (1982) S. 42 (wie Anm. 13). Vgl. Fritz Hellwig: Gesamtverzeichnis. In: Franz Hogenberg / Abraham Hogenberg: Franz Hogenberg – Abraham Hogenberg. Geschichtsblätter, hg. von Fritz Hellwig. Nördlingen: Uhl 1983, S. 31–46, bes. S. 32–34; 1589 erschienene Blätter: Ecce Ducis Guisij fratrisq [...]; [Köln: Werkstatt Franz Hogenberg, 1589]; Kupferstich? – Berlin: StaBi, Sign. Einbl. YA 2280 kl; Anstandt auf ein Iar [...]; [Köln: Werkstatt Franz Hogenberg, 1589]; Kupferstich – München: BSB, Sign. Einbl. XI,465; König Heinrich der dritt des namen; [Köln: Werkstatt Franz Hogenberg, 1589]; Kupferstich – Berlin: StaBi, Sign. Einbl. YA 2311 kl; DISTICHON ARITHMETICUM [...]; [Köln: Werkstatt Franz Hogenberg, 1589]; Kupferstich – Paris: BNF, Sign. RES. QB-201 (9)-FOL, p. 35. Im Katalog der Bibliothèque Nationale de France werden zudem ein weiteres Flugblatt in deutscher und lateinischer Fassung (Kurtzer vnd gruntlicher bericht [...]; 1588; Kupferstich – Paris: BNF, Sign. RES. QB-201 (9)-FOL, p. 3; Brevis & perfecta descriptio [...]; Kupferstich – Paris: BNF, Qb1, Histoire de France 15581589, Sign. M 87788 [Mikrofiche]) sowie das Blatt: Wie Konig Henrich iii. vō frāckreich durch Jacob Clemet vmbs leben bracht den ersten Augusti 1589.; Radierung, Maße: o.A. – Paris: BNF, Sign. RES. QB-201 (9)-FOL, p. 29 Hogenberg zugeschrieben. Diese Zuweisung lässt sich jedoch weder durch Provenienznachweise noch durch Stilvergleiche erhärten. 1589 erschienene Schriften: Zeyttung || Auß Franckreich/ wie || der selbig Koͤnig Henricus [...] erstochen worden. || Gedruckt zu Augspurg/ bey Josiam Woͤhrly/ [...] im Jar 1589.; 4°, [4] Bl.; VD16 Z 267 – Jena: ThULB, Sign. 4 Gall.II,66 (2); Henricus der dritt diß Namens/ [...] erstochen. [...] Anno. M.D.LXXXIX.; Augsburg: Josias Wörli; 4°, [4] Bl.; VD16 ZV 7699 – Wittenberg: Bibliothek des Lutherhauses, Sign. SS 2736; zweite Ausgabe: VD16 ZV 17320 – Augsburg: SUSB, Sign. 4 Gs Flugschr. 513f. Zur Werkstatt von Wörli vgl. Reske (2007) S. 42f., S. 918f. (wie Anm. 13); Benzing (1982) S. 20, S. 461 (wie Anm. 13).
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Briefmaler Bartholomäus Käppler in Augsburg traten nur situativ mit wenigen Publikationen zu den Religionskriegen hervor.17 Einen Schwerpunkt auf Religionskriegsnachrichten legten neben frankreichaffinen Nachrichtendruckern wie Hogenberg auch Druckunternehmen, die ein dezidiert religionspolitisches Engagement zeigten. 1589 lässt sich jedoch nur die Werkstatt des Druckerverlegers Bernhard Jobins in Straßburg diesem Typ zuordnen. Jobins Offizin wandte sich zwischen 1588 und 1593 verstärkt den Französischen Religionskriegen zu, so dass 1589 allein sieben Werke in 13 Ausgaben entstanden.18
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1589 erschienen bei Mayer: Hans Weber: Newe Zeütung […]; Nürnberg: Lucas Mayer, [1589]; kolorierter Holzschnitt – Paris: BNF, Sign. RES. QB-201 (9)-FOL, p. 8; Warffhaftige Neui Zeitung […]; Nürnberg: Lucas Mayer, [1589]; kolorierter Holzschnitt, Maße: o.A. – Paris: BNF, Sign. RES. QB-201 (9)-FOL, p. 30; zweite Ausgabe: Warffhaftige newe Zeitung [...]; Nürnberg: Lucas Mayer, [1589]; kolorierter Holzschnitt – Nürnberg: GNM, Sign. HB 14604, Kapsel 1373. Zur Werkstatt von Mayer vgl. Josef Benzing: Die deutschen Verleger des 16. und 17. Jahrhunderts. Eine Neubearbeitung. Frankfurt a.M.: Buchhändler-Vereinigung 1977 (= Archiv für Geschichte des Buchwesens. Separatabdruck, Bd. 18, V–VI), Sp. 1212. 1589 erschien bei Käppler das Blatt: Warhafftige newe Zeytung von dem Koͤnig auß Franckr[eich] [...]; Augsburg: Käppler, Bartholomäus, 1589; kolorierter Holzschnitt – Nürnberg: GNM, Sign. HB 24937, Kapsel 1373; zweite Ausgabe: Paris: BNF, Sign. RES. QB-201 (9)-FOL, p. 31. Der Vermerk »Erstlich Gedruckt zu Augspurg/ || Bey Bartholome Kaͤppeler. || 1589.« In: Warhafftige vnd Ge=||wisse new Zeytung auß Franckreich/ || wie die Koͤniglich May. [...] entleibt [...]; [1589]; 4°, [4] Bl.; VD16 W 548 – Straßburg: BNU, Sign. Joffre Réserve R.105.179, fol. A4r lässt zudem auf eine heute nicht mehr nachweisbare Flugschrift von Käppler schließen. Zur Werkstatt von Käppler vgl. Benzing (1982) S. 18 (wie Anm. 13). 1589 erschienen die Schrift: Wolbedenckliche Beschreibung. || Des/ an dem Koͤnig in || Franckreich [...] be=||gangenen Meuchelmords [...] Durch Bernhart Janot. || ANNO M. D. LXXXIX.; [Straßburg: Bernhard Jobin]; 4°, [8] Bl. – Emden: JALB, Sign. Theol. 4° 1130 M (7); weitere Ausgaben: Berlin: StaBi, Sign. Flugschr. 1589/5; VD16 ZV 2307 – München: BSB, Sign. Res/Crim. 467 g; VD16 ZV 2308 – Berlin: StaBi, Sign. Flugschr. 1589/5B; Berlin: StaBi, Sign. Flugschr. 1589/5A; VD16 B 6858 – Jena: ThULB, Sign. 4 Gall.II,63 (15); VD16 ZV 26218 – Wolfenbüttel: HAB, Sign. T: 875.4 Helmst. (9). Weitere Jobin zugewiesene Schriften: Koͤnigliche Declaration || Erzehlung [...] Erstlich || Getruckt durch Johan Waldorff. || M. D. LXXXIX.; [Straßburg: Bernhard Jobin?]; 4°, [8] Bl.; VD16 K 1859. Weitere Nummern: VD16 F 2477, VD16 P 743 = VD16 ZV 6078 – Berlin: StaBi, Sign. Flugschr. 1588/7A; Außschreiben || Des Koͤnigs von Na=||uarren/ an die drey Estas [...] Anno 1589.; [Straßburg: Bernhard Jobin]; 4°, [11] Bl.; VD16 ZV 11389 – Straßburg: BNU, Sign. D.118.294; Außschreiben || Koͤn: Mayestat inn Franck=||reich [...] Anno M.D.LXXXIX.; [Straßburg: Bernhard Jobin]; 4°, [14] Bl.; VD16 F 2414. Weitere Nummern: VD16 F 2420, VD16 N 291 – München: BSB, Sign. Gall.g. 1023 k; EDICT || Der Koͤniglichen May. zu Franckreich [...] M.D. LXXXIX.; [Straßburg: Bernhard Jobin]; 4°, 50 S.; VD16 F 2419. Weitere Nummern: VD16 F 2415, VD16 N 283, VD16 W 604 – Tübingen: UB, Sign. Fo III 82.4:20; Als Haloyonium Windstill bzw. Speculâ Halcyonia verantwortete Jobin: Discursus || DE REBVS || GALLICIS. [...] Ex || Speculâ Halcyoniâ. || cIɔ Iɔ xxcIx.; [Straßburg: Bernhard Jobin]; 8°, 127 S.; VD16 D 2033 – München: BSB, Sign. A.gr.b. 3617 q Beibd. 4; weitere Ausgabe: München: BSB, Sign. Gall.g. 223 und: DISCOVRS. || Ein Fuͤrtreffliches
Die Arbeitspraxis im Nachrichtendruckgewerbe
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Zu den wenigen Verlegern mit einem Nachrichtenschwerpunkt im Programm zählt Paul Brachfeld, dessen Verlegertätigkeit sich zwischen 1589 und 1591 auf die Französischen Religionskriege konzentrierte. Er beauftragte die Drucker Zacharias Bärwald in Leipzig und Martin Lechler in Frankfurt am Main und 1590 einen ungenannten Drucker in Straßburg, Religionskriegsnachrichten zu fertigen.19 Drucker, die von Lohntätigkeit abhingen, wiesen ihrerseits ein breit aufgestelltes Druckangebot auf, das je nach Auftragslage variierte.20 So arbeitete Bärwald als selbständiger Drucker in Leipzig, verdiente sich aber durch Lohnarbeit – sporadisch mit Nachrichtenpublikationen – etwas hinzu.21 Der Kölner Buchhändler Johann Waldorf druckte 1589 die Flugschrift »Koͤnigkliche Declaration || Erzehlung« als Auftragsarbeit, welche die einzige Nachrichtenpublikation in seinem Werkstattprogramm blieb.22
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[...] Bedencken [...] Getruckt durch Haloyonium Windstill/ zur Kleinen Rhuwart. || 1589.; [Straßburg: Bernhard Jobin]; 4°, [37] Bl.; VD16 A 3677 – München: BSB, Sign. Res/4 Eur. 345,32. Zur Werkstatt von Jobin vgl. Adolf Hauffen: Johann Fischart. Ein Literaturbild aus der Zeit der Gegenreformation, 2 Bde. Berlin und Leipzig: de Gruyter 1921–1922 (= Schriften des wissenschaftlichen Instituts der Elsaß-Lothringer im Reich), hier Bd. 1, S. 44; Benzing (1982) S. 449 (wie Anm. 17); Reske (2007) S. 894 (wie Anm. 17). 1589 verlegte Zacharias Bärwald Schriften von Conrad Memmius: IEHOVA VINDEX || Oder || Was sich in Franck=||Reich zugetragen hat.; Leipzig: Zacharias Bärwald; Paul Brachfeld; 4°, [12] Bl.; VD16 F 2253 – Frankfurt: UB, Sign. 1766 [XII, 42]; von Martin Lechler: Edict vnd Auszschreiben || Koniglicher Mayestet || in Franckreich [...] Gedruckt zu Franckfurt am Mayn/ || bey Martin Lechler/ in Verlegung Pauli Brachfeldt. || Jm Jahr 1589.; 4°, [4] Bl.; VD16 ZV 6075 – Berlin: StaBi, Sign. Flugschr. 1589/11; INDVCIAE. || Frid vnd Anstand [...] Gedruckt zu Franckfurt am Mayn/ || bey Martin Lechler/ in Verlegung Pauli || Brachfeldt.; 4°, [6] Bl.; VD16 F 2418. Weitere Nummern: VD16 F 2422 – München: BSB, Sign. Res/4 Eur. 345,38; außerdem in Straßburg 1590: Außschreiben || Koͤniglicher Maiestat zu Franckreich vnd Nauarrn. [...] Getruckt zu Straßburg in verlegung Pauli Brachfelds. 1590; 4°, [8] Bl.; VD16 F 2440 – Halle: ULB, Sign. Nn 5536,QK. Des Weiteren verantwortete Brachfeld 1589 die heute in keinem Exemplar mehr erhaltene: Französische Zeitung von dem ermordeten Herzog von Guise vnd seinem Bruder dem Cardinal, Besançon 1589.; [Frankfurt a.M.: Brachfeld, Paul]; 4° – Nachweis: Emil Weller: Die ersten deutschen Zeitungen. Mit einer Bibliographie (1505–1599). New York 1971 (= Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 111), S. 316, Dok. 690. Zum Verlagsunternehmen von Brachfeld vgl. Benzing (1977) Sp. 1105–1106 (wie Anm. 17). Martin Lechler bspw. fertigte insgesamt fünf Nachrichtenpublikationen, von denen vier von verschiedenen Verlegern verantwortet wurden: Edict vnd Auszschreiben (wie Anm. 19) und INDVCIAE (wie Anm. 19) von Paul Brachfeld und je ein Werk von Sigmund Feyerabend und Simon Hüter: 1577: VD16 G 3388; 1585: VD16 M 6593. 1589 erschienene Schriften: IEHOVA VINDEX (wie Anm. 19), Memmius, Conrad (Verf.): IEHOVA VINDEX, || siue || DE REBVS GAL-||LICIS: [...] BREMÆ, || In Typographia Bernhardi Petri, || ANNO M.D.XC.; 8°, [12] Bl.; VD16 F 2252 – München: BSB, Sign. Gall.g. 1020 n-1; zweite Ausgabe: VD16 F 2251 – Berlin: StaBi, Sign. 1 an: Flugschr. 1589/1. Zur Werkstatt von Bärwald vgl. Reske (2007) S. 527 (wie Anm. 13); Benzing (1982) S. 282 (wie Anm. 13). 1589 erschien die Schrift: Koͤnigkliche Declaration || Erzehlung [...] Gedruckt zu Coͤllen/ || Bey Johan von Waldorff/ auff dem || Thumhoff am Saal. || 1589.; 4°, [8] Bl.; VD16 K
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Nur in Ausnahmefällen produzierten die Drucker, die auf Amtsschriften oder Universitätsdruckschriften spezialisiert waren, Tagesschrifttum bzw. spezieller: Nachrichten. Dank regelmäßiger Aufträge bestand für sie eine gewisse Werkstattauslastung und Planungssicherheit. Bspw. druckte Bernhard Peters in Bremen vor allem für die dortigen Superintendenten und trat nur 1589 und 1590 mit einigen anspruchsvolleren, lateinischen Flugschriften zu den Religionskriegen hervor, die sich wohl an ein gebildetes, überregionales Publikum wandten.23 Als eine Gelegenheitsproduktion dürfte auch »New Zeytung« gelten, welche ohne größere Überarbeitungen in jeweils einer Ausgabe bei dem in Köln arbeitenden Druckerverleger Gottfried von Kempen,24 dem in Heidelberg als Universitätsdrucker tätigen Abraham Smesman25 und dem für den kursächsischen Hof in Dresden arbeitenden Matthes Stöckel d.J. erschien.26 Einige Offizinen nutzten das gestiegene Interesse an Religionskriegsnachrichten im Reich 1589, um durch ein vorrübergehendes Engagement wirtschaftlich zu profitieren bzw. um eine eigene Offizin zu etablieren. So lassen sich der Drucker Jost Steiger27
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1860. Weitere Nummern: VD16 F 2478, VD16 P 744 = VD16 ZV 6079 – Göttingen: SUB, Sign. 2 an: 4 H GALL UN II,5356. Zur Werkstatt von Waldorf vgl. Reske (2007) S. 454 (wie Anm. 13); Benzing (1982) S. 246 (wie Anm. 13). 1589 erschienene Schriften: LITERAE || REGIS NAVAR-||RENI [...] PHABIRANÆ SAXONVM || apud Bernhardum Petri. || 1589.; 8°, [15] Bl. VD16 N 297 – München: BSB, Sign. H.ref. 751 w, IEHOVA VINDEX, || siue || DE REBVS GAL-||LICIS (wie Anm. 21); des Weiteren zwei Bände, 1590 von Memmius: AD IEHOVAM VINDICEM, || DE REBVS GAL-||LICIS: [...] BREMAE, Excudebat Bernhardus Petri. || ANNO M. D. XC.; 8°, [34] Bl.; VD16 F 2252 – München: BSB, Sign. Jes. 72#Beibd.2,2. Zur Werkstatt von Peters vgl. Reske (2007) S. 124, S. 199f. (wie Anm. 13); Benzing (1982) S. 63, S. 107 (wie Anm. 13). 1589 erschienene Schrift: New Zeytung || Auß Franckreich [...] Getruckt zu Coͤlln auff der Burgmauren/ bey || Godtfridt von Kempen. || 1589.; 4°, 7 S.; VD16 N 1061 – Bern: UB, Sign. ZB Bong V 252:6; zweite Ausgabe: Lübeck: StB, Sign. Hist. 4° 25959 m. Zur Werkstatt von Gottfried von Kempen vgl. Reske (2007) S. 453f. (wie Anm. 13); Benzing (1982) S. 246 (wie Anm. 13). 1589 erschienene Schrift: New Zeytung || Auß Franckreych [...] Getruckt zu Besantzon/ durch || Abraham Smesman. 1589.; [Heidelberg]; 4°, 8 S. – Stuttgart: WLB, Sign. HB 254. Dass die Druckerangabe auf Besançon verweist, könnte sowohl auf eine Auftragsarbeit verweisen als auch, was wahrscheinlicher ist, auf einen fingierten Druckort. Zur Werkstatt von Smesman vgl. Reske (2007) S. 359 (wie Anm. 13). 1589 erschienene Schrift: Newe Zeitung, || Wie in Franckreich zu || Bleß [...] Gedruckt zu Dreßden, durch || Matthes Stöckel. || 1589.; 4°, [4] Bl.; VD16 N 1060 – Nachweis: Alfons Heyer: Dritte Nachlese zu Wellerʼs deutschen Zeitungen. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen. Beihefte, 5. Wiesbaden 1968, S. 1–47, hier S. 20, Dok. 61. Zur Werkstatt von Stöckel vgl. Reske (2007) S. 166 (wie Anm. 13). Benzing erwähnt Steiger nicht. Reske kann für Steiger nur zwei Nachrichtenpublikationen 1589 ausweisen, darunter: Jurament vnd Eyd/ || welchen [...] Hein=||ricus der vierdte [...] geleistet [...] 1589.; Basel: Jost Steiger; 8°, [4] Bl.; VD16 F 2456. Weitere Nummern: VD16 L 2849 – Halle: ULB, Sign. Alv Ll 248 (7) vgl. Reske (2007) S. 90 (wie Anm. 13).
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und der Verleger Petrus Cesaree28 in Basel nur mit ihren 1589 gedruckten Religionskriegsnachrichten nachweisen. An sämtlichen Druckorten im Reich waren es die Offizinen etablierter Nachrichtendrucker, die eine führende oder gar monopolartige Stellung behaupteten. In Nürnberg bspw. arbeitete Leonhard Heußler ab Ende der 1570er Jahre konkurrenzlos als Druckerverleger von Nachrichten-Flugschriften, 29 während der Formschneider Lucas Mayer die Produktion der Nachrichten-Flugblätter bestimmte.30 Zum einen ist offensichtlich, dass die Druckbetriebe selbst zu einem gewissen Grad Zuständigkeiten im Sinne einer Aufteilung des Druckmarkts herausbildeten. Diese Monopolbildung erschwerte es neuen Offizinen, sich zu etablieren. Zum anderen wird deutlich, dass es vom Engagement Einzelner, ihren Netzwerken und ihrer Arbeitspraxis abhing, in welchem Umfang und mit welchem Tenor Religionskriegsnachrichten an einem Druckort erschienen.31 In ganz wesentlichem Maße bestimmten also engagierte Offizine darüber, dass einige reichsstädtische Druckzentren in den Religionskriegsnachrichten besonders hervortraten. Es waren die Orte, die sich durch die geographische Nähe zu Frankeich auszeichneten oder diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen mit der französischen Krone oder den französischen Reformierten pflegten. Dabei engagierten sich die franko-
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Cesaree erscheint bei Benzing nur mit dem 1589 publizierten Diskurs zur Ermordung Heinrichs III. vgl. Benzing (1977) Sp. 1113 (wie Anm. 17). 1589 verantwortete Cesaree drei Ausgaben von: DISCOVRS || Warhafftige erzehlung [...] Gedruckt zu Basel/ in Verlegung Petri || Cesaree/ Anno 1589.; 4°, [8] Bl.; VD16 ZV 19129 – München: BSB, Sign. Gall.g. 1024 b; weitere Ausgaben: VD16 D 2047. Weitere Nummern: VD16 F 2410 – Zürich: ZB, Sign. 18.562,10; VD16 ZV 4614 – Halle: ULB, Sign. AB 154 369 (30). Vgl. Bezzel (1999), S. 57 (wie Anm. 7); 1589 erschienene Schriften: Frantzoͤsische Zeittung. || Warhaffte kurtze Beschrei=||bung [...] M. D. LXXXIX.; Nürnberg: Leonhard Heußler; 4°, [4] Bl.; VD16 F 2479 – Berlin: StaBi, Sign. Flugschr. 1588/22; weitere Ausgaben: VD16 ZV 6098 – Berlin: StaBi, Sign.10 in: Qw 9774; VD16 F 2479 – Gotha: UFB, Sign. Opp.46-46a (7)R; München: BSB, Sign. Res/4 Eur. 345,44; VD16 ZV 6099 – Frankfurt: UB, Sign. 1767 [XII,176]; Heinricus der dritt diß Namens [...] erstochen. [...] M. D. LXXXIX.; Nürnberg: Leonhard Heußler; 4°, [4] Bl.; VD16 ZV 7700 – Wolfenbüttel: HAB, Sign. A: 223.1 Quod. (30); weitere Ausgaben: VD16 ZV 7698 – Wolfenbüttel: HAB, Sign. A: 198.14 Hist. (19); Berlin: StaBi, Sign. Flugschr. 1589/14; Koͤnigkliche Declaration. || Erzehlung [...] Gedruckt zu Nuͤrnberg/ durch || Leonhard Heußler. || M. D. LXXXIX.; 4°, [4] Bl.; VD16 ZV 9109 – Wien: ÖNB, Sign. BE.1.N.50 (4); zweite Ausgabe: VD16 ZV 9108 – Berlin: StaBi, Sign. 11 in: Qw 9774. Zur Werkstatt von Heußler vgl. Reske (2007) S. 695 (wie Anm. 13); Bezzel (1999) (wie Anm. 7). Vgl. Schäfer-Griebel (2018) S. 253 (wie Anm. 9). In Augsburg trat bspw. nur Josias Wörli 1589 mit Flugschriften und Bartholomäus Käppler mit Flugblättern zu den Religionskriegen auf. Während in Köln Franz Hogenberg die Einblattdrucke und Flugblätter zu den Französischen Religionskriegen bestimmte, kamen die Flugschriften aus den Offizinen von Nikolaus Schreiber und Gottfried von Kempen. In Bremen lassen sich 1589 ausschließlich Religionskriegsnachrichten von Bernhard Peters nachweisen.
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phonen Exilanten im Reich wie Smesman, Peters oder auch Johannes Basse32, die während des Achtzigjährigen Kriegs aus den Niederlanden ins Reich gekommen waren, nicht in besonderem Maße. Lediglich die Hogenberg-Offizin fertigte in größerem Umfang Nachrichtenpublikationen zu den Ereignissen in den Niederlanden und in Frankreich an.33 So kristallisierte sich also keine Werkstatt und auch kein bestimmter Druckort als »Schaltzentrale« für Religionskriegsnachrichten im Reich heraus. Auch in den Residenzstädten von Fürsten (Heidelberg, Dresden), die sich 1589 an der Diskussion über ein Eingreifen in Frankreich beteiligten, die französischen Gesandten unterstützten, Geldmittel für eine der französischen Konfliktparteien bereitstellten und Söldnerwerbungen zuließen,34 lässt sich weder eine besonders umfangreiche Druckproduktion noch eine explizite religionspolitische Positionierung der dort gefertigten Flugschriften und Flugblätter feststellen.35 2.2. Organisation der Druckwerkstätten Bei den die Religionskriegsnachrichten dominierenden kleineren und mittleren Offizinen verantwortete ein Druckerverleger bzw. eine Familie die Druckproduktion und Verlegung, teils auch den Verkauf. Die Kölner Werkstatt von Franz Hogenberg bspw. war ein Familienbetrieb. Zwar lag hier der Schwerpunkt auf dem Stechen und Radieren, doch war die Werkstatt auch für die Druckproduktion von Bildplatten und Texten eingerichtet und besorgte auch selbst den Vertrieb.36 Der wechselnde Mitarbeiterstab stammte aus dem rheinischen Raum rund um Köln. Daneben beschäftigte Hogenberg häufig Immigranten, die wie er aus den Niederlanden kamen, darunter Abraham de Bruyn, Matthias Quad und Simon Novellanus.37 Hogenbergs engster Mitarbeiter war der Stecher und Radierer Simon Novellanus, der daneben noch für andere Auftragge-
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Johannes Basse druckte nur um 1590 für kurze Zeit unter eigenem Namen in Frankfurt am Main. 1589 erschienene Schrift: Warhafftig vnd Kur=||tzer Jnhalt Eines heimlichen Raht=||schlags [...] Gedruckt zu Franckfurt am Mayn/ durch Johan=||nem Basseum. M. D. LXXXIX.; 4°, 25 S.; VD16 ZV 15399 – Wien: ÖNB, Sign. 20.T.119. Zur Werkstatt der Basse (bes. Nikolaus Basse, Vater von Johannes) vgl. Benzing (1977) Sp. 1092, Sp. 1282 (wie Anm. 17); Reske (2007) S. 232f. (wie Anm. 13); Benzing (1982) S. 124f. (wie Anm. 13). Vgl. Hellwig (1983) S. 31–46 (wie Anm. 15). Zu den Kontakten aus dem Reich nach Frankreich vgl. Schäfer-Griebel (2018) S. 218–227 (wie Anm. 9). Allerdings sind gerade aus Heidelberg Fälle bekannt, wie vonseiten der Obrigkeit in die Distribution von Flugschriften zu den Religionskriegen eingegriffen wurde. Vgl. hierzu den Fall von Michel de La Huguerie in: Zwierlein (2006) S. 770 (wie Anm. 8); Henri Longnon: Un agent politique au XVIe siècle, Michel de la Huguerie (1545–1616). In: Revue des questions historiques, 73. Jg. 1903, Nr. 1, S. 233–250, hier S. 239–241. Vgl. Raleigh Ashlin Skelton: Einführung. In: Georg Braun / Franz Hogenberg: Civitates orbis terrarum. 1572–1618, hg. von Raleigh Ashlin Skelton, Bd. 1. Kassel.: Bärenreiter 1965 (= Das Bild der Welt. Eine Reihe früher Werke zur Kultur des Städtewesens. Erste Reihe, Bd. 1), S. VII–L, hier S. IX. Vgl. Fritz Hellwig: Einleitung. In: Franz Hogenberg / Abraham Hogenberg: Franz Hogenberg – Abraham Hogenberg. Geschichtsblätter, hg. von Fritz Hellwig, Nördlingen: Uhl 1983, S. 7–30, hier S. 28.
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ber arbeitete.38 1589 zeichneten sich die sonst thematisch und stilistisch sehr homogenen Blätter der Offizin Hogenbergs durch eine ungewöhnliche Vielfalt in Stil und Bildaufbau aus, was auf verschiedene Stecher-Hände hinweist. Offenbar verfügte die Hogenberg-Werkstatt über einen größeren Mitarbeiterstab, wofür auch die recht hohe Dichte an Publikationen spricht.39 Wie bei der Hogenberg-Werkstatt lagen auch bei der Offizin des Druckerverlegers Bernhard Jobin in Straßburg verschiedene Tätigkeiten in einer Hand: So wickelte Jobin den Verkauf im eigenen Laden am zentral gelegenen »Place du Temple-Neuf« ab, wo verschiedene öffentliche Einrichtungen wie das Rathaus, der Dominikanerkonvent sowie das Gymnasium und die Akademie angesiedelt waren.40 1589 veröffentlichte Jobin sieben Werke zu den Religionskriegen in 13 Ausgaben, bei denen er teils intensiv mit seinem Schwager Johann Fischart zusammenarbeitete.41 Fischart war als Autor, Übersetzer und Bearbeiter der Religionskriegspublikationen Jobins tätig. Die Flugschrift »Wolbedenckliche Beschreibung«, die in insgesamt sieben Ausgaben in Jobins Offizin erschien, übersetzte Fischart nicht nur ins Deutsche, sondern fertigte auch das enthaltene Gedicht und möglicherweise weitere größere Textpassagen an.42 Daneben arbeitete Jobin mit anderen Übersetzern zusammen43 und trat 1589 auch selbst als Kompilator einer Flugschrift – unter dem Pseudonym Bernard Janot – hervor.44 Allerdings lassen sich nur in wenigen Fällen konkrete Autoren der Religionskriegsnachrichten benennen. Das bei dem Nürnberger Formschneider Lukas Mayer gedruckte Flugblatt »Newe Zeütung« fertigte der Nürnberger Meistersinger Hans Weber wohl als Auftragsarbeit.45 Conrad Memmius dürfte seine in Deutsch und Latein zirkulierende
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Vgl. Hellwig (1983) S. 15 (wie Anm. 37); Skelton (1965) S. IX (wie Anm. 36); Novellanus fungierte bspw. für das von Georg Braun und Franz Hogenberg verantwortete Städtebuch als Mitherausgeber (Bd. 1, 2, 4) und fertigte gemeinsam mit Hogenberg drei Bilderserien zur jüngeren dänischen und schwedischen Geschichte, vgl. Hellwig (1983) S. 8, S. 15 (wie Anm. 37); Stephan Füssel: Natura sola magistra. Der Wandel der Stadtikonografie in der Frühen Neuzeit. In: Georg Braun / Franz Hogenberg: Civitates Orbis Terrarum. Städte der Welt. 363 Kupferstiche revolutionieren das Weltbild. Gesamtausgabe der kolorierten Tafeln 1572–1617, hg. von Stephan Füssel. Hong Kong: Taschen 2008, S. 8–44, hier S. 25. Vgl. Hellwig (1983) S. 15 (wie Anm. 37); Skelton (1965) S. IX (wie Anm. 36). Vgl. Miriam Usher Chrisman: Lay culture, learned culture. Books and social change in Strasbourg, 1480–1599. New Haven: Yale University Press 1982, S. 15; Hauffen: Fischart, Bd. 1, S. 48 (wie Anm. 18). Vgl. Wolbedenckliche Beschreibung (wie Anm. 18); Johann Fischart: Vncaluinisch Gegen Bastüblein [...] Durch Georg Goldrich Saltzwasser von Badborn zu-||samenn getragen. Jm jahr 1589.; [Straßburg: Bernhard Jobin?]; 4°, [12] Bl.; VD16 ZV 5863 – Wolfenbüttel: HAB, Sign. 152.3 Quod. (30). Vgl. Wolbedenckliche Beschreibung (wie Anm. 18). Vgl. Zwierlein (1996 / 1997) S. 61 (wie Anm. 12). Vgl. Wolbedenckliche Beschreibung, Titelblatt (wie Anm. 18). Vgl. Newe Zeütung (wie Anm. 17). Zu Hans Weber d. Ä. vgl. Manfred H. Grieb u.a.: Art.: Weber, Hans d.Ä.. In: Manfred H. Grieb (Hg.): Nürnberger Künstlerlexikon. Bildende Künstler, Kunsthandwerker, Gelehrte, Sammler, Kulturschaffende und Mäzene vom 12. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, Bd. 3. München: Saur 2007, S. 1626.
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Flugschrift »IEHOVA VINDEX« verfasst haben,46 um sein Pseudonym Jacob Francken bekannter zu machen. Mit diesem versuchte er sich um 1590 einen Namen im Feld der jüngsten Geschichte zu machen.47 Vereinzelt lässt sich also die Auftragsvergabe an im Druckgewerbe Tätige (u.a. Autoren) außerhalb des Mitarbeiterstabs der Werkstätten fassen. Eine wirkliche Arbeitsteilung war jedoch in der Nachrichtenproduktion nicht ausgeprägt. Im Regelfall lagen mehrere Funktionen und Aufgaben in der Hand einer Person. Lucas Mayer war bspw. nicht nur als Formschneider, Briefmaler und Drucker, sondern wohl auch als Verleger in Nürnberg tätig.48 Da das Risiko bei einer geringfügig ausgeprägten Arbeitsteilung in einer Hand lag, mussten die Publikationen notwendigerweise stark an Marktinteressen ausgerichtet sein.49 1589 lässt sich außerdem beobachten, wie die im Nachrichtengewerbe Tätigen eine gewisse Selbstkontrolle bei kritischen Themen wie Herrschaftskritik übten. Dies spiegelt sich in der Auswahl von Informationen und Bearbeitung der Materialien wider.50 Selbst wenn die kritische Auseinandersetzung mit Auslandsnachrichten nicht sehr streng geahndet wurde, bestand ein wirtschaftliches Risiko, die getätigte Investition durch Einziehung aller Exemplare und Druckstöcke zu verlieren. Um sich trotz der Risiken im Druckgewerbe dauerhaft zu behaupten, passten sich einige Drucker den Bedingungen des Druckmarkts an, indem sie, wenn notwendig, ihren Arbeitsschwerpunkt verschoben, das Berufsfeld wechselten oder Lohnarbeiten neben selbständiger Tätigkeit übernahmen. Bspw. arbeitete der Nürnberger Drucker Leonhard Heußler auch als Buchhändler und besaß Buchbinderwerkzeug, wohl um in Zeiten, in denen seine Druckerpressen nicht ausreichend ausgelastet waren, auf die Binderei auszuweichen.51 Daneben erledigte Heußler Auftragsarbeiten und verpachtete seine
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Vgl. IEHOVA VINDEX (wie Anm. 19); IEHOVA VINDEX, || siue || DE REBVS GAL-||LICIS (wie Anm. 21). Für Eckdaten zu Conrad Memmius vgl. http://thesaurus.cerl.org/record/cnp01427160 [29.12.2017]. Das Pseudonym Jacob Francken (bzw. latinisiert Jacobus Francus) verwendete auch Conrad Lautenbach, der ab 1591 mit einigen von Paul Brachfeld verlegten Messrelationen in Frankfurt am Main hervortrat. Mayer wurde in dem Flugblatt: Newe Zeütung (wie Anm. 17) als Drucker erwähnt. Dagegen ließ die: Warffhaftige Neui Zeitung (wie Anm. 17) – und ebenso die zweite Ausgabe Warffhaftige newe Zeitung (wie Anm. 17) – offen, ob Mayer die Schrift als Verleger oder Drucker verantwortete. Zu Mayers Werkstatt vgl. Benzing (1977) Sp. 1212 (wie Anm. 17). Vgl. Michael Schilling: Bildpublizistik der Frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700. Tübingen: de Gruyter 1990 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 29), S. 16f. In den Druckpublikationen im Reich war die königliche Position in der Widerstandsrechtsdebatte, sich nicht rechtfertigen zu müssen, am stärksten präsent. Positionen der Liga oder aus der politiktheoretischen Debatte wurden nicht aufgenommen. Einzelne Aspekte (z.B. Rolle des Papstes oder der Generalständeversammlung) wurden zum Teil als knappe Anspielungen aus Handlungsbeschreibungen der französischen Vorlagen übernommen. Vgl. Schäfer-Griebel (2018) bes. S. 329f. (wie Anm. 9). Beide Gewerbe, Druckerei und Buchbinderei, gleichzeitig auszuüben, war in Nürnberg verboten, vgl. Bezzel (1999) S. 19 (wie Anm. 7).
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Räume an Briefmaler oder Drucker ohne eigene Presse.52 Pragmatismus und Flexibilität zeichnete die Nürnberger Werkstatt von Heußler aus. Dieser beschäftigte keine festen Mitarbeiter, jedoch zumeist einen Setzer, der häufig wechselte.53 Diese häufigen Stellenwechsel führen deutlich vor Augen, wie stark die organisatorische und finanzielle Unsicherheit bei den Werkstätten im Bereich des Nachrichtendruckgewerbes ausgeprägt war. Innerhalb der Druckoffizinen, die Nachrichtenpublikationen fertigten, war also eine nur geringfügige Ausdifferenzierung und Arbeitsteilung üblich. So übernahmen auch Verleger als ein eigenständiger Berufsstand nur vereinzelt Organisation, Finanzierung und Vertrieb der Druckpublikationen, während der Druckerverleger noch den Regelfall darstellte. Der Basler Verleger Petrus Cesaree ließ 1589 einige Ausgaben einer Flugschrift mit Religionskriegsnachrichten fertigen54 und der Verleger Paul Brachfeld beauftragte 1589/1590 in Leipzig, Frankfurt am Main und Straßburg Flugschriften zu den Französischen Religionskriegen.55 Brachfeld baute in dieser Zeit zum einen mit den Messrelationen von Jacob Francken (Pseudonym von Conrad Lautenbach), zum anderen mit einem eigenen Messkatalog ein Standbein auf der Frankfurter Messe auf.56 2.3. Informationsakquise Im Reich dominierten inhaltlich die großen politischen Einschnitte zwischen Dezember 1588 und August 1589 die gedruckten Nachrichten: Auf den Mord am Herzog Heinrich von Guise in Blois folgten der Waffenstillstand von Tours zwischen Heinrich III. und Heinrich von Navarra und der Königsmord durch Jacques Clément in Saint-Cloud. Wie aber kamen die Drucker, Verleger oder Autoren, die jeweils im Einzelfall für die Publikationen verantwortlich zeichneten, an Informationen über die Französischen Religionskriege? Die französischen Parteien, die das Bild der Religionskriege 1589 im Reich zu beeinflussen versuchten, vermittelten Informationen innerhalb des Reichs über französisch-deutsche Netzwerke,57 streuten Gerüchte58 und vertraten gegenüber den Fürsten-
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Vgl. Bezzel (1999) S. 21f. (wie Anm. 7). Vgl. ausführlich Reske (2007) S. 696 (wie Anm. 13). Cesaree verlegte drei Ausgaben von: DISCOVRS || Warhafftige erzehlung (wie Anm. 28). Andere Publikationen sind von ihm nicht bekannt, vgl. Benzing (1977) Sp. 1113 (wie Anm. 17). Vgl. Anm. 19. Vgl. Benzing (1977) Sp. 1106 (wie Anm. 17). Vgl. zu dem – ausnahmsweise sehr gut erschlossenen – Netzwerk von Jacques Bongars, einem der Gesandten von Heinrich von Navarra im Reich: Kohlndorfer (2009) (wie Anm. 11). Das Gerücht, dass in Blois neben dem Herzog und Kardinal von Guise weitere Liga-Anführer getötet worden seien, nahmen die Fuggerzeitungen: Köln, 10. Februar 1589, Codex 8962, fol. 64v und die Flugschrift: New Zeytung || Auß Franckreich, S. 6 (wie Anm. 24) auf. Auch in Köln, Augsburg und Speyer lief das Gerücht – in verschiedenen Varianten – um, vgl. Hermann von Weinsberg: Gedenkbuch. Gesamtedition der Gedenkbücher Hermann von Weinsbergs, hrsg. von Manfred Groten u.a., 06.02.2009, online: http://www.weinsberg. uni-bonn.de/ [30.12.2017], 23. Dezember 1588, ld 94v; Georg Kölderer: Beschreibunng
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höfen eine bestimmte Interpretation der jüngsten Ereignisse mittels ihrer Gesandten und in Briefwechseln.59 Wie diese gezielte Informationsweitergabe französischer Akteure die Druckproduktion im Reich beeinflusste, lässt sich nur im Ausnahmefall in den Quellen nachvollziehen. So versuchte Michel de La Huguerie als Agent von Karl III. von Lothringen, einem der Häupter der Liga, eine Druckpublikation zur Ermordung Heinrichs III. in Speyer zu platzieren. Vermutlich handelte es sich bei der Vorlage um den »DISCOVRS || VERITABLE«60 von Edmond Bourgoing. Der Speyrer Drucker Bernard Albin sandte diese Vorlage an den Heidelberger Drucker Abraham Smesmann weiter, der die kurfürstlichen Räte am Heidelberger Hof kontaktierte, welche die Flugschrift aufgrund ihrer eindeutig ligistischen Ausrichtung verboten.61 Dank der Mitarbeit der im Druckgewerbe Tätigen konnte die kurpfälzische Regierung effektiv in die Informationsvermittlung und den Druckmarkt eingreifen. Weitere Versuche der fürstlichen und städtischen Obrigkeit im Reich, die Nachrichten zu kontrollieren und zu steuern, zeigten sich in einer verzögerten und selektierten Informationsweitergabe.62 Von einem Verbot des Herzogs von Lothringen, Nachrichten über die Ermordung der Brüder Guise zu verbreiten, berichtete bspw. die Flugschrift »Zeitung ausz Frankreich«.63 Künftige umfangreichere Untersuchungen müssen aller-
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vnd Kurtze Vertzaichnis Fürnemer Lob vnnd gedenckhwürdiger Historien. Eine Chronik der Stadt Augsburg der Jahre 1576 bis 1607, Bd. 3: 1589–1593 (Codex S 43), bearb. von Silvia Strodel, hg. von Wolfgang E. J. Weber. Augsburg: Wißner 2013 (= Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft und der Schwäbischen Forschungsstelle Augsburg. Reihe 6: Reiseberichte und Selbstzeugnisse aus Bayern-Schwaben, Bd. 6, III), S. 1200; Cornel A. Zwierlein: Komparative Kommunikationsgeschichte und Kulturtransfer im 16. Jahrhundert. Methodische Überlegungen entwickelt am Beispiel der Kommunikation über die französischen Religionskriege (1559–1598) in Deutschland und Italien. In: Wolfgang Schmale (Hg.): Kulturtransfer. Kulturelle Praxis im 16. Jahrhundert. Innsbruck: Studienverlag 2003 (= Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit, Bd. 2), S. 85–120, hier S. 96. Heinrich III. ließ bspw. das Rechtfertigungsschreiben zu den Morden in Blois an verbündete Reichsfürsten, darunter Kursachsen, Braunschweig-Wolfenbüttel, Kurpfalz und Hessen-Kassel, versenden, vgl. Johann Casimir von der Pfalz: Briefe des Pfalzgrafen Johann Casimir mit verwandten Schriftstücken, Bd. 3: 1587–1592, bearb. von Friedrich Bezold. München: Rieger 1903, S. 180, Anm. 1, S. 188f. Edmond Bourgoing: DISCOVRS || VERITABLE DE LʼE-||STRANGE ET SVBITE || mort de Henry de Valois [...] A PARIS, || Chez Didier Millot, pres la porte || Sainct Iacques. || Auec permission, || 1589; 8°, 15,[1] S. – Paris: BNF, Sign. 8-LB34-793. Vgl. Zwierlein (2006) S. 770 (wie Anm. 8); Longnon (1903) S. 239–241 (wie Anm. 35). Bspw. hielt der Augsburger Stadtrat Informationen bezüglich der Ermordung der Brüder Guise zurück, welche Unruhen verursachen könnten, vgl. Kölderer (2013) S. 1198 (wie Anm. 58). Pfalzgraf Johann Casimir schickte das Rechtfertigungsschreiben Heinrichs III. an den Pfälzer Rat und Obristen Fabian von Dohna mit der Aufforderung, dass dieser für 14 Tage die Herkunft der Information geheim halten sollte, vgl. Johann Casimir (1903) S. 188f. (wie Anm. 59). Vgl. Zeitung ausz Frankreich/ Von || des Guisen Todt. [...]; 1589; 4°, [8] Bl.; VD16 ZV 20199 – München: BSB, Sign. Gall.g. 1023 x, fol. A4v. Weitere obrigkeitliche Nachrichtenverbote im Reich und an den Grenzen des Reichs traten hinzu: Ab Mai 1589 galt das Verbot, Nachrichten aus Frankreich herauszuschicken, vgl. Kölderer (2013) S. 1233f., S. 1238,
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dings erst noch zeigen, wie groß die Einflussnahme der französischen Parteien und der städtischen und fürstlichen Obrigkeit im Reich auf die Religionskriegsnachrichten wirklich war. Der Regelfall war, dass sich die druckverantwortlichen Autoren, Drucker und Verleger selbst Informationen beschafften, die von ihrem individuellen Netzwerk abhingen. Die in Köln ansässige Hogenberg-Werkstatt verfügte u.a. über Kontakte aus Franz Hogenbergs Ausbildungszeit in Antwerpen und kooperierte mit Abraham Ortelius, Hieronymus Cock und Christoph Plantijn in dem überregionalen Nachrichtenzentrum Antwerpen.64 Die Werkstatt von Bernhard Jobin sammelte »systematisch Nachrichten und Flugschriften aus ganz Europa und unterhielt [...] Autoren, die daraus Traktate, Zeitungen oder Historienwerke fertigten«.65 U.a. ist ein Exemplar des französischen »EXCELLENT || ET LIBRE DISCOVRS« (1588) von Michel Hurault de l’Hôpital im Besitz Johann Fischarts nachgewiesen.66 Dieser fertigte eine Übersetzung der Schrift Huraults an, die 1589 bei Jobin als »DISCOVRS. || Ein Fuͤrtreffliches [...] Bedencken« erschien.67 Von solch spärlichen Zeugnissen abgesehen, geben die Quellen kaum einmal Auskunft über die Informationsquellen und Informationsakquise. So bilden die kritischen Auseinandersetzungen mit dem Stand der Informationen zur Ermordung König Heinrichs III. und dem Prozess der Informationsgewinnung in »Warhafftige vnd Ge=||wisse new Zeytung« und »Warhafftige newe Zeytung« die Ausnahme.68 Für mündliche Quellen lässt sich nur selten die Weiterverarbeitung in gedruckten Religionskriegsnachrichten nachvollziehen. So merkte die Flugschrift »Drey Warhafftige newe Zeitung« an, dass die Nachricht von den Hilfstrupps des Braunschweiger Herzogs
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S. 1240 (wie Anm. 58). Die Flugschrift: Drey Warhafftige newe Zeitung (wie Anm. 14) setzte sich explizit mit der Nachrichtensperre auseinander (fol. A2r). Die Regierung in Brüssel verhängte ein Verbot von Religionskriegsnachrichten in den spanischen Niederlanden, vgl. Kölderer (2013) S. 1341, Anm. 3 (wie Anm. 58): Fuggerzeitungen, Köln, 5. Oktober 1589, Codex 8962, fol. 569r und der Kölner Stadtrat ein allgemeines Nachrichtenverbot, das sich auch auf die Verfügbarkeit der Religionskriegsnachrichten auswirkte, vgl. Weinsberg (2009) 1. August 1589, ld 133v (wie Anm. 58). Vgl. Hellwig (1983) S. 12 (wie Anm. 37); Füssel (2008) S. 12 (wie Anm. 38). Johannes Arndt: Das Heilige Römische Reich und die Niederlande 1566–1648. Politischkonfessionelle Verflechtung und Publizistik im Achtzigjährigen Krieg. Köln: Böhlau 1998, S. 293. Vgl. Hauffen (1922) Bd. 2, S. 68 (wie Anm. 18). Vgl. DISCOVRS. || Ein Fuͤrtreffliches [...] Bedencken (wie Anm. 18). Vgl. jeweils die Nota in der Flugschrift: Warhafftige vnd Ge=||wisse new Zeytung, fol. A3v (wie Anm. 17) und dem Flugblatt: Warhafftige newe Zeytung (wie Anm. 17). Weitere Beispiele für eine ausdrückliche Reflektion über Nachrichten und Informationsgewinnung: Abtruck || Eines Schreibens/ [...] an || die Statt Langres [...] M. D. LXXXIX.; 4°, [2] Bl.; VD16 F 2404 – Wolfenbüttel: HAB, Sign. T: 946.4 Helmst. (22), fol. A2r; Warhaffte vnd eigent=||liche Beschreibung/ dern Historia [...] Gedruckt im Jahr 1589.; [Köln: Nikolaus Schreiber]; 4°, [6] Bl.; VD16 W 470 – Halle: ULB, Sign. an Nm 302 (9), fol. B1r; Andere beglaubte Zeitungen [...] M. D. LXXXIX.; 4°, [14] Bl.; VD16 A 2472 – Genf: BGE, Sign. Gf 1222 Rés, fol. C3v.
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Otto Heinrich, die Ende Mai 1589 Richtung Frankreich zogen, auf mündlich überlieferten Augenzeugenberichten beruhte.69 Häufiger können handgeschriebene Vorlagen bestimmt werden, weil sie in den Druckpublikationen sichtbare Spuren hinterließen. Bspw. wurde die Anrede eines Briefes wie in »Abtruck || Eines Schreibens«70 oder das Datum und der Ort einer handgeschriebenen Zeitung in gedruckten Religionskriegsnachrichten übernommen.71 Regelmäßig übernahmen die Druckpublikationen zu den Französischen Religionskriegen von 1589 Ausschnitte oder komplette Meldungen aus handgeschriebenen Zeitungen wie den Fuggerzeitungen.72 Da die Fuggerzeitungen (teils wortgleiche) Überschneidungen mit anderen handgeschriebenen Zeitungen im Reich aufweisen, ist unsicher, welche dieser Zeitungen als Vorlage der gedruckten Religionskriegsnachrichten dienten.73 In seiner Flugschrift »Drey Warhafftige newe Zeitung« führte der Druckerverleger Apiarius an, dass ihm in Basel verschiedene Zeitungen aus der Schweiz, aus Mömpelgard und aus den französischen Städten Langres, Metz und Lyon vorlagen, die zunächst in Straßburg gesammelt worden waren.74 Solche handgeschriebenen Zeitungen zu den Religionskriegen waren im Reich zwei bis drei Wochen nach einem Ereignis verfügbar, konnten innerhalb einer knappen Woche als Druckpublikationen weiterverarbeitet vorliegen und auch bereits über den
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Vgl. Drey Warhafftige newe Zeitung, fol. A3v (wie Anm. 14). Vgl. Abtruck || Eines Schreibens, fol. A1v (wie Anm. 68). Zur Übernahme von Elementen handgeschriebener Zeitungen vgl. Drey Warhafftige newe Zeitung (wie Anm. 14); Andere beglaubte Zeitungen, bes. fol. C1v (wie Anm. 68); Jurament vnd Eyd (wie Anm. 27). Zur Beibehaltung der Anrede aus Briefen vgl. Heinricus der dritt, fol. A3v (wie Anm. 29); Abschrifft || Einer Erinnerung/ so || die Alte Koͤnigin [...] gethan. [...] 1589; 4°, [4] Bl.; VD16 F 2374 – München: UB LMU, Sign. 4 Hist. 2142:7, fol. A2r. New Zeytung || Auß Franckreich (wie Anm. 24) stimmte mit: Waher vnd wie sich, die Erschröcklich || Mörderrey [...] vgl. Fuggerzeitungen, s.l., s.d., Codex 8961, fol. 915v–917v überein. Die kurze Meldung über die Ermordung Heinrichs III. und unmittelbare Folgen in der Fuggerzeitung, vgl. Fuggerzeitungen, Paris, 8. August 1589, Codex 8962, fol. 262r/479r–262v/479v fand sich ebenfalls im Anschluss an den ausführlichen Bericht über die Ermordung Heinrichs III. in: Heinricus der dritt, fol. A3r (wie Anm. 29). Vgl. außerdem die Übereinstimmungen von: Zeyttung || Auß Franckreich (wie Anm. 16) und Warhaffte vnd eigent=||liche Beschreibung (wie Anm. 68) mit Bericht des König in Franckreichs || zugefügter entleibung. In: Fuggerzeitungen, s.l., 26. August 1589, Codex 8962, fol. 248r/492r–250v/494v und von: New Zeytung || Auß Franckreich (wie Anm. 24) sowie Newe Zeitung aus Franckreich [...]; [1589]; 4°, [4] Bl.; VD16 ZV 26282 – Berlin: StaBi, Sign. Flugschr. 1588/6 mit Waher vnd wie sich, die Erschröcklich || Mörderrey, Jetz verschinen. 23. vnd || 24. December. A[nn]o: 88. Jn Franckh=||reich zvegetragen. In: Fuggerzeitungen, s.l., s.d., Codex 8961, fol. 915v–917v. Zu den Überschneidungen vgl. Katrin Keller: Zeitungssammlungen im Alten Reich. Umrisse einer Medienlandschaft. In: Katrin Keller / Paola Molino: Die Fuggerzeitungen im Kontext. Zeitungssammlungen im Alten Reich und in Italien. Wien: Böhlau 2015 (= Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsbände, Bd. 59), S. 48–98, hier bes. S. 89f. Vgl. Drey Warhafftige newe Zeitung, fol. A1v-A2r (wie Anm. 14).
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lokalen Druckmarkt hinaus im Reich zirkulieren.75 So war es in Köln aufgrund einer Nachrichtensperre, die der Rat im Zuge des Kölner Kriegs verhängte, während des August 1589 untersagt, Nachrichten zu fertigen, zu drucken und zu vertreiben.76 Allerdings konnte sich der Kölner Ratsherr Hermann Weinsberg Ende August zwei Einblattdrucke zur Ermordung Heinrichs III., »Wunderbarlicher Abschiedt vnd seltzamer dot« und »Ware abcontrafeitung«, beschaffen.77 Diese Einblattdrucke waren in Frankfurt am Main wohl auf Basis handgeschriebener Nachrichten gefertigt worden und standen Ende August bereits in Köln zum Verkauf.78 Handgeschriebene deutsche Zeitungen bildeten also eine Ergänzung bzw. alternative Informationsmöglichkeit zu den französischen gedruckten und handgeschriebenen Publikationen, auf denen ein Großteil der deutschen gedruckten Religionskriegsnachrichten basierte.79 Die Flugschrift »Koͤnigkliche Declaration.« bspw. griff auf die »Mémoire Sommaire« zurück, eine vom französischen König beauftragte Argumentensammlung gegen das Haus Guise. Diese war nach den Morden in Blois im Dezember 1588 von Heinrich III. mit Briefen an den französischen Adel und die Städte verschickt und sowohl handschriftlich als auch gedruckt verbreitet worden.80 An den Kölner Buchhändler Johann Waldorf gelangte das Dokument wohl über die niederländische Postroute über Antwerpen. Eine im Wortlaut abweichende und daher unabhängige
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Vgl. Schäfer-Griebel (2018) S. 247–251 (wie Anm. 9). Vgl. Weinsberg (2009) 1. August 1589, ld 133v (wie Anm. 58). Wunderbarlicher Abschiedt vnd seltzamer dot Henrici des 3 [...]; Radierung – Paris: BNF, Sign. RES. QB-201 (9)-FOL, p. 27; Ware abcontrafeitung Wie der konig in Franckreich [...] erstochen [...]; Kupferstich – Paris: BNF, Sign. RES. QB-201 (9)-FOL, p. 28. Vgl. Weinsberg (2009) 28. August 1589, ld 138v–139r (wie Anm. 58). Bspw. nutzte die Schrift: Wunderbaͤrlicher || Abschiedt/ vnd seltza=||mer Todt/HENRICI des dritten [...] Erstlich gedruckt zu Pariß/ durch GVI=||LAME BICHON: vnd PIERRE DE || HAYES: darnach auch zu Bergen/ oder Mons || in Henegaw/ durch Charles Michaëls/ vnd letz=||lich auß den Frantzoͤschen exemplärn || verteütscht vnd vbersetzt. || Im Jahr 1589.; 4°, [4] Bl.; VD16 W 4624 – Wolfenbüttel: HAB, Sign. T: 946.4 Helmst. (23) die Schrift ADMIRABLE || ET PRODIGIEVSE || MORT DE HENRY || DE VALOYS. [...] A PARIS, || Chez Pierre Des-hayes, Imprimeur, || en la rue du Bon-puits, pres la || porte sainct Victor. || 1589. || Auec permißion.; 8°, 15 S. – Paris: BNF, Sign. 8H-6367 (1) als Vorlage. Daneben griff bspw. Erzehlung || Vonn dem Todte [...] von Guysen [...] 1589.; 4°, [4] Bl.; VD16 ZV 5394 – München: UB LMU, Sign. 4 Hist. 2142:2 den DISCOVRS || DE LA MORT [...] DE GVY-||se [...] im-||primé par Iean Grosset, || imprimeur. || A LIMOGES, || 1589.; 8°, [4] Bl. – Paris: BNF, Sign. 8-LB34-556 auf. Vgl. Heinrich III., König von Frankreich: Instruction. In: Documents historiques sur lʼassassinat des Duc et Cardinal de Guise. In: Revue rétrospective, ou Bibliothèque historique, contenant des mémoires et documents authentiques, inédits et originaux, 3. Jg. 1834, S. 433–440, online: http://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb32861344z [30.12.2017]; INSTRVCTION || DV ROY AV Sr DE. N. [...] Imprimé à Bloys. || 1589.; [Middelberg: Richard Schilder]; 8°, [4] Bl. – Den Haag: Koninklijke Bibliotheek, Sign. Knuttel 862; Dass diese Schrift noch in weit größerem Rahmen kursierte, belegt ein Eintrag vom 2. Januar, Buzanval to Burghley. In: January 1589, 1–5. In: Calendar of State Papers Foreign, Elizabeth, Bd. 23: January–July 1589, 1950, online: http://www.british-history.ac.uk/report.aspx?compid =75228 [30.12.2017].
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Übersetzung kursierte als Flugschrift des Basler Druckerverlegers Apiarius. Ihm war wohl eine Fassung der »Mémoire Sommaire« über die Schweizer Postroute über Genf zugänglich. Darüber hinaus nahm eine handgeschriebene »Nürnberger Zeitung« die Meldung in stark gestraffter Form auf.81 Seltener als für die Flugschriften kann für die Flugblätter und Einblattdrucke im Reich die konkrete französische Vorlage bestimmt werden.82 Der Bildteil des Einblattdrucks »Ware conrafaiung«83 bspw. orientierte sich an dem Porträt des Königsmörders Jacques Clément, das in Frankreich in verschiedenen Fassungen erschienen war.84 Statt eine der verfügbaren französischen Textvorlagen zu übertragen, wurde auf dem deutschen Einblattdruck ein neutral beschreibender Titel verwendet. Im Fall des deutsch-französisch-lateinischen Einblattdrucks »GVISIA TEMERITAS« lag ein französischsprachiges Blatt mit identischem Holzschnitt als Vorlage vor.85 Zeitgleich oder etwas später übernahm die Hogenberg-Werkstatt das Stammbaummotiv in ihren Einblattdruck »Anstandt«,86 wobei entweder eine gemeinsame französische Vorlage oder aber das Blatt »GVISIA TEMERITAS« für den Bildteil herangezogen wurde. Die als Vorlagen verwendeten Flugblätter, Einblattdrucke und Flugschriften gelangten teilweise ins Reich, indem sie als Beilagen im handschriftlichen Nachrichtenaus-
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Zu der Nürnberger Zeitung vgl. Fritz Fuchs: Die geschichtliche Entwicklung des Nürnberger Zeitungswesens bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. (masch. Diss.) Erlangen 1925, S. 66f. Bspw. lässt sich ein Ausschnitt des Blatts: König Heinrich der dritt (wie Anm. 15) der Hogenberg-Werkstatt auf eine französische Vorlage zurückführen: Die Vierteilung Cléments beruhte auf dem gleichen Bildentwurf wie LE || MARTYRE || DE FRERE IACQVES || CLEMENT [...] A PARIS, || Chez Robert le FIZELIER, ruë S. || Iacques à la Bible dʼor. || 1589. || Auec Permißion.; 8°, 62,[2] S. – Paris: BNF, Sign. 8-LB34-815 und Figure de lʼadmirable & diuine resolution de F. Iacques Clement [...]; Paris: Roland Guérard / Nicolas Prévost, [1589]; Kupferstich, Blatt: 31,8/32,2 cm x 37,6 cm, Bild: 23,6 cm x 27,1 cm – Paris: BNF, Qb1, Histoire de France 1589–1610, Sign. M 87839 [Mikrofiche]). Ware conrafaiung Brueder Iacob Clements [...]; [1589]; Kupferstich – Paris: BNF, Sign. RES. QB-201 (9)-FOL, p. 32. Vgl. F. IAQVES CLEMENT; Kupferstich, Maße: o.A. – Pierre de LʼEstoile: Les belles Figures et Drolleries de la Ligue [...]; [Paris] 1589-1606; in-folio, 46 Bl., fol. 16r (unten, rechts); Le portraict de frere Iacques Clement [...]; [Paris]: Antoine Du Brueil, [1589]; Holzschnitt, Maße: o.A. – Paris: BNF, RES. QB-201 (9)-FOL, p. 32; F. IAQVES CLEMENT; Holzschnitt, Maße: o.A. – Pierre de LʼEstoile: Les belles Figures et Drolleries de la Ligue [...]; [Paris] 1589-1606; in-folio, 46 Bl., fol. 16r (unten, links); HISTOIRE ABREGEE DE LA VIE DE HENRY DE VALOIS [...] Par A. D. R. L.; Paris: Pierre Mercier, [1589]; Holzschnitt, Maße: o.A. – Pierre de LʼEstoile: Les belles Figures et Drolleries de la Ligue [...]; [Paris] 1589–1606; in-folio, 46 Bl., fol. 16r (oben). GVISIA TEMERITAS; [1589]; Kupferstich – Darmstadt: HLuHB, Sign. Günd 8045, fol. 282a. Zu dem französischen Blatt vgl. Roland Mousnier: Ein Königsmord in Frankreich. Die Ermordung Heinrichs IV., aus dem Franz. übers. von Horst Hillienhof. Berlin: Propyläen 1970 (= Propyläen-Bibliothek der Geschichte), Abb. vor S. 209. Vgl. Anstandt (wie Anm. 15).
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tausch weitervermittelt wurden.87 Auch über Kooperationen von Druckwerkstätten sowie Messen im Reich wurden französischsprachige Flugschriften und Flugblätter weiterverbreitet. Zwar wurden diese normalerweise nicht in die Verzeichnisse der Buchhändler und die Messkataloge aufgenommen,88 doch erwähnte der Frankfurter Messkatalog von Georg Willers zwei französischsprachige Flugschriften zu den Religionskriegen 1589.89 Allerdings behandelten diese beiden Werke nur Ereignisse aus den Religionskriegen vom Frühjahr bis Herbst 1588 und waren damit mindestens ein halbes Jahr alt. Auf den Messen vertriebene lateinische Nachrichtenpublikationen zu den Religionskriegen, die für den überregionalen Vertrieb geeignet waren, scheinen 1589 sämtlich im Reich gedruckt worden zu sein. Dies legen die Druckeradressen und parallele deutsche Ausgaben der lateinischen Werke nahe.90 Die Buchmesse nahm für die Nachrichtenvermittlung zwischen Frankreich und dem Reich eine eher untergeordnete Rolle ein. 2.4. Nachrichtenselektion Auf dem Druckmarkt im Reich dominierten königsnahe und offiziell-amtliche Druckpublikationen. Mehr als die Hälfte der Ausgaben bezog Partei für den König, während sich ca. ein Fünftel aufseiten der französischen Protestanten bzw. des Königs von Navarra positionierte.91 Lediglich zwei Druckpublikationen, »Wunderbaͤrlicher || Ab-
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Vgl. Oswald Bauer: Pasquille in den Fuggerzeitungen. Spott- und Schmähgedichte zwischen Polemik und Kritik (1568–1605). München: Böhlau 2008 (= Quelleneditionen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Bd. 1), S. 201f.; Theodor von Beza bspw. erhielt Druckpublikationen und Informationsdossiers zu den Französischen Religionskriegen und leitete diese innerhalb seines Korrespondenznetzwerks weiter, vgl. Theodor von Beza: Correspondance de Théodore de Bèze, bearb. von Hippolyte Aubert, hg. von Alain Dufour / Béatrice Nicollier / Hervé Genton. Genf: Droz 2008 (= Travaux dʼHumanisme et Renaissance, Bd. 442), S. XIV, bes. Anm. 13, S. 136f., S. 192-202, Nr. 2034. Vgl. Schilling (1990) S. 26–28 (wie Anm. 49); Paul Roth: Die neuen Zeitungen in Deutschland im 15. und 16. Jahrhundert. Leipzig: Teubner 1914 (= Preisschriften der Fürstlich Jablonowskischen Gesellschaft. Gesch.-ökonomische Sektion, Bd. 25), S. 75f. Vgl. den Katalog zur Fastenmesse 1589 (Außlendische Buͤcher). In: Georg Willer: Die Messkataloge Georg Willers. Hildesheim: Olms 1972–2001, S. 178: La harangue faicte par le roy Henri troisiesme [...] à Bloys par Barthellemi Gomet & Iamet Mestayer imprimeur du roy, 4. und: Discours sur lʼestat de France avec la copie de lettres patentes du roy [...]. IEHOVA VINDEX, || siue || DE REBVS GAL-||LICIS (wie Anm. 21) kursierte auch als deutsche Fassung unter dem Titel: IEHOVA VINDEX (wie Anm. 19) und Gottes des Allerhoͤchsten Rath || vnd Vrtheil. [...] ANNO || M.D. LXXXIX.; 4°, [16] Bl.; VD16 G 2680 – Wolfenbüttel: HAB, Sign. 50.10 Pol. (8). Auch zu: LITERAE || REGIS NAVAR||RENI (wie Anm. 23) waren verschiedene deutschsprachige Ausgaben im Umlauf: Außschreiben || Des Koͤnigs von Na=||uarren (wie Anm. 18), Des Koͤnigs von Nauarren || Außschreiben [...] 1589.; 4°, [13] Bl.; VD16 ZV 27101 – München: BSB, Sign. Gall.g. 1025 o und Ein schrieben [...] Deß Koͤnigs von || Nauarra [...] M. D. LXXXIX.; 4°, 34 S.; VD16 N 296 = VD16 ZV 11390 – Halle: ULB, Sign. Alv Ll 248 (11). So bewertete z.B. die Flugschrift: Erklaͤrung/ || Auß was Ursachen (wie Anm. 14) das königliche Vorgehen in Blois als legitime Hinrichtung der Brüder Guise. Koͤnigkliche
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schiedt« und »Zeyttung || Auß Franckreich«, äußerten sich dezidiert ligafreundlich.92 Damit kehrten sich im Reich die Verhältnisse des französischen Druckmarkts um: In Frankreich zeigten sich rund vier Fünftel der Ausgaben liganah, ein Zehntel königsfreundlich und nur knapp 1,5 Prozent der Druckpublikationen protestantenfreundlich bzw. pro-navarrisch.93 Somit unterschied sich die Ausrichtung des Druckmarkts im Reich stark von derjenigen in Frankreich, obwohl ein Großteil der deutschen Druckpublikationen unmittelbar auf französische Vorlagen zurückgeführt werden kann. Dies war durch die Selektion bedingt: Indem vor allem königliche und königsnahe, protestantische und pro-navarrische Neuigkeitsberichte und offizielle Dokumente (z.B. königliche Deklarationen) aus Frankreich im Reich aufgenommen wurden, beherrschte ein kleines Segment der französischen Religionskriegsnachrichten den deutschen Druckmarkt. Neben dieser obrigkeitsnahen und protestantischen Ausrichtung prägte die druckökonomische Orientierung auf potentielle Interessenten hin die Druckpublikationen. So hoben die Titelblätter die Glaubwürdigkeit und Wahrheitstreue der Nachrichten, die aktuelle Relevanz und den sensationellen Charakter der Ereignisse und die Prominenz der beteiligten Personen hervor.94 Um die Wiedererkennbarkeit und Plausibilität zu steigern, wurden Informationen und Argumentationsmuster, die durch bereits kursierende Berichte mit einem Ereignis verbunden wurden, wiederaufgenommen.95 Auf die französischen Vorlagen wiesen die Flugschriften oft ausdrücklich auf dem Titelblatt hin.96 Die Referenz auf eine konkrete Vorlage sollte die Authentizität der Nach-
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Declaration || Erzehlung (wie Anm. 22) machte die Guise verantwortlich, die Bürgerkriege in Frankreich zu verschulden und den Kampf der Krone gegen die Ketzerei zu hemmen (fol. A2r, fol. B1r). Vgl. Wunderbaͤrlicher || Abschiedt (wie Anm. 79); Zeyttung || Auß Franckreich (wie Anm. 16). Vgl. Alexander S. Wilkinson: »Homicides royaux«. The assassination of the Duc and Cardinal de Guise and the radicalization of French public opinion. In: French history, 18. Jg. 2004, Nr. 2, S. 129–153, online: http://dx.doi.org/10.1093/fh/18.2.129 [10.01.2018], hier S. 135f. Die verbleibenden ca. 8,5 Prozent waren nicht eindeutig zuzuordnen. Für eine ausführliche Diskussion der Zahlen vgl. Schäfer-Griebel (2018) S. 122 mit Anm. 350 (wie Anm. 9). Vgl. die Verwendung bestimmter Reizwörter wie jüngst, schrecklich und wundersam, z.B. Newe Zeitung aus Franckreich, Titelblatt (wie Anm. 72) oder auch Anspielungen auf die beiden Könige von Frankreich und Navarra, einen Mönch mit vergiftetem Messer sowie die Ereignisse von Königsmord und Thronnahme, z.B. Heinricus der dritt, Titelblatt (wie Anm. 29). Publikationen zum Königsmord griffen sehr häufig auf, wie Clément sich Rat von seinen Ordensbrüdern holte, die Kommunion empfing und beichtete, z.B. König Heinrich der dritt (wie Anm. 15); Als achtzig neun die Jaarzal war; [1589]; Kupferstich – Paris: BNF, Sign. RES. QB-201 (9)-FOL, p. 24; Wunderbarlicher Abschiedt vnd seltzamer dot (wie Anm. 77); Wunderbaͤrlicher || Abschiedt, fol. A3r (wie Anm. 79). Bspw. basierte: Abschrifft || Einer Erinnerung (wie Anm. 71) auf REMONSTRANCE || FAITTE AV || ROY, PAR LA ROYNE || MERE [...] A BLOYS. || Par Pierre Tochet. || LʼAn 1589. ; 8°, 7 S. – Paris: BNF, Sign. 8-LB34-632, Außschreiben Koͤnig=||licher
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richt und Transparenz der Informationsbeschaffung zum Ausdruck bringen, auf die Zuverlässigkeit und Nähe des Berichts zum Geschehen verweisen und damit der Publikation Glaubwürdigkeit verleihen. Im Gegensatz zu den Flugschriften benannten die Flugblätter und Einblattdrucke im Reich die verwendeten französischen Vorlagen nicht explizit.97 Zudem richtete sich die Auswahl danach, wie sich die notwendige Investition im Verhältnis zum erwarteten Gewinn verhielt. Kurze, gut verständliche und einfach zugängliche Darstellungen, die kaum Überarbeitungen bedurften, konnten mit geringem Arbeitsaufwand in den eigenen Offizinen nachproduziert werden.98 Überschneidungen der Flugschriften resultierten zum einen daraus, dass dieselbe französische Schrift oder deutsche handgeschriebene Zeitung als Orientierung diente,99 zum anderen daraus, dass gedruckte Religionskriegsnachrichten anderer Offizinen weiterverwen-
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Mayestat von Nauarra [...] M.D.LXXXIX.; 4°, [4] Bl.; VD16 N 284 – Berlin: StaBi, Sign. Flugschr. 1589/12 auf DECLARATIONS || DV ROY, ET DES PRIN-||ces de son sang [...] A CAEN. || De lʼImprimerie de Iaques le Bas. || M. D. LXXXIX. || Auec Priuilege.; 4°, 12 S. – Paris: BNF, Sign. 4-LB35-87 und Außzug eines Schreibens [...]; [1589]; 4°, [3] Bl.; VD16 A 4426 – München: BSB, Sign. Res/4 Eur. 345,26 auf EXTRAICT || DʼVNE MISSIVE [...] A TOVRS, || 1589.; 8°, 7 S. – Paris: BNF, Sign. 8-LB34-734. Vgl. auch den Titelblattverweis in INDVCIAE. (wie Anm. 19): »Jtem/ Gemeltes Koͤnigs inn Franckreich || Edict vnnd außschreiben«. Dass sich dennoch konkrete Vorlagen für Flugblätter und Einblattdrucke aus Frankreich ausmachen lassen, wurde im Kapitel zur Informationsakquise (Kap. 2.3.) ausgeführt. So legt die wörtliche Übereinstimmung von INDVCIAE. (wie Anm. 19) mit dem ersten Teil von Außschreiben || Koͤn: Mayestat (wie Anm. 18) nahe, dass eine Schrift die andere als Vorlage nutzte. Der Bericht über die Ermordung der Brüder Guise und die Einnahme von Jametz in Newe Zeitung von Pleeß (wie Anm. 14) stimmte mit Zeittung von Bleyß auß || Franckreich [...] Gedruckt im Jahr 1589.; 4°, [6] Bl.; VD16 Z 281. Weitere Nummern: VD16 U 132 – Zürich: ZB, Sign. 18.581,8), Zeitung ausz Frankreich (wie Anm. 63) sowie Warhafftige Zeittunge von Bleess (wie Anm. 14) – in einzelnen Textpassagen auch wörtlich – überein. Die beigefügten Texte in den vier Druckpublikationen variierten dagegen. Außschreiben || Koͤn: Mayestat (wie Anm. 18) und EDICT || Der Koͤniglichen May. (wie Anm. 18) verwendeten die gleichen drei französischen Vorlagen, nämlich DECLARATION || DV ROY [...] A TOVRS, || Chez Iamet Mettayer Imprimeur || ordinaire du Roy. || M. D. LXXXIX. || Auec priuilege de sadicte Maiesté.; 8°, 20,[2] S. – Lyon: BM, Sign. FC192-22, EDIT DV ROY. [...] IMPRIME A METZ, || Par ABRAHAM FABER. || M. D. XXCIX. || Auec permißion.; 8°, 10 S. – Paris: BNF, Sign. F-46889 (2) und der von Philippe du Mornay verfasste LETTRE || DV ROY || DE NAVARRE || AVX TROIS-ESTATS [...] M. D. LXXXIX.; 8°, 24 S. – Paris: BNF, Sign. 8-LB34-684 (A). Die Unterschiede in der Wortwahl legen nahe, dass hier unabhängig Übersetzungen der gleichen französischen Vorlage angefertigt wurden. Die deutsche Flugschrift: Abtruck || Eines Schreibens (wie Anm. 68) und die beigebundene Schrift in: Jurament vnd Eyd (wie Anm. 27) sowie DISCOVRS || Warhafftige erzehlung (wie Anm. 28) stimmte mit Glaubwürdige Copia. Vnd Abschrüfft einer || Missiff. Von Kön: Maÿt. Jnn Franckhreich. || so Er an sein Statt Langres gethon. In: Fuggerzeitungen, s.l., s.d., Codex 8962, fol. 301v/440r–302v/441r überein.
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det und nachgedruckt wurden.100 Bei Wiederaufnahmen von bereits kursierenden Druckpublikationen ließ sich die Verkäuflichkeit der Publikation und auch das Risiko der obrigkeitlichen Zensur bereits vorab kalkulieren. Bei aller offenkundigen wirtschaftlichen Orientierung und pragmatischen Herangehensweise verriet doch die Materialauswahl und Bewertung der französischen Ereignisse im Reich im Regelfall die religionspolitische, meist protestantische Orientierung.101 Dabei verzichteten die gedruckten Religionskriegsnachrichten aber auf eine radikale Sprache und schmähende Bezeichnungen, was auf die Tendenz zur Professionalisierung des Nachrichtengewerbes im ausgehenden 16. Jahrhundert verweist.102 2.5. Bearbeitung und Übersetzung Trotz der in den Drucken sichtbar gebliebenen Auswahlprozesse hatten die Druckverantwortlichen im Reich wohl mit einem Mangel an Informationen zu kämpfen. Darauf verweist die Zusammenstellung von Flugschriften und Flugblättern aus Material unterschiedlicher Provenienz, welches verschiedene Textsorten,103 verschiedenartige Stile104
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Während bei Apiarius zwei Ausgaben von: Gewisse Zeytung auß Franckreich (wie Anm. 14) erschienen, fertigte ein anonymer Drucker eine weitere Ausgabe an, Greifswald: UB, Sign. 542/Og 429 adn3. Zu den drei von Cesaree verantworteten Ausgaben des DISCOVRS || Warhafftige erzehlung (wie Anm. 28) kamen sechs weitere anonym erschienene Ausgaben hinzu, VD16 D 2046. Weitere Nummern: VD16 F 2409 – Jena: ThULB, Sign. 4 Bud.Hist.un.134 (4); Paris: BNF, Sign. 4- LB34-904; VD16 D 2043. Weitere Nummern: VD16 F 2406 – Halle: ULB, Sign. Pon IIn 5329, QK; VD16 D 2045 – Berlin: StaBi, Sign. Flugschr. 1589/15A; Berlin: StaBi, Sign. Flugschr. 1589/15B; Berlin: StaBi, Sign. Flugschr. 1589/15. Auch von den Blättern der Hogenberg-Werkstatt: König Heinrich der dritt (wie Anm. 15) und Ecce Ducis (wie Anm. 15) erschienen Nachdrucke: Kõnig Heinrich III. wird S. Clou [...] ermordet [...]; Radierung, Maße: o.A. – Paris: BNF, Sign. RES. QB-201 (9)-FOL, p. 24; Der Hertzog von Guisa wird [...] hingericht. [...]; Radierung – Paris: BNF, Sign. RES. QB-201 (9)-FOL, p. 10. Z.B. Einordnung des jüngsten Geschehens als katholische Verschwörung: Gottes des Allerhoͤchsten Rath, fol. B4v–C2v (wie Anm. 90); Warhafftig vnd Kur=||tzer Jnhalt, S. 7–9 (wie Anm. 32). Vgl. die Benennung der Parteien: Hugenotten, z.B. Koͤn. Mayestat in Franck=||reich Erklerung [...] M. D. LXXXIX.; 4°, [8] Bl. – Wien: ÖNB, Sign. 79.Q.141/Sigel: Alt Prunk, fol. A4r; Warhafftige Zeittunge von Bleess, fol. A2r (wie Anm. 14), Anhänger Navarras und Calvinisten, vgl. Newe Zeitung aus Franckreich, fol. A2r (wie Anm. 72); diejenigen der römischen Religion, vgl. Warhafftige Zeittunge von Bleess, fol. A2r (wie Anm. 14) oder der alten Religion, vgl. Newe Zeitung aus Franckreich, fol. A3r (wie Anm. 72). Nur vereinzelt wurden Katholiken als Guisische, Papisten etc. oder Protestanten als Ketzer und Häretiker bezeichnet. Z.B. Wahrhaffter vnd Gruͤndlicher || Bericht [...] Gedruckt im Jahr || M. D. LXXXIX.; 4°, [12] Bl.; VD16 D 2044. Weitere Nummern: VD16 F 2407 – Frankfurt: UB, Sign. 1764 [XII, 91]: Bericht, königliches Schreiben, Fortsetzung des Berichts, Eid Heinrichs IV., Eid der Prinzen, zweiter Bericht, Psalmen, Bildteil, Gedicht; DISCOVRS || Warhafftig erzehlung […] Gedruckt zu Basel/ in Verlegung Petri Cesaree/ Anno 1589.; 4°, [10] Bl.; VD16 D 2047. Weitere Nummern: VD16 F 2410 – Zürich: ZB, Sign. 18.562,10: Bericht, Abdruck eines Briefs, offizielles Ausschreiben, Gedicht/Epitaph, Bildtafel.
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und unterschiedliche, teilweise auch gegensätzliche Positionierungen einschloss.105 Dabei wurden einzelne Textbausteine so ausgewählt und zusammengruppiert, dass ein eigenständiges Gesamtprodukt entstand. Im Fall der Flugschrift »Drey Warhafftige newe Zeitung« wurden zunächst verschiedene Materialien zu einem Bericht kompiliert. Teils wurde auf konkrete Vorlagen und auch auf anderslautende Darstellungen verwiesen.106 Im Anschluss an den Haupttext waren in »Drey Warhafftige newe Zeitung« einzelne Zeitungsmeldungen, die aus den Fuggerzeitungen stammen könnten, abgedruckt.107 Sämtliche verfügbaren Materialien wurden so zusammengestellt, dass aus verschiedenen Perspektiven eine recht genaue Darstellung der französischen Ereignisse entstand. Allerdings blieben die Textbausteine oft unverbunden, so dass sich verschiedene Textabschnitte nicht nur ergänzten, sondern auch teilweise überschnitten und widersprachen.108 Die Interpretation ein und desselben Textes variierte stark je nach Zusammenstellung von Materialien. So stellte die als Diffamierung des Königs angelegte Flugschrift »Wunderbaͤrlicher || Abschiedt« die königskritische, ligafreundliche Schrift »Copia« neben einen ligistischen Text und eine Prophezeiung des Todes Heinrichs III.109 Im Kontext der pro-königlichen und protestantenfreundlichen Flugschrift »DISCOVRS.
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Z.B. bot: DISCOVRS || Warhafftig erzehlung (wie Anm. 103) zuerst eine kommentierte, wertende Darstellung der langfristigen Entwicklungen und kausalen Zusammenhänge. Hierauf folgte ein lebendig, emotional und detailreich gestalteter Ereignisbericht. Daran schloss sich eine kritisch-diffamierende Schrift an (fol. B3r–B4v). Vgl. auch den Bruch zwischen der technisch feinen, lebendigen Ausgestaltung des Bildvordergrunds in: Anstandt (wie Anm. 15) und den skizzenhaft-groben Hintergrundszenen, die aus einem anderen Bildentwurf zu stammen scheinen. In: Zeitung ausz Frankreich (wie Anm. 63) blieb der Prosatext neutral, während das angehängte Gedicht anti-ligistisch ausgerichtet war. Betonten in: Wahrhaffter vnd Gruͤndlicher || Bericht (wie Anm. 103) Titel und Titelbild die erfolgreiche Thronfolgeregelung von Heinrich III. zu Heinrich IV., worauf eine antiligistische Schrift folgte, referierte die nachfolgende: Copia die ligistische Position, allerdings in distanzierter Weise (fol. C3r). Am Ende der Schrift kritisierten die Psalmen, das Gedicht und die Darstellung des aufgebahrten janusköpfigen Königs, umgeben von den Unglücksboten Krähen und Raben, deutlich den letzten König (fol. C4v). Vgl. Drey Warhafftige newe Zeitung, fol. A1v (wie Anm. 14). Die Dritte Zeitung auß Rom. || vom 3. Junij Anno 89. In: Drey Warhafftige newe Zeitung, fol. A4r (wie Anm. 14) zum päpstlichen Monitorium für Heinrich III. stimmte mit einer Meldung vom 3. Juni 1589 aus Rom in den Fuggerzeitungen überein, Codex 8962, fol. 306r/795r–306v/795v. Der Bericht: Aus Venedig/ von dem || 9. Junij/ Anno 89., fol. A4v fand sich in der Fuggerzeitung aus Venedig vom 9. Juni 1589, Codex 8962, fol. 306v/795v–307r/796r. Vgl. bspw. die sich stark inhaltlich überschneidenden Ereignisberichte in: Koͤnigkliche Declaration || Erzehlung (wie Anm. 22). Die Schrift: Jurament vnd Eyd (wie Anm. 27) argumentierte nicht nur für die Thronfolge des Protestanten Heinrich von Navarra (fol. A1v), sondern auch dafür, die katholische Religion zu schützen und Paris gegen die Anhänger der Ketzerei zu unterstützen (fol. A2v-A3r). Hierzu war noch ein Schreiben gruppiert, das sich gegen die Feinde Heinrichs III. wandte (fol. A3v). Wunderbaͤrlicher || Abschiedt (wie Anm. 79).
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|| Warhafftige Erzehlung« nahm der gleiche Textabschnitt den Charakter einer Selbstentlarvung der Katholiken als Lügner, Aufrührer und Verschwörer an.110 Insgesamt war das Druckgewerbe 1589 durch Pragmatismus und situative Anpassungen von Inhalten und Darstellungsweisen geprägt und klar an Angebot und Nachfrage ausgerichtet. So schlachtete Leonhard Heußler die zuerst bei Johann Waldorf in Köln erschienene Flugschrift »Koͤnigkliche Declaration || Erzehlung« aus.111 Ohne größere Bearbeitungen druckte er den ersten Abschnitt der Schrift unter dem gleichen Titel wie Waldorfs Flugschrift.112 Die letzten Teile der Kölner Ausgabe von Waldorf113 nahm Heußler wörtlich in seiner Flugschrift »Frantzoͤsische Zeittung« auf.114 Zeigte der erste Teil von »Frantzoͤsische Zeittung« einen von zahlreichen Stilmitteln aufgelockerten Text,115 wurde dies im zweiten Teil des Werks durch einen farblosen, reihenden Stil abgelöst. Offenkundig stellte Heußler hier Material aus verschiedenen Quellen zusammen, ohne Glättungen vorzunehmen. In seiner Ausgabe von »Koͤnigkliche Declaration.« übernahm Heußler aus der Vorlage des katholischen Druckers Waldorf auch die Bezeichnung Ketzer für die französischen Reformierten ohne eine Distanzierung.116 Der Verzicht, in den Text einzugreifen, fällt umso mehr ins Auge, weil Heußler Waldorfs Vorlage durchaus überarbeitete: So ergänzte Heußler zwei Abschnitte mit aktuellen Nachrichten aus den Niederlanden, um seine Publikation attraktiver zu gestalten.117 Für den Nürnberger Drucker Heußler stand offenkundig ein starker Pragmatismus und die deutliche Orientierung auf den Markt und die Gewinnmaximierung hin im Vordergrund seiner Drucktätigkeit. Einen anderen Umgang mit der Vorlage als Heußlers Offizin zeigte sich in einer weiteren Ausgabe von »Koͤnigliche Declaration«118. Dort waren die Brüche und Widersprüche im Text geglättet, Bildlegenden zu der beigefügten Bildtafel »Aŭszlegŭng Vnd bedeŭtŭng«119 in den Text integriert und dieser durch kleinere Einfügungen so gestaltet
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Vgl. DISCOVRS. || Warhafftige Erzehlung [...] Gedruckt im Jahr/ 1589.; 4°, [8] Bl.; VD16 D 2043. Weitere Nummern: VD16 F 2406 – Wolfenbüttel: HAB, Sign. H: J 164.4 Helmst. (4), fol. B3r–B4v. Vgl. Koͤnigkliche Declaration || Erzehlung (wie Anm. 22). Vgl. zu Heußlers Ausgabe: Koͤnigkliche Declaration., fol. A2r, fol. A2v (wie Anm. 29). Koͤnigkliche Declaration || Erzehlung (wie Anm. 22): »Ursach/ Welcher massen Heinricus der dritte || diß Namens Regierender Koͤnig in Frankreich/ zu Bloiß || beide Herren von Guisa/ hat hinrichten lassen.« (fol. B1r–B3v) und »Verzeichnuß derer Personen/ so Koͤnig: May: in Franckreich || zu Gefengnuß angenommen/ vnd also gefengklich auff das || Schloß Amboesa vnd Losche fuͤhren lassen.« (fol. B3v–B4r). Vgl. Frantzoͤsische Zeittung (wie Anm. 29). Vgl. Frantzoͤsische Zeittung, bis fol. A3v (wie Anm. 29). Vgl. Koͤnigkliche Declaration., z.B. fol. A2r, fol. A2v (wie Anm. 29). In: Frantzoͤsische Zeittung (wie Anm. 29) ergänzte die Meldung den Haupttext, dass der Herzog von Parma zur Unterstützung von Guise 13.000 Fußsoldaten und Reitern sammle (fol. A2r) und die Belagerung von Cambrai vorbereite (fol. A4r). Koͤnigliche Declaration (wie Anm. 18). Aŭszlegŭng Vnd bedeŭtŭng hierin stehender ziefren findet man Klärlich im Trŭck Königliche Declaration intitŭliret 1589; Radierung – Paris: BNF, Sign. RES. QB-201 (9)-FOL, p. 9.
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worden, dass er mit dem Bild korrespondierte.120 Solche aufwändigeren Überarbeitungen blieben jedoch die Ausnahme auf dem Druckmarkt der Religionskriegsnachrichten, auf dem eine pragmatische Ausrichtung überwog: So fertigten Matthes Stöckel, Abraham Smesman und Gottfried von Kempen jeweils eine Ausgabe der Flugschrift »New Zeytung«, ohne diese für das Publikum in der lutherisch-kursächsischen Residenzstadt Dresden, der reformiert-kurpfälzischen Residenzstadt Heidelberg und der katholischen Reichsstadt Köln anzupassen.121 Des Weiteren trafen die Druckpublikationen im Reich häufig Fehlaussagen122 und verwendeten in Frankreich hoch umstrittene Bezeichnungen unbedacht. In dem Einblattdruck »Als achtzig neun die Jaarzal war« wurde Heinrich III. sowohl als »Henricus Valoisus« benannt, womit die Reduktion des Königs auf die bürgerliche Person zum Ausdruck kam, als auch als »Konig« und »Konigliche Maiestat«, womit sein Herrschaftsanspruch anerkannt wurde.123 Ungenauigkeit und Mängel durch Flüchtigkeit zeigten sich vielfach. Brüche im Text und inhaltliche Abweichungen resultierten aber nicht allein aus mangelnder Investitionsbereitschaft. So konnten mehrsprachige Flugblätter, die eine kostengünstige Option waren, einen größeren Absatzmarkt zu erschließen, parallel mehrere, auch widersprüchliche Interpretationen der französischen Ereignisse für die unterschiedlichen, anvisierten Publikumskreise bieten. Gab sich in dem Einblattdruck »König Heinrich der dritt« der Hogenberg-Offizin der längere deutsche Text königsnah, so positionierten sich die daneben abgedruckten französischen Verse eher aufseiten des Königsmörders Clément.124 Hier wurden in einem Blatt, dass für zwei unterschiedliche Vertriebsräume gedacht war, die dort jeweils dominante Interpretation der jüngsten Ereignisse – im Reich königsnah, in Frankreich ligistisch – aufgenommen. Von der Hogenberg-Werkstatt ist bekannt, dass sie ihre Platten weiterverwertete: Die französischen Texte wurden neben oder unter den deutschen Versen auf der gleichen Platte eingestochen oder aber die Platten mit dem Bildteil erneut genutzt, nach-
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Diese Ausgabe wich von denjenigen Heußlers und Waldorfs an einigen Stellen ab, indem sie bspw. behauptete, dass die Guise geköpft und ihre Köpfe ausgestellt worden seien, bevor man die Leichname verbrannte (fol. B3r). Die in den Ausgaben von Heußler und Waldorf zu findende Vermutung, dass bald mehr über den Tod der Königinmutter zu hören sein werde, wurde in dieser Ausgabe nicht aufgenommen. Vgl. Stöckel: Newe Zeitung, || Wie in Franckreich (wie Anm. 26); Kempen: New Zeytung || Auß Franckreich (wie Anm. 24); Smesman: New Zeytung || Auß Franckreych (wie Anm. 25). Jacques Clément wurde als »Laques« bezeichnet, vgl. Warhafftige vnd Ge=||wisse new Zeytung, fol. A1v, A3r (wie Anm. 17) und der Aussteller seines Beglaubigungsbriefs als »Charlan«, statt als Harley, vgl. Wunderbarlicher Abschiedt vnd seltzamer dot (wie Anm. 77). Auf einem Einblattdruck war der 22. Februar als Datum der Ermordung Heinrichs III. durchgestrichen und oberhalb 1. August korrigiert worden, vgl. Ein Munch Iacob Clement furwar; 1589; Radierung, Maße: o.A. – Paris: BNF, Sign. RES. QB-201 (9)-FOL, p. 29. Als achtzig neun die Jaarzal war (wie Anm. 95). In dem knappen französischen Text: König Heinrich der dritt (wie Anm. 15) stand als aktiv Handelnder Clément im Mittelpunkt, während der König nur als Handlungsobjekt auftrat und nicht einmal namentlich genannt wurde.
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dem der ursprüngliche Text entfernt oder abgedeckt worden war. Teilweise wurden auch deutschsprachige Blätter gemeinsam mit Schnittbögen mit französischen Texten verschickt, die dann ausgeschnitten und unterhalb der Bildfelder aufgeklebt werden konnten.125 Eine effiziente Nachnutzung und situationsabhängige Anpassungsfähigkeit zeichneten die Arbeit der Hogenberg-Offizin aus.126 Mehr als jede andere Offizin, welche sich 1589 an den Religionskriegsnachrichten beteiligte, lässt sich in der Straßburger Werkstatt Jobins ein inhaltliches Programm erkennen. Bei dem Druckerverleger Bernhard Jobin und seinem Schwager Johann Fischart fielen ein religionspolitisches Engagement und eine intensive Bearbeitung der Religionsnachrichten zusammen. Fischart übersetzte Flugschriften zu den aktuellen Ereignissen in Frankreich in einem frei nacherzählenden, assoziativen Schreibstil, der durch Abschweifungen und umfangreiche Aufzählungen und einen Hang zur Polemik gekennzeichnet war.127 Für die Flugschrift »Wolbedenckliche Beschreibung«, die in sieben Ausgaben bei Jobin erschien, verfasste Fischart einige am Ende der Schrift abgedruckten Verse, in denen er gegen alles Katholische scharf polemisierte. Zwar nahm die »Wolbedenckliche Beschreibung« den liganahen »DISCOVRS || VERITABLE« von Edmond Bourgoing ungekürzt in Übersetzung auf, doch ergänzten Fischarts Verse, die kritischen Kommentare innerhalb des Textes und ein klar gegen die Liga stellungnehmendes Vor- und Nachwort Bourgoings Text.128 Durch diese Rahmung wurden die ligafreundlichen Aussagen der französischen Vorlage relativiert und dem Text in der deutschen Publikation ein gänzlich anderer Charakter verliehen. Der andere Publikationskontext im Reich als in Frankreich hatte Einfluss auf die Anknüpfungsfähigkeit und rechtliche Verbindlichkeit der französischen Vorlage. Ein normativer Text, wie eine königliche Deklaration, besaß im Machtbereich des französischen Königs einen rechtsverbindlichen Charakter und war zugleich Information und Teil des politischen Aushandlungsprozesses. Im Reich aber war die Schrift nur eine von verschiedenen Informationsquellen bzw. Vorlagen für eine Druckpublikation. In der Flugschrift »Koͤnigkliche Declaration.« wurden daher die Umsetzungsbestimmungen, die am Ende der »INSTRVCTION || DV ROY« abgedruckt waren, gestrichen.129 Auch durch die unterschiedliche Aufladung von Begriffen verschoben sich Bedeutun-
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Z.B. Hogenberg-Album, Paris: BNF, Sign. 4-QE-64 (A). Zur Praxis der Werkstatt vgl. Hellwig (1983) S. 10 (wie Anm. 37). Als die Platte für: König Heinrich der dritt (wie Anm. 15) in Arbeit oder schon fertiggestellt war, mussten noch Textteile nachgetragen werden (u.a. Ergänzung der Namen der Protagonisten). Diese wurden nachträglich an freien Stellen auf der Platte, teilweise in Überschneidung mit durchlaufenden Konturen und Schattierungen oder durch die Architekturrahmung beengt aufgebracht. Zu Fischarts Schreibstil vgl. Christoph Mühlemann: Fischarts »Geschichtsklitterung« als manieristisches Kunstwerk. Verwirrtes Muster einer verwirrten Welt. Bern: Lang 1972 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Literatur und Germanistik, Bd. 63), S. 13, S. 17, S. 28f., S. 36f., S. 76, S. 78 et passim. Vgl. Wolbedenckliche Beschreibung (wie Anm. 18); DISCOVRS || VERITABLE (wie Anm. 60). Vgl. Heinrich III. (1834) S. 438–440 (wie Anm. 80).
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gen und Textschwerpunkte: Während die »INSTRVCTION || DV ROY« betonte, dass die Guise der sie bindenden Rechtspflicht (»obligations«) gegenüber dem König nachzukommen hätten, setzte die »Koͤnigkliche Declaration.« an dieser Stelle die gegenüber Guise erwiesene königliche Gnade, welche eine ideell-moralische Verpflichtung gegenüber Heinrich III. begründete.130 Wichtiger als eine wörtliche Übertragung war die Verständlichkeit der Übersetzung,131 wobei versucht wurde, den Bedürfnissen des potentiellen Publikums im Reich Rechnung zu tragen.132 Schon durch die Wortwahl, durch die Wortwiederholungen, durch Tautologien oder Pleonasmen, welche bestimmte Textstellen hervorhoben,133 aber auch durch Konjunktionen, Syntax und den Einsatz von Aktiv und Passiv nahmen die Übersetzungen Bedeutungsverschiebungen und eigene Schwerpunktsetzungen gegenüber der Vorlage vor.134 Allerdings ist aus den Quellen nicht immer abzulesen, wie absichtsvoll diese Veränderungen gegenüber dem Referenztext erfolgten. ARBEITSPRAXIS IM NACHRICHTENDRUCKGEWERBE ANHAND DER RELIGIONSKRIEGSNACHRICHTEN Anhand der Religionskriegsnachrichten lassen sich über die Arbeitspraxis im Nachrichtendruckgewerbe neue Erkenntnisse gewinnen, deren Übertragbarkeit auf andere 3.
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Vgl. Heinrich III. (1834) S. 435 (wie Anm. 80); Koͤnigkliche Declaration., fol. A2v (wie Anm. 29). So wurde bspw. in: EDICT || Der Koͤniglichen May. (wie Anm. 18) aus »la rage || incensée«, vgl. EDIT DV ROY, fol. A2r (wie Anm. 99) »die dolkuͤne || vnsinnigkeit / das wuͤten vnnd toben« (S. 16). In: Charles Roÿ wurde »Ha este massacre de un Moine Jacopin« sehr frei übersetzt als: »Ein elendt munch sturtzen sein bluet.« Charles Roÿ de Francois sʼaÿdant de trois Henrÿ; [1589]; Radierung – Paris: BNF, Sign. RES. QB-201 (9)-FOL, p. 56. So wurden bspw. die Lage von Blois erläutert, vgl. Aŭszlegŭng Vnd bedeŭtŭng (wie Anm. 119); Koͤnigkliche Declaration || Erzehlung, fol. B1r (wie Anm. 22), die Person des gefangengehaltenen Präsidenten des Gerichtshofs vorgestellt, vgl. Warhafftige newe Zeytung (wie Anm. 17); Warhafftige vnd Ge=||wisse new Zeytung, fol. A2r (wie Anm. 17) oder auch die Generalständeversammlung mit dem Reichstag parallelisiert, vgl. Gewisse Zeytung auß Franckreich, fol. A2r (wie Anm. 14); Newe Zeitung von Pleeß, fol. A1v (wie Anm. 14); Warhafftig vnd Kur=||tzer Jnhalt, S. 7 (wie Anm. 32). Bspw. wurde in: Außschreiben || Koͤn: Mayestat »vie« durch das Hendiadyoin »Leib vnd Leben« wiedergegeben, dagegen »changee & alteree« zu »geaͤndert« gekürzt, vgl. DECLARATION || DV ROY, S. 4 (wie Anm. 99); Außschreiben || Koͤn: Mayestat, fol. A2r (wie Anm. 18). In: Außschreiben Koͤnig=||licher Würde von Nauarra machte das verwendete Bedingungsgefüge deutlich, dass das Handeln der einen Seite erst durch Verfehlungen der Gegenseite provoziert worden war, so dass diese die Verantwortung zu tragen hatte, vgl. Außschreiben Koͤnig=||licher Würde von Nauarra […] M. D. LXXXIX.; 4°, [8] Bl.; VD16 N 282 – München: BSB, Sign. Gall.g. 1023 i, fol. A3r. Auch in: Koͤnigkliche Declaration. (wie Anm. 29) legte die Verwendung des Passiv (»verursacht || worden«) nahe, dass der König das eigene Vorgehen in Blois als Reaktion auf das Handeln von Guise verstanden wissen wollte, womit eine Verantwortungszuschreibung an den Herzog einherging (fol. A3v).
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Publikationssituationen im ausgehenden 16. Jahrhundert (z.B. Achtzigjähriger Krieg, polnischer Thronfolgestreit …) künftige Forschungen zeigen müssen. Die Offizinen, welche die Religionskriegsnachrichten im Reich prägten, waren kleinere bis mittlere Werkstätten etablierter Nachrichtendrucker, die meist über einen längeren Zeitraum hinweg zu dem Konflikt publizierten. Sie traten mit einer monopolartigen Stellung innerhalb vor allem reichsstädtischer Druckzentren auf, die oft in geographischer Nähe zum Konfliktherd lagen oder in politischer Beziehung zu den Konfliktparteien standen. Der Umgang mit den Informationsmaterialien legte eine primär ökonomische Orientierung der Offizinen nahe, während ein dezidiert religionspolitisches Engagement der Ausnahmefall war. In den Konflikt involvierte Reichsfürsten beförderten die Druckproduktion nicht. Die Interessen, Kontakte und Arbeitspraxis einer Hand voll Druckerverleger entschieden im Wesentlichen über Häufigkeit, Umfang und Charakter der Nachrichten im Reich. Daneben versuchten sowohl Druckwerkstätten mit Mischprogramm oder anderen Programmschwerpunkten als auch neugegründete Offizinen sich das situativ hohe Interesse an dem Konflikt zunutze zu machen. Die Etablierung neuer Werkstätten scheiterte oft am Konkurrenzdruck aufgrund der Monopolbildung auf dem Druckmarkt. Verleger mit einem Nachrichtenschwerpunkt bildeten die Ausnahme. Bei den Offizinen im Nachrichtendruckgewerbe handelte es sich um Familienbetriebe, die sehr selten Aufträge über ihren Mitarbeiterstab hinaus vergaben. Die Arbeitsteilung war kaum ausgeprägt, so dass das Risiko für die Publikationen in einer Hand lag. Flexibilität und Pragmatismus zeigte sich darin, wie je nach Auslastung der Werkstätten Mitarbeiter situativ eingestellt wurden oder auch ein Wechsel des Berufsfelds die organisatorische und finanzielle Unsicherheit ausbalancieren sollte. Um ein Eingreifen der obrigkeitlichen Zensur zu verhindern, wurde wohl in »Selbstzensur« auf kritische Themen verzichtet. Einerseits wurden Informationen gezielt durch die Konfliktparteien aus dem Ausland weitergegeben und durch die fürstlichen und städtischen Obrigkeiten im Reich versucht, die Nachrichten zu kontrollieren und zu lenken. Direkte Eingriffe in die Druckproduktion sind aber nur im Einzelfall nachweisbar. Lokale Nachrichtensperren konnten dank Nachrichten, die aus benachbarten Städten oder Territorien des Reichs verfügbar waren, umgangen werden. Andererseits beschafften die Druckverantwortlichen über eigene Netzwerke wie bspw. Kooperationen von Offizinen Informationen und Druckvorlagen. Dabei spielte die Buchmesse eine nur untergeordnete Rolle. Während mündliche Quellen kaum einmal nachgewiesen werden können, lassen sich handgeschriebene und gedruckte Nachrichten vom Konfliktherd ebenso wie handgeschriebene deutsche Zeitungen als Druckvorlage nachweisen. Auch auf bereits im Reich kursierende Druckpublikationen wurde immer wieder zurückgegriffen, so dass sich zahlreiche Flugblätter und Flugschriften überschnitten. Aus dem Nachbarland waren Nachrichten meist nach zwei bis drei Wochen verfügbar und lagen nach ca. einer weiteren Woche auch als Druckpublikationen vor. Die Publikationen zeichneten sich durch entweder unparteiliche oder aber obrigkeitsnahe und protestantenfreundliche Materialwahl und Berichterstattung aus. Da nur ein kleines Segment der Berichterstattung aus der Konfliktregion aufgenommen wurde, dominierte eine eigene Interpretation des jüngsten Geschehens die Nachrichten auf
Die Arbeitspraxis im Nachrichtendruckgewerbe
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dem deutschen Druckmarkt. Bei der Nachrichtenwahl stand die Kalkulation der Attraktivität der Berichterstattung für den Käufer (bes. Glaubwürdigkeit) einerseits und eine Kosten-Nutzen-Rechnung (bes. Arbeitsaufwand) andererseits im Hintergrund. Das Ausschlachten von Vorlagen, die oft geringfügige Überarbeitung und Fehlerhaftigkeit der Druckpublikationen zeugt von Pragmatismus und einer situationsabhängigen Anpassung. Zwar verweist die Einbeziehung aller verfügbaren Materialien, was in Brüchen und Widersprüchen in den Publikationen sichtbar blieb, auf die Informationsknappheit, doch wurde so auch ein multiperspektivischer Blick auf den Konflikt erreicht. Aufwändigere Überarbeitungen waren selten und ein religionspolitisches Engagement, das mit einer intensiven Bearbeitung der Druckvorlagen einherging, bildete die Ausnahme. Dennoch trugen die Nachrichtenpublikationen im Reich einen eigenständigen Charakter, insbesondere durch die Neugruppierung verfügbarer Materialien. Die sinngemäßen Übersetzungen vollzogen eine kulturelle Anpassungsleistung für das Publikum mithilfe von Simplifizierungen, abweichenden Erklärungen und neuen Bedeutungsaufladungen. Die Distanz zum Konfliktherd (u.a. anderer Rechtsraum) beeinflusste auch die Art der Berichterstattung. Mit der vorliegenden Untersuchung zu den im Nachrichtendruckgewerbe tätigen Druckern, der Organisation ihrer Offizinen und den Prozessen der Informationsgewinnung, -auswahl und -verarbeitung wurde ein Mosaikstein geliefert, um das Bild der Arbeitspraxis im Nachrichtendruckgewerbe im ausgehenden 16. Jahrhundert – am konkreten Fall von Religionskriegsnachrichten – zu entwerfen. Um dieses Mosaik zu vervollständigen, sind weitere Forschungen zu einzelnen Druckern und ihren Offizinen im Nachrichtendruckgewerbe nötig ebenso wie zu einzelnen Aspekten der Nachrichtenproduktion wie der Informationsakquise, den Selektions- und Bearbeitungsprozessen und auch zu praktischen Fragen der Berichterstattung und Nachrichtenproduktion über andere in- und ausländische Ereignisse (bspw. polnischer Thronfolgestreit, spanische Armada, Kölner Krieg). Zusammenfassung Zu der Arbeitspraxis von Druckwerkstätten, die am Ende des 16. Jahrhunderts Nachrichtenpublikationen fertigten, ist kaum etwas bekannt. Der vorliegende Artikel arbeitet systematisch sowohl die Profile dieser Druckwerkstätten und ihre Organisation als auch die Informationsakquise, Selektion, Bearbeitung und Übersetzung der Nachrichten heraus. Hier wurde die Berichterstattung im Heiligen Römischen Reich zu einer Phase der Französischen Religionskriege (um 1590) als Ausgangspunkt gewählt, um am konkreten Fall die Arbeitspraxis im Nachrichtendruckgewerbe zu entwickeln. Abstract We hardly know anything about the working practice of printing workshops which produced news publications at the end of the 16th century. The article at hand systematically carves out the profiles of these printing workshops and their organisation as well as the acquisition of information, the selection, processing and translation of news. Here, the reporting on one period of the French Wars of Religion in the Holy Roman Empire (1590) was chosen as a starting point to develop the working practice of the news-printing trade in a specific case.
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Alexandra Schäfer-Griebel
Korrespondenzanschrift: Alexandra Schäfer-Griebel, Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Alte Universitätsstraße 19, 55116 Mainz Email: [email protected] Alexandra Schäfer-Griebel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Religionsfrieden« am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz.
Heiko Droste
DAS GESCHÄFT MIT NACHRICHTEN. EIN BAROCKER MARKT FÜR SOZIALE RESSOURCEN1 1. EINFÜHRUNG Die Erforschung der Kommunikationsgeschichte des Barockzeitalters2 ist in den letzten Jahrzehnten stark vorangetrieben worden. Dabei ist eine Reihe von theoretischen Konzepten entwickelt worden, die die Medien in jeweils neue Zusammenhänge gestellt haben. Diese Ansätze haben die Forschung nicht nur bereichert. Sie haben auch dazu geführt, dass die empirische Basis durch Berücksichtigung bisher vernachlässigter Kommunikationsmedien stark erweitert wurde. In den meisten Studien werden Medien als Träger einer gesellschaftlichen Modernisierung verstanden, die wesentlich auf eine über den Druck hergestellte Öffentlichkeit gestützt war. Öffentlichkeit wird somit empirisch über die Möglichkeit des politischen Diskurses bzw. die Beobachtung von Politik definiert. Die Kommunikationsmedien interagierten laut diesem Narrativ in Mediensystemen. Der entscheidende Referenzpunkt dieser Überlegungen zur Öffentlichkeit – die Studie von Jürgen Habermas zum Strukturwandel der Öffentlichkeit3 – wird in diesem Zusammenhang meist ablehnend rezipiert. Überzeugende Alternativen zu Habermas’ Konzept sind allerdings nicht formuliert worden. Die meisten Studien argumentieren vielmehr mit empirisch motivierten Varianten einer durch Zugänglichkeit definierten Öffentlichkeit, die bei Habermas normativ begründet war. Das überzeugt nicht, weil die Bedingungen von Öffentlichkeit nicht ausreichend reflektiert werden. Der folgende Aufsatz beschäftigt sich mit einem Ausschnitt dieser Kommunikationsgeschichte, dem durch die Einführung von Infrastrukturen geprägten Nachrichtenmarkt des 17. Jahrhunderts. Die Analyse geht von den Konsequenzen jener Institutionalisierungsprozesse aus, die die Vergesellschaftung entbetteter Funktionseliten notwendig machten. Sie waren auf spezifische Formen der Kommunikation unter Abwesenden angewiesen, die von der agens literarischer Gattungen abhängig waren, welche der Übermittlung von Nachrichten dienten. Am Anfang der Überlegungen steht daher die Definition der Nachricht mit Blick auf ihre Rolle für die Vergesellschaftung von Funktionseliten.
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Der folgende Aufsatz fasst Überlegungen meiner gleichnamigen Studie zum barocken Nachrichtenmarkt zusammen, die auf der Grundlage langjähriger Archivstudien im gesamten Ostseeraum entstanden ist, vgl. Heiko Droste: Das Geschäft mit Nachrichten. Bremen: edition lumière 2018. Eine Konsequenz des hier skizzierten Verständnisses vom Nachrichtenmarkt ist die Kritik am Konzept der Frühen Neuzeit. Sie wurde erstmals überzeugend, wenn auch folgenlos, von Heinz Duchhardt: Absolutismus – Abschied von einem Epochenbegriff ? In: Historische Zeitschrift, 258. Bd. 1994, S. 113–122, formuliert. Im Folgenden wird der Begriff des Barock verwendet. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1962; zitiert wird die 8. Aufl. 1976.
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Heiko Droste
Die Nachricht ist ein Bericht, der die Erfahrung eines aktuellen Ereignisses festhält. Dieser Bericht definiert sein Objekt durch eine Fixierung in Raum und Zeit. Diese benennen den Ort und das Datum, an dem diese Erfahrung in eine Nachricht verwandelt wurde und somit nicht Ort und Datum des berichteten Ereignisses. Der Bericht beantwortet eine Reihe von W-Fragen: Wer war beteiligt, wo fand das Ereignis statt, was geschah, warum, wie, wann? Er enthält in aller Regel keine Bewertungen oder persönliche Stellungnahmen. Der rhetorisch und inhaltlich formalisierte Bericht vermittelt Glaubwürdigkeit, die auch durch Verweis auf die Quelle der Nachricht hergestellt werden kann. Im Barockzeitalter wurde der Wert einer Nachricht durch ihre Exklusivität, Aktualität und Glaubwürdigkeit bestimmt. Diese Nachricht berichtete entweder das Gemeinwesen betreffende, publike Ereignisse in der Form einer zeitgenössischen Historiographie oder partikuläre Ereignisse, die einzelne Personen und deren Interessen betrafen. Beide Formen wurden übereinstimmend als »Zeitung« definiert. Die Zahl dieser »Zeitungen« nahm seit dem 15. Jahrhundert aufgrund der Einführung von Infrastrukturen stetig zu und wurde im 17. Jahrhundert als Überfluss wahrgenommen. Der Begriff der Kommunikationsrevolution beschreibt diese Entwicklung für das späte 16. und 17. Jahrhundert angemessen.4 Diese Nachrichten erfüllten spezifische soziale Funktionen, die trotz der allgemeinen Zugänglichkeit von Nachrichten nicht sinnvoll mit dem Konzept der Öffentlichkeit gefasst werden können. Zu untersuchen ist vielmehr ein über ständische Partizipationsrechte organisierter Markt für Funktionseliten. Die Partizipation an diesem Markt war – und ist – Ausdruck der Teilhabe an Gemeinwesen. Dieses Gemeinwesen wird in der Gegenwart zwar nicht länger in ständischen Kategorien gedacht. Zugleich sind die Parallelen zwischen dem Nachrichtenmarkt des Barocks und der Gegenwart mit seinen Konsequenzen für die Teilhabe sozialer Gruppen an Gesellschaft offensichtlich und geben Anlass über die Periodisierung der Moderne und damit auch der so genannten Vormoderne bzw. Frühen Neuzeit erneut nachzudenken. Es ist an der Zeit, sich von einem Modernisierungsparadigma zu verabschieden, das die Partizipationsbedingungen sozialer Gruppen am Nachrichtenmarkt nicht ausreichend definiert, weil dadurch die Untersuchung des Nachrichtenmarkts im Barock erheblich behindert wird. 2. DIE NACHRICHT ALS SOZIALE RESSOURCE Im Barockzeitalter erfüllte die publike wie die partikuläre Nachricht primär die Funktion einer Investition in eine soziale Beziehung. Sie wurde zumeist in Form partikulärer Korrespondenzen versandt. Der Begriff der Korrespondenz bezeichnete dabei nicht 4
Wolfgang Behringer: Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003; Harm von Seggern: Die Entstehung des Postwesens in Mitteleuropa – eine »Kommunikationsrevolution«? In: Francia, 34. Jg. 2007, S. 195–216, kritisiert den Begriff als unangemessen, weil die von Behringer beschriebenen Veränderungen lediglich Verbesserungen bereits existierender Infrastrukturen gewesen seien. So wichtig der Hinweis ist, dass es bereits im 16. Jahrhundert umfassende Infrastrukturen gegeben hat, so grundlegend anders funktionierten diese doch im 17. Jahrhundert, da sie über Vernetzungen, Verlässlichkeit und Dichte ein ganz anderes Kommunikationsverhalten ermöglichten.
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nur den Brief, der als Rede eines Abwesenden an einen Abwesenden (»epistola est absentis ad absentem colloquium«)5 definiert wurde. Mit dem Begriff wurde darüber hinaus ein Element von Übereinstimmung und Gemeinschaft bezeichnet. Die »gute Korrespondenz« war eine Metapher für die Verständigung unter abwesenden Freunden. Der Tausch von Nachrichten war ein selbstverständlicher Bestandteil dieser Korrespondenzen, welche der Schaffung und Aufrechterhaltung von Freundschaften als primärer sozialer Institution in den barocken Funktionseliten dienten. Der zeitgenössische Ausdruck für diesen Tausch war das »commercium literarum«. Er bezeichnete sowohl das Geschäft mit Briefen, die wesentlich zur Übersendung von Nachrichten genutzt wurden. Der Ausdruck bezeichnete auch – seit der Antike – die Idee eines gegenseitigen Freundschaftsdienstes, der mit Hilfe von Briefen ausgeführt wurde.6 Diese sozialen Funktionen von Korrespondenzen können auch aus dem zeitgenössischen Verständnis des Briefs als einer Form der Aufwartung abgeleitet werden.7 Die Korrespondenz war Investition und soziale Gabe auf Gegenseitigkeit; sie verlangte nach einer Erwiderung. Solchermaßen entstanden gegenseitige Verpflichtungen, die als Kredit aufzufassen sind. Dieser Kredit wurde in den Funktionseliten primär gegen Formen von Partizipation getauscht. Er berührte damit direkt die Interessen der Korrespondenzpartner. Diese Interessen wurden zeitgenössisch ebenfalls als »commercium« bezeichnet. Der Begriff »commercium« hatte damit einerseits bereits das heutige Verständnis von kommerzieller Handelstätigkeit, Geschäft angenommen. Er bezeichnete andererseits jede Form von partikulären wie publiken Interessen. Der hier zu untersuchende Nachrichtenmarkt gilt somit primär dem gegenseitigen Tausch von Nachrichten, die die Interessen der Mitglieder barocker Funktionseliten berührten: »mutuum commercium ut vocant correspondentiae«.8 Nachrichten waren Teil eines Markts für soziale Ressourcen; sie waren Geschäft. In den barocken Funktionseliten wurden Nachrichten als eine soziale Ressource getauscht, das heißt, dass die Investition bzw. Aufwartung in Konkurrenz zu anderen Korrespondenzen erfolgte. Um den Tausch zu ermöglichen, musste die Investition Nachricht daher zunächst als Gabe akzeptiert werden, weil sie die Verpflichtung zu einer Erwiderung beinhaltete. Wer darum nachsuchte, Nachrichten geben zu dürfen bzw. mit Hilfe von Nachrichten aufzuwarten, wurde zunächst auf die Qualität seiner
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Desiderius Erasmus: Brevissima maximeque compendiaria conficiendarum epistolarum formula. Leipzig: Schumann 1520, Vorrede zur Definition. Verena Epp: Amicitia. Zur Geschichte personaler, sozialer, politischer und geistlicher Beziehungen im frühen Mittelalter. Stuttgart: Hiersemann 1999, S. 62–65; Saskia Stegeman: Patronage and services in the republic of letters. The network of Theodorus Janssonius van Almeloveen (1657–1712). Amsterdam: APA-Holland University Press 2005, S. 169–173. Manfred Beetz: Soziale Kontaktaufnahme. Ein Kapitel aus der Rhetorik des Alltags in der frühen Neuzeit. In: Joachim Dyck (Hg.): Rhetorik der frühen Neuzeit. Tübingen: Niemeyer 1991 (= Rhetorik, Bd. 10), S. 30–44; vgl. auch Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen: Niemeyer 1970. Balthasar Schörling an Alexander Erskein, Hamburg, den 10. Februar 1636, Erskeinska samling E 3588, Reichsarchiv Stockholm (im Folgenden: RA).
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Nachrichten wie seine generelle Befähigung geprüft.9 Er musste einerseits Zugang zu exklusiven, verlässlichen und aktuellen Nachrichten haben, was Ausweis seines sozialen Kapitals war. Er musste andererseits über die Fähigkeit verfügen, Nachrichten der Ehre des Empfängers angemessen – in einer am Kanzleigebrauch wie dem historischen Stil orientierten Rhetorik10 – zu formulieren; das war Ausdruck seines kulturellen Kapitals.11 Freundschaft und damit die Partizipation an Netzwerken wurden möglich, wenn der Empfänger sich von der Qualität der Nachrichten wie der Bildung des Nachrichtenagenten überzeugt hatte. Nachdem die Korrespondenz akzeptiert worden war, musste sie entweder in Form anderer Nachrichten oder durch Vermittlung von sozialen Ressourcen vergolten werden. Auch dies geschah in einer Konkurrenzsituation, da Empfang und Erwiderung von Korrespondenz von der Verfügung über relevante Ressourcen abhängig war. Nachrichten mussten verdient werden, das heißt, die Investition in Nachrichten musste sinnvoll erscheinen. Damit waren im Wesentlichen alle privaten sozialen Gruppen (Gruppen ohne öffentliches Amt) von Korrespondenz ausgeschlossen. Sie konnten diese Gabe nicht den Interessen der Korrespondenten entsprechend erwidern, so dass der Nachrichtenmarkt weitestgehend auf Mitglieder publiker wie Funktionseliten beschränkt war. Dass die Nachrichten auch für andere soziale Gruppen erreichbar waren, machte diese also nicht zu Teilnehmern am Markt für soziale Ressourcen; sie waren Konsumenten, nicht Korrespondenten. Mit der Investition Nachricht signalisierte der Korrespondent also sein Interesse an der Partizipation an den zeitgenössischen Funktionseliten (am Hof, im Militär, in der Kirche, an Universitäten wie im Fernhandel). Das schnelle Wachstum der Höfe, der Fernhandel wie die Bildung von literarischen und gelehrten Gesellschaften (»res publica literaria«) waren sämtlich von der alltäglichen Vergesellschaftung unter Abwesenden geprägt, die ihrerseits auf das Medium der Korrespondenz angewiesen war: »It has been said that the map of the Republic of Letters was delineated by correspondence; communication was the essence of learned fellowship.«12 Korrespondenzen waren
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Heiko Droste: Die Erziehung eines Klienten. In: Stefan Brakensiek / Heide Wunder (Hg.): Ergebene Diener ihrer Herren? Herrschaftsvermittlung im alten Europa. Köln: Böhlau 2005, S. 23–44. Christian Weise: Curiöse Gedancken von Deutschen Brieffen/ Wie ein junger Mensch/ sonderlich ein zukünfftiger Politicus/ Die galante Weil wohl vergnügen soll. Dresden/ Verlegts Johann Christoph Mieth/1691, S. 132, spricht von einem »stylus historicus«. Thomas Gloning: Zur Vorgeschichte von Darstellungsformen und Textmerkmalen der ersten Wochenzeitungen. In: Gerd Fitz / Erich Straßner (Hg.): Die Sprache der ersten deutschen Wochenzeitungen. Tübingen: Niemeyer 1996, S. 196–258. Die Kapitaltheorie Bourdieus liefert für diesen Markt den begrifflichen Apparat, vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn: Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. Vgl. zu meinem Gebrauch von dieser Theorie, Heiko Droste: Habitus und Sprache. Kritische Anmerkungen zu Pierre Bourdieu. In: Zeitschrift für Historische Forschung, 28. Jg. 2001, S. 95–120. Stegeman (2005) S. 170 (wie Anm. 6); vgl. auch Nora Gädeke: Leibniz lässt sich informieren – Asymmetrien in seinen Korrespondenzbeziehungen. In: Klaus Dieter Herbst / Stefan
Das Geschäft mit Nachrichten
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damit Teil einer von sozialen Normen der Ungleichheit geprägten Elitenkultur. Sie waren abhängig von der Etablierung von Infrastrukturen, die der Überwindung räumlicher wie sozialer Distanzen dienten. Im Ergebnis waren Korrespondenzen ein zentrales Strukturelement in den Institutionalisierungsprozessen des Barock: »The flow of correspondence that was mediated by the postal network, was a key to the integration of large scale economic and political institutional projects that increasingly had an impact on the everyday life in the communities. In itself, the postal network provided the correspondence networks, that transformed the mechanisms of social networks within a local environment and face-to-face relation such as trust, reputation, reciprocity, into the ›virtual communities‹ that were taking shape as correspondence networks.«13 Die sozialen Normen im Umgang mit Korrespondenz wurden seit dem 16. Jahrhundert in einer wachsenden Zahl von didaktischen Gattungen ausformuliert. Diese richteten sich insbesondere an junge bzw. zukünftige Mitglieder von Funktionseliten. Die wichtigsten Gattungen waren Briefsteller und Formularbücher, Apodemiken für die Gestaltung von Wanderjahren wie Studium, Kaufmannsmanuale, Konversationsbücher und höfische Traktate zum klugen (politischen) Auftreten bei Hof. Korrespondenzen waren damit Teil einer von sozialen Normen geprägten Mobilität – sie ermöglichten Karrieren. Die genannten didaktischen Gattungen erörterten den Nutzen von Korrespondenzen, ihre Rezeption sowie in welcher Weise der Korrespondent auf soziale Normen und partikuläre Interessen Rücksicht zu nehmen habe, um seine eigenen Interessen zu befördern. Nachrichten waren Teil verschiedener Kommunikationssituationen, wobei sie den jeweiligen Rezipienten rhetorisch wie inhaltlich angepasst werden konnten. Diese Regeln galten äquivalent für mündliche wie verschriftlichte Nachrichten. Die schriftliche Kommunikation von Nachrichten erfuhr allerdings besondere Aufmerksamkeit, weil sie Bestandteil von Korrespondenzen waren, die der Vermittlung von Interessen dienten und daher als Medium der Vergesellschaftung von Funktionseliten wahrgenommen wurden. Diese Vergesellschaftung wurde prinzipiell als Verflechtung von partikulären und publiken Strukturen gedacht, so dass der Korrespondenz eine deutliche »agens« zukam. In dem Zusammenhang wurde weniger der Inhalt als vielmehr die Funktion von Nachrichten in Korrespondenzen erörtert. Auch wenn mündliche Nachrichten Teil an dieser Vergesellschaftung und dem hier untersuchten Nachrichtenmarkt hatten, werden sie im Folgenden nicht näher untersucht. Ihre »agens« war bei Weitem geringer und erfuhr entsprechend weniger Aufmerksamkeit. Für den Historiker ist die mündliche Nachricht zudem nur nach ihrer Verschriftlichung analysierbar. 3. DAS GESCHÄFT MIT NACHRICHTEN – NACHRICHTENAGENTEN Das Geschäft mit Nachrichten lag in den Händen von Nachrichtenagenten, die am Markt Nachrichten gegen soziale Ressourcen tauschten. Nachrichtenagent bezeichnet
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Kratochwil (Hg.): Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main: Lang 2009, S. 25–46, hier S. 26. Örjan Simonson: Seventeenth-century virtual communities. Postal service and correspondence networks in the Swedish Empire. In: Ajalooline Ajakiri, 129/130, 2009, S. 383–424, hier S. 385.
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dabei keine Profession, sondern eine Funktion des Markts, zumal er nach Erreichung seiner Ziele keinen Grund hatte, sich dauerhaft in der kapitalintensiven Investition Nachricht zu engagieren. Dieser Nachrichtenmarkt wurde in allen Funktionseliten durch ähnliche Normen gestaltet, zumal eine Ausdifferenzierung dieser Eliten im Sinne einer Professionalisierung noch nicht zu ihrer sozialen Abschließung geführt hatte. Es wurden daher auch im Wesentlichen dieselben Nachrichten getauscht, da diese neben ihrer sozialen Funktion auch der Berichterstattung über den Verlauf von Geschichte dienten. Die regelmäßige Lektüre von Nachrichten vermittelte ein aktuelles Bild von der Welt, dessen Kenntnis von Mitgliedern der Funktionseliten erwartet wurde. Sie schufen damit eine Form von Gleichzeitigkeit, »contemporaneity«,14 die als Wissen um die Welt Teil der Ausbildung zukünftiger Funktionseliten war. Diese Gleichzeitigkeit wurde ein Teil des Lebensstils dieser Eliten: »[W]er die Zeitungen nicht achtet/ der bleibet immer und ewig ein elender Prülker und Stümper in der Wissenschaft der Welt und ihrem Spielwerk.«15 Neben ihrer sozialen Funktion als Korrespondenz sahen die zeitgenössischen Traktate Zeitungen daher vor allem als ein Medium zur Bildung ihrer Leser. Ihr Verständnis verlangte nach grundlegenden Kenntnissen der europäischen Geographie, Historie, Genealogie der wichtigsten Herrscherhäuser sowie der Fähigkeit, die unkommentierten und nicht-kontextualisierten Nachrichten überhaupt zu verstehen.16 Ihre Lektüre war Teil der Ausbildung zukünftiger Mitglieder von Funktionseliten, da sie zum besseren Verständnis von Welt und Geschichte notwendig erachtet wurden. Sie waren auch angehalten, die rhetorischen Fähigkeiten zu erwerben, die zur Abfassung wie Lektüre von Nachrichten notwendig waren. Über das Geschäft mit Nachrichten erlangten Mitglieder von Funktionseliten Zugang zu sozialen Ressourcen wie Handelskontakten und Netzwerken, Bestallungen an Höfen, Universitäten und in der Kirche.17 In diesem Zusammenhang hatten vor allem die expansiven Fürstenhöfe einen wachsenden Bedarf an den kulturellen und finanziellen Investitionen von Seiten der Nachrichtenagenten. Diese investierten ihre Bildung, ihre Netzwerke sowie ihren ökonomischen Kredit in fürstliche Dienste. Im Gegenzug wurden die Nachrichtenagenten zu privilegierten Mitunternehmern18 an fürstlicher Herrschaft. Auf diese Weise wurde die Expansion der fürstlichen Verwaltung organisiert. 14 15
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Brendan Dooley (Hg.): The dissemination of news and the emergence of contemporaneity in early modern Europe. Farnhem: Ashgate 2010. Kaspar Stieler: Zeitungs Lust und Nutz. 1695. Vollständiger Neudruck der Originalausgabe von 1695, hg. von. Gert Hagelweide. Bremen: Schünemann 1969, Vorrede Bl. 9r; vgl. auch S. 208: »Gewiß/ die Novellen sind eine Eröffnung des Buchs der ganzen Welt/ in welches ein jeder sehen und mit wenig kosten darinnen lesen kan.« Astrid Blome: Historia et Venditio – Zeitungen als »Bildungsmittel« im 17. und 18. Jahrhundert. In: Johannes Arndt / Esther-Beate Körber (Hg.): Das Mediensystem im Alten Reich der Frühen Neuzeit (1600–1750). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, S. 207–226. Gädeke (2009) (wie Anm. 12). Peter Moraw: Über Patrone und Klienten im Heiligen Römischen Reich des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Antoni Maczak (Hg.): Klientelsysteme im Europa der Frühen Neuzeit. München: Oldenbourg 1988, S. 1–18, hier S. 4.
Das Geschäft mit Nachrichten
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Anthony Giddens hat diese Investition in Teilhabe mit dem Begriff des Experten gefasst.19 Die Experten lagen an der Schnittstelle von staatlicher Organisation und partikulären Interessen. Sie waren sowohl Fürstendiener wie herrschaftlich privilegierte Unternehmer. Die solchermaßen organisierte Institutionalisierung der Fürstenhöfe führte zu veränderten wirtschaftlichen und bürokratischen Strukturen, die als Staatsbildung beschrieben werden können. Die Verwaltung wurde Kernstück eines Staates, der den Eigeninteressen des Fürsten übergeordnet und allmählich von diesen getrennt wurde. Der Fürst war aufgefordert, die Bildung von Institutionen mit jenen Mitunternehmern zu verhandeln, die sowohl die notwendigen Ideen und Fertigkeiten als auch den eigenen Kredit bereitstellten.20 Er verhandelte auf einem Markt für soziale und ökonomische Ressourcen, zu dem insbesondere Mitglieder der Funktionseliten Zutritt hatten. Er agierte dabei in Konkurrenz zu anderen Fürsten. Diese Verhandlungen erfolgten über die Vermittlung der dem Fürsten nahestehenden höfischen Funktionseliten, die ihre Position im Staat durch den Zugang zum Ohr des Fürsten definierten.21 Diese Nähe zum Fürsten war Voraussetzung, um die Investitionen eines Nachrichtenagenten in eine partikuläre Korrespondenz zu Mitgliedern der höfischen Funktionseliten überhaupt sinnvoll erscheinen zu lassen. Der Nachrichtenagent brauchte dieses Vertrauen in den Kredit des Korrespondenzpartners, der diese Korrespondenz verdienen und vergelten musste, als ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Die Vermittlung von herrschaftlichen Ressourcen gegen Partizipation war entscheidend für die Organisation des Militärs, wo militärische Unternehmer dem Fürsten ihr Gewaltpotential zur Verfügung stellten und dafür symbolisch, sozial wie finanziell ent-lohnt wurden.22 Sie funktionierte äquivalent für Experten im Hofdienst, die ihre Bildung, ihr Kapital wir ihre Netzwerke zur Verfügung stellten. Die Entwicklung des barocken Nachrichtenmarkts wurde darüber hinaus insbesondere durch zwei Gruppen von Nachrichtenagenten vorangetrieben, die sich im Gegensatz zu anderen Gruppen dauerhaft im Geschäft mit Nachrichten engagierten: die Postmeister wie die so genannten Diplomaten.23 Postmeister sind ein typisches Beispiel für Experten in Diensten des Fürsten, weil sie wirtschaftliches und kulturelles 19
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Anthony Giddens entwickelte dieses Modell vor allem in seiner Studie zu den Konsequenzen der Moderne, Anthony Giddens: Consequences of modernity, Cambridge: Polity Press 1990. Dieser Bedarf sowie vor allem die damit verbundenen Probleme für den Fürsten waren Thema der zeitgenössischen Fürstenspiegel und anderer Hoftraktate. Jay M. Smith: »Our Sovereign’s Gaze«. Kings, nobles, and state formation in seventeenthcentury France: In: French historical studies, 18. Jg. 1993, S. 396–415. Jan Glete: War and the state in early modern Europe: Spain, the Dutch Republic and Sweden as fiscal-military states, 1500–1600. London: Routledge 2002, entwirft ein überzeugendes, wenn auch auf den König zentriertes Bild vom »fiscal-military state« als Organisationsform: »This transformation [into a fiscal-military state] was the result of innovative and entrepreneurial activities by rulers, elites and men with ambitions to join the elite.« S. 2. Heiko Droste: Nachrichtenagenten und Nachrichtenmarkt im 17. Jahrhundert am Beispiel Schwedens. In: Thomas Dörfner / Thomas Kirchner (Hg.): Wissen und Berichten. Europäische Gesandtenberichte der Frühen Neuzeit in praxeologischer Perspektive. (Im Erscheinen).
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Kapital in den Aufbau von Infrastrukturen investierten. Sie waren obrigkeitlich privilegiert, womit ihre Interessen an der Partizipation geschützt wurden. Sie wurden daher schon von den Zeitgenossen als Schlüsselfiguren im Nachrichtenmarkt (»commercium literarum«) wahrgenommen: »Wan nun der Endzweck des Postregals in commercio literarum bestehet/ und also dieses commercium literarum zu denen Posten gehöret [...]«24 Die Familie Thurn & Taxis konnte bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Öffnung der Post für Nutzer außerhalb der Funktionseliten einführen, weil es ihrem Interesse an finanziellen Gewinnen wie den Interessen des Kaisers an der Vermeidung von Kosten entsprach.25 Die kaiserlich privilegierte Post machte die Familie zu einer der reichsten Adelsfamilien Europas. Die Post war eine der ersten allgemein zugänglichen Infrastrukturen, die vom entstehenden Staat letztlich übernommen wurde.26 Die Etablierung von festen Außenvertretungen, die in den Händen von Residenten, Agenten und Kommissaren lag, war von diesen postalen Infrastrukturen abhängig. Das Beispiel Schwedens demonstriert diesen engen Zusammenhang ebenso deutlich wie die Rolle eigener und fremder Postmeister für die Versorgung der Krone mit Nachrichten vom Kontinent.27 Dagegen nahm nur eine kleine Minderheit der von der Krone Schwedens im 17. Jahrhundert offiziell angestellten Nachrichtenagenten (»Diplomaten«) diese Funktion mehr als einige Jahre wahr. Für die Mehrzahl von ihnen war der Dienst vielmehr eine Investition in eine Karriere, die in fast allen Fällen zu weiteren Bestallungen in der Zivilverwaltung führte. Gemeinsam bildeten die Postmeister wie Residenten, Agenten und Kommissare das Rückgrat des Nachrichtenmarkts, weil sie aus Eigeninteresse wie im Auftrag des Fürsten Korrespondenznetzwerke aufbauten. In diesen wurden Nachrichten regelmäßig versandt, die anschließend vom Fürsten über die Vermittlung seiner höfischen Eliten als Investition in Partizipation akzeptiert wurden. Das Verständnis dieses Nachrichtenmarkts muss von den Interessen und Strategien dieser Nachrichtenagenten ausgehen, die Nachrichten mit Hilfe von Korrespondenzen investierten und somit als einen Kredit einsetzten, der Partizipation zum Ziel hatte. Das kann einerseits mit Hilfe zeitgenössischer Traktate und Diskurse geschehen, die die sozialen Funktionen der Korrespondenz und ihre Bedeutung für die Erziehung zukünftiger Eliten normiert haben. Das geschieht andererseits über die Analyse von Korrespondenzen der Nachrichtenagenten, die meistenteils in Empfängerarchiven erhalten sind. Im Ostseeraum sind dies vor allem fürstliche Archive, aber auch Familienarchive von Mitgliedern der höfischen Funktionseliten. Dabei sind die allermeisten Korrespondenzbriefe, soweit sie nur aktuelle Nachrichten enthielten, vermutlich schon zeitgenössisch makuliert worden, entsprechend der 24 25 26
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Andreas Ockel [Ackold]: Gründlicher Unterricht Von dem Aus Landes-Fürstlicher Hoheit herspringenden Post-Regal. Halle: Mylius, 1685, Buch 1, Kap. V. Wolfgang Behringer: Communications revolution: A historiographical concept. In: German history, 24. Jg. 2006, S. 333–374, hier S. 341–342. Dirk van Laak: Infrastrukturen und Macht. In: François Duceppe-Lamarre / Jens Ivo Engels (Hg.): Umwelt und Herrschaft in der Geschichte. Environnement et pouvoir. Une approche historique. München: Oldenbourg 2008, S. 106–114. Heiko Droste: Im Dienst der Krone. Schwedische Diplomaten im 17. Jahrhundert. Münster: Lit-Verlag 2006.
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Alltagsgewissheit, dass nichts so alt ist wie die Zeitung von gestern. Erhalten sind hingegen in vielen Fällen die brieflichen Erörterungen der Nachrichtenagenten, die Auskunft über ihr Interesse an der Investition Nachricht geben können. Die Gewinne dieser Nachrichtenagenten aus der Partizipation lagen dabei nicht nur in der Anstellung als Postmeister bzw. Resident an sich; sie waren Teil einer Mischkalkulation, die im Zusammenhang mit anderen Geschäften der Nachrichtenagenten zu sehen sind. Letztere waren auf die Nähe zum Fürsten wie dessen Schutz angewiesen. Diese anderen Geschäfte sind in den Archiven des Fürsten allerdings nur bedingt nachweisbar, weil sie nicht Teil der staatlichen Verwaltung waren, auch wenn sie auf die Privilegien aus der fürstlichen Anstellung angewiesen waren. Der pommersche Kriegsrat Gottfried Albinus investierte über Jahre in eine Korrespondenz an Generalgouverneur Carl Gustaf Wrangel, für die er lediglich eine Portobefreiung erwirken konnte. Diese wurde vom Stettiner Postmeister Andreas Thomas Hiltebrant bestritten, woraufhin Albinus die Gewinne des Stettiner Postmeisters aus dessen königlicher Anstellung als Beleg für dessen Gier anführte.28 Laut Albinus lieferte Hiltebrant Getreide an das Magazin in Stockholm, sei mitsamt seinem Vetter an der Erhebung der Landsteuern beteiligt, habe Güter der Krone, die ihm Geld in Fülle einbrächten, verfüge über eine Gage, die ihm tatsächlich ausgezahlt werde, seine Accidentien, von denen er nicht wenig einzustreichen wisse, sowie schließlich einen Sitz im Kanonikat.29 Diese Einnahmen Hiltebrants sind ansonsten in keiner Abrechnung greifbar, weil sie nicht direkt an die Post gebunden waren. Sie sind andererseits deutlich von seiner Bestallung als Postmeister abhängig. 4. DIE PARTIKULÄREN WIE PUBLIKEN NACHRICHTEN Die Mitglieder von Funktionseliten waren bevorzugt an Nachrichten partikulären Charakters interessiert, weil sie eine konkrete Investition in eine partikuläre soziale Beziehung darstellten. Sie waren exklusiv und konnten partikuläre Nachrichten verbreiten, die auch die Interessen des Fürsten wie seiner Funktionseliten berührten. Das war für den Korrespondenten nicht unproblematisch, da es galt, die eigenen wie fremden Interessen mit Hilfe von Strategien der simulatio und dissimulatio zu schützen.30 Für den Fürsten führte das Wachstum des Nachrichtenmarkts hingegen zur Diskussion seiner
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Heiko Droste: Die gerechte Verteilung öffentlicher Ressourcen: Anders Gyldenklous Traktat zur Frage der Accidentien (1654). In: Alexander Jendorff / Andrea Pühringer (Hg.): Pars pro toto: Historische Miniaturen zum 75. Geburtstag von Heide Wunder. Neustadt an der Aich: Verlag PH. C. W. Schmidt 2014, S. 179–190. Gottfried Albinus an Carl Gustav Wrangel, Stettin, den 25. Juni 1672, präsentiert in Stockholm, den 4. September 1672, Skoklostersamling, E 8191, RA. Perez Zagorin: Ways of lying: dissimulation, persecution, and conformity in early modern Europe. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1990. Vgl. die Rezension von Lorraine Daston zum Werk von Zagorin in: Journal of modern history, 67. Jg. 1995, S. 371–372; Heiko Droste: Die missglückte Aufwartung: Zu den Barrieren höfischer Kommunikation im Brief. In: Mark Hengerer (Hg.): Abwesenheit beobachten: Zu Kommunikation auf Distanz in der Frühen Neuzeit. Wien: Lit-Verlag 2013, S. 79–93.
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Handlungen durch die publiken Eliten, an die er sich zu gewöhnen habe: »Ein Fürst der alles zu wissen begehrt/ muß auch viel zu gut halten.«31 Die Nachricht über publike Ereignisse konnte darüber hinaus auch als ein Produkt gestaltet werden, das gegen Geld getauscht wurde und damit auch außerhalb der Funktionseliten rezipiert werden konnte. Geschriebene wie seit dem 17. Jahrhundert gedruckte Zeitungen waren Endprodukte des europaweiten Tausches von Nachrichten in partikulären Korrespondenzen, die allgemein zugänglich wurden. Der Verkauf von Nachrichten spielte für die Mitglieder von Funktionseliten eine nachgeordnete Rolle, da sie an Nachrichten vor allem als einer sozialen Ressource interessiert waren. Allgemein zugängliche Zeitungen waren nicht länger eine Investition in eine konkrete soziale Beziehung und damit eine schlechte Tauschware. Sie waren nicht länger exklusiv und konnten folglich nur publike Nachrichten verbreiten. Geschriebene wie gedruckte Zeitungen waren dennoch von Interesse, da sie der Forderung nach dem gleichzeitigen Wissen um die Welt nachkamen. Dieser Anspruch auf Teilhabe galt gerade für jene Mitglieder von publiken Funktionseliten, die auch Zugang zu partikulären Korrespondenzen hatten: »Denen Publiqu-Personen komt Amts halben zu/ fleißig nachzuforschen und zu wissen/ was in Publiqu-Sachen anderswo/ und sonderlich in der Nachbarschafft vorgangen sey.«32 In diesem Zusammenhang waren es insbesondere die Postmeister, die neben Mitgliedern der Funktionseliten auch private Gruppen mit Nachrichten versorgten. Das geschah primär in Form von geschriebenen Zeitungen.33 Postmeister waren darüber hinaus wichtig für den Markt mit gedruckten Zeitungen, die sie oft in Zusammenarbeit mit oder in Konkurrenz zu Druckern herausgaben. Postmeister hatten auf diesem Markt zwei wesentliche Vorteile gegenüber anderen öffentlich auftretenden Nachrichtenhändlern. Sie erhielten Nachrichten aus anderen Posthäusern stets zuerst und zudem kostenlos. Die Zeitgenossen betrachteten Postmeister daher als natürliche Herausgeber von Zeitungen: »Und scheinet dieses Postwerk wol der wahre und eigendliche Anfang der Zeitungen zuseyn, welcher hernachmals in Druck gebracht und bey den Postheu31
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Georg Engelhard von Löhneys: Aula Politica, 1622, im Jahr 1679 erneut unter dem Titel: HofStaats- und Regier-Kunst. Frankfurt am Main: Große 1679, S. 116. Daniel Hartnack: Erachten von Einrichtung der Alten Teutschen und neuen Europäischen Historien. Zelle: Hoffmann 1688, S. 72–73; vgl. auch Ahasver Fritsch: Discursus de Novellarum, quas vocant Neue Zeitunge, hodierno usu et abusu. Jena: Bielcke 1676. Zitiert nach Walter Barton: Ahasver Fritsch und seine Streitschrift gegen die Zeitungssucht. Die lateinische Originalausgabe (Jena 1676) mit Übersetzung, Kommentaren und Erläuterungen. In: Blätter des Vereins für Thüringische Geschichte, 8. Jg. 1998, S. 1–50, hier S. 19 und 21. Holger Böning: »Gewiss ist es/ dass alle gedruckte Zeitungen erst geschrieben seyn müssen.« Handgeschriebene und gedruckte Zeitungen im Spannungsfeld von Abhängigkeit, Koexistenz und Konkurrenz. In: Daphnis, 37. Jg. 2008, S. 203–242; Holger Böning: Handgeschriebene und gedruckte Zeitung im Spannungsfeld von Abhängigkeit, Koexistenz und Konkurrenz. In: Volker Bauer / Holger Böning (Hg.): Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert. Ein neues Medium und seine Folgen für das Kommunikationssystem der Frühen Neuzeit. Bremen: edition lumière 2011, S. 23–56; Heiko Droste: Degrees of publicity: Handwritten newspapers in the seventeenth and eighteenth centuries. In: LIR.journal, 1. Jg. 2011, S. 67–83.
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sern allein ausgegeben worden, bis die Geltbegier um sich gefressen und andere niederträchtige Personen gereizet, sich in dieses Handwerk zu mischen.«34 Seit dem 16. Jahrhundert entstand daher – in der Theorie – ein allen sozialen Gruppen zugänglicher Markt für Nachrichten in Form von so genannten Neuen Zeitungen, Messezeitungen, geschriebenen Zeitungen und schließlich gedruckten Zeitungen. In Schweden wurde der Druck von Zeitungen von der Krone mit Blick auf den Nutzen von Kaufleuten und der Allgemeinheit ausdrücklich angeordnet.35 Wirtschaftlich interessant waren für die Postmeister allerdings vor allem die geschriebenen Zeitungen, weil sie wesentlich höhere Einkünfte mit sich führten. Der Handel mit gedruckten Zeitungen machte vor allem Sinn im Zusammenhang mit dem Vertrieb von exklusiven, geschriebenen Zeitungen, die ungefähr den zehnfachen Verkaufspreis erzielten. Partikuläre Korrespondenzen scheinen hingegen nicht verkauft worden zu sein, weil sie stets als Investition betrachtet wurden. Belege für den Verkauf von partikulären Korrespondenzen konnten daher nicht gefunden werden; eine finanzielle Seite partikulärer Korrespondenzen wird auch in den zeitgenössischen Traktaten grundsätzlich nicht erörtert. Die schwedische Krone war sich des Zusammenhangs zwischen geschriebenen und gedruckten Nachrichtenmedien bewusst. Sie verstand den Handel mit »Zeitungen« als Geschäft des Generalpostmeisters Johan Gustaf von Beijer und gewährte ihm ein entsprechendes Monopol: »Niemand Anderes auf dem Postkontor soll sich damit in irgendeiner Weise befassen und gedruckte oder geschriebene Avisen und welche anderen Arten es sonst noch geben möge, beschaffen oder mit Anderen, die danach trachten, kommunizieren. Sondern solches soll allein vom Postdirektor oder jenen, die er dazu beauftragen möge, verrichtet werden.«36 5. DIE GEDRUCKTE ZEITUNG UND IHRE ÖFFENTLICHKEIT Geschriebene Zeitungen waren aufgrund des hohen Preises vor allem Mitgliedern der Funktionseliten zugänglich. Auch die soziale Reichweite des Handels mit gedruckten Nachrichten sollte für das 17. Jahrhundert allerdings nicht überschätzt werden. Die Auflagen wie der Preis der gedruckten Zeitungen waren zu gering, um damit wesentliche Einkünfte zu erzielen sowie eine größere Zahl von Konsumenten zu erreichen. Während für das gesamte schwedische Reich um 1700 maximal 500 Exemplare37 gedruckt wurden, lag die geschätzte wöchentliche Auflage der im Heiligen Römischen Reich um 1700 gedruckten Zeitungen bei 20 – 25.000 Exemplaren mit bis zu 200.000 Lesern.38 34 35 36
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Stieler (1695) S. 31–32 (wie Anm. 15). Instruktion für Johan von Beijer, Stockholm, 2. Januar 1643, Reichsregistratur, RA. Instruktion für Generalpostdirektor Johan Gustav von Beijer, Stockholm, 10. Juni 1673, Reichsregistratur, RA. Claes-Göran Holmberg: Nästan bara posttidningar (tiden före 1732). In: Karl Erik Gustafsson / Per Rydén (Hg.): Den svenska pressens historia, 5. Bände. Stockholm: Ekerlid 2000– 2003. Band 1, 2000, S. 22–97, hier S. 84 und 94. Zahlen bei Martin Welke: Russland in der deutschen Publizistik des 17. Jahrhunderts (1613– 1689). In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 23. Jg. 1976, S. 105–276, hier S. 162, sowie Johannes Weber: Avisen, Relationen, Gazetten. Der Beginn des europäischen Zeitungswesens. Oldenburg: Bibliotheks- und Informationssystem der Universität 1997, S. 32.
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Diese Auflage klingt imponierend, war allerdings kaum in der Lage, auch nur die Funktionseliten des Reichs zu versorgen, zumal empfohlen wurde, bei Interesse mehrere Zeitungen zu abonnieren. In einer Stadt wie Hamburg, einem der wichtigsten Zentren für gedruckte Zeitungen in ganz Europa, wurden um 1700 im besten Fall 1.500 Exemplare39 einer Zeitung gedruckt, obwohl diese Zeitung in großen Teilen Europas gelesen und von vielen anderen Zeitungen als Vorlage genutzt wurde. Ein großer Teil der Auflage verließ die Stadt daher direkt mit der Post. Allein in Lübeck wurden jede Woche hunderte Exemplare der gedruckten Hamburger Zeitung verkauft. Gegen die Annahme der großen Bedeutung von gedruckten Zeitungen spricht auch die schwach entwickelte Zensur derselben, die vor dem 18. Jahrhundert kaum festzustellen ist.40 Der Druck von Zeitungen war nicht mehr als ein Nebenverdienst für Drucker, die ihre Druckerpresse besser auslasten wollten.41 Sie war auch eine Form der Reklame von Seiten der Buchhändler und Postmeister und diente nicht zuletzt dazu, den Vertrieb von geschriebenen Korrespondenzen zu unterstützen. Die Lübecker Buchhändler stritten etwa um das Privileg des Vertriebs Hamburger Zeitungen, wobei dem Inhaber dieses Privilegs vorgehalten wurde, dass er durch den Verkauf der Avisen »in- alß außer der Stadt, auch in den Herbergen mit frembden und durchreisenden Personen [...] in gute Kundschafft und folgendts mit denselben in wöchentliche, ja fast tägliche correspondentz kommet«.42 Die geringen Auflagen der gedruckten Zeitungen werden von den meisten Medienhistorikern allerdings nicht als Problem erkannt, obwohl es die Vorstellung gibt, dass Zeitungen als Teil politischer Debatten bereits in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ernst genommen werden sollten.43 Diesen Umstand gilt es zu erklären, weil er
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Zu Hamburg vgl. Holger Böning: Welteroberung durch ein neues Publikum: Die deutsche Presse und der Weg zur Aufklärung. Hamburg und Altona als Beispiel. Bremen: edition lumière 2002, S. 125–131. Daniel Bellingradt: The publishing of a murder case in early modern Germany. The limits of censorship in the electorate of Saxony (1726). In: Quaerendo, 45. Jg. 2015, S. 62–107. Vgl. auch Johannes Weber: Kontrollmechanismen im deutschen Zeitungswesen im 17. Jahrhundert. Ein kleiner Beitrag zur Geschichte der Zensur. In: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, 6. Jg. 2004, S. 56–73, sowie Böning (2002), S. 163–165 (wie Anm. 39). So schon das Argument bei Johann Carolus im Jahr 1605, Johannes Weber: »Die Novellen sind eine Eröffnung des Buchs der gantzen Welt.« Entstehung und Entwicklung der Zeitung im 17. Jahrhundert. In: Klaus Beyrer / Martin Dallmeier (Hg.): Als die Post noch Zeitung machte. Eine Pressegeschichte. Gießen: Anabas 1994, S. 15–25, hier S. 15. Buchhändler Becker an den Rat, Lübeck, den 11. Februar 1663, 1.1-1 ASA, Interna, 19/1 Buchgewerbe und Zeitungsgewerbe, Nr. 2406, Stadtarchiv der Hansestadt Lübeck. Behringer (2003) S. 435 (wie Anm. 4), sowie Wolfgang Behringer: »Die Welt in einen anderen Model gegossen.« Das frühmoderne Postwesen als Motor der Kommunikationsrevolution. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 2002, S. 424–433, hier S. 429: »Eine Unterdrückung des neuen Mediums war aufgrund der Zeitungsgründungswelle bereits bei Beginn des Dreißigjährigen Krieges nicht mehr möglich. Alle Ansichten, es habe sich bei den Zeitungen entweder um ein wertneutrales oder um ein politisch gesteuertes Medium gehandelt, müssen ins Reich der Legende verwiesen werden. Die Bemühungen, das Entstehen einer öffentlichen Meinung früher zu datieren, sind daher in vollem Gange.«
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zum besseren Verständnis des Nachrichtenmarkts beitragen kann. Die Kritik an der Überbewertung von gedruckten Zeitungen ist dabei so alt wie die Zeitungsforschung selbst: »Die Zeitung war ein Nachrichtenorgan zweiter Ordnung, während der Brief im 17. Jahrhundert noch ganz allgemein als die zuverlässigere und schnellere Nachrichtenquelle galt.«44 Diese mehr als 100 Jahre alte Kritik wurde noch vor wenigen Jahren von Andrew Pettegree ausdrücklich bestätigt, der den gedruckten Zeitungen erst mit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts eine wesentliche Bedeutung für den Nachrichtenmarkt zuweisen will.45 Die gedruckte periodische Zeitung ist eine späte Entwicklung auf einem spätestens seit dem 15. Jahrhundert existierenden Nachrichtenmarkt,46 der sich auch um 1700 herum noch weitestgehend geschriebener Medien bediente. In diesem Jahr bezeichnete Johann Peter von Ludewig die gedruckte Zeitung als das »gemeineste«47 Nachrichtenmedium, das etwa vom Fürsten nur deshalb gelesen werden sollte, weil er nicht überall eigene Agenten haben könne: »So ist es auch über das an dem; daß manches Land welches keine Gelegenheit hat/ correspondence zuhalten/ sich mit den gedruckten Zeitungen/ als dem leichtesten mittel/ behelffen muß.«48 6. GESCHRIEBENE UND GEDRUCKTE ZEITUNGEN Geschriebene Zeitungen und insbesondere geschriebene Korrespondenzen haben in der Forschung bisher allerdings wesentlich weniger Aufmerksamkeit erfahren als ihr gedrucktes Komplement. In aller Regel werden sie gar nicht als Bestandteil eines Nachrichtenmarkts wahrgenommen.49 Das erklärt sich zum einen daraus, dass die geschriebenen und gedruckten Nachrichtenmedien zumeist von zwei verschiedenen Institutionen verwahrt werden. Das Archiv ist demnach für das geschriebene Material zuständig, während die Bibliothek das gedruckte Material verwahrt. Dadurch wird zum anderen eine mentale Unterteilung geschaffen, die dem gedruckten Material eine öffentliche 44
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Hermann Bode: Die Anfänge wirtschaftlicher Berichterstattung in der Presse. Pforzheim: Bode 1908, S. 25, zit. nach Habermas (1976), S. 301, Endnote 46 (wie Anm. 3). Andrew Pettegree: The invention of news: how the world came to know about itself. New Haven: Yale University Press 2014, S. 362–363; Alex W. Barber: »It is not easy to say our Condition, Much less to write it«: The continued importance of scribal news in the early 18th century. In: The Parliamentary history yearbook, 32. Jg. 2013, S. 293–316, betont ebenfalls die große Bedeutung geschriebener Nachrichten bis in das 18. Jahrhundert hinein. Vgl. Birgit Studt: Neue Zeitungen und politische Propaganda. Die »Speyerer Chronik« als Spiegel des Nachrichtenwesens im 15. Jahrhundert. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, 143. Jg. 1995, S. 145–219, zur Rolle von Zeitungen für die Chronisten des 15. Jahrhunderts. Johann Peter Ludewig: Das III. Stücke. Vom Gebrauch und Mißbrauch der Zeitungen/ Bey Eröffnung eines Collegii geführet, Anno 1700. In: Johann Peter Ludewig: Gesamte Kleine Teutsche Schrifften. Nebst einem Register. Halle im Magdeburg: Renger 1705, S. 80–111, hier S. 90. Ludewig (1705) S. 93, vgl. auch S. 96–97 (wie Anm. 47). Hier haben die Forschungen zu den so genannten Fuggerzeitungen in den letzten Jahren viel Klarheit zur Frage der Verbreitung geschriebener Zeitungen erbracht; vgl. Katrin Keller: Die Fuggerzeitungen. Ein Literaturbericht. In: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, 14. Jg. 2012, S. 186–204.
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Verbreitung unterstellt, während dem geschriebenen Material eine Art von Einzigartigkeit zugewiesen wird, die eine private Nutzung nahelegt. In der Folge dieser Unterteilung liegt die Erforschung der Bestände in aller Regel bei Vertretern verschiedener Disziplinen, teils den Medienhistorikern, die sich auf das gedruckte Material konzentrieren, teils den Diplomatiehistorikern, die vor allem mit Archivmaterial arbeiten und sowohl geschriebene Zeitungen als auch Korrespondenzen untersuchen.50 Das mangelnde Interesse an der geschriebenen Zeitung scheint auch auf die Annahme eines Übergangs von der geschriebenen zur gedruckten Zeitung zurück zu gehen. Ein solcher Übergang ist vor der Mitte des 18. Jahrhunderts allerdings nicht feststellbar.51 Im Gegenteil, der Nachrichtenmarkt für geschriebene und gedruckte Nachrichten wuchs im 17. Jahrhundert an, zumal beide Nachrichtengattungen aufeinander angewiesen waren. Das Medium der geschriebenen Zeitung war schneller, exklusiver und kostspieliger als die gedruckte Zeitung. Die Auflagen waren daher vermutlich gering, die Anforderungen an die Lesefähigkeit hoch. Sie sind primär dem Nachrichtenkonsum der Funktionseliten zuzuordnen. Die öffentlich, in gedruckten Zeitungen verbreiteten Nachrichten waren hingegen vor allem ein Restprodukt geschriebener Korrespondenzen, wenn auch nicht so sehr aufgrund von Zensurbestimmungen, sondern aufgrund ihres sehr begrenzten Marktwerts. Es fehlte ihnen nicht nur die Qualität einer sozialen Ressource, weil sie nicht Ausdruck der Teilhabe an partikulären Korrespondenzbeziehungen waren. Sie waren schlicht zu preiswert, um wesentliche Einkünfte zu erzielen, weshalb der Handel mit gedruckten Zeitungen in London noch im 18. Jahrhundert in den Händen von Witwen lag, die diese im Straßenverkauf vertrieben.52 Zudem fand die Berichterstattung über lokale Ereignisse in anderen Medien statt. 7. DIE ÖFFENTLICHKEIT Dass Medienhistoriker sich dennoch vor allem für die gedruckten Zeitungen interessieren, erklärt sich einerseits durch deren Funktion für die Entwicklung einer volkssprachlichen Literatur. Das sahen schon die Zeitgenossen so, etwa der schwedische Generalpostmeister Johan Gustaf von Beijer, Herausgeber der gedruckten schwedischen Zeitung, der in den 1680er Jahren in einer Eingabe an das Kanzleikollegium angab, dass die durch den Druck vermittelte, in der schwedischen Sprache verfasste Zeitung allgemein gemacht werden sollte, »so dass Nachrichten und andere der Wissenschaft dienliche und angenehme Sachen unserer Nation wie unserer Sprache zum nicht geringen Vorteil und ihrer Kultivierung zugänglich sind«.53
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Michael Rohrschneider / Arno Strohmeyer (Hg.): Wahrnehmungen des Fremden. Differenzerfahrungen von Diplomaten im 16. und 17. Jahrhundert. Münster: Aschendorff 2007. Heiko Droste / Kirsti Salmi Niklander (Hg.): The handwritten newspaper as as an alternative medium during the early modern and modern periods. Helsinki: Studia Fennica Historica 2018 (im Erscheinen). Pettegree (2014) S. 309–311 (wie Anm. 45). »att genom trycket förmedelst version på Swänska Tungomåhlet allmeent giöra åthskillige så till Noviteten som andre wettenskaper tiänlige nyttige och angenähme Saaker, wår Nation
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Entscheidend für den Fokus auf die gedruckte Zeitung ist hingegen die Annahme ihrer Bedeutung für die Entstehung einer Öffentlichkeit. Das Konzept der Öffentlichkeit behauptet seinen zentralen Platz in der Mediengeschichte, seit Jürgen Habermas im Jahr 1962 seine Studie zum Strukturwandel der Öffentlichkeit vorgelegt hat.54 Die Versuche, den Begriff der Öffentlichkeit analytisch zu fassen und für die Zeit vor dem 18. Jahrhundert zu operationalisieren, haben allerdings keine überzeugenden Resultate hervorgebracht. Das hängt zum einen damit zusammen, dass er von Habermas als normatives Konzept formuliert wurde, das nicht ohne Bezug auf die Wirtschaftsweisen der Zeit zu verstehen ist. An letzteren sind die meisten Medienhistoriker aber gar nicht interessiert. Zum anderen warnte schon Habermas davor, dass der Begriff in verschiedenen Zusammenhängen gebraucht wurde, die nicht überzeugend auf die zeitgenössischen Gesellschaftsmodelle angewendet werden können, weil sie antiken Konzepten von Politik verpflichtet waren. Diese wurden zwar als normativ akzeptiert, waren den gesellschaftlichen Strukturen der Zeit aber keineswegs angemessen.55 Und doch haben Historiker seither versucht, das normative Konzept der Öffentlichkeit in eine historische Beschreibungskategorie zu verwandeln.56 Zuletzt führte Rudolf Schlögl einen eher beschreibenden Begriff von sozial und lokal definierten Öffentlichkeiten ein. Diese Öffentlichkeiten seien durch mediale Konstellationen geprägt worden, in denen Vergesellschaftung über je verschiedene Operationsweisen des Politischen hergestellt worden sei.57 Der Fokus auf das Politische und die Vielfalt von Medien, in denen es verhandelt werden konnte, entkoppelt den Begriff allerdings von seiner notwendigen Rückbindung an Wirtschaftsformen und Gesellschaftsentwürfe, die soziale Rollen über die Partizipation an bzw. Funktionen für das Publike definierten. Das Publike war Ausdruck für das Gemeinwesen, das von publiken Eliten organisiert wurde. Diese organisierten ihre Teilhabe am Gemeinwesen untereinander über ihren Zugang zum Nachrichtenmarkt. Im Übrigen wurde privaten Gruppen ohne Teilhabe an Herrschaft das Interesse an den Geschäften dieser Funktionseliten wie des Fürsten selbstverständlich verwehrt, mit moralischen Argumenten. Das war übereinstimmender Ausgangspunkt aller Zeitungs-
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och deß Språk till ingen ringa fördeel och cultiverande,« Johan Gustaf von Beijer, undatierte Eingabe an das Kanzleikollegium, Kanslikollegiet, G II a:1, RA. Übersetzung vom Verf. Habermas (1976) (wie Anm. 3). Habermas (1976) S. 16 (wie Anm. 3). Esther-Beate Körber: Vormoderne Öffentlichkeiten. Versuch einer Begriffs- und Strukturgeschichte. In: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, 10. Jg. 2008, S. 3–25; Susanne Rau: Orte, Akteure, Netzwerke. Zur Konstruktion öffentlicher Räume in einer frühneuzeitlichen Fernhandelsstadt. In: Gerd Schwerhoff (Hg.): Stadt und Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit. Köln: Böhlau 2011, S. 39–63; Ernst Opgenoorth: Publicum – privatum – arcanum. Ein Versuch zur Begrifflichkeit frühneuzeitlicher Kommunikationsgeschichte. In: Bernd Sösemann (Hg.): Kommunikation und Medien in Preußen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart: Steiner 2002, S. 22–44. Rudolf Schlögl: Anwesende und Abwesende: Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit. Konstanz: Konstanz University Press 2014, S. 311–314; vgl. auch Rudolf Schlögl: Politik beobachten. Öffentlichkeit und Medien in der Frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für historische Forschung, 35. Jg. 2008, S. 581–616, hier S. 582–584.
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traktate im 17. Jahrhundert. Der Nachrichtenmarkt wurde implizit auf jene Gruppen beschränkt wahrgenommen, die an publiker Herrschaft partizipierten und die über die dazu notwendigen ständischen Privilegien verfügten. Dass seit dem 16. Jahrhundert ein Markt existierte, der keine juristischen und sozialen Begrenzungen von Zugänglichkeit kannte, wurde dennoch zunächst als unproblematisch wahrgenommen. Die notwendige Exklusivität wurde in den Augen der Zeitgenossen offenbar über den Preis wie die Verbreitung von Nachrichten in partikulären Korrespondenzen hergestellt. Eine Debatte über die Folgen der gedruckten Zeitung fand daher erst am Ausgang des 17. Jahrhunderts statt, rund 100 Jahre nachdem mit der so genannten Neuen Zeitung ein zunächst noch un-periodisches, gedrucktes Nachrichtenmedium etabliert worden war. Erst um 1675 herum führte die öffentliche Verbreitung von gedruckten Zeitungen in Verbindung mit ihrem relativ geringen Preis zur Wahrnehmung der Teilnahme am Nachrichtenmarkt von Seiten jener Gruppen, die als Konsumenten nicht akzeptiert wurden. Das Interesse dieser privaten Gruppen an Nachrichten über die Geschäfte publiker Personen wurde von allen Traktaten unter Verweis auf deren privaten Charakter abgelehnt.58 Die Traktate wiesen dabei keinen zeitlichen Zusammenhang zur Entstehung der gedruckten Zeitung auf, deren Ursprung den meisten Verfassern gar nicht mehr bekannt war. Das Problem war nicht Öffentlichkeit im Sinne von Zugänglichkeit. Das Problem war Partizipation an den Interessen von Herrschaft, weil sie als Ausdruck von politischen Ansprüchen verstanden wurde. Davon abgesehen gab es ganz selbstverständlich politische Debatten, öffentlich, auf den Marktplätzen, in Gasthäusern sowie in und vor der Kirche.59 Nachrichten wurden in Städten in allen sozialen Gruppen verbreitet. Das war in den großen Städten des Reichs freilich seit rund 500 Jahren der Fall. Seit dem 12. Jahrhundert wurden verschiedene kommunikative Strategien, historiographische Gattungen und andere Diskursformen entwickelt, in denen Politik verhandelt werden konnte.60 Diese mündlichen wie schriftlichen Kommunikationssituationen waren allerdings weder auf die Drucktechnik noch das Medium Zeitung angewiesen. Fragen von Herrschaft und Partizipation wurden in Liedern, Flugschriften und anderen diskursiven Medien verhandelt, wobei sich eine Form von Öffentlichkeit der Debatte ergab, die begrifflich allerdings auch für das Mittelalter schwer zu fassen ist.61 Partizipation an diesen Debatten setzte in aller Regel Bürgerrecht, Mitgliedschaft in einer Kirchengemeinde, ökonomisches Kapital und eine entsprechende Bildung voraus. 58 59
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Opgenoorth (2002) S. 44 (wie Anm. 56). Daniel Bellingradt: The early modern city as a resonating box: Media, public opinion, and the urban space of the Holy Roman Empire, Cologne, and Hamburg ca. 1700. In: Journal of early modern history, 16. Jg. 2012, S. 201–240. Vgl. die Forschungen zur pragmatischen Schriftlichkeit, die aus dem Sonderforschungsbereich 231 »Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter« an der Universität Münster 1986–1999 hervorgegangen sind. Übersicht: https://www.uni-muenster.de /Geschichte/MittelalterSchriftlichkeit/ [2018-04-25]. Bernd Thum: Öffentlichkeit und Kommunikation im Mittelalter. Zur Herstellung von Öffentlichkeit im Bezugsfeld elementarer Kommunikationsformen im 13. Jahrhundert. In: Hedda Ragotzky / Horst Wenzel (Hg.): Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen. Tübingen: Niemeyer 1990, S. 65–87.
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Wie auch immer diese Formen von Öffentlichkeit unter Verweis auf die öffentliche Verhandlung von Politik definiert werden, das von Habermas eingeführte normative Konzept der Öffentlichkeit bezeichnet etwas grundsätzlich anderes, nämlich die Partizipation an Gesellschaft auf der Basis von Wirtschaftsweisen, die im Merkantilismus allmählich verändert wurden. Dabei kam den privaten Gruppen eine neue Rolle als interessiertes Publikum zu. Politik wurde in dem Maße Teil ihrer Geschäfte, wie die herrschaftliche Ökonomie auf die Beteiligung privater Gruppen angewiesen war. Damit kam auch der Presse eine neue Funktion zu. Diese Veränderung hatte laut Habermas in den deutschen Territorien seit Beginn des 19. Jahrhunderts Konsequenzen für die Funktionsweise einer Bürgerlichen Öffentlichkeit.62 8. DRUCKTECHNIK UND GUTENBERGGALAXIS Ausgehend von einem eher beschreibenden Begriff von Öffentlichkeit hat sich die Forschungsdiskussion allerdings auf Fragen von allgemeiner Zugänglichkeit wie medialer Konstellationen konzentriert. In den Vordergrund trat damit Gutenbergs Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern. Diesem Druck wird eine zentrale Rolle bei der Veränderung des Nachrichtenmarkts zugewiesen, obwohl die Rolle technischer Innovationen für den Nachrichtenmarkt noch immer unklar ist.63 So wäre etwa zu erklären, warum die voll entwickelte Drucktechnik für rund 200 Jahre keine wesentliche Rolle für den Nachrichtenmarkt spielte. Rudolf Schlögl hebt in seiner Studie zur Anwesenheit unter Abwesenden stark auf die veränderten Möglichkeiten der Beobachtung von Welt durch den Druck hin. Sie wird bei Johannes Arndt vor allem als Beobachtung von Politik definiert, nämlich als »mediale[s] System der politischen Publizistik«.64 Bei Arndt wie Schlögl gewinnt der Begriff der Öffentlichkeit somit erneut eine zentrale Bedeutung.65 Schlögl verlässt sich dabei vor allem auf Printmedien, denen allein eine Beobachtungsfunktion mit öffentlicher Reichweite und kommunikativer Reflexivität zugeschrieben wird. Diese Medien folgten einer intermedialen Logik, nach der gedruckte Medien sich vor allem auf andere gedruckte Medien bezogen. Die Bedeutung Gutenbergs sei dabei zentral, »da sich auf der Basis der sich ausdehnenden Gutenberggalaxis ein Mediensystem und auch ein System der Gesellschaft in ihren unterschiedlichen Aspekten beobachtenden und beschreibenden Wissenschaften ausbildete«.66 Die Gutenberggalaxis ermöglichte damit eine spezifische Rationalität, weil sie das gedruckte Wort aus sozialen Zusammenhängen löste und öffentlich verhandelbar mach-
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Habermas (1976) S. 17 (wie Anm. 3). Behringer (2006) (wie Anm. 25), betont zu Recht, dass die Kommunikationsrevolution des 16. und 17. Jahrhunderts vor allem organisatorischen Veränderungen geschuldet war. Johannes Arndt: Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit. Die publizistische Darstellung politischer Konflikte im Heiligen Römischen Reich 1648–1750. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, S. 30. Schlögl (2014), S. 195 (wie Anm. 57), vgl. auch S. 314; 334, 336 und öfters, wo jeweils neue Wortbedeutungen eingeführt werden. Schlögl (2014) S. 434 (wie Anm. 57).
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te, wie es nur über den Druck möglich sei.67 Dabei übersieht Schlögl, dass bis in das 18. Jahrhundert hinein ein wesentlicher Teil der publizierten Beobachtungen von Welt und Zeitgeschehen in Handschriften verbreitet und erörtert wurde68 und dass diese handschriftlichen Medien sowohl ein wichtiges Marktprodukt waren als auch lebende Texte, die soziale Strukturen schufen.69 Die Frage von Druck oder Handschrift, öffentlicher Verbreitung oder partikulärer Korrespondenz ist von Interesse, kann aber nicht mit Blick auf eine Opposition von Öffentlichkeit und Privatheit beantwortet werden: »The manuscript text operates as a medium of social exchange [...], neither private nor public in the conventional sense of the terms.«70 Es gibt keinen Gegensatz von sozialer Strukturbildung über geschriebene Korrespondenzen einerseits und einer medialen Öffentlichkeit gedruckter Medien andererseits. Öffentlichkeit ist je spezifisch als Partizipation zu verstehen, die durch soziale, kulturelle und wirtschaftliche Ressourcen definiert wird. Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein erfolgte diese Strukturbildung primär in Form geschriebener Medien, da Partizipation an ständische Privilegien gebunden war. 9. DAS MEDIENSYSTEM Das Mediensystem basiert hingegen auf Vorstellungen von einem Zusammenhang zwischen kommunikativen Medien, die der Beobachtung von Welt und Politik dienten. Dieser Beobachtung komme ein selbstverständlicher Platz in der politischen Kultur der Zeit zu. Das Interesse richtet sich folglich auf die Folgen der Drucktechnik für die Möglichkeit der Beobachtung von Welt: »Damit hatte das Mediensystem der Frühen Neu-
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So auch bei Henrik G. Bastiansen: Media history and the study of media systems. In: Media history, 14. Jg. 2008, S. 95–112. Vgl. die ausführliche Kritik von Uwe Neddermeyer: Wann begann das »Buchzeitalter«? Berichte und Kritik. In: Zeitschrift für historische Forschung, 20 Jg. 1993, S. 205–216, an Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. Neddermeyer weist auf die große Bedeutung der handschriftlichen Medien hin, die freilich noch nicht im Zusammenhang untersucht worden seien. Vgl. auch Jan-Dirk Müller: Zu Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. 1991. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur, 18. Jg. 1993, S. 168–178. Zeynep Tenger / Paul Trolander: From print versus manuscript to sociable authorship and mixed media: A review of trends in the scholarship of early modern publication. In: Literature compass, 7/11. Jg. 2010, S. 1035–1048, hier S. 1039: »manuscript production was an important commercial contributor to 17th-century literary culture«. Margaret Ezell: Social authorship and the advent of print. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1999, S. 40. Vgl. S. 38-39: »What we tend to see is a ›private‹ mode that, by its very nature, is permeated by ›public‹ moments of readership, when the text is circulated and copied. The text, although not universally available to any purchasing reader, nevertheless engages in a ›social‹ function.« Vgl. auch Gary Schneider: The culture of epistolarity. Vernacular letters and letter writing in early modern England, 1500–1700. Newark: University of Delaware Press 2005.
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zeit so etwas wie eine autopoietische Geschlossenheit erreicht. Die Produktion von Gedrucktem bezog sich auf gedruckt vermittelte Beobachtungen.«71 Gemeinsam ist den Definitionen des Mediensystems der Fokus auf den Beziehungen zwischen verschiedenen Medien, wobei im System etwas qualitativ Neues entstehe, das eine Form von Eigendynamik ausgelöst habe.72 Das ist einerseits überzeugend, weil die verschiedenen Medien offenkundig aufeinander verwiesen bzw. aufeinander angewiesen waren. Es überzeugt andererseits nicht, weil die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen dieser Systeme keine adäquate Berücksichtigung erfahren. Schlögl entwirft ein Gesellschaftsmodell auf der Basis dieser medialen Rationalität, die in der Erörterung von Politik in je verschiedenen Öffentlichkeiten sichtbar werde. Eine Untersuchung von anderen Gesellschaftsbereichen wie dem Recht, der Wissenschaft und Religion scheint ihm unnötig.73 Markt und Wirtschaft werden in seinem Gesellschaftsmodell erst gar nicht erwähnt. Die Nachrichtenmedien des Barock stellten aber nicht nur hohe Anforderungen an Literazität sowie das soziale und kulturelle Kapital der Mitglieder von Funktionseliten. Sie waren soziale Ressourcen, die nur jenen Mitgliedern publiker Funktionseliten zugänglich waren, die solche Korrespondenzen verdienten. Korrespondenzen dienten primär der sozialen Strukturbildung wie Teilhabe an Gleichzeitigkeit. Damit unterschieden sie sich von Flugblättern und anderen tendenziösen Medien, die Nachrichten zu argumentativen Zwecken einsetzten und damit andere Rezipienten ansprachen. Die zeitgenössischen Traktate erörterten vor allem die sozialen Funktionen von Kommunikation und waren von daher an Flugschriften und tendenziösen Streitschriften überhaupt nicht interessiert. Kaspar Stieler erwähnte diese als einziger Autor, zog aber eine scharfe Grenze: »so sind sie doch eben zu den Zeitungen nicht zu zehlen/ wie weil es keine neue Welthändel seyn/ so eine rechtschaffene Benachrichtigung der ergangenen Sachen geben.«74 Die Zeitgenossen sahen kein Mediensystem; sie bezeichneten als »Zeitung« mündliche, schriftliche wie gedruckten Nachrichtenformen, denen spezifische soziale Funktionen zukamen. Die Bedeutung von öffentlich verbreiteten Zeitungen als Medium öffentlicher Debatten interessierte sie nicht. Allein dem Fürsten wie seinen Nachrichtenagenten wurde ein aktives Interesse an der Verbreitung von Nachrichten unterstellt.75
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Schlögl (2014) S. 323 (wie Anm. 57). So auch in der Bastiansen (2008) S. 95 (wie Anm. 67): »The collocation of the terms ›media‹ and ›system‹ will thus etymologically focus on the fact that different means of communication are related to each other in different ways, creating a whole of cooperating parts.« Schlögl (2014) S. 24 (wie Anm. 57). Stieler diskutiert diese Frage der verschiedenen Nachrichtenformen, unterscheidet aber deutlich und lehnt jede Form der wertenden Berichterstattung prinzipiell ab; Stieler (1695) S. 136 (wie Anm. 15). Volker Bauer: Nachrichtenmedien und höfische Gesellschaft. Zum Verhältnis von Mediensystem und höfischer Öffentlichkeit im Alten Reich. In: Johannes Arndt / Esther-Beate Körber (Hg.): Das Mediensystem im Alten Reich der Frühen Neuzeit (1600–1750). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. S. 173–194, hier S. 187–191, zum weitgehenden Mangel an Berichten über Elemente öffentlicher politischer Kultur in den Zeitungen.
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Die Traktate diskutierten hingegen ausführlich, dass der Zugang zu Nachrichten auf jene publiken Gruppen begrenzt sein sollte, die über ihre Partizipation am Gemeinwesen Grund hatten, an dem in Zeitungen vermittelten Wissen um Welt teilzunehmen. Sie waren aufgefordert, Politik umzusetzen und nahmen Einfluss auf die allmähliche Veränderung von Herrschaft, weil sie als Mitunternehmer an Herrschaft ein eigenes Interesse daran hatten. Sie brauchten zu diesem Zweck aktuelle, gleichzeitige wie umfassende Kenntnisse von der Beschaffenheit Europas. Sie bildeten eine Öffentlichkeit im Sinne der barocken Ständegesellschaft, die mit unserer modernen abstrakten Begrifflichkeit allerdings nicht gefasst werden kann. Die gedruckte Zeitung des 17. Jahrhunderts berichtete das Gemeinwesen betreffende Ereignisse einerseits periodisch und aktuell; sie tat dies andererseits nur bedingt publik und keineswegs universalistisch, da in aller Regel kein Hinweis auf lokale Geschehnisse zu finden ist. Diese gedruckten Zeitungen nahmen seit dem ausgehenden 17. und vor allem im 18. Jahrhundert allmählich neue Funktionen an, indem sie auf veränderte Vorstellungen von Herrschaft, neue Wirtschaftsweisen und soziale Ordnungen reagierten. Dazu gehörte, dass moralische Wertungen aufgenommen und auch lokale Nachrichten publiziert wurden. 10. NACHRICHTEN UND KORRESPONDENTEN IN DER SO GENANNTEN MODERNE Seit dem 19. Jahrhundert spielte die gedruckte Zeitung eine fundamentale Rolle in den diskursiven Formationen von Nationalstaaten,76 ganz im Gegensatz zum 17. Jahrhundert. Auch die Funktion von gedruckten Zeitungen für den Nationalstaat ist mittlerweile allerdings historisch. Habermas selbst hat sich bereits 1962 vom Konzept der Bürgerlichen Öffentlichkeit distanziert. Es konnte seiner Ansicht nach nicht länger Gültigkeit für die Gegenwart beanspruchen, weil es ein auf das 19. Jahrhundert beschränktes normatives Konzept von diskursiver Öffentlichkeit darstelle. Die bürgerliche Familie habe ihre gesellschaftliche Rolle in der kapitalistischen Konsumgesellschaft seither eingebüßt.77 Die gedruckte Zeitung ist deswegen nicht verschwunden; sie hat sich den Wirtschaftsweisen moderner kapitalistischer Gesellschaften angepasst. Das gilt freilich auch für den von sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Partizipationsbedingungen geprägten Nachrichtenmarkt von Funktionseliten. Deren Vergesellschaftung über Investitionen in Netzwerke ist noch immer eine wichtige Funktion auf einem Markt für soziale Ressourcen, der den Zugang zu Funktionseliten organisiert. Voraussetzung für die Partizipation sind auch weiterhin Jahre der Investition in Ausbildung, Reisen, Rhetorik und Fragen von Lebensstil, neben einer berufsspezifischen Ausbildung.78 Freunde und Netzwerke sind längst auch außerhalb der Funktionseliten zu einer Metapher für Erfolg 76
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Benedict R. O'G. Anderson: Imagined communities: reflections on the origin and spread of nationalism. London: Verso 1983, zum Zusammenhang von Nationalstaat und kapitalistischer Druckindustrien. Habermas (1976) Kap. V zum sozialen Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 172-216 (wie Anm. 3). Michael Useem: The inner circle: large corporations and the rise of business political activity in the U.S. and U.K. New York: Oxford University Press 1984.
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geworden, der weniger als sozialer Aufstieg, sondern als Karriere definiert wird – freilich mit äquivalentem Ergebnis.79 Die Funktionseliten der Jahrtausendwende engagieren sich in unzähligen Netzwerken, Vereinigungen und Mitgliedschaften. Diese stehen für einen durch Exklusivität gekennzeichneten Lebensstil, der einem Mitglied höfischer Funktionseliten im Barock unmittelbar eingeleuchtet hätte. Die Mediengesellschaft des 21. Jahrhunderts weist damit deutliche Parallelen zu einer im Barock selbstverständlichen Vergesellschaftung über Korrespondenzen und Netzwerke in Funktionseliten auf. Vertrauen in und Zutritt zu Netzwerken werden als Ergebnis individueller Investitionen verstanden. Die modernen Funktionseliten bedienen sich dabei zwar anderer, meist elektronischer Medien, während der Brief primär als Metapher für persönliche Korrespondenzen Verwendung findet. Selbst die elektronischen Kommunikationsformen sind allerdings durch Partikularität und Abstufungen von Exklusivität gekennzeichnet, da diese so genannten sozialen Medien der Vergesellschaftung abwesender Freunde dienen, die sich jeweils spezifischen Foren des Austauschs anschließen. Das hat auch heute sehr wenig mit einer über technische Hilfsmittel hergestellten Öffentlichkeit zu tun. Das zentrale Thema des Nachrichtenmarkts war und ist damit Partizipation, das heißt die Teilhabe an publiken Diskussionen über Nachrichtenmedien. Diese Partizipation ist entgegen dem Selbstbild europäischer Demokratien nicht länger selbstverständlich. In der Gegenwart distanzieren sich wachsende Teile der Wählerschaft von der Teilhabe an dieser Gesellschaft und damit auch der Partizipation an publiken Debatten. Dabei wird gerade das Misstrauen gegen die so genannten etablierten Medien immer wieder thematisiert, um den Befund von mangelnder Partizipation und damit demokratischer Defizite auszudrücken. Elektronische Nachrichtenmedien sind weder eindeutig öffentlich oder privat, partikulär oder geheim. Auch wenn die meisten prinzipiell von Jedermann einsehbar sind, scheinen Diskussionen zu ihrer Öffentlichkeit wenig hilfreich. Exklusivität wie interne Sozialisation sind auch unter den Bedingungen der prinzipiell unbeschränkten Öffentlichkeit – Erreichbarkeit – digitaler Medien möglich. Sie werden heute – wie im Barock – über wirtschaftliche Ressourcen, Sprache und Rhetorik, Fragen von Lebensstil und das Gefühl der Teilhabe an Gesellschaft wie Partizipation an öffentlichen Aufgaben hergestellt. Diese Partizipation kann nicht über die Möglichkeit des Konsums von Nachrichten über dieses Gemeinwesen hergestellt werden, heute ebenso wenig wie vor 300 Jahren. Öffentlichkeitskonzepte, die sich an Zugänglichkeit und Fragen von so genannter politischer Debatte orientieren, erweisen sich hier als unzureichend, zumal sie an Konzepte von Gesellschaft gebunden sind, die die Rolle privater Gruppen für das Gemeinwesen nicht überzeugend definieren können.80 Die Existenz von Prekaria79
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Zu Karriere und Professionalisierung im Zeitalter des Barock, Hilde de Ridder-Symoens: Training and professionalization. In: Wolfgang Reinhard (Hg.): Power elites and state building. Oxford: Clarendon Press 2005, S. 149–172, hier S. 170–172. John Rawls: Justice as fairness. Political not metaphysical. In: Philosophy and public affairs, 14. Jg. 1985, S. 223–251. Axel Honneth hat in Fortsetzung der Arbeiten von Jürgen Habermas zur Anerkennung gearbeitet: Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992.
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ten ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Struktur der Ungleichheit, die strukturelle Gemeinsamkeiten zum Zeitalter des Barock aufweist. Die Gegenwart ist gleichwohl nicht barock, das Barockzeitalter nicht modern.81 Die Periodisierung Barock zu benutzen, hat gegenüber den Konzepten der Vormoderne bzw. Frühen Neuzeit allerdings zwei grundsätzliche Vorteile. Sie weist diesem Zeitalter einen von Normen und Institutionen organisierten Gesellschaftsentwurf zu, der mehr ist als eine Übergangsperiode, mehr als eine unvollendete Moderne, in der der heutige Historiker sich sicher aufgehoben weiß. Der Barock stand zudem für ein Modell von Herrschaft, das an Wirtschaftsweisen gekoppelt war, die über Jahrhunderte Bestand hatten und die ständische Partizipationsrechte mit sich brachten. Darüber hinaus ist der Barock die Periodisierung, die von anderen Geisteswissenschaften für eben jenes in sich konsistente Gesellschaftsmodell gewählt wird. Historiker brauchen den Dialog mit diesen anderen Geisteswissenschaften, um sich von anachronistischen Vorstellungen von Politik, Öffentlichkeit und Modernisierung zu verabschieden, nicht zuletzt da diese die Erforschung der Kommunikationsgeschichte aus ihren zeitgenössischen Zusammenhängen und Diskursen herauslösen und sie so schwer verständlich machen. Historiker brauchen den Dialog mit anderen Barockwissenschaften, vor allem der Literaturwissenschaft, um den Nachrichtenmarkt adäquat zu verstehen. Zusammenfassung Der vorliegende Aufsatz ist eine Auseinandersetzung mit aktuellen Forschungen zur Kommunikationsgeschichte der so genannten Frühen Neuzeit. Ausgehend von einer Definition der Nachricht und ihrer sozialen Funktionen wird ein Verständnis des Nachrichtenmarkts skizziert, das mit Konzepten von Druck-Öffentlichkeit und Mediensystemen nicht sinnvoll gefasst werden kann. Nachrichten sind eine Investition in soziale Beziehungen, die dem Ziel der Partizipation an Funktionseliten dienen. Sie sind auch eine Form der Teilhabe an Gleichzeitigkeit, die Teil des Lebensstils dieser Funktionseliten ist. Das hier skizzierte Verständnis des Nachrichtenmarkts im 17. Jahrhundert gibt Anlass, die Periodisierung der Frühen Neuzeit wie damit zusammenhängender Vorstellungen von der so genannten Moderne in Frage zu stellen, die die Kommunikationsgeschichte noch immer prägen. Summary The following essay examines current research on the history of communications in the so-called early modern era, which still reiterate a Whig approach to media history. Based on a definition of news and its social functions, a different understanding of the contemporary news market is proposed. This market can not be unterstood properly on the basis of notions of a print-based public sphere or media systems. News was and is an investment in social relationships that resulted in forms of participation. They are also a means of participation in contemporaneity, which was part of the lifestyle of functional elites. The understanding of the news market in the seventeenth century 81
Dieser Gedanke ausführlicher in Heiko Droste: Naming the ambiguous. Income and royal service in the seventeenth century. In: Beth Plummer / Joel Harrington (Hg.): Names and naming in early modern Germany. (Im Erscheinen, 2019).
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outlined here not only questions the periodization of early modern times and related ideas about the so-called modernity, especially within the field of the history of communication. It also offers a different understanding of the social functions of news with repercussions for the contemporary news market. Korrespondenzanschrift Prof. Dr. Heiko Droste, Historiska institutionen, Stockholms universitet, Universitetsvägen 100, 106 91 Stockholm (SE) Email: [email protected] Heiko Droste ist Professor i Stads- och kommunhistoria, Föreståndare till Stads- och kommunhistoriska institutet, Historiska institutionen, Stockholms universitet.
Miszelle Klaus-Dieter Herbst
DER SCHREIBKALENDER DER FRÜHEN NEUZEIT UND SEINE AUTOREN. Ergebnisse der Forschung. Mit einer Personalbibliografie seit 2006 1. DER SCHREIBKALENDER Die Menschen in der Frühen Neuzeit benötigten lange Zeit einen Jahreskalender zur Orientierung für ihre täglichen Verrichtungen. Im Mittelpunkt standen zunächst die christlichen Fest- und die medizinischen Aderlasstermine, hinzu kam die Angabe ausgewählter – günstiger – Zeitpunkte zum Einnehmen der Arznei, zum Ausbringen der Saat, zum Schlagen des Bauholzes usw., aber auch die Kennzeichnung unglücklicher Tage, die »dies aegyptici«. Ferner wurden genannt: die Namen der Heiligen an jedem Tag, die wöchentlichen Bibeltexte, die gemutmaßte Witterung, der Mondlauf im Tierkreis sowie die Auf- und Untergangszeiten von Sonne und Mond. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts bot der aus dem Wandkalender entstandene Schreibkalender diese Informationen auf ca. 14 bis 16 Quart-Blättern im handlichen Buchformat. Erst seit 2015 ist bekannt, dass der erste Schreibkalender bereits für das Jahr 1540 in Nürnberg von Hans Guldenmund (ca. 1490–1560) gedruckt wurde, nicht erst für 1553 in Wien von Aegidius Adler (?–1552), wie bisher in der Literatur angenommen.1 Dem monatlichen Kalendarium mit astronomischen Angaben und astrologischen Erwählungen war anfangs eine fast unbedruckte Seite gegenübergestellt. Diese Schreibseite wurde im Laufe des 17. Jahrhunderts allmählich umfangreicher bedruckt, wobei der freie Raum auf eine mehr oder weniger breite Spalte reduziert wurde. Die Nutzer dieses Kalenders konnten hier ihre persönlichen oder geschäftlichen Notizen einschreiben. Und sie notierten seit 1540: der Kaufmann die ge- und verkaufte Ware; der Pfarrer die vorgenommenen Taufen, Trauungen, Beerdigungen und die erhaltene Kollekte; der Student die besuchten Vorlesungen; der Stadtschreiber die Ortschronik; der Hausvater auf dem Lande wie in der Stadt die erledigten Haus- bzw. Feldarbeiten und besonderen familiären Ereignisse oder auch das tägliche Wetter; der Kanzleischreiber die eingenommenen Steuergelder; die Fürstin ihre herrschaftlichen Termine (Abb. 1) usw. 1
Klaus-Dieter Herbst: Die Erfindung des Schreibkalenders um 1540. In: Klaus-Dieter Herbst (Hg.): Almanach und Practica für das Jahr 1541 verfaßt von Dionysius Sibenburger. Neu hg. mit einem Beitrag über die Erfindung des Schreibkalenders. Jena: Verlag HKD 2017 (= Acta Calendariographica – Kalenderreihen, Bd. 3.3), S. 11–32; Klaus Matthäus: Dr. Georg Seyfridt und seine Schreibkalender. Gedruckte Jahreskalender – Dem Einblattkalender folgen die Schreibkalender. In: Klaus Matthäus (Hg.): Almanach nicht allein den Gelehrten, sondern auch den Kaufleuten nützlich für die Jahre 1544 und 1545 in Kulmbach verfaßt von Georg Seyfridt. Neu hg. von Klaus Matthäus mit einem Beitrag über Georg Seyfridt und seine Kalender. Jena: Verlag HKD 2017 (= Acta Calendariographica – Kalenderreihen, Bd. 3.4), S. 11–35.
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Abb. 1: Monatsseiten Januar aus dem ›Alt und Neu Jahr=Buch‹ für 1667 von Gottfried Kirch, gedruckt von Samuel Krebs und verlegt von Matthaeus Birckner in Jena. Die handschriftlichen Notizen stammen von Elisabeth Dorothea, Landgräfin von Hessen-Darmstadt.
Von Beginn an wurde ein zuvor selbständig publiziertes acht- bis sechzehnblättriges Prognostikum (»Prognosticon Astrologicum« oder »Practica«) dem jährlichen Kalendarium angehängt. In diesem zweiten Teil eines Schreibkalenders schilderte der Kalenderverfasser mit ausführlichen Worten die im Gültigkeitsjahr des Kalenders zu erwartenden himmlischen, witterungsmäßigen und den Menschen betreffenden Erscheinungen und Ereignisse wie die Sonnen- und Mondfinsternisse, die Planeten mit ihren Aspekten und ihrer Sichtbarkeit, die Witterung in den Jahreszeiten und einzelnen Monaten. Der Leser fand aus den Finsternissen und Planetenaspekten abgeleitete Mutmaßungen über Krieg oder Frieden, mögliche Krankheiten und voraussichtliche Fruchtbarkeiten der Äcker. Einem solchen Kalender wurden seit dem Ende des 16. Jahrhunderts nützliche Verzeichnisse hinzugefügt: erst Jahrmärkte und Messen, später auch Posten und Boten, Gerichtstermine, im 18. Jahrhundert dann Namen von Amtspersonen und Genealogien der Herrscherhäuser. Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein wurde ein Schreibkalender sowohl vom »gemeinen Mann« als auch von den Eliten zu den Zwecken der Orientierung, der Information, der Unterhaltung und der Tagebuchführung benutzt. Bereits seit den 30er Jahren des 17. Jahrhunderts setzte eine inhaltliche Differenzierung bei den Text- und Bildbeigaben in den Quartkalendern ein, was Käufer mit unterschiedlichen Interessen ansprechen sollte und dabei auch die verschiedenen Bildungsgrade der Leser berücksichtigte. Die bereits seit 1558 – in einem Kalender von Johann Hebenstreit (1525–1569) – eingestreuten kurzen historischen Notizen, die »Historien«, wurden zu umfangreicheren Beiträgen ausgebaut, wozu auf der bis dahin fast leeren Schreibseite eine zusätzliche Textspalte angeordnet wurde. Herausragend in dieser Zeit
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– noch die des Dreißigjährigen Krieges – ist der ›KriegsCalender‹ von Rudolph Buchbach (?–1649), der diesen für das Jahr 1638 in Dresden drucken ließ. Dieser Kalender ist mit 12 Kupferstichen angereichert und bringt bei jedem Monat die Beschreibung der »bishero in R[ömischen] Reich geschehenen 12. HaubtSchlachten« (Abb. 2). Abb. 2: 10. Kupferstich (von 12) mit der Schlacht bei Liegnitz 1634, enthalten im ›KriegsCalender‹ für 1638 von Rudolph Buchbach, Druck und Verlag Wolff Seyffert, Dresden.
Neben den handschriftlichen Eintragungen sind es vor allem diese neu aufgenommenen Texte, die heute für die Astronomie-, Medizin-, Literatur-, Kunst-, Kultur- und Mediengeschichte sowie für die Aufklärungsforschung von Interesse sind. Sie ermöglichen einen Seitenblick auf das Leben der Menschen in der Frühen Neuzeit und liefern über die Jahrhunderte hinweg ein jahrgangsgetreues Abbild vom Wandel der Mentalitäten. Besonders im 17. Jahrhundert avancierte der große Schreibkalender in Quart (4°) – daneben gab es auch die kleineren in Oktav (8°), Duodez (12°), Sedez (16°) und Trigesimosecundo (32°), die aber in der Regel keine zusätzlichen Texte enthielten – zu einem der wichtigsten Medien innerhalb des Ensembles mit Flugblättern, Flugschriften, Carmina, Disputationen, Messrelationen, Leichenpredigten, wöchentlichen Zeitungen, seit 1650 mit Tageszeitungen und seit 1674 auch mit politischen Zeitschriften usw.
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2. NEUE QUELLENFUNDE Seit Oktober 2006 erfuhr das Druckmedium »Schreibkalender« durch mehrere nacheinander bis März 2017 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Projekte, die am Institut Deutsche Presseforschung der Universität Bremen unter der Leitung von Holger Böning realisiert wurden, eine gesteigerte wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Von der Wahrnehmung dieser Forschungstätigkeit zeugt u. a. der Umstand, dass die dritte Auflage von »Reclams Sachlexikon des Buches« (2015) gegenüber der zweiten Auflage (2003) um das Lemma »Schreibkalender« erweitert wurde.2 Die nationale und internationale Kooperation von Wissenschaftlern auf diesem Forschungsfeld führte schließlich zu zwei Konferenzen, die 2011 in Altenburg und 2017 in Jena mit jeweils über zwanzig Referenten aus neun Ländern stattfanden. Vor diesen Konferenzen stand – inspiriert durch die Arbeit des Verfassers an der Edition der Korrespondenz des Astronomen und Kalendermachers Gottfried Kirch (1639–1710) – das Aufsuchen zahlreicher Staats-, Stadt- und Klosterarchive sowie Staats-, Universitäts- und Stadtbibliotheken in Deutschland, Österreich, Polen, Tschechien, Dänemark, Schweden und der Schweiz, um den Bestand an überlieferten deutschsprachigen Schreibkalendern bis um 1700 zu ermitteln. Herausragend war hier die am 24. Oktober 2006 wiederentdeckte Kalendersammlung des Stadtarchivs Altenburg mit rund 3.700 Jahreskalendern in Quart für die Jahre 1644 bis 1861.3 Kurz zuvor, im März desselben Jahres, wurde von Klaus Matthäus eine Sammlung in der CzartoryskichBibliothek in Krakau aufgespürt, die mit rund 2.000 Jahreskalendern für die Jahre 1648 bis 1848 ebenfalls enormen Umfang besitzt. Beide Entdeckungen trugen wesentlich zur Belebung der Forschung bei. Damit und mit den Sammlungen in anderen Einrichtungen steht jetzt ein Quellenkorpus von weit über 10.000 Schreibkalendern aus den Jahren von 1540 bis etwa 1750 zur Verfügung, das nicht nur die in der Literatur bisher geäußerte Dimension um ein Vielfaches übertrifft, sondern auch neue Forschungsansätze mit zeitlichen Längsschnitt- und inhaltlichen Querschnittsanalysen zulässt. So lassen sich z. B. in der Altenburger Sammlung bis zu 73 verschiedene Exemplare (für 1679)4 pro Jahrgang und in der Krakauer Sammlung immerhin bis zu 21 Exemplare (für 1677, 1679, 1680, 1681) für jeweils einen Jahrgang untersuchen.5 Die auf das Ver-
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Daniel Bellingradt: Lemma »Schreibkalender«. In: Ursula Rautenberg (Hg.): Reclams Sachlexikon des Buches. Von der Handschrift zum E-Book. 3., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. Stuttgart: Philipp Reclam 2015, S. 352–353. Klaus-Dieter Herbst: Der Kalenderschatz im Stadtarchiv Altenburg. In: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, 9. Jg., 2007, S. 211–239. Allein für das Jahr 1679 wurden insgesamt 125 verschiedene Kalenderreihen in Quart ermittelt, von denen 92 mit einem Exemplar überliefert sind, davon wiederum 73 in Altenburg. Vgl. Klaus-Dieter Herbst: Leipzig als Druckort von Kalendern in der Frühen Neuzeit. In: Detlef Döring (Hg.): Leipzigs Bedeutung für die Geschichte Sachsens. Politik, Wirtschaft und Kultur in sechs Jahrhunderten. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2014 (= Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 7), S. 347–398, hier S. 350f. Exemplarisch wurde das mit Stand September 2008 für den Kalenderjahrgang 1670 unternommen. Siehe Klaus-Dieter Herbst: Die Schreibkalender für das Jahr 1670. In: Peter
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lagsarchiv der Endter in Nürnberg zurückgehende Krakauer Kalendersammlung bietet zudem die einmalige Gelegenheit, fast die gesamte Produktion der Quartkalender des größten deutschen Kalenderverlages der Frühen Neuzeit zu analysieren. Dass nicht nur öffentliche Einrichtungen bemerkenswerte Kalendersammlungen beherbergen, sondern auch private Häuser, belegt der Fall eines Bauernhauses im vogtländischen Langenwetzendorf. Dort konnte der Verfasser am 25. März 2013 90 Schreibkalender für die Jahre 1661 bis 1755 in Augenschein nehmen, die nicht nur einige bis dahin gänzlich unbekannte Kalendertitel bieten, sondern auch randvoll sind mit handschriftlichen Notizen der Bauern über mehrere Generationen hinweg. Diese Schreibkalender mit ihren Notizen stellen ein eindrucksvolles Beispiel für die Schreibfähigkeit von Bauern dar. Auf die Schreibfähigkeit bei Adligen muss nicht erst hingewiesen werden, wohl aber auf die reichhaltig überlieferten Kalender in den noch kaum erschlossenen Adelsarchiven, die teilweise in staatliche Archive überführt wurden und teilweise in den privaten Schlossbibliotheken einer Auswertung harren. Umso erfreulicher ist es, wenn diese durch eine Edition der Forschung leichter zugänglich gemacht werden, wie jetzt im Fall der Schreibkalender des Clamor Eberhard von dem Bussche zu Hünnefeld (1611–1666) geschehen.6 Jüngster Fund von herausragendem Wert ist die Wiederauffindung von zwei Bänden, die seit dem Zweiten Weltkrieg in der Literatur als verschollen bezeichnet wurden. Zum einen handelt es sich um das Tagebuch des Chronisten, Kartographen, Mathematikers, Bürgermeisters und Kalendermachers Bartholomaeus Scultetus (1540–1614) in Görlitz. Dieses in Schreibkalendern für 1567 bis 1594 durchgängig geführte Tagebuch wurde im Dezember 2015 zufällig bei der systematischen Durchsicht des Kalenderbestandes in der Breslauer Universitätsbibliothek gefunden. Vor der Überbringung nach Breslau wurde dieser Band in der Bibliothek der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz aufbewahrt. Hinsichtlich der Entwicklung im Kalenderwesen besteht die Brisanz bei diesem Tagebuch darin, dass der Einschreiber Scultetus in seine eigenen Kalender hineingeschrieben hat und man anhand der Notizen nachvollziehen kann, wie er in den ersten Jahren um die günstigste Gestaltung seines Schreibkalenders gerungen hat. Als Zugabe findet der Historiker dann den bisher ältesten erhaltenen und schriftlich fixierten Vertrag zwischen einem Kalendermacher und dessen Drucker, hier Ambrosius Fritsch (1523–1593): »Hab ich auffs newe mit dem Tÿpographo wegen der Calender auff 3. Jahr jme zuschreiben vnd machen auff allerleÿ gattung klein vnd groß mich verglichen auff solchen weg, das er mir darvor geben sol allzeit auff negst vorab Martini Neun Taler vnd vber solche zahlung sol er mir vor dreÿ Taler an Büchern zukommen lassen in einer jeden Jahres frist, damit die ganze summa 12. Taler außtrage, vnd er mir vber solches von den Quart Calendern jeder gatung sol 40 vnd der andern 30 jeder gatung Exemplar zukom-
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Heßelmann (Hg.): Grimmelshausen als Kalenderschriftsteller und die zeitgenössische Kalenderliteratur. Bern: Lang 2011 (= Beihefte zu Simpliciana, 5), S. 33–74. Lene Freifrau von dem Bussche-Hünnefeld und Stephanie Haberer (Hg.): »wobei mich der liebe Gott wunderlich beschutzet«. Die Schreibkalender des Clamor Eberhard von dem Bussche zu Hünnefeld (1611–1666). Edition und Kommentar. Bramsche: Rasch 2017.
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men lassen, Sol jm auch freÿ zugelassen sein solche Calender so er drucken wird in den dreÿ Jahren, wem er wil selbst zu dediciren. Mein erwilligung wird bekrefftiget mit dieser meiner Hand, vnd sein will oder meinung mit vnterschriebener Handt. Act. H. 10.« Darunter in größerer Schrift und von anderer Hand: »Ambrosius Fritsch meine Handschrifft«.7 Abb. 3: Ausschnitt der Schreibseite vom Juli 1584 des Schreibkalenders von Bartholomaeus Scultetus mit dem Vertrag zwischen diesem und dem Drucker Ambrosius Fritsch über das Erstellen von Kalendern.
Von ebensolchem wissenschaftlichen Wert ist der zweite, auch in Breslau wiedergefundene Band. Hierbei handelt es sich um die handschriftlichen Vorlagen des Kalendermachers Scultetus für den Druck seiner Schreibkalender für die Jahre 1594 bis 1609. Ein Vergleich dieser mit Marginalien versehenen handschriftlichen Dokumente mit den überlieferten gedruckten Exemplaren jener Jahre lässt keinen Zweifel daran zu, dass es sich hierbei tatsächlich um die Manuskripte der Kalendarien und Prognostiken handelt. Für die Forschung zum Kalenderwesen ist das ein einmaliger Fund, denn er gibt einen Einblick in die Arbeitsweise eines Kalendermachers. Das für die Forschung spektakulärste Ergebnis war das Auffinden des als nicht überliefert geglaubten ersten Jahrgangs (1670) des ›Europäischen Wundergeschichten Calenders‹ in der Kalendersammlung des Stadtarchivs Altenburg und des bis dahin gänzlich unbekannten, im elsässischen Molsheim gedruckten simplicianischen ›Schreib=Kalenders‹ für 1675 in der Kalendersammlung des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster. Mit Sicherheit hatte Grimmelshausen, der bedeutendste deutsche Schriftsteller des 17. Jahrhunderts, am zweiten, mit hoher Wahrscheinlichkeit auch am ersten Jahreskalender mitgewirkt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung über diese
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Bartholomaeus Scultetus: New vnd alter Römischer Almanach vnd Schreibkalender, für 1584, Druck und Verlag Ambrosius Fritsch, Görlitz, Kalendarium, auf der Schreibseite beim 25. Juni / 4. Juli.
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Exemplare und über die Interpretationen der Texte in den anderen neu aufgefundenen Kalenderreihen und Einzelexemplaren wird sich in den nächsten Jahren fortsetzen. 3. POPULARISIERUNG GELEHRTEN WISSENS Bereits um 1560 begannen die ersten Kalendermacher, die Inhalte ihrer Kalender zu erweitern. Erst wurden historische Ereignisse eingefügt – zunächst kurze Historien, später auch längere Texte in Fortsetzungsfolgen – und dann nach und nach Erklärungen astronomischer Phänomene. Das älteste Beispiel für die Popularisierung astronoAbb. 4: Die älteste Grafik in einem Schreibkalender zur Illustration des Zustandekommens einer Mondfinsternis, enthalten im »Allmanach vnnd Schreibkalender« für 1592 eines sich als »Discipel« von Leonhardt Thurneisser (1531–1596) ausgebenden Kalendermachers.
mischen Wissens ist die Aufklärung der Menschen über das natürliche Zustandekommen einer Finsternis in einem Kalender für 1592. Im zweiten Teil des ›Allmanach vnnd Schreibkalenders‹, dem »Prognostikum«, beschrieb der namentlich sich nicht zu erkennengebende Kalenderautor, dass »der Mon vorfinstert werde von dem schatten der
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erde/ auff solche weiß [...]«;8 er gab eine ganzseitige populäre Erklärung, die mit einer Abbildung – der frühesten dieser Art in einem Kalender – veranschaulicht wurde (Abb. 4). Dass in den Folgejahren bis ins 18. Jahrhundert hinein immer wieder astronomische Phänomene mit einfachen Worten beschrieben und erklärt wurden, kann für ein genuin mit der Astronomie verbundenes Druckmedium erwartet werden. Aber im Laufe des 17. Jahrhunderts wurden zudem neue Wissenselemente aus der Medizin, aus historischen Chroniken und aus kosmographischen Werken eingebaut, wodurch die Kalenderkäufer indirekt Zugang zu neuem Wissen über die Geschehnisse und Entdeckungen in der Welt erhielten, die ihnen sonst in der Regel verborgen geblieben wären. Denn einen Schreibkalender für einen oder zwei Groschen konnte sich jeder Hausvater leisten, ein teures Buch von mehreren Reichstalern oder Gulden hingegen nicht. 4. DIE WISSENSCHAFTLICHE PROFESSIONALISIERUNG DES KALENDERWESENS In den vergangenen Jahren wurde der Anteil der Schreibkalender an dem Prozess herausgearbeitet, der im 17. Jahrhundert infolge der neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse das Bild von der Welt grundlegend verändert hatte. Es konnte z. B. verdeutlicht werden, dass durch das allmähliche Erheben eines wissenschaftlichen Anspruchs bei bestimmten Inhaltssegmenten – z. B. mit Bezügen zur zeitgenössischen astronomischen Forschung – eine Verschiebung der Gattungsbedeutung der Kalender hin zu einer neuen Form von Zuverlässigkeit, ja sogar zu einem von Astronomen und den »Liebhabern der Astronomie« ernstgenommenen Podium für gelehrte Kommunikation erfolgte. Der Schreibkalender erscheint hier als Ersatz eines noch fehlenden astronomischen Fachjournals, das erst 1774 mit dem ›Astronomischen Jahrbuch‹, begründet von Johann Elert Bode (1747–1826) und Johann Heinrich Lambert (1728–1777) in Berlin, auf dem Sektor der wissenschaftlichen Journale erschien. So gleichen Teile dieser Kalender den Beiträgen in damaligen wissenschaftlichen Zeitschriften. Diese reichen von den schon im 16. Jahrhundert z. B. von Victorinus Schönfeldt (1533–1591) vorgenommenen Vergleichen der Genauigkeit der Rechnungen nach verschiedenen astronomischen Tafelwerken und den Ende 1609 / Anfang 1610 zeitgleich mit Galileo Galilei (1564–1642) erfolgten ersten teleskopischen Beobachtungen der Jupitersatelliten durch Simon Marius (1573–1625) über astronomische Rechnungen zu Planetenbedeckungen und Beobachtungsprotokolle zu veränderlichen Sternen und zu einem Merkurtransit bis zu den Angaben der Sichtbarkeit der Jupitersatelliten und der Erstveröffentlichung neuer Mondtafeln durch Leonhard Euler (1707–1783) sowie der Beschreibung neuartiger astronomischer Instrumente. Beispiele für solche wissenschaftlich-astronomischen Kalender aus dem 18. Jahrhundert gibt es mehrere. Der 1700 erstmals erschienene und von Anfang an von Leip-
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Leonhardt Thurneissers zum Thurn Discipel: Allmanach vnnd Schreibkalender, für 1592, Druck im fingierten Ort »Notopyrgen«, zweiter Teil, S. A4a. Bei dieser Kalenderausgabe wurde der Name des bekannten Kalendermachers Leonhardt Thurneisser werbewirksam, aber von Thurneisser nicht autorisiert, verwendet.
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ziger Professoren – der erste war der Mathematikprofessor Ulrich Junius (1670–1726) – verfasste und mit aufklärerischen Inhalten versehene ›Verbesserte Calender‹9 avancierte im Kurfürstentum Sachsen zum ›Staats=Calender‹ (so die Bezeichnung im Kalenderinneren) durch das gesamte 18. Jahrhundert hindurch; das letzte bekannte Exemplar wurde für 1845 ermittelt.10 Dieser große Schreibkalender sowie der von der Brandenburgischen (Preußischen) Societät der Wissenschaften in Berlin für die preußischen Gebiete privilegierte ›Astronomische Calender‹ erreichten in den astronomischen Teilen das Niveau von wissenschaftlichen Jahrbüchern. Dasselbe gilt aber auch für einige Kalenderreihen mit herkömmlichem Titel, z. B. für den seit 1677 erschienenen Kalender eines »Georgius Fabricius« (Pseudonym) mit dem Titel ›Wahrhafftiger Himmels=Bothe/ Oder Astronomischer Wahr=Sager‹. Sie alle enthielten als Schreibkalender eine Schreibspalte, die von vielen Menschen mit Eintragungen gefüllt wurde. Ein eindrucksvolles Beispiel für gelehrte Kommunikation in einem Schreibkalender aus der Zeit vor 1700 liefert der ›Christen= Jüden= und Türcken=Kalender‹ für 1692 von Gottfried Kirch. Darin sind Auszüge aus vier dem Kalenderautor zugeschickten Briefen mit Beschreibungen der Merkurpassage durch die Sonnenscheibe vom 10. November 1690 abgedruckt. Ursprünglich waren diese Mitteilungen für die Leipziger Gelehrtenzeitschrift ›Acta Eruditorum‹ vorgesehen, konnten dort aber aufgrund von Hindernissen erst 1696 in einem Supplementband erscheinen. Die zeitigere Veröffentlichung in einem Schreibkalender begründete Kirch mit folgenden Worten: »Es haben auch die Herren Observatores sich so gütig erzeiget/ und mir ihre Observationes zugeschicket. Wofür ich billig schuldigen Danck sage. Nun hoffete ich wol/ es würden solche merckwürdige Observationes denen Actis Eruditorum, welche Monatlich in Leipzig heraus kommen/ einverleibet werden: wie es denn auch noch künfftig geschehen soll/ und doch gleichwol unterdessen viel Fragens deßwegen ist: Als will ich hoffen/ die Herren Observatores werden mir vergönnen/ solche Observationes diesem meinem Kalender beyzufügen/ und der Welt bekandt zu machen.«11 Kirch fügte zu diesen Merkurbeobachtungen anderer Astronomen noch eigene Beobachtungen der Jupitersatelliten hinzu und versah den Text mit Zeichnungen, ganz so wie in einem gelehrten Journal (Abb. 5). Mit der Veröffentlichung von astronomischen Beobachtungsergebnissen und deren Diskussion in den Kalendern gelangten durch Naturbeobachtung gewonnene verlässliche Daten in die Lebenswirklichkeit. Diese bessere Zuverlässigkeit in den Kalenderinhalten ging auch über die astronomische Seite hinaus, z. B. dann, wenn im Kontext politischer Informationen Meldungen aus dem gerade erst aufblühenden Medium der
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Das Adjektiv »verbessert« bezieht sich auf den von den evangelischen Reichsständen im September 1699 beschlossenen »Verbesserten Kalender«, mit dem die Kalenderspaltung zwischen dem Julianischen und dem Gregorianischen Kalender überwunden werden sollte. Die Reihe ist komplett überliefert im Stadtarchiv Altenburg und im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden. Zu den Exemplaren bis 1750 siehe Klaus-Dieter Herbst: Kommentiertes Verzeichnis der Schreibkalender für 1701 bis 1750 im Stadtarchiv Altenburg. Jena: Verlag HKD 2011 (= Acta Calendariographica – Forschungsberichte, Bd. 3), S. 39–44. Gottfried Kirch: Christen= Jüden= und Türcken=Kalender, für 1692, Druck und Verlag Johann Andreas Endters Söhne, Nürnberg, zweiter Teil, S. G1a.
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Zeitung oder Berichte aus der Flugpublizistik mit einbezogen wurden. Hierfür überzeugende Beispiele sind die drei von Gottfried Gütner (1639–1691) 1688 begründeten und in Altenburg parallel herausgegebenen Kalenderreihen ›Ankommender Passagier oder Kern=Kalender‹ (mit Nachrichten aus Frankreich, Italien, Spanien und der »Neuen Welt«), ›Nordischer Herold oder Berichts=Kalender‹ (mit Nachrichten aus Deutschland, Schweden, Dänemark und Holland) sowie ›Orientalischer Post=Reuter. Oder [...] Zeitungs=Kalender‹ (mit Nachrichten aus Polen, Ungarn, Russland, der Türkei, Persien und China). Abb. 5: Doppelseite aus Gottfried Kirchs ›Christen-, Juden- und Türken-Kalender‹ für 1692 mit astronomischen Beobachtungen und diese veranschaulichenden Grafiken.
Mit der durch Naturbeobachtung und politische Berichterstattung erreichten Erhöhung der Zuverlässigkeit bei den Kalenderinhalten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ist ein als wissenschaftliche Professionalisierung bezeichneter Prozess auszumachen, der unmittelbaren Bezug zu den Gesichtspunkten der Frühaufklärung und der im 18. Jahrhundert sich manifestierenden Volksaufklärung aufweist. 5. FRÜHAUFKLÄRUNG UND VOLKSAUFKLÄRUNG IN DEN SCHREIBKALENDERN Im Zuge der jüngeren Forschung wurde eine erweiterte Kenntnis über die ersten volksaufklärerischen Aktivitäten in den großen Schreibkalendern gewonnen. Erste praktische Reformversuche gab es nicht nur mit dem ›Finsternissen-Calender‹ für 1676 und 1677 von Johann Christoph Sturm (1635–1703) und dem ›Von allem Aberglauben gereinigten Calender‹ seit 1701 von Georg Albrecht Hamberger (1662–1716) und dann erst wieder in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, sondern sie reichten weit um-
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fangreicher in das 17. Jahrhundert hinein und sind auch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchgängig erkennbar. Ein sehr frühes Beispiel für aufklärungsorientierte Texte in den Schreibkalendern bietet Johannes Magirus (1615–1697). Er erkannte den Zusammenhang zwischen der von ihm beobachteten Angst vieler Menschen vor Naturvorgängen und deren Unwissenheit über die Ursachen dieser Naturvorgänge. Sein Bestreben war dann, gegen diese Angst etwas zu unternehmen. Im »Anhang. Von den Finsternissen« seines Schreibkalenders für 1656 merkte er deshalb über die große Sonnenfinsternis vom 2./12. August 1654 rückblickend an: »weil man aber gesehen/ daß wegen der grossen Sonnenfinsterniß/ so An. 1654. sich zugetragen/ viel Leute hefftig bestürtzet seynd gewesen/ vnd sich sehr darfür gefürchtet/ auch viel seltzame Einbildungen darvon gehabt haben/ welches dann dahero entstanden/ daß sie den Himmelslauff nicht verstehen/ vnd die Ursachen der Finsternissen nicht wissen/ also habe ich [...] dahin entschlossen/ nicht allein die Wissenschafft deß Himmels Lauffs in Lateinischer/ wie bißhero geschehen/ sondern auch in der Muttersprache jederman/ der es begehren wird/ deutlich vnd getrewlich hinfüro zu erklären«.12 Hier ist bedeutsam, dass Magirus die Notwendigkeit von Publikationen in der Muttersprache für die Überwindung der auf Unkenntnis basierenden Furcht vor Vorgängen in der Natur hervorhob. Indem er das für seine wissenschaftlichen »Collegia« in Berlin – außerhalb einer Universität – und in seinen Kalendern umsetzte, trug er zudem als einer der ersten dazu bei, die deutsche Wissenschaftssprache durchzusetzen. Die große Sonnenfinsternis vom 2./12. August 1654 war Auslöser schlimmster Prophezeiungen bis hin zur Annahme, es stehe der Weltuntergang unmittelbar bevor. In der Folge entzündete sich daran eine Debatte, die in Flugschriften und Schreibkalendern über mehrere Jahre hinweg (von 1652 bis 1656) geführt wurde und die Frage nach der Zulässigkeit von Mutmaßungen aus einer Finsternis im speziellen und aus astrologischen Regeln vom Grundsatz her zum Gegenstand hatte. Im Zuge dieser ersten öffentlichen Debatte – in Kalendern! – fanden schließlich immer mehr aufklärende Inhalte Eingang in die Schreibkalender. Davon betroffen war auch das vielen Kalendermachern verleidete Kapitel mit den Mutmaßungen zu Krieg und Frieden. Gottfried Kirch ließ es teilweise weg oder äußerte sich 1671 so: »Wer gerne wissen wil ob Krieg zubefürchten/ oder Friede zuhoffen/ der mag sehen ob er der hohen Häupter Gedancken könne erfahren/ oder so ihm dieses nicht müglich/ mag er sich erkundigen was in der Welt hin und wider geschicht/ und vernünfftig erwegen/ was auf eine und andere Begebenheit erfolgen möchte. Aus dem Gestirn kans kein Kalendermacher ersehen/ er mag sich auch so klugschätzen als er will.«13
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Johannes Magirus: Schreibkalender, für 1656, Druck und Verlag Wolfgang Endter d. Ä., Nürnberg, zweiter Teil, S. D4a. Gottfried Kirch: Alt und Neu Jahr=Buch, für 1671, Druck Marcus Hasse, Verlag Johann Schumann, Zeitz, zweiter Teil, S. C1a.
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Dem ersten Schritt, »sich [zu] erkundigen«, d. h. auch in Zeitungen zu lesen – so die Aufforderung in einem anderen Kalender –, schließt sich der zweite an, die politische Entwicklung selbst »vernünfftig [zu] erwegen«. Dem daran erkennbaren Erwachen einer räsonierenden Öffentlichkeit trug die nur drei Jahre später durch den Nürnberger Verleger Wolf Eberhard Felsecker (1626–1680) publizierte erste politische Zeitschrift ›Götter-Both Mercurius‹ Rechnung. Aus den Kalendern der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts lassen sich zahlreiche Indizien herausfiltern, die von einem neuen Geist – dem des Zweifelns, Hinterfragens, Kritisierens, Beobachtens, Vorrechnens, Erklärens, Vorschlagens, Räsonierens, Gedankenmachens – künden, der so in den Schreibkalendern bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts nicht anzutreffen war. Bereits in einigen Exemplaren der 1660er Jahre trifft man auf Zweifel an einer autoritären Meinung, welche dann nach dem Maßstab der Vernunft widerlegt wird, auf die Aufforderung an den Leser zur Prüfung (Examinierung) der neuen Meinung, auf die Erklärung der Bereitschaft, sich bei entsprechenden vernunftgemäßen Gegenargumenten eines Besseren belehren zu lassen und schließlich auch auf einen Verweis auf das Recht eines jeden zur freien Meinungsäußerung. War das bereits ein unter Gelehrten verbreiteter Zeitgeist, so war es doch für die Masse der Leser der Schreibkalender etwas Ungewohntes. In diesem Sinne trugen ausgewählte Autoren mit ihren Schreibkalendern zur Ausprägung der Frühaufklärung bei. Die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten eines Kalenderautors werden besonders in den seit 1658 auf dem Kalendermarkt erschienenen »Gesprächskalendern« deutlich. Christoph Richter (1618–1680), seit 1648 Diakon in Kohren und dann seit 1661 Pfarrer in Gnandstein bei Altenburg, nutzte als erster die seit der Antike bekannte und in zahlreichen anderen Drucken seit dem 16. Jahrhundert angewandte Form des (Lehr-)Gesprächs in einem Kalender. Peter Crüger (1580–1639), Professor am Akademischen Gymnasium in Danzig, führte zwar schon in seinem Kalender für 1615 die Frage-Antwort-Methode zur populären Vermittlung astronomischen Grundwissens ein, aber erst Richter entwickelte daraus das Kalendergespräch mit handelnden Personen. Schon der Titel seines ›Gesprächs=Kalenders‹, in »welchem zu Belustigung des Lesers Zweene Sternseher/ Ein Bürger/ Ein Bauer/ Ein Soldat/ Ein Artzt/ Ein Gespräch miteinander halten« (Abb. 6), weist auf eine Neuheit im Kalenderwesen hin. Das eigentliche Gespräch folgt erst im zweiten Teil, dem »Dialogus Astrologicus, Astrologisches Gespräch Von dem Zustande des [...] Jahres«. Die Ankündigung eines astrologischen Gesprächs lässt zunächst nicht erwarten, dass es auch um andere Sachen als um die traditionellen astrologischen Inhalte eines Prognostikums gehen könnte. Natürlich wurde dieser Erwartung des Lesers auch Rechnung getragen, jedoch in einer Form, die dem einen Sternseher – dieser verkörpert einen modernen Astronomen – und den anderen Figuren erlaubt, dem zu widersprechen. Dadurch, dass Richter die unsäglichen und der Vernunft widersprechenden Mutmaßungen nicht einfach wegließ, konnte er sicher sein, dass seine Kalender gekauft wurden. Indem er dann aber die Thematik durch Vorbringen gegensätzlicher Meinungen problematisierte, wozu die Form des Gespräches besonders geeignet ist, nahm er den Leser in die Pflicht, selbst mitzudenken und sich ein eigenes Urteil zu bilden. Nach dieser Methode verfuhr Richter auch bei zahlreichen anderen Themen aus Naturwissenschaft, Politik und Religion, denen er sich in seinen Kalendern zuwandte. Andere Kalender-
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autoren folgten diesem Beispiel und ersannen ebenfalls Gesprächsszenen in ihren Kalendern; allerdings nicht alle mit aufklärerischem Akzent. Unter Beibehaltung der äußeren Hülle eines Schreibkalenders schufen einzelne Kalendermacher durch bewusstes Weglassen des Alten Raum zum Umsetzen dieser neuen Maximen, sie schufen durch die Anwendung der bekannten Form des (Lehr-) Gesprächs den »Gesprächskalender«, sie nutzten mit der aufkommenden Zeitung ein neues Medium, sie integrierten mit den Berichten über Naturbeobachtungen neues Material, sie vermittelten durch ihre rationale Erklärung von vermeintlichen Naturwundern eine neue Sicht und sie gebrauchten den Schreibkalender als Podium für Abb. 6: Titelblatt des ›Gesprächs=Kalenders‹ für 1658 von Christoph Richter, Druck und Verlag Johann Bauer, Leipzig.
gelehrte Kommunikation als Ersatz eines fehlenden deutschsprachigen Journals. Diese Elemente fanden seit der Zeit um 1660 verstärkten Eingang in die Schreibkalender ausgewählter Kalendermacher wie Kirch, Hamberger, Junius, Richter und Sturm, aber auch Andreas Concius (1628–1682) in Königsberg, Jacob Honold d. Ä. (ca. 1633–1691) in Ulm, Christian Grüneberg (1639–1701) in Frankfurt an der Oder und Johann Moritz Poltz (1638–1708) in Rostock. Das Frontispiz von Sturms ›Finsternissen=Calender‹ für 1676 (Abb. 7) veranschaulicht geradezu paradigmatisch den Anspruch, der Aufklärung der Menschen über den
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Aberglauben verpflichtet zu sein, denn die Figuren der »Vernunft« und der »Gottesfurcht« ziehen die Larve der Unwissenheit weg, damit das Licht der Erkenntnis die Welt durchströmen kann: »Die Larv muß abgenommen sein, So glänzt der Waarheit voller Schein.« Hamberger, der als Mathematikprofessor an der Universität Jena in die »Fußstapfen« des Frühaufklärers Erhard Weigel (1625–1699) trat, hob sich noch von den Abb. 7: Frontispiz des »Finsternissen=Calenders« für 1676 von Johann Christoph Sturm, Druck und Verlag Christoph Gerhard, Nürnberg.
Genannten ab, indem er in seinem »von allem Aberglauben gereinigten Calender« für 1704 anstelle der Wetterprognostik ein meteorologisches Protokoll mit Barometerständen und anderen Angaben für jeden Tag des Jahres 1702 abdrucken ließ. Er tat dieses, »damit iedweder/ so der Sachen kundig/ selbige mit den Aspecten gedachten Jahrs/ und denen Reguln der Astrologorum, nach Belieben conferiren/ oder nur gegen die Witterung/ wie sie nach solchen Reguln in die Calender gesetzt worden/ halten/ und so dann ein unpartheiisches Urtheil fällen/ könne/ wie weit mehrerwehnten Reguln zu trauen.«14 Das ist frühe Aufklärung – in einem Schreibkalender!
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Georg Albrecht Hamberger: Verbesserter und von allem Aberglauben gereinigten Calender, für 1704, Druck und Verlag Johann Bielcke und Johann David Werther, Jena, Kalendarium, S. A4a.
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Im 18. Jahrhundert lassen sich mehrere Phasen erkennen, in denen die Kalendermacher, die damals nicht mehr in jedem Fall mit ihren tatsächlichen Namen in der Titelei erschienen, Versuche unternahmen, die Kalendertexte von astrologischen Mutmaßungen zu bereinigen und mit medizinischen und landwirtschaftlichen Inhalten im Sinne der ökonomischen Reformbewegung, der Volksaufklärung zu versehen. Solche Phasen waren das erste Jahrzehnt des Jahrhunderts, die Jahre um 1740/1750 und dann ab etwa 1770. Herausragende Beispiele für solche »Reformkalender« (Begriff nach Reinhart Siegert) sind der anonym herausgegebene, aber in den ersten Jahren ab 1700 von Ulrich Junius verfasste ›Verbesserte Calender‹ (gedruckt in Leipzig), ›Der Curieuse Bauer‹ für 1739 (gedruckt in Nürnberg), vermutlich von Michael Adelbuhlner (1702– 1779) verfasst, ein ›Historisch- und Geographischer Calender‹ für 1779 (gedruckt in Berlin), herausgegeben von der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, und ›Des Jüngern Wilhelm Denkers Haus-Calender‹ für 1792 bis 1794 (gedruckt in Nürnberg), verfasst von Johann Ferdinand Schlez (1759–1839). 6. KORREKTUR EINER LITERATURWISSENSCHAFTLICHEN THESE Besteht in Publikationen, in denen über Kalender nur beiläufig berichtet wird, das Bedürfnis, einen weiterführenden Literaturhinweis zu geben, dann wird häufig der Beitrag »Kalender« von Jan Knopf aus dem Jahr 1999 oder noch ältere Literatur genannt.15 Die darin getroffenen Aussagen sind jedoch mehrfach fragwürdig, ungenau, undifferenziert, ja sogar falsch, und das aus astronomischen, druckhistorischen, quellenkritischen und forschungsmethodischen Gründen. Die hauptsächlichen Ursachen dafür sind eine ungenügende Kenntnis der astronomischen Grundlagen eines Kalenders und eine zu geringe Anzahl an wahrgenommenen Kalenderexemplaren aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Vermutlich der letzte Punkt führte auch zu einer von Susanne Greilich und York-Gothart Mix vertretenen These über die Existenz eines neuen Kalendertyps,16 der hier nochmals widersprochen wird. Aus der Analyse von mehreren Tausend Schreibkalendern für die Zeit von der Mitte des 16. bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts folgt die Einschätzung, dass die in der jüngeren literaturwissenschaftlichen Forschung dem vermeintlich eigenständigen Kalendertyp eines »Hinkenden Boten« zugeschriebenen drei Merkmale (Genresignale: ein breites Spektrum an Textsorten, ein narrativ berichtender dritter Kalenderteil und eine Erzählerfigur) auch in zahlreichen anderen Kalenderreihen des Alten Reiches und darüber hinaus (z. B. in Danzig, Königsberg) gefunden wurden, die keinen Bezug zur
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Jan Knopf: Kalender. In: Ernst Fischer / Wilhelm Haefs / York-Gothart Mix (Hg.): Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700–1800. München: Beck 1999, S. 121–136. Vgl. Susanne Greilich: Der Hinkende Bote / Messager boiteux: Strukturen, Spezifika und Entwicklungen eines populären Almanachtyps. In: Susanne Greilich / York-Gothart Mix (Hg.): Populäre Kalender im vorindustriellen Europa: der »Hinkende Bote«. Kulturwissenschaftliche Analysen und bibliographisches Repertorium. Ein Handbuch. Berlin: de Gruyter 2006, S. 9–42.
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Figur des hinkenden Boten erkennen lassen.17 Diese Schreibkalender lieferten schon ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts – oft eingeleitet in der Ich-Form des Kalendermachers, des Erzählers – neben den politischen Meldungen und vielfältigen Historien auch wissenschaftliche Beiträge, Reiseberichte, Beschreibungen exotischer Tiere und Pflanzen, Erzählungen, moralisch-belehrende Texte, Übersetzungen aus dem Französischen und Spanischen, Lyrik, unterhaltsame Gespräche, Darstellungen militärischer Auseinandersetzungen, Berichte von Naturkatastrophen, politische Wertungen, Abhandlungen zur älteren Geschichte, geographische und historische Beschreibungen von Städten und Ländern, Informationen über außereuropäische Völker usw., häufig mit detaillierten Quellenangaben und je nach Kalenderreihe auch mit Illustrationen. Für den »Hinkenden Boten« wird diese thematische und gestalterische Vielfalt erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts konstatiert. Aufgrund dieser Beobachtungen ist es nicht angebracht, bei den Kalendern, die mit dem hinkenden Boten als Figur im östlichen Frankreich, im südwestlichen oberrheinischen Deutschland und in der nördlichen Schweiz erschienen waren, von einem Kalendertyp »Hinkender Bote« mit unverwechselbaren Merkmalen zu sprechen. Es handelt sich auch hier um Kalender des Typs »Schreibkalender«, die aber am südwestlichen Rand des Alten Reiches ein besonderes Markenzeichen – den hinkenden Boten – besaßen, ähnlich den »Krakauer Kalendern«, die am südöstlichen Rand Deutschlands und in Ungarn weite Verbreitung fanden und sich durch das Markenzeichen einer Ortsnennung – Krakau – im Titel auszeichneten, oder den kontinuierten Kalendern des Johannis Neubarthi in Schlesien, Ungarn und Siebenbürgen mit dem jahrhundertelang mitgeführten Namen eines ursprünglichen Kalendermachers als Markenzeichen. 7. KORREKTUR EINER MEDIENHISTORISCHEN THESE 1969 formulierte Klaus Matthäus in seiner vielbeachteten, Maßstäbe setzenden Dissertation über das Nürnberger Kalenderwesen die medienhistorische Einschätzung, nach der seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts die »Quartkalender [...] auf das Niveau von Land- und Volkskalendern herab[sanken], die für die einfachsten Volksschichten
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Dazu ausführlich in Klaus-Dieter Herbst: Kommentiertes Verzeichnis der Schreibkalender für 1701 bis 1750 im Stadtarchiv Altenburg. Jena: Verlag HKD 2011 (= Acta Calendariographica – Forschungsberichte, Bd. 3), S. 132–139. Vgl. Herbst (2007) S. 215f. (wie Anm. 3); Klaus-Dieter Herbst: Das Pressemedium Zeitung in den großen Schreibkalendern. In: Volker Bauer / Holger Böning (Hg.): Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert. Ein neues Medium und seine Folgen für das Kommunikationssystem der Frühen Neuzeit. Bremen: edition lumière 2011 (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Bd. 54), S. 87–114, bes. S. 106–108; Norbert D. Wernicke: »... kurz, was sich in den Kalender schikt«. Literarische Texte in Schweizer Volkskalendern von 1508 bis 1848. Eine Bestandsaufnahme. Bremen: edition lumière 2011 (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Bd. 60), S. 73. Klaus Matthäus: Randständige Kalender: Der ›Krakauer Kalender‹ – Der Versuch des ›Gran Pescatore di Chiaravalle‹ – Der ›Hinkende Bote‹. In: Klaus-Dieter Herbst / Werner Greiling (Hg.): Die Schreibkalender und ihre Autoren in Mittel-, Ost- und Ostmitteleuropa (1540–1850). Bremen: edition lumière 2018 (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Bd. 124), S.371–404.
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bestimmt waren«.18 Seitdem wird diese auf Nürnberg gemünzte Sichtweise in der germanistischen Literatur ohne Bedenken auf das gesamte Kalenderwesen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation übertragen.19 Angesichts der heutigen neuen Quellenlage ist diese These aus zwei Gründen nicht aufrechtzuerhalten. Mit Blick auf das 18. Jahrhundert wurde vom Verfasser eine ebensolche intellektuelle Vielschichtigkeit in der Gestaltung der großen Schreibkalender festgestellt, wie sie aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bekannt ist. Sowohl die Titelblätter als auch die Inhalte weisen auf die Notwendigkeit hin, in der Forschung die Kalender differenziert zu betrachten. Neben der Darbietung der kalendarischen Grundelemente aus den Gebieten der Astronomie (z. B. Finsternisse) und der Astrologie (z. B. Erwählungen) findet man Beispiele für amüsante Unterhaltung, moralische Unterweisung, religiöse Erbauung, historische Bildung, politische Information, volksaufklärerische Belehrung, naturwissenschaftliche Erklärung und astronomische Forschung. Neben gelegentlichem politischem Räsonnement sind im Kontext der Astrologie- und Aberglaubenskritik auch aufklärerische Momente in den Kalendern des 18. Jahrhunderts spürbar. Zum anderen gab es solche »Land- und Volkskalender«, die sich – nach Klaus Matthäus – ohne sonderliche Einfälle bei der inhaltlichen Gestaltung lediglich an »das Publikum von Bauern und einfachem Volk« wendeten,20 bereits im gesamten 17. Jahrhundert. Beispiele einfacher Kalender sind die von Paul Hintzsch (1582–1633) mit Kalendern ab 1619 und von Johannes Crusius (ca. 1607–1659?) ab 1641. Aus der Zeit um 1670, als jedes Jahr neue Kalendertitel mit immer neuen Ideen auf dem Markt erschienen, sind es die von Johann Melchior Bauer (?–?), Jeremias Graf (Pseudonym), Jesaias Gräuf (Pseudonym) und Jacob Barthelmaeus (ca. 1641–1676), viele andere könnten noch genannt werden. Es mussten die Schreibkalender im 18. Jahrhundert also nicht erst auf das Niveau der einfachen Kalender ohne verkaufsfördernde Zugaben sinken, es waren schon im 17. Jahrhundert derartige Kalender vorhanden. Blickt man über den Nürnberger Horizont hinaus – was durch die Altenburger Kalendersammlung an einem einzigen Überlieferungsort in herausragender Weise möglich ist – dann muss das Fazit heute lauten: Die inhaltliche und intellektuelle Differenzierung der verschiedenen Kalenderreihen war kein Privileg des 17. Jahrhunderts, sie setzte sich im 18. Jahrhundert fort. Gleichwohl nahm die Breite an gelehrtem Text in Quantität und Themenreichtum ab, denn dafür hatten sich die gelehrten Journale etabliert. Neben dem Schreibkalender ohne größere intellektuelle Ansprüche gab es aber auch im gesamten 18. Jahrhundert weiterhin den anspruchsvollen großen Schreibkalender. Bedenkt man das Vorhandensein von gelehrten Autoren unter den Kalendermachern, die sich auch im 18. Jahrhundert mit Namen auf den Titelblättern zu erkennen gaben oder durch Archivstudien heute ermittelt werden können, sowie die Exis18
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Klaus Matthäus: Zur Geschichte des Nürnberger Kalenderwesens. Die Entwicklung der in Nürnberg gedruckten Jahreskalender in Buchform. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens, Bd. 9, 1969, Sp. 967–1396, hier Sp. 1287. Siehe z. B. Helga Meise: Das archivierte Ich. Schreibkalender und höfische Repräsentation in Hessen-Darmstadt 1624–1790. Darmstadt: Hessische Historische Kommission 2002 (= Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission – Neue Folge, Bd. 21), S. 59. Matthäus (1969), Sp. 1285 (wie Anm. 18).
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tenz von Kalenderreihen mit naturwissenschaftlichen, politischen und aufklärerischen Inhalten, dann kann von einem »Niedergang« des Schreibkalenders in der Mitte des 18. Jahrhunderts keine Rede sein. Allerdings begann sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts eine Variante des Schreibkalenders zu etablieren, bei dem die dann anonym oder unter einem offensichtlich erfundenen Namen erschienenen Kalenderreihen vor allem auf plumpe Unterhaltung der Leser setzten. Solche Kalender wurden seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend mit »Volkskalender« tituliert. Vor allem diese richteten sich an das Volk, wobei hier der »gemeine Mann« gemeint ist, also »alle Nichtadligen, Nichtkleriker und Nichtakademiker, die sich nicht durch besonderen Reichtum oder eine besondere Stellung in Staat oder Stadtregiment von der Masse der Bevölkerung abhoben. Das waren vor allem Bauern und unterbäuerliche ländliche Schichten, der durchschnittliche Handwerker mit seiner Familie, die unteren Ränge in der Militärund Verwaltungshierarchie, Dienstboten und städtische Unterschichten.«21 Andere Schreibkalenderreihen richteten sich nach wie vor an die Gebildeten, an die am Weltgeschehen interessierten Stadtbürger, z. B. Kaufleute, Ärzte, Apotheker, Handwerksmeister, Professoren, Lehrer, Anwälte und Pfarrer. Auch diese benutzten im 18. Jahrhundert einen Schreibkalender. Neben den Schreibkalendern fanden aber seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gerade bei den Gebildeten auch »die eleganten Taschen-, Hand- und Fingerkalender« großen Anklang,22 die wiederum nicht für Eintragungen geeignet waren, dafür aber völlig neue Textsorten zur Unterhaltung enthielten. Auch wenn der Schreibkalender in Quart im 18. Jahrhundert weiterhin in allen Schichten der Bevölkerung genutzt wurde, so war dessen Bedeutung als Mittel der Information, Orientierung, Unterhaltung, Bildung (vgl. oben Kap. 3) und gelehrten Kommunikation (vgl. oben Kap. 4) keineswegs mehr so groß wie im 17. Jahrhundert. Von einem Niedergang des Schreibkalenders kann man aber nicht sprechen, jedoch von einem Einbüßen seiner Dominanz als einziges Medium, das allen Menschen für ein geringes Entgelt weltlichen Lesestoff bot (so war es im 17. Jh.), denn aktuelle und vertiefende Informationen konnten die Menschen jetzt (im 18. Jh.) nicht nur aus den Zeitungen und der Flugpublizistik, sondern auch aus den sich neu etablierenden politischen und populärwissenschaftlichen Zeitschriften (die ersten waren mit dem ›GötterBoth Mercurius‹ und den ›Relationes Curiosae‹ bereits am Ende des 17. Jahrhunderts erschienen), den »Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen«, »Moralischen Wochenschriften« und »Intelligenzblättern« entnehmen. Dass zu diesen Medien der Stadtbürger eher Zugang hatte als der Landmann, ist unbestritten.
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Werner Schneiders (Hg.): Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. München: Beck 1995, Ausgabe 2001, S. 433. Alfred Stefan Weiss: Kalender und Aufklärung. In: Wolfgang Hameter / Meta NiederkornBruck / Martin Scheutz (Hg.): Ideologisierte Zeit. Kalender und Zeitvorstellungen im Abendland von der Antike bis zur Neuzeit. Innsbruck: Studien Verlag 2005 (= Querschnitte, Bd. 17), S. 163–184, hier S. 164. Vgl. York-Gothart Mix (Hg.): Almanach- und Taschenbuchkultur des 18. und 19. Jahrhunderts. Wiesbaden: Harrassowitz 1996 (= Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 69).
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8. EIN INTERNETPORTAL MIT HISTORISCHEN KALENDERN Der oben skizzierte Quellenfund in Altenburg war der Anlass für den Aufbau eines Kalenderportals im Internet,23 der von Oktober 2008 bis März 2011 vom Institut Deutsche Presseforschung der Universität Bremen gemeinsam mit der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek (ThULB) Jena und dem Stadtarchiv Altenburg ausgeführt wurde. Die damit verbundenen Ziele waren zum einen die permanente Bereitstellung im Internet der ca. 1.500 Kalender aus dem Zeitraum von 1644 bis 1710, die sich innerhalb der rund 3.700 Exemplare umfassenden Altenburger Kalendersammlung befinden. Die Digitalisierung wurde von der Bibliothek in Jena durchgeführt und verantwortet. Seit dem Aufbau des Portals wurde die Oberfläche des Webauftritts mehrfach geändert, leider nicht zum Vorteil, denn zahlreiche damals in das Kalenderportal eingespeiste Informationen sind inzwischen nicht mehr auffindbar, z. B. die Überlieferungsorte der Kalenderexemplare gemäß dem vom Verfasser erarbeiteten »Verzeichnis der Schreibkalender des 17. Jahrhunderts«, die den Bestand von Altenburg ergänzen. Und andere, jetzt infolge eines bibliotheksinternen Automatismusʼ gegebene Informationen wie die Angabe des »Erscheinungsverlaufs« einer Kalenderreihe vom 1. Januar eines Jahres bis zum 1. Januar eines anderen Jahres sind wissenschaftlicher Unfug. Die ThULB Jena liefert in diesem Fall des Kalenderportals neben der forschungsfördernden Präsentation von Quellen im Internet auch ein Beispiel dafür, wie einmal erbrachte Leistungen wieder vernichtet werden. Zudem ist das Auffinden des Portals von der Hauptseite der Universitätsbibliothek (http://www.thulb.uni-jena.de) aus für einen Nichteingeweihten inzwischen fast unmöglich geworden und das Navigieren im Portal nach wie vor sehr nutzerunfreundlich. Schließlich wurden weitere digitalisierte Kalender in das Portal aufgenommen, ohne dass ersichtlich ist, aus welchem Bestand diese stammen.24 Das zweite Ziel, das mit dem Internetportal für Kalender verbunden war, war die wissenschaftliche Erschließung dieser rund 1.500 Kalender. Das dafür durch den Verfasser ausgearbeitete Register von Schlagwörtern ist gemäß der Kalenderinhalte mit den entsprechenden Stellen in den Kalendern verlinkt, bei den Prognostiken auf der Ebene der Einzelseiten und bei den Kalendarien auf deren Ebene. Damit wird erstmals bei einer Online-Präsentation historischer Quellen eine Antwort auf die Frage »Wo (an welcher Stelle in welchem Kalender) findet ein Wissenschaftler was (welcher Inhalt und welche vom Kalendermacher benutzte Quelle)?« gegeben. Leider konnten an der Bibliothek in Jena hinsichtlich der informationstechnischen Gestaltung des Kalenderportals nicht alle Vorstellungen des wissenschaftlichen Mitarbeiters über eine nutzerfreundliche Oberfläche, über eine optimale Navigierung zwischen den einzelnen Kalenderreihen und über ein zielsicheres Auffinden der Reihen bestimmter Kalendermacher
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URL: http://zs.thulb.uni-jena.de/content/main/journalList.xml#A/jportal_class_00000 200:calendars (19.3.2018). Sie stammen größtenteils aus dem Stadtarchiv Mühlhausen und zu einem verschwindend geringen Teil aus dem Bestand der ThULB Jena.
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umgesetzt werden. So findet die Erschließung der Kalendersammlung nach der alphabetischen Reihung der Kalendermacher keinen für den Portalnutzer sichtbaren Ausdruck. Die im Register der Schlagwörter verankerten Inhalte unterstreichen noch einmal den enormen Quellenwert der großen Schreibkalender für die verschiedenen historischen Disziplinen, insbesondere für die Wissenschaftsgeschichte, Literaturgeschichte, Mediengeschichte, Religionsgeschichte, Kulturgeschichte und für die Erforschung der Frühaufklärung. Die nachfolgende Liste enthält die in der ersten Ebene des Registers vergebenen 149 Schlagwörter, die bis in eine vierte Ebene untergliedert sein können: Aberglaube, Ackerbau, Aderlass, Alchemie, Alchemist, Anthropologie, Antike Literatur, Astrologe, Astrologie, Astronom, Astronomie, Astronomische Beobachtung, Astronomische Rechnung, Astronomische Regel, Astronomische Streitfrage, Astronomische Tafeln, Astronomischer Beobachtungshinweis, Astronomisches Grundwissen, Astronomisches Instrument, Ausland, Autobiographisches, Aviso und Zeitung, Bankwesen, Bergrutsch, Bergbau und Bergwerk, Bibelstelle, Blasphemie, Brauchtum, Chiromantie, Chronik, Collegium, Dedikation, Druckerzeichen, Ephemeriden, Erdbeben, Flugblatt / Flugschrift, Friede, Gebet, Gedicht, Gelehrter Text, Genealogie, Geographie, Gezeiten, Handschrift, Heiligen-Register, Heraldik, Historien, Historien (Quelle), Historische Beschreibung, Holzschnitt, Jahreszählung, Jesuiten, Juden, Jüngstes Gericht, Jüngster Tag, Kalendermacher, Kalenderreform, Kalenderschreiberei, Kalenderwesen, Kinder, Kirchengeschichte, Kirchenirrlehrer, Kirchenlehrer, Komet, Kommunikation, Krieg, Kriegsprophezeiung, Künstler, Kupferstich, Lebensmittel, Literatur, Lobpreisung, Maler, Mathematik, Medicus, Medizin, Meinungsbildung, Messier-Objekt, Messrelation, Meteora, Meteorologie, Metoposkopie, Mondfinsternis, Moralische Unterweisung, Musik, Muttersprache, Narren-Register, Naturbeobachtung, Naturbeschreibung, Pflanzen, Philosophie, Physiognomie, Poeta Laureatus Caesareus, Politik, Privilegium, Quelle, Räsonnement, Recht, Reformationsjubiläum, Reisebericht, Religion, Sammlung und Kunstkammer, Schauplatz und Theatrum, Schöpfungsgeschichte, Schriftsteller des Barock, Selbstkritik, Sinneswahrnehmung, Societät, Sonnenfinsternis, Sprache, Stadtansicht (Titelblatt), Stadtbeschreibung, Sternbild, Sternkatalog, Sternwarte, Supernova, Tafeln, Technik, Theologe, Theologie, Tiere, Toleranzgedanke, Traum, Türken, Türkenkrieg, Übersetzung, Universitätsjubiläum, Unparteiisch, Unterhaltsames Wissen, Unwetter, Utopie, Vakuum, Veränderlicher Stern, Vernunft, Verstand, Verzeichnis, Wahrheit, Weib, Weltalter, Wissenschaftliches Instrument, Witterung, Wunder, Zahl, Zeitkritik, Zeitrechnung, Zeitschrift, Zeitung, Zensur. Als Beispiel für die Untergliederung sei das Schlagwort »Vernunft« herangezogen, das bis in eine dritte Ebene führt. Die Zahlen in der eckigen Klammer geben die Anzahl der Treffer und das erste Jahr mit einem Treffer an. (1. Ebene mit 149 Eintragungen): Vernunft (2. Ebene mit 7 Eintragungen): Vernunft (3. Ebene mit 10 Eintragungen bei »Vernunft« der 2. Ebene) Behauptung ist wider die Vernunft [1; 1677] Dem Wort Gottes nachgeordnet [1; 1669]
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Klaus-Dieter Herbst Kann irren [1; 1664] Kein Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier [1; 1668] Lichtmetapher [2; 1666] Mit den Mutmaßungen nicht vereinbar [2; 1710] Politische [1; 1656] Raison [3; 1679] Urteilsbildung [5; 1655] Verführerin zum Abfall von Gott [1; 1658] Vernunft und Erfahrung Bestätigung der Wirkung der Planetenaspekte [3; 1657] Gegen Aberglauben [6; 1647] Leitprinzip [34; 1650] Vernünftige Astrologie [1; 1709] Vernünftige Mutmaßung [14; 1649] Vernünftige Politicis [2; 1673] Vernünftiger Leser [4; 1661] Vernünftiges Urteil [4; 1660]
9. EIN ONLINE-HANDBUCH DER KALENDERMACHER Dem eklatanten Mangel des an der ThULB Jena ansässigen Kalenderportals, keine alphabetische Auflistung der im Portal mit Kalendern vorhandenen Kalendermacher anzubieten, entsprang die Idee, ein zweites Onlineportal zu den Kalendermachern aufzubauen. Resultat ist das von April 2014 bis März 2017 erarbeitete und seitdem sukzessiv ergänzte »Biobibliographische Handbuch der Kalendermacher von 1550 bis 1750«, das auf der Internetseite des Instituts Deutsche Presseforschung der Universität Bremen zu finden ist.25 Von hier aus sind die im Kalenderportal der ThULB Jena »versteckten« digitalisierten Kalender über den Namen des Verfassers mühelos auffindbar. Aber auch alle anderen bislang bekanntgewordenen, online verfügbaren Kalender wurden mit dem Artikel des jeweiligen Kalendermachers verlinkt. Mit diesem Handbuch, das 2019 auch in gedruckter Form vorliegen soll, werden die neueren Arbeiten zum Kalenderwesen, vornehmlich zu den Schreibkalendern, um eine Studie ergänzt, bei der die bisherigen Kenntnisse über diejenigen Menschen, die für den Inhalt der Schreibkalender verantwortlich zeichneten, zusammengefasst und gleichzeitig die neu aufgefundenen Quellen aufgenommen werden. Die hier erfassten Kalendermacher werden wie folgt charakterisiert: Ein Kalendermacher (gleichbedeutend Kalenderschreiber, Kalendersteller, Kalendariograph) ist eine Person, die die kalendarischen, astronomischen und astrologischen Grundlagen und Angaben eines Jahreskalenders erarbeitete und für einen handschriftlichen Kalender verwendete oder seit der Erfindung des Buchdrucks Mitte des 15. Jahrhunderts als Manuskript einem Drucker oder Verleger zur Veröffentlichung übergab, wofür er ein Honorar erhielt (z. B. im 17. Jahrhundert bis zu ca. 50 Reichstaler pro Kalenderreihe). Bei den ab Mitte des
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URL: http://www.presseforschung.uni-bremen.de/dokuwiki/doku.php?id=Startseite (19.3.2018).
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16. Jahrhunderts erschienenen Schreibkalendern in Quart übergab der Kalendermacher zusammen mit den astronomischen und astrologischen Grundlagen und Angaben auch die informativen, unterhaltsamen und belehrenden Texte, die in der Textspalte des Kalendariums oder zwischen den kalendarischen Abschnitten des zweiten Kalenderteils, des »Prognostikums«, oder in einem separaten dritten Teil enthalten sind. Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein sind Kalendermacher als konkrete Personen namentlich belegt. Neben dieser klassischen Variante des Verfassens eines Kalenders durch einen einzelnen Autor trat seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts, vor allem dann im 18. Jahrhundert die Variante einer »Kalenderredaktion« auf. Hier wurden vor allem bei den anonym oder unter einem Pseudonym herausgegebenen Kalendern die Tätigkeiten aufgeteilt: Eine Person steuerte die astronomischen und astrologischen Daten bei, eine andere die Texte, eine dritte die Post- und Marktverzeichnisse (meist der Drucker). Von einem eigentlichen Kalendermacher kann man in solchen Fällen nicht mehr sprechen. Die bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts in der Regel namentlich bekannten Kalendermacher waren bisher nur in Ansätzen biographisch erforscht worden. Aber erst durch die systematischen bio-bibliographischen Analysen zu allen namentlich bekannten Kalendermachern aus dem Zeitraum von der Mitte des 16. bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts kann die für die historische Forschung bedeutsame Frage nach den biographischen, literarischen und verlegerischen Verflechtungen dieser Gruppe von Publizisten mit anderen Gruppen, zum Beispiel den Gelehrten an Universitäten und Akademien, den Schriftstellern und Dichtern, den Herausgebern von Zeitungen und Zeitschriften, den Druckern und Verlegern sowie den politischen Entscheidungsträgern in den Räten der Städte und an den Fürstenhöfen, zufriedenstellend beantwortet werden. Wer waren diejenigen, die mit ihren Texten in den großen Schreibkalendern seit der Mitte des 17. Jahrhunderts mit dazu beitrugen, dass in jeden Haushalt ein Lesestoff gelangte, der die Menschen anhand des Gelesenen allmählich zum eigenen Urteilen über die Vorgänge in der Natur und in der Gesellschaft brachte? Woher nahmen diejenigen, die auf diese Weise die Entwicklung hin zu einer am Ende des 18. Jahrhunderts aufgeklärten Gesellschaft mit beförderten, ihre Motivation und ihr Wissen? Es sind die Fragen nach den konkreten Menschen mit ihren individuellen Kenntnissen, Motiven, Zielen, persönlichen Bekanntschaften und Aktivitäten, deren Beantwortung es erlauben wird, den inneren Zusammenhang im System der gedruckten Medien mit historischer Tiefenschärfe zu sehen. Anerkennt man, dass die großen Schreibkalender mit ihren Text- und Bildbeiträgen zum Medienverbund in der Frühen Neuzeit – wobei die Publikationen nicht auf politisch-historische Themen zu beschränken sind – dazugehören, dann hat man auch den Biographien der Kalendermacher Aufmerksamkeit zu zollen. Das »Handbuch der Kalendermacher« bietet jetzt die Möglichkeit, dem nachzukommen. Eine Einschränkung wurde aus Zeitgründen dahingehend vorgenommen, dass – von Ausnahmen abgesehen – nur diejenigen Personen mit einem Artikel im Handbuch versehen wurden, die als Verfasser von Schreibkalendern, also von Kalendern in Buchform, in Erscheinung traten. Dadurch fehlen diejenigen Kalendermacher, von denen lediglich Wand- bzw. Einblattkalender bekannt sind. Das betrifft vor allem jene aus der Zeit vor 1540. Nicht bearbeitet wurden auch jene Autoren, von denen ausschließlich
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Prognostiken (Praktiken) bekannt sind und ihre Verfasserschaft von Schreibkalendern nicht nachgewiesen werden konnte. Bis Ende 2017 wurde das Handbuch mit Artikeln zu 732 Namen (605 reale Personen plus 127 Pseudonyme) versehen.26 Durch die systematischen Recherchen zu den Biographien der Kalendermacher konnten bei zahlreichen Personen die Kenntnisse erweitert werden. Bei anderen Kalendermachern ist der Artikel im Handbuch die erste moderne biographische Erfassung der Person. In diesem Zusammenhang ist es ein bedeutsames Ergebnis, dass die Anfänge des Mediums »Schreibkalender« herausgearbeitet werden konnten. So wurde erstmals nachgewiesen, dass die Ärzte und Kalendermacher Dionysius Sibenburger (ca. 1502–nach 1553), Christoph Stathmion (ca. 1508–1585) und Georg Seyfridt (ca. 1502–ca. 1545) bereits seit 1540 bzw. 1543 und 1544 auch die ersten Schreibkalender in Quart verfassten. Ferner wurde die Verfasserschaft von über mehrere Jahrzehnte herausgekommenen Kalenderreihen unter anderem dahingehend präzisiert, dass der bisher in der Literatur und den Bibliotheksverzeichnissen genannte Name jetzt zwei Personen zugeordnet werden muss, z. B. Valentin Hancke dem Älteren (ca. 1559–ca. 1618) und Valentin Hancke dem Jüngeren (ca. 1594–1626). Für den Zeitraum bis zum Jahr 1700 wird in dem Handbuch Vollständigkeit bei den Kalendermachern angestrebt, gleichwohl wissend, dass diese in Absolutheit nie erreicht werden wird, weil in einem beliebigen Stadt- oder Staatsarchiv noch immer unbekannte Kalenderexemplare auftauchen können, wie zuletzt 2017 im Staatsarchiv Wertheim geschehen. Für die Jahrzehnte nach 1700 wurde die Vollständigkeit bei der Erfassung der Kalendermacher gar nicht erst angestrebt, weil hierzu erst noch zeitintensive Vorarbeiten geleistet werden müssen. Die zeitliche Grenze wurde bewusst gewählt, weil ab ca. 1700 die anonym erschienenen und die unter heute nur schwer aufzulösenden Pseudonymen erschienenen Kalenderreihen stark zunahmen. Auch fand durch die häufigere Vergabe landesherrlicher Privilegien nach 1700 eine stärkere regionale Ausrichtung der Kalenderproduktion statt, was die Zäsur rechtfertigt. Bis jetzt sind im Handbuch aus der Zeit von 1701 bis 1750 rund 65 Namen erfasst. Diese basieren zum überwiegenden Teil auf den Befunden in den Kalendersammlungen des Stadtarchivs Altenburg, des Museums Reichenfels-Hohenleuben, des Stadtmuseums Gera, des Stadtarchivs Plauen und in der 2013 aufgespürten Privatsammlung auf einem Bauernhof im Vogtland. 10. KALENDERMACHER UND IHRE KONFESSIONALITÄT Durch die Arbeit am »Handbuch der Kalendermacher« wurde deutlich, dass die protestantischen Pfarrer und Schulmeister bereits seit den 1550er Jahren eine der drei maßgeblichen Gruppen unter den Kalendermachern waren. Die ersten waren seit 1543 der Theologe Philipp Melhofer (ca. 1500–nach 1563), seit 1549 der Schulmeister
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Eine detaillierte Übersicht gibt Klaus-Dieter Herbst: Die Kalendermacher – Namen, Leumund, sozialer Status. In: Klaus-Dieter Herbst / Werner Greiling (Hg.): Die Schreibkalender und ihre Autoren in Mittel-, Ost- und Ostmitteleuropa (1540–1850). Bremen: edition lumière 2018, S. 19–44.
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Jeremias Brotbeihel (ca. 1523–nach 1561) und seit 1556 der Pfarrer Adam Ursinus (1524–1590). Von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts gehörten ihr zeitweise rund ein Drittel aller Kalendermacher an. Im Gegensatz zu den Gruppen der Ärzte und Mathematiker/Astronomen stellten die Pfarrer/Lehrer mit nahezu konstanter Häufigkeit bis ans Ende des 17. Jahrhunderts aktive Kalendermacher. Dieser Sachverhalt, der das bisherige Bild von vor allem Ärzten und Mathematikern bzw. Astronomen als Kalendermacher in der Frühen Neuzeit erweitert, sollte durch neue Fallstudien zu den Inhalten der Kalender jener Verfasser weiter untersucht werden. Die hier aufgerissene Problematik provoziert die Frage nach der Konfession des jeweiligen Kalendermachers. Die ersten 25 Verfasser von Schreibkalendern waren alle Protestanten. Die ersten altgläubigen (katholischen) Autoren eines Schreibkalenders waren Jacob Strauss (?–1590) aus Laibach, Doktor der Medizin und Landschaftsmathematiker der Steiermark, und Joachim Landolt (ca. 1536–1595) aus Waldsee am Rhein, Vikar, Pfarrer, Kanonikus und Dekan der theologischen Fakultät der Universität in Freiburg im Breisgau. Erst 2017 wurde Landolts Schreibkalender in Quart für 1563 bekannt. Strauss verfasste den ersten Schreibkalender für 1559, der älteste überlieferte ist einer für 1573. Für die Zeit danach konnten weitere Kalendermacher katholischen Glaubens ermittelt werden, doch blieben diese mit 24 bis zum Jahr 1700 zahlenmäßig deutlich in der Minderheit. Zu klären bleibt u. a., ob bzw. wie sich die verschiedenen Konfessionszugehörigkeiten der Kalendermacher in ihren Kalendern niederschlugen. Hier sind nicht nur die Pfarrer gemeint, von denen die Nutzung des Kalenders als »verlängerte Predigt« als naheliegend angenommen werden darf, sondern auch Kalendermacher, die in ihren Hauptberufen anderen Tätigkeiten nachgingen. Der Astronom Gottfried Kirch zum Beispiel ist in der kirchenhistorischen Forschung auch als Vertreter des radikalen Pietismus bekannt, der seine religiösen Überzeugungen auch in den Kalendern äußerte.27 Betrachtet man die Schreibkalender mit einem religionshistorischen Blick, dann wird man sie auch als einen Teil der Literatur zur Frömmigkeitspraxis wahrnehmen können. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts entwickelte sich im deutschsprachigen Schrifttum die Erbauungsliteratur. Dazu zählen »Bibelausgaben, Betrachtungsbücher, Anleitungen zum Umgang mit Sterben und Tod, Gebetbücher, sozialethische Entscheidungshilfen wie auch Liedtexte für den persönlichen und den gottesdienstlichen Gebrauch«, aber auch Postillen, das sind aus Predigten erwachsene »Sammlungen von Auslegungen der sonn- und festtäglichen gottesdienstlichen Lesungen«.28 Die Ausle-
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Zu Kirch als Pietist siehe: Klaus-Dieter Herbst: Zum 300. Todestag des Astronomen und Kalendermachers Gottfried Kirch. In: Jürgen Hamel (Hg.): Gottfried Kirch (1639–1710) und die Berliner Astronomie im 18. Jahrhundert. Beiträge des Kolloquiums am 6. März 2010 in Berlin-Treptow. Frankfurt am Main: Verlag Harri Deutsch 2010 (= Acta Historica Astronomiae, Vol. 41), S. 22–33, hier S. 32f. Ernst Koch: Lutherische Kirche in Thüringen und Sachsen 1550–1675. In: Philip Hahn / Kathrin Paasch / Luise Schorn-Schütte (Hg.): Der Politik die Leviten lesen. Politik von der Kanzel in Thüringen und Sachsen, 1550–1675. Gotha: [Forschungsbibliothek Gotha] 2011 (Veröffentlichungen der Forschungsbibliothek Gotha / Universität Erfurt, Bd. 47), S. 8–20, hier S. 13.
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gungen wurden »in Bürgerhäusern und Bauernhöfen in abendlicher Runde vorgelesen«.29 Dasselbe geschah mit den Schreibkalendern. Dass die Kalender nicht nur von Stadtbürgern, sondern auch von Bauern gelesen bzw. ihnen vorgelesen wurden, ist in der Forschung anerkannt, schließlich hatte ein Bauer bis in das 17. Jahrhundert hinein »eine Bildungssozialisation erfahren«, die ihn »auch den Umgang mit Bibel, Katechismus, Postille, Andachtsliteratur, Zeitungen, Einblattdrucken, Prognostiken und Kalendern gelehrt hatte und die ihn oft auch zum Teilhaber an informellen Lese- und ›Philosophie‹-Gemeinschaften im Dorf werden ließ«.30 Was dann neben den kalendarisch-prognostischen Inhalten gelesen werden konnte, verdeutlicht nachfolgendes Zitat aus einem Kalender für 1574 von Georg Busch (ca. 1530–1579). In der vierzehnseitigen »An den Freundtlichen Leser« gerichteten Vorrede heißt es: »Neben solchem heiligen vnd Göttlichen Wort/ die hohe Weisheit vnd Göttliche Maiestät/ alle ding/ als die Firmament vnd alles was darinnen/ die Element auch alles was darinnen/ solche seine Geschöpff/ welche Er der liebe Gott zum guten erschaffen/ so herrlich/ schön vnd kunstreich verordenet vnd gezieret/ das alle solche Geschöpff ein jedes insonderheit/ Gott den allmechtigen/ als jren Ertzbaw vnd Werckmeister/ mit jren von Gott gegebenen Krafft/ Tugent/ vnd natürlichen wirckungen/ loben/ ehren/ rühmen vnd preisen/ auch solche erschaffne ding/ denselben jren Schöpffer ausdrücklichen anzeigen vnd bekennen/ denn es ist in solchen erschaffnen dingen/ nichts so gering oder so klein/ das darinnen/ die grosse gewaltige ewige Weisheit Gottes/ nicht solte erkandt oder verstanden werden.«31 Diese theologisch motivierte Einlassung des Kalendermachers wird weiter ausgeführt mit zahlreichen Beispielen von »solch gering Kreutlein«, vom Menschen und von den Schulen.32 Busch, kein Pfarrer, sondern ein in Erfurt lebender Maler, propagierte hier das Lesen in der Natur – in dem zweiten Buch, die Bibel sei das erste – mit dem Ziel der Erkenntnis Gottes. Dieser Ansatz, die Erforschung der Natur als religiöse Praxis zu betrachten, führte im 17. Jahrhundert zur Herausbildung der Physikotheologie. Eine Analyse der Schreibkalender, die bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts zurückreichen kann, könnte helfen zu klären, ob »die Physikotheologie nicht [...] einem aus England kommenden Wissenstransfer des späten 17. Jahrhunderts entstammt, sondern zeitlich viel weiter zurückreichende kontinentaleuropäische Wurzeln hat«.33
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Ebd. Jan Peters: Bäuerliches Schreiben und schriftkulturelles Umfeld. Austauschverhältnisse im 17. Jahrhundert. In: Alfred Messerli / Roger Chartier (Hg.): Lesen und Schreiben in Europa 1500–1900. Vergleichende Perspektiven. Basel: Schwabe 2000, S. 87–106, hier S. 88. Georg Busch: SchreibCalender für 1574, Druck und Verlag Esaias Mechler, Erfurt, zweiter Teil, S. A3a. Ebd. Kaspar von Greyerz / Silvia Flubacher / Philipp Senn: Einführung. Schauplätze wissensgeschichtlicher Forschung. In: Kaspar von Greyerz / Silvia Flubacher / Philipp Senn (Hg.): Wissenschaftsgeschichte und Geschichte des Wissens im Dialog – Connecting science and knowledge. Schauplätze der Forschung – Scenes of research. Göttingen: V&R unipress 2013, S. 9–32, hier S. 16. Zum »Traditionsstrom der Physikotheologie« im 16. und 17. Jahr-
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Das Beispiel aus dem Kalender von Busch wurde gewählt, um zu zeigen, dass die sich über mehrere Seiten erstreckenden theologischen Einlassungen in einem Schreibkalender (bzw. in dessen zweitem Teil) nicht auf die Kalender von Pfarrern beschränkt waren.34 Den Problemkreis der Konfessionalität der Kalendermacher mit ihren theologischen Ausführungen als ein noch nicht ausgereiztes Forschungsfeld benennen zu können, ist ein weiteres Ergebnis der Beschäftigung mit den Schreibkalendern in den vergangenen Jahren. 11. NAMENTLICH BEKANNTE KALENDERMACHER NACH 1700 Neben den anonym und den unter zweifelsfrei erdichteten Namen publizierten Schreibkalendern gab es während des gesamten 18. Jahrhunderts und bis ins 19. Jahrhundert hinein Kalenderreihen, deren Verfasser in der Titelei mit ihren richtigen Namen angegeben wurden. Diese waren häufig Professoren an Universitäten und Gymnasien, Schreibund Rechenmeister an Schulen, Astronomen an Sternwarten oder Pfarrer in Gemeinden. Beispielgebend können hier angeführt werden:35 die Professoren Georg Albrecht Hamberger* in Jena, Ulrich Junius* und Georg Friedrich Richter in Leipzig, Michael Adelbulner* in Altdorf, Andreas Mayer in Greifswald, Jakob Philipp Kulik in Prag, Albert Bauer in München und David Blaesing* in Königsberg, die Astronomen Gottfried Kirch* und dessen Sohn Christfried Kirch* sowie Augustin Nathanael Grischow und Johann Elert Bode in Berlin, ferner Constantin Gabriel Hecker (Pseud. Ernestus Uranophilus*), Paul Pater*, Johann Adam Kulmus, Heinrich Kühn, Constantin Gottlieb Hecker, Johann Gottlieb Bartoldi und Christian Gottfried Ewerbeck in Danzig, die Pfarrer Johannes Gaupp* in Lindau am Bodensee und Johann Georg Keck* in Kulmbach, der Mathematiker und Geograph Johann Theophil Walz* in Leipzig, die Lehrer bzw. Rechenmeister Wolfgang Heinrich Adelungk* in Hamburg, Paul Halcke*, Nicolaus Rohlfs und Matthias Rohlfs in Buxtehude, Johann Halcke* in Uetersen, Hermann Wahn* und Johann Matthias Wahn* in Hamburg sowie der Theologe und Jurist Samuel Luther Geret in Thorn. Gleichwohl gab es auch Kalenderautoren wie z. B. den Pädagogen, Schriftsteller und Volksaufklärer Johann Heinrich Daniel Zschokke in Aarau, die es vorzogen, anonym zu bleiben. Aber auch in solchen Fällen anonym erschienener Quartkalender ist es manchmal möglich, den Kalendermacher aus der Anonymität herauszuholen. Ob dieser dann wie im 16. und 17. Jahrhundert tatsächlich auch für die
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hundert siehe z. B. Wolfgang Philipp: Das Werden der Aufklärung in theologiegeschichtlicher Sicht. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1957, S. 53–72. Zu anderen Beispielen aus dem 16. Jh. siehe Robin Bruce Barnes: Hope and despair in sixteenth-century German almanacs. In: Hans R. Guggisberg, Gottfried G. Krodel (Hg.): Die Reformation in Deutschland und Europa. Interpretationen und Debatten. Gütersloh: Verlagshaus Mohn 1993 (= Archiv für Reformationsgeschichte, Sonderband), S. 440–461. Barnes konstatierte, dass bei den lutherischen Kalendermachern vor allem der zweite Teil, das Prognostikum, »became a vehicle for Lutheran preaching« (S. 442). Vgl. jetzt Robin Bruce Barnes: Astrology and Reformation. Oxford: Oxford University Press 2016, bes. S. 172–214. Die nachfolgend mit einem Stern* gekennzeichneten Kalendermacher sind bereits mit einem Artikel im o.g. Handbuch versehen.
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astronomischen Kalenderangaben verantwortlich zeichnete oder nur für die weltlichen Textbeigaben, muss von Fall zu Fall entschieden werden. Auch diesen schon jetzt namentlich bekannten und den anderen, noch zu ermittelnden Kalendermachern des 18. Jahrhunderts gebührt in der Forschung Aufmerksamkeit.36 12. PUBLIKATIONEN DES VERFASSERS ZU DEN SCHREIBKALENDERN UND KALENDERMACHERN Bücher Die Korrespondenz des Astronomen und Kalendermachers Gottfried Kirch (1639–1710). In drei Bänden hg. und bearbeitet von Klaus-Dieter Herbst unter Mitwirkung von Eberhard Knobloch und Manfred Simon sowie mit einer Graphik von Ekkehard C. Engelmann versehen. Band 1: Briefe 1665–1689, Band 2: Briefe 1689–1709, Band 3: Übersetzungen, Kommentare, Verzeichnisse. Jena: Garamond 2006. Johann Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Simplicianische Jahreskalender. Europäischer Wundergeschichten Calender 1670 bis 1672 (Nürnberg), Schreib-Kalender 1675 (Molsheim). Faksimiledruck der vier Kalenderjahrgänge erstmals neu hg. und kommentiert von Klaus Matthäus und Klaus-Dieter Herbst. Erlangen und Jena: Verlag Palm & Enke 2009. Verzeichnis der Schreibkalender des 17. Jahrhunderts. Jena: Verlag HKD 2008 (= Acta Calendariographica – Forschungsberichte, Bd. 1). Die Schreibkalender im Kontext der Frühaufklärung. Jena: Verlag HKD 2010 (= Acta Calendariographica – Forschungsberichte, Bd. 2). Kommentiertes Verzeichnis der Schreibkalender für 1701 bis 1750 im Stadtarchiv Altenburg. Jena: Verlag HKD 2011 (= Acta Calendariographica – Forschungsberichte, Bd. 3). Astronomie – Literatur – Volksaufklärung. Der Schreibkalender der Frühen Neuzeit mit seinen Text- und Bildbeigaben. Hg. von Klaus-Dieter Herbst. Bremen: edition lumière (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Bd. 67); Jena: Verlag HKD 2012 (= Acta Calendariographica – Forschungsberichte, Bd. 5). Die Schreibkalender und ihre Autoren in Mittel-, Ost- und Ostmitteleuropa (1540–1850). Hg. von Klaus-Dieter Herbst und Werner Greiling. Bremen: edition lumière 2018 (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge,Bd. 124). Aufsätze Der Kalenderschatz im Stadtarchiv Altenburg. In: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, Bd. 9 2007, S. 211–239.
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Einen Aufriss weiterer offener Forschungsfragen, die das Druck- und Verlagswesen, die lateinischen Kalender sowie die Übersetzungskultur der Kalender betreffen, findet man in Klaus-Dieter Herbst: Von Ärzten und Astronomen zu Pfarrern und Lehrern. Neue Forschungen über die Kalendermacher und ihre Schreibkalender im deutschsprachigen Kulturraum. In: Klaus-Dieter Herbst / Werner Greiling (Hg.): Die Schreibkalender und ihre Autoren in Mittel-, Ost- und Ostmitteleuropa (1540–1850). Bremen: edition lumière 2018, S. 11–18. Vgl. Klaus-Dieter Herbst: Von Astronomie bis Volksaufklärung. Neue Forschungen und Perspektiven. In: Klaus-Dieter Herbst (Hg.): Astronomie – Literatur – Volksaufklärung. Der Schreibkalender der Frühen Neuzeit mit seinen Text- und Bildbeigaben. Bremen: edition lumière; Jena: Verlag HKD 2012 (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Bd. 67; Acta Calendariographica – Forschungsberichte, Bd. 5), S. 15–44.
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Das Neueste im Jahresrhythmus. Zur Professionalisierung des Kalenderwesens im 17. Jahrhundert. In: Astrid Blome / Holger Böning (Hg.): Presse und Geschichte. Leistungen und Perspektiven der historischen Presseforschung. Bremen: edition lumière 2008 (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Bd. 36), S. 97–124. Die vermutlich weltgrößte Kalendersammlung liegt im Stadtarchiv Altenburg – Warum gerade hier? In: Blätter des Vereins für Thüringische Geschichte, Ausgabe 18 2009, S. 34–37. Die Jahreskalender – Ein Medium für gelehrte Kommunikation. In: Klaus-Dieter Herbst / Stefan Kratochwil (Hg.): Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main: Lang 2009, S. 189–224. Die Kalender des Verlages Felsecker – Eine Bestandsaufnahme der Jahrgänge 1661 bis 1675. In: Johann Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Simplicianische Jahreskalender. Europäischer Wundergeschichten Calender 1670 bis 1672 (Nürnberg), Schreibkalender 1675 (Molsheim). Faksimiledruck der vier Kalenderjahrgänge erstmals neu hg. und kommentiert von Klaus Matthäus und Klaus-Dieter Herbst. Erlangen: Palm & Enke 2009, S. 279–354. Galilei’s astronomical discoveries using the telescope and their evaluation found in a writing-calendar from 1611. In: Astronomische Nachrichten, Vol. 330 2009, S. 536–539 (2009). Die Bedeutung des Mecklenburgischen Schreib-Calenders für 1685 im Kontext der Forschung zur Frühaufklärung in Deutschland. In: Mecklenburgischer Schreib-Calender für das Jahr 1685 verfaßt von Johann Moritz Poltz. Neu hg. von Klaus-Dieter Herbst mit Beiträgen von Klaus-Dieter Herbst und Jürgen Hamel. Reprint. Jena: Verlag HKD 2009 (= Acta Calendariographica – Kalenderreihen, Bd. 3.1), S. 11–26. Die Schreibkalender der Frühen Neuzeit – eine noch wenig genutzte Quelle für die Astronomiegeschichtsschreibung. In: Jürgen Hamel (Hg.): 400 Jahre Kepler, Galilei, das Fernrohr und die neue Astronomie. Vorträge auf dem Kolloquium der Leibniz-Sozietät am 28. Februar 2009. Berlin: trafo Wissenschaftsverlag 2010 (= Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 103 2009, S. 31–48. Der Kalendermacher Johann Christoph Sturm im Kontext der Forschung zur Frühaufklärung in Deutschland. In: Eitelkeiten-Calender (Eitler-Werck-Calender) für das Jahr 1669 verfaßt von Alethophilus von Uranien [Johann Christoph Sturm]. Neu hg. von Klaus-Dieter Herbst mit Beiträgen von Klaus-Dieter Herbst und Klaus Matthäus. Reprint. Jena: Verlag HKD 2010 (= Acta Calendariographica – Kalenderreihen, Bd. 2.1), S. 11–18. Die erstmalige Benutzung von Keplers Rudolphinischen Tafeln für die Herstellung eines Schreibkalenders. In: Karsten Gaulke / Jürgen Hamel (Hg.): Kepler, Galilei, das Fernrohr und die Folgen. Frankfurt am Main: Deutsch 2010 (= Acta Historica Astronomiae, Vol. 40), S. 160–169. Zum 300. Todestag des Astronomen und Kalendermachers Gottfried Kirch. In: Jürgen Hamel (Hg.): Gottfried Kirch (1639–1710) und die Berliner Astronomie im 18. Jahrhundert. Beiträge des Kolloquiums am 6. März 2010 in Berlin-Treptow. Frankfurt am Main: Deutsch 2010 (= Acta Historica Astronomiae, Vol. 41), S. 22–33. Ein Gelehrter zwischen den Welten: Gottfried Kirch und seine aufklärerischen Visionen. In: Jürgen Hamel (Hg.): Gottfried Kirch (1639–1710) und die Berliner Astronomie im 18. Jahrhundert. Beiträge des Kolloquiums am 6. März 2010 in Berlin-Treptow. Frankfurt am Main: Deutsch 2010 (= Acta Historica Astronomiae, Vol. 41), S. 133–153. Das Pressemedium Zeitung in den großen Schreibkalendern. In: Volker Bauer / Holger Böning (Hg.): Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert: Ein neues Medium und seine Folgen für das Kommunikationssystem der Frühen Neuzeit. Bremen: edition lumière 2011 (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Bd. 54), S. 87–114. Die Schreibkalender für das Jahr 1670. In: Peter Heßelmann (Hg.): Grimmelshausen als Kalenderschriftsteller und die zeitgenössische Kalenderliteratur. Bern: Lang 2011 (= Beihefte zu Simpliciana, 5), S. 33–74.
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Klaus-Dieter Herbst
Der Kalendermacher Johannes Vulpius und seine Kritik am ›Ewig-währenden Calender‹ Grimmelshausens im Jahr 1696. In: Peter Heßelmann (Hg.): Grimmelshausen als Kalenderschriftsteller und die zeitgenössische Kalenderliteratur. Bern: Lang 2011 (= Beihefte zu Simpliciana, 5), S. 421–430. Die großen Schreibkalender als medialer Ort der Kontroverse um die Deutung der Sonnenfinsternis vom 2./12. August 1654 als Vorbote des Jüngsten Tages. In: Rosmarie Zeller (Hg.): Apokalypse-Deutungen im 17. Jahrhundert in Theologie, Literatur und Kunst. Akten der 20. Tagung der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft. Bern: Lang 2011 (= Morgen-Glantz, Bd. 21), S. 39–56. Zum rechtlichen Verhältnis zwischen Autor und Verleger im Kalenderwesen um 1670. Mit einem Blick auf Grimmelshausen. In: Simpliciana, Bd. 33 2011, S. 319–339. Bausteine für eine Biographie Gottfried Kirchs. In: Christen-, Juden- und Türken-Kalender für das Jahr 1670 verfaßt von Gottfried Kirch. Neu hg. von Klaus-Dieter Herbst mit einem Beitrag zur Biographie von Gottfried Kirch. Reprint. Jena: Verlag HKD 20012 (= Acta Calendariographica – Kalenderreihen, Bd. 1.4), S. 11–28. Von Astronomie bis Volksaufklärung. Neue Forschungen und Perspektiven. In: Klaus-Dieter Herbst (Hg.): Astronomie – Literatur – Volksaufklärung. Der Schreibkalender der Frühen Neuzeit mit seinen Text- und Bildbeigaben. Bremen: edition lumière; Jena: Verlag HKD 2012 (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Bd. 67; Acta Calendariographica – Forschungsberichte, Bd. 5), S. 15–44. Frühaufklärung, Volksaufklärung, Aufklärung in dem ›Altenburgischen Haushaltungs= und Geschichts=Kalender‹. Eine zeitliche Längsschnittanalyse von 1646 bis 1842. In: Klaus-Dieter Herbst (Hg.): Astronomie – Literatur – Volksaufklärung. Der Schreibkalender der Frühen Neuzeit mit seinen Text- und Bildbeigaben. Bremen: edition lumière; Jena: Verlag HKD 2012 (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Bd. 67; Acta Calendariographica – Forschungsberichte, Bd. 5), S. 237–267. Erneut gedruckt (mit einigen Korrekturen) in: Altenburger Geschichts- und Hauskalender, 2013, S. 160–166 und 2014, S. 166–175. Jacob Holderbusch alias Wolff Adam Wagenhalß und die Rezeption von Grimmelshausens »Wunderbarlichem Vogel-Nest« II (1675) in einem Schreibkalender für 1677. In: Simpliciana, Bd. 34 2012, S. 359–367. Der Finsternissen-Calender für 1676 von Johann Christoph Sturm als erstes astronomisches Jahrbuch. In: Finsternissen-Calender für das Jahr 1676 verfaßt von Johann Christoph Sturm. Neu hg. von Klaus-Dieter Herbst mit einem Beitrag über den Kalender als astronomisches Jahrbuch. Reprint. Jena: Verlag HKD 2013 (= Acta Calendariographica – Kalenderreihen, Bd. 2.2), S. 11–41. Printmedien der Frühen Neuzeit. Thüringische Schreibkalender aus der privaten »Sammlung Ille« in Langenwetzendorf. In: Zeitschrift für Thüringische Geschichte, Bd. 68 2014, S. 105–139. Leipzig als Druckort von Kalendern in der Frühen Neuzeit. In: Detlef Döring (Hg.): Leipzigs Bedeutung für die Geschichte Sachsens. Politik, Wirtschaft und Kultur in sechs Jahrhunderten. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2014 (= Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 7), S. 347–398. Bausteine für eine Biographie Gottfried Kirchs (II). In: Christen-, Juden- und Türken-Kalender für das Jahr 1671 verfaßt von Gottfried Kirch. Neu hg. von Klaus-Dieter Herbst. Reprint. Jena: Verlag HKD 2014 (= Acta Calendariographica – Kalenderreihen, Bd. 1.5), S. 11–22. Jahrhundertealte Schreibkalender in Langenwetzendorf gefunden. In: Jahrbuch des Museums Reichenfels-Hohenleuben, 59. H. 2014, S. 83–90. Öffentliches Räsonieren über die Kalendervereinigung in den Schreibkalendern der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. In: Rudolf Stöber / Michael Nagel / Astrid Blome / Arnulf Kutsch
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(Hg.): Aufklärung der Öffentlichkeit – Medien der Aufklärung. Festschrift für Holger Böning zum 65. Geburtstag. Stuttgart: Steiner 2015, S. 23–51. Bäuerliche Autodidakten als Astronomen und Kalendermacher. In: Holger Böning / IwanMichelangelo DʼAprile / Hanno Schmitt / Reinhart Siegert (Hg.): Selbstlesen – Selbstdenken – Selbstschreiben. Prozesse der Selbstbildung von »Autodidakten« unter dem Einfluss von Aufklärung und Volksaufklärung vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Bremen: edition lumière 2015 (= Philanthropismus und populäre Aufklärung – Studien und Dokumente, Bd. 10), S. 175–190. Noch einmal zum rechtlichen Verhältnis zwischen Autor und Verleger im Kalenderwesen des 17. Jahrhunderts. Mit einem Blick auf Grimmelshausen. In: Simpliciana Bd. 37 2015, S. 375–385. Erhard Weigels Forschungsansatz zu meteorologischen Messungen und die Umsetzung durch Georg Albrecht Hamberger. In: Katharina Habermann / Klaus-Dieter Herbst (Hg.): Erhard Weigel (1625–1699) und seine Schüler. Beiträge des 7. Erhard-Weigel-Kolloquiums 2014. Göttingen: Universitätsverlag 2016, S. 189–206. Die Jahreskalender und Prognostiken für 1575 bis 1612 in der Marienbibliothek zu Halle. In: Jutta Eckle (Hg.): Auf einer anderen Erde und unter einem anderen Himmel. Zu den Kalendern, Praktiken, Prognostiken und Kometenschriften aus der Frühen Neuzeit in der Marienbibliothek zu Halle an der Saale. Halle (Saale): Freundeskreis der Marienbibliothek zu Halle 2016 (= Kostbarkeiten und Raritäten einer alten Büchersammlung 4), S. 5–34. Die Rezeption der Reformation und eine neue Biographie Martin Luthers in den Schreibkalendern des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Werner Greiling / Holger Böning / Uwe Schirmer (Hg.): Luther als Vorkämpfer? Reformation, Volksaufklärung und Erinnerungskultur um 1800. Köln: Böhlau 2016 (= Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, Bd. 5), S. 315–350. Die Erfindung des Schreibkalenders um 1540. In: Almanach und Practica für das Jahr 1541 verfaßt von Dionysius Sibenburger. Neu hg. von Klaus-Dieter Herbst. Reprint. Jena: Verlag HKD 2017 (= Acta Calendariographica – Kalenderreihen, Bd. 3.3), S. 11–32. Das Vermitteln astronomischen Grundwissens in Schreibkalendern des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Gudrun Wolfschmidt (Hg.): Popularisierung der Astronomie. Hamburg: tredition 2017 (= Nuncius Hamburgensis, Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften, Bd. 41), S. 186–189. Von Ärzten und Astronomen zu Pfarrern und Lehrern. Neue Forschungen über die Kalendermacher und ihre Schreibkalender im deutschsprachigen Kulturraum. In: Klaus-Dieter Herbst / Werner Greiling (Hg.): Die Schreibkalender und ihre Autoren in Mittel-, Ost- und Ostmitteleuropa (1540–1850). Bremen: edition lumière 2018, S. 11–18. Die Kalendermacher – Namen, Leumund, sozialer Status. In: Klaus-Dieter Herbst / Werner Greiling (Hg.): Die Schreibkalender und ihre Autoren in Mittel-, Ost- und Ostmitteleuropa (1540–1850). Bremen: edition lumière 2018, S. 19–44. Gedanken zum Schreibkalender im 18. Jahrhundert. In: Lenz-Jahrbuch, 2018 (im Druck) Als Herausgeber der Reihe ›Acta Calendariographica‹ ohne eigenen Beitrag Norbert D. Wernicke: Kommentiertes Verzeichnis der Schreibkalender des 16. und 17. Jahrhunderts in Schweizer Bibliotheken. Jena: Verlag HKD 2012 (= Acta Calendariographica – Forschungsberichte, Bd. 4). Thomas Poggel: Schreibkalender und Festkultur in der Frühen Neuzeit. Kultivierung und Wahrnehmung von Zeit am Beispiel des Kaspar von Fürstenberg (1545–1618). Jena: Verlag HKD 2013 (= Acta Calendariographica – Forschungsberichte, Bd. 6). Volksaufklärerische Reformkalender des 18. Jahrhunderts: Der Curieuse Bauer (1739). Historisch- und Geographischer Calender (1779). Des Jüngern Wilhelm Denkers Haus-Calender (1792). Neu hg. von Klaus-Dieter Herbst mit einem Beitrag von Reinhart Siegert. Reprint. Jena: Verlag HKD 2014 (= Acta Calendariographica – Kalenderreihen, Bd. 3.2).
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Klaus-Dieter Herbst
Klaus Matthäus: Almanach nicht allein den Gelehrten, sondern auch den Kaufleuten nützlich für die Jahre 1544 und 1545 in Kulmbach verfaßt von Georg Seyfridt. Neu hg. von Klaus Matthäus mit einem Beitrag über Georg Seyfridt und seine Kalender. Reprint. Jena: Verlag HKD 2017 (= Acta Calendariographica – Kalenderreihen, Bd. 3.4). Robin B. Barnes: Die deutschen Kalenderschreiber im Zeitalter der Konfessionsbildung 1531–1630: Register und Analyse. Jena: Verlag HKD 2018 (= Acta Calendariographica – Forschungsberichte, Bd. 7).
Zusammenfassung Seit 1540 gibt es die Schreibkalender, in die die Menschen Notizen machen konnten. Die Kalender in Quart boten auch lange Zeit für viele Menschen den einzigen Zugang zu weltlichem Lesestoff. In der Mitte des 17. Jahrhunderts setzte eine inhaltliche Differenzierung bei den Text- und Bildbeigaben in den Schreibkalendern ein, um Käufer mit unterschiedlichen Interessen anzusprechen und dabei auch die verschiedenen Bildungsgrade der Leser zu berücksichtigen. Neben Astronomen und Ärzten trugen vor allem auch lutherische Pfarrer und Lehrer dazu bei. Die Erforschung der Schreibkalender und ihrer Autoren durch den Verfasser wurde seit 2002 in vier Projekten durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert. In dieser Miszelle wird der aktuelle Forschungsstand zusammengefasst. Summary Since 1540 exist the writing-calendars in which the people could write notices. For long times the almanacs in quart gave many people the only chance to obtain profane reading matters. In the middle of the 17th century a differentiation began in the contents of the almanacs with several texts and illustrations, this should engage purchasers with different interests and should take into consideration the several degrees of education too. By the side of astronomers and physicians especially Lutheran pastors and teachers contributed to this. The exploration of the almanacs and their authors through the writer of this has been funded by the Deutsche Forschungsgemeinschaft in four projects since 2002. In this text topical research results will be given. Korrespondenzanschrift Dr. Klaus-Dieter Herbst, Brändströmstr. 17, 07749 Jena Email: [email protected] Dr. rer. nat. Klaus-Dieter Herbst, Studium der Physik, Astronomie und Pädagogik, ist seit 2002 freischaffender Astronomiehistoriker.
Albrecht Hoppe
DAS »SCHOTTISCHE MOORHUHN« – ODER: VOM NUTZEN UND VOM NIEDERGANG DER »ZEITUNGSBERICHTERSTATTUNG« PREUßISCHER VERWALTUNGSBEHÖRDEN (1722–1918) 1. EINFÜHRUNG Am 9. Februar 1921 veröffentlichte das Berliner Tageblatt auf der Titelseite seiner Abendausgabe einen Artikel, der sich in spöttischer Weise mit dem ausgeprägten Informationsbedarf des letzten deutschen Kaisers auseinandersetzte. Der anonym erschienene Beitrag bezieht sich auf ein Schreiben des Zivilkabinetts vom 16. Januar 1901 an das preußische Staatsministerium, aus dem hervorgeht, dass es »das Befremden« des Kaisers erregt habe, in den regelmäßig zu erstattenden »Zeitungsberichten« der Regierungspräsidenten nicht über das Vorkommen der aus seiner Sicht höchst interessanten Wildart des schottischen Moorhuhns informiert worden zu sein, wofür zur Einführung einer Schonzeit ein Gesetzentwurf im Landtag vorgelegt worden war. Das sonderbar anmutende Interesse des Kaisers kontrastierte der Artikel mit einer harschen Kabinettsorder seines großen Vorfahren, Friedrich II., vom 6. Dezember 1748 an den Präsidenten der Halberstädter Kriegs- und Domänenkammer, von Ribbeck, der den König zuvor offensichtlich mit belanglosen Mitteilungen aufgebracht hatte, darin heißt es: »Euern an Mich unterm 1. dieses [Monats] erstatteten monatlichen Zeitungsbericht pro Novembri habe ich zwar erhalten, zu Meinem besonderen Befremden aber daraus ersehen, daß Ihr ohne Ueberlegung Mich mit miserablen Neuigkeiten zu amüsieren vermeinet. Ihr hättet wohl billig einsehen sollen, daß Mir mit dergleichen schlechten Nachrichten gar nichts gedienet sei, sondern daß, wann ich Zeitungsbericht von Euch fordere, Ich interessante Sachen, nämlich die den Zustand der Kassen und der dortigen Provinz angehen und die, so in den benachbarten Landen vorfallen, und die auf Meinem Interesse oder auf das Beste Meiner Landen Rapport, wissen will ... allermaßen, wann ich von Euch Zeitungsberichte verlange, Ich Euch nicht als einen faden Nouvellisten ansehe, sondern als einen Mann, der die Ueberlegung hat, Mir keine anderen Sachen zu schreiben, als die Meiner Attention werth und Mir interessant seiend. Ihr habet Euch also hiernach zu achten, damit ich sein kann usw.« Nach Ansicht des Verfassers des Tageblatt-Artikels sprach aus dem ersten Befehl »der Geist eines Dilettanten«, aus der Order Friedrichs dagegen »der Geist eines Staatsmannes, der sich in seinen staatspolitischen Gewissen weise Beschränkung aufzuerlegen weiß«.1
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»Das schottische Moorhuhn. ›Es hat Seiner Majestät Befremden erregt ...‹«. In: Berliner Tageblatt, Nr. 66 vom 9.2.1921, S. 1, jetzt leicht zugänglich in: http://zefys.staatsbibliothekberlin.de [9.5.2018]. Entwurf eines Gesetzes betreffend Einführung einer Schonzeit für das Moorhuhn vom 26.3.1901. In: Sammlung der Drucksachen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 19. Legislaturperiode, III. Session, 1901. Bd. 3. Berlin: Moeser 1901, Nr. 126, S. 1579. – Der vom Herrenhaus verabschiedete Gesetzentwurf wurde im Abgeordnetenhaus aus zeitlichen Gründen nicht mehr erledigt.
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Albrecht Hoppe
Welche scheinbar belanglosen Meldungen Friedrich den Großen derart aufbrachten, braucht hier nicht untersucht werden. Es wird in diesem Beitrag auch nicht um eine Beurteilung des jagdbesessenen, allgegenwärtigen und vielseitig interessierten Kaisers Wilhelm II. gehen, der im Artikel des Berliner Tageblatts der Erheiterung des Berliner bürgerlichen Publikums in schwierigen Zeiten preisgegeben wurde, womit einmal mehr der von Nicolaus Sombart beschriebene »Sündenbockmechanismus« in der Auseinandersetzung um den letzten deutschen Kaiser bedient werden konnte.2 Im Mittelpunkt dieses Beitrages stehen vielmehr die im Artikel mehrfach erwähnten sogenannten Zeitungsberichte bzw. Immediatzeitungsberichte, die als eine spezielle Gattung handschriftlich verfasster allgemeiner Verwaltungsberichte über nahezu zwei Jahrhunderte den regelmäßigen und allgemeinen Informationsaustausch der Verwaltungsbehörden in Preußen kennzeichneten und nach dem Ende der Monarchie 1918 endgültig eingestellt wurden.3 Im Folgenden wird nach einer Beschreibung dieser Quellengattung auf die mittlerweile abgeschlossene Edition der Zeitungsberichte der Potsdamer Regierungspräsidenten aus der Zeit des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Kaiserreiches (1867–1914) hingewiesen, die als Ergebnis des DFG-Projekts »Politische Interessenkommunikation« der Universität Bamberg und des Brandenburgischen Landeshauptarchivs demnächst in mehreren kommentierten Teilbänden und einer umfangreichen Studie in den Reihen »Einzelveröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs« und »Presse und Geschichte – Neue Beiträge« erscheinen wird.4 BEDEUTUNG UND ENTWICKLUNG DER »ZEITUNGSBERICHTERSTATTUNG« IN PREUßEN Die »Zeitungsberichte«, gemeint sind relevant erscheinende Neuigkeiten – »Zeitung« im ursprünglichen Sinn des Wortes –, wurden in Preußen bereits seit dem frühen 18. Jahrhundert von den mittleren und unteren Verwaltungsbehörden erstattet. Im Laufe des 19. Jahrhunderts dienten sie in einer zunehmend formalisierten Weise der Regelung des allgemeinen Informationsaustausches zwischen den unteren Verwaltungsbehörden des Staates, also den Gemeinden, Ämtern und Magistraten bzw. Polizei2.
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Nicolaus Sombart: Wilhelm II. Sündenbock und Herr der Mitte. 2. Aufl. Berlin: Verl. Volk und Welt 1997. Siehe auch Benjamin Hasselhorn: Wilhelm II. in neuer Sicht. Plädoyer für eine sachliche Beurteilung des letzten deutschen Kaisers. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, N.F., 25. Jg. 2015, Nr. 2, S. 337–351. Zur Einführung Dirk Mellies: Die amtlichen Zeitungsberichte der preußischen Regierungen als Quelle einer Mentalitätsgeschichte der Verwaltung des 19. Jahrhunderts. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, N.F., 18. Jg. 2008, Nr. 1, S. 1–17. Albrecht Hoppe: Die Zeitungsberichte der preußischen Regierungen als historische Quelle. In: Zeitungsberichte der Königl. Preußischen Regierung in Liegnitz 1810–1918, http://www. regierungsbezirk-liegnitz.de/Projekt [20.4.2018]. Albrecht Hoppe / Klaus Neitmann / Rudolf Stöber (Hg.): Die Zeitungsberichte der Potsdamer Regierungspräsidenten 1867–1914. Bearb. von Albrecht Hoppe. 4 Teilbde. Begleitbd.: Rudolf Stöber / Florian Paul Umscheid: Politische Interessenkommunikation in der Modernisierung. Das Beispiel des Regierungsbezirks Potsdam (1867–1914). Bremen: edition lumière 2018 [im Druck].
Das »Schottische Moorhuhn«
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verwaltungen der Städte über die Landratsämter bzw. Polizeidirektionen der Stadtkreise und den Bezirksregierungen zu den zentralen Instanzen in Berlin. Die Zeitungsberichte der Bezirksregierungen, der wichtigsten Mittelbehörde für die innere und Finanzverwaltung des preußischen Staates, stellten dabei das wichtigste Glied dieser Informationskette dar, da sie die von den Unterbehörden verfassten Berichte auswerteten und in ihren wesentlichen Inhalten in einem zusammenfassenden Bericht an den König respektive das Innenministerium weiterleiteten. Letztere Instanzen sollten fortlaufend über wesentliche Ereignisse aus der Provinz und über die Tätigkeiten der mittleren und unteren Verwaltungsbehörden informiert werden. Die Berichte der Regierungspräsidenten waren dabei unmittelbar, also immediat, an den stets persönlich angesprochenen König adressiert, sie dienten aber vor allem der regelmäßigen Unterrichtung vor allem des Innenministeriums und weiterer Ministerien bzw. Zentralbehörden. Die Zeitungsberichte hatten den Zweck, so in einer Kabinettsorder Wilhelms I. vom 26. August 1867, dem König »[...] von den Zuständen des Landes und der Verwaltung, von wichtigen, damit zusammenhängenden Begebenheiten, von den Erfolgen oder den Bedürfnissen der Gesetzgebung für die Entwicklung der geistigen oder materiellen Interessen der Bevölkerung und von der dadurch hervorgerufenen öffentlichen Stimmung unter dem doppelten Gesichtspunkte der Vergangenheit und der Zukunft fortlaufend Kenntnis zu geben«.5 Die periodische Berichterstattung der preußischen Provinzialbehörden geht auf die Zeit Friedrich Wilhelms I. zurück, der im Jahr 1722 den regelmäßigen Nachrichtenaustausch der preußischen Verwaltungsbehörden anordnete. Der Instruktion nach sollte das zu errichtende Generaldirektorium durch Korrespondenz mit den Behörden und mit Privaten von allen Vorgängen in den Provinzen unterrichtet werden. Die eingehenden Nachrichten sollten in einem kurzen Bericht zusammengefasst und wöchentlich dem König eingesendet werden.6 Ungeachtet dieser Anordnung wurden die von
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Königlicher Erlass vom 26.8.1867. In: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (im Folgenden: GStA PK), I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode, Nr. 15746, Bl. 50. Siehe Stöber (2018), S. 133–154 und die Hinweise in der editorischen Einführung (wie Anm. 4). Der vollständige formale Schriftverkehr liegt vor in: GStA PK, I. HA Rep. 77 Ministerium des Innern, Tit. 55, Nr. 5, Bde. 1–5 und GStA PK, I. HA Rep. 89, Nr. 15746– 15747. Zur Bedeutung der Bezirksregierungen und der Regierungspräsidenten im Verwaltungsgefüge des preußischen Staates siehe Fritz Hartung: Studien zur Geschichte der preußischen Verwaltung. In: Fritz Hartung: Staatsbildende Kräfte der Neuzeit. Gesammelte Aufsätze. Berlin: Duncker & Humblot 1961, S. 178–344. Walther Hubatsch: Die preußischen Regierungspräsidenten. In: Werner Pöls (Hg.): Staat und Gesellschaft im politischen Wandel. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt. Stuttgart: Klett-Cotta 1979, S. 31–55. »Instruction und Reglement für das Generaldirectorium« vom 20.12.1722«, Art. 34 § 2. In: G. Schmoller / O. Krauske / V. Loewe (Bearb.): Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert. Bd. 3: Akten vom Januar 1718 bis Januar 1723. Berlin: Parey 1901 (= Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert), S. 575–651, hier S. 644f. Siehe dort auch »Instruction für die Kurmärkische Kriegs– und Domänenkammer« vom 26.1.1723, Art. XVI § 20, S. 699–701, im Folgenden den historischen Abriss des Geh. Regierungsrats Wulfshein an den Innenminister
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Albrecht Hoppe
Anfang an als »Zeitungsbericht« bezeichneten Mitteilungen in der Folge im monatlichen Rhythmus von den Provinzialbehörden erstattet und wahrscheinlich in kontinuierlicher Folge, wenn auch nicht immer in der gleichen Intensität fortgesetzt. Insbesondere in Kriegszeiten scheint die Berichterstattung unterbrochen worden zu sein.7 Friedrich II. setzte die Berichte nach seinem Amtsantritt als bestehend voraus. Sie sollten vor dem 15. jedes Monats eingesandt und »umständlicher und detaillierter« abgefasst werden, nähere Mitteilungen waren in den Rubriken »Finanzsachen, Militaria, Zustand der Landes- und Commerziensachen, Grenzen« vorgesehen.8 Infolge der Verwaltungsreformen von 1807/08 wurden die monatlich zu erstattenden Berichte beibehalten und mit der Festschreibung der neuen Verwaltungsorganisation zugleich die Rubriken festgelegt, die Mitteilungen über Witterung, Preise, Geld- und Wertpapierkurse, Mortalität und Gesundheitsverhältnisse, Unglücksfälle, Polizeisachen, Kassenzustände, Militär- und Grenzsachen, behördliche Angelegenheiten und Reformvorschläge enthalten sollten. Die bislang offensichtlich als unbefriedigend angesehenen Berichte sollten zudem formalisierter und übersichtlicher gestaltet werden, um die Nutzung zu erleichtern, doch war auf die Anhäufung von Details zu verzichten.9 Durch die Neuordnung der Provinzen im Jahr 1817 wurden die Berichte erneut zur Verpflichtung der neu eingerichteten Regierungen gemacht, womit sie von nun an eine bis zum Ende des Ersten Weltkrieges weitgehend unverändert gebliebene Form erhielten.10 Das bereits nach 1807 stark erweiterte Rubrikschema veränderte sich jedoch in den folgenden Jahrzehnten stetig und
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vom 24.2.1866 (»Die Immediat-Zeitungsberichte und die allgemeinen Verwaltungsberichte überhaupt«), mit einer eingehenden kritischen Beurteilung. In: GStA PK, I. HA Rep. 77 Tit. 55, Nr. 5, Bd. 2, Bl. 170–199. Zur Zeit der Befreiungskriege beispielsweise wurde die Berichterstattung von April bis November 1813 unterbrochen, gleiches ist auch für den Siebenjährigen Krieg anzunehmen, siehe die Dokumentenfolge in http://www.regierungsbezirk-liegnitz.de/Zeitungsberichte1810–1830 [22.5.2018]. Kabinettsorder vom 15.4.1742 an den Kammerpräsidenten von Aschersleben (Stettin). In: Gustav Schmoller / Otto Hintze (Bearb.): Behördenorganisation und allgemeine Staatsverwaltung, Bd. 6, 2: Akten vom 31. Mai 1740 bis Ende 1745. Berlin: Parey 1901 (= Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert), S. 425f. Siehe auch Erlass an die Glogauer Kammer vom 18.8.1743, erwähnt im Bericht von Wulfshein vom 24.2.1866. In: GStA PK, I. HA Rep. 77 Tit. 55, Nr. 5, Bd. 2, Bl. 170f. »Cirkular-Erlaß an sämmtliche Regierungen« vom 7.8.1809. In: GStA PK, I. HA Rep. 77 Tit. 55, Nr. 5, Bd. 1, Bl. 9f. (Konzept). »Geschäfts-Instruktion für die Regierungen in sämmtlichen Provinzen« vom 26.12.1808, § 49 h. In: Sammlung der für die Königlichen Preußischen Staaten erschienenen Gesetze und Verordnungen von 1806 bis zum 27sten Oktober 1810 [...]. Berlin 1822, Nr. 64, S. 481–592, hier S. 494, auch in: Heinrich Scheel / Doris Schmidt (Hg.): Von Stein zu Hardenberg. Dokumente aus dem Interimsministerium Altenstein/Dohna. Berlin: Akademie-Verlag 1986 (= Schriften des Zentralinstituts für Geschichte, Bd. 54), S. 67–75. Siehe Wulfshein vom 24.2.1866. In: GStA PK, I. HA Rep. 77 Tit. 55, Nr. 5, Bd. 2, Bl. 172. »Instruktion zur Geschäftsführung der Regierungen in den Königlich Preußischen Staaten« vom 23.10.1817. In: Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten, Berlin: Decker 1817, Nr. 440, S. 284–329, hier S. 321.
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wurde mehrfach, so im Jahr 1835 mit insgesamt 23 Rubriken und ein weiteres Mal im Jahr 1867 neu festgelegt.11 Nachdem die Berichte im Jahr 1843 nach innerbehördlicher Kritik bereits auf einen zweimonatlichen Rhythmus umgestellt worden waren, erhielten die Berichte ab 1867 einen insofern veränderten Modus, als sie von da an durchgängig bis 1914 vierteljährlich verfasst werden sollten und erneut eine verbindliche formale Struktur erhielten. Fortan sollten die Berichte immer die Rubriken Landeskultur, öffentliche Bauten, öffentliche Stimmung und Militärverhältnisse enthalten.12 Dieses engere Profil wurde in der Folgezeit wegen des stark ansteigenden Informationsbedarfs vor allem in den Bereichen Handel und Gewerbe, Forstwesen und Domänen, Bergbau durch weitere, mehr oder weniger regelmäßig behandelte Themenkomplexe zum Teil erheblich erweitert. Nach Kriegsausbruch 1914 wurden die Zeitungsberichte für die Dauer von zwei Jahren ganz eingestellt, um die Verwaltungen zu entlasten. Das Kriegsende bedeutete schließlich auch das Ende der Berichterstattung. 3. DIE ENTSTEHUNG DER BERICHTE DER REGIERUNGSPRÄSIDENTEN Über die Entstehung der Berichte der Regierungspräsidenten lassen sich zumindest für die Zeit nach 1867 und mit Bezug auf den Regierungsbezirk Potsdam zuverlässige Aussagen treffen. Sicher ist, dass mit der Niederschrift gewöhnlich ein Regierungsreferendar oder Regierungsassessor unter Aufsicht der Präsidialabteilung beauftragt wurde. Dieser nutzte dabei vorrangig die aktuelle Sammlung von Zeitungsberichten, die von den Landräten und Polizeidirektoren eingereicht wurden. Diese Unterbehörden orientierten sich ebenfalls an dem vorgegebenen Rubrikschema, doch fallen ihre Berichte deutlich heterogener aus, als die ohnehin schon recht uneinheitlich verfassten Berichte der Regierungspräsidenten.13 Ergänzt wurden die Zeitungsberichte der Unterbehörden durch regelmäßige, oft ebenfalls vierteljährlich oder jährlich eingereichte Berichte der Räte und technischen Beamten in den Abteilungen der Bezirksregierung. Hierbei handelt es sich um die Berichte der Gewerberäte, die sich infolge der Bildung von Gewerbeinspektionen nach 1890 wiederum vierteljährlich und jährlich von den Inspektoren der neu eingerichteten Gewerbebezirke unterrichten ließen.14 Außerdem berichteten die
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»Schema zum Zeitungsbericht« und »Entwurf einer Anweisung für die Königlichen Regierungen, zur Abfassung, der an Seine Majestät den König monatlich zu erstattenden Zeitungsberichte«. In: GStA PK, I. HA Rep. 89, Nr. 15746, Bl. 28–32, gedruckt in: [Ernst] Engel: Die Statistik im Dienste der Verwaltung mit besonderer Berücksichtigung der im Preußischen Staate bestehenden Einrichtungen. In: Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus, 3. Jg. 1863, Nr. 11, hier S. 276f. Königlicher Erlass vom 26.8.1867. In: GStA PK, I. HA Rep. 89, Nr. 15746, Bl. 50. Zur Entstehung der Zeitungsberichte siehe Stöber (2018), S. 155–179 (wie Anm. 4). Thomas Klein (Hg.): Die Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Wiesbaden an Seine Majestät 1867–1918. 2 Tle., Darmstadt: Hessische Historische Kommission und Historische Kommission für Hessen 1996 (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, Bd. 106), T. 1, S. VII–X. Vorschriften über die Erstattung der Zeitungsberichte in: Brandenburgisches Landeshauptarchiv (im Folgenden BLHA), Rep. 2 A I P, Nr. 131 und 132. Michael Karl: Fabrikinspektoren in Preußen. Das Personal der Gewerbeaufsicht 1854–1945. Professionalisierung, Bürokratisierung und Gruppenprofil. Opladen: Verlag für Sozialwis-
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Medizinal- und Veterinärräte, die sich auf Quartals- und Jahresberichte der Kreisärzte und Kreistierärzte stützten.15 Darüber hinaus wurden allgemeine Berichte der Oberforstmeister, der Bauräte und der Oberbergämter erstattet, die allerdings in den Landes- und Staatsarchiven kaum mehr vollständig erhalten sein dürften.16 Aus den überlieferten Beständen des Polizeipräsidiums Potsdam ist zudem ersichtlich, dass neben den darin befindlichen Mitteilungen der Stadträte und Polizisten zwecks benötigter Informationen auch regelmäßige Berichte von Sachverständigen in lokalen Vereinen und von Privatleuten angefordert wurden. Diese waren offensichtlich unerlässlich, um genügend Material für einen Zeitungsbericht an den Regierungspräsidenten zur Verfügung zu haben.17 Die Regierungspräsidenten nahmen anschließend an den ausgearbeiteten Konzepten je nach Erfordernis vielfältige inhaltliche oder stilistische Veränderungen vor, bevor der ausgefertigte Bericht an den König und an übergeordnete Behörden bzw. Ministerien versendet wurde. Im frühen 19. Jahrhundert wurden die Berichte noch von den Abteilungsleitern der Regierungsbehörde gegengezeichnet, so dass die Berichte zugleich auch dem Informationsfluss innerhalb des Regierungskollegiums dienten. Es ist somit anzunehmen, dass schon die Konzepte innerhalb der Behörde zirkulierten und in den jeweiligen Abteilungen ergänzt oder berichtigt wurden.18 Wer die jeweiligen Zeitungsberichte abgefasst hat, kann in Einzelfällen über Marginalien in den vorliegenden Landratsberichten und den Konzepten des Hauptberichts rekonstruiert werden.19 Insgesamt ist von einer hohen Qualität der Berichte auszugehen, da es sich bei den Referendaren in der Regel um qualifizierte angehende Staatsbeamte mit hoher Urteilskraft handelte, denen in der Regel eine Karriere in der preußischen Verwaltung bevorstand.20
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senschaften 1993 (= Studien zur Sozialwissenschaft, Bd. 126). Auch die Landräte und Polizeidirektionen hatten regelmäßige Berichte über die gewerbliche Lage in ihren Kreisen einzureichen. Für den Bezirk Potsdam siehe BLHA, Rep. 2A I HG, Nr. 27–44 (Jahresberichte 1891–1918) und Nr. 61–64 (Quartalsberichte 1894–1912). Einzelne Jahrgänge in: BLHA, Rep. 2A I Med, Nr. 31–42 (1861–69/1885–93) und BLHA, Rep. 2A I Vet, Nr. 387–391 (1826–1923). Im Brandenburgischen Landeshauptarchiv liegen diese Berichte neben den Zeitungsberichten der Landräte, Polizeidirektionen und den Konzepten der Präsidialberichte vollständig ab 1908 vor, siehe BLHA, Rep. 2A I P, Nr. 737–744. Vollständiges Aktenverzeichnis im Anlagenband der Edition. Siehe z.B. Bericht des Potsdamer Gartenbauvereins vom 26.9.1884. In: BLHA, Rep. 30 Potsdam, Nr. 264, Bl. 26f. Siehe Berichte der Regierung in Liegnitz von 1810–15. In: http://www.regierungsbezirkliegnitz.de/ [22.5.2018]. Dazu Stöber (2018), S. 159–162 (wie Anm. 4). Das Personal der Bezirksregierungen ist aufgeführt in: Handbuch über den Königlich Preußischen Hof und Staat für das Jahr [...]. Berlin: Decker 1794–1918. Unter den Regierungsassessoren befanden sich u.a. der spätere Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg (1856–1921) und der langjährige Landrat des Kreises Teltow und spätere Polizeipräsident von Berlin, Ernst von Stubenrauch (1853–1909), zu ihm siehe Claudia Wilke: Die Landräte der Kreise Teltow und Niederbarnim im Kaiserreich. Eine biographisch-verwaltungsgeschichtliche Studie zur Leistungsverwaltung in der Provinz Brandenburg. Potsdam: Verlag für Berlin-Brandenburg 1998 (= Brandenburgische Historische Studien, Bd. 2), S. 81–110.
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Ein verlässliches Urteil darüber, wie sich die Berichterstattung zwischen den unteren und mittleren Verwaltungsbehörden im Laufe des 19. Jahrhunderts verdichtete, hängt von der Überlieferung der in der Regel nicht vollständig erhaltenen Berichte der Unterbehörden und der höheren Beamten in den Regierungskollegien ab. Es ist nicht einmal sicher, ob die Landräte und Polizeidirektoren in den früheren Jahren tatsächlich ständig ihre Berichte erstatteten, ganz zu schweigen von den Amtsvorstehern und den Gemeindevorsitzenden.21 Generell lässt sich jedoch erkennen, dass der ständige Informationsfluss durch Zeitungsberichte spätestens im ausgehenden 19. Jahrhundert in streng formalisierten Kommunikationskanälen vonstattenging, die sich gleichsam wie Arterien durch den gesamten Verwaltungstrakt des preußischen Staates von der untersten Ebene bis hin zu den zentralen Instanzen des Zivilkabinetts und der Staatsministerien zogen. Eine Analyse dieses Systems der ständigen Kommunikation der Verwaltungsbehörden in der Entwicklung seit dem frühen 18. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkrieges ist sowohl in verwaltungsgeschichtlicher, als auch in kommunikationsgeschichtlicher Hinsicht eine lohnende Forschungsaufgabe. Die daraus erzielten Erkenntnisse zeigen insbesondere, in welchem Ausmaß Anliegen unterer Verwaltungsbehörden respektive Interessen gesellschaftlicher Akteure im Zuge der Staatsbildung bzw. Bürokratisierung von übergeordneten Instanzen wahrgenommen und in konkrete Maßnahmen umgesetzt wurden.22 4. KRITISCHE BEURTEILUNGEN UND MODIFIZIERUNGEN DER »ZEITUNGSBERICHTE« Der Nutzen der Zeitungsberichte war während der gesamten Zeit ihres Bestehens in den Verwaltungen umstritten. Es liegen zahlreiche Belege darüber vor, dass die Adressaten die Weitschweifigkeit und die Schilderung vermeintlicher Nebensächlichkeiten und geringe Relevanz beanstandeten. Dabei ist zu bedenken, dass die Beamten des Zivilkabinetts im monatlichen oder später im zwei- und dreimonatlichen Turnus zuletzt über 30 dieser teils umfangreichen Berichte der Regierungspräsidenten zu lesen bekamen und wahrscheinlich Vortrag darüber zu halten hatten, wenn nicht der Monarch die Lektüre selbst vornahm.23 Ebenso lässt sich nachweisen, dass sich die für die Abfassung der Berichte zuständigen Beamten über die hohe Arbeitsbelastung beklagten. Das Staatsministerium schlug daher bereits 1827 vor, die Zeitungsberichte auf einen jährlichen Rhythmus zu reduzieren.24 Der Kabinettsrat Karl Christian Müller empfahl
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Darauf deuten Anweisungen der Regierungsbehörden an die Landräte ihrer Bezirke hin, die wegen unzureichender Abstattung und unpünktlicher Zusendung der Berichte gerügt wurden, siehe z.B. Innere Abteilung der Regierung in Posen vom 14.4.1842. In: GStA PK, I. HA Rep. 77, Tit. 55, Nr. 5, Bd. 2, Bl. 36f. (Abschrift). Siehe neben der Projektstudie von Stöber (2018) (wie Anm. 4) auch Rudolf Stöber / Florian Paul Umscheid: Öffentlichkeit unter Beobachtung. Zu den Methoden historischer Öffentlichkeitsforschung. In: Medien und Kommunikationswissenschaft, 65. Jg. 2017, S. 746–765. Anhand von Marginalien in einigen Zeitungsberichten nach 1810 lässt sich eindeutig nachweisen, dass der König die Berichte noch selbst gelesen hat, siehe z.B. Regierungspräsident von Erdmannsdorff (Liegnitz) vom 4.1.1811. In: GStA PK, I. HA Rep. 89, Nr. 16500, Bl. 62–65. Immediatbericht vom 30.4.1827. In: GStA PK, I. HA Rep. 89, Nr. 15746, Bl. 1f.
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1842 den völligen Wegfall der Berichte, weil sie seiner Ansicht nach trotz aufwendiger Arbeit keinen sichtbaren Nutzen erzielten.25 Seit den 1860er Jahren erhielt die Diskussion weiteren Auftrieb, zumal Informationen über öffentliche Stimmungen und die Wirkung der Gesetzgebung mittlerweile viel schneller und umfassender auch aus der Tagespresse entnommen werden konnten. Daraufhin wurden die Berichte 1867 wie bereits erwähnt auf den vierteljährlichen Erscheinungsmodus mit einem engeren inhaltlichen Profil umgestellt.26 Die Modifizierungen kamen zwar einer Abschaffung der weiterhin als nützlich erachteten Zeitungsberichte zuvor, doch änderten sie wenig an den Vorbehalten der zuständigen Beamten gegen den anfallenden enormen Schreibaufwand. Es war daher nur eine Frage der Zeit, bis die Zeitungsberichte erneut auf den Prüfstand geraten sollten. Dies geschah im Rahmen der Verwaltungsreformbestrebungen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Anlass war die Haushaltsdebatte des Jahres 1911, in der die Abschaffung der Zeitungsberichte von einzelnen Abgeordneten gefordert wurde. Der konservative Abgeordnete und ehemalige Landrat des Kreises Brieg, Alfred von Goßler, äußerte sich in der Sitzung vom 13. Februar 1911 drastisch: »Nun kann man sich denken, wie diese Berichte aussehen. Teils ist der Erntestand befriedigend, teils unbefriedigend, teils hat der Wohlstand sich gehoben, teils ist er gesunken, teils ist der Gesundheitszustand der Menschen und Tiere ein höchst befriedigender, teils gibt er zu schwersten Bedenken Anlaß. Es sieht ungefähr so aus, wie bei den Wetterprophezeiungen unserer öffentlichen Wetterberichte: irgendwo ist schönes Wetter und irgendwo regnet es. Dazu kommt noch, daß von dem Zeitpunkte des Berichts bis dahin, wo die Berichte beim Zivilkabinett Seiner Majestät eingehen, sich alles wieder geändert haben kann. Der Saatenstand war damals vorzüglich und ist inzwischen vielleicht von Mäusen beschädigt worden, und die Scharlachepidemie ist hoffentlich inzwischen wieder erloschen.« Der Abgeordnete von Zedlitz-Neukirch schloss sich der auf Erheiterung im Plenum stoßenden Rede an und erklärte in derselben Sitzung: »Der Zeitungsbericht ist einer der schlimmsten Zöpfe, die wir überhaupt noch haben. Es gibt nichts Unnützeres als diese Zeitungsberichte. Die hohen Stellen erfahren daraus, was wirklich in den Zeitungen gestanden hat, etwa erst 6, 9 Monate später, als die Din-
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Immediatbericht vom 4.3.1842. In: GStA PK, I. HA Rep. 89, Nr. 15746, Bl. 41f. Königlicher Erlass vom 26.8.1867. In: GStA PK, I. HA Rep. 89, Nr. 15746, Bl. 50. Dazu der behördliche Schriftverkehr in: GStA PK, I. HA Rep. 77 Tit. 55, Nr. 5, Bd. 2, Bl. 165– 290, hier insbesondere Innenminister Eulenburg an Bismarck vom 5.3.1867 (Bl. 240–244), Bismarcks Votum vom 10.5.1867 (Bl. 254f.) und Immediatbericht des Staatsministeriums vom 9.8.1867 (Bl. 258–261). Siehe auch Protokoll des Staatsministeriums vom 20.6.1867. In: Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817–1934/38. Hg. von der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften unter der Leitung und mit einem Vorwort von Jürgen Kocka und Wolfgang Neugebauer. Bd. 6. Bearb. von Rainer Paetau unter Mitarbeit von Hartwin Spenkuch. Hildesheim: Saur 2004 (= Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, N.F., 1. Reihe), Nr. 36, S. 73.
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ge passiert sind; es ist eine der unnützesten Büreauarbeiten, die geleistet wird.«27 Daraufhin wurde diese Form der Berichterstattung in den Behörden und in der neugebildeten Immediatkommission zur Verwaltungsreform einer kritischen Prüfung unterzogen. Innenminister von Dallwitz kam zu dem Schluss, dass die Berichte in Zeiten verbesserter Kommunikations- und Verkehrsverhältnisse und den Informationsmöglichkeiten durch die Massenpresse in keiner Weise mehr zeitgemäß seien. Der Kaiser werde vielmehr auf anderen Wegen hinreichend und rechtzeitig informiert, so dass ein Wegfall oder der Ersatz durch vereinfachte und formlose Jahresberichte auch im Hinblick auf die Verminderung des Schreibwerks angebracht sei. Vor einer Entscheidung sollten jedoch die Regierungspräsidenten selbst befragt werden.28 Diese befürworteten zwar mit wenigen Ausnahmen eine Umgestaltung der Berichte und eine verlängerte Berichtsperiode, doch legten sie andererseits fast einhellig Wert auf die Beibehaltung einer unmittelbaren Berichterstattung an den König.29 Die Berichte der Regierungspräsidenten wurden daraufhin zunächst deutlich im Umfang reduziert, im Jahr 1913 auf einen Halbjahresmodus unter Wegfall des Rubrikschemas umgestellt und kurz vor Kriegsausbruch 1914 auf Antrag des Innenministers auf unbestimmte Zeit ganz eingestellt, um die Verwaltungen zu entlasten.30 Wilhelm II. ordnete im Jahr 1916 noch die Fortsetzung der halbjährlichen Berichterstattung an, bevor das Kriegsende sie schließlich gänzlich beendete.31 Die Belastung der Verwaltung infolge der ständigen Berichterstattung und des immensen Schreibwerks war ohne jeden Zweifel erheblich. Unter Berücksichtigung sämtlicher Berichte der unteren Instanzen und der Konzepte dürfte der Seitenumfang für einen einzigen Bericht eines Bezirks mehrere tausend Seiten betragen. 1913 wurde jedenfalls der Gesamtumfang von der erwähnten Immediatkommission auf ca. 3.200 Seiten geschätzt.32 Fazit: Der Nutzen der Zeitungsberichte war für die damaligen Akteu-
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Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, IV. Session 1911. Bd. 2. Berlin: Preußische Verlagsanstalt 1911, S. 1746f. und 1780. Innenminister an sämtliche Regierungspräsidenten vom 4.9.1911. In: GStA PK, I. HA Rep. 77 Tit. 55, Nr. 5, Bd. 5, Bl. 18f. Zur damaligen Diskussion siehe [Walter] Delius: Die Abschaffung oder Umgestaltung der Zeitungsberichte (Auch ein Beitrag zur Verwaltungsreform). In: Preußisches Verwaltungs-Blatt, 32. Jg. 1911, Nr. 42 vom 15.7.1911, S. 673f. Stellungnahmen sämtlicher Oberpräsidenten und Regierungspräsidenten vom 8.9. bis 10.10.1911. In: GStA PK, I. HA Rep. 77 Tit. 55, Nr. 5, Bd. 5, Bl. 26–103. Innenminister an Geh. Zivilkabinett vom 31.8.1914. In: GStA PK, I. HA Rep. 77 Tit. 55, Nr. 5, Bd. 5, Bl. 159f. Der Kaiser zeigte an den Berichten ein »lebhaftes Interesse«, siehe Erlass vom 3.12.1913, die Schreiben des Geh. Zivilkabinetts an den Innenminister vom 6.11.1913, 4.9.1914, 17.11.1916 und 8.6.1917, sowie Rundschreiben des Innenministers an die Regierungspräsidenten vom 5.12.1918. In: GStA PK, I. HA Rep. 77 Tit. 55, Nr. 5, Bd. 5, Bl. 138, 148, 161, 177, 215, 224. Die Schätzung beruhte auf einem Bericht des Regierungspräsidenten in Düsseldorf vom 28.12.1896, darin ist das gesamte Schreibwerk aller Behörden des Bezirks für einen einzigen Vierteljahresbericht berechnet. Regierungspräsident von Rheinbaben wies darauf hin, dass
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re höchst umstritten, dass sie dennoch bis zum Ende der preußischen Monarchie bestehen blieben, lag zum einen an ihrem hohen und als zuverlässig eingeschätzten Informationswert, zum anderen aber vor allem daran, dass den Regierungspräsidenten nicht der einzige, traditionell zur Verfügung stehende unmittelbare Informationskanal an den König entzogen werden sollte, zumal er zugleich zur regelmäßigen Rechenschaftsablegung der Amtsgeschäfte disziplinierte.33 5. DER QUELLENWERT DER »ZEITUNGSBERICHTE« Ist die zeitgenössische Kritik und die Infragestellung der Zeitungsberichte durch die damit befassten Beamten zwar leicht nachvollziehbar, so ist doch nicht zu verkennen, dass es sich hierbei um eine Quelle von vielleicht einzigartiger Informationsdichte handelt, jedenfalls soweit es die archivalische Überlieferung der deutschen und preußischen Geschichte vor dem 20. Jahrhundert betrifft. Es dürfte wohl keine Verwaltungsschrift geben, die dem Historiker und landesgeschichtlich Interessierten eine derartige Fülle von fortlaufenden Mitteilungen über die verschiedenen Zuständigkeitsbereiche der Verwaltung sowie über besondere Vorgänge und Geschehnisse in den jeweiligen Bezirken, Kreisen und Orten bietet.34 Aus der Sicht höherer Verwaltungsbeamter in den Bezirken und als Ausdruck des aktuellen Regierungsinteresses geben die periodisch eingereichten Berichte vielfältige und umfassende Auskunft über Verhältnisse und Entwicklungen des jeweiligen Bezirks und waren stets verbunden mit Vorschlägen und Anregungen zur weiteren Verwaltungsarbeit. Im Einzelnen enthalten sie von vorgesetzter Stelle festgelegte, allerdings oftmals variierende Rubriken, in denen mehr oder weniger relevante Vorkommnisse oder Zustände dokumentiert werden. Dies zeigt die Vielfalt von Themen, die in verschiedenen Phasen fester Bestandteil der Berichte waren: Witterungsverhältnisse und Naturereignisse, Landeskultur und Ernteverhältnisse, Industrie,
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der Aufwand an Zeit und Arbeitskraft in keinem Verhältnis zum sachlichen Nutzen der Berichte stünde. In seiner Funktion als Oberpräsident der Rheinprovinz regte Rheinbaben einige Jahre später die erwähnte Umfrage unter den Regierungspräsidenten an, ob die Berichterstattung in dieser Form noch sinnvoll sei, siehe Votum des Innenministers vom 7.7.1911. In: GStA PK, I. HA Rep. 77 Tit. 55, Nr. 5, Bd. 5, Bl. 2–5. So bereits die Einschätzung des Geh. Regierungsrats von Wulfshein vom 24.2.1866. In: GStA PK, I. HA Rep. 77 Tit. 55, Nr. 5, Bd. 5, Bl. 188. Siehe auch Mellies (2008), S. 8 (wie Anm. 3). Die Berichte stellen für das Verständnis der politischen, sozialen, wirtschaftlichen, demographischen und geographisch-meteorologischen Situation im Preußen des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus den einzelnen Regierungsbezirken eine bedeutende Quelle dar, so die Kurzbeschreibung in der Schlagwortrecherche des Geh. Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, siehe http://www.gsta.spk-berlin.de/ [31.5.2018]. Auch Zeitgenossen haben den historiographischen Wert dieser Berichte nicht verkannt. Regierungspräsident Max von Sandt (Aachen), der sich in seiner Stellungnahme 1911 wie die meisten seiner Amtskollegen für die Abschaffung der Quartalsberichte zwecks Verringerung des Schreibwerks aussprach, gestand ein, dass »diesen Berichten noch ein gewisser Wert beigemessen werden [kann], indem sie eine Fülle von Material zusammentragen, das für eine etwaige spätere Geschichtsschreibung vielleicht von Bedeutung ist«, siehe Bericht vom 15.9.1911. In: GStA PK, I. HA Rep. 77 Tit. 55, Nr. 5, Bd. 5, Bl. 99f.
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Gewerbe und Handel, Preisentwicklungen von landwirtschaftlichen und gewerblichen Produkten, Kurse von Wertpapieren und Währungen, Arbeiter- und Beschäftigungsverhältnisse, Wohlstandsverhältnisse und Bevölkerungsentwicklung, Gesundheitszustände und Tierseuchen, Wohltätigkeitsarbeit der Bürger und Organisationen, Wirkungen der Gesetzgebung, Aufgaben und Organisation der Verwaltung, Kassenstände der Behörden, Steuern und Abgaben, kommunale Angelegenheiten, öffentliches Bauwesen, Verkehr und Kommunikation (Post, Telegraphie), Kirchen- und Schulwesen, Domänen und Forsten, Bergbau, militärische Verhältnisse, Grenzsachen, besondere Vorfälle und Verhältnisse im angrenzenden und im entfernten Ausland, Unglücksfälle und Katastrophen, Verbrechen und Suizide, öffentliche Stimmungen und ihre Träger (Parteien, Verbände und Vereine, Presse), Wahlen der Parlamente, Kreistage und der Kommunalorgane, patriotische Aktivitäten der Bevölkerung, Festveranstaltungen und Jubiläen. Die Aufstellung ließe sich leicht um weitere Rubriken erweitern. Die Zeitungsberichte erweitern unsere Kenntnisse vor allem in Angelegenheiten der Daseinsvorsorge der Verwaltung, also den Aufbau der Infrastruktur im umfassendsten Sinne, im Einzelnen der Bau von Straßen, Eisenbahnen, Krankenhäusern, Schulen, Kirchen, die Gewährleistung von Volksschulbildung und Gesundheitsversorgung der Bevölkerung, die Bereitstellung der Energieversorgung durch Wasser, Gas und Strom, der Aufbau der städtischen Kanalisation und die Verbesserung der hygienischen Verhältnisse, die Bekämpfung von Epidemien und Viehseuchen, Notständen und vieles mehr. Darüber hinaus werden Themen der »großen Politik« behandelt, sofern sie sich auf die Angelegenheiten des Bezirks beziehen, hier vor allem die Wirkung der Gesetzgebung, die Wahlen zum Reichstag und Landtag, die Arbeit der politischen Parteien, in den letzten Jahrzehnten sind Mitteilungen über die Aktivitäten der Sozialdemokratie und der Fortschrittspartei bzw. der Freisinnigen Partei, aber auch der Vereine vorherrschend, daneben wird immer wieder Bezug genommen auf die Wirkung internationaler Krisen in der Bevölkerung. Insgesamt geben die Berichte Einblick in die Ideen und Vorstellungswelten der Bezirksbeamten und erlauben Rückschlüsse auf das Verwaltungshandeln und die Interessenpolitik bzw. Interessenkommunikation, denn die Zeitungsberichte erwiesen sich als ein wichtiges Medium, um Anliegen der Verwaltungen und Interessen ihrer Bevölkerungen, Unterbehörden, Korporationen, Gewerbetreibenden oder Landwirten gegenüber den Berliner Zentralbehörden zu artikulieren.35 Manche der Mitteilungen erscheinen eher nebensächlich und aus heutiger Sicht von geringer Bedeutung, doch schärfen sie den Blick auf die Leistungen der Staatsverwaltung insbesondere in Bezug auf die heute oft als selbstverständlich erachtete Daseinsvorsorge und stellen die administrativen Maßstäbe ihrer Zeit in den Mittelpunkt, wodurch sich manche Forschungsperspektiven und Zeitdiagnosen durchaus bereichern ließen. Mit gutem Recht könnte man meinen, dass auch die Welt des späten 19. Jahrhunderts besser verstanden werden kann, wenn man sie nicht zu sehr mit heutigen Maximen von Demokratie, Wohlstand und sozialer
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Die Analyse der Interessenpolitik bzw. Interessenkommunikation der Regierungspräsidenten in Potsdam war eigentlicher Gegenstand des Forschungsprojekts der DFG; die Ergebnisse werden in einer detaillierten Studie mit umfangreichen statistischen Anhängen veröffentlicht in Stöber (2018) (wie Anm. 4).
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Sicherheit konfrontiert, sondern die enormen Aufgaben und Herausforderungen der damaligen Verwaltungen hervorhebt, deren Maßnahmen in vielerlei Hinsicht innovativ und zugleich wohlstandsfördernd waren. Das in den Berichten hervorstechende Zeitkolorit, die Anschaulichkeit der Lebensverhältnisse der Bevölkerungen, ihrer kulturellen und sozialen Aktivitäten, ihrer Weltanschauungen und Mentalitäten zeichnen ein mitunter differenziertes Bild einer Epoche, die in ihrer Vielfalt und Komplexität nicht immer angemessen genug beurteilt wird. Hinzu kommt, dass manche aktuelle »Turns« der Geschichtswissenschaften nicht selten dazu führen, dass vermeintlich irrelevante Themen plötzlich auf ein neues oder erstmalig auf Forschungsinteresse stoßen. Ein Beispiel dafür ist die Klima- oder Umweltgeschichte und die Geschichte der (Natur-) Katastrophen, die seit ein bis zwei Jahrzehnten in der deutschen und internationalen Forschung erstaunliche Resonanz findet. In den Zeitungsberichten befinden sich nicht nur regelmäßige Schilderungen der Wetterverhältnisse und Wetteranomalitäten, sondern auch ausführliche Berichte über Naturkatastrophen wie Überschwemmungen oder Notstände, die bislang im Einzelnen weitgehend unbekannt sind. Die kommentierten Berichte könnten als materialreiche Quellengrundlage gewinnbringend für Forschungsarbeiten herangezogen werden.36 Besonders ertragreich erscheinen zwei der ständigen Rubriken, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll, auch weil diese durch gut erhaltene Aktenbestände der Unterbehörden im Kommentarteil der Edition noch erheblich ergänzt und untermauert werden konnten. Es handelt sich dabei zunächst um die nach 1880 umfangreicher ausfallende Berichterstattung über die gewerblichen Verhältnisse, die durch regelmäßige Berichte der Gewerberäte bzw. Gewerbeinspektoren ermöglicht werden konnte und die vor dem Hintergrund der »Neuen Wirtschaftspolitik« Bismarcks das wachsende Bedürfnis nach Informationen über diesen Bereich widerspiegelt. Die Mitteilungen über Handel und Gewerbe des Bezirks Potsdam dokumentieren nicht nur die enorme Dynamik der Industrieregion um Berlin im ausgehenden 19. Jahrhundert, sondern auch die gewerbliche Lage in den Randgebieten des Bezirks und beleuchten zugleich die besondere Bedeutung von regionalen Gewerbezentren (Clustern). Der Informationswert über Konjunkturen und wirtschaftliche Krisen, über technische Innovationen, über Beschäftigungsverhältnisse und Streiks sowie Geschäftslagen der Unternehmen ist beträchtlich, und er betrifft nicht nur die schillernden Namen wie Siemens, Borsig, AEG, Daimler oder Schwartzkopff in den Berliner Vororten, sondern auch heute wenig oder gänzlich unbekannte Firmen in den kleineren Industriestädten, wie zum Beispiel Rathenow mit seinen unzähligen optischen Betrieben, Luckenwalde mit der Tuchund Hutindustrie, die eisenverarbeitenden Betriebe in Eberswalde oder die vielfältige
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Ein Beispiel ist die Berichterstattung über die Überschwemmung der Elbe im Jahr 1888, die aufschlussreiche Erkenntnisse über das Katastrophenmanagement seiner Zeit ermöglicht (Zeitungsbericht vom 8.6.1888). Siehe zuletzt z.B. Ronald D. Gerste: Wie das Wetter Geschichte macht: Katastrophen und Klimawandel von der Antike bis heute. 4. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta 2016; Ein spezielles Ereignis aus der preußischen Geschichte ist unter dem Aspekt der Katastrophenforschung untersucht von Albrecht Hoppe: Der Notstand von 1867/68 in Ostpreußen als Forschungsproblem. In: Jahrbuch für die Geschichte Mittelund Ostdeutschlands, 61. Jg. 2015, S. 169–200.
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Werkslandschaft in Brandenburg an der Havel, worüber bisher vergleichsweise wenig geforscht worden ist. Darüber hinaus geben die Berichte Auskunft über gefährdete oder untergehende Branchen, wie die kleinen Webereien in Zinna oder Bernau oder die Glashütten in den ländlichen Regionen, die nach und nach ihren Betrieb einstellten.37 Bei der zweiten Rubrik handelt es sich um regelmäßige Mitteilungen über die Gesundheitsverhältnisse von Mensch und Tier, die sich auf zumeist umfangreiche Berichte der Kreisärzte sowie Veterinärärzte stützen und einen außerordentlich tiefen Einblick in die Sphäre der Hygiene, der Krankheiten und Seuchen bietet und damit zugleich die teilweise erschreckenden Zustände z.B. der Wohnverhältnisse ärmerer Bevölkerungsschichten, der Dorfschulen oder Gewerbebetriebe, der Nahrungsmittelqualität und der Trinkwasserversorgung herausstellen. Es handelt sich dabei um Aufgabenbereiche der administrativen Daseinsvorsorge, die infolge wissenschaftlicher bzw. medizinischer Erkenntnisgewinne und staatlicher Investitionen über die Jahrzehnte immer vorteilhafter gesteuert und verbessert werden konnten. Die gut erhaltenen Berichte der Ärzte stellen dabei in ihrer Anschaulichkeit eine überaus faszinierende Quelle dar, die zur Ergänzung des edierten Berichts der Regierungspräsidenten im Kommentarteil herangezogen und oft passagenweise zitiert sind, weil sie Hintergrundinformationen und weiterführende, teilweise auch substantiellere Hinweise enthalten, die im Hauptzeitungsbericht nicht mitgeteilt wurden.38
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Dazu beispielhaft die Hufnagelfabrik Moeller & Schreiber in Eberswalde, die in der Hochund zugleich Endphase des Zeitalters der Pferde wegen der patentierten maschinellen Fertigung von Hufnägeln eine der produktivsten Betriebe dieser Branche in Europa war und zeitweise ca. 1.500 Arbeiter beschäftigte. Zur Bedeutung des Pferdes als Verkehrsmittel gegen Ende des 19. Jahrhunderts siehe Ulrich Raulff: Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung. 5. Aufl. München: C.H. Beck 2016. Zur Geschichte der Provinz Brandenburg im 19. Jahrhundert jetzt Wolfgang Radtke: Brandenburg im 19. Jahrhundert (1815–1914/18). Die Provinz im Spannungsfeld von Peripherie und Zentrum. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2016 (= Brandenburgische Geschichte in Einzeldarstellungen, Bd. 5. Bibliothek der Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Bd. 15). Das Gesundheits- und Fürsorgewesen der Provinz Brandenburg wurde zuletzt von einem Forschungsteam unter Leitung von Kristina Hübener erforscht, siehe u.a. Kristina Hübener / Andreas Ludwig / René Schreiter (Hg.): Soziale Stiftungen und Vereine in Brandenburg. Vom Deutschen Kaiserreich bis zur Wiederbegründung des Landes Brandenburg in der Bundesrepublik. Berlin: Bebra Wissenschaftsverlag 2012 (= Schriftenreihe zur MedizinGeschichte des Landes Brandenburg, Bd. 22). Kristina Hübener / Wolfgang Rose (Hg.): Krankenhäuser in Brandenburg. Vom mittelalterlichen Hospital bis zum Krankenhaus in der Moderne. Berlin: Bebra Wissenschaftsverlag 2007 (= Schriftenreihe zur Medizin-Geschichte, Bd. 16. Einzelveröffentlichung des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, Bd. 5). Wolfgang Hofmann / Kristina Hübener / Paul Meusinger (Hg.): Fürsorge in Brandenburg. Entwicklungen – Kontinuitäten – Umbrüche. Berlin: Bebra Wissenschaftsverlag 2007 (= Schriftenreihe zur Medizin-Geschichte, Bd. 15).
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6. ÜBERLIEFERUNG UND FORSCHUNG Die Zeitungsberichte der Regierungen bzw. Regierungspräsidenten befinden sich für sämtliche Bezirke Preußens vollständig ab 1810 bis 1918 in den Beständen des Königlichen Zivilkabinetts im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem.39 Abschriften sind noch in den jeweiligen Staatsarchiven vorhanden, während die Zeitungsberichte der Landratsämter sowie der Polizeidirektionen der Stadtkreise nur unvollständig und die Berichte der Amtsvorsteher und der Gemeinden allenfalls sporadisch erhalten sein dürften.40 Ältere Bestände vor 1807 liegen nach bisherigen Ermittlungen im Geh. Staatsarchiv PK nur für die Jahre 1797 bis 1806 in geschlossenen Sammlungen vor, während sich Berichte aus dem 18. Jahrhundert noch als Einzeldokumente in Akten unter verschiedenen Sachbetreffs befinden dürften.41 In der historischen Forschung haben die Zeitungsberichte trotz ihrer insgesamt vorteilhaften Überlieferung und der leichten Lesbarkeit der in Kanzleischrift verfassten Texte bisher auffallend wenig Resonanz gefunden. Reinhart Koselleck hat einzelne Berichte in seinem Werk »Preußen zwischen Reform und Revolution« verwendet und ab und an werden sie als Quellengrundlage in landesgeschichtlichen Forschungsarbeiten herangezogen.42
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Es handelt sich um insgesamt 1.023 (!) Aktenbände von zuletzt 36 Regierungsbezirken. Der Gesamtumfang dürfte sicher mehrere hunderttausend doppelseitig beschriebene Blätter betragen, siehe GStA PK, I. HA Rep. 89, Nr. 15753–16776. Weitere Belegexemplare befinden sich in den Beständen der Ministerien. – Der Umfang der Berichte konnte höchst unterschiedlich ausfallen. Die Zeitungsberichte der Regierungspräsidenten in Potsdam beispielsweise variierten in den Jahren 1867 bis 1918 zwischen 2 und 43 doppelseitig beschriebene Blätter im Halbbruch. Der Kabinettsrat Müller gab 1842 ebenfalls die äußerst heterogene Länge von 1 bis 12 Papierbogen an. Zu berücksichtigen ist dabei, dass dem eigentlichen Bericht oft noch statistische Anlagen (Auswanderungszahlen, Nachweise der Bauten, Steuerveranlagung, Sparkasseneinlagen, Handelsstatistiken, Schifffahrtsfrequenzen u.a.) im Umfang von mehreren Bogen beigefügt wurden. Der Gesamtumfang der ausgefertigten Berichte der Potsdamer Regierungspräsidenten im Zeitraum von 1867 bis 1914 beträgt annähernd 3.000 doppelseitig beschriebene Blätter. Im Brandenburgischen Landeshauptarchiv sind die Zeitungsberichte der Landräte und Polizeidirektionen nur für die Zeit ab 1908 vollständig erhalten, während vorangegangene Jahrgänge in unvollständigen Sammlungen lediglich für die Kreise Westhavelland, JüterbogLuckenwalde und den Stadtkreis Potsdam, sowie einige wenige Jahrgänge der Kreise Ruppin und Templin vorliegen. Im Geh. Staatsarchiv in Berlin-Dahlem (X. HA Rep. 6 B) befinden sich weitere Sammlungen für die Kreise Beeskow-Storkow und Westprignitz. Die Berichte der Polizeiverwaltungen, Amts- und Gemeindevorsteher sind nur sporadisch überliefert, ebenso die früheren, vor 1810 erstatteten Berichte der mittleren Behörden. Es ist anzunehmen, dass die Bestände in den Staats- bzw. Landesarchiven der ehemals zu Preußen gehörenden Bundesländer ähnlich unvollständig oder, wie in den polnischen Staatsarchiven, kaum mehr vorhanden sind. GStA PK, I. HA Rep. 96 Geheimes Zivilkabinett, ältere Periode. Reinhart Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848. 3. Aufl. Stuttgart: Klett 1981 (= Industrielle Welt, Bd. 7). Siehe auch z.B. Dirk Mellies: Modernisierung in der preußischen Provinz? Der Regierungsbezirk Stettin im 19. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck &
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Diese auffallend geringe Berücksichtigung ist vor allem auf die unzureichende Editionslage zurückzuführen, denn bislang sind lediglich die Berichte der beiden hessischen Regierungsbezirke Wiesbaden und Kassel in allerdings unkommentierten Ausgaben, sowie eine Auswahl von Berichten aus dem Regierungsbezirk Liegnitz als geschlossene Sammlungen publiziert worden. Einzelne Berichte wurden noch in älteren Quellensammlungen abgedruckt.43 Die fehlende editorische Überlieferung erschwert den effektiven Zugriff auf die in den Archiven befindlichen unerschlossenen Schriftmengen von enormem Umfang, die in einem überschaubaren Zeitrahmen nur angemessen genutzt werden können, wenn einigermaßen exakte chronologische Vorstellungen über die Forschungsfragen bestehen. Editionen mit detaillierten Registern könnten dagegen eine optimale Benutzbarkeit dieser Archivbestände gewährleisten. DIE KOMMENTIERTE EDITION DER »ZEITUNGSBERICHTE« POTSDAMER REGIERUNGSPRÄSIDENTEN (1867–1914) Gegenstand der nunmehr abgeschlossenen Edition sind die Zeitungsberichte der Potsdamer Regierungspräsidenten aus der Zeit von 1867 bis 1914. Dieser Zeitraum ist sowohl als allgemeine Epochenabgrenzung, als auch wegen der erwähnten formalen Festlegungen von 1867 und der Unterbrechung der Berichterstattung durch den Kriegsausbruch 1914 begründet. Die Berichte wurden bis auf die ersten Jahrgänge und einige weitere Berichte über die Abschriften des Landeshauptarchivs in Potsdam transkribiert, die fehlenden über die Ausfertigungen im Geh. Staatsarchiv in Berlin.44 Es handelt sich dabei um insgesamt 186 Vierteljahresberichte mit jeweils sehr unterschiedlicher Länge zwischen 2 und bis zu 43 doppelseitig beschriebenen Blättern, die vollständig, also auch mit ihren oft umfangreichen statistischen Anlagen in die Edition aufgenommen wurden. Der Gesamtumfang des Quellentextes beträgt 2.836 Druckseiten inkl. der Kom7.
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Ruprecht 2012 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 201). Rudolf Stöber: Die erfolgverführte Nation. Deutschlands öffentliche Stimmungen 1866 bis 1945. Stuttgart: Steiner 1998. Bernd Münchow-Pohl: Zwischen Reform und Krieg. Untersuchungen zur Bewußtseinslage in Preußen 1809–1812. Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht 1987 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 87). Thomas Klein (Hg.): Die Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Kassel an Seine Majestät 1867–1918. 2 Tle. Die Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Wiesbaden an Seine Majestät 1867–1918. 2 Tle., Darmstadt: Hessische Historische Kommission und Historische Kommission für Hessen 1993–96 (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, Bd. 95, 106); weitere Zeitungsberichte wurden ediert in: http://www.regierungs bezirk-liegnitz.de (1810–15) [22.5.2018]; Hermann Granier (Hg.): Berichte aus der Berliner Franzosenzeit 1807–1809. Nach den Akten des Berliner Geheimen Staatsarchivs und des Pariser Kriegsarchivs. Leipzig: Hirzel 1913 (= Publikationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven). C. Grünhagen: Monatsberichte des Ministers v. Hoym über den schlesischen Handel 1786 bis 1797. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens, 28. Jg. 1894, S. 341–410. Abschriften und Ausfertigungen sind im Wortlaut völlig identisch.
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mentierung. Die Dokumente erscheinen in 3 Teilbänden und werden durch einen umfangreichen Anlagen- bzw. Registerband ergänzt.45 Die edierten Zeitungsberichte bedurften einer besonderen Sorgfalt bei der quellenkritischen Prüfung und einer Begleitung durch einen angemessenen Sachkommentar, der aus mehreren Gründen erforderlich war. Obligatorisch für eine wissenschaftliche Quellenedition ist zunächst der Nachweis von Personen, Ortsnamen, Gesetzen und unbekannten Begriffen, sowie die Erläuterung von unverständlich erscheinenden Sachverhalten. Darüber hinaus stellt der Kommentar ein unverzichtbares Hilfsmittel dar, um die in den Berichten mitgeteilten Aussagen zu überprüfen, denn diese sind infolge der oft kurzfristigen Meldungen in sehr vielen Fällen ungenau und pauschalisiert, äußerst selektiv und bei den konkreten Angaben nicht selten unkorrekt. Dies soll im Folgenden an einigen Beispielen erläutert werden. Die Notwendigkeit einer Überprüfung betrifft zunächst einmal die Angaben vorläufiger und noch unbereinigter Zahlen infolge der in der Regel unverzüglich zu erstattenden Berichte, wie die Aufstellung von Haushaltsplänen, von Sonderetats wie die der Forsterträge oder die Kosten der Kirchen-, Pfarr- und Schulbauten, die Veranschlagung von Steuereinnahmen, die Angaben von Bevölkerungs- und Auswandererzahlen, die Zahlen der Todesfälle bei schweren Epidemien, die Zahl der bedeutenden Brände, die Wahlergebnisse, die Zahl der Streiks, und andere derartige Angaben, die mit den in der Regel erst Monate später erarbeiteten und publizierten amtlichen Statistiken oft nicht übereinstimmen und nicht selten sogar erheblich davon abweichen. Hinzu kommen nicht wenige unkorrekte Angaben bei Datierungen oder bei der Nennung von Orts- und Personennamen u.a.m.46 Die Ungenauigkeiten betreffen aber auch die Beurteilung von Sachverhalten, wie z.B. die vorläufige Einschätzung von Ernteergebnissen, die in der Regel im dritten Quartalsbericht des Jahres enthalten sind und auf relativ ungenauen und vorläufigen Schätzungen der landwirtschaftlichen Vereine beruhen. Eine besonders auffällige Fehleinschätzung lag bei den Beurteilungen der Getreideerträge aus einem Erntejahr nach der Jahrhundertwende vor, die von dem Berichterstatter als insgesamt unterdurchschnittlich eingeschätzt wurde. Anhand der im darauffolgenden Jahr publizierten Statistiken ließ sich jedoch eindeutig nachweisen, dass diese Ernte zu den besten der vergangenen zehn Jahre gehörte. Viele ähnliche Beispiele könnten an dieser Stelle angeführt werden.47 Die Anga-
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Die Register sind unterteilt in Sach-, Personen- und geographische Verzeichnisse (Orte, Länder, Kreise, Gewässer), hinzu kommen diverse Spezialregister (Firmen, Gesetze, Eisenbahnlinien). Der Anlagenband enthält ein vollständiges Verzeichnis der verwendeten Archivalien aus drei Archiven (Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Landesarchiv Berlin, Geh. Staatsarchiv PK) und der Forschungsliteratur. Die statistischen Angaben wurden hauptsächlich durch die Auswertung der amtlichen Reihen des Statistischen Bureaus verifiziert und ggf. korrigiert, siehe Preußische Statistik. Amtliches Quellenwerk. Hg. in zwanglosen Heften vom Königlichen Statistischen Bureau in Berlin, 305 Hefte in 368 Heften. Berlin: Landesamt 1861–1934. Neu hg. und eingel. von Wilhelm Treue und Karl Heinrich Kaufhold. Microficheausgabe. Frankfurt/M.: Keip 1988. Im Zeitungsbericht des Regierungspräsidenten von Moltke vom 31.10.1902 heißt es: »Kühles Wetter, viele Regentage und nur vereinzelt heller Sonnenschein, welchem gewöhnlich sehr bald Gewitterbildung und plötzlicher Temperaturwechsel folgten, bildeten den Charakter
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ben in den Hauptzeitungsberichten sind zudem selektiv in nahezu allen Bereichen, zum Beispiel bei der Angabe von bedeutenden Streiks, bei Aufzählungen von öffentlichen Bauten aller Art, bei der Angabe von Epidemien und Viehseuchen, Unglücksfällen, Verbrechen, Bränden usw. Es stellt sich heraus, dass die meist vollständigeren Berichte der Unterbehörden entweder gar nicht vorlagen oder diese nicht systematisch ausgewertet bzw. vermeintlich herausragende Betreffs willkürlich für den Hauptbericht ausgewählt wurden. Der Kommentar hat die Funktion, einen ungeprüften Eingang dieser oft falschen oder ungenauen Angaben in die Forschung zu verhindern, um den Quellenwert bzw. die Solidität dieses ausgesprochen ergiebigen Materials nicht zu verringern. Insofern war die systematische Auswertung der statistischen Werke der Zeit erforderlich, ebenso wie die Heranziehung der weiteren Berichterstattung der Unterbehörden sowie sachbezogener Akten, die im zeitlichen Umfeld entstanden sind und die Auskunft über den edierten Zeitungsbericht hinaus geben können. Somit konnten nicht nur die Hintergründe der oftmals lediglich oberflächlich behandelten Themen beleuchtet, sondern zugleich die Herkunft der jeweiligen Berichtspassagen aufgezeigt werden. Dies erschien besonders deshalb von großer Wichtigkeit, weil die Vorberichte nicht selten wörtlich in den Bericht des Regierungspräsidenten übernommen wurden, was zu teilweise kuriosen Feststellungen führte. Zum Beispiel wurden gelungene Berichtsabschnitte eines Amtsvorstehers über Wetter- und Ernteverhältnisse über den Bericht des Landrats wörtlich in den Bericht des Regierungspräsidenten übernommen, wodurch die ursprünglich für einen Amtsbezirk gedachte Mitteilung repräsentativ für den gesamten Bezirk verwendet wurde.48 Hinzu kommt, dass die im Kommentar dokumentierte Vermittlung bzw. Weitergabe von Informationen vom Amtsvorsteher über den Landrat bis an das Regierungspräsidium Einblick in die Auswahl und Vermittlung von Interessen geben kann. Denn die Inhalte der Zeitungsberichte der Regierungspräsidenten, so wie sie letztlich an den König und an das Innenministerium gelangten, wurden
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des diesjährigen Sommers. Infolgedessen sind auch die anfangs berechtigten Hoffnungen auf eine gute Ernte zum großen Theil nicht in Erfüllung gegangen. Die Getreideernte kann, soweit sich das zur Zeit überblicken läßt, als kaum mittlerer Güte bezeichnet werden.« – Nach den amtlichen statistischen Angaben des darauffolgenden Jahres war die Roggenernte jedoch mit durchschnittlich 1.524 kg/ha (488.000 t) ausgesprochen ergiebig, auch die Weizenernte wies mit 2.404 kg/ha den höchsten Durchschnittsertrag der vorangegangenen zehn Jahre auf. Das gleiche galt für das Sommergetreide, hier wurde der Ertrag an Gerste mit 2.035 kg/ha im Vergleich der letzten zehn Jahre lediglich in den beiden vorangegangenen Jahren leicht übertroffen, während derjenige an Hafer mit 1.783 kg/ha ebenfalls einen Spitzenwert erreichte, vgl. die Angaben in: Preußische Statistik, Nr. 180 (1903), S. 2f., 8f. und Preußische Statistik, Nr. 170 (1902), S. XIX (wie Anm. 46). Im Zeitungsbericht vom 30.4.1898 wurde der Ernte- und Witterungsbericht des Amtsvorstehers in Fürstenwalde wörtlich über den Bericht des Landrats auch für den Hauptzeitungsbericht verwendet. Bei diesem zufällig nachgewiesenen Beleg dürfte es sich kaum um einen Einzelfall handeln. An zahlreichen Stellen konnte die wortgenaue Übernahme von Abschnitten aus den Berichten der Landräte und Polizeidirektionen nachgewiesen werden. Zur Verwertung der Berichte der Unterbehörden siehe ausführlich Stöber (2018), S. 155– 177 (wie Anm. 4).
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über den Gang der Behörden mehrfach gefiltert und letztlich in enger Auswahl und in komprimierter Weise zusammengefasst, womit sie gleichsam nur das Ende einer Berichterstattungskette bilden und lediglich begrenzt Auskunft über tatsächliche Hintergründe von Sachverhalten oder Ereignissen bieten können. Denn Interessen, soweit sie in den Akten sichtbar werden, wurden zunächst »ganz unten« artikuliert, z.B. von streikenden Arbeitern gegenüber den Werksleitern in den Betrieben, woraufhin überhaupt erst die Behörden bzw. die Polizei eingeschaltet wurden und eine Berichterstattungskette entstand. Interessen wurden geäußert in den Büroräumen des Amtsvorstehers, wenn dort aufgebrachte Landwirte sich über die ungünstige Entwicklung der Agrarpreise oder über Arbeitskräftemangel beschweren, oder von Anliegern großer Bauprojekte wie beispielsweise den Kanalbauten, weil diese mitunter dazu führten, dass der Grundwasserspiegel anstieg und die Wiesen der Landwirte oder die Gärten der Anwohner unter Wasser setzten, oder auch, weil den Bewohnern der Freizeit- und Erholungswert verloren ging, so wie es z.B. beim Bau des Teltowkanals in zahlreichen Eingaben an die Behörden nachgewiesen werden kann. Interessen wurden von Hausbesitzern in Schreiben an das Landratsamt artikuliert, weil diese keine Zufahrt zur neuangelegten Chaussee erhielten, oder von den ersten Autofahrern um die Jahrhundertwende, die die Schranken der Gebührenstationen an den Chausseen durchbrachen, weil diese ihnen den Fahrspaß verleideten, und viele ähnliche Beispiele mehr. Man ist erstaunt über das enorme zivilgesellschaftliche Potential in nahezu allen Schichten der Bevölkerung, womit sich einmal mehr das klischeehafte Bild von der Untertanengesellschaft des Kaiserreichs als hinfällig erweist.49 Doch die angeführten Beispiele weisen zugleich darauf hin, dass die tatsächlichen Hintergründe der in den Hauptzeitungsberichten oft nur knapp erwähnten Vorfälle vielleicht noch von manch eifrigen und energischen Amtsvorstehern oder Polizeibeamten an den Landrat vermittelt wurden, dieser sich dann aber ähnlich wie der zuständige Referendar in Potsdam bei der Abfassung des Berichts an den König im Sinne seiner Karriereambitionen sehr genau überlegt haben dürfte, wie er die Vorfälle an obere Instanzen weitervermittelt, nämlich oftmals in stark gemäßigter Weise und entsprechend verringerter Anschaulichkeit. Alles in allem lässt sich erahnen, dass nur wenig von dem in Berlin ankam, was tatsächlich vorgefallen war. Der Kommentarteil hat die Funktion, diese Informationen bzw. den gesamten Kommunikationsprozess so weit wie möglich aus den Akten zu dokumentieren bzw. zu rekonstruieren, womit die weitere Nutzung bzw. Verwertung dieser Informationen im Hauptzeitungsbericht für Forschungsarbeiten erheblich begünstigt werden dürfte. Die jetzt im Druck befindliche mehrbändige Edition stellt der historischen Forschung eine ungewöhnlich materialreiche Quelle zur Verfügung, die die landesgeschichtlichen Kenntnisse der ehemals zu Preußen gehörenden Länder des nord- und ostdeutschen Raumes erheblich bereichern dürfte und zu weiteren editorischen Forschungen
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Zuletzt in modifizierender Sicht Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, 1849–1914. 2. Aufl. München: C.H. Beck 2006. Thomas Nipperdey: War die Wilhelminische Gesellschaft eine Untertanen-Gesellschaft? In: Thomas Nipperdey: Nachdenken über die deutsche Geschichte. Essays. 2. Aufl. München: C.H. Beck 1986. S. 172–185.
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anregen könnte. Angesichts des Grundtenors der neueren Preußen-Forschung, die die Spezifika von Ort und Region als notwendig für eine vielschichtige und facettenreiche Erforschung der Geschichte Preußens betont, erscheinen grundlegende Quellenarbeiten zur Geschichte der Provinzen mehr denn je von großer Relevanz.50 Zusammenfassung Der Beitrag behandelt die sogenannten Zeitungsberichte der preußischen Verwaltungsbehörden, die seit dem frühen 18. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkrieges in formalisierter Weise den allgemeinen Informationsaustausch zwischen der unteren Verwaltungsebene des Staates, den Landratsämtern und Bezirksregierungen zu den zentralen Instanzen in Berlin regelten. Hingewiesen wird auf eine im Druck befindliche kommentierte Edition der Zeitungsberichte der Potsdamer Regierungspräsidenten 1867–1914. Abstract The article describes the so-called Zeitungsberichte (administrative reports) of the Prussian administrative authorities, which from the early 18th century until the end of World War I formally regulated the general flow of information between the lower administrative authorities of the state, the district administration offices (Landräte) and district governments (Regierungsbezirke) to the central authorities in Berlin. Reference is made to an annotated edition of the »Zeitungsberichte« of the district presidents (Regierungspräsidenten) in Potsdam 1867–1914. Korrespondenzanschrift Albrecht Hoppe, M.A., Roennebergstraße 4, 12161 Berlin Email: [email protected] Albrecht Hoppe ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Projekt »Politische Interessenkommunikation 1867–1914« der Universität Bamberg und des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, Bearbeiter und Mitherausgeber der Edition der Zeitungsberichte Potsdamer Regierungspräsidenten 1867–1914.
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Siehe Wolfgang Neugebauer: Wozu preußische Geschichte im 21. Jahrhundert? Berlin: Duncker & Humblot 2012 (= Lectiones Inaugurales, Bd. 3), S. 44f. Christopher M. Clark: Preußenbilder im Wandel. In: Historische Zeitschrift, 293. Jg. 2011, Nr. 2, S. 307–321, hier S. 320.
Holger Böning
»LÜGEN-PRESSE«, »FAKE-NEWS« UND »MEDIEN-MAINSTREAM«. GEDANKEN ZU EINIGEN NEUERSCHEINUNGEN ZUM THEMA UND ZUM ZUSTAND DER GEGENWÄRTIGEN PRESSEBERICHTERSTATTUNG »Dass Journalisten Lügen nicht entlarven und den wahren Bedeutungsinhalt nicht aufdecken, zeigt nur, wie schlecht sie sind oder dass sie sich bei der Ausübung ihres Berufs immer weniger Mühe geben beziehungsweise unter immer größeren Zeitdruck arbeiten müssen.«1 »Ein Tipp für autoritäre Regime: Wenn ihr mit Online-Zensur durchkommen wollt, klassifiziert einfach alle Artikel, die euch nicht gefallen, als Fake News. Niemand im Westen wird sich je darüber beschweren.«2 Denk, Peter: Lügenpresse. Gelnhausen/Roth: J.K. Fischer-Verlag 2015, 298 S. Gordeeva, Daria: Russlandbild in den deutschen Medien – Deutschlandbild in den russischen Medien. Konstruktion der außenpolitischen Realität in den TV-Hauptnachrichtensendungen. (= Münchener Schriften zur Kommunikationswissenschaft, Nr. 8.) In: Michael Meyen (Hg.): Medienrealität 2017: https://medienblog.hypotheses.org/1001 (20.3.2018) Haller, Michael: Die »Flüchtlingskrise« in den Medien. Tagesaktueller Journalismus zwischen Meinung und Information. Eine Studie der Otto Brenner Stiftung. Frankfurt am Main: Otto Brenner Stiftung 2017, 176 S. Kaisig, Kevin: »The story that gets told depends on who is telling it«. Eine Diskursanalyse zur Berichterstattung über den Kampf gegen den IS in transnationalen Medien. (= Münchener Schriften zur Kommunikationswissenschaft, Nr. 11.) In: Michael Meyen (Hg.): Medienrealität 2018. https://medienblog.hypotheses.org/1374 (18.3.2018) Keil, Lars-Broder / Kellerhoff, Sven Felix: Fake News machen Geschichte. Gerüchte und Falschmeldungen im 20. und 21. Jahrhundert. Berlin: Ch. Links Verlag 2017, 325 S. Krüger, Uwe: Mainstream. Warum wir den Medien nicht mehr trauen. München: C.H. Beck Verlag 2016, 174 S. Krüger, Uwe: Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und AlphaJournalisten – eine kritische Netzwerkanalyse. Köln: Herbert von Halem Verlag 2013, 375 S. Lilienthal, Volker / Neverla, Irene (Hg.): Lügenpresse. Anatomie eines politischen Kampfbegriffs. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2017, 320 S. Seidler, John David: Die Verschwörung der Massenmedien. Eine Kulturgeschichte vom Buchhändler-Komplott bis zur Lügenpresse. Bielefeld: transcript 2016, 368 S. 1
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Ulrich Tilgner: Viele Wahrheiten sind zu unangenehm. In: Jens Wernicke: Lügen die Medien? Propaganda, Rudeljournalismus und der Kampf um die öffentliche Meinung. Frankfurt a.M.: Westend 2017, S. 63–75, hier S. 72. Evgeny Morozow: Fake News als Geschäftsmodell. Wer das Problem lösen will, muss den digitalen Kapitalismus überdenken. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 15 vom 19.1.2017, S. 9.
»Lügen-Presse«, »Fake-News« und »Medien-Mainstream«
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Teusch, Ulrich: Lückenpresse. Das Ende des Journalismus, wie wir ihn kannten. Frankfurt am Main: Westend Verlag 2016, 224 S Unterberger, Andreas: Zwischen Lügenpresse und Fake News. Eine Analyse. Wien: Frank & Frei 2017, 137 S. Wernicke, Jens: Lügen die Medien? Propaganda, Rudeljournalismus und der Kampf um die öffentliche Meinung. Frankfurt am Main: Westend Verlag 2017, 359 S. MASSENMEDIEN UND VERTRAUENSKRISE »Ich will nicht den Eindruck haben, dass alle das Gleiche schreiben, das macht misstrauisch.«3 »[...] wie sähe es denn aus, wenn es in der ›Tagesschau‹ auf einmal zwei Meinungen gäbe? Wo bliebe die edle Aura der Objektivität?«4 Die Klage über Entfremdung zwischen wichtigen Teilen der deutschen Presse und einem offenbar in den vergangenen Jahren gewachsenen Teil ihrer Rezipienten ist bis in höchste politische Kreise gedrungen. Kaum eine der hier vorgestellten Studien kommt ohne das Zitat einer Rede aus, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 2014 noch als Außenminister hielt. Er konstatierte eine Blickfeldverengung von Journalisten und fragte: »Reicht die Vielfalt in Deutschland aus? Wenn ich morgens manchmal durch den Pressespiegel meines Hauses blättere, habe ich das Gefühl: Der Meinungskorridor war schon mal breiter. Es gibt eine erstaunliche Homogenität in deutschen Redaktionen, wenn sie Informationen gewichten und einordnen. Der Konformitätsdruck in den Köpfen der Journalisten scheint mir ziemlich hoch. Das Meinungsspektrum draußen im Lande ist oft erheblich breiter. Wie viele Redakteure wollen Steuersenkungen, Auslandseinsätze, Sanktionen? Und wie viele Leser?«5 Als Schlüssel für die Akzeptanz von Medien bezeichnete Steinmeier das Gefühl der Leser, nicht einer einzelnen Meinung ausgesetzt zu sein. Reaktionen auf Misstrauen gegenüber der Presse hat es zahlreiche auch von Journalisten gegeben, indem man sich selbst in seriösen Zeitungen auf möglichst groteske Verschwörungstheorien und absurde »Fake-News« einschoss und damit, wie Uwe Krüger meint, alle jene skeptischen Nutzer vor den Kopf gestoßen habe, die argwöhnten, die offensichtlichen Einseitigkeiten und der frappierende Gleichklang bei bestimmten Themen könnte etwas mit informeller Kommunikation, Absprachen und Druck auf einer öffentlich nicht sichtbaren politisch-medialen Hinterbühne zu tun haben (Krüger 2016, S. 16f.).6 In den vergangenen fünf Jahren sind eine Reihe von Büchern zum Themenkomplex »Lügenpresse« und »Fake News« erschienen, von denen zwar manche mit heißer Nadel produziert wurden, in deren Argumentationen aber bestimmte Übereinstimmungen zu finden sind. In nahezu allen erscheinen die außenpolitische Berichterstattung, wie sie die 1.
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Rede von Außenminister Steinmeier anlässlich der Verleihung der Lead Awards in Hamburg, 14. November 2014: https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/141115-rede-bmanlaesslich-verleihung-lead-awards/266898 (15.3.2018). Walter van Rossum: Ja, lügen die Medien denn nun oder nicht? In: Wernicke (2017) S. 23f. (wie Anm. 1). Rede von Außenminister Steinmeier (wie Anm. 2). Um den Anmerkungsapparat zu entlasten wird im Folgenden aus den in die Sammelrezension aufgenommenen Büchern auch direkt oder auf »amerikanische« Weise zitiert.
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NATO-Erweiterung in Richtung Osten begleitete und nach dem Empfinden aller Autoren mit der Konstruktion eines neuen Feindbildes »Russland und Putin« einherging sowie das Agieren der Massenmedien in der sogenannten Flüchtlingskrise als Auslöser eines erhöhten Misstrauens bei einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung, in einigen spielt auch die Finanzkrise eine Rolle oder die Krise der europäischen Union. Vorgestellt werden hier einige der wichtigeren Neuerscheinungen zum Thema, insbesondere auch solche, die sich aus dem Kreis der Kommunikationswissenschaften damit befassen. Für alle gilt, dass sie eine einförmige Berichterstattung in den zentralen deutschen Medien und einen Verlust an Vielfalt der Meinungen und Sichtweisen beklagen.7 Nun dürfte es vielen, die von Lügenpresse brüllen, weniger um die Meinungsvielfalt als darum gehen, dass sie ihre eigene Meinung nicht wiederfinden. Gleichwohl: Dass in den vergangenen Jahren die Massenmedien unter Druck geraten sind und mit einer Vertrauenskrise zu kämpfen haben, wird mit unterschiedlichsten Zahlen und Umfrageergebnissen belegt und scheint unbestreitbar zu sein, auch wenn eine Langzeitstudie der Universität Mainz im Januar 2018 suggeriert, dass Entwarnung gegeben werden könne. Geklärt werden sollte durch die Studie, ob das Vertrauen zwischen den Medien und dem Publikum erodiere sowie ob und inwieweit die allgemeine Glaubwürdigkeit von Presse und Rundfunk schwinde. Durch 2015 begonnene »bevölkerungsrepräsentative Trendbefragungen«, deren vierte »Welle« im Winter 2017 erfolgte, will man herausgefunden haben, dass inzwischen wieder 42 Prozent der Befragten meinten, den Medien »eher / voll und ganz vertrauen« zu können. 41 Prozent gäben ein »teils teils« von sich, 17 Prozent aber seien der Überzeugung, den Medien »eher nicht / überhaupt nicht vertrauen« zu können. In den Jahren 2015 und 2016, die hier zum Vergleich herangezogen werden, hätten sich die Befragten zu derselben Frage – »Wie ist das, wenn es um wirklich wichtige Dinge geht – etwa Umweltprobleme, Gesundheitsgefahren, politische Skandale. Wie sehr kann man da den Medien vertrauen?« –zu 28 bzw. 41 Prozent für die Alternative »eher / voll und ganz vertrauen« und zu 19 bzw. 22 Prozent für das »eher nicht / überhaupt nicht vertrauen« entschieden. Auch wenn der Autor dieser Zeilen nicht verhehlen will, ein gewisses Missbehagen gegenüber solchen angeblich repräsentativen Befragungen zu hegen – niemals würde er selbst eine so gestellte, viel zu wenig differenzierte Frage beantworten, schon gar nicht am Telefon –, scheint, wenn nicht eine neue, schlecht bezahlte Hilfskraft für differierende Ergebnisse verantwortlich ist, jener Teil der Bevölkerung größer geworden zu sein, 7
Da hier eine Beschränkung auf einige Titel unvermeidlich ist, sei auf einige weitere Neuerscheinungen hingewiesen. Große Beachtung haben verschiedene Publikationen von Udo Ulfkotte, 1986 bis 2003 politischer Redakteur im Ressort Außenpolitik bei der FAZ, gefunden. Siehe etwa Udo Ulfkotte: Volkspädagogen. Wie uns die Massenmedien politisch korrekt erziehen wollen. Rottenburg: Kopp Verlag 2016. Zu den Vorwürfen gegen Ulfkotte gehört der der Islamophobie, regelmäßig publizierte er in Organen der Neuen Rechten. Siehe auch Udo Ulfkotte: Gekaufte Journalisten. Wie Politiker, Geheimdienste und Hochfinanz Deutschlands Massenmedien lenken. Rottenburg: Kopp Verlag 2014, eine Publikation die manche interessante, aber laut FAZ nicht zuverlässige Information aus dem journalistischen Alltag bei dieser Zeitung enthält, etwa auch zu Ulfkottes engen Kontakten als Journalist zum Bundesnachrichtendienst und seinen Erfahrungen als Kriegsberichterstatter. Einen Eindruck, wie seriös seine Berichte sind, bietet: https://www.youtube.com/watch?v= App8hfb_e1U (26.4.2018).
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der den Massenmedien »eher« oder »voll und ganz vertrauen« mag. Nun wäre hierzu eigentlich zu bemerken, dass ein »eher« vertrauen etwas anderes bedeutet als ein »voll und ganz vertrauen«, auch könnte man fragen, wie weit ein »voll und ganz vertrauen« eigentlich von »blind vertrauen« entfernt ist? Weniger weit auseinander liegt das »nicht« oder »überhaupt nicht vertrauen«, zu dem sich 2015/2016/2017 19/22/17 Prozent der Befragten bekennen. Liest man den Kommentar der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu diesen Ergebnissen, der in der Schlagzeilen-Feststellung mündet: »Lügenpresse-Hysterie ebbt ab«, so drängt sich der Verdacht auf, dass an die Befragung mit bestimmten Vorannahmen herangegangen worden sein könnte. Ebenso gut ist nämlich auch eine andere Interpretation der vorgelegten Ergebnisse möglich, nämlich, dass als Resultat der Debatten über die Lügenpressenproblematik die Polarisierung zwischen jenen, die der Presse mehr oder weniger Vertrauen entgegenbringen, und denen, die »eher nicht / überhaupt nicht« vertrauen, stärker geworden ist, indem sich 2017 59 Prozent gegenüber 2015 47 Prozent zu einem der beiden Extreme bekennen, die Zahl der »teils, teils«-Vertreter aber von 53 auf 41 Prozent gesunken ist. In jedem Fall wird man feststellen dürfen, dass die öffentliche Debatte über die Glaubwürdigkeit der Medien auf die Meinungsbildung gewirkt hat.8 Wie sehr der Wert solcher Befragungen bei allen grundsätzlichen Zweifeln an ihrer Wissenschaftlichkeit von der Formulierung der Fragen abhängt, zeigen Antworten auf die folgenden drei Thesen, die den Befragten ebenfalls mit der Bitte um Zustimmung bzw. Ablehnung vorgelegt wurden: »In meinem persönlichen Umfeld nehme ich die gesellschaftlichen Zustände ganz anders wahr, als sie von den Medien dargestellt werden«, »Die Themen, die mir wichtig sind, werden von den Medien gar nicht ernst genommen« und »Die Medien haben den Kontakt zu Menschen wie mir verloren«. Hier stimmen immerhin 36, 18 beziehungsweise 24 Prozent zu. Ob die sich anschließende Erläuterung wissenschaftlich fundiert ist, dass weiterführende Analysen zeigten, »dass sich besonders diejenigen Menschen von den Medien entfremdet fühlen, die mit der Politik und Demokratie sowie ihrer eigenen wirtschaftlichen Situation unzufrieden sind; die eine hohe Sympathie für die AfD haben, sowie Menschen, die häufig Kommentare auf den Facebook-Seiten etablierter Medien lesen und schreiben«, lässt sich bei der Präsentation der Ergebnisse nicht beurteilen. Unbehagen bereitet hier die Gleichsetzung der »mit der Politik und (?) Demokratie sowie (??) ihrer eigenen wirtschaftlichen Situation« Unzufriedenen mit Sympathisanten der AfD.9 Es ist ja eine Banalität, dass die Antworten der Befragten von den Fragen abhängen. Trotzdem werden weiterhin Fragen gestellt, die pauschal nach »den Medien« fragen. Fragt man jedoch differenzierter, hier nämlich nach unterschiedlichen Medien wie dem 8
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Zur Forschungsfragen und -design sowie zu den Ergebnissen siehe: https://medienvertrauen. uni-mainz.de/forschungsergebnisse/ (22.3.2018). Zugänglich auch als: Marc Ziegele / Tanjev Schultz / Nikolas Jackob / Viola Granow / Oliver Quiring / Christian Schemer: Lügenpresse-Hysterie ebbt ab. Mainzer Langzeitstudie »Medienvertrauen«. In: Media Perspektiven, 2018, H. 4, S. 150–162. Welches Medienecho solche Art von Umfragen erzeugen, ist vorhersehbar, ob die Umfrageergebnisse dies hergeben oder nicht. So schreibt die ZEIT: »Insgesamt, zeigt die Studie, sind vor allem jene skeptisch, die über weniger Medienwissen verfügen.« Siehe: http://www. zeit.de/gesellschaft/2018-02/journalismus-studie-vertrauen-medien-anstieg (20.3.2018).
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öffentlich-rechtlichen Fernsehen, den Tageszeitungen, dem Privaten Fernsehen, dem Internet (ist dies überhaupt etwas, wonach man derart undifferenziert fragen kann?) oder den Boulevardzeitungen, so zeigt sich nämlich eine durchaus vorhandene Fähigkeit zur Unterscheidung: 2016 und 2017 misstrauten nämlich lediglich je 5 Prozent dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen und den Tageszeitungen, bedachten aber zu 29 bzw. 21 Prozent das Private (was ist hier privat?) Fernsehen mit Misstrauen und das Internet mit 11 bzw. 15 Prozent. Dass 52 bzw. 47 Prozent gegenüber den Boulevardzeitungen Misstrauen angaben, erstaunt nicht. Da zu »den Medien«, nach deren Glaubwürdigkeit anfänglich gefragt worden war, ja doch ganz wesentlich die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten und die Tageszeitungen gehören, fragt man sich hier, woher die Differenz kommt, wenn einerseits 22 bzw. 17 Prozent »den Medien« ihr grundsätzliches Misstrauen aussprechen, bei einer anders gestellten Frage Misstrauen gegenüber jenen den Kern der Presse bildenden Medien lediglich zu 5 Prozent bekunden.10 Grundsätzlich ist festzuhalten, dass eine Befragung, wie sie in Mainz vorgenommen wurde, von so vielen Vorannahmen geprägt ist, dass ein entsprechendes Vorgehen bei hermeneutisch arbeitenden Wissenschaftlern kaum das Tor der Quellenkritik passiert hätte.11 Dies zeigen auch die den Befragten vorgelegten Thesen »Fake News sind eine echte Gefahr für die Gesellschaft« oder »Hasskommentare im Internet sind eine echte Gefahr für die Gesellschaft«, die – wie zu erwarten – einen hohen Grad an Zustimmung erfahren. Dass Thesen wie »Die Besitzverhältnisse im Medienbereich sind eine echte Gefahr für eine demokratische Gesellschaft« oder »Die Ökonomisierung der Medien stellt eine große Gefahr für einen unabhängigen Journalismus dar« in solchen »Mainstream«-Umfragen keine Chance haben, einer telefonisch befragten Gruppe vorgelegt zu werden, charakterisiert eine Kommunikationswissenschaft, die sich freiwillig von den Hauptproblemen abdrängen lässt, die sich der aktuellen Medienentwicklung stellen. Wie vor- und umsichtig mit Umfragen umzugehen ist, zeigen Carsten Reinemann, Nayla Fawzi und Magdalena Obermaier mit einer Studie, die danach fragt, ob die Vertrauenskrise gegenüber den Medien Fakt oder Fiktion sei und dabei mahnen, sich nicht auf einzelne solcher Telefonbefragungen zu verlassen, sondern in einer Art Metastudie sogar zu dem Schluss kommen, dass differenzierte Studien den pauschalen Schluss eines Vertrauensverlustes auch im internationalen Vergleich nicht zuließen.12 Ebenfalls eine Vielzahl solcher Befragungen mit recht unterschiedlichen, im Ganzen aber auf einen Vertrauensverlust der Medien hinweisenden Ergebnissen stellt Uwe Krüger vor. Er präsentiert etwa eine repräsentative Umfrage von TNS Emnid im Auftrag des Baye10
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Zu den Publikationen der am Projekt Beteiligten: https://medienvertrauen.uni-mainz.de/ publikationen/ (20.3.2018). Ganz abgesehen davon, dass entsprechende Befragungen bei Meinungsforschungsinstituten in Auftrag gegeben werden können, die oft nicht mehr sind als ein Callcenter, wo die unangenehme Aufgabe, wildfremde Menschen ungebeten anzurufen dann von schlecht bezahlten Menschen, deren Motivation und Zuverlässigkeit zweifelhaft erscheinen muss, ausgeführt werden muss. Pro befragter Person fallen übrigens Kosten von 10 Euro an. Carsten Reinemann / Nayla Fawzi / Magdalena Obermaier: Die »Vertrauenskrise« der Medien – Fakt oder Fiktion. Zu Entwicklung, Stand und Ursachen des Medienvertrauens in Deutschland. In: Volker Lilienthal / Irene Neverla (Hg.): Lügenpresse. Anatomie eines politischen Kampfbegriffs. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2017, S. 77–94, hier S. 82–85.
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rischen Rundfunks vom März 2016, die zeigt, dass zwar drei Viertel der Bevölkerung das öffentlich-rechtliche Fernsehen und die Tageszeitungen für glaubwürdig hielten, aber zugleich große Zweifel an der journalistischen Unabhängigkeit bestünden. Mehr als 50 Prozent stimmten der Aussage, dass in den Medien häufig absichtlich die Unwahrheit gesagt werde, »völlig« oder »eher« zu, 65 Prozent gar glaubten, Journalisten dürften oft nicht sagen, was sie denken, 60 Prozent, dass den Nachrichtenmedien Inhalt und Art der Berichterstattung vorgegeben werde und sie berechtigte Meinungen ausblendeten, die sie für unerwünscht hielten, 55 Prozent der Befragten waren überzeugt, dass Staat, Regierung, Wirtschaft und einflussreiche Interessengruppen eher gestützt als kritisch kontrolliert würden. (Krüger 2016, S. 21f.) Quellenkritische Probleme, soviel an dieser Stelle, bereiteten nicht nur die in der Mainzer Studie vorgestellten, sondern auch manche der in den hier vorgestellten Schriften genannten Zahlen. Auch sei einleitend darauf hingewiesen, in welches Dilemma man als Wissenschaftler bei dem Thema »Lügenpresse«, »Fake News« und Massenmedien gerät. Eine Recherche nach seriösen Titeln zu diesem Thema bietet dafür Anhaltspunkte. Wer beispielsweise im Internet nach Uwe Krügers »Meinungsmacht« sucht, dem springt mit Hilfe von »Google« oder anderen Suchmaschinen prominent eine Anzeige des Kopp Verlags auf, in dem dieses Buch mit Cover in einer Weise beworben wird, dass man glauben möchte, es handele sich um ein Produkt dieses Verlages.13 Wer wiederum nach dem Kopp Verlag14 sucht – dieser wirbt mit dem Versprechen, bei ihm fänden sich die Fakten und Meinungen, die in den »Mainstream-Medien« tabuisiert und unterdrückt würden –, dem werden unter »Andere suchten auch« »Pegida« und »identitäre Bewegung« angeboten.15 Ob nun aber alle Studien, die aus dem akademisch-wissenschaftlichen Feld kommen, seriös sind, die anderen, oft populär verfassten Werke dieses Qualitätsmerkmal jedoch nicht aufweisen, ist eine der Fragen, die hier bei der Betrachtung einer Auswahl von Titeln zur aktuellen Debatte zu diesem Thema gestellt werden sollen. 2.
FAKE-NEWS – EINE NEUE ERSCHEINUNG? ZUM CHARAKTER HISTORISCHER FALSCHMELDUNGEN
»Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen.« Dass die bewusste Lancierung von Falschmeldungen historisch nicht neu ist, dazu muss man nicht erst an die erfundenen irakischen Massenvernichtungswaffen, an die von einer PR-Agentur fabrizierte Meldung von in Kuwait durch irakische Soldaten aus Brut13
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(https://www.google.de/search?q=uwe+kr%C3%BCger+meinungsmacht&ie=utf-8&oe= utf-8&client=firefox-b&gfe_rd=cr&dcr=0&ei=LzAMWs8glJPxB83sgLgE (15.11.2017) Hauptthemen des Verlags sind neben der Medienkritik auf politischem Feld die Folgen der Flüchtlingskrise und der sogenannte islamistische Terrorismus. Im Kopp Verlag sind ebenfalls medienkritische Schriften entstanden, etwa von Markus Gärtner: Lügenpresse. Rottenburg: Kopp Verlag 2015. Zu den weiteren Verlagsprodukten mit Autoren wie Udo Ulfkotte und Eva Hermann siehe: https://www.kopp-verlag.de/Medien welt-%26-Journalismus.htm?websale8=kopp-verlag&ci=000408 (23.3.2018) – Gärtner berichtete mehr als zwanzig Jahre u.a. für die ARD, die ›Welt‹ und das ›Handelsblatt‹ insbesondere über Wirtschaftsthemen. Zu seinen Hauptvorwürfen an Journalisten gehört, vor der Finanzkrise 2008 nach Kräften abgewiegelt und damit die Leser getäuscht zu haben.
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kästen gerissenen Säuglingen oder die behauptete Verantwortlichkeit wahlweise Saddam Husseins oder Afghanistans für den Anschlag auf das World Trade Center erinnern, die als Anlass zu den diversen Kriegen gegen den Irak und Afghanistan dienten und von den westlichen Pressemedien mal mehr – wie beeindruckt die deutschen Zeitungen von den Lügen des US-Außenministers Powell vor der UNO waren, lässt sich am Beispiel der FAZ bis heute im Netz nachlesen16 – , mal weniger unbesehen verbreitet wurden – bei von östlichen Medien verbreiteten Kriegsrechtfertigungen war man jedenfalls deutlich kritischer. Man denke an den Beginn des Ersten und Zweiten Weltkriegs, an den erfundenen Überfall auf den Sender Gleiwitz. Kriege begannen häufig mit bewusst eingesetzten Lügen, ja man wird sagen dürfen, dass mit Krieg stets jede Presse zur »Lügenpresse« wurde und wird. Der Einsatz von Lügen dürfte fast so alt sein wie die gedruckte Presse selbst, wenngleich die bewusste Indienstnahme der Medien zumindest im ersten Jahrhundert der gedruckten periodisch erscheinenden Zeitung noch nicht systematisch praktiziert wurde.17 Unter den beiden vorzustellenden Bänden, die sich historisch mit dem Thema auseinandersetzen, kommt das von John David Seidler mit der »Verschwörung der Massenmedien« im Titel zeitgeistmäßig reißerisch daher. Der Autor will in seiner Rostocker 16
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FAZ, 7.2.2003, Titelseite: »Vorübergehend hat der amerikanische Außenminister den UNSicherheitsrat in eine Art Weltgerichtssaal verwandelt; er selbst hat den Vertreter der Anklage gegeben. Angeklagt wurde das irakische Regime des Saddam Hussein. Dieses Regime beschuldigte Powell der gezielten Täuschung und Irreführung der UN-Waffeninspekteure und der systematischen Verletzung der einschlägigen Resolutionen des Sicherheitsrats.« Der Berichterstatter der FAZ bewertet den Auftritt des Außenministers: »Beeindruckend an der Beweisführung«, heißt es im Anschluss an Powells Erfindungen, »war nicht der multimediale Präsentationseffekt, sondern ihre Breite.«. Immer noch sind auf FAZ.net die bis heute in Giftgasbeschuldigungen mit Berufung auf Geheimdienstinformationen üblichen Argumente und Behauptungen des amerikanischen Außenministers in »ihrer Breite« zu lesen: »Er zeigte Zeichnungen von mobilen Labors zur Herstellung von Biowaffen, über die der Irak angeblich verfügen soll. [...] Die Zeichnungen seien nach Angaben von Zeugen entstanden, die geschützt werden müssten, sagte Powell. Die Vereinigten Staaten hätten Zeugenaussagen, wonach Bagdad mindestens sieben solcher Lastwagen mit Biolabors habe. Sie seien aber unter den Tausenden von Lastwagen auf den irakischen Straßen schwer zu finden. Es bestehe für ihn ›kein Zweifel‹ daran, dass der Irak biologische Waffen habe, sagte Powell.« http://www. faz.net/aktuell/politik/powell-im-sicherheitsrat-bagdad-hat-nicht-abgeruestet-189414.html (20.4.2018). Als richtig erwiesen hat sich, was FAZ.Net am 5.2.2003 referiert: »Bagdad hat die von Powell erhobenen Vorwürfe als ›Lügen‹ zurückgewiesen. ›Das sind Lügen und Erfindungen, die jeder materiellen Grundlage entbehren. Sie dienen nur als Vorwand für eine militärische Aggression gegen den Irak‹, sagte Salem el Kubaisi, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschuss des irakischen Parlaments.« http://www.faz.net/aktuell/politik/ powell-im-sicherheits rat-bagdad-hat-nicht-abgeruestet-189414.html (20.4.2018). Zur Kriegsberichterstattung in den deutschen Medien nach 2003 siehe Uli Gellermann: Chimäre der Information. Vortrag in der Akademie der Künste am 15. September 2012 im Rahmen des gleichnamigen Symposiums. Auf: https://www.adk.de/de/news/index.htm?we_objectID= 31245 (15.4.2018). Johannes Weber: Der große Krieg und die frühe Zeitung. Gestalt und Entwicklung der deutschen Nachrichtenpresse in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. In: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, 1. Jg. 1999, S. 23–61.
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Dissertation von 2015 eine Kulturgeschichte der Verschwörungstheorien bis zur »Lügenpresse« liefern, die Dissertation hatte den bescheideneren Titel »Vorstellungsbilder von geheimem Wissen und medialen Strukturen in Verschwörungstheorien«. Inhaltlich bietet die Arbeit in der Darstellung der konservativen Verschwörungstheorien in der Folge der Französischen Revolution und der antisemitischen Verschwörungstheorien im »langen 19. Jahrhundert« wenig Neues, dafür viel Unzutreffendes, zu beiden Themen ist wesentliche Literatur nicht wahrgenommen worden, zur Entstehung erster Verschwörungstheorien sind wesentliche Vor- und Erscheinungsformen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts dem Autor nicht bekannt. Zum ja immerhin im Titel genannten Begriff der »Lügenpresse« wird weder historisch noch aktuell reflektiert, auch zu Charakter und Entstehungsbedingungen von Verschwörungstheorien fehlt gar zu viel.18 Zentral ist der Gedanke, dass die Medialisierung der Gesellschaft eine Bedingung von Verschwörungstheorien darstellt, jede dieser Theorien sei auch ein Verdacht gegen die Medien. Richtig ist sicherlich die Vermutung, dass die Betrachtung historischer Verschwörungstheorien zum Verständnis aktueller beitragen könne, aber mit der hier vorgelegten Art der Auseinandersetzung mit den historischen Quellen wächst die Einsicht weder in historische, noch in aktuelle Vorgänge. Das zweite Werk mit historischem Bezug trägt den Titel »Fake News machen Geschichte«, seine Autoren Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff setzen sich mit solchen mit Bedacht in die Welt gesetzten Meldungen und Behauptungen auseinander, die geschichtsmächtig geworden seien. Dabei geht recht Unterschiedliches durcheinander, systematische Unterscheidungen etwa zwischen bewusst gestreuten Falschmeldungen und Gerüchten fehlen. Zwar meinen die Autoren, »Fake News« begleiteten die Menschheitsgeschichte von Beginn an, sie begrenzen sich aber auf elf Beispiele aus dem 20. und 21. Jahrhundert. Begonnen wird mit dem vermeintlichen Staatsstreich Kurt von Schleichers im Jahre 1933, fortgefahren mit dem angeblichen »Rückzugsgebiet Alpenfestung« im Jahre 1945, der Noel-Field-Affäre 1949 bis 1954, der Kartoffelkäferplage, für die 1950 die DDR die USA verantwortlich machte, den als Kampagne bezeichneten Vorwurf gegen den Bundespräsidenten Heinrich Lübke, an KZ-Bauten beteiligt gewesen zu sein, dem Vorwurf gegen die Bundesrepublik, im Kampf gegen die »Rote Armee Fraktion« »Isolationsfolter und Vernichtungshaft« einzusetzen, dem angeblichen Waldsterben, dem Fall der Mauer 1989, dem sogenannten Hufeisenplan, der als »Serbischer Genozid« zur Rechtfertigung der NATO-Bombardierungen im Kosovo-Krieg 1999 erfunden wurde, der Behauptung der Bundesregierung in der Weltfinanzkrise 2008, die Spareinlagen seien sicher, um endlich mit einem aktuellen Ereignis, nämlich der massenhaften Zuwanderung von Flüchtlingen besonders aus Syrien im Jahre 2015 und der sie begleitenden Berichterstattung, zu schließen. Als besonders aufschlussreiches Beispiel für »Fake News«, die zur Auflagen- und Einnahmesteigerung den Weg in die Presse gefunden haben, fehlen als journalistische Meisterleistung leider die unvergessenen Hitler-Tagebücher im ›Stern‹. Tatsache ist, dass es die modernen Medien, nämlich die gedruckte Presse, Rundfunk, Film, Fernsehen und neuerdings das Internet mit seinen unendlichen Möglichkeiten sind, über die sämtliche der hier thematisierten Falschmeldungen Verbreitung fanden und finden. Die Autoren sprechen bei ihren Studien von einem »geschichts18
Detailliertes kann ich mir hier sparen, siehe dazu die Rezension des Werkes von Ralf KlausNitzer: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-25797 (19.3.2018).
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journalistischen Blickwinkel«, von dem aus sie die historischen Falschmeldungen untersuchen wollten (S. 23). Und es ist in der Tat oft sehr »journalistisch«, um nicht von geschwätzig und extrem meinungslastig zu sprechen, was hier geboten wird. Die Weißwaschung des ehemaligen Bundespräsidenten Lübke beispielsweise zum Unschuldslamm und bloßem Opfer einer Kampagne ist ärgerlich; suggeriert wird, die Vorwürfe, Lübke sei am Einsatz von KZ-Häftlingen beteiligt und die westdeutsche Justiz wesentlich von ehemaligen Richtern des Naziregimes geprägt gewesen, stellten eine bloße DDR-Phantasie dar, zumindest, so die Autoren, seien sie »maßlos überzogen«: »Doch ein besseres Mittel als die braune Vergangenheit hatte die SED im Kampf gegen die offenkundig überlegene demokratische Marktwirtschaft der Bundesrepublik nicht« (S. 124). Beschönigungen allenthalben, wenn die zur Mitarbeit an den Rüstungsprojekten in Peenemünde und Neu Staßfurt gezwungenen Arbeitssklaven als »halbwegs freiwillige« Zivilarbeiter bezeichnet werden (S. 129) oder der Einsatz Lübkes als Bauleiter an kriegswichtigen Rüstungsprojekten als »indirekte Verstrickung in die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands« verniedlicht wird (S. 132). In einer Zeit, da in Teilen der Historiographie der Marsch in den Ersten Weltkrieg zu einem Gang von Schlafwandlern uminterpretiert wird, an dem niemand Verantwortung trage, ist es immerhin erfreulich, dass wenigsten der sogenannte Hufeisenplan im Kosovo-Krieg uneingeschränkt als Lüge vorgestellt wird, mit der SPD- und Grünenpolitiker Deutschland in den ersten Kriegsgang nach 1945 trieben. Zitiert werden hier der Medienexperte Marco Domeniconi auf einer internationalen Konferenz zum Kosovo-Krieg im Mai 2000 in Berlin, Journalisten hätten »dank der verschiedenen Propagandamaschinen ihre Rolle als unabhängige Zeugen vergessen«, ebenso kommt der ›Spiegel‹-Redakteur Siegesmund von Ilsemann zu Wort, der von dem Verdacht sprach, der bei jedem halbwegs kritischen Journalisten hätte aufkommen müssen, wenn einem Minister, der so erkennbar um die moralische Rechtfertigung eines völkerrechtswidrigen Krieges ringt, »aus heiterem Bombenhimmel ein solches Beweisstück vom Himmel fällt« (S. 239). Aufschlussreich und sicherlich der Realität entsprechend ist die zitierte Erklärung des Chefs der weltweiten Berichterstattung bei CNN, Eason Jordan, wegen des Mangels an authentischem Material sei man auf Falschinformationen hereingefallen, unter den Informationen, die von Serben und NATO stammten, sei dann »natürlicherweise« denen der NATO der Vorrang gegeben worden. 3.
AUßENPOLITISCHE BERICHTERSTATTUNG UND VERTRAUENSVERLUST DER MEDIEN »Jeder Handtaschendieb hat einen Anspruch auf ein detailliertes Protokoll seiner Untat. Wenn es in den fast schon grotesken Wirren des Syrienkriegs zu einem Giftgasanschlag kommt, dann haben unsere Qualitätsjournalisten allerdings keinerlei Mühe damit, binnen Sekunden den Täter zu ermitteln und ein Urteil zu sprechen. [...] Dabei wäre es auch für die Zuschauer oder Leser weitaus interessanter, wenn man mal zeigte, welche Akteure auf diesem irren Schlachtfeld Interesse an einem Giftgasangriff hätten. Ein Journalismus, der sich von den Unklarheiten unserer Realitäten faszinieren ließe, wäre weit aufregender als die Wahrsager, deren Kaffeesatz mittlerweile auch kritisch untrainierte Leser klar sehen. Investigative Prozesse können und sollten informativer sein als die Instantwahrheiten, die aus lausigen Narrativen vom Typus ›die Guten und die Bösen‹ abgeleitet werden. [...] Giftgas in Syrien?
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Kann nur Assad gewesen sein. Für solche Behauptungen brauchen sie keinen journalistisch fundierten Urheber. Die schreiben sich gewissermaßen von selbst.«19 Dieses »natürlicherweise« einer Partei den Vorzug zu geben, ist ein Thema in allen hier vorgestellten Schriften, die die außenpolitische Berichterstattung über internationale Krisenherde thematisieren. In ihnen wird ein starkes Misstrauen von Medienrezipienten besonders gegen die Berichterstattung zu bestimmten Streitthemen wie der Ukrainekrise, Russland oder der Griechenlandkrise konstatiert.20 Eine aktuelle Studie von Kevin Kaisig untersucht, wie der Kampf gegen den IS in drei transnationalen Medien, nämlich ›Al Jazeera‹, ›Russia Today‹ und ›Deutsche Welle‹ dargestellt wird, und fragt, ob sich die jeweilige Berichterstattung mit den außenpolitischen Positionen der finanzierenden Länder, nämlich Katar, Russland und Deutschland erklären lasse. Die Ergebnisse sind nicht sehr überraschend: ›Al Jazeera‹ erzeuge dabei einen Ideologie-Diskurs, in dem die Gefährlichkeit des IS-Gedankenguts thematisiert werde, ›Russia Today‹ kritisiere westlichen Interventionismus, die ›Deutsche Welle‹ stelle individuelle Freiheits- und Menschenrechte in den Vordergrund. Zwischen den Diskursen existierten erhebliche Unterschiede, die sehr deutlich auf außenpolitische Positionen der Geldgeber zurückgeführt werden könnten (Kaisig 2018). Besonders in der Berichterstattung über militärische Konflikte scheint sich nämlich deutlich niederzuschlagen, dass die internationalen Nachrichtenagenturen, wenn sie nicht selbst von Geheimdiensten zur Lancierung von Falschmeldungen genutzt werden, gemeinsam weniger Personal haben als das Pentagon mit seinen vielen tausend Öffentlichkeitsarbeitern, zu deren Tätigkeit der Chef der US-Nachrichtenagentur Associated Press (AP), Tom Curley, recherchiert hat. Das dort produzierte Nachrichtenmaterial fließe häufig recht ungefiltert in die internationalen Medien. Hinzu kommen zahlreiche PR-Unternehmen, die im offiziellen Auftrag Kriegs-Propaganda und Falschmeldungen – Fake-News – produzieren.21 Schon 2006 berichtete ›Der Spiegel‹ über Public Relations als einer wachsenden Milliardenindustrie, die nicht nur unsere Wahrnehmung der Welt manipuliere, sondern sogar Kriege inszeniere.22 Mindestens 40 Prozent der Informationen einer Tageszeitung, so wer19 20 21
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Rossum (2017) S. 23–25 (wie Anm. 4). Reinemann/Fawzi/Obermaier (2017) (wie Anm. 12). Pentagon beauftragte PR-Unternehmen für Kriegs-Propaganda. In: Deutsche Wirtschafts Nachrichten, 10.10.2016 https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2016/10/10/penta gon-beauftragte-pr-unternehmen-fuer-kriegs-propaganda/ (19.3.2018) sowie im ›Züricher Tagesanzeiger‹ der Bericht: 27.000 PR-Berater polieren Image der USA – dort heißt es am 12.02.2009: »Das US-Militär hat seine Propagandaabteilung gewaltig ausgebaut. Nichts wird unversucht gelassen, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Laut AP-Recherchen verfügt das Pentagon über 27.000 Personen, die ausschließlich für die Öffentlichkeitsarbeit (PR, Werbung, Rekrutierung) zuständig sind. Zum Vergleich: Das gesamte US-Außenministerium mit Hillary Clinton an der Spitze beschäftigt rund 30.000 Personen. Die PR-Maschinerie des Militärs kostet die Steuerzahler jährlich 4,7 Milliarden Dollar. Seit 2004 sind die Ausgaben um 63 Prozent gewachsen. Wozu diese Mittel genau eingesetzt werden, bleibt meist geheim.« https://www.tagesanzeiger.ch/ausland/amerika/27000-PRBerater-polierenImage-der-USA/story/20404513 (19.3.2018). Meister der Verdrehung, in: Der Spiegel, 31, 2006. Zugänglich auf: http://www.spiegel.de/ spiegel/print/d-48046168.html (12.4.2018).
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den Schätzungen von Medienwissenschaftlern zitiert, stammten bereits von PR-Agenturen oder aus den Marketingzentralen von Unternehmen, Behörden und Verbänden. Oft kämen die Nachrichten als vermeintliche Studien daher und würden gar nicht mehr als PR wahrgenommen. Statt Propaganda aufzudecken seien Medien der Kanal für Propaganda geworden. Die »Deutschen Wirtschafts Nachrichten« meldeten 2016, dass PR-Agenturen mehr und mehr eine wichtige Rolle in der Kriegspropaganda gewönnen. So habe das Pentagon über 40 PR-Firmen wie etwa »Babylon Media« und »SOS International« für die Produktion und Verbreitung von Medienprodukten zu Zeiten des Irak-Kriegs bezahlt, am meisten habe die Agentur Bell Pottinger zwischen Mai 2007 und Dezember 2011 für Videos zum Irak-Krieg erhalten, nämlich 540 Millionen Dollar unter anderem für gefälschte oder neudeutsch für »gefakte« Al-Qaida Propaganda-Filme.23 Ein wichtiges Ergebnis der hier vorgestellten Arbeiten zur außenpolitischen Berichterstattung liegt darin, dass auf keinem anderen Feld das journalistische Mehrquellenprinzip stärker vernachlässigt werde, ja, dass Journalisten oft nicht einmal bekannt sei, wer hinter der einen Quelle steht, die sie an ihre Leser weitergeben. Die Gleichförmigkeit, in der kriegerische Verwicklungen und politische Konflikte in der Außen- und Militärpolitik während der vergangenen zwei Jahrzehnte in der Presse behandelt werden, ist nach durchgehender Meinung der Studien, die den Vertrauensverlust der Medien thematisieren, in besonderem Maße dafür verantwortlich, dass die außenpolitische Berichterstattung zunehmend kritischer beurteilt werde, insbesondere wenn es um Auslandseinsätze und eine konfrontative Außenpolitik gehe. Dass einzelne Journalisten, die von der vorgegebenen außenpolitischen Linie abweichend berichten wollen oder auch nur Kritik an militärpolitischen Maximen üben, in den Hierarchien ihrer Medien gegen Mauern laufen und kaltgestellt werden, berichtet der ehemalige ZDFKorrespondent Ulrich Tilgner, der sich dagegen wehrte, in Afghanistan vor den Karren der Polizei und Geheimdienste gespannt zu werden, um stattdessen zu zeigen, dass die westliche und auch deutsche Politik in diesem Land vollständig gescheitert sei. Deutlich habe eine Berichterstattung verhindert werden sollen, die den Einsatz der Bundeswehr dort als Schritt auf dem Weg zum Umbau in eine Offensivarmee hätte verstehen lassen können. Da er sich dem Schönmalen des Einsatzes widersetzt habe, sei er von verschiedenen Redaktionen gemieden und übergangen worden.24 Der erfahrene Journalist spricht von einer »Formierung der Leitmedien«, die Wahrheit bleibe auf der Strecke, die Medienmüdigkeit der Bürgerinnen und Bürger spiegele den Niedergang des Journalismus, Stellungnahmen der Politiker verließen deren Büros heute in sendefertiger Form, redaktionelle Bearbeitungen blieben aus. Der ehemalige Redakteur der ›Augsburger Allgemeinen‹, der ›Stuttgarter Zeitung‹ und der »Tageschau« meint gar, die aktuelle Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Medien sei regierungsfromm, defizitär, agitatorisch, propagandistisch und desinformativ, ihnen, die ja immerhin von Gebühren der Hörer und Zuschauer bezahlt werden, könne Gesinnungsjournalismus vorgeworfen werden.25 23
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https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2016/10/10/pentagon-beauftragte-pr-unterneh men-fuer-kriegs-propaganda/ (19.3.2018). Tilgner (2017) S. 63–65 (wie Anm. 1). Volker Bräutigam: Öffentlich-rechtlicher Gesinnungsjournalismus. In: Wernicke (2017) S. 55–62 (wie Anm. 1).
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Man wird wohl auch mit historischen Befunden sagen können, dass unterschiedliche, die Politik des eigenen Landes und Bündnisses in Frage stellende Auffassungen in der Presse im Ernstfall auf kaum einem Feld so wenig Chancen haben, gedruckt und formuliert zu werden, wie bei einer interessengeleiteten Außenpolitik und erst recht bei jeglichen Militäroperationen, auch wenn es natürlich – man denke an den Vietnam-Krieg und die Bedeutung der Presse bei der Delegitimierung der amerikanischen Kriegspolitik – Gegenbeispiele gibt. Jeder, der einmal historische Kriegsberichterstattung analysiert hat, wird festgestellt haben, wie sehr sie in bestimmten Charakteristika den Verschwörungstheorien ähnelt, dass es nämlich dort genau das Phänomen gibt, das man jenen vorwirft, nämlich eine Reduzierung von Komplexität, bis es nur noch gut und böse, weiß und schwarz gibt. In seinem Weltkriegsdrama »Die letzten Tage der Menschheit«, das zu mehr als einem Drittel aus Pressezitaten besteht, beklagt Karl Kraus den Untergang der Welt durch Schwarze Magie, womit er die Pressetinte meint. Dabei geht es, wie in einigen der hier vorgestellten Studien betont wird, in der außenpolitischen Berichterstattung im Alltag weniger um bewusst in die Welt gesetzte Falschmeldungen als um eine einförmig, ja, sogar gesteuert erscheinende Berichterstattung, für die als eine Ursache die Tätigkeit der großen Nachrichtenagenturen gesehen wird, deren Nachrichten und Berichte die gesamte Presse fast unkontrollierbar und oft nicht nachprüfbar prägen. Im Sammelband von Jens Wernicke – er ist spannend, weil er Praktiker des Journalismus zu Wort kommen lässt, die ein Bild des aktuellen Medienbetriebes malen, das jedem Sorgen machen muss, der davon überzeugt ist, dass sich in der Presse auf der Grundlage umfassender Information unterschiedliche Meinungen widerspiegeln sollten – findet sich ein Beitrag dazu, »Wie globale Nachrichtenagenturen und westliche Medien Propaganda verbreiten«, verfasst von einer, wie sie sich selbst bezeichnet, »politisch und publizistisch unabhängigen Forschungsgruppe ohne Beauftragung oder Fremdfinanzierung«. Hier wird die Rolle analysiert, die die drei globalen Agenturen aus New York, London und Paris für die internationale Presseberichterstattung insgesamt spielen. Dabei berufen die Autoren sich auf eine Studie zur Syrien-Berichterstattung von je drei führenden Tageszeitungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die zeige, dass 78% aller Artikel ganz oder teilweise auf Agenturmeldungen basierten, aber 0% auf investigativer Recherche. 82% aller Kommentare und Interviews seien USA/NATO-freundlich, während Propaganda ausschließlich auf der Gegenseite verortet werde. Zitiert wird Volker Bräutigam, der nach zehn Jahren Tätigkeit für die »Tagesschau« der ARD über die Dominanz der Agenturen spricht: »Ein grundsätzliches Problem liegt darin, dass ARD-aktuell ihre Informationen hauptsächlich aus drei Quellen bezieht: den Nachrichtenagenturen DPA/AP, Reuters und AFP [...]. Der ein Nachrichtenthema bearbeitende Redakteur kann gerade noch einige wenige für wesentlich erachtete Textpassagen auf dem Schirm auswählen, sie neu zusammenstellen und mit ein paar Schnörkeln zusammenkleben.« (Wernicke, S. 157f.) Die Schweizer »Forschungsgruppe Propaganda«, die anonym agiert und deshalb von vielen Medienwissenschaftlern kritisch beurteilt wird, beginnt ihre Studie im Sammelband von Wernicke mit der Frage, woher die Zeitung wisse, was sie weiß. Die Antwort wird in der Tat manchen Zeitungsleser überraschen: »In der Hauptsache bezieht sie ihr Wissen von Nachrichtenagenturen. Die nahezu anonym arbeitenden Nachrichtenagenturen sind gewissermaßen der Schlüssel zu den Geschehnissen der Welt. Wer also sind
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die Nachrichtenagenturen, wie arbeiten sie und wer finanziert diese Unternehmen? All dies sollte man wissen, um sich ein Bild machen zu können, ob man auch wirklich über die Ereignisse in Ost und West zutreffend unterrichtet wird.« (S. 154) Die gesamte Presse, so die Autorinnen und Autoren, richte sich weitgehend nach den Meldungen, Bildern, Ton- und Videoaufnahmen dieser Agenturen, so dass eine gewisse Gleichgerichtetheit der Berichterstattung, wie sie in ständig wiederkehrenden Schlagzeilen nach der Art »Putin droht« oder »Iran provoziert« und »NATO besorgt« oder »Das westliche Bündnis warnt« erkennbar wird und sich nicht nur inhaltlich, sondern bis in die sprachliche Gestaltung ausdrückt. (S. 158) Kann man deshalb von gelenkten Medien sprechen? – Jedenfalls hält sich die Kontrolle, die einzelne Redaktionen und Redakteure über die Richtigkeit ihrer Nachrichten haben, sehr in Grenzen, Quellenkritik ist im Alltag kaum möglich. Manche Medien gehen ehrlicherweise noch einen Schritt weiter und haben ihre Auslandsredaktionen aus Ersparnisgründen inzwischen komplett an eine Agentur ausgegliedert. Hinzu kommt dann, wie Volker Bräutigam behauptet, dass die Berichterstattung über die Außenpolitik häufig in den Händen von Journalisten liege, denen nach karriereförderlichem Aufenthalt und Schulung in den USA die transatlantische Einseitigkeit in Fleisch und Blut übergegangen sei: »Sie sind eine journalistische Parallelerscheinung zum politischen Vasallentum der Berliner Regierung. [...] Die Schlagseite dieser Journalisten merkt man schon an ihrer ›prowestlichen‹ Wortwahl. Zum Beispiel an verschleiernden Synonymen: ›Menschenrechtsaktivist‹ statt gewaltbereiter Regierungsgegner, ›Rebell‹ statt mörderischer Terrorist, ›Flugverbotszone‹ für die Eröffnung eines Luftkrieges gegen ein souveränes Land, ›Luftschlag‹ für ein tödliches Bombardement.« Als »Kronjuwel schwachsinniger Wortschöpfung« fügt Bräutigam den »Terrorismusexperten« hinzu.26 Gab die ›Staats- und gelehrte Zeitung des Hamburger unpartheyischen Correspondenten‹ im 18. Jahrhundert etwa ein Drittel ihrer Gesamtaufwendungen für Korrespondenten aus,27 so scheint die Notwendigkeit, sich vor Ort kundig zu machen, in den Augen von Presseverlegern ihre Aktualität verloren zu haben. ›Der Spiegel‹ und der ›Stern‹ haben in den vergangenen Jahrzehnten die Zahl ihrer Auslandskorrespondenten halbiert, das eine Blatt verkleinert das Büro in Washington, das andere schließt Moskau ganz. 2014 hat Außenminister Steinmeier gewarnt: »Den Mangel an Präsenz und Ortskenntnis kann niemand auf Dauer durch Meinungsstärke ausgleichen.«28 Bedenkt man, dass die ARD über mehr als 30 Auslandsstudios verfügt, aus denen für das Fernsehen 44 Korrespondenten und Korrespondentinnen, für den Rundfunk 56 berichten, dann vermag man sich bei einer als groß gerühmten, in Wahrheit aber sehr kleinen Schar von Journalisten die Abhängigkeit der Berichterstattung von Nachrichtenagenturen und PR-Aktionen der ausländischen Regierungen, Militärs und Geheimdienste vorzustellen, 26 27
28
Bräutigam (2017) S. 56 (wie Anm. 25). Dazu die Charakterisierung dieser Zeitung: Holger Böning / Emmy Moepps: Hamburg. Kommentierte Bibliographie der Zeitungen, Zeitschriften, Intelligenzblätter, Kalender und Almanache sowie biographische Hinweise zu Herausgebern, Verlegern und Druckern periodischer Schriften. Stuttgart-Bad Cannstadt: Frommann-Holzboog 1996 (= Holger Böning (Hg.): Deutsche Presse. Biobibliographische Handbücher zur Geschichte der deutschsprachigen periodischen Presse von den Anfängen bis 1815. Bd. 1), hier Bd. 1.1 Titel-Nr. 90. Rede von Außenminister Steinmeier (wie Anm. 2).
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die tausende von Mitarbeitern für die Versorgung der Medien mit Nachrichten zur Verfügung halten. Die Kosten für die Auslandsberichterstattung der ARD liegen jährlich bei rund 57 Millionen Euro, was einem lächerlich kleinen Anteil von etwa 16 Cent am monatlichen Rundfunkbeitrag entspricht.29 Die Folgen sind gravierend: Der ehemalige ZDF-Auslandskorrespondent im Mittleren Osten, Ulrich Tilgner, berichtet, wie die US-Streitkräfte die Medien zum Bestandteil ihrer Kriegsführung machen konnten und wie schwer es geworden sei, sich dem zu entziehen.30 In der aktuellen Kriegsberichterstattung kommt hinzu, dass Korrespondenten sich in die eigentlichen Kriegsgebiete oft nicht mehr vorwagten, sondern die deutschsprachigen Medien beispielsweise über den Syrienkrieg aus Istanbul, Beirut, Kairo oder Zypern berichteten. Oft fehlten gerade bei im arabischen Raum agierenden Korrespondenten gar Sprachkenntnisse, um Menschen und Medien vor Ort überhaupt zu verstehen. Auch deshalb erhalte die Tätigkeit der Nachrichtenagenturen ihre nachhaltige Wirksamkeit, wenn etwa eine »Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte« – das Londoner Einmannunternehmen eines Kämpfers gegen das syrische Regime – ihre Nachrichten in die Agenturen einspeisen und dann zur oft einzigen Quelle in Presseberichten werde. (Wernicke, S. 163) Jedenfalls erscheint es nach den Aussagen mehrerer Auslandskorrespondenten als ein Hauptproblem der Berichterstattung, dass der journalistische Eigenanteil der Berichtenden immer stärker marginalisiert werde, es sei, so der leitende DPA-Redakteur Manfred Steffens, für interessierte Kreise ein Leichtes, Propaganda und Desinformation in einem vermeintlich seriösen Format an ein weltweites Publikum zu verbreiten. Der kritische Sinn, so Steffens, werde umso mehr eingeschläfert, je angesehener die Nachrichtenagentur oder die Zeitung sei, die eine Nachricht bringe. Derjenige, der eine fragwürdige Nachricht in die Weltpresse einschleusen wolle, brauche also nur zu versuchen, seine Nachricht bei einer halbwegs seriösen Agentur unterzubringen, um sicher zu sein, dass sie dann wenig später auch bei den anderen auftaucht. Manchmal geschehe es so, dass eine Falschmeldung von Agentur zu Agentur weitergereicht und dabei immer glaubwürdiger werde. (Wernicke, S. 163) Dabei, so erfahren wird, stehen auch diese Nachrichtenagenturen unter Druck: Am 12. September 2009 berichtete der Schweizer ›Tagesanzeiger‹ über einen Vortrag des Chefs der amerikanischen Nachrichtenagentur AP an der Universität von Kansas, der den Druck des US-Verteidigungsministeriums als unerträglich charakterisiert habe, hohe Generäle hätten ihm gedroht, die AP zu ruinieren, wenn ihre Reporter auf ihren journalistischen Prinzipien beharrten, seit 2003 seien elf Journalisten der AP im Irak für mehr als 24 Stunden verhaftet worden. Das US-Militär habe seine Propagandaabteilung gewaltig ausgebaut, 27.000 PR-Berater kassierten 4,7 Milliarden Dollar, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Für 2009 sei die Herausgabe von 5.400 Pressemitteilungen, 3.000 Fernsehspots und 1.600 Rundfunkinterviews geplant 31 29
30 31:
http://korrespondenten.tagesschau.de/ (30.11.2017). Siehe auch Oliver Hahn / Julia Lönnendonker / Roland Schröder (Hg.). Deutsche Auslandskorrespondenten. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2008. Tilgner (2017) S. 67 (wie Anm. 1). https //www.tagesanzeiger.ch/ausland/amerika/27000-PRBerater-polieren-Image-der-USA/ story/20404513 (19.3.2018).
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Wie wenig in der außenpolitischen Berichterstattung diskutiert wird oder auch nur kontroverse Meinungen zu Wort kommen, hat schon 2002 eine Studie zur Berichterstattung über den Kosovo-Krieg feststellen müssen. Nach einer Auswertung der Leitartikel der fünf Zeitungen ›Welt‹, FAZ, SZ, FR und ›taz‹ während des Zeitraums der Bombardierungen vom März bis zum September 1999 kamen die Forscher zu dem Fazit, dass sich die fast uneingeschränkte Einhelligkeit in der parlamentarischen Entscheidung über den Kriegseintritt in den Medien fast identisch widerspiegele: »Trotz des Zäsurcharakters in der deutschen Nachkriegsgeschichte fanden wir über das gesamte Zeitungsspektrum einschließlich der taz ein hohes Maß an Konsens über die grundsätzliche Legitimität einer deutschen Beteiligung am Kosovokrieg.«32 WER INFORMIERT UNS UND WIE KOMMEN MEINUNGEN IN DIE WELT? »Die Redaktionen friemeln ihre Meldungen aus Textbausteinen zusammen, die sie aus dem Angebot der Nachrichtenagenturen auf dem Bildschirm zusammenschieben [...]. Und alle bedienen sich vom selben Brei, den die Agenturen dpa, AP, AFP und Reuters anrühren. [...] Das Ergebnis ist Einheitsbrei mit propagandistischem Bei- sowie üblem Nachgeschmack.«33 Die Außenpolitik in der Berichterstattung der deutschen Leitmedien spielt auch in der vielbeachteten Studie von Uwe Krüger »Meinungsmacht« eine wichtige Rolle. In der hier vorliegenden Fassung ist sie hervorgegangen aus einer Leipziger Dissertation von 2011 am Institut für Praktische Journalismus- und Kommunikationsforschung. Thematisiert wird eine bisher in der Medienforschung weitgehend ausgesparte Frage, nämlich wie Meinungsbildungsprozesse in der journalistischen Elite verlaufen und dann als publizistische Macht ihre Wirkungsstärke entfalten. Gegenstand sind ausdrücklich die journalistischen Meinungsführer, denen, wie es im Vorwort von Michael Haller heißt, die regionale Presse mangels hinreichender eigener Fachkompetenz im Regelfall hinterherlaufe (Krüger 2013, S. 15). Die Studie ist Teil einer Medienforschung, die sich mit normativ zu verstehenden Funktionszuschreibungen an den Journalismus befasst, womit die für Demokratien funktionsnotwendigen Aufgaben gemeint sind. Als Hauptaufgabe von Mediensystem und Journalismus wird formuliert, dass diese die Mitglieder der Gesellschaft über das aktuelle Geschehen sinnorientiert ins Bild zu setzen und, soweit es um Politik geht, ihnen die Möglichkeit der sachgestützten Meinungsbildung zu verschaffen haben. (S. 17) Diese normativ begründete Perspektive erlaube es, einen zeitgemäßen Qualitätsbegriff zu entwickeln, der die Anforderungen an die Medien operationalisiere und als Bemessungsgrundlage an den aktuellen Journalismus anlege. So könnten Gründe und Umstände aufgezeigt werden, die für Dysfunktionen verantwortlich seien und dazu führten, dass Medien Reichweiten und Geltung verlören.
4.
32
33
Siehe Christiane Eilders / Albrecht Lüter: Gab es eine Gegenöffentlichkeit während des Kosovo-Krieges? Eine vergleichende Analyse der Deutungsrahmen im deutschen Mediendiskurs. In: Ulrich Albrecht / Jörg Becker: Medien zwischen Krieg und Frieden. BadenBaden: Nomos 2002, S. 103–122, hier S. 111. Siehe auch Christiane Eilders / Albrecht Lüter: Germany at war. Competing framing strategies in German public discourse. In: European journal of communication, 15. Jg. 2000, S. 415–428. Bräutigam (2017) S. 61 (wie Anm. 25).
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Krüger geht von der Annahme aus, dass eine konsensuell geeinte Elite in wichtigen Fragen wie Krieg und Frieden oder der makroökonomischen Ordnung gegen die Interessen eines Großteils der Bevölkerung regieren kann und dass journalistische Eliten zu stark in das Elitenmilieu eingebunden sein könnten, um noch als »Anwälte des öffentlichen Interesses kritisch-kontrollierend zu wirken« (S. 90). Das, was er Meinungsmacht nennt, sieht er auf einflussreiche Eliten verteilt, in die auch von ihm so genannte Alphajournalisten, meinungsführende Journalisten also, eingebunden seien bzw. sich hätten einbinden lassen. Die inhaltliche Analyse der Berichterstattung zu bestimmten Kernthemen wie stärkeres militärisches Engagement, Kriegen (Kosovo, Irak, Afghanistan) oder der makroökonomischen Ordnung (Finanzkrise) zeigten, dass die Elitendiskurse in der konkreten Berichterstattung reproduziert werden und redaktionelle Unabhängigkeit angesichts der Verflechtungen von Journalismus, Politik und Wirtschaft als zweifelhaft erscheinen müsse. Zu diesen für die Zukunft der Gesellschaft zentralen Themen wird konstatiert, dass die Medien »die Meinungsverteilung innerhalb der politischen Elite ›spiegelten‹, jedoch diesen Rahmen kaum verließen«, abweichende Meinungen hingegen systematisch marginalisiert würden (S. 255). Krüger kommt zu seinen Ergebnissen auf dem Feld der außenpolitischen Berichterstattung, indem er die Verbindungen von Journalisten zu 82 Organisationen mit »Kontaktpotenzial« aufzeigt, um sodann für den Zeitraum von 2002 bis 2010 die Artikel von vier Journalisten der FAZ, ›Welt‹, ›Süddeutschen Zeitung‹ und ›Zeit‹, die er im »transatlantischen Elitenmilieu« gut vernetzt sieht, inhaltsanalytisch zu sicherheitspolitischen Fragen zu untersuchen. Diese Journalisten sind Mitglied in Organisationen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, »das Verständnis für die Ziele des Atlantischen Bündnisses zu vertiefen oder über die Politik der Nato zu informieren«, man könne, so kommentiert Uwe Krüger ironisch, auch sagen: »Lobbyarbeit für das stärkste Militärbündnis der Welt zu machen« (Krüger 2013, S. 94). Der Autor kommt zu dem Schluss, es herrsche eine unkritische bis persuasive Berichterstattung vor, durchgehend seien diese Journalisten dem neuen »erweiterten Sicherheitsbegriff« verpflichtet, der militärische Auslandseinsätze legitimiert und in der Praxis inzwischen die grundgesetzliche Einschränkung der Bundeswehr auf einen Einsatz nur, wenn »das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht«, abgelöst hat. Angesichts des vielfachen Engagements der meinungsführenden deutschen Journalisten in transatlantischen Organisationen und diversen Foren sah selbst die FAZ Anlass zur Besorgnis für die Leitmedien, »wenn ihre Journalisten sich in so vielen Netzwerken, Gesprächskreisen und Foren engagieren: Man fragt sich, ob sie für intensive Recherchen überhaupt noch Zeit haben.«34 In der Analyse der Berichterstattung seiner vier Journalisten-Atlantiker kommt Krüger zu dem Schluss: »Das Bild, das die vier von Konflikten und Bedrohungen zeichneten, war ebenso eindimensional wie das in den amtlichen Dokumenten und Doktrinen: Der eigene Beitrag des Westens zu Krisen und Konflikten wurde nicht reflektiert; Bedrohungen wurden plastisch ausgemalt, ihre sozialen und politischen Ursa34
Boris Holzer: Wie kommt die Meinung in die Welt? In: FAZ vom 9.9.2013. Siehe: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/uwe-krueger-mei nungs macht-wie-kommt-die-meinung-in-die-welt-12564777-p2.html (18.3.2018).
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chen kaum analysiert. (Krüger 2013, S. 99) Man wird wohl sagen dürfen, dass diese Art von Journalismus dafür mitverantwortlich ist, dass die aus bitteren Erfahrungen entstandene Friedensnorm des Grundgesetzes zugunsten einer Militärpolitik, die robust deutsche Interessen in aller Welt sichert, längst keine Rolle mehr spielt. Krüger zeigt, dass Mitgliedschaften in den genannten Institutionen oder die Einbeziehung von hochrangigen Journalisten als integraler Teil von vertraulichen Politikplanungsprozessen wohl für diese durch Hintergrundinformationen, Orientierung, exklusive Kontakte und hochrangige Interviewpartner einen hohen individuellen Nutzen habe, diese erlangten Vorteile aber im Gegenzug mehr oder weniger direkt dazu verpflichteten, die in den elitären Zirkeln vertretenen Auffassungen zu verbreiten. Dass der Nutzen für die Medienrezipienten begrenzt ist, lieg auf der Hand; unabhängiger und kritischer Journalismus ist zumindest gefährdet, ja, es stellt sich die Frage, wieweit von den journalistischen Prinzipien Unabhängigkeit, Kritik und Kontrolle überhaupt noch die Rede sein kann. Die Nähe zu den Machthabern und Entscheidern, die Journalisten offenkundig suchten, sieht Krüger bezahlt mit einer Konformität, die einen Konsens vorgaukele, wo eine öffentliche Debatte noch gar nicht stattgefunden habe. Der Autor weist in diesem Zusammenhang auf eine Art Reinheitsgebot bei der ›New York Times‹ hin, die in ihrem Ethik-Kodex festgelegt habe, dass Journalisten sich nicht in Organisationen engagieren dürften, die selbst nachrichtenwürdige Aktivitäten entfalten oder die mit Politik und Wirtschaft zusammenhängen. Krüger betont an anderer Stelle, dass die Vereinnahmung hochrangiger einflussreicher Journalisten von diesen selbst keineswegs kritisch, sondern positiv im Sinne einer verantwortungsvollen Erfüllung »staatsbürgerlicher Pflichten« gedeutet werde; Regierung und transatlantische Netzwerke bildeten somit – verbunden durch gemeinsame Wertvorstellungen – eine subtile »Verantwortungsverschwörung« mit einem Leitmedienjournalismus, die etwa in (in-)formellen Presseclubs und Gesprächskreisen von Politikern und Journalisten in der Bundeshauptstadt institutionalisiert seien. Die regierungsnahe Einbettung meinungsführender Journalisten trage – etwa in der öffentlichrechtlichen Berichterstattung – zu »beitragsfinanziertem Kampagnenjournalismus« bei, etwa während der Griechenland-Krise oder zu »gut gemeinter Einseitigkeit« bei der Flüchtlingskrise. (Krüger 2013, S.104ff.) Krügers Dissertation stellt den seltenen Fall dar, dass eine akademische Qualifikationsschrift breite öffentliche Wirkung entfaltete, in kaum einer Debatte über den Zustand des deutschen Journalismus bleibt sie unerwähnt, selbst die Satiresendung »Die Anstalt« bediente sich bei ihm, und Jakob Augstein konstatiert – Krüger zusammenfassend – zum Selbstbild von Journalisten: »Man wollte zu den Eliten gehören, also wurde man auch so wahrgenommen«, die Leser und Zuschauer hätten registriert, dass die Journalisten ihre Rolle als Kontrolleure und unbestechliche Beobachter mehr und mehr verloren hätten. Nicht zuletzt gelte dies für eine Berichterstattung über die Globalisierung, deren Früchte die Eliten ernteten, wohingegen der »Rest der Leute« zusehen solle, wo er bleibe – hier liege eine wesentliche Ursache für das Erlahmen der gesellschaftlichen Bindungskräfte.35 35
Jakob Augstein: Haben wir Grund, uns zu schämen? Von der notwendigen Selbstkritik der Journalisten. In: Lilienthal/Neverla (2017) S. 45–61, hier S. 49f. (wie Anm. 12).
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In seinem zweiten hier vorzustellenden Buch, das im Titel den Begriff »Mainstream« als Kennzeichnung für einen gleichförmigen Journalismus benutzt und danach fragt, »warum wir den Medien nicht mehr trauen«, konstatiert Krüger, dass die Berichterstattung in den klassischen journalistischen Leitmedien zu Themen wie dem islamistischer Terror in Europa, der Ukraine-Krise, Einwanderung, Präsidentschaftswahl von Donald Trump in den USA, dem Umgang mit dem »Brexit« oder dem Rechtspopulismus von ihren Rezipienten in den vergangenen Jahren zunehmend als einseitig, regierungsaffin, USA-hörig oder gar als »gleichgeschaltet« empfunden werde. Krügers zentrale Fragen lauten, wie es zu einem solchen Empfinden habe kommen können und woran es liege, dass eine zunehmende Anzahl von Medienrezipienten sich von der Berichterstattung der etablierten Massenmedien in ihrer Wirklichkeitsdeutung und politischen Einstellungsdefinition nicht mehr repräsentiert fühlten. Eine Beschreibung der Vertrauenskrise zwischen Mediennutzern und Medienmachern erfolgt am Beispiel der Kritiken zur Kriegsberichterstattung aus der Ukraine in den Jahren 2013/14. Hier beruft der Autor sich etwa auf Julian Nida-Rümelin, der von einer »Mainstream-Berichterstattung« sprach, die journalistische Gebote der Sorgfalt und Vollständigkeit, der Distanz und Objektivität verletze, und zugleich bemängelte, dass wichtige Fragen zur Ukraine-Krise in der Presse nicht gestellt worden seien, die großen Medien zeigten auffällig wenig Resistenz »gegen eine Ideologisierung der Außenpolitik des Westens«, in einer voll entwickelten Demokratie erwarte man aber eine gewisse »kritische Distanz gegenüber Nato- und CIA-gesteuerten Informationen«. Als zweiter Kronzeuge einer einseitigen Sicht auf den Ukrainekonflikt wird der Herausgeber des Handelsblatts, Gabor Steingart, benannt, der das Meinungsspektrum auf »Schießschartengröße« verengt sieht: »Westliche Politik und Medien sind eins.« (Krüger 2016, S. 17f.) Selbst der ARD-Programmbeirat kritisierte die Berichterstattung des »Ersten« über die russisch-ukrainischen Auseinandersetzungen als einseitig, lückenhaft und tendenziell antirussisch, ja, er monierte schwere journalistische Fehlleistungen.36 Krüger spricht hier erneut von einer »Verantwortungsverschwörung« zwischen Eliten und Journalisten. Es gehöre ganz sicher nicht zu den Aufgaben von Journalisten, so schließt er, bei komplexeren Feldern in der Außen-, Europa- oder Asylpolitik, wichtige Aspekte oder Politikoptionen zu verschweigen, um den Erfolg der gegenwärtigen Regierungsstrategie abzusichern oder ein erwünschtes Meinungsklima herzustellen. Es sei eine zentrale Aufgabe der DDR-Medien gewesen, das Publikum vor kognitiver Dissonanz zu bewahren, indem sie gesellschaftliche Widersprüche verschleierten oder marginalisierten. Journalismus könne, so ein Resümee, dem Misstrauen der Rezipienten entgegenwirken, wenn er selbstreflexiver, vorbehaltloser, dialogbereiter und wieder »systemkritischer« agiere. Voraussetzung für das Aufgeben einer pädagogisch-paternalistischen Haltung sei ein Grundvertrauen in die Mündigkeit des Publikums und in die Selbstregulierungskräfte der offenen, demokratischen Gesellschaft. Es gelte auch, die eigene elitäre Attitüde abzulegen, die von Zeit zu Zeit zu einer Unterdrückung bestimmter Themen und Meinungen und somit zu einer gefühlten Bevormundung der Nutzer führe. (S.145f.) 36
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ukraine-berichterstattung-fehlschuesse-der-ard13188001.html (16.3.2018).
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Zur sogenannten Flüchtlingskrise hat Michael Haller in seiner Studie über 30.000 Medienberichte erfasst und für einen gut zwanzigwöchigen Zeitraum, in dem sich im Jahr 2015 die Ereignisse überschlugen, rund 1.700 Texte analytisch ausgewertet. Im Mittelpunkt stehen Printleitmedien wie FAZ, ›Süddeutsche Zeitung‹, ›Welt‹ und ›Bild‹, über achtzig verschiedene Lokal- und Regionalzeitungen sowie die Onlinemedien ›focus.de‹, ›tagesschau.de‹ und ›Spiegel Online‹. Haller fragt, ob in den analysierten Medien neutral über die Ereignisse berichtet wurde, ob die mediale Berichterstattung zu einer gesamtgesellschaftlichen Erörterung und Verständigung über eine allgemein gewollte Form der Willkommenskultur beitrug, ob die veröffentlichten meinungsbetonten Formate ein Beispiel für etablierten Meinungspluralismus sind oder das allgemeine Meinungsbild eher einseitig abbilden sowie schließlich, wer in der Berichterstattung zu Wort kam. Hier können lediglich einige wenige der auch im Detail hochinteressanten Ergebnisse benannt werden, darunter, dass in den sogenannten Leitmedien ein nur sehr kleiner Teil authentisch recherchierte Berichte sind, aber mit zwanzig Prozent ein ungewöhnlich hoher Anteil zu den kommentierenden Formen gehört. Das sozial- und gesellschaftspolitische Problemthema sei in ein abstraktes Aushandlungsobjekt der institutionellen Politik überführt und nach den für den Politikjournalismus üblichen Routinen abgearbeitet worden. Unter den auftretenden Personen dominierten Angehörige der politischen Elite, die Berichterstattung sei auf die (partei)politische Arena der Koalitionspartner fixiert. Diejenigen, die sich in den Behörden und Einrichtungen um die Bewältigung der ungeheuren Aufgaben und Probleme des Vollzugsalltags kümmerten, erschienen aus der medial vermittelten Sicht der politischen Elite als nicht relevant. Der journalistische Qualitätsgrundsatz, aus neutraler Sicht sachlich zu berichten, werde in rund der Hälfte der Berichterstattungen nicht durchgehalten, ein Armutszeugnis also. Berichtet werde oft wertend und beurteilend, von oben herab, auktorial und in einer Diktion, die persönliche Nähe und Vertrautheit zur politischen Elite suggeriere. (S. 133f.) Viele Berichte in den Medien glichen eher der Politik-PR, als dass sie den Anspruch an einen diskursiven Journalismus einlösten, sie kollidierten mit unstrittigen Professionsregeln des Qualitätsjournalismus. Von einer unabhängigen und kritischen Sicht auf politisches Handeln könne keine Rede sein. (S. 139f.) Die Ergebnisse der Studie, so eine These Hallers, verwiesen auf gravierende Dysfunktionen des Informationsjournalismus als Teil der sogenannten Mainstreammedien. Diese Störungen hätten sich so tief eingefressen, dass sie von Journalisten oder einzelnen Redaktionen vermutlich für normal gehalten, das heißt nicht als solche wahrgenommen oder gar problematisiert würden. Es blieben tiefe Zweifel an der Unabhängigkeit der Medien. (S. 141f.) 5.
LÜGENPRESSE? »zwischen der bildzeitung und den lesern der bildzeitung besteht eine ästhetische vereinbarung, wie sie bei literatur immer besteht. in diesem fall lautet die ästhetische vereinbarung seitens der bildzeitung: wir lügen; und die vereinbarung von seiten der leser lautet: wir glauben euch nicht. – so ist alles in der ordnung. und so ist jedes bemühen sinnlos, den leuten in der ubahn ebenjene bildzeitung aus den
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händen zu reißen und auf die einzubrüllen: die bildzeitung lügt! natürlich lügt sie. welch eine alberne unterstellung.«37 »Wer erinnert sich noch an Tom Kummer? Das war der Reporter, der mit gefälschten Interviews aufgeflogen ist. Als er stürzte, riss er die damalige Chefredaktion des ›SZ Magazins‹ mit sich. Einer der Kollegen ist jetzt Chef der ›Welt‹. Daran sieht man, wie tief der Fall war.«38 Der Begriff der »Lügenpresse« ist verbrannt. Wer sich nicht mit antihumanistischem Gedankengut gemein machen möchte, wird ihn vermeiden. Historisch aber war er ein Kampfbegriff, der von allen weltanschaulichen Richtungen benutzt wurde. Wer einmal die antisemitische Presse des späten 19. Jahrhunderts gelesen hat, erfährt bis zum Überdruss, mit welchen infamen Lügen Menschen aufgehetzt wurden, und der Pressehistoriker weiß auch, dass diese Lügen bis weit in das Bürgertum und in eine Presse kolportiert wurden, die man geneigt wäre, eher als seriös zu charakterisieren. Welche Menge an Lügen findet sich in der bürgerlichen Presse des letzten Drittels des 19. Jahrhundert über die junge Sozialdemokratie? Wie hätte man die bürgerliche Presse von weit rechts bis in die liberale Mitte zu bezeichnen, die zu Beginn des Ersten Weltkrieges Lügen in die Welt setzte, die in den mörderischsten Krieg trieben, den die Menschheit bis dahin gekannt hatte? Und ist die Bezeichnung »Lügenpresse« für Blätter wie den ›Stürmer‹, den ›Völkischen Beobachter‹ oder Goebbels Blatt für Edelfedern, ›Das Reich‹, unseriös? Und ist der Slogan »Bild lügt«, den Gerichte ja vielfach bestätigt haben, vergleichbar mit jenen Pegida-Parolen, die den Begriff »Lügenpresse« zu einem Unwort und selbst die Behauptung, eine Zeitung lüge, zu einer Art Tabu gemacht haben? Den Vorwurf an Nachrichtenblätter, Lügen zu verbreiten, finden wir bereits im 17. Jahrhundert. Kaspar Stieler nennt die Zeitung eine »Schmiedin der Lügen« und eine »Betriegerin der Welt«, gleichzeitig aber auch »Eine Zeugin der Warheit« und »eine Lehrmeisterin des Verstandes«.39 Begriffe wie »Lügen-Krämer« oder »Warheit-Fälscher« kommen ihm über die Lippen.40 Alles komme auf die genaue Prüfung durch die Zeitungsmacher an, die »examiniren und prüfen vorhero die bey ihnen einlaufende Zettul/ wo sie herkommen und ob ihnen auch zu trauen sey?«.41 Prinzipiell besteht Stieler auf der Pflicht des Zeitungsmachers, sich um Wahrheit und zutreffende Informationen zu bemühen, als staatsfrommer Zeitungstheoretiker will er ihn aber auch auf Gehorsam gegenüber seiner Obrigkeit verpflichten, so dass es ihm im Kriegsfall gebühret, »als Untertanen/ zu gehorchen [...] / an stat der Niederlage/ die Uberwindung zu schreiben lassen/ sagend: Eine solche Lügen/ wenn man sie auf wenig Tage beharren könne/ sey viel tausent Gülden wehrt. Die Ursache ist/ daß es der Stat vielmals erfordert/ etwas Ungegründetes unter das Volk zu bringen/ wenn es dem gemeinen Wesen zu träglich ist.«42 37
38 39
40 41 42
Ronald M. Schernikau: Die Tage in L. darüber, daß die ddr und die brd sich niemals verständigen können, geschweige mittels ihrer literatur. Hamburg: Konkret Lit.-Verl. 1989, S. 17. Jakob Augstein (2017) S. 48 (wie Anm. 35). Kaspar Stieler: Zeitungs Lust und Nutz. Vollständiger Neudruck der Originalausgabe von 1695. Hg. von Gert Hagelweide, Bremen: Schünemann 1969, S. 26. Stieler (1695/1969) S. 50 (wie Anm. 39). Stieler (1695/1969) S. 31f. (wie Anm. 39). Stieler (1695/1969) S. 34f. (wie Anm. 39).
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Volker Bräutigam hält den Vorwurf, der Begriff »Lügenpresse« sei ein Nazibegriff, für »einen Schmarren«, ob der Begriff tatsächlich zu pauschal sei, hänge vom konkreten Anwendungszusammenhang ab. Wenn eine Gruppe von Medien wider besseres Wissen häufig unwahre Darstellungen veröffentliche, wenn Texte Lügen seien, dann sei der Begriff »Lügenpresse« auch angemessen. Wenn Medien sich zum Forum machten, auf dem Politiker und andere Magnaten unwidersprochen Unwahrheiten verbreiten dürften, dann dürfe man von »Lügenpresse« sprechen: »Wer die ›Freiheit und Demokratie‹Schaumschlägerei westlicher Regierungen unwidersprochen und unkommentiert publiziert und nicht mit deren völkerrechtswidrigem, verbrecherischem Tun abgleicht, ist ein Lügner, weil er den Schaum nicht Schaum nennt und als solchen beiseitewischt.«43 Die Bezeichnung als »Lügenpresse« sei sogar zu milde: »Als Kriegshetzer würde ich sie gegebenenfalls bezeichnen, als journalistische Friedensverräter, Beschöniger von Völkerrechtsverbrechen, als Wasserträger von Bonzen und Magnaten, je nachdem, was trifft.«44 Auch wenn in einzelnen Fällen von Lügen in Medien zu sprechen ist und historisch wie aktuell nicht geleugnet werden kann, dass in bestimmten Situationen sogar dem Kollektivvorwurf Berechtigung zukommt, erscheint es gleichwohl sinnvoll und richtig, die Worte Ulrich Tilgners, des ehemaligen ZDF-Korrespondenten in Bagdad, zu bedenken, der Vorwurf »Lügenpresse« verhindere, »dass die verhängnisvollen Mechanismen in den Medien aufgedeckt und verändert werden können. Natürlich ist es in Anbetracht der derzeitigen Machtverhältnisse eine Illusion zu glauben, es sei möglich, die Berichterstattung zu ändern. Nur sollte eine Änderung das Ziel der Forderungen sein. Der Begriff ›Lügenpresse‹ klingt zwar griffig, verfehlt aber den Kern des Problems. [...] Die Medien lügen nicht – sie verkürzen, unterschlagen, verdrehen und verfälschen.«45 Der von Irene Neverla und Volker Lilienthal herausgegebene Hamburger Sammelband, der unter dem Titel »Lügenpresse« die »Anatomie eines politischen Kampfbegriffs« verspricht, ist aus einer von den Herausgebern initiierten Ringvorlesung im Wintersemester 2016/17 hervorgegangen, an der sich Kommunikations- und Politikwissenschaftler, Medienrechtler, Soziologen und nicht zuletzt prominente Praktiker des Journalismus beteiligt haben. Unter den hier vorgestellten Publikationen ist er in seiner Vielfalt besonders anregend. Er wirbt mit dem Versprechen, die Hintergründe der Verunsicherung zu erklären, die Leser und Zuschauer ebenso erfasst habe wie die Journalisten, auch wolle es zeigen, wie das Vertrauen zurückgewonnen werden könne. Im einleitenden Beitrag steht bei Irene Neverla die Frage im Mittelpunkt, was Menschen von den Medien erwarteten und was sie damit anfängen, auch die Bedeutung solcher Fachbegriffe wie »News Bias«, »Hostile Media Effect« oder »Third Person 43 44 45
Bräutigam (2017) S. 61 (wie Anm. 25). Ebd. Tilgner (2017) S. 70f. (wie Anm. 1). Als Beispiel nennt Tilgner S. 65 seine Erfahrungen als Berichterstatter über den Afghanistankrieg, er habe sich in den Möglichkeiten beschnitten gefühlt, »das Scheitern des Westens und auch Deutschlands in Afghanistan aufzuzeigen. So wurde ich regelmäßig nach Bagdad geschickt, wenn ein Kollege aus Mainz in Afghanistan affirmative Berichte über den Einsatz der Bundeswehr am Hindukusch fertigte.« Tilgner berichtet weiter, selbst sein Telefon sei zu dieser Zeit abgehört worden, erst später habe er erfahren, dass er im Auswärtigen Amt in Berlin als nicht vertrauenswürdig und damit als nicht zu unterstützender Journalist gewertet worden sei.
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Effect« werden erläutert. Viele der folgenden Beiträge sind höchst informativ, sei es etwa zur neueren, durch die digitalen Medien bestimmten Entwicklung, besonders aber, wo Praktiker über ihren Beruf schreiben. Horst Pöttker setzt sich mit Strategien zur Bildung von Vertrauen auseinander. Er plädiert für eine gesunde Skepsis gegenüber Medien und die Vermittlung von Kenntnissen über die Praxis journalistischer Arbeit (S. 211–227), Michael Haller setzt sich mit Fehlentwicklungen im Journalismus auseinander (S. 228 – 247), Uwe Krüger hält eine Streitrede wider Konformität im Journalismus und plädiert für eine kritische Journalistik (S. 248–268). Unter den Journalisten macht Jakob Augstein seine Kollegen dafür mitverantwortlich, dass rechtspopulistische Bewegungen an Boden gewinnen konnten, da die Medien in ihrer Elitenorientierung das Verständnis für die Alltagsprobleme »einfacher« Menschen verloren hätten (S. 45–61). Einig sind sich alle Beiträger, dass das Vertrauen in die das Fundament des politischen Diskurses schaffenden Medien für eine demokratische Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist, auch wird betont, dass diese weiterhin als wichtigste Vermittler politischer Kommunikation zu gelten hätten.46 Es gibt durchaus verblüffende Aussagen in diesem Sammelband. So weist Michael Haller darauf hin, dass ein historisch gewachsenes journalistisches Programm einer allseitigen Information als Grundlage der Meinungsbildung auch heute noch ein Bedürfnis der meisten Leser sei. Er zeigt für das Jahr 2016, dass die klassischen Informationsmedien, unter ihnen die Zeitungen, weiterhin die größte Reichweite nicht nur bei älteren Menschen haben, dass vielleicht sogar der Strom von Falschmeldungen auf den Internetplattformen die Nachfrage nach faktensicheren und wenigstens insofern glaubwürdigen Realitätsbeschreibungen zunehmen lässt.47 »LÜCKENPRESSE« ODER »LÜGENPRESSE«? »Presse- und Medienkritik gerät in eine bedrängte Lage. [...] ›Lügenpresse‹ gehört nicht zu unserer Denkungsart und unserem Wortschatz, aber wir haben 1968 Springer blockiert unter dem Motto ›Bild lügt‹. Das gilt heute noch und nicht nur für ›Bild‹.«48 Im Sammelband von Jens Wernicke spricht Noam Chomsky vom »Mythos der freien Presse«, Rainer Mausfeld von massenmedialer Ideologieproduktion, Maren Müller von alltäglicher Manipulation, Sabine Schiffer darüber, wie mit Fakten gelogen werde, Rainer Butenschön davon, dass von innerer Pressefreiheit keine Rede sein könne, und Markus Fiedler zeigt, dass Zensur durchaus stattfinde. Ein düsteres Bild wird hier gezeichnet. Jens Wernicke meint zum Zustand der Presse: »Viel wichtiger als die Frage nach der Lüge scheint mir [...] jene zu sein, was um alles in der Welt hier nicht stimmt.« (S. 7) Er bezieht dies auf die Militarisierung der Außenpolitik, in den Medien als »humanitäre Mission« und »Krieg gegen den Terror« verkauft, und ein Auseinanderdriften von täglich erlebtem und medial behaupteten Wohlstand im Land. Volker Bräutigam meint über den »Krieg gegen den Terror« gar: »Diesen Krieg hat es nie gegeben, sondern immer nur 6.
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Reinemann/Fawzi/Obermaier (2017) S. 77f. (wie Anm. 12). Michael Haller: Transparenz schafft Vertrauen. Folgerungen aus der Fehlentwicklung des Journalismus. In: Lilienthal/Neverla (2017) S. 234 (wie Anm. 12). Zitat von Wolfgang Gehrcke und Christiane Reymann im Textkasten innerhalb des Beitrags von Rossum (2017) S. 22 (wie Anm. 4).
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Kriege um Rohstoffe, um Transitschneisen für Öl und Gas sowie um geostrategische Machtposition. Und Kriege gegen Regierungen, die sich dem US-amerikanischen Hegemonialanspruch nicht unterwerfen wollten.« (S. 57) Bräutigam wirft den wichtigsten deutschen Medien eine Dämonisierung bestimmter Machthaber vor, bis ein Krieg sich als unvermeidlich zur Befreiung der von ihnen regierten Völker darstellen lasse, als Kampf für mehr Menschenrechte und Demokratie: »Dass es in Wahrheit um militärisches Vormachtstreben im Mittelmeer, um lybisches Gold und Erdöl, um syrische Transitstrecken für Öl und Gas aus den arabischen Monarchien und um den Schutz des ›Petro‹-Dollars ging und geht – und ganz und gar nicht um die Befreiung von Bösewichtern – wird bei solcher Nachrichtengestaltung natürlich nicht klar.« (S. 57) Journalismus nach Wahrheit und Lüge zu sortieren, so Walter van Rossum, bringe nicht weiter. (S. 7f.) Wichtiger als platte Unwahrheiten erscheine, was nicht gesagt werde. Welcher Zuschauer von »Tagesschau«, »Heute« und »Tagesthemen« weiß, was es mit der aus dem BND-Dunstkreis gegründeten und maßgeblich vom Bundeskanzleramt finanzierten Lobbyorganisation »Stiftung Wissenschaft und Politik« oder all den anderen, gerne als »Think Tanks« bezeichneten Organisationen auf sich hat, die in diesen Nachrichtensendungen regelmäßig als Experten vorgestellt werden und zu Wort kommen? Welche anderen Experten bleiben ungehört in der Öffentlichkeit? Wie nah ist es an der Lüge, sich an bestimmte Sprachregelungen zu halten? Von einer »Lückenpresse« statt einer »Lügenpresse« geht der Politikwissenschaftler und Journalist Ulrich Teusch aus; sein Buch stand auf der Shortlist der Friedrich-EbertStiftung für deren Preis »Das politische Buch 2017«, für sein SWR-Feature »Nicht schwindelfrei – Über Lügen in der Politik« erhielt er 2013 den Roman-Herzog-Medienpreis. Er geht bei seiner Analyse des aktuellen Journalismus von einem »Mainstream innerhalb des Mainstreams« aus, in dem es wenig Pluralität gebe, der sich zu einer interessengeleiteten Formation entwickle und gleichzeitig für die große Masse der Medien informell orientierend wirke. Der mediale Mainstream sei im Grunde deckungsgleich mit dem politischen Mainstream, beide machten geschlossen Front gegen Alternativen von links oder rechts, Konflikte würden medial nur noch sichtbar, wenn sie auch im politischen Feld vorhanden seien: »Das kann man aktuell wunderbar beobachten am Beispiel des linken Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn, wo eben nicht nur die Kommentierung, sondern auch die schlichte Berichterstattung über Corbyns Positionen und Einlassungen extrem einseitig ist. Das ist […] durch zwei wissenschaftliche Studien belegt worden. Eine davon wurde von der ›London School of Economics‹ erstellt, die in der Einseitigkeit der Berichterstattung sogar eine Gefährdung demokratischer Prozesse erkennt und den Medien vorwirft, vom ›Wachhund‹ zum ›Kampfhund‹ zu mutieren. Das Gleiche kann man natürlich bei geopolitischen Konflikten beobachten, in die ›der Westen‹ involviert ist.«49
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Diese Erläuterung des im Buch Gesagten in: »Mich macht so eine Selbstgefälligkeit sprachlos«. Ulrich Teusch im Gespräch mit Paul Schreyer. In: Hintergrund. Das Nachrichtenmagazin, 9.9.2016 (https://www.hintergrund.de/medien/mich-macht-so-eine-selbstgefaelligkeit-sprachlos/ (12.12.2017). Die erwähnte Studie unter http://www.lse.ac.uk/media-andcommunications/research/research-projects/representations-of-jeremy-corbyn (12.12.2017).
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An aktuellen Beispielen der Berichterstattung zum Brexit, zum USA-Wahlkampf und zum sogenannten Russlandbashing kommt Teusch zu dem Schluss, die Darstellungen folgten tendenziösen Narrativen oder journalistischen Deutungsmustern, eingebettet in einen tendenziösen »Frame« und nach Art der politischen Propaganda versehen mit einem »Spin«, also mit dem »richtigen Dreh«. Weiter seien Doppelstandards und das Messen von politischen Sachverhalten nach zweierlei Maß ebenso charakteristisch wie selektive Darstellungen, die Unterdrückung wichtiger Informationen und das künstliche Hochspielen oder Unterdrücken von erwünschten bzw. unerwünschten Nachrichten. Den Begriff »Lügenpresse« lehnt Teusch ab, dieser verhärte unnötig die Fronten zwischen Journalisten und Rezipienten, er sei obendrein analytisch sehr schwach. Damit aber will er die Existenz von Lügen in den Medien keinesfalls bestreiten: »Der große amerikanische Journalist Charles Lewis und seine Mitarbeiter haben mal nachgezählt, wie viele Lügen die Bush-Administration in Zusammenhang mit dem Irak-Krieg im Jahr 2003 in Umlauf gesetzt hat. Es waren insgesamt 935! Und viele dieser Lügen wurden ganz selbstverständlich und ohne kritische Prüfung gedruckt und gesendet – mit desaströsen Folgen, wie wir wissen. Das wirft zweifellos einige höchst unangenehme und eminent wichtige Fragen auf. Dennoch glaube ich: Das eigentliche Problem sind nicht Lügen, sondern Lücken.«50 Ein Journalismus, der sich Narrativen füge, sei ein Widerspruch in sich selbst, konstatiert Teusch, über die Anwendung von Doppelstandards und darüber, ob diese von Journalisten bewusst angewandt würde, meint er, dies hänge davon ab, wo ein Journalist in der Hierarchie stehe: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Alpha-Journalisten, denen ich ja ein gewisses strategisches Denkvermögen attestiere, so etwas unbewusst machen. Bei vielen anderen Journalisten glaube ich aber schon, dass sie das einfach nicht reflektieren. Nehmen wir den Mord an Boris Nemtzow. Den Namen Nemtzow kennt natürlich inzwischen jeder deutsche Journalist. Wenn Sie hingegen nach Oles Buzina fragen, herrscht totale Unkenntnis. Oles Buzina war ein bekannter ukrainischer Journalist, ein Kritiker des neuen Regimes in Kiew; er wurde wenige Wochen nach Nemtzow ermordet, und im fraglichen Zeitraum gab es ein Dutzend Morde und mysteriöse Selbstmorde dieser Art in der Ukraine. Ich habe viele Kollegen darauf angesprochen – und immer nur große Augen gesehen. Sie wissen einfach nichts davon. Manchmal frage ich mich, wo und wie diese Leute sich eigentlich informieren.«51 Auf die Frage, ob Journalisten sich damit unfair verhielten, urteilt er: »Es hat weniger mit Fairness als vielmehr mit Interessen, auch mit geopolitischen, zu tun. Die ARD-Korrespondentin Ina Ruck zum Beispiel hat einen Beitrag über Polizeigewalt in den USA gedreht. Es ging um die rund 1000 Todesopfer im Jahr 2015. Als Ursachen benannte sie die Anzahl der Schusswaffen und ein falsches Konfliktmanagement. Politische Verantwortung thematisierte sie nicht. Vorher war sie lange Zeit in Moskau. Dort hätte sie die Frage gestellt, wie lange sich Putin bei so vielen Toten noch halten kann. Dieses mit zweierlei Maß Messen ist leider ein großer Trend.«52 50 51 52
Ebd. Ebd. Buchautor Ulrich Teusch: »Medien werden Glaubwürdigkeit nicht zurückgewinnen«. In: kressnews vom 24.8.2016: https://kress.de/news/detail/beitrag/135760-ard-mann-ulrichteusch-medien-werden-glaubwuerdigkeit-nicht-zurueckgewinnen.html (12.12.2017).
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Ulrich Teusch ist der Forderung von Karl Philipp Moritz verpflichtet, Journalismus habe seinen Beitrag zur »öffentlichen Handhabung der Gerechtigkeit« zu leisten,53 anknüpfend an die britischen Medienkritiker David Edwards und David Cromwell fordert er einen integrierenden Journalismus, der als gesellschaftliches Frühwarnsystem fungieren solle, dafür müsse dieser aber »das Spektrum erweitern, er muss Menschen, die ganz anders sind – anders leben, anders denken, anders handeln –, mit Neugier und Empathie begegnen, auch den Verlierern, den Ausgegrenzten, den Stigmatisierten«. (S. 209) Teusch kritisiert mit einem gemeinsam mit dem Hörfunkdirektor des Bayerischen Rundfunks, Johannes Grotzky, entwickelten Begriff von einem »vermeintlichen Journalismus« jene Art der Berichterstattung, die sich oft implizit an die Interessen politischer und wirtschaftlicher Eliten schmiege und dabei verflachend plakativ und tendenziös erscheine. (S. 39) Teusch fordert dagegen eine Verteidigung der noch vorhandenen Refugien eines integren Journalismus und eine präzise, differenziert und seriös vorgetragene Medienkritik, auch eine Unterstützung von Alternativmedien, von denen es im Internetzeitalter immer mehr gebe und die begännen, eine echte Macht darzustellen. Auf die angesichts der aktuellen Vertrauenskrise gegenüber den Medien gestellte Frage, ob und wie sich am Vertrauensverlust etwas ändern könne, antwortet er im Sinne eines aufgeklärten und aufklärerischen Verhältnisses gegenüber den Massenmedien: »Das soll sich gar nicht ändern. Ich finde es gut, dass die Menschen dem Mainstream nicht vertrauen. Solch ein Vertrauen wäre kindisch und naiv. Es ist ein Ausdruck geistiger Reife, Medien mit Skepsis, mit einer medienkritischen Haltung zu begegnen. Ich selbst als Journalist möchte auch nicht, dass sich eine Gemeinde bildet, die meinen Berichten unbesehen vertraut. Die Rezipienten sollen sich damit kritisch und konstruktiv auseinandersetzen und ein eigenes Urteil bilden.«54 Vorwürfe gegenüber einer vermeintlich tendenziösen Presse sind, wie bekannt, keineswegs vor allem Teil einer linken oder linksliberalen Medienkritik, sondern kommen ganz besonders auch von rechts. Es mag irritierend sein, dass die Kritik insbesondere an der außenpolitischen Berichterstattung sich oft ähnlich ist. In innenpolitischen Fragen sieht dies anders aus. Hier erfolgt insbesondere im Zusammenhang mit den Flüchtlingen im Herbst 2015 oder den Kölner Silvesterereignissen 2015 der Vorwurf, die Grenzen zwischen Berichterstattung und Meinungsjournalismus geöffnet und die Realitäten verzerrt dargestellt zu haben. (Unterberger, S. 23, auch im Vorwort des Verlegers Werner Reichel, S. 11–13) Das Buch von Andreas Unterberger, ehemaliger Chefredakteur der Tageszeitungen ›Die Presse‹ und der ›Wiener Zeitung‹, solle ein Beitrag zur Versachlichung der aktuellen Debatte über »Lügenpresse und Fake News« sein, kündigt der Verleger in seinem Vorwort an. Die Motti, unter denen das Werk steht, nämlich neben dem berühmten Wort von Hanns Joachim Friedrichs, ein guter Journalist mache sich nicht gemein, auch mit einer guten Sache nicht, sowie eine Forderung des CSU-Generalsekretärs Andreas Scheuer, um Fakten und Unwahrheiten zu trennen, müssten seriöse Me53
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Dazu Holger Böning: »Das Ideal einer vollkommnen Zeitung«: Karl Philipp Moritz und seine »reizenden Träume der Phantasie«. In: Zeitungen und andere Drucksachen. Die Bestände des Dortmunder Instituts für Zeitungsforschung als Quelle und Gegenstand der Forschung. Essen: Klartext 2014, S. 215–227. Teusch (2016) (wie Anm. 52).
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dien heute alle bekannten Fakten veröffentlichen, um damit auch wilden Spekulationen Einhalt zu gebieten, würden wohl auch von allen anderen hier vorgestellten Autoren unterschrieben werden. In manchen Feldern gleicht die Kritik der, die von links an den Medien geübt wird, so am Gebrauch von Kampfvokabeln, neudeutsch als »wording« bezeichnet, »um konservative, wirtschaftsliberale oder rechtspopulistische Positionen und Personen ins Zwielicht zu rücken« (S. 30f.), an einseitigen Kommentierungen in den von Nachrichtenagenturen verbreiteten Meldungen (S. 31f.), an bewusst in die Welt gesetzte Falschmeldungen durch PR- und Werbeagenturen (S. 38) oder an einer manipulativen Berichterstattung. In anderen Punkten hebt sie sich deutlich ab, wenn Unterberger etwa die Linkslastigkeit einer großen Mehrheit der Journalisten, die Bildung einer Medienfront gegen Islamkritiker oder eine »massive islamistische bis linksextremistische Unterstützung für die Terroristen in offenen Facebook-Gruppen« behauptet (S. 53, 67). Unterberger sieht für vieles, was ihm an wichtigen Teilen an zentralen Medien nicht passt, eine kulturelle Hybris der Linken verantwortlich, die glaube, alle Andersdenkenden regulieren zu dürfen oder gar zu müssen. Die Linke habe in den alten Medien Partner für ihre Bemühungen um eine »Umerziehung« gefunden, vom »Gender Mainstreaming« bis zur »Welcome-Politik«. Entsprechend sei die Linke zur Verteidigerin von »Old Media« geworden und zeige eine starke Tendenz zur Zensurierung von Internetinhalten. Sehr berechtigt erscheint die Kritik an deutschen Plänen, nach denen im Internet binnen 24 Stunden nach einer Meldung durch wen auch immer »Fake-News« gelöscht werden müssen. Es ist in der Tat rechtsstaatlich unmöglich, innerhalb einer solchen Frist Wahrheit von Unwahrheit zu unterscheiden, unklar bleibt, wer hier Richter sein soll, auch ist das Grundrecht der Meinungsfreiheit tangiert. (Unterberger S. 83f., 106) Man stelle sich einmal eine ähnliche Regelung für die Zeitungen vor. Unterbergers Buch ist im Verlag »Frank&Frei« erschienen, der gemeinsam mit einem gleichnamigen Magazin, das den Untertitel »Magazin für Politik, Wirtschaft und Lebensstil« trägt, angetreten ist, um die »linkslastige Medienlandschaft mit konservativen, liberalen, libertären und rechten – ja, richtig gelesen – auch mit rechten Inhalten, Meinungen und Ansätzen anzureichern oder, wie es Linke wohl sehen, zu kontaminieren«.55 Ein weiteres Werk, verfasst von Peter Denk, trägt plakativ den Titel »Lügenpresse« und ist im J.K. Fischer Verlag erschienen, wo das Buch sich in unappetitlicher Nähe etwa zu einem Werk findet, dessen Autor »die Familie Rothschild als Kern einer weltweiten Verschwörung der Hochfinanz« zeigen will, »deren Kontrollnetz sich wie Krakenarme um die ganze Erdkugel geschlungen hat und sich immer fester zusammenzieht«.56 Allerdings spielen Extrempositionen bei Denk keine Rolle, er ist um Sachlichkeit bemüht und bietet einleitend eine Geschichte der Presse. Ausgangspunkt ist die Überzeugung des Autors, es sei kritisch, wenn von allen Medien in immer mehr Themenbereichen unabhängig von nominellen politischen Ausrichtungen »nur noch genau eine Meinung verbreitet wird«, andere Auffassungen hingegen nicht zugelassen würden, denn ohne wirklich freie Medien könne es keine echte Demokratie geben. (Denk S. 27f., 31) Detaillierter befasst sich Denk mit dem, was er die Erzeugung eines Spins in der Berichterstattung nennt, also mit dem Vorgang, bei dem eine Aussage oder Wahrheit in eine 55 56
http://www.verlagfrankundfrei.at/ (30.1.2018). https://www.j-k-fischer-verlag.de/J-K-Fischer-Verlag/Die-Rothschilds--18.html (30.1.2018).
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gewünschte Richtung gedreht werde. Damit einher gingen meisten unterschwellige Manipulationen von Aussagen, Bildern oder Berichten in eine bestimmte Richtung. (S. 32) Neben den Lügen, die zum ersten Krieg gegen den Irak führten, nennt er manipulierte Videos in der Berichterstattung über den Ukraine-Konflikt in den »Tagesthemen« und zur »Flüchtlingskrise« – hier spricht er von einer regelrechten Medienkampagne. Zu anderen Ereignissen wird der mehr oder weniger begründete Verdacht ausgesprochen, dass Fälschungen im Spiel sein könnten, belegt zum Teil mit Schwarzweißbildern, auf denen wenig oder nichts zu sehen ist. (S. 51) Als Beispiel einer Steuerung der Massenmedien wird die Berichterstattung über den Absturz von German Wings 4U9525 angeführt. Ein eigenes Kapitel ist der Darstellung von PEGIDA gewidmet, die Denk als »Hort des Bösen« diffamiert sieht. Als »Sündenfall der Massenmedien« wird endlich die Berichterstattung über 9/11 bezeichnet: Fast alle westlichen Medien hätten nahezu einheitlich berichtet, vielen sich aufdrängenden Fragen sei nicht nachgegangen worden, obwohl die offizielle Version der Vorgänge geradezu abenteuerlich sei. Gegen jeden Zweifel sei als Keule der Vorwurf der »Verschwörungstheorie« geschwungen oder die Behauptung lanciert worden, Kritik an den deutschen Medien sei durch »Putin und seine Trolle« initiiert. (S. 177) Dem vom Autor als neu empfundenen Feindbild der Medien, Russland und Putin, ist ebenfalls ein eigenes Kapitel gewidmet, auch hier werden etwa der ARD regelrechte Fälschungen wie sinnentstellte Interviews und die Zensurierung von Aussagen des russischen Präsidenten vorgeworfen, Neutralität, journalistische Grundsätze und Ehrlichkeit seien in der Berichterstattung zu Russland komplett beerdigt worden. (S. 200–206) Das Titelbild des ›Spiegel‹ in der Ausgabe Nr. 31 vom 28. Juli 2014 mit der Textzeile »Stoppt Putin jetzt!«, eingerahmt von Porträtfotos zahlreicher Befürworter dieser Aufforderung, empfindet Denk als Kriegshetze. (Denk 2015, S. 246f.) Denk spricht wie andere der hier vorgestellten Autoren von einer extremen Doppelmoral der Medien bei der Berichterstattung über vergleichbare Phänomene je nach dem Land, in dem diese zu beobachten sind, er schließt mit dem Gedanken, es wäre ein Anfang, wenn wieder Massenmedien vorhanden wären, die eine Vielfalt darstellten. (Denk S. 279, 277) In diesem Zusammenhang ist auf eine Studie hinzuweisen, die als Münchener Masterarbeit in den Kommunikationswissenschaften entstand und danach fragt, welchen Beitrag Medienangebote zum Bild einer fremden Nation leisten, die aufgrund ihrer Reichweite und ihres Marktanteils praktisch als Synonyme für Fernsehnachrichten verwendet werden könnten, konkret, wie in der »Tagesschau« das Russlandbild konstruiert und welches Deutschlandbild von der Nachrichtensendung »Wremja« im russischen Staatsfernsehen vermittelt wird. Das Ziel der Arbeit von Daria Gordeeva, die vom Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU mit dem Best Thesis Award 2017 ausgezeichnet wurde, liegt darin, mithilfe einer Kritischen Diskursanalyse Strukturen und Deutungsmuster in der Berichterstattung aufzudecken, die dahinterliegenden Machtverhältnisse und Interessen transparent zu machen und herauszuarbeiten, welcher Strategien sowie rhetorischer und gestalterischer Mittel auf sprachlicher, visueller und auditiver Ebene sich die Nachrichtensendungen bedienen. Die Ergebnisse einer zweistufigen, kategoriengeleiteten Inhaltsanalyse zeigen: »Die Ost-West-Konfrontation des Kalten Krieges wurde bis heute nicht überwunden
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und lässt sich unter anderem in diplomatischen, militärischen, wirtschaftlichen, historischen und Personalisierungsdiskursen immer wieder finden. Die Journalisten verzichten auf jeden Perspektivenwechsel, greifen stattdessen auf gewohnte Muster, Klischees und bestehende Freund-Feind-Bilder zurück ‒ und sind blind für die Interessen der ›Anderen‹«. Das Russland, welches die »Tagesschau« konstruiere, so fasst die Autorin zusammen, sei mächtig und böse, Gegenpol zur friedlichen EU, die sich zugleich um all diejenigen kümmern müsse, die unter Russland litten. Die »Tagesschau« mache Russland und Putin zu Synonymen, lasse Oppositionelle zu Wort kommen – und niemanden sonst – und halte sich ansonsten an das, was auch das Auswärtige Amt sage. (S. 64) Was »Wremja« über Deutschland berichtet, lasse – welche Überraschung – Putins Russland gut aussehen, Deutschland hingegen werde als ein Land am Abgrund dargestellt, unsicher, mit einer verängstigten Bevölkerung und machtlosen Politikern wie Angela Merkel. Während die Kanzlerin zu denen gehöre, die Russland schaden wollten, gibt es im russischen Fernsehen nicht nur für die Demonstranten bei der Münchener Sicherheitskonferenz Lob, sondern auch für Horst Seehofer (S. 83). Fazit der Autorin: Die Berichterstattung sei »einseitig und tendenziös« – auf beiden Seiten (S. 87).57 Fast möchte man meinen, der »Schwarze Kanal« feiert seine Auferstehung – nicht nur in Russland, wie ohnehin allgemein vermutet, sondern auch in der deutschen Medienlandschaft. ÖKONOMISIERUNG UND JOURNALISTISCHE QUALITÄT »Journalismus ist eine Ware in neoliberal optimierten Betrieben. Ökonomisch gesehen sind die allermeisten journalistischen Produkte Verpackung für die Werbung, von der die Blätter und Sender leben. Wenn die mediale Währung in Quote und Profit besteht, ist das ganze Qualitätsgequassel nur pure Ideologie. Wenn sie so wollen, ist das die ›Lügenpresse‹ – endloser Betrug und Selbstbetrug über die Geschäftsgrundlagen.«58 »Und in manchen Verlagen haben Manager den Journalismus fast ganz vor die Tür gesetzt.«59 Teuschs Buch zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass es klare Worte zur Eigentumsfrage findet, er ist davon überzeugt, dass wir Medien bräuchten, die tatsächlich der Gesellschaft gehörten und ihr verpflichtet seien. (S. 172) Die Schaltstellen im Mediensystem seien engstens mit ökonomischen Fragen verknüpft, Journalisten wirkten dabei eher als »Rädchen im Getriebe« (S. 177), um die zentrale Frage der Besitz- und Kontrollstrukturen machten sie oft einen großen Bogen, »weil sie sich dann zwei Fragen stellen müssten: Kann ich, wenn ich zum Beispiel in einem großen Medienkonzern
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Daria Gordeeva: Russlandbild in den deutschen Medien – Deutschlandbild in den russischen Medien. Konstruktion der außenpolitischen Realität in den TV-Hauptnachrichtensendungen. (= Münchener Schriften zur Kommunikationswissenschaft, Nr. 8.) In: Michael Meyen (Hg.): Medienrealität 2017: https://medienblog.hypotheses.org/1001 (20.3.2018); dort die komplette Studie. Rossum (2017) S. 26 (wie Anm. 4). Benno Stieber: Je kleiner, desto schwächer. Der Fall des freien Journalisten Hubert Denk zeigt: In Deutschland gerät die Pressefreiheit unter Druck. In: Die Zeit, 2013, Nr. 52. Auch in: http://www.zeit.de/2013/52/deutschland-pressefreiheit-freie-journalisten (5.2.2018).
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arbeite, eigentlich integren, unabhängigen Journalismus betreiben? Und wenn ich schon dort arbeite, warum gerate ich mit diesen Strukturen nicht viel öfter in Konflikt?«60 Die Ökonomisierung besonders der Printmedien und der profitorientierten Rundfunk- und Fernsehsender hat dazu geführt, dass von einer Beachtung journalistischer Prinzipien, wie sie der »Pressekodex« des Deutschen Presserates formuliert – dort sind nicht wenige Grundsätze verankert, die im 17. und 18. Jahrhundert entstanden sind –, oft keine Rede mehr sein kann. Dort wird in Ziffer 3 eine Verpflichtung formuliert, die grundlegend ist für das Vertrauen von Lesern, Hörern und Zuschauern gegenüber den Medien: »Veröffentlichte Nachrichten oder Behauptungen, [...], die sich nachträglich als falsch erweisen, hat das Publikationsorgan, das sie gebracht hat, unverzüglich von sich aus in angemessener Weise richtig zu stellen.«61 Im frühneuzeitlichen Nachrichtenwesen gehörte dies zu den Selbstverständlichkeiten journalistischer Praxis. Einzelne Zeitungen des ersten Zeitungsjahrhunderts haben eigene Rubriken, in denen sie Monat für Monat, für »Correctio Nicht erfolgender Sachen« sorgen. Im ›Nordischen Mercurius‹ steht diese wichtige Information der Leser unter dem Motto »Eine Post corrigirt die andere«.62 In den aktuellen deutschen Zeitungen werden allenfalls Aprilscherze richtiggestellt. Die Ausnahmen sind leicht zu zählen, zu ihnen gehört, um das Beispiel einer regionalen Monopolzeitung zu nennen, der Bremer ›Weser-Kurier‹, der eine solche Rubik mit dem Titel »Korrektur« eingerichtet hat – mit einem prominenten Platz auf Seite 2 und dort nicht zu übersehen. Leider artikuliert sich hier aber nicht journalistisches Ethos, sondern das Fehlen journalistischer Professionalität und jeglicher Qualitätskontrolle. Endredaktion Fehlanzeige; Korrektoren Fehlanzeige. Immer wieder sind Namen von Interviewpartnern und gar der eigenen Autoren verwechselt oder falsch geschrieben. Da wird über Vorträge berichtet, die gar nicht stattgefunden haben, sondern in Wirklichkeit auf einen späteren Zeitpunkt verschoben worden sind,63 der Bundesaußenminister wird als Verteidigungsminister tituliert,64 ein Bremer LuftfahrtWorkshop angekündigt, der schon im Vorjahr stattgefunden hat.65 Auf einfachste Recherchen wird verzichtet, peinliche Rechtschreibefehler finden sich selbst in Schlagzeilen und Bildunterschriften, von sachlichen Unrichtigkeiten ganz zu schweigen, wenn aus einem abgebildeten Sonnenaufgang ein -untergang wird66 oder eine Reparatur der beschädigten Nase des Bremer Stadtmusikantenesels angeblich mit einem Bandschleifer durchgeführt wird, auf dem Bild aber für jedermann sichtbar ein Winkelschleifer zu sehen ist.67 Ob eine Kripo-Sonderkommission, eingerichtet zu hundertfachem Mord in einer Klinik – »Kadio« oder »Kardio« heißt, ist nicht so wichtig: wer beherrscht heute schon noch Latein?68 Ob die belgische Flagge gezeigt wird oder die
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Teusch/Schreyer (2016) (wie Anm. 49). http://www.presserat.de/pressekodex/pressekodex/ (12.2.2018), Hervorh. vom Verfasser. Nordischer Mercurius, Jg. 1673, Beginn des Monats Juni, vor S. 337. WK 17.6.2017. WK 11.3.2017. WK 12.11.2016. WK 4.8.2017. WK 8.7.2017. WK 20.2.2018.
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deutsche – die Farben sind schließlich gleich.69 Ob CO2 geatmet wird oder CO – das wird schon niemand merken.70 Ob ein Film zwei Gigabit oder Gigabyte groß sein soll – es ist halt wie mit dem Unterschied von Äpfeln und Birnen, bezeichnet das eine doch die Geschwindigkeit einer Datenübertragung, das andere aber eine Datenmenge.71 Ob ein Künstler, der 2018 seinen 80. Geburtstag feiert, tatsächlich, wie behauptet, in der DDR geboren wurde oder in sonst einem Land – da müsste man ja Geschichte studieren.72 Oder Physik: eine Interkontinentalrakete soll ihr 10.000 km entferntes Ziel nämlich in 30 Sekunden erreichen, stattdessen sind es aber – in Zeiten zunehmender Spannungen: glücklicherweise – richtig 30 Minuten.73 Ob Willy Brandt seinen 100. Todestag feiert oder seinen 100. Geburtstag – der durch das Lesen seiner Zeitung gut informierte Leser mag erraten, was tatsächlich zutrifft, ersteres, wie behauptet, jedenfalls nicht.74 Viele Male wurde in Berichten, in denen es um Kosten und öffentliche Ausgaben ging, falsch von Millionen statt richtig Milliarden gesprochen – oder umgekehrt.75 Da soll man für eine Milliarde Euro fünf Millionen Kilometer Radweg bauen können, also 125mal um die Erde; tatsächlich sind es aber Meter, ein Tausendstel der behaupteten Länge also.76 Ob ein Unternehmen 13,5 Millionen, wie behauptet, oder ebenso viel Milliarden Überschuss vor Steuer ausweisen kann – ganz egal, das merkt ja keiner,77 ob eine Bank einen Kaufpreis von – wie behauptet – einer Million oder einer Milliarde hat – dafür gilt das Gleiche.78 Ob 1.112.435 Menschen, die in einem Jahr ins schöne Bremen kommen und dort im Durchschnitt 1,8 Nächte übernachten, tatsächlich, wie behauptet, nur je gut einen Euro und damit 1,3 Millionen Euro in die Kassen spülen oder ob es nicht doch tatsächlich 1,3 Milliarden sind, spielt bei der maroden Finanzlage der Stadt auch keine Rolle.79 Ob Zahlen die Mehreinnahmen und -ausgaben der Bundesländer bezeichnen oder deren Überschüsse und Defizite – die Zahlen sind in jedem Falle ganz schön groß.80 Einzelne Versehen sind sicher lässlich. Etwa, wenn angesichts des bekannten Bremer Wetters statt der aktuellen noch einmal die Wettervorhersage des Vortages abgedruckt wird; oder wenn man vergisst, die Börsendaten zu aktualisieren. Oder wenn klug darüber nachgedacht wird, warum die junge Generation wählen solle und die Schlagzeile dann – wahlweise für ein besseres Bildungswesen oder die Wiedereinführung von Zeitungskorrektoren werbend – wie folgt lautet: »Warum die junge Leute ihr Kreuz machen sollten«.81 Fehler sind schließlich menschlich – aber in solcher Ballung? In der Masse 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81
WK 19.2.2018. WK 13.1.2018. WK 5.12.2018. WK 23.1.2018. WK 28.2.2017. WK 21.2.2018. WK 25.11.2016; 11.1.2017; 13.1.2017; 6.10.2017. WK 15.2.2017. WK 31.3.2018. WK 27.3.2018. WK 7.3.2018. WK 1.2.2018. WK 17.9.2017
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wird die oft im arroganten Ton geführte Auseinandersetzung mit »Fake-News« zum Werfen mit Steinen im Glashaus: Bei »Fake News«, so erfährt der Leser des ›WeserKuriers‹, gehe es genau darum: »mehr Faktenchecks«, denn: »Aus dem Bauch heraus lässt sich eine Lügengeschichte nur selten erkennen.«82 Genau! möchte man kommentieren. Vor allem aber fragt man sich, ob Journalisten, die immer wieder Millionen und Milliarden nicht auseinanderhalten können, wohl sachkundig dazu in der Lage sind, eine Verschwörungstheorie von einer Verschwörung zu unterscheiden. Und was hat das mit Ökonomisierung zu tun? Was mit dem Ausgliedern von Zeitungsboten in tarifungebundene neue Unternehmen begonnen hat, ist längst auch das Schicksal von Journalisten. Andreas Unterberger meint als ehemaliger Chefredakteur, dass als Folge eines ununterbrochenen Personalabbaus zwangsläufig ein Qualitätsverlust und endlich auch ein weiterer Leserverlust erfolgen müsse. (Unterberger S. 61) Es rächt sich an der journalistischen Qualität, wenn ohne Rücksicht auf Verluste Personal freigesetzt wird und nur noch die betriebswirtschaftliche Logik zählt. Das Zusammenstreichen der Redaktionsbudgets hat zum Abbau von Berichterstattern und Fachjournalisten geführt, die ihre Themen kontinuierlich bearbeiten konnten, gewachsen ist die Abhängigkeit von Zulieferungen durch Pressestellen und PR-Agenturen. (Unterberger S. 75) Die wirtschaftlich prekäre Lage vieler Journalisten, die sich in Arbeitsverdichtung, Zeitmangel und unsicherer Berufsperspektive zeigt, führt zur Veränderung ihres Selbstbildes, sie werden vom Aufpasser zum Anpasser. (Krüger, S. 38f.) Schlechtbezahlte Freie Mitarbeiter, deren materielle Unsicherheit Konformität und stromlinienförmigen Journalismus fördert, zimmern gegen Zeilengeld Meldungen zusammen, nicht einmal die Zeit ist vorhanden, deren innere Logik zu prüfen, von fehlender Sachkenntnis, die sich in vielen Fehlern ausdrückt, ganz abgesehen. Die Bereitschaft zur Korrektur gehört auch bei den öffentlich-rechtlichen Sendern nicht zur Kultur des Umgangs mit seinen Rezipienten. Volker Bräutigam spricht davon, dass, nachdem die Empörung über ein tödliches Bombardement auf ein Krankenhaus der »Ärzte ohne Grenzen« im afghanischen Kundus überlaut geworden sei, von »Tagesschau« und »Tagesthemen« flugs Filmberichte über einen angeblichen russischen Bombenabwurf auf ein Krankenhaus in Syrien geliefert worden seien. Nachdem diese sich als glatte Fälschung herausgestellt hätten – nachweislich stand das Krankenhaus noch unversehrt – sei keinerlei Richtigstellung erfolgt.83 JOURNALISMUS UND ÖKONOMIE »Es besteht eine eigene Tragik darin, dass die pauschale Kritik die Qualitätsmedien in einem Moment trifft, in dem manche von ihnen um ihre Existenz kämpfen.«84 Franziska Augstein hat 2005 in einer nur von wenigen Lesern rezipierten Zeitschrift eine Tatsache angesprochen, von der in der Presse nur selten die Rede ist, dass Presseerzeugnisse fast jeglicher Art nämlich in der Hand von immer weniger und immer reicheren
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WK 15.12.2017. Bräutigam (2017) S. 55-62, hier S. 61 (wie Anm. 25). Bernhard Pörksen: Volle Ladung Hass. In: Die Zeit, 2014, Nr. 44. Siehe: https://www.zeit. de/2014/44/ medien-qualitaet-journalismus-vertrauen (15.4.2018).
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Eigentümern sind.85 Tatsächlich aber dürften genau hier wesentliche Ursachen für die Gleichförmigkeit von Meinungen und fehlende Unabhängigkeit der Berichterstattung zu suchen sein. Das Fundament jeglichen sachgerechten Urteilens, ja jeder Selbstbestimmung, – zutreffende und vollständige statt meinungsgefärbte Informationen – ist, darüber darf man nicht hinwegsehen, auch und besonders durch ökonomische Tatsachen gefährdet. Die Nachrichtenvermittlung war schon im 17. und 18. Jahrhundert ein Geschäft, und zwar ein Geschäft, bei dem die Qualität der Ware von entscheidender Bedeutung war, mehr ein Handwerk als ein imposantes Wirtschaftsunternehmen. Gegen Abonnementgebühren wurden Nachrichten geliefert, der Zeitungsverleger war – jedenfalls bis im 18. Jahrhundert der Erfolgsweg der Zeitungswerbung begann – vom Zensor sehe ich hier ab –, vor allem vom Leser seiner Blätter abhängig. Fast durchweg sind die Zeitungsverlage der Frühen Neuzeit Familienunternehmen. Eine Ironie der Geschichte, dass sich daran sich bis heute wenig geändert hat. Was nicht in den Händen der Familien Mohn/Bertelsmann, Springer, Funke, Burda ist, gehört den von Holtzbrincks und die gehören wiederum zu den reichsten Menschen der Welt. Die Medienlandschaft einschließlich des kommerziellen Rundfunks und Fernsehens, inzwischen selbst der wichtigsten Internetunternehmen, ist in den Händen einer Handvoll von Milliardären. Um Zusammenhänge zu einer gewissen Einförmigkeit zumindest der Wirtschaftsteile dieser Medien und der dort propagierten neoliberalen Einfalt zu vermuten, muss man kein Verschwörungstheoretiker sein, auch wenn direkte Eingriffe der Eigentümer sicherlich eher selten sind. Paul Sethe, einer der fünf Gründungsherausgeber der FAZ, spitzte 1965 sehr knapp zu: »Pressefreiheit ist die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.«86 Diese Zahl ist seitdem noch sehr viel kleiner geworden; man möchte von oligarchischen Verhältnissen sprechen. Es muss nicht erstaunen, wenn in unserer Presse variantenreich immer wieder der gleiche Glaubenssatz zu vernehmen ist, das Geld der Wohlhabenden sei am besten in den Taschen der Wohlhabenden aufgehoben, so meint Jakob Augstein in dem Sammelband »Lügenpresse«.87 Dass auch Peter Denk die Medien in wenigen Händen sieht und der Auffassung ist, dass die Besitzer letztlich auch über Inhalt und Ausrichtung bestimmen, ändert nichts an der Richtigkeit seiner Beschreibung unguter demokratiegefährdender Eigentumsverhältnisse und einer scheinbaren Medienvielfalt, hinter der tatsächlich eine Handvoll mächtiger Medienkonzerne steht. (Denk S. 95, 109) Wer einmal darauf geachtet hat, wie und wie oft mit Studien der Bertelsmann-Stiftung, die engstens verbandelt ist mit dem größten deutsche Medienkonzern, Nachrichten und Politik gemacht werden, die als Förderung von Reform85
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Franziska Augstein: Einfalt oder Vielfalt? Von Pressekonzentration und Selbstgleichschaltung im Zeitungswesen. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2005, S. 1492– 1502, hier S. 1497. Leserbrief im ›Spiegel‹ vom 5. Mai 1965. »Da die Herstellung von Zeitungen und Zeitschriften immer größeres Kapital erfordert, wird der Kreis der Personen, die Presseorgane herausgeben, immer kleiner. Damit wird unsere Abhängigkeit immer größer und immer gefährlicher.« Er wisse, dass es im deutschen Pressewesen Oasen gebe, »in denen noch die Luft der Freiheit weht, [...] aber wie viele von meinen Kollegen können das von sich sagen?« Des Weiteren stellt Sethe fest, dass »[f]rei ist, wer reich ist. Das ist nicht von Karl Marx, sondern von Paul Sethe.« Da Journalisten nicht reich seien, seien sie auch nicht frei. Jakob Augstein (2017) S. 56 (wie Anm. 35).
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prozessen und Prinzipien unternehmerischen Handelns verkauft werden, ohne dass die dahinter stehenden Interessen jemals benannt würden, wird schwerlich von einer objektiven Berichterstattung seitens solcher Medien sprechen können, die sich hier ständig benutzen lassen.88 Dass man fast nur noch im Kabarett erfährt, wie multinationale Konzerne und Stiftungen mit ihren Wissenschaftlern Einfluss auf den Sozialabbau nehmen, ist ein Befund, der für die Medien nicht sehr schmeichelhaft ist.89 Gerade bei Wirtschaftsthemen steht die Botschaft oft vor der Recherche fest. Uwe Krüger beruft sich auf eine Studie zur Berichterstattung der Presse über die Fragen von Armut und Reichtum, die zeige, dass eine Auseinandersetzung mit der Macht privater Großvermögen nicht stattfinde, der riesige Reichtum in den Händen weniger überhaupt nicht kommentiert und schon gar nicht genauer durchleuchtet werde. (Krüger 2016, S. 70) Jakob Augstein gehört zu den wenigen Autoren in den hier vorgestellten Schriften, die die Vermeidung jeder grundlegenden Thematisierung ökonomischer gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten seitens der Journalisten thematisieren, er spricht von einer Verengung des Resonanzraumes für solche Probleme in den Medien.90 Welche Gefahr mit der Monopolisierung der Presse verbunden ist, hat sich etwa gezeigt, wenn ein Rupert Murdoch es sich in seinen Medien vor der Brexit-Entscheidung leisten kann, wochenlang falsche Zahlen zu verbreiten; man werfe einen Blick in die Blätter eines Berlusconi, höre sich die Propaganda des Senders »Fox« an. In Polen, wo die große Mehrheit der Presse deutschen Verlegern gehört, schürte der SpringerVerlag in seiner Boulevard-Zeitung ›Fakt‹, die von allen polnischen Zeitungen die zweithöchsten Werbeeinnahmen generiert, antideutsche Emotionen.91 Wer erinnert sich, wenn er etwas älter ist, nicht an polenfeindliche Schlagzeilen in der ›Bild‹-Zeitung. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist der Qualitätsjournalismus nicht zuletzt dadurch in Gefahr geraten, dass wichtige Zeitungen – ›Le Monde‹, ›El Pais‹ oder die ›Berliner Zeitung‹92 sind einige Beispiele – von ökonomisch starken Bietern übernommen wurden, im Falle der der Pariser Hauptstadtzeitung standen die heute üblichen Interessenten bereit, wenn es um meinungsprägende Medien geht: Amerikanische Renten- und Hedgefonds, ein großer Rüstungs-, Luftfahrt- und Medienkonzern – eine aparte Kombination von Geschäftsfeldern –, sowie ein der Regierung nahestehender Milliardär. Nur wenige Jahre später steht das Blatt vor dem ökonomischen Kollaps, der neben dem stets genannten und unbestreitbaren Rückgang von Abonnentenzahlen und Anzeigeneinnahmen weitere Gründe hat, über die nicht gerne gesprochen wird. Es sind dies die Ausplünderung der Zeitung durch maßlose Renditeerwartungen, grö88
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Bei Wissenschaftlern, die nicht von der Bertelsmann-Stiftung bezahlt werden, sind die Aktivitäten der Stiftung und die dahinterstehenden Interessen bekannt. Siehe beispielhaft Thomas Schuler: Bertelsmannrepublik Deutschland. Eine Stiftung macht Politik. Frankfurt am Main: Campus-Verlag 2010. Siehe die Sendung: »Aus der Anstalt« vom 24. April 2018: https://www.youtube.com/watch?v=V9984__hGzc (25.4.2018). Jakob Augstein (2017) S. 50f. (wie Anm. 35). Justyna Wozna: Deutsche Verleger auf dem lokalen Pressemarkt in Niederschlesien – Einfluss auf die Presseinhalte? In: Großbothener Vorträge VI, 2005, S. 43–68. Philip Faigle: Exodus am Alexanderplatz. Siehe auf Zeit-online: https://www.zeit.de/online/ 2008/10/berliner-zeitung (10.4.2018).
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ßenwahnsinnige Zukäufe mit dem Ziel, einen Medienkonzern zu schmieden, und eine Verschuldung, die selbst bei einer gesunden Zeitung alles Handeln lähmen müsste und einen Befreiungsschlag aus eigener Kraft aussichtslos erscheinen lässt. Verzweifelt ähnlich lautend könnte man diese Geschichte auch für das spanische Leitmedium ›El Pais‹ erzählen, wo 2012 129 Journalisten der insgesamt 466 Beschäftigten entlassen und den Verbliebenen 15 % Gehaltseinbußen oktroyiert werden. Auch zwei Lokalausgaben werden eingestellt. Zur ökonomischen Gesundung führt dies nicht, die neuen Besitzer haben sich maßlose Renditen unabhängig von den Bilanzen des Unternehmens garantieren lassen, und der vom Hedgefonds eingesetzte Geschäftsführer kassiert ein Gehalt, das exakt jener Summe entspricht, die mit der Entlassung der 129 Journalisten gespart werden konnte. Es sind nicht nur »Heuschrecken«, die sich im Mediengeschäft betätigen: Dass inzwischen ein Unternehmen wie Amazon ein Weltblatt wie die ›Washington Post‹ besitzt, erhöht den Glauben an die Zukunft des Journalismus auch nicht. »Jeff Bezos begreift Journalismus als Service für Amazon«, schreibt die FAZ: »Die Glaubenssätze des Silicon Valley bestimmen das Nachrichtengeschäft.«93 Die ›Berliner Zeitung‹ gab ein Musterbeispiel ab, wie »Heuschrecken« sich bemühten, den »Newsroom«, wie es im schönsten Deutsch heißt, »näher an das Anzeigengeschäft« zu rücken,94 ganz wie wir es aus den kostenlosen Inseratenblättern kennen, in denen vorgeblich redaktionelle Beiträge inzwischen ungeniert neben den Anzeigen der davon betroffenen Inserenten stehen. Von Redaktionssonderseiten sprechen in diesem Zusammenhang inzwischen selbst sich für seriös haltende Zeitungen. KURZES FAZIT »Es ist bezeichnend, dass die zunehmende Kluft zwischen Armen und Reichen, politische Weichenstellungen für Machtverschiebungen und wirtschaftliche Entwicklungen in ihrer Komplexität meist nur noch in gutem Kabarett dargestellt werden.«95 In den hier vorgestellten Schriften ergibt sich ein besorgniserregendes Bild des aktuellen Journalismus, wenn die in ihnen geäußerte Kritik ihre Berechtigung haben sollte. Volker Bräutigam spricht von unkritischen Menschen, die sich Journalisten nennen, sie seien hierzulande so machtorientiert, dass man eine politische Berichterstattung konstatieren dürfe, die exakt der Berliner Regierungspolitik folge. Das Auseinanderklaffen von berichteter und tatsächlicher Wirklichkeit sei inzwischen unübersehbar. Eine saubere, um Objektivität bemühte Information wäre aber Voraussetzung für eine realitätsgerechte Meinungsbildung, die als notwendige Grundlage der Lebens- und Funktionsfähigkeit einer demokratischen Gesellschaft zu gelten habe: »Werden die Nachrichtenangebote in den Massenmedien hingegen zum regierungsfrommen und systemkonformistischen Propagandamittel, dann haben wir eine weitgehende Gleichschaltung.« Für jeden kontrollierbar ist Bräutigams Behauptung, die heute gebotenen Nachrichten glichen sich weitestgehend, ganz egal, welcher Sender sie ausstrahle: »Sie haben durchgängig
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Adrian Lobe: Journalismus nach dem Modell Amazon: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton /medien/jeff-bezos-krempelt-die-washington-post-um-13582516-p2.html (10.4.2018). Philip Faigle: Exodus am Alexanderplatz. Siehe auf Zeit-online: https://www.zeit.de/online /2008/10/berliner-zeitung (10.4.2018). Tilgner (2017) S. 68 (wie Anm. 1).
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Schlagseite. Der ›Westen‹ versammelt das Gute um sich. Russen und Chinesen sind die Bösen. Die Dritte Welt ist, mit Verlaub, scheißegal.«96 Es existieren zumindest für die öffentlich-rechtlichen Anstalten, formuliert in einem Staatsvertrag, – im Pressekodex auch für die Presse – Programmgrundsätze, die Wirklichkeit werden müssten, In den Programmgrundsätzen, wird – hier am Beispiel des NDR, der für »ARD-aktuell« verantwortlich ist – von dem Programm des Senders verlangt, dass es dazu beitrage, die Achtung »vor Glauben und Meinung anderer zu stärken«, es solle internationale Verständigung fördern, für die Friedenssicherung und den Minderheitenschutz eintreten sowie zur sozialen Gerechtigkeit beitragen. Der Sender sei zur Wahrheit verpflichtet, er habe sicherzustellen, dass das Programm nicht einseitig einer Partei oder Gruppe, einer Interessengemeinschaft, einem Bekenntnis oder einer Weltanschauung diene, er müsse in seiner Berichterstattung die Auffassungen der wesentlich betroffenen Personen, Gruppen oder Stellen angemessen und fair berücksichtigen, wertende und analysierende Einzelbeiträge hätten dem Gebot journalistischer Fairness und in ihrer Gesamtheit der Vielfalt der Meinungen zu entsprechen, Ziel aller Informationssendungen sei es, sachlich und umfassend zu unterrichten und damit zur selbständigen Urteilsbildung der Bürger und Bürgerinnen beizutragen.97 Mehr als dort formuliert, kann kein Fernsehzuschauer, kein Rundfunkhörer und kein Zeitungsleser von den Medien verlangen, es wäre aber auch das Mindeste, was zu leisten wäre, will man die aktuelle Vertrauenskrise überwinden. Korrespondenzanschrift Prof. Dr. phil. habil. Holger Böning, Bibliotheksstraße (Poststelle SuUB), Postfach 330 160, 28359 Bremen Email: [email protected] Holger Böning ist Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte und Geschichte der deutschen Presse und war bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2015 Sprecher des Instituts Deutsche Presseforschung der Universität Bremen. Heute leitet er zwei DFGForschungsprojekte, er ist Mitherausgeber des ›Jahrbuchs für Kommunikationsgeschichte‹.
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Bräutigam (2017) S. 58f. (wie Anm. 25). https://www.ndr.de/der_ndr/daten_und_fakten/handbuchpersonal162.pdf (10.3.2018).
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KOMMENTAR ZUR MISZELLE VON HOLGER BÖNING Unbestritten ist ein funktionierendes Mediensystem eine notwendige, wenngleich keine hinreichende Bedingung für die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie. Unbestritten ist auch, dass die Medien insgesamt weniger gut arbeiten, als sie arbeiten könnten und vielleicht sogar als sie arbeiten müssten. Aber wie groß ist das derzeitige Medienversagen? Holger Böning geht in seiner Miszelle nicht soweit, den Medien den Lügenvorwurf zu machen. Im Gegenteil, er hält an einer Stelle fest: Es müsse »einleitend darauf hingewiesen [werden], in welches Dilemma man als Wissenschaftler bei dem Thema ›Lügenpresse‹, ›Fake News‹ und Massenmedien« gerate«. Und später: »Der Begriff der ›Lügenpresse‹ ist verbrannt.« Das ist er fürwahr. Holger Bönings Liste des Versagens am regionalen Beispiel des ›Weser-Kurier‹ ist erschreckend lang und beeindruckend. Qualität kann eine Zeitung, die solche Schnitzer sich erlaubt, kaum beanspruchen. Eine nur oberflächliche Prüfung der deutschen Regionalpresse, aber auch der überregionalen sogenannten Qualitätszeitungen ergibt schnell, dass es in der Tagespresse von vergleichbaren Mängeln nur so wimmelt. Aber die notierten Fehler sind zumeist der Schludrigkeit, einer nicht existenten Korrektur, der mangelnden Bildung und anderen, strukturellen und personellen Faktoren zuzurechnen. Lügen sind sie nicht, denn die Lüge bedarf des Vorsatzes. Und sich vorsätzlich zu blamieren, wird man niemandem unterstellen. Die semantische Unschärfe, die dem Diskurs über »Lügenpresse« und »Fake-News« zu Eigen ist, kann hier weder thematisiert noch systematisch aufgearbeitet werden. Fehler, Dummheiten, falsche Prognosen, fehlende oder zu viel »political correctness«, zu geringe ebenso wie zu große Aufmachung, übertriebene Thematisierung und falsche Sendeplätze, Fehlbeurteilungen, missliebige Meinungen, für den Betroffenen unangenehme Wahrheiten – dies alles wird zum Anlass genommen, in das gleiche Horn des Medienversagens zu blasen. Dass es nur in einigen Fällen tatsächlich um vorsätzlich manipulative Nachrichtenverfälschung geht, wird dabei fast zur Nebensache. Dabei sind die Vorwürfe ernst, denn sollten sie stimmen, stünde eine demokratie-notwendige Institution vor dem Versagen. Fehlentwicklungen will ich nicht schönreden: Holger Bönings Diagnose, dass etliches, das in den Medien schiefläuft, im Letzten ökonomisch motivierten Sparzwängen zuzuschreiben ist, wird man unbedingt zustimmen müssen. Viele Verlage haben die letzten goldenen Jahre vor dem Aufkommen des Internet verstreichen lassen, ohne vorzusorgen. Sie haben auf die doppelten Einnahmeverluste – bedingt durch Abonnentenschwund und rückläufige Anzeigeneinnahmen – mit Outsourcing, Stellenabbau und anderen Einsparungen am Produkt reagiert. Eine der Folgen ist Zeitdruck, durch den überlastete Redakteure in noch stärkerem Maße, als dies Barbara Baerns schon vor Jahrzehnten feststellte, immer empfänglicher für journalistisch gut produzierte Elaborate der PR-Industrie werden. Zudem leisten sich weite Teile der Regionalpresse nur noch eine universale Nachrichtenagentur; das ist dann in der Regel die DPA. Bei letztem Punkt kann man mit der Kritik der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten fortfahren. Hatte der Informationssender »BR 5 Aktuell« vor zehn Jahren noch fünf Agenturen abonniert (»Agence France Presse«, »Associated Press«, »Deut-
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scher Depeschendienst«, »Deutsche Presse-Agentur« und »Reuters«), so fehlen inzwischen AP und ddp – letztere allerdings ist eingestellt worden, nur der Verzicht auf AP ist mithin dem Rotstift zum Opfer gefallen. Andere öffentlich-rechtliche Informationssender halten es ebenso. Da beginnt offensichtlich die Nachrichtenvielfalt zu leiden. Aber ist Vielfalt per se die primäre Zielfunktion des Mediensystems? Lassen sich die Nachrichtenagenturen so leicht manipulieren, wie es Holger Böning unterstellt? Von welchem Pluralismus reden wir, wenn Vielfalt eingefordert wird? Idealtypisch gibt es zwei Arten von Pluralismus: Meinungspluralismus und Informationsvielfalt, die im kommunikationswissenschaftlichen Jargon allgemein als »Universalität« angesprochen wird. Universalität hat wiederum drei Ausprägungen, einmal die allgemeine des Themenfeldes (auf der Ebene von Ressorts: Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport etc.), sodann die spezielle der Berichterstattung über die Vielfalt an Einzelereignissen; zuletzt die einander widersprechender Informationen zum gleichen Ereignis. Betrachtet man das Problem auf der allgemeineren Ebene des Themenfeldes bzw. des Ressorts, so müssen Gatekeeping-Entscheidungen diskutiert werden; hier kommt die professionelle Dimension des Journalismus ins Bild. In den Rundfunkstaatsverträgen ist von dem Grundversorgungsauftrag der Öffentlich-Rechtlichen die Rede, um die Breite der Themengebiete abzudecken. Dass de facto Nischenprogramme in den Nachtstunden und massentaugliche Berichterstattung zur »prime time« ausgestrahlt werden – nicht zuletzt Sport, der zudem noch durch preistreibende Bieterwettbewerbe der ÖffentlichRechtlichen Rundfunkanstalten den Markt verzerrt –, mithin die Erfüllung des Grundversorgungsauftrags recht kritisch zu sehen ist, sei hier nicht näher erörtert. Betrachten wir die spezielle Ebene der einzelnen Ereignisse, so ist unsere Wahrnehmung der Welt insgesamt gefragt: sei es aus der vordergründig eher realistischen oder einer eher konstruktivistischen Perspektive. Ereignisse werden daher in genuine Ereignisse (Vorkommnisse, die auch ohne Medien passiert wären), medialisierte Ereignisse und (wegen der Medien inszenierte) Pseudo-Ereignisse unterteilt. Zur dritten Ausprägung von Info-Vielfalt weiter unten mehr. Leider sind Zeit und Raum in den Medien beschränkt. Es passiert in der Welt immer mehr, als berichtenswert ist, Eingang in die Medien finden kann und folglich auch nur beschränkt findet. Journalisten sind »Schleusenwärter«; sie müssen qua Amt die Informationsüberflutung eindämmen. Sie nutzen dazu Regeln der Nachrichtenauswahl, bei denen sie in der Regel nach einem bestimmten Schema vorgehen und versuchen, einzelne Nachrichtenfaktoren in dem Ereignis zu erkennen. Sie fragen z.B., ist der Handlungsträger prominent oder nicht? Ist das Ereignis bedeutsam oder nicht? Je mehr Faktoren sich mit einem Ereignis verbinden lassen, desto höher ist der Nachrichtenwert insgesamt zu veranschlagen. Desto mehr Relevanz wird der Nachricht zugeschrieben. Dies ist sicherlich ein neuralgischer Punkt. Viele journalistische Relevanzzuschreibungen sind im Weberschen Sinn dem traditionalen Handlungstyp zuzuordnen: Man macht es so, weil es den angehenden Journalisten in Volontariat, Journalistenschule oder Universalität so beigebracht wurde. Dabei orientieren sich alle Beteiligten an traditionellen Relevanzkriterien, die grundsätzlich eher Elite-nah sind und daher folgerichtig nicht von jedem Medienkonsumenten a priori geteilt werden (müssen). Auf diesem Wege kommt ohne zentrale Steuerung ein recht homogenes Bild der täglichen Nachrichtenlage heraus. Zumindest gilt das für jeweils ein nationales Mediensystem. Für zwei oder mehre-
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re gilt das schon nicht mehr, da ja gerade der Nachrichtenfaktor der kulturellen Nähe, wenn er beispielsweise in Frankreich und Deutschland exakt das gleiche Gewicht beansprucht, als Ergebnis in Frankreich und in Deutschland die jeweilige Selbstbezogenheit und -genügsamkeit der Medienberichterstattung stützt. Aber darum gibt es inzwischen transnationale, journalistische Recherche-Plattformen, wie jene, die die Panama-Papers aufgedeckt hat. Es ist in der Forschung umstritten, ob Nachrichtenfaktoren als objektive Merkmale zur Beschreibung der Realität anzusehen sind oder ob man sie als konstruktivistische Hilfsinstrumente interpretieren muss, mit denen den Ereignissen durch die Journalisten höhere oder niedrigere Bedeutung zugewiesen wird. Beides wird mal mehr, mal weniger zutreffen. Insoweit kommt zugestandener Weise Manipulationspotenzial ins Spiel. Bei gleichförmiger Nachrichtenlage ist aber eher davon auszugehen, dass die Mehrheit der Journalisten die Faktoren überwiegend als objektive Merkmale interpretiert haben und daher, ohne dass man Verschwörungstheorien bemühen muss, zu recht ähnlichen Resultaten kommen. Eine Verschwörung wird man nur dann annehmen dürfen, wenn man den mehr als 50.000 Journalisten in Deutschland unterstellte, gleichgerichtete ideologische Zielvorstellungen zu haben. Das ist mehr als unwahrscheinlich. Homogenität der Berichterstattung ist mithin eher die Folge einer Professionalisierung des Journalismus als die Folge von de-professionalisierenden Tendenzen. Die professionellen Regeln verhindern auch, dass die (großen westlichen) Nachrichtenagenturen so leicht zu manipulieren sind, wie Holger Böning im Anschluss an so manchen besprochenen Titel offensichtlich vermutet. Gegen die von der ersten Ausbildungswoche an eingetrichterte Grundregel journalistischer Sorgfalt, nur über etwas zu berichten, das von mindestens zwei unabhängigen Quellen bestätigt wurde, mag vielleicht bisweilen in minderen Blättern verstoßen werden. In den (großen westlichen) Nachrichtenagenturen ist es die conditio sine qua non des Geschäfts der Nachrichtenredakteure, auf die die Agenturen schon deshalb penibel achten, um ihren Ruf zu wahren. Es ist unbestritten, dass die (großen westlichen) Agenturen primär den nationalen Interessen ihrer Heimatmärkte folgen. Themen und Gegenstände ihrer Berichterstattung sind nicht nur durch die Nähe-Faktoren stark auf den »Herkunfts-Staat« fixiert, auch die Perspektive der Berichterstattung über die Welt da draußen wird konsequenter Weise von diesem nationalen Standpunkt aus regiert. Da die (großen westlichen) Agenturen aber allesamt einer Vielzahl von höchst unterschiedlichen Medienunternehmen gemeinschaftlich und genossenschaftlich gehören, ist eine Steuerung von oben – wie wir sie in Diktaturen oder autoritären Staaten beobachten – unmöglich. Wieder ergibt sich die häufig zu beobachtende Homogenität der Nachrichtenlage eher durch die Umstände als durch gesteuerte Manipulation. Damit komme ich zur letzten, bzw. ersten Frage: Ist Vielfalt überhaupt eine Zielfunktion per se? Meiner Ansicht nach sollte unterschieden werden: Hinsichtlich der Meinungen und Werturteile ist Vielfalt sicherlich unbedingt zu bejahen. Je mehr Meinungen in den Meinungsmarkt eingespeist werden, desto besser wird das Mediensystem seiner öffentlichen Aufgabe gerecht. Aber hinsichtlich der Relevanz und v.a. der Richtigkeit wage ich doch, der Forderung nach unbedingter Vielfalt oder gar der Priorität des Pluralismus-Anspruchs zu widersprechen.
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Man mag in agentürlichen Relevanzzuschreibungen Bevormundung sehen, aber eine Gesellschaft braucht Institutionen, die Struktur und Orientierung in die unüberschaubare Vielfalt der potenziell behandelnswerten Themen bringen. Da haben Agenturen und Medien eine mächtige, keineswegs aber die mächtigste Position inne. Parteien, Verbände, bürgergesellschaftliches Engagement, auch Unternehmen und sogar einzelne prominente »Lautsprecher« besitzen ebenfalls großen Einfluss auf die mediale Agenda. Wegen der Fragmentierung der medialen Kanäle – von der gegenwärtigen Medienrevolution bedingt – möchte ich sogar behaupten, dass allgemeine Relevanzzuschreibungen derzeit eher zu schwach und zu kurzatmig erfolgen. Und hinsichtlich der Richtigkeit: Sie berührt die oben genannte dritte Ebene der Informationsvielfalt. Braucht man noch Nachrichten über ein geozentrisches Universum, wenn das heliozentrische Sonnensystem längst bestätigt ist? Man braucht sicherlich keine Nachricht aus der Perspektive eines Autokraten, wenn erwiesen ist, dass er seine »grünen Männchen« einen Nachbarstaat überfallen ließ, obwohl sein Staat zu den Garantiemächten des Budapester Memorandums von 1994 zählte – NB.: welch ein fatales Signal an alle Staaten, die eventuell bereit sein könnten, auf Nuklearwaffen zu verzichten. Es ist auch kein Bashing, wenn einem Präsidenten Putin vorgeworfen wird, dass er im UN-Sicherheitsrat und vor Ort ein Mörder-Regime unterstützt. Und man sollte den Medien nicht Einseitigkeit vorwerfen, wenn sie Kleptokraten als solche bezeichnen. So gesehen ziehe ich Relevanzzuschreibung, kritisch überprüfte Richtigkeit der Nachrichten und klare Ansprache in den Kommentaren im Zweifel der Forderung nach Äquidistanz zu allen Mächten einer unbedingten Priorität des Vielfaltpostulats entschieden vor. Damit rede ich nicht dem schamhaften Verschweigen von Fehlversagen auf einer anderen (z.B. Trump) oder dritten Seite (Xi Jinping, Erdogan, Kim Jong-un oder welcher Regierung auch immer) das Wort. Holger Böning und mir ist sicherlich gemeinsam, dass wir die Verlässlichkeit und Leistungsfähigkeit der Medieninstitutionen fordern und ihren Wert hoch schätzen. Wir unterscheiden uns vielleicht in der Einschätzung, wie düster das gegenwärtige Bild zu zeichnen ist. Ich sehe wohl nicht ganz so schwarz wie Holger Böning, bin allerdings seiner impliziten Meinung, dass Kritik ein Mittel der Problemerkennung und mithin eine wichtige Vorstufe der Problemlösung ist. Anderen aber, die »Lügenpresse« bewusst als Kampfbegriff gegen das Mediensystem – von ihnen wohl eher als »System-Medien« bezeichnet – verwenden, unterstelle ich, dass ihnen eben nicht an der Reparatur von Fehlern gelegen ist, sondern dass sie bewusst eine Institution der Demokratie waidwund (»wir werden sie jagen«) oder »das System« sturmreif (fatal wie Goebbels in der Weimarer Republik) schießen wollen. Korrespondenzanschrift Prof. Dr. Rudolf Stöber, Institut für Kommunikationswissenschaft, Otto-FriedrichUniversität Bamberg, An der Weberei 5, 96047 Bamberg Email: [email protected] Rudolf Stöber ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und Mitherausgeber des ›Jahrbuchs für Kommunikationsgeschichte‹.
Buchbesprechungen Die aktuelle Forschungsliteratur zum Dreißigjährigen Krieg wird im Jahrbuch 2019 in einer Miszelle besprochen werden. Roeck, Bernd: Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance, München: C.H. Beck 2017 (= Historische Bibliothek der GerdaHenkel-Stiftung), 1304 S. Es gilt ein gewichtiges Buch anzuzeigen, das schon vielfach und dabei durchweg positiv besprochen worden ist. Betitelt ist es bescheiden, dabei greift der Autor weit über sein Kernthema aus und stellt die Renaissance in einen raum-zeitlichen Kontext, der seinesgleichen sucht. Die Geschichte der Renaissance, wie sie Roeck ausbreitet, beginnt mit der Antike und endet in unserer Gegenwart. Sie behandelt keineswegs ausschließlich Europa, sondern nimmt auch alle anderen (Hoch-)Kulturen im Vergleichszeitraum in den Blick. Der Vf. geht in dieser Weise vor, weil er nur so die »Möglichkeitsräume« ausloten zu können glaubt. Nicht nur das, was wurde, interessiert ihn; vielmehr schaut er, soweit historisch etwas nicht nur verstanden, sondern auch erklärt werden kann, bewusst auch auf nicht realisierte Möglichkeiten. Immer wieder fragt er, warum in China, im indischen oder arabischen Raum oder in anderen Kulturen – trotz ihrer z.T. beeindruckender Leistungen – der entscheidende Schritt unterblieb, der unsere moderne Welt ermöglichte und sie im Guten wie im Schlechten prägt. Ein entscheidender Faktor, der, um eines von Roecks Lieblingswörtern nochmals zu bemühen, »Möglichkeitsräume« eröffnete, war die kulturelle, soziale und politische Vielfalt »Lateineuropas« – um eine andere Schlüsselvokabel zu verwenden. »Lateineuropa« bestimmte sich nicht über das Ausgreifen des Imperium Romanum, sondern über die lingua franca, die in Mittelalter und Früher Neuzeit die Europäer trotz und wegen ihrer Diversität in engen Austausch miteinander treten ließ. Kommunikation ist mithin ein weiterer Schlüsselfaktor zur Erklärung der vielfältigen kulturellen und wissenschaftlichen Innovationen. Dass dabei Gutenbergs Erfindung ein ganz zentrales Gewicht zukam, weil sie das Momentum der einzelnen Neuerungen bündelte und in geometrischer Reihe zuerst lang-
sam, zunehmend aber immer schneller anwachsen ließ, ist zwar keine neue Erkenntnis, aber doch ist Eisensteins These (letztlich war auch sie nicht die erste, die es so sah) immer noch gültig. Gerade der Erfolg Gutenbergs – und eben nicht der Chinesen – macht ex post deutlich, dass es nicht darauf ankommt, zentrale BasisErfindungen zu machen, sondern v.a. darauf, zur rechten Zeit, am rechten Ort, im richtigen kulturellen, politischen, wirtschaftlichen Umfeld zu agieren und Detaillösungen, die bis dahin nebeneinander standen, zu kombinieren. Nur weil die Lateineuropäer Alphabetschriften benutzten, ließ sich Kommunikation in kleinste Einheiten zerlegen und in jede andere Alphabet-basierte Sprache übertragen. Die europäischen Netzwerke des Wissens und des Handels begünstigten die Diffusion ebenso wie das Ausgreifen der Europäer weit über die kleine eurasische Halbinsel hinaus. Das Buch bietet vielfältige Anregungen, aber manchmal kommt es wie ein Reader‹s Digest der zentralen Texte und wie ein Baedeker der Artefakte menschlicher Kultur daher. Bei der Breite kann auch nicht alles aus eigener Quellenkenntnis geschöpft sein. Das zu fordern wäre vermessen. Über manche Kleinigkeiten könnte man klagen, z.B. wenn das Mittelmeer als »Medium« bezeichnet wird. Auch Braudel sah es nur als Arena. Angesichts des weiten Horizonts des Buches hat mich ein wenig gewundert, dass, wie leider in etlicher kommunikationshistorischer Literatur, so getan wird, als wäre Zensur erst seit dem Buchdruck zur kulturellen Praxis geworden. Vielmehr war es doch so: Seit der Spätantike hatte die katholische Kirche, um ihre Orthodoxie ebenso zu bewahren wie weiterzuentwickeln, Zensur als Instrument zur Bewahrung der reinen Lehre perfektioniert. Die ersten geistlichen und wenig später weltlichen DruckZensur-Bestimmungen übertrugen diese lang geübte Praxis nur auf ein neues Medium, dessen Neuigkeitswert nicht einmal jeder DruckZensor sofort erfasste. Aber das sind Quisquilien, erst recht gilt das für Kritik am missver-
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Buchbesprechungen – Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018)
standenen, da ursprünglich ironisch gemeinten »Schmetterling«-Theorem der »Chaos-Theorie«. Roeck hat eine souveräne Weltgeschichte geschrieben. Zutreffende Beobachtungen weiß er zu klugen Verallgemeinerungen zu verdichten, etwa wenn er feststellt: »Die unstillbare Sehnsucht nach Reinheit, gefährlichste Feindin freien Denkens, ist die Obsession des Religiösen zu allen Zeiten« (S. 211). Man könnte hinzusetzen: das gilt auch für weltliche Zeloten jeden Schlags und aller Ideologien. Roecks Literaturkenntnis und -verarbeitung sind stupende. Dass Kommunikation vom Vf. so prominent behandelt wird, hat mich bei der Lektüre wieder einmal bestätigt: Das ›Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte‹ bietet – inzwischen seit 20 Jahren – ein Forum für das Erkenntnisinteresse von zentraler Relevanz: Wie funktioniert und welche Folgen zeitigt soziale Kommunikation? RUDOLF STÖBER, BAMBERG Berger, Sidney E.: Dictionary of the Book. A Glossary for Book Collectors, Booksellers, Librarians, and Others. Lanham: Rowman & Littlefield 2016, 319 S. An Lexika und Nachschlageformaten zum »Buch« mangelt es international beileibe nicht. In unterschiedlicher Stringenz und Schwerpunktsetzung bieten mittlerweile eine ganze Reihe von Nachschlagewerken relevante Begriffsdefinitionen und Spezialterminologien. Allein für den deutschsprachigen Raum sei an das ›Lexikon des gesamten Buchwesens‹, herausgegeben von Severin Corsten, Stephan Füssel, Günther Pflug und Friedrich Adolf Schmidt-Künsemüller (mittlerweile 9 Bände und als Online-Version verfügbar), an das von Thomas Keiderling herausgegebene ›Lexikon der Medien- und Buchwissenschaft. analog | digital‹, und an das von Ursula Rautenberg herausgegebene ›Sachlexikon des Buches‹ erinnert. Zumindest konzeptionell versuchen diese Werke den anhaltenden Perspektivweitungen buchwissenschaftlicher und buchhistoriografischer Interessensfelder eine terminologische Orientierungsoption und begriffliche Einordnungsmöglichkeit anzubieten, die in der Regel Fragen der Produktion, Distribution und Rezeption von Schrift- und Bildmedien umfassen. Das von Sidney E. Berger als »Glossary« konzipierte Nachschlagewerk umfasst circa 1300 Einträge und richtet sich nicht explizit an
den akademischen Bereich. Das vermag zunächst zu überraschen, denn Bergers Vita ist eine einschlägig akademische: sowohl bibliotheks- als auch buchhistorische Seminare prägten seine Dozententätigkeit (University of Illinois, USA). ›The Dictionary of the Book‹ versteht sich jedoch dezidiert als Hilfe für Sammler, Buchverkäufer, Bibliothekare »and others«. Die circa 1300 Einträge stammen allesamt von Berger selbst und sind deshalb ein gewachsenes, nach persönlichen Vorliegen und Perspektiven erstelltes Verzeichnis. Mit einem Schwerpunkt auf dem gedruckten Buch der Neuzeit bietet das »Glossary« einen recht traditionellen, aber noch soliden Einstieg für Branchenakteure und Buchsammler. Dass alle Kontexte von »E-Books« lediglich im sehr kurzen Doppel-Lemmata »E-Readers/E-Books« auftauchen, ist erstaunlich. Selbst »PDF« als Lemma wurde vergessen. Für akademisch Interessierte ist Bergers Verzeichnis deshalb kaum geeignet, auch weil die Auswahl an Lemmata beizeiten arbiträre Züge annimmt. Anstelle vieler Beispiele: Während Online-Buchhandels-Anbieter wie »AbeBooks« Aufnahme gefunden haben, wurde »Amazon« anscheinend vergessen. Bergers »Glossary« ist ein guter Nachschlage-Zusatz für Vorinformierte, aber sollte nicht die einzige Konsultation sein. DANIEL BELLINGRADT, ERLANGEN Kießling, Rolf / Konersmann, Frank / Troßbach, Werner: Grundzüge der Agrargeschichte. Band 1. Vom Spätmittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg (1350–1650). Mit einem Beitrag von Dorothee Rippmann. Köln: Böhlau 2016, 329 S. Prass, Reiner: Grundzüge der Agrargeschichte. Band 2. Vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Beginn der Moderne (1650–1880). Hg. und eingeleitet von Stefan Brakensiek, mit einem Beitrag von Jürgen Schlumbohm. Köln: Böhlau 2016, 256 S. Mahlerwein, Gunther: Grundzüge der Agrargeschichte. Band 3. Die Moderne (1880– 2010). Hg. von Clemens Zimmermann. Wien: Böhlau Verlag 2016, 248 S. Die drei Bände erscheinen als Zeugnis einer erneuerten, modernen Fragestellungen verpflichteten ländlichen und Agrargeschichte, die den Rezensenten, der sich seit Jahrzehnten mit der Kultur der ländlichen Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts mit
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen Genugtuung und Freude erfüllt haben, da hier endlich auch alle die sozial- und kulturgeschichtlich interessanten Umstände zu Wort kommen, für die sich die traditionelle Agrargeschichte viel zu wenig interessiert hat. Man kann von einer alltagshistorischen Öffnung der Agrargeschichte sprechen – allein auf diese Aspekte kann in dieser Rezension eingegangen werden. Im ersten Band ist es vor allem das Kapitel zum sozialen und kulturellen Wandel, das hier einschlägig ist, etwa die Rolle der Kirche im Dorf beschreibt, die Reformation auf dem Lande, die Konfessionalisierung, die Geschlechterverhältnisse in der ländlichen Gesellschaft oder die Bedeutung von Stand, Ehre und Haus. Im zweiten Band ist bei der Behandlung der ländlichen Kultur zwischen vorindustrieller Gesellschaft und den Umbrüchen des 19. Jahrhunderts ein Unterkapitel »Volksaufklärung, religiöses Leben und Bildungsanstöße« interessant, das Entstehung und Verlauf dieser aufklärerischen Reformbewegung entsprechend dem neuesten Forschungsstand darstellt, aber merkwürdigerweise das biobibliographische Werk unerwähnt lässt, in dem erstmals die aus dieser Bewegung hervorgegangenen mehreren tausend Druckschriften dokumentiert sind. Das zentrale Thema dieses Bandes, so wird deutlich, ist gesellschaftlicher Wandel von unten, erfreulich, wie hier die ländlichen Akteure im Zentrum der Darstellung stehen, selbst das Gesinde und Tagelöhnen kommen zu ihrem Recht. Band 3 endlich behandelt auch solche Themen wie Wissensproduktion und Wissenstransfer, die Institutionalisierung von Agrarforschung und -lehre, das landwirtschaftliche Schulwesen und die ökologische Landwirtschaft. HOLGER BÖNING, BREMEN Hasecker, Jyri: Quellen zur päpstlichen Pressekontrolle in der Neuzeit (1487–1966). Paderborn: Schöningh 2017, 667 S. Dieses Werk bietet die Edition von neunundsechzig Quellen zum System päpstlicher Pressekontrolle, hervorgegangen aus dem verdienstvollen DFG-Langfristvorhaben »Römische Inquisition und Indexkongregation in der Neuzeit, 1542–1966«. Es ist großartig, was der Bearbeiter hier geleistet hat, bestand die Förderung doch lediglich über drei Jahre in einer halben Stelle und einigen Reisemitteln, nach Ablauf sei die Fertigstellung weit-
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gehend in Privatarbeit erfolgt. Das erste edierte Dokument stammt aus dem Jahre 1487, erstmals formulierte hier ein Papst ein Rahmengesetz zur Kontrolle der Druckpressen. Der Schwerpunkt der Edition liegt auf dem Zeitraum bis 1800, innerhalb dessen es so etwas wie eine »Souveränität der katholischen Kirche über alle Formen verschriftlichen Wissens« gegeben habe, der nachfolgende Zeitraum sei nur ausschnittsweise berücksichtigt worden, um die Eigenheiten des frühneuzeitlichen Systems päpstlicher Pressekontrolle durch die Gegenüberstellung mit den modernen Normen besser konturieren zu können. Der Begriff der Presse bezieht sich nicht auf periodisch erscheinende Drucke, sondern auf alle Arten von Druckerzeugnissen, dem Begriff der Kontrolle sei gegenüber dem oft überdehnten der Zensur der Vorzug gegeben worden. Entstanden ist eine wertvolle Dokumentation dazu, wie die römischkatholische Kirche seit dem Ende des 15. Jahrhunderts ihre Aufsichtsfunktion gegenüber allem Gedruckten formuliert und ausgeübt hat. HOLGER BÖNING, BREMEN Panayotova, Stella / Jackson, Deirdre / Ricciardi, Paola (Hg.): Colour. The Art & Science of Illuminated Manuscripts. London, Turnhout: Harvey Miller Publishers 2016 (= Studies in Medieval and Early Renaissance Art History), 420 S. Das Fitzwilliam Museum der Universität Cambridge besitzt ca. 4.000 illuminierte Manuskripte und Drucke. Seit 2003 werden die Sammlungen im »Cambridge Illustrations Research Project« interdisziplinär erforscht. Im Zentrum steht die Erarbeitung eines ›Catalogue of Western Book Illumination in the Fitzwilliam Museum and the Cambridge Colleges‹ (bisher 5 Teile 2009 bis 2017). An die Öffentlichkeit richteten sich die beiden Ausstellungen »The Cambridge Illuminations. Ten Centuries of Book Production in the Medieval West« (2006) und »Colour: The Art and Science of Illuminated Manuscripts« (2016). Obwohl als Begleitbuch einer Ausstellung konzipiert, ist der Katalog ein eigenständiges Werk, das neuere Forschungsergebnisse von Kunsthistorikern, Kuratoren und Konservatoren sowie Handschriftenkundlern und Paläographen zusammenträgt. Eingeflossen sind auch Ergebnisse des ›Miniare‹-Projects
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(seit 2012), das die Illuminationen mit nichtinvasiven physikalischen Methoden untersucht. Im einleitenden Beitrag »Colour in Illuminated Manuscripts« stellt Stella Panayotova wichtige Ergebnisse vor. Widerlegt wird der »Mythos«, dass Buchmaler nur wenige Pigmente rein benutzen, im Gegensatz zur Tafelmalerei, die zahlreiche Farbmischungen verwendete. Ad acta gelegt wurde die These, dass die Buchmalerei mittelalterlich-statisch blieb. Ziel des Katalogs ist es, die Entwicklungen der Europäischen Buchmalerei in 14 thematischen Sektionen über zehn Jahrhunderte (der Schwerpunkt liegt auf dem Mittelalter und der Renaissance) in Text und Bild zu dokumentieren. Die Grundlage bilden über 150 Manuskripte herausragender künstlerischer Qualität des 9. bis 19. Jahrhunderts. Themen der Sektionen sind Farben und Farbpigmente, Farbenhandel und der Einfluss auf die Malerpalette, Rezepte zur Farbherstellung und Musterbücher sowie Alchemie und Farben. Der Gebrauch von Farben in der Buchmalerei wird am Beispiel der Verwendung von Gold und Silber, der Inkarnat-Technik, der Grisaille-Malerei und der dreidimensionalen Modellierung durch den Farbauftrag behandelt. Abgerundet wird der Band mit Kapiteln zur Farbtheorie und über Farbe und Bedeutung. Auf den Büchervandalismus – der Zerstörung von illustrierten Werken durch Übermalen, Herausschneiden von Miniaturen, Schmuckinitialen und Randleisten oder ganzen Seiten – geht ein weiteres Kapitel ein, das auch die restauratorischen Möglichkeiten behandelt. Neben der Profitgier sind Zensur oder pädagogische Gründe wie der Aufbau von Beispielsammlungen Gründe für die Buchzerstörung. Jede Sektion enthält einen einleitenden Überblicksaufsatz, gefolgt von Beschreibungen ausgewählter Exponate, u.a. zur Bedeutung des Werks, zur Interpretation der Illuminationen und zur technischen Herstellung. Für jedes Exponat wird zudem die formale Katalogbeschreibung beigeben, die u.a. auch Provenienzen und Literatur verzeichnet. Der Anhang bietet eine knappe Übersicht über die naturwissenschaftlichen Analysetechniken, ein Glossar, ein Register der zitierten Handschriften und Drucke, sowie ein umfangreiches Literaturverzeichnis. Wie bei illustrierten kunsthistorischen Publikationen üblich, wurde ein hochweißes, gestri-
chenes Papier gewählt, das die zahlreichen Farbabbildungen leuchtend hervortreten lässt. Zu loben ist nicht nur die Ausstattung, sondern auch die Auswahl der Abbildungen, die die Analysen belegen. Ein in jeder Hinsicht gewichtiger Band. URSULA RAUTENBERG, ERLANGEN Stijnman, Ad / Savage, Elizabeth (Hg.): Printing Colour 1400–1700. History, Techniques, Functions and Receptions. Leiden, Boston: Brill 2015 (= Library of the Written Word, Bd. 41), 248 S. Einleitend klären die Herausgeber den Unterschied zwischen »coloured prints« und »colour print«: bei kolorierten Drucken handelt es sich um manuell nach dem Druck kolorierte Druckwerke, bei der Technik des Farbendrucks hingegen um den mechanischen Druck in Farbe(n) von farbig eingefärbten Druckträgern- bzw. Druckformen (»printed colour«). Obwohl auch Typendruck in Farbe vorkommt, widmet sich der vorliegende Band dem Druck von kunstgewerblichen oder künstlerischen bildlichen Darstellungen auf Stoff, im Einblattdruck, als künstlerische Druckgrafik sowie in Büchern. Der Zeitraum erstreckt sich vom Beginn des 15. Jahrhunderts bis zu Le Blon, der zwischen 1719 und 1725 erstmals im Mezzotinto-Verfahren Reproduktionsdrucke von drei identischen blau, gelb und rot eingefärbten Kupferplatten in aufeinanderfolgenden Druckgängen herstellte. Der einleitende Aufsatz »A Historical Overview of Printed Coulor Before 1700« bietet einen knappen Überblick über die Forschung. Die Aufsätze des ersten Teils geben einen systematischen Überblick über Materialien und Techniken des frühen Farbendrucks und die weiteren Entwicklungen für die Hoch- und Tiefdrucktechniken bis 1700. Die vier folgenden Teile sind chronologisch gegliedert: die Einführung des Farbdrucks im 15. Jahrhundert (u.a. in Stempeltechnik auf Stoff), Renaissance in Farbe (c. 1476–c. 1600), Vivid Mannerism (c. 1588–1650) und Product Innovation and Commercial Enterprises (c. 1620–1700). Statt einer handbuchartigen Übersicht, die bei dem jetzigen Forschungsstand kaum möglich ist, wurde der Zugang über tiefe Einzelstudien gewählt. Ein abschließendes Kapitel ist Le Blon gewidmet, dem Vorläufer des modernen Vierfarbendrucks. Der Band versteht sich als erster, umfas-
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen sender Beitrag zum Farbendruck in der Frühen Neuzeit und als Zusammenschau von Techniken und künstlerischen Entwicklungen, von Künstlern, Schneidern und Stechern sowie Druckern und Verlegern, den Agenten des Markts. Er wird durch eine nützliche chronologische Übersicht über die Meilensteile des Farbendrucks in Stichpunkten, ein Glossar der Fachterminologie (nur in englischer Sprache) und ein umfangreiches Literaturverzeichnis abgerundet. URSULA RAUTENBERG, ERLANGEN Karr Schmidt, Suzanne / Wouk, Edward H. (Hg.): Prints in Translation, 1450–1750. Image, Materiality, Space. London, New York: Routledge 2017 (= Visual Culture in Early Modernity), 252 S. In der kunsthistorischen Forschung zur Druckgrafik sind neben Technik und Materialität auch Medialität, Transfer und Diffusion der Bilder seit Langem stabile Referenzpunkte. Wenn nun in jüngerer Zeit der Blick auf Druckgrafiken auch verstärkt mit der Vorstellung von ihrer »agency« verknüpft wird, führt dies weniger zu einer grundlegenden Umcodierung dieser Bildgattung, wohl aber zu einer tatsächlich erweiterten Perspektive und zu aufschlussreichen Einzelanalysen. Eine Reihe solcher Untersuchung versammelt der von Suzanne Karr Schmidt und Edward H. Wouk herausgegeben Band und überrascht mit einigen grenzüberschreitenden Entdeckungen. Zentral für alle Beiträge ist neben dem schon im Titel angeregten Gedanken, die »Übersetzung« der einzelnen Objekte in andere Medien und Kontexte nachzuvollziehen auch der Ansatz, ihre je individuelle »cultural biography« zu rekonstruieren – diese Idee wird in der Publikation so explizit von Stephanie Porras formuliert (S. 183). In ihrem Aufsatz zeigt sie, wie eine Bildfindung für die Figur des Erzengels Michael von Maerten de Vos aus dem späten 16. Jahrhundert von Antwerpen nach Lima wanderte und dort über verschiedene Stationen zur Vorlage für die Elfenbeinskulptur eines unbekannten hispano-philippinischen Künstler wurde. Erfolgte diese halbe Weltreise noch weitgehend innerhalb eines von den Habsburgern dominierten Kolonialreiches, so überschritten die Grafiken, denen Yael Rice nachgeht, gleich mehrfach geografische, politische und kon-
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fessionelle Grenzen. Ihr Beitrag erklärt die verblüffenden Collagen, die sich in einem Album des Mogulherrscher Jahangir aus dem frühen 17. Jahrhunderts finden und die auf kunstvolle Weise einen doppelten Kunstimport dokumentieren: Ausschnitte aus flämischen Kupferstichen wurden mit persischen Kalligraphien, die vermutlich in Usbekistan entstanden waren, kombiniert und von Miniaturen aus der Werkstatt des königlichindischen Hofes gerahmt. Rice argumentiert überzeugend, dass dieser Transfer nicht als imperiale Aneignungsgeste zu deuten ist, sondern auf formalen Analogien und verwandten ästhetischen Vorstellungen basiert. Nicht immer werden in den Beiträgen große geografische Räume durchmessen, auch außergewöhnliche Funktionstransfer und Optionen im praktischen Umgang mit dem Bildmaterial werden aufgezeigt. So schildert Suzanne Karr Schmidt, wie seit dem späten 15. Jahrhundert Druckgrafiken als Bastelbögen zum Nachbau optischer Instrumente angelegt wurden. Auf den Bögen mitgedruckte Anleitungen machen deutlich, dass die Grafiken dezidiert zum Gebrauch bestimmt waren, die gezeigten Figuren sollten ausgeschnitten und gefaltet, die Blätter mithin verbraucht werden. Diese drei vorgestellten Beiträge stehen nur exemplarisch für das weit gespannte Panorama, das diese Publikation eröffnet. Wer sich für die vielgestaltigen, teilweise iterativen Übersetzungswege von Druckgrafiken in der frühen Neuzeit interessiert, dem sei die erweiterte Lektüre dieses mit 21 Farbtafeln und 94 schwarz-weiß Reproduktionen zudem reichlich bebilderten Band sehr empfohlen. HELEN BARR, FRANKFURT Asendorf, Christoph: Planetarische Perspektiven. Raumbilder im Zeitalter der frühen Globalisierung. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2017, 498 S. Der Kunsthistoriker und Raum-/Perspektiven-Theoretiker Christoph Asendorf stellt sich mit dem vorliegenden Werk einem gigantischen Unterfangen: eine raum- und bildhistorische Untersuchung der frühen Globalisierung, die er zwischen 1500 und 1850 legt. Er beginnt mit einer Überraschung, nämlich mit dem Blick auf das Interieur: »Die kargen und oft auch ›nomadischen‹ Ausstattungen des Mittelalters weichen einem Mobi-
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liar von häufig statuarischer Stabilität.« (S. 18) Das Ausstellen und Sammeln von Dingen beschreibt er sehr belesen und trotzdem gut lesbar als (entsakralisierende) Verdinglichung und über Rekurse in die Malerei (Perspektive), (Stadt- und Garten-)Architektur und Kartographie als lokale Voraussetzung für neue Machbarkeitsvorstellungen von Raum (Homogenisierung) und Zeit (Planung). Auch wenn oder gerade weil also zu Beginn des 15. Jh. Ordnungstechniken bereitstanden, sind für Asendorf Altdorfers Alexanderschlacht (1529) und das ›Plus Ultra‹ Karls V. die zentralen Metaphern für die revolutionäre Entstehung eines revolutionären Bildes der Welt. Mit Blick auf Pieter Bruguel wird so die »Überschau« zum »Wahrnehmungsmodus in krisenhafter Welt« (S. 169). Im zweiten Teil beschreibt Asendorf gekonnt Versuche der »Großen Ordnung« zwischen 1600 und 1720, wie den Bau des spanischen Herrschaftszentrums Escorial, die Jesuiten als »Avantgarde der Globalisierung«, den Barock und philosophisch-theologische Ordnungsversuche bei Comenius, Leibniz und Francke. Der abschließende dritte Teil beschäftigt sich mit der neuerlichen Krise der Raumbilder in der »Sattelzeit« (Koselleck). Cook, Foster, Humboldt und weitere umreisen und erforschen die Welt nach Asendorf mit dem Ziel der »globalen Bildung« (Guthke), was ihn vom »Entstehen einer genuin planetarischen Perspektive sprechen« (S. 326) lässt, einer Perspektive, die später im Weltinteresse Goethes, in der Weltliteratur und im Weltbildbau der Wörlitzer Gärten gespiegelt wird. Der Newton-Kenotaph – eine gewaltige, 1784 vom Revolutionsarchitekten Boullée errichtete Hohlkugel über Newtons Grab – steht für die Idealisierung der Kugelform. Der Heißluftballon wie auch Tele- und Mikroskop lösen in der Folge überkommene Weltwahrnehmungen auf. In Auseinandersetzung mit Goya spricht Asendorf vom »Raumzerfall« (Hofmann), der Auflösung sicherer KörperRaum-Relationen. Vor allem. technische Neuerungen ließen raumzeitliche Grenzen als überwindbar erscheinen – die Welt wächst zusammen und wird, wie im letzten Kapitel über die erste Weltausstellung 1851 in London beschrieben, zum Weltinnenraum. Asendorf gelingt mit diesem Werk ein großer und zugleich gut lesbarer Wurf. Insbe-
sondere die Verbindung lokaler und materieller Perspektiven mit den Blicken auf Welt tragen zum Verständnis bei und laden mit zahlreichen Exkursen zur Reflektion ein. Bereichernd wären Reflektionen über raum-zeitliche Wissen-Macht-Relationen gewesen, insbesondere darüber, dass fast ausschließlich (west)europäische Perspektiven aufgegriffen werden und auch, dass Asendorfs Perspektive auf die Vergangenheit eine (mittel)europäische ist. In diesem Sinne kann ich mich nur Ulrich Raulff bei der Rezension eines früheren AsendorfWerkes anschließen: »Sind das überhöhte, überzogene Forderungen an einen Autor? Man richtet sie doch nur an den, dem man nach dem hier Geleisteten zutraut, sie zu erfüllen.« SEBASTIAN DORSCH, ERFURT Proot, Goran: Metamorfose. Typografische evolutie van het handgedrukte boek in de Zuidelijke Nederlanden, 1473–1541. Antwerpen: Antwerpse Bibliofielen 2017, 86 S. Es handelt sich um einen kleinformatigen und nicht sehr umfangreichen Ausstellungskatalog, dem es dennoch auf kleinem Raum hervorragend gelingt, das Thema schlüssig, faktenreich und reich bebildert abzuhandeln. Die Ausstellung war nur für zwei Wochen im November 2017 in der Universitätsbibliothek Antwerpen zu sehen. Kurator der Ausstellung und Autor des Katalogs ist der belgische Buchhistoriker Goran Proot, der zahlreiche Veröffentlichungen zum Druck und zum Layout des frühen niederländischen Buchs vorgelegt hat, darunter auch solche, die die Entwicklungen mit statistischen Methoden an umfangreichen Korpora untersuchen. Ziel der Ausstellung und deren Dokumentation im Katalog war, typographische Entwicklungen in den Südlichen Niederlanden – genauer in der Druckproduktion der Städte Aalst, Leuven, Antwerpen, Brüssel und Gent – vom ersten Druck, dem ›Speculum conversionis peccatorum‹ in Aalst bei Johannes von Westfalen, bis in die 1530er Jahre darzustellen. 750 Ausgaben, teils in mehreren Exemplaren, wurden vorbereitend analysiert; über 40 Bücher wurden ausgewählt, die die Argumentation exemplarisch stützen. Die beschriebenen Entwicklungslinien, u.a. Papier, Format und Satzspiegel, Farbdruck, Schriftwahl, Figurensatz und Zierstücke und Titelblatts, beruhen daher auf einem breiten
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen Untersuchungskorpus und nicht auf einzelnen, zufälligen Beobachtungen. Der Katalogtext geht dementsprechend über eine Beschreibung der gezeigten Exemplare hinaus und bettet die Befunde in den größeren Kontext der Druck- und Typographiegeschichte ein. Hervorzuheben sind die zahlreichen farbigen und schwarz-weißen Abbildungen. Abgerundet wird der Katalog durch eine chronologische Übersicht wichtiger Entwicklungsschritte (»Typografische Kalender«), eine Bibliographie des Untersuchungskorpus und ein Literaturverzeichnis. Den Antwerpener Bibliophilen geschuldet ist, dass nur Exemplare aus Privatsammlungen gezeigt werden, die teils nicht namentlich genannt werden und nicht öffentlich zugänglich sind. URSULA RAUTENBERG, ERLANGEN Goeing, Anja-Silvia: Storing, Archiving, Organizing. The Changing Dynamics of Scholarly Information Management in Post-Reformation Zurich. Leiden, Boston: Brill 2017 (= Library of the Written Word, Bd. 56 / The Handpress World, Bd. 42), XIV, 449 S. Wissenspraktiken am Theologischen Seminar in Zürich, auch bekannt als Zürcher Lektorium, sind das Thema der vorliegenden Studie, die auf eine Zürcher Habilitationsschrift von 2012 zurückgeht. Anja-Silvia Goeing fragt nach den dortigen Wechselbeziehungen zwischen Praktiken, Personen und Institutionen bei der Entwicklung wissenschaftlicher Ideen und Methoden, indem sie die Statuten, die Protokolle der Schulleitung sowie Vorlesungsmanuskripte und Lehrbücher des Zürcher Lektoriums im Zeitraum von 1555 bis 1580 untersucht. Im Anhang des Bandes befinden sich Transkriptionen der Statuten sowie der Protokolle. Ergänzend zum Buch gibt es eine Online-Plattform, die künftig auch Datenbanken zur Prosopographie sowie zu zeitgenössischen Lehrbüchern und Nachschlagewerken enthalten soll (S. XI). Die Wahl der Fallstudie begründet Goeing mit der engen personellen Verschränkung zwischen Administration, Lehre und Buchproduktion am Zürcher Lektorium als protestantischer Neugründung sowie mit dem für die Fragestellung dortigen reichen Quellenbestand. Positiv hervorzuheben ist, dass Goeing mit der Betrachtung einer nicht-universitären höheren Bildungseinrichtung eine traditionell
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auf Universitäten beschränkte Perspektive der Forschung aufbricht (vgl. S. 114). Goeing zeigt, wie Produktion und Sicherung von Wissen sozial eingebettet und mit konkreten Praktiken verbunden waren. Hier bietet die Studie zahlreiche wichtige und grundlegende Erkenntnisse, die an dieser Stelle nicht im Einzelnen referiert werden können. Allerdings wird trotz des kontextualisierenden Schlusskapitels nicht immer deutlich, inwiefern die Befunde verallgemeinerbar sind oder eher für den untersuchten Einzelfall stehen. Leider werden zentrale Begriffe wie »scholarly information management« und »knowledge« nicht definiert und abgegrenzt, was für viele Leserinnen und Leser wohl hilfreich wäre. Irritationen verursacht ein Blick in die Bibliographie: Dort findet sich beispielsweise der Wikipedia-Artikel zum Bundesbrief von 1291, der im Text gar nicht zitiert wird (S. 450 f.). Diesen Bundesbrief mit der Gründung der Eidgenossenschaft gleichzusetzen, wie auf S. 36 angedeutet wird, entspricht darüber hinaus nicht dem Stand der Forschung. Goeings Ansatz einer praxeologischen Wissensgeschichte bietet zahlreiche Anschlussmöglichkeiten für weitere Forschungsfelder. Hier wäre jedoch eine diachrone und synchrone Einordnung der Befunde in größere historische Zusammenhänge wünschenswert gewesen, beispielsweise im Hinblick auf Tendenzen zur Sozialdisziplinierung (S. 94), hinsichtlich der Zusammenhänge zwischen familiärer Herkunft und Stellenbesetzungen (S. 177) oder des zeitgenössischen Verhältnisses zwischen Norm und Praxis (S. 195). Vielleicht werden diese Zusammenhänge aber im angekündigten zweiten Band stärker berücksichtigt, der den Studierenden des Lektoriums und ihrer weiterer Karrieren gewidmet sein soll (S. 6). MARCO TOMASZEWSKI, FREIBURG Dubcovsky, Alejandra: Informed Power. Communication in the Early American South. Cambridge, MA, London: Harvard University Press 2016, 304 S. Informationsaustausch in der kolonialen Welt war nicht einfach – so die vage Aussage der Autorin Alejandra Dubcovsky am Anfang ihrer interdisziplinär angelegten Studie über die kolonialen Südstaaten Nordamerikas (S. 3). In den folgenden drei Teilen zeigt sie jedoch gelungen, wie die kolonialen Netzwerke
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auf indigenen Pfaden beruhten und Informationen zu einem nicht-regulierbaren Gut wurden, welches wesentlich die lokalen Machtverhältnisse beeinflusste. Dies untersucht sie für einen Zeitraum, der durch die mündliche Weitergabe von Informationen gekennzeichnet war (1560–1730); noch vor der Etablierung eines regelmäßigen Postsystems oder der Druckerpresse. Um präkoloniale indigene Netzwerke geht es im ersten Teil sowie um die Frage »Was?«: welche Art von Informationen im neu besiedelten Gebiet von Bedeutung waren. Die Akteure – die Spione, Wachposten und Kuriere sowie die Ordensbrüder, Händler und Soldaten – bilden den Schwerpunkt im zweiten Kapitel, das unter der Frage »Wer?« rangiert. Im dritten Kapitel geht es schließlich um das »Wie?« der Informationsweitergabe, um die Brisanz des Inhalts, die Schnelligkeit des Empfangs und die Glaubwürdigkeit. Als Antrieb fungierte, so die Autorin, das beständige Streben nach Macht, welche in Korrelation zur Informationsverfügung stand. Lokale Dynamiken bedingten und spiegelten die Rivalitäten zwischen den Europäern und ihren kolonialen Ambitionen, denn schon bald kamen zu der spanischen Kolonie in La Florida (seit 1565) auch die Franzosen und Engländer. Im Wettstreit um Informationen – die Autorin spricht nie von Wissen – buhlten sie um Allianzen mit den indigenen Gruppen. Die zahlenmäßig überlegene indigene Bevölkerung bestimmte vorrangig die Netzwerkstrukturen, wenn sie auch selbst in verschiedene Gruppen aufgesplittert war: Creek, Cherokee, Choctaw und Chickasaw sowie später Westo und Yamasee. Insbesondere die Engländer, welche an Fellen interessiert waren und mit dem Sklavenhandel die Verhältnisse in der Region durcheinanderbrachten, zerstörten die Indio-Spanier Beziehungen. Mit der Analyse der indigenen, afrikanischen und europäischen Akteure sowie ihrer Kommunikationspartner bietet Alejandra Dubcovsky spannende Einblicke in die Bündnisstrategien und liefert einen neuen überzeugenden Ansatz für die frühamerikanische Kommunikationsgeschichte, welche bislang durch Studien über intellektuelle Kreise oder transatlantische Transfergeschichten bestimmt gewesen ist. Den bedeutungsschweren Begriff »Netz-
werk« definiert sie folgendermaßen: »a network simply refers to the pattern of ties connecting discrete places or peoples« (S. 4). Ohne dabei eine einzige Fußnote zu setzen, sieht sie diese Netze als Produkt und Reflexion der verschiedenen frühamerikanischen Gemeinschaften an. Diese durchaus auch erfrischend simple Herangehensweise kann allerdings methodisch dann nicht überzeugen, wenn überall Netzwerke als Intention gesehen werden, wo von solchen – da selbst kein Quellenbegriff – niemals die Rede ist. Die Auswahl der Quellen ist dafür äußerst vielfältig: eine Karte der Catawba, ein Creek Wörterbuch, zahlreiche Missionarsberichte oder Händler-Briefe und bekannte Chronisten wie Garcilaso de la Vega. Durch mikrogeschichtliche Erzählungen wie die der indigenen Doppelagentin Pamini, Kazikin der Yspo und ihrer trickreichen Informationsweitergabe an Spanier und Engländer, gelingt der Autorin eine spannende Geschichte der transkulturellen Kommunikation in der sich drastisch wandelnden kolonialen Welt. AGNES GEHBALD, KÖLN McLean, Matthew / Barker, Sara (Hg.): International Exchange in the Early Modern Book World. Leiden, Boston: Brill 2016 (= Library of the Written Word, Bd. 51), XXI, 383 S. Der vorliegende Band versammelt 16 Beiträge zum »internationalen Austausch in der frühneuzeitlichen Buchwelt«. Im Zentrum steht neben dem Austausch auch die Dissemination von Büchern in unterschiedliche sprachliche, kulturelle und konfessionelle Kontexte. Dafür unabdingbar war, wie in vielen Beiträgen deutlich wird, die Korrespondenz. Diesbezüglich schreibt Shanti Graheli: »But in the end […], this commerce des lettres was not about books: it was about people and how they related to each other.« (S. 189). Diese Aussage kann für den »internationalen Austausch in der frühneuzeitlichen Buchwelt« insgesamt gelten: Die Menschen waren es, die Verbindungen zwischen verschiedenen Orten, Kontexten und Menschen herstellten und so die Mobilität der Bücher, die immer wieder zum Ausdruck kommt, ermöglichten. Diese Mobilität zeigt sich bei Anpassungen an unterschiedliche sprachliche und kulturelle Kontexte. Darauf verweist unter anderem Nina Lamal, die sich mit Übersetzungen von Guido Bentivoglio’s ›Relationi‹ (1629) befasst.
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen Roeland de Carpentier etwa habe bei seiner Übersetzung ins Niederländische (1648) auf folgende Attribute verzichtet, die Bentivoglio dem zu dieser Zeit in der Republik der Vereinigten Niederlande gefeierten William von Orange zugeschrieben hatte: »[…] ›no faithfulness, no goodness, no shame, only outward religiousness, an unquiet mind and greatly ambitious‹.« (S. 136f.). Damit wurde der Inhalt leicht adaptiert. Doch nicht alle Bücher veränderten sich durch ihre »Reisen«: Boccaccios Fiammetta, so Warren Boutcher, »travelled virtually intact across Europe«. (S. 349). »Reisende«, mehrfach und zum Teil verändert aufgelegte Bücher ziehen sich wie ein roter Faden durch den Band. Die einzelnen Fadenteile werden dabei immer wieder an Orte und Menschen angebunden. So entsteht eine Art Netzwerk von Menschen, Orten und Büchern dieses internationalen Austausches. Dadurch wird – trotz Vielfältigkeit der Beiträge – ein Ganzes hergestellt, was auch der hilfreiche Index widerspiegelt. Verbindend ist den Beiträgen zudem die Quellennähe, die eine weitere Stärke dieses Sammelbandes darstellt. Ein Beispiel dafür ist der Beitrag von Angela Nuovo: Sie stellt die Korrespondenz des Giovanni Bartolomeo Gabiano aus dem Jahr 1522 vor und präsentiert nicht nur Originalbriefe, sondern auch Transkriptionen und Übersetzungen auf Englisch (S. 68–79). Auf diese Weise wird den Lesenden ein tiefergehender Einblick in das Material geboten, das zeigt, wie vielfältig, vernetzt und mobil die frühneuzeitliche Buchwelt war. SIMONE ZWEIFEL, ST. GALLEN Detering, Nicolas: Krise und Kontinent. Die Entstehung der deutschen Europa-Literatur in der Frühen Neuzeit. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2017, 626 S. Deterings Überblick über die deutsche Europa-Literatur vom späten 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts konzentriert sich auf das krisengeschüttelte 17. Jahrhundert. Neben deutschsprachigen Beispielen wurden vereinzelt auch neulateinische aufgenommen. Zudem verknüpft der Verfasser seine Texte mit Vorbildern aus anderen europäischen Literaturen. Auch die fleißig benutzte Forschungsliteratur entstammt nicht nur dem deutschen Sprachraum. Akribisch wird die buchgeschichtliche Aufbereitung der einzel-
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nen Textausgaben betrieben. Das Hauptinteresse gilt dem Europabegriff, dem Wissen um Europa und dem Europabewusstsein, die durch frühneuzeitliche literarische Texte erzeugt wurden. Der Autor zeigt, wie sich in diesen Texten zeitgenössische politische Probleme eines hochgradig verflochtenen Kontinents niederschlugen. Auf pessimistische Stellungnahmen seien erste Beispiele eines Fortschrittsoptimismus gefolgt. Zunehmend sei es auch in der Literatur zu einer kulturellen Formulierung des Europabewusstseins gekommen. Der umfangreiche Textkorpus umfasst periodische Medien, Flugpublizistik mit allegorischem Gehalt, Dramen, Panegyrik und Romane. Über die sprachliche Fixierung hinaus werden regelmäßig Kupferstiche, kurz sogar Relikte des gestisch-performativen Balletts behandelt; ein Seitenblick fällt auch auf das Musiktheater. Weniger Bekanntes und Verkanntes wie Eberhard Werner Happels einschlägiges Œuvre werden vorrangig analysiert, Altbekanntem wie Grimmelshausens ›Simplicissimus Teutsch‹ gewinnt Detering eine differenzierte europäische Dimension ab. Gottscheds Epicedium auf Peter I. wird in einem Anhang sogar kritisch ediert. Der kommunikationsgeschichtlich vordergründig interessanteste Hauptteil über prognostische Nachrichten, Messrelationen, Zeitungen, Serienchroniken und Flugschriften orientiert sich vor allem an Titeln und Strukturen. Im Detail und in der gründlichen Lektüre erschließen sich aber insbesondere in den beiden weiteren Hauptteilen zu literarischen Allegorien beziehungsweise über die Erzählliteratur die intertextuellen und intermedialen Austauschprozesse, deren Analyse einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Buchgeschichtsforschung darstellt. Eher als Anregung aus dem Südosten des deutschen Sprachraums denn als Einwand versteht sich der Hinweis, dass der als Referenz genannte »Kulturraum des Heiligen Römischen Reichs« fast ausschließlich durch Werke repräsentiert wird, die nicht in der Habsburgermonarchie erschienen sind. Es bleibt auszuführen, inwiefern Wien, Prag oder Graz (wo etwa 1711 eine ›Erchtägig Gratzerisch Europaeische Zeitung‹ publiziert wurde) an der deutschen Europa-Literatur zumindest rezipierend partizipierten oder in der antitürkischen Publizistik und der von
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Detering ausgeklammerten geistlichen Literatur verharrten. ANDREAS GOLOB, GRAZ Weduwen, Arthur der: Dutch and Flemish Newspapers of the Seventeenth Century, 1618–1700. 2 Bde, Leiden, Boston: Brill 2017 (= Library of the Written Word, Bd. 58 / The Handpress World, Bd. 43), 1540, XXVIII S. Die Erfassung, Katalogisierung und Datenbank-gestützte Ausweisung der Vielzahl an frühneuzeitlichen Schrift- und Bildmedien ist europaweit ein Desiderat, das sich vor allem in den vielen retrospektiven Nationalbibliographien zeigt. Der Befund, dass seriellperiodische Publikationen und kleinere Akzidenzdrucke nicht wirklich systematisch integriert sind, bestätigt sich auch für die Niederlande. Arthur der Weduwen positioniert sich innerhalb dieses Desiderats. Auf circa 1500 großformatigen Seiten präsentiert der Autor eine mit einigen Extras versehene Bibliographie aller momentan nachweisbaren, periodisch-seriellen, mit einer Drucktechnik hergestellten und in niederländischer Sprache erschienenen Zeitungsformate des 17. Jahrhunderts. In Zahlen ausgedrückt: 49 Zeitungstitel, von denen 43 periodisch und 6 seriell erschienen, werden in 16,232 Exemplaren (aus 84 Sammlungs-Standorten) dokumentiert. Jeder der 49 Zeitungstitel besitzt eine eigene Signatur des in St. Andrews ansässigen, mittlerweile mehrere europäische Perspektiven entwickelnde Erfassungs- und Datenbankprojektes »Universal Short Title Catalogue« (USTC) und ist jeweils mit einer Kurzeinleitung zu Charakteristika und Geschichte des jeweiligen Zeitungsunternehmens versehen. Während der Überblicksbeginn mit dem Jahr 1618 an das Erscheinen des ersten relevanten gedruckten Zeitungsperiodikums, nämlich die wöchentlich erscheinende ›Courante uyt Italien, Duytsland, &c‹ aus Amsterdam, gebunden ist, stellt das Jahr 1700 eher eine künstliche, aber arbeitsökonomisch für einen Einzelforscher verständliche Betrachtungsgrenze dar. Der bibliografischen Dokumentation, die chronologisch nach Erscheinungsdaten die Nachweise jedes ermittelten Exemplars eines Zeitungstitels anführt, ist ein Einleitungsessay von circa 80 Seiten vorangestellt. Hier werden in sechs Kurzkondensaten wichtige Forschungs-Kontexte präsen-
tiert: zur bisherigen Pressehistoriographie, zu niederländischsprachigen Periodika der Frühen Neuzeit, zu Amsterdam als Zeitungsstadt, zu Regulationsmustern und Zensurkräften, zur Druckpublizistik-Produktion in den Nördlichen und Südlichen Niederlanden, zu typischen Aktivitätsformen eines Journalisten-Verleger-Publizisten (»Courantier«) von gedruckten Zeitungen, sowie zu allgemeinen Rezeptionsgewohnheiten und Öffentlichkeitsformen periodischer Publizität. Auf weiteren 90 Seiten der Einleitung finden sich eine Forschungsbibliographie sowie diverse statistische und visuell aufgearbeitete Anhänge u.a. zu Erscheinungstagen der Zeitungen, zu Verlegern und Druckern, zu Publikationsorten, zu den häufigsten Korrespondenzorten in den Zeitungen. Insgesamt umfasst die bibliografische Ausweisung und Dokumentation, die der Autor umsichtig methodisch reflektiert im Unterkapitel »Bibliographical Working Method« (S. 171–179), Sammlungsbestände aus 13 Ländern. Die vom Autor präsentierte Bibliografie baut auf den beachtlichen Forschungs- und Editionsleistungen zur periodischen Presse der frühneuzeitlichen Niederlande auf und erweitert sie mit einem bemerkenswerten Beitrag. Mit der anstehenden Eingliederung dieser Editionsleistung in die USTC-Datenbank wird die Erforschung des niederländischen Nachrichtenwesens auf ein bibliografisches Fundament gestellt, welches viele andere europäische Länder neidisch machen wird. DANIEL BELLINGRADT, ERLANGEN Dall’Aglio, Stefano / Richardson, Brian / Rospocher, Massimo (Hg.): Voices and Texts in Early Modern Italian Society. London, New York: Routledge 2017, 262 S. In der Mediengeschichte zur europäischen Frühen Neuzeit setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass Öffentlichkeit nicht allein durch die Produktion und Rezeption von Schriften und Drucken zustande kommt, sondern vielmehr als komplexes Gefüge von Distanz- und Präsenzmedien zu verstehen ist. Texte zirkulierten nicht nur als Texte, sondern wurden laut gelesen, gesungen und debattiert. Menschmedien wie Prediger, Strassensänger oder Ausrufer sorgten ebenso für Informationsverbreitung und Meinungsbildung wie Flugblätter, Flugschriften und Zei-
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen tungen. Kurz: Stimmen und Texte waren funktional direkt miteinander verknüpft und prägten frühneuzeitliche Öffentlichkeiten in vielfältiger Weise. Der anzuzeigende Band erhebt den Anspruch, diese unhintergehbare Intermedialität nicht nur zu konstatieren, sondern empirisch zu erarbeiten. Er versammelt Arbeiten aus dem Umfeld des außerordentlich fruchtbaren Forschungsunternehmens »Italian Voices« an der University of Leeds, in dem eine interdisziplinäre Gruppe um den Italianisten Brian Richardson die Verschränkungen von Oralität, Manuskriptkultur und Druck in der italienischen Renaissance erforscht. Die Verbindung von literatur-, geschichts- und musikwissenschaftlichen Perspektiven erweist sich immer dann als besonders fruchtbar, wenn das Zusammenspiel von Stimmen und Texten als soziale Praktik analysiert wird, die an spezifische Räume oder Akteure gebunden ist. Dies gilt etwa für Thomas V. Cohens subtile Typologie populärer Ruf- und Schreipraktiken ebenso wie für Claire Judde de Larivières Darstellung venezianischer Ausrufer als Medien von Politik und Recht sowie insbesondere für Massimo Rospochers reich dokumentierte Analyse der Konflikte von Strassensängern und Predigern im öffentlichen Raum der Piazza. Dagegen fallen vor allem solche Beiträge etwas ab, die sich stärker auf die Beziehungen zwischen oralen und textuellen Genres fokussieren. So führen etwa Brian Jeffrey Maxons und Isabella Lazzarinis Versuche, die Oralität frühneuzeitlicher Diplomatie zu rekonstruieren, immer wieder in das Paradox humanistischer Rhetorik, welche Oralität immer nur nachträglich im Medium des Textes produziert. An allen Beiträgen beeindruckt aber die Intention, mit »voices« tatsächlich frühneuzeitliche vokale Praktiken zu adressieren und diese nicht nur als Metaphern für sehr unterschiedliche Quellen zu verstehen. Der Band demonstriert eindrucksvoll das Potential einer Kultur- und Mediengeschichte, die die Verschränkung von Oralität und Literalität konsequent ernst nimmt. Dass dies am Beispiel Italiens vorgeführt wird, ist angesichts der außerordentlich günstigen Quellenlage sicherlich kein Zufall. Obwohl die meisten der Autorinnen und Autoren (mit Ausnahmen wie etwa Una McIlvenna) ihre Ergebnisse selbst kaum in einen weiteren europäischen Zusammenhang einordnen, spricht gleichwohl wenig da-
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gegen, die systematische Anregung auch für andere historische Kontexte aufzugreifen. Mit diesen Arbeiten zu »Voices and Texts« ist ein vielversprechender Anfang gemacht. JAN-FRIEDRICH MISSFELDER, ZÜRICH Stalljohann-Schemme, Marina: Stadt und Stadtbild in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main als kulturelles Zentrum im publizistischen Diskurs. Berlin: de Gruyter 2016 (= Bibliothek Altes Reich, Bd. 21), 493 S. 2012 erschien Siegried Westphals und Wolfgang Adams imposantes dreibändiges Nachschlagewerk zu insgesamt 50 kulturellen Zentren des deutschen Sprachraums der Frühen Neuzeit. Dass auch Frankfurt am Main dazugehört, mutet historisch selbstverständlich an. Doch in welcher Weise die Reichsstadt – Krönungsort der deutschen Könige/Kaiser, Verkehrsdrehkreuz, Finanzmetropole und Messestadt – zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert Hotspot des kulturellen Lebens war und ob und wie dies zeitgenössisch wahrgenommen wurde, ist nicht selbsterklärend. Mit ihrer Dissertation, so verspricht es der Titel, nimmt die Autorin des Handbuchartikels zur Mainstadt, Marina StalljohannSchemme, daran Anstoß. Überraschend wenig erfährt der Leser in der Vorstellung der Prämissen und des Vorgehens gleichwohl darüber, was ein »kulturelles Zentrum« eigentlich auszeichnet. Stattdessen dominieren die Aspekte der Genese und Entwicklung öffentlicher »Stadtbilder«, der topischen bzw. stereotypen Darstellungsweisen des Urbanen. Folglich ist zu konkretisieren, dass die vorliegende Arbeit allgemeiner als angekündigt nach den in der frühneuzeitlichen Publizistik repräsentierten Themen, Motiven und Vorstellungen zu Frankfurt sucht und nach den Veränderungen und Funktionen dieser Images fragt. In der inhaltlich wie zeitlich breiten Anlage und der Methodik (historische Diskursanalyse, komparatistische Imagologie, klassisches geschichtswissenschaftliches Instrumentarium) beschreitet die Studie zweifellos einen wenig ausgetretenen Forschungspfad, der sich durch Lobdichtungen, chronikalische Darstellungen, Reiseerzählungen und topographischhistorische Berichte schlängelt. Dass die umfangreiche, vorangestellte Einordnung der handschriftlichen und gedruckten publizisti-
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schen Quellen stellenweise vage bleibt und Gattungen und Textformen nicht trennscharf behandelt werden, hängt mit der noch wenig ausdifferenzierten Medienlandschaft der Zeit und der medienhistorischen Literatur zusammen und ist somit verschmerzbar. Dies gilt ebenso führt die wenig zweckdienliche stadtgeschichtliche Einführung, die, ohne es zu wollen, eine Gegenüberstellung der »realen« historischen Verhältnisse und den anschließend untersuchten zeitgenössischen »Diskursen« nahelegt, die den Hauptteil der Dissertation bilden. Kapitelweise unterteilt werden darin drei Kategorien von Frankfurter Stadtbildern präsentiert: Die zeitübergreifend kolportierten Topoi (geographische Zentralität, Wahl- und Krönungsstadt, Aufbewahrungsort der Goldenen Bulle, Messe- und Wirtschaftszentrum, geteilte Stadt); die allmählich verblassenden Topoi (Mythos der Stadtgründung, Frankfurt als wehrhaftes, sicheres, freies, friedliches und gerechtes Gemeinwesen); die ab dem ausgehenden 17. Jahrhundert neu entstehenden Topoi (Frankfurt als Kulturstadt, als Stadt der Kunst, des lebendigen literarischen Lebens und der Gelehrsamkeit mit spezifischen Bewohnern und spezifischen inneren Verhältnissen). Die Kontinuität spezifischer Images begründet die Autorin sehr überzeugend mit den Praktiken des Ausschreibens und der Kompilation. Ihre angebotene Erklärung der Neuentwicklung von Stereotypen als intentionalen, kompensierenden bzw. legitimierenden Akten, die vom tatsächlichen oder befürchteten Bedeutungsverlust der Stadt angestoßen worden seien, mangelt es indes an Stichhaltigkeit. Ausbaufähig erscheint ferner die Kontextualisierung der beschriebenen Verschiebung des Frankfurtbildes vom historischen Zentrum des Reiches zu einem »Zentrum städtischer Kultur« im Aufklärungszeitalter. Denn die Aufwertung von Kultur und Bildung sowie die Entdeckung des »Volkes« waren keineswegs die einzigen relevanten Faktoren für die mediale Repräsentation Frankfurts in dieser Phase. Auch die weitgehend ausgeblendete zunehmend kritische Reichsstadtdebatte der Zeit prägte den publizistischen Diskurs wesentlich mit. Vielleicht hätte er interessante Anknüpfungspunkte für übergreifende Aussagen zu urbanen Images beitragen können, von denen die Arbeit trotz punktuel-
ler Seitenblicke auf andere Städte sonst wenig zu bieten hat. Inspirierend ist die Lektüre da eher in Bezug auf den konstatierten Perspektivwandel. So eröffnet die beobachtete Hinwendung der Stadtdarstellungen zur Empirie, zur Differenzierung und Individualisierung sowie zur Gegenwart seit Ende des Dreißigjährigen Krieges einen anregenden Einblick in die Transformation (stadt-)historiographischer Praxis und ihrer staatswissenschaftlichen (statistischen) Implikationen – auch wenn dies nicht explizit herausgestellt wird. KAI LOHSTRÄTER, HAMBURG Ludwig, Ulrike: Das Duell im Alten Reich. Transformation und Variationen frühneuzeitlicher Ehrkonflikte. Berlin: Duncker & Humblot 2016 (= Historische Forschungen, Bd. 112), 390 S. Ist das Duell eine Erfindung des bürgerlichen 19. Jahrhunderts? Ulrike Ludwig verneint diese Frage in ihrer Studie, in der sie den Spuren des Duells in die Zeit vor 1800 folgt. Der Ausgangspunkt des Forschungsvorhabens bildet die Entscheidung, »Duell« nicht als analytische Kategorie zu verwenden. Ludwig geht es also dezidiert nicht darum, rückblickend zu entscheiden, ob Gewaltpraktiken den formalen Kriterien eines Duells, wie sie im 19. Jahrhundert festgelegt wurden, entsprachen. Vielmehr will sie dem Begriff und den Gewaltpraktiken, die damit beschrieben wurden, in den Quellen nachgehen. Das Duell wird daher konsequent als raumzeitlich wandelbarer Begriff und veränderbare Praxis begriffen. In der Tradition der Kriminalgeschichte Dresdner Prägung geht Ludwig bei ihrer Untersuchung zweigleisig vor. Zum einen nimmt sie den praktischen Umgang der Gerichte mit dem Tatbestand »Duell« in den Blick; zum anderen analysiert sie den sozialen Sinn dieser Gewaltpraxis für die direkt daran beteiligten Akteure. Der Quellenbestand setzt sich aus Gerichtsakten aus Kursachsen und anderen deutschen Regionen aus der Zeit von 1637 bis 1806. Eher marginal werden auch Akten zu norddeutschen Regionen unter schwedischer Herrschaft berücksichtigt. Der Begriff »Duell« entstammte den romanischen Sprachen und verbreitete sich im deutschen Sprachraum ab dem 17. Jahrhundert. Die Autorin zeigt, dass die vermehrte
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen Verwendung des Begriffs nicht auf einer neuen Gewaltpraxis fußte. Mit Duell wurden bereits bekannte Formen der Gewalt mit einem neuen Label versehen. Vorerst kam es also zu keiner Formalisierung der Gewaltausübung. Mit Fokus auf den gerichtlichen Umgang der Gewalt zeigt Ludwig, dass die Richter Duellanten auffällig häufig begnadigten. Überzeugend erklärt sie dies mit dem Konzept der »Normenkonkurrenz« (S. 143ff.) zwischen sozial akzeptierter Gewaltausübung im Kontext der Ehre und dem Bestreben frühneuzeitlicher Gerichte interpersonale Gewalt einzuhegen. Mit Blick auf die handelnden Akteure geht Ludwig mit Hilfe einer genauen Lesart der Gerichtsakten ausführlich auf den sozialen Sinn des Duells ein. Dabei differenziert sie gewinnbringend drei Idealtypen. Duelle konnten »Stellvertreterkonflikte«, »Wettkampfspiele« oder aber als »Fehltritte« bzw. »Entgleisungskonflikte« sein (S. 256ff.). Vor allem der Typus der »Wettkampfspiele« ist wichtig, denn er verweist auf einen spielerischen Charakter der Gewalt, der in der Forschung bisher tendenziell übersehen wurde. Ein weiterer wichtiger Befund ist, dass es zwar bereits in der Frühen Neuzeit vornehmlich Mitglieder der Oberschicht waren, die ihre Auseinandersetzungen als Duell definierten. Aber auch Handwerker durften vor Gericht ihre Streitigkeiten ohne weiteres als Duelle bezeichnen. Die Studie liefert einen wichtigen Beitrag zur neuen Kultur- und Rechtsgeschichte der Gewalt. Wenn es etwas zu bedauern gibt, dann vielleicht, dass der Untersuchungszeitraum um 1800 endet und so den Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft nicht unter die Lupe nimmt. Aufgrund der Gepflogenheiten innerhalb der Geschichtswissenschaft, die streng zwischen Früher Neuzeit und Neuzeit unterscheidet, ist die Einhaltung der Epochengrenze natürlich nachvollziehbar. Als Historiker der Moderne hätte mich aber brennend interessiert, weshalb es nach 1800 zu einer Formalisierung der Duellpraxis kam. Nur kurz geht Ludwig auf den möglichen Einfluss des Theaters sowie religiöser und lexikalischer Texte ein. Das ist äußerst spannend und man würde gern mehr erfahren. Beeinflusste und veränderte die mediale/theatralische Zuspitzung bzw. Dramatisie-
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rung des Duells nach und nach auch die Gewaltpraxis? Handelten die Duellanten zunehmend nach diesen neu bereitgestellten Skripts? Es gibt also weiterhin offene Fragen in der Duellforschung, die dank der vorliegenden Studie definitiv neu lanciert ist. MAURICE COTTIER, BERN/CAMBRIDGE Bas Martín, Nicolás / Taylor, Barry (Hg.): El libro español en Londres. La visión de España en Inglaterra (siglos XVI al XIX). Valencia: Publicaciones de la Universitat de Valencia 2016, 232 S. Das Buch als Objekt, das sich zwischen verschiedenen Räumen bewegt, wird in Zeiten von transnationaler und globaler Perspektive zunehmend Thema der Buchgeschichte. Der von Nicolás Bas Martín und Barry Taylor herausgegebene Sammelband untersucht so eine (unidirektionale) Transfergeschichte: das spanische Buch in London. Basierend auf einer Tagung in der British Library 2016 erscheint der Band nun in spanischer Sprache; abgesehen von einem englischen Beitrag. Während Nigel Glendinning 1959 die Präsenz des spanischen Buches auf dem englischen Markt auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts beschränkt hat, erweitern die Autoren des Sammelbandes den Zeitraum beträchtlich, allerdings unter dem Versäumnis jedweder Trendmarkierungen. Dabei können sie zwar zeigen, dass spanische Titel bereits in den Jahrhunderten zuvor kontinuierlich in London vorhanden waren, wenn auch meist als Sammlerobjekt mit beschränktem Radius. Vier Kapitel verorten das bibliographische Interesse an Sammlungen in sozialen und kulturellen Kontexten. Frühe spanische Werke fanden sich im Privatbesitz, wie Barry Taylor anhand der Bibliothek des 1699 verstorbenen Predigers William Bates zeigt. Jene Titel des »Siglo de Oro«, insbesondere die von Cervantes, erfreuten sich großer Beliebtheit und erzielten als illustrierte Editionen des 18. Jahrhunderts sogar höhere Preise, Gegenstand des Beitrags von Gabriel Sánchez Espinosa. Don W. Cruickshank folgt den Spuren aus dem Katalog des Hispanisten William Brownsword Chorley (vor 1866), in dessen Fall Kriege nicht als Bremse im Transfer, sondern als Möglichkeit des Erwerbs von Büchern bewertet werden. Die Musealisierung schließlich ist Thema von Geoff West, der die
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Sammlungen spanischer Versbücher in der British Library skizziert. Neben diesen deskriptiven Beschreibungen von Privatbibliotheken und Sammlungen bekommt der Buchhandel in zwei Beiträgen Raum. Zum einen durch den von Germán Ramírez Aledón analysierten Briefwechsel des Buchhändlers Vicente Salvá, der neben Paris und Städten Lateinamerikas auch in London (1824–1832) aktiv war. Zum anderen durch den Einblick in Buchhandlungen des 18. Jahrhundert von Nicolás Bas Martín, der, den Markt als fragiles Gefüge charakterisierend, dem spanischen Buch kein großes Prestige in London zuspricht. Diese Zurücknahme des Forschungsgegenstandes im letzten Kapitel ist ungeschickt platziert und der Versuch, die Bedeutung der Bücher durch ihre Auswirkung auf das Bild von Spanien in England zu analysieren viel zu kurz, da keiner der vorangegangenen Autoren diese Idee der Herausgeber diskutiert, die sich immerhin auch im Untertitel des Bandes wiederfindet. Zudem fehlt eine gemeinsame Definition, was als spanisches Buch gelte, anstatt der disparaten Ansätze: Druck-Ort (S. 17), Sprache und Thematik (S. 111), Autor, Sprache und Druck-Ort (S. 181). Trotzdem bietet der Sammelband eine eben von verschiedenen Interessen geleitete breite Untersuchung des limitierten Transfers des spanischen Buches. AGNES GEHBALD, KÖLN Pfefferkorn, Oliver / Riecke, Jörg / Schuster, Britt-Marie (Hg.): Die Zeitung als Medium in der deutschen Sprachgeschichte. Korpora – Analyse – Wirkung. Berlin, Boston: de Gruyter 2017, 196 S. Der Sammelband dokumentiert die im November 2014 bei einem Workshop am Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim gehaltenen Vorträge zu dem im Buchtitel genannten Thema. Belegt wird damit einmal mehr das in den letzten Jahren wieder gewachsenere Interesse an der Zeitung als Quelle der Sprachgeschichte und ihrer Erforschung. Damit wird nicht nur deren Basis erweitert, sondern profitieren kann davon auch die Pressegeschichte. Der zeitliche Rahmen ist weit gesteckt und reicht vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Außer einer Einführung enthält der Band zehn recht disparate Beiträge. Zum einen
geht es um den generellen Kontext und die historischen und kommunikationsgeschichtlichen Rahmenbedingungen. Dazu gehören ein Überblick eher aus der Makroperspektive (Böning), eine Skizze zur »Industrialisierung« von Presse und Sprache im 19. Jahrhundert (Theobald) und ein Abriss zur Herausbildung journalistischer Textsorten (Schröder). Einen Schwerpunkt bilden mehrere Beiträge, die den Stand bei der Digitalisierung der deutschen Tagespresse referieren und deren Möglichkeiten für sprachbezogene Zeitungsanalysen zu nutzen suchen. Dass der augenblickliche Stand der Digitalisierung immer noch lehr lückenhaft ist und – gerade hinsichtlich der Volltexterschließung – zu wünschen übrig lässt, bestätigt sich. Dennoch lassen sich auch mit den bereits vorhandenen Mitteln sinnvolle Studien anfertigen. Vorgestellt werden der Bremer Bestand der Zeitungen des 17. Jahrhunderts (Müller und Hermes-Wladarsch), der GermanC-Korpus (1650–1800) (Durrell), der Mannheimer Korpus historischer Zeitungen (khz) am Institut für Deutsche Sprache sowie Zeitungen im Deutschen Textarchiv (DTA). Gelegentlich erwähnt wird auch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS), das einen Pressekorpus einschließt. Recht mikroskopisch angelegt ist die Studie von Durrell, die das Vorkommen spezieller linguistischer Elemente untersucht und dabei als einziger die Generalthese der vermuteten großen Rolle der Zeitungssprache bei der Herausbildung standardsprachlicher Normen im Deutschen in Frage stellt. Substanzieller für den Kommunikationswissenschaftler sind hingegen Wortschatzuntersuchungen und die Rolle spezifischer funktionaler Textbausteine (Schuster und Wille, Gloning). Zwei Beiträge widmen sich Fällen eher am Rande des deutschen Sprachraums, so das eher bibliographische Verzeichnis der deutschsprachigen Presse im Ostseeraum (Riecke) und die auf ein kleines Sample gestützte Analyse der ›Kaschauer Zeitung‹ (Meier), einer der bedeutendsten Zeitungen auf dem Gebiet der heutigen Slowakei. Dass der Band insgesamt eine geringe Kohärenz aufweist, ist gewiss ein Zeichen für den noch unbefriedigenden Forschungsstand. Dennoch zeigen die Beiträge aber auch exemplarisch, wie man sich dessen Überwindung vorstellen kann. Eine stärkere Rezeption der kommunikationsgeschichtli-
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen chen Arbeiten wäre, wie die Literaturverzeichnisse zeigen, denkbar und wünschenswert. JÜRGEN WILKE, MAINZ Klesmann, Bernd / Schmidt, Patrick / Vogel, Christine (Hg.): Jenseits der Haupt- und Staatsaktionen. Neue Perspektiven auf historische Periodika. Bremen: edition lumière 2017 (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Bd. 108), 250 S. Der anregende Sammelband ist das Ergebnis einer Bremer Tagung aus dem Jahre 2014, die die Herausgeber als Historiker, deren Arbeitsschwerpunkte nicht in der historischen Presseforschung liegen, in Kooperation mit der Deutschen Presseforschung an der Universität Bremen durchführten. Ziel war es, Ansätze für eine kultur- und sozialgeschichtliche Nutzung von Periodika des 17. bis 19. Jahrhunderts zu diskutieren, um so der pressegeschichtlichen Forschung neue Impulse zu geben. Die hier versammelten Aufsätze untersuchen Themen, die, wie die Herausgeber meinen und wie Patrick Schmidt es in einem einleitend-konzeptionellen Beitrag zu einer Pressegeschichte jenseits der Haupt- und Staatsaktionen ausführt, in den Zeitungen des 17. bis 19. Jahrhunderts eine Nischenexistenz führten, für die Presseartikel aber gleichwohl aufschlussreiche Quellen bildeten. Im einzelnen wird dies untersucht am Beispiel der Prozessberichterstattung in England im frühen 18. Jahrhundert, an der Thematisierung von Religion in den politischen Zeitungen in der Frühen Neuzeit, an einer Diplomatie zwischen Präsenzkultur und Medienöffentlichkeit am Beispiel Frankreichs zur Zeit Ludwigs XIV., an den Formen der Unterhaltung in Leipziger Zeitungen, der Kategorisierung von Meldungen in den Frankfurter Messrelationen sowie an der Behandlung von Behinderung und behinderten Menschen in der Presse des 17. und 18. Jahrhunderts. Eigene Schwerpunkte bilden die Rolle der Presse bei der Wissenspopularisierung und die Bedeutung von Anzeigen als Quellen der Kulturund Alltagsgeschichte, sei es für eine Geschichte des Konsums oder des Lesens und der Leser. Es ist zu hoffen, dass die hier aufgeworfenen Fragen zu einer Debatte über Themen und Formen der historischen Presseforschung beitragen. AÏSSATOU BOUBA, BREMEN
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Talbot, Michael: British-Ottoman Relations, 1661–1807. Commerce and Diplomatic Practice in Eighteenth-Century Istanbul. Woodbridge: The Boydell Press 2017, 270 S. Seit einiger Zeit nimmt die Kulturgeschichte vermehrt wirtschaftshistorische Fragen in den Blick. In diesen Trend lässt sich auch Michael Talbots kürzlich erschienenes Buch einordnen, das sich den diplomatischen Beziehungen zwischen Großbritannien und dem Osmanischen Reich im »langen 18. Jahrhundert« widmet. Denn diese Beziehungen, so Talbot, waren zu allererst kommerzieller Natur und nur sekundär politisch, was vor allem daran lag, dass der Impuls zur ihrer Aufnahme Ende des 16. Jahrhunderts von der »Levant Company« – also einer Handelskompanie – ausgegangen war. Talbot verfolgt daher einen Ansatz, der der »interconnectivity of finance, law, and culture in early modern diplomatic practice« Rechnung tragen will (S. 2). Er tut dies, indem er klassische wirtschaftshistorische Methoden der Statistik mit aktuellen kulturgeschichtlichen Ansätzen – etwa zur Performativität des diplomatischen Zeremoniells (Kap. 5) – verbindet. Zudem bezieht er als einer von wenigen auch osmanische Quellen mit ein. In seiner Untersuchung konzentriert er sich vor allem auf die in Istanbul residierenden Botschafter. Diese wurden zwar von der Krone autorisiert, finanziert wurden sie allerdings – wie die gesamte englische Diplomatie im Osmanischen Reich – von der »Levant Company«. Noch im 18. Jahrhundert erfüllten sie, so Talbot, in erster Linie »consular functions« und vertraten die Handelsinteressen der britischen Kaufleute (vgl. Kap. 6). Dabei waren sie gezwungen, sich den kulturellen Gepflogenheiten der osmanischen Diplomatie unterzuordnen und etwa die sehr ausdifferenzierten Regeln des Geschenksystems zu beachten (Kap. 4). Talbot beschreibt die englische Diplomatie im Osmanischen Reich insgesamt als einen Kreislauf: Die Kaufleute finanzierten den Botschafter, der das ihm anvertraute Geld in der diplomatischen Interaktion mit den Osmanen einsetzte und sich damit deren »Freundschaft« sicherte, um so wiederum für den Fortgang des Handels zu sorgen – »thus beginning the cycle again« (S. 16). Mit seinem Vorgehen gelingt es Talbot, grundlegende Wandlungsprozesse der anglo-
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osmanischen Beziehungen im 18. Jahrhundert aufzuzeigen. Da die »Levant Company« etwa durch einen massiven Rückgang der Gewinne seit den 1730er Jahren kaum noch für die Kosten der Diplomatie aufkommen konnte, wurden diese immer häufiger von den Botschaftern selbst bzw. der Krone getragen, wodurch sich auch die Interessen der Diplomatie in Richtung der Krone verschoben (S. 102f., 213). Gleichzeitig änderte sich das machtpolitische Verhältnis zwischen den Parteien: Während Großbritannien zu einer weltumspannenden Großmacht avancierte, mussten die Osmanen seit dem Ende des 17. Jahrhunderts eine Reihe militärischer Niederlagen hinnehmen. Dies hatte auch Auswirkungen auf die diplomatische Interaktion in Istanbul: Immer weniger traten die britischen Botschafter den Osmanen als Bittsteller gegenüber, die sich um die Erhaltung der Handelsprivilegien bemühten, und immer stärker schlugen sie einen »confrontational and arrogant tone« an (S. 195–208). Zwar sind einige dieser Entwicklungen in der Forschung bereits bekannt, allerdings kann Talbot sie doch durch seine breite Quellenbasis besonders fundiert absichern und um wichtige Aspekte erweitern. Dabei enthält sein Buch neben den »großen Linien« eine Fülle interessanter Einzelbeobachtungen und Befunde, und es ist gerade die darstellerisch geschickte Verbindung von Mikro- und Makroebene, die es nicht nur zu einer äußerst gewinnbringenden, sondern auch unterhaltsamen Lektüre werden lässt. FLORIAN KÜHNEL, GÖTTINGEN Hofmann-Polster, Katharina: Der Hof in der Messestadt. Zur Inszenierungspraxis des Dresdner Hofes auf den Leipziger Messen (1694– 1756). Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2014 (= Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 126), 438 S. Diese 2014 an der Universität Leipzig verteidigte Dissertation wendet sich einem bislang kaum beachteten Phänomen zu: den zahlreichen landesherrlichen Messebesuchen in Leipzig zwischen 1694 und 1756, im Augusteischen Zeitalter. Die von der Verfasserin nachgewiesenen 72 Messebesuche der beiden in Personalunion regierenden Kurfürsten-Könige (von Friedrich August I., auch »der Starke« genannt, seit 1694 Kurfürst von Sachsen und seit 1697
polnischer König August II. und seinem Sohn und Nachfolger Friedrich August II., seit 1833 polnischer König August III.) stellten in ihrer Häufigkeit und Regelmäßigkeit eine Besonderheit dar. Die Studie verfolgt das Ziel, die Leipziger Messebesuche hinsichtlich ihrer zeremoniellen und festlichen Prägung näher zu untersuchen; sie knüpft damit am verstärkten Interesse der Frühneuzeitforschung an kulturellen Praktiken symbolischer Kommunikation, am »performative turn«, an. Forschungsleitend ist die Erkenntnis der neueren Hofforschung, dass höfische Feste keinesfalls ausschließlich als Formen des Vergnügens und der Unterhaltung, sondern ebenso als kulturelle Praktiken zur Inszenierung herrschaftlichen Machtanspruchs fungierten. Leipzig erweist sich als besonders spannungs- und ertragreicher Untersuchungsort, gilt es doch gemeinhin als eine auf Autonomie bedachte, selbstbewusste Bürgerstadt, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum führenden Messeplatz Europas avancierte und darüber hinaus mit ihren Luxusmanufakturen, als Universitätsstadt sowie als ein Zentrum der Aufklärung und Wissenschafts- und Kunstpflege Anziehungskraft besaß. Die Dissertation verdeutlicht zum einen, dass die Messebesuche den Wettinern als wichtige Bühne dienten, um sich mittels diverser Festivitäten vor einem städtischen und hochadligen Publikum bewusst in Szene zu setzen, und so den eigenen, mit dem Erwerb der polnischen Krone gewachsenen Machtanspruch zu demonstrieren. Unter Friedrich August II. setzte dann ein allmählicher Rückzug des Hofes aus der Stadt, die zunehmende Hinwendung zu Wissenschaft und Kunst sowie zu einem veränderten Herrscherbild im Zuge aufgeklärter Kritik ein; repräsentative landesherrliche Messebesuche wurden unter seinem Nachfolger zu Ausnahmeerscheinungen. Die Studie weist zum anderen nach, dass landesherrliche Besuche für ausgewählte Vertreter der Stadt willkommene Gelegenheit boten, um gezielt Kontakte zum Hof zu pflegen. Die städtischen Festprogramme waren keinesfalls pure Devotionsbekundungen gegenüber der Landesherrschaft, sondern wurden von der Universität, der Kaufmannschaft, der Bürgerschaft und dem Stadtrat zur Darstellung von Rang und sozialer Ordnung im städtischen Gefüge sowie für eigene Werbezwecke genutzt. Die Dissertation belegt auf
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen breiter Quellenbasis, dass die Messeaufenthalte des Dresdner Hofes einen Schnittpunkt von territorial- und lokalpolitischen Handlungsräumen markierten. Sie dienten sowohl den fürstlichen als auch den städtischen Protagonisten als wichtiges Kommunikationsfeld, in welchem dem Fest und Zeremoniell eine wesentliche Rolle bei der Inszenierung von gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen zukam. Sie setzt die kritische Auseinandersetzung mit Konzepten des Performativen zur Kontrastierung höfischer und städtischer Repräsentationskulturen fort, indem sie den Blick auf Interdependenzen und Interaktionen zwischen höfischer und städtischer Sphäre sowie auf das symbiotische Verhältnis zwischen höfischer und städtischer Kultur außerhalb von Residenzstädten im 18. Jahrhundert lenkt. Ein wertvoller Quellenanhang mit Orts- und Personenregister rundet diese beachtliche Publikation ab. SUSANNE SCHÖTZ, DRESDEN Kutschke, Beate: Gemengelage. Moralischethischer Wandel im europäischen Musiktheater um 1700. Paris, Hamburg, London, Hildesheim: Olms 2016 Die barocke und frühaufklärerische Oper ist ein sehr eigenes Medium, das beispielsweise in Hamburg ein gutes halbes Jahrhundert früher als das Theater, noch vor den Moralischen Wochenschriften und ein Jahrhundert vor Schillers Abhandlung zur »Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet« im Jahre 1784 Ansprüche formuliert, moralisch zu belehren, eben moralische Anstalt zu sein. Anspruch der Autorin ist es, am Beispiel der europäischen Kulturzentren Paris, Hamburg und London die damalige Gemengelage aus alten und neuen moralisch-ethischen Anschauungen zu rekonstruieren, wie sie sich im Musiktheater manifestieren. Dabei werden die Dekaden um 1700 als Phase eines einschneidenden Wandels des moralisch-ethischen Denkens, als »Sattelzeit« gesehen. Hier würden die Ideen und Wertvorstellungen vorbereitet, die für die aufklärerische Ethik und Moral im späteren 18. Jahrhundert charakteristisch seien und selbst heutige Gesellschaften noch bestimmen. Wichtig ist ihr, dass an der Neugestaltung der moralisch-ethischen Visionen nicht allein die Librettisten der zu vertonenden Verse, sondern mit ihren musikalischen Mitteln durchaus auch die Komponisten beteiligt waren. Als besonders anregend hat der Rezensent die Darstellung der
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neuen moralisch-ethischen Konzepte empfunden, für Hamburg behandelt unter dem Titel »Frühaufklärerischer Heroismus in den Opern am Hamburger Gänsemarkttheater« und »Die Hamburger Oper im moraltheoretischen Kreuzfeuer«. Auch wenn in der Geschichtsschreibung zur Hamburger Oper die Feststellung nicht ganz neu ist, dass die dort gespielten Opern einen deutlichen moralpädagogischen Impetus besaßen, wird hier deutlich herausgearbeitet, dass das Musiktheater der Barockzeit nicht nur absolutistische Fürsten verherrlichte, sondern sich selbst als progressive moralische Anstalt begriff. Wichtig für die Analysen ist das umfangreiche Werk Johann Matthesons, etwa sein gegenüber der Antike neuer Gedanke, dass die Hervorbringung positiver Gefühle durch die Musik tugendhaftes Verhalten stimuliere. (S. 172) Dargestellt wird der Streit um die Oper seit den 1680er Jahren. Dass später Gottsched manches Argument in seinen Moralischen Wochenschriften und literaturtheoretischen Positionen wieder aufnimmt oder »aufklärerisch« wendet, das schon in der orthodoxen Geistlichkeit im Kampf gegen die Oper populär war, spielt keine Rolle. HOLGER BÖNING, BREMEN Strein, Jürgen: Wissenstransfer und Popularkultur in der Frühaufklärung. Leben und Werk des Arztschriftstellers Christoph von Hellwig (1663–1721). Berlin, Boston: de Gruyter 2017, 271 S. Es freute den Rezensenten, im Vorwort lesen zu dürfen, dass die Anregung zu dieser Studie von dem großen Altgermanisten und Wissenschaftshistoriker Joachim Telle in Heidelberg ausging, dem er mit dessen Werk »Pharmazie und der gemeine Mann. Hausarznei und Apotheke in deutschen Schriften der frühen Neuzeit« Bereicherung verdankt. Helwig selbst begegnete der Rezensent mit einem Kalender, der 1786 dessen Namen trug, obwohl er doch bereits seit mehr als sechs Jahrzehnten nicht mehr unter den Lebenden weilte: ›Christoph von Helwig’s hundertjähriger Kalender‹. Hier war der prominente Name Helwigs genutzt worden, um die populäre Form des Hundertjährigen Kalenders für die aufklärerische Bearbeitung eines weitverbreiteten Volkslesestoffes zu verwenden. Nun findet sich hier eingebettet in einer Biographie des Barockautors, der hier in seinen Zusammen-
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hängen zur Frühaufklärung gewürdigt wird, und einer Würdigung des umfangreichen Werkes, das er geschaffen hat, auch dessen Hundertjähriger Kalender, der sogar als das erfolgreichste Werk dieses Autors vorgestellt wird. (S. 80) Einen großen Teil dieses schönen Buches macht eine vorzügliche, höchst sorgfältig erarbeitete »Bibliographie raisonnée« aus, die das Werk von Helwigs nicht nur bibliographisch erschließt, sondern es in seinen wichtigsten Inhalten beschreibt und charakterisiert. Dessen Zusammenhänge mit Wissenstransfer, Popularkultur und Frühaufklärung veranschaulicht beispielhaft ein »Leib- und Landarzt« von 1716, der für Hausväter und -mütter auf dem Land gedacht ist, die in der Regel fern von rechtschaffenen Ärzten lebten. Es wäre erfreulich, würde die gesamte Gebrauchsliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts auf ähnliche Art erschlossen, wie dies hier geleistet wurde. HOLGER BÖNING, BREMEN Zientara, Włodzimierz / Lewandowska, Liliana (Hg.): Das Fremde erfahren. Polen-Litauen, Deutschland und Frankreich in der frühneuzeitlichen Reiseliteratur. Toruń: Uniwersytet Mikołaja Kopernika. Katedra Filologii Germańskiej 2014, 314 S. Die vorliegende Anthologie ist die 2014 publizierte, gelungene Synthese aus Ergebnissen eines polnisch-französischen Forschungsprojekts der Universitäten Toruń und Versailles zur europäischen Reiseliteratur der frühen Neuzeit in ihrem ersten Teil und – diesen ergänzend – polenthematischen Forschungsbeiträgen zu diversen Druckmedien aus derselben Epoche, von Wissenschaftlern der Deutschen Presseforschung Bremen im zweiten Teil. Ihre 13 Beiträge beinhalten transkribierte und mit erläuternden Anmerkungen sowie den Originalseitenzahlen versehene Auszüge aus bereits im 18./19. Jahrhundert publiken Quellentexten, die durch zusammenfassende und teils mit kritischen Reflexionen versehene Essays eingeleitet werden, wobei der Band, so die Herausgeber, in erster Linie dazu dienen soll, »über diese Quellen mit den Studierenden in den Seminaren zu arbeiten.« (S. 7) »Das Fremde erfahren« heißt für den berichtenden Reisenden, dass er dem Leser nicht nur von dem Fremden, sondern indirekt auch von sich selbst erzählt. Imago- und Stereotype über das Reiseland und seine Be-
wohner, die Vorbildung und Vorbilder des Schreibenden, wie auch sein kultureller Hintergrund werden so bisweilen offenbar. Die Verfasser der Reiseberichte in diesem Band sind dabei vorwiegend Deutsche, die durch Polen und Litauen, sowie zu den Städten Krakau, Warschau und Thorn reisen, außerdem ein Engländer, der Frankreich bereist und ein Franzose, der über den Palast von Wilanów bei Warschau schreibt. Damit leistet das Sammelwerk unter anderem einen wertvollen Forschungsbeitrag zur auch weiterhin mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit verdienenden Reiseliteratur über das Ostmitteleuropa des 18. Jahrhunderts. Von der frühneuzeitlichen Fremderfahrung berichtend und historische Kulturvergleiche aufzeigend, gehört die epistemologische Anschlussfähigkeit dieses Bandes gleichermaßen evident wie bereichernd zum europäischen Dialog und kulturhistorischen Diskurs über Grenzen, Migration und Multikulturalität unserer Gegenwart. JAKUB ZYGALSKI, HEIDELBERG Hottmann, Katharina: »Auf! stimmt ein freies Scherzlied an«. Weltliche Liedkultur im Hamburg der Aufklärung. Stuttgart: Metzler, [Kassel]: Bärenreiter 2017, XXI, 944 S. Die groß angelegte Studie, eine Hamburger musikhistorische Habilitationsschrift von 2015, befasst sich mit weltlichen Liedern, die im Deutschland des mittleren 18. Jahrhunderts als Medium bürgerlicher Selbstverständigung in sich dynamisch entwickelnden Stadtkulturen begriffen werden, wobei Hamburg neben mitteldeutschen Städten und Berlin einer der interessantesten Orte der Liedproduktion gewesen sei, verbunden mit einer längeren Tradition geistlicher und weltlicher Liedkultur. Grandios erreichtes Ziel der Autorin ist in der Verbindung von gattungs- und kulturhistorischen Perspektiven die Rekonstruktion verschiedener Dimensionen der Hamburger Liedkultur der Aufklärung. Gruppiert wird der Stoff entlang von fünf zentralen Handlungsfeldern: »Lieder singen, Lieder vertonen, Lieder publizieren, Lieder besprechen, mit Liedern etwas sagen«, (S. 11) alle diese Handlungen werden zu Recht als kommunikative Akte begriffen und analysiert, auch wird postuliert, die Kulturgeschichte des Liedes müsse zugleich eine Kulturgeschichte des Singens sein, das mit Kunstanspruch gedichtete und vertonte
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen deutschsprachige Lied habe sich im sozialen Kontext des Stadtbürgertums entfaltet. (S. 49). Davon, dass Hamburg als Zentrum der Aufklärung auch eine bedeutende Medienund Pressestadt war, habe die Liedkultur in vielfältiger Weise profitiert. (S. 66) Eindrücklich wird gezeigt, welche Bedeutung das Lied und die Liedkultur für die Kommunikation unter den gemeinnützig-patriotisch engagierten Stadtbürgern hatte und in welcher Weise das Lied ein Programm popularisierte, wie es zuerst in den Hamburger Moralischen Wochenschriften popularisiert wurde. Unter den Lieddichtern für Georg Philipp Telemann beispielsweise nehmen diejenigen den ersten Rang ein, die aus dem Kreis der ›Teutsch-übenden Gesellschaft‹ und der ersten Patriotischen Gesellschaft von 1724 stammten. Die ganz ungewöhnlich quellen- und facettenreiche Untersuchung fasst die vorliegenden Forschungen zur Musik-, Literatur-, Sozial- und Kulturgeschichte produktiv zusammen, nicht zuletzt bezieht sie auch die Hamburger Presse und die dort zu findenden Liedrezensionen intensiv mit ein, ebenso das Buch- und Verlagswesen, das Wirken einzelner Buchhändler und Verleger, die Werbung für Musikdrucke, deren Preise und Vertrieb, das Pränumerations- und Subskriptionswesen, die Arbeit der Kupferstecher, den Notenstich und Notensatz, die Paratexte in Liederbüchern, nicht zuletzt auch das Wirken der Zensur. so dass ein bemerkenswertes Werk vorliegt. Für die Kommunikationsgeschichte von besonderem Interesse sind die Kapitel I »Lieder singen – Hamburg als Schauplatz der Liedkultur« und III »Lieder publizieren: Medien und Markt« sowie V »Mit Liedern etwas sagen: Themen, Sprechweisen und Formen« mit dem Unterkapitel »Kommunikationsmodelle im Lied«. Es ist ganz außerordentlich bemerkenswert, welche Bedeutung die neuen periodischen Medien, das Experimentieren mit ihnen und die neuen durch die Erweiterung des Zeitungs- und Zeitschriftenmarktes entstehenden und sich verändernden Vertriebsformen haben. Sie sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Gattung des weltlichen Liedes in der sich entfaltenden Hamburger Aufklärungskultur einen zentralen Platz behaupten konnte. Alle die kleinen
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Wochenschriften, die in Hamburg den Pressemarkt ebenso prägten wie die politischen, ja selbst poetische Zeitungen, die Intelligenzblätter und andere die neuen Möglichkeiten des periodischen Druck nutzenden Formen, sind zentral daran beteiligt, in ganz besonderem Maße der Hamburger ›Correspondent‹ mit seinen Rezensionen auch von Musikdrucken, nicht zu vergessen auch die unerwähnten Neujahrsdrucke, die in einzelnen ihrer in Hamburg erschienenen Exemplare als Vorgänger der natürlich berücksichtigten Musenalmanache verstanden werden können, ebenso die Musikbeilagen zu fast allen Gattungen der periodischen Literatur (hier ist unbekannt der Sammelband von Ulrich Tadday: Musik und musikalische Öffentlichkeit. Musikbeilagen in Zeitungen, Zeitschriften und Almanachen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Bremen 2013). Gerade weil hier eine so tüchtige Arbeit vorliegt, die diese Vielfalt der Presseerzeugnisse als neben den Liederbüchern wichtigste Quelle für die Kommunikationskultur im Hamburger Aufklärungsjahrhundert und die Debatten über das Lied nutzt, befremdet es, dass an praktisch keiner Stelle darauf hingewiesen ist, dass diese bemerkenswerte Presselandschaft bereits erschlossen und für das 18. Jahrhundert auch beschrieben wurde. Dort wurde, wenn der Rezensent nichts übersehen hatte, zu einem Zeitpunkt, da die Musikgeschichtsschreibung sich um solche Äußerlichkeiten wie Vermarktung und Vertrieb von musikalischen Werken noch wenig bekümmerte, auch energisch auf die medien- und musikgeschichtliche Bedeutung hingewiesen, die Georg Philipp Telemanns Pioniertaten als Herausgeber und Verleger von periodischen Notendrucken seit 1725/26 hatten. Da wird dann etwa auf den hohen Quellenwert von angeblich seit den 1750er Jahren erscheinenden Pränumerationsinseraten für Musikdrucke geschrieben und darauf hingewiesen, wie schwer diese zu finden seien, weil sie noch durch keine Datenbank erschlossen seien (S. 369), gleichzeitig aber darauf verzichtet, die seit zwei Jahrzehnten vorhandenen gedruckten »Datenbanken« auszuwerten, in denen genau solche Pränumerationsanzeigen schon für die 1720er Jahre nachgewiesen worden sind. Dies, so noch einmal, schmälert nicht den
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Wert dieser vorbildlich quellenbasierten und so kenntnis- wie erkenntnisreichen Studie. HOLGER BÖNING, BREMEN Lange, Carsten / Reipsch, Brit (Hg.): Vom Umgang mit Telemanns Werk einst und jetzt. Telemann-Rezeption in drei Jahrhunderten. Bericht über die Wissenschaftliche Konferenz, Magdeburg, 15. und 16. März 2012, anlässlich der 21. Magdeburger Telemann-Festtage. Hildesheim: Olms 2017, 355 S. Der Musikhistoriker ist längst daran gewöhnt, dass im zweijährigen Abstand ein neuer Sammelband erscheint, der die wissenschaftlichen Konferenzen dokumentiert, die die Magdeburger Telemann-Festtage traditionell begleiten. Im vorliegenden Band steht die zentrale Frage des Umgangs mit Telemanns Werk und dessen Rezeption schon zu Lebzeiten des Komponisten über die vergangenen zweieinhalb Jahrhunderte bis zur Gegenwart im Mittelpunkt. Gewohnt sorgfältig ediert, steht am Anfang die TelemannRezeption der Gebrüder Uffenbach, es folgen, um einige Beispiele für die Vielseitigkeit des Bandes zu geben, die Rezeption seines Werkes in Schleiz, in Norwegen, Slowenien, England und den USA, im Rahmen der »Denkmäler deutscher Tonkunst«, in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und im »volkstümlichen Konzert«, durch Christoph Graupner, Joachim Quantz, August Gottfried Ritter oder Arnold Schering, im Rahmen diverser Wiederaufführungen von Telemanns Johannespassion durch Hans Hörner, im Magdeburg vom Ende der 1920er Jahre bis 1945 sowie seiner Vokalwerke seit 1767 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Ergänzt wird dies durch einen Aufsatz zur Oper »Der geduldige Socrates« auf dem Wege zum Repertoirestück sowie zur Generativen Musik als Werkzeug in der Musikwissenschaft. Ein auch kommunikationshistorisch sehr wertvoller Beitrag liegt in Kota Saldos Studie zu Telemanns Notenstich und der Chronologie seiner Werke, war doch stets die öffentliche Zugänglichkeit eine wichtige Voraussetzung für die Rezeption und Telemann ein Meister in der Vermarktung seiner Tonkunst. HOLGER BÖNING, BREMEN Kannenberg, Simon (Hg.): Studien zum 250. Todestag Johann Matthesons. Musikschriftstel-
lerei und -journalismus in Hamburg. 2., überarbeitete Auflage, Berlin: Weidler 2017, 253 S. Der Sammelband, Ergebnis einer Hamburger Ringvorlesung zu Matthesons 250. Todestag, bietet acht Beiträge. Birgit Kiupel widmet sich sehr interessant dem widerspruchsvollen Verhältnis Matthesons zu Frauen und Weiblichkeit, Dorothea Schröder beleuchtet aus ihrer intimen Kenntnis der Hamburger Operngeschichte sein Verhältnis zu Komponisten an der Gänsemarkt-Oper, Joachim Kremer setzt sich mit Matthesons Konzept einer Musikerbiographik in der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung auseinander, Reinhard Bahr mit seinem »Ton- und Tonartensystem von der Hexachordlehre zur 12Stufigkeit« und Hansjörg Drauschke interessiert an Matthesons Kantatenproduktion besonders die Auseinandersetzung Hamburger Komponisten mit einem italienischen Modell. Wenig mit Mattheson haben die Beiträge Helmut Brenners zur Musikkritik am Ende des 19. Jahrhunderts und Joachim Mischkes zu einem »Musikjournalismus für alle« zu tun. Ein Kuriosum stellt Rainer Bayreuthers Aufsatz über »Mattheson und die Anfänge des Musikjournalismus« dar, der an Literatur im wesentlichen Bayreuther kennt, aber nicht einen einzigen Titel zur Geschichte der Musikzeitschriften und des Musikjournalismus oder gar zu Mattheson. Die Behauptung, dass »Journale überhaupt« im 18. Jahrhundert entstehen, vergisst, dass es auch ein 17. Jahrhundert gab, das Geburtsjahrhundert der Zeitungen und Zeitschriften nämlich, richtig ist, dass im 18. Jahrhundert »Journale« (?) – oder wohl richtiger: Zeitschriften – über Musik entstanden und Mattheson hier Vorreiter ist. Die Behauptung, dass es »Journalismus ohne und mit Musik« »verstreut« schon vor Mattheson gab, könnte man als flapsig bezeichnen. Auf die Frage »Was beflügelte die Idee der Menschen in Europa, ihr Wissen von Gott und der Welt monatlich, wöchentlich, täglich neu zu bilden?« erfahren wir zunächst, der Journalismus sei Mitte des 17. Jahrhunderts entstanden, ein »gängiges Erklärungsmodell« für dessen Geburt liege darin, auf die »Ausbildung und Ausdifferenzierungen von Öffentlichkeiten in dieser Zeit« zu verweisen, »Frauen, Gelehrte, Berufsgruppen aller Art, Alterskohorten, Religiöse jenseits der Kirche, Städter, Ländler, Musikliebhaber,
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen Büchernarren, Vernünftige, Kritische, Moralische Verliebte und so weiter« hätten nach je spezifischem Wissen verlangt, »das bei den Klassikern oder in der Bibel nicht zu finden war«, doch habe dieses Erklärungsmodell ein schwerwiegendes Manko, da es das Pferd von hinten aufzäume und verkenne, »dass die Öffentlichkeiten durch spezifische Wissensgehalte und Wissensdynamiken erst entstehen«. (S. 21f.) Die dem folgende handlungstheoretische Beschreibung der Musik-Geschichte um 1700 hat der Rezensent nicht recht verstanden, dafür trifft sie sich aber »mit der Geschichtstheorie von Reinhart Koselleck, die auf anderem Argumentationsweg die geschichtliche Dynamik der Neuzeit zu erfassen sucht«. (S. 22) Auch über Mattheson erfährt der Leser etwas: »Matthesons Musikjournalismus ist also kein politischer Journalismus – noch nicht. Erreicht wird die ›Politizität‹ des Musikschrifttums historisch erst später, bei Rousseau und dann in der Französischen Revolution.« Immerhin ist »Matthesons Journalismus« eine »notwendige Zwischenstufe dorthin«. (S. 27) Es sei abschließend darauf hingewiesen, dass es eine echte erste Auflage dieses Sammelbandes nicht gibt, da diese auf Verlangen eines Autors und zum Leidwesen von Herausgeber und Mitautoren nicht erscheinen durfte. Die zweite Auflage ist also eigentlich die echte erste Auflage – abzüglich des Beitrags des quertreibenden Autors. HOLGER BÖNING, BREMEN Gardiner, John Eliot: Bach. Musik für die Himmelsburg. Aus dem Englischen von Richard Barth. München: Hanser 2016, 735 S. Es ist eigentlich keine Biographie, die hier geboten wird, eher handelt es sich um porträtierende Skizzen, die vom Vokalwerk ausgehen, selbst von einer musikalischen Biographie kann man nicht sprechen, denn das Instrumentalwerk spielt keine Rolle. Es ist wohl die eigentliche Leistung des Werkes, dass Gardiner mit dem Mittel seiner Musikinterpretation tradierte Eindrücke und Urteile über Werk und Person Bachs zu korrigieren bemüht ist. Den landläufigen Vorstellungen entgegengesetzt, beschreibt Gardiner Bachs Musik, verwurzelt im mitteldeutschen Luthertum, als sehr lebensfroh, keineswegs sei dieser Komponist ein Griesgram, er habe bei allem Ärger viel gelacht, zugleich sei er unglaublich
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fromm gewesen. Als Mensch habe ihm die Gabe der Diplomatie gefehlt, manche der Demütigungen durch seine Dienstherren hätte er nach Ansicht seines Biographen vermeiden können. Viel wohler, meint Gardiner, habe Bach sich in Leipzig erst später mit seinem Rückzug von der Kirchenmusik und den regelmäßigen Konzerten im Kaffeehaus gefühlt. Beschrieben wird Bach als genialer Komponist geistlicher Musik, seine Passionen und Kantaten seien genuines Musiktheater von »unglaublicher Dramatik«, in ihnen habe sich »die gewaltige Vorstellungskraft« Bachs Bahn gebrochen. Die Ausdruckskraft der Kirchenmusik führt Gardiner nicht zuletzt auf die Wesensverwandtschaft mit Luther zurück, beiden habe Widerständigkeit Freiheit und Unabhängigkeit des Werkes ermöglicht. Zeithistorisch bindet Gardiner das Leben und Wirken Bachs durch das Kapitel »Die 85er«, ein, in dem er die anderen in diesem Jahr geborenen bedeutenden Komponisten Domenico Scarlatti und Georg Friedrich Händel, den 1683 geborenen Jean-Philippe Rameau sowie die schon 1681 geborenen Johann Mattheson und Georg Philipp Telemann zu seinem ebenfalls 1685 geborenen Helden in Beziehung setzt. Den Quellen, durch die Gardiner über die Musikverhältnisse in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts unterrichtet ist – Musikpublizistik, musikkritische Werke und Musikerbiographien – lässt der Autor nicht die verdiente Ehre widerfahren, wenn er, um ein Beispiel zu nennen, beständig kluge Urteile und Beobachtungen Johann Matthesons vorträgt, diese aber fast stets mit hämischen Kommentaren bedenkt. Aus der Sicht des Pressehistorikers sei erwähnt, dass die Publizistik, die für die Musikentwicklung und die öffentliche Debatte über Musik im 18. Jahrhundert so elementar wichtig war, von Gardiner praktisch gar nicht thematisiert wird, lediglich erfährt der Leser einmal von Meldungen Hamburger Zeitungen über Bachs Umzug nach Leipzig, wofür Gardiner gar meint, einen »Sonderberichterstatter« annehmen zu dürfen. (S. 254) Insoweit Gardiner seinen Lesern die Vokalmusik Bachs in all ihrer Schönheit zu vermitteln bemüht ist, handelt es sich um ein sympathisches und instruktives Buch, dem in der einhellig enthusiastischen Feuilletonkritik
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bescheinigt wurde, gegen den Heiligenkult um Bach opponiert zu haben, wie er seit dem 19. Jahrhundert gepflegt worden sei. Stattdessen interessiere sich Gardiner für den Menschen mit seinen Ecken und Kanten. So richtig letzteres auch ist, scheint es dem Rezensenten doch, als doppele Gardiner auf den traditionellen Heiligen- und Geniekult noch einmal auf. Natürlich hat Gardiner jedes Recht, seinen Helden über alles je Dagewesene zu stellen, doch würde Bach vielleicht noch sehr viel größer erscheinen, machte Gardiner nicht alles um ihn herum mit abfälligen Urteilen so entsetzlich klein, Urteile, die, nebenbei gesagt, ausnahmslos denen des ersten Bachbiographen Spitta verpflichtet sind. Kaum eine Möglichkeit wird ausgelassen, die Konkurrenten Bachs mit Häme zu bedenken, Gardiner scheut auch vor Urteilen über musikalische Kunstwerke nicht zurück, von denen die Komposition gar nicht überliefert und lediglich ein Libretto bekannt ist. (S. 151) Man wird Gardiners Werk hagiographisch nennen dürfen. Die Materiallage für ein Lebensbild ist durch die Analyse von Bachs geistlichen Vokalwerken sicher nicht wesentlich größer geworden als vorher, die Art, wie dieses Werk dem Leser nahegebracht wird, ist anregend. Es bleibt aber die Frage, ob dabei der barocke Werkbegriff nicht gar zu sehr zugunsten moderner Vorstellungen vernachlässigt wird. Enthusiastische Begeisterung macht es dem Biographen offenbar unmöglich, sich vorzustellen, dass auch ein Genie erst zu einem großen Künstler wird, weil es hunderte andere Komponisten gibt, ohne die ein musikalisches Leben, Innovationen und Anregungen undenkbar sind. Das Werk steht mit seinem Geniekult in der Tradition von Bachverehrern, die auch durch die intelligente Ironie der Musikgeschichte charakterisiert ist, dass schon mehr als einer vermeintlichen Bach-Kantate ein enthusiastisch-detailliertes Lob fast jeder einzelnen Note zuteilwurde, bis sie sich als tatsächlich von Telemann gesetzt bewiesen hat. HOLGER BÖNING, BREMEN Kodzik, Joanna / Zientara, Włodzimierz (Hg.): Hybride Identitäten in den preußischpolnischen Stadtkulturen der Aufklärung. Studien zur Aufklärungsdiffusion zwischen Stadt und Land, zur Identitätsbildung und zum Kulturaustausch in regionalen und
internationalen Kommunikationsnetzwerken. Bremen: edition lumière 2016 (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Bd. 99), 303 S. Der gelungene Sammelband ist das Ergebnis einer seit gut zwei Jahrzehnten intensivierten Zusammenarbeit zwischen deutschen und polnischen Germanisten und Historikern, in der man sich darüber einig geworden ist, dass es ein historiographischer Mangel ist, dass die Geschichte der mit den Teilungen Polens von Preußen okkupierten Gebiete zwar vielfach aus der Perspektive der Hauptund Staatsaktionen und der daran unmittelbar beteiligten Personen, aber nur selten aus polnischer oder gar jüdischer Sicht geschrieben wurde. Erst in neuester Zeit ist in den Blick gerückt worden, dass die preußisch-polnischen Stadtkulturen geradezu Musterbeispiele hybrider Identitäten darstellen und beispielhaft aufzeigen können, welche unterschiedlichen Chancen und Probleme sich aus dem Mitund Gegeneinander unterschiedlicher Kulturen ergaben. Die Studien konzentrieren sich vorwiegend auf das Jahrhundert der Aufklärung, in dem das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, die besonders in Städten wie Danzig, Thorn und Elbing lebten, noch nicht in gleicher Weise von ethnischen und nationalistischen Rivalitäten vergiftet war wie im 19. und 20. Jahrhundert. Den Anfang des Bandes bilden vier Studien zu den schriftlichen Medien der Identitätsbildung, es folgen weitere vier zu den visuellen und materiellen Medien. Während zwei Studien sich mit den Identitäten und Loyalitäten im konfessionellen Spannungsfeld befassen, untersuchen drei weitere die Identitätsstiftung durch Bildungsinhalte. Am Ende werden Identitätskonstruktionen im Umbruch thematisiert, etwa mit einem Blick auf die deutsche Geschichtsschreibung die Identität Danziger Bürger zwischen Freier Reichsstadt, Polen und Preußen oder das Bild Danzigs in Reisebeschreibungen. Der Band ist ein erfreuliches Beispiel einer gemeinsamen und sehr kollegialen Historiographie der nicht gerade konfliktfreien deutsch-polnischen Beziehungen. AÏSSATOU BOUBA, BREMEN Stollberg-Rilinger, Barbara: Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit. Eine Biographie, München: C.H.Beck 2017, XXVIII, 1083 S. Ein großes Werk, dass als erste wissen-
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen schaftliche Biographie seit dem Untergang der Donaumonarchie für den Rezensenten zu den beeindruckendsten Leseerlebnissen der jüngeren historischen Biographienliteratur gehört. Anders als ihr großer preußischer Feind hat Maria Theresia unter der so lange männlich dominierten Historikerzunft seit hundert Jahren keinen ernst zu nehmenden Biographen gefunden, wofür nicht zuletzt das wirksame Bild der Herrscherin als kinderreiche »Reichshausfrau« mitverantwortlich war. Was Stollberg-Rilingers Biographie so erfreulich macht, ist die dem Leser eindrucksvoll vermittelte Widersprüchlichkeit der von ihr gemalten Figur in allen ihren Abhängigkeiten, die niemals vorschnell, manchmal gar nicht aufgelöst wird, überhaupt wird der allwissende Ton vermieden, der in ähnlichen Werken nicht selten ist. Analyse und Erzählung sind sinnvoll miteinander verbunden, die Biographie ist unterhaltend und belehrend zugleich, sie zeigt die Herrscherin in einer gar nicht so vertrauten Welt des 18. Jahrhunderts und macht vertraut mit den höfischen Hierarchien und Kommunikationsstrukturen. Als Person zeichnete die Herrscherin sich durch große Arbeitsdisziplin aus, sie sorgte für eine strenge Erziehung ihrer Kinder und bereitete sie auf ihre dynastischen Aufgaben vor. Sehr interessant behandelt die Autorin das Verhältnis zu ihrem Sohn, den schon 1764 zum Römischen König gewählten Joseph II., dessen Hinwendung zu aufklärerischen Ideen und Haltungen sie mit großen Misstrauen begegnete. Insbesondere Toleranz gegenüber »Unkatholischen« war nicht die Sache Maria Theresias, die es in ihrer Feindseligkeit gegenüber ihren jüdischen Untertanen mit Friedrich II. aufnehmen konnte. Die Jahre zwischen 1765 und 1780 werden als geprägt von zahlreichen Konflikten zwischen Maria Theresia, Joseph und Staatskanzler Kaunitz gezeichnet, wobei es bemerkenswert ist, dass die Mutter in Fragen der Bauernbefreiung eine radikalere Position einnahm als der Sohn, auch tat sie in ihrer Elementarschulreform weit mehr als ihr preußischer Kollege, der sich dessen zwar rühmte, in der Praxis aber weitgehend tatenlos blieb. Ihre Reformen, so resümiert die Biographin gleichwohl, seien zwar keineswegs wirkungslos geblieben, doch hätten die Wirkungen nicht den Intentionen entsprochen, den neuen politischen Heraus-
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forderungen sei sie mit ihrem autokratischen Politikstil nicht gewachsen gewesen: »Ihre Tragik war, auf Normen zu bestehen, die kaum jemand mehr teilte, und sehenden Auges zum Scheitern verurteilt zu sein.« (S. 855). Im Rahmen einer kurzen Anzeige kann hier lediglich dafür geworben werden, sich das Leseerlebnis nicht entgehen zu lassen, das diese Biographie bietet. HOLGER BÖNING, BREMEN Böning, Holger: Justus Möser Anwalt der praktischen Vernunft. Der Aufklärer, Publizist und Intelligenzblattherausgeber. Zugleich ein Lesebuch zum Intelligenzwesen, zu Aufklärung, Volksaufklärung und Volkstäuschung mit Texten von Justus Möser sowie Thomas Abbt, Johann Wolfgang Goethe, Johann Gottfried Herder, Georg Christoph Lichtenberg und Jean Paul. Bremen: edition lumière 2017 (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Bd. 110), 380 S. Am dritten Advent 2016 hielt Holger Böning – langjähriger Leiter des Instituts für deutsche Presseforschung – den Festvortrag zum Geburtstag von Justus Möser im Friedenssaal des Osnabrücker Rathauses. Er erweiterte ihn zu einer gut zweihundertseitigen Studie und legte diese 2017 zusammen mit einem ausgewählten Quellenteil als selbständigen Titel vor. Darin untersucht er die journalistischen Publikationsformen Mösers von seinen frühen moralischen Wochenschriften (›Ein Wochenblatt‹ bzw. ›Die Zuschauerin‹) über die von ihm gegründeten ›Wöchentlichen Osnabrückischen Anzeigen‹ mit den ›Nützlichen Beylagen zu diesem Blate‹ bzw. den ›Westphälischen Beyträgen zum Nutzen und Vergnügen‹ bis hin zu seiner Mitarbeit an überregionalen Periodika wie das ›Deutsche Museum‹ oder die ›Berlinische Monatsschrift‹. Mösers Beiträge zum Feuilleton der ›Osnabrückischen Anzeigen‹ waren 1774 bis 1786 von seiner Tochter Jenny Voigts als ›Patriotischen Phantasien‹ in vier Bänden gesammelt und ediert worden. Sie trugen maßgeblich zum schriftstellerischen Ruhm ihres Vaters bei – entrückten ihn aber gleichzeitig als Monumentalfigur. Geradezu sinnbildlich bringt Böning dieses auf S. 96 durch die Reproduktion eines Stahlstiches mit dem Osnabrücker Möserdenkmal von Friedrich Drake aus dem Jahr 1836 zum Ausdruck und kommentiert es mit den Worten: »Statt Heiterkeit eingezäunte Monumentalität«.
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Bönings Verdienst besteht darin, Möser von seinem hohen Sockel heruntergeholt und dem Leser wieder barrierefrei zugänglich gemacht zu haben. Damit verfolgt er eine gegenläufige Tendenz zu den Herausgebern und philologischen Sachwaltern von Mösers Sämtlichen Werke (1842f.) bis hin zur Göttinger Akademie-Ausgabe aus dem Jahr 1944, die den Osnabrücker nationalkonservativ vereinnahmt und zum Gegenaufklärer stilisiert hatten. Böning fokussiert sein Interesse auf Mösers Wahrnehmung des »gemeinen Mannes« und seiner Lebenswelt, wie sie etwa in Aufsätzen über die »Plackerei« bei der Zubereitung des Plaggendüngers oder über das Dreschen bei Kerzenlicht im Winter unmissverständlich deutlich wird. Der publizistische Rahmen des Intelligenzblattes, welcher der akademischen Abgehobenheit des 19. und 20. Jahrhunderts gar nicht mehr präsent gewesen oder völlig unsensibel als »Zeitungsidee« abgetan worden ist, erweist sich als wesentlicher Verständnishorizont. Das Erstaunliche ist, dass ein solcherart »geerdeter« Möser durchaus an menschlicher Größe gewinnt. Seine Volksaufklärung im ›Osnabrückischen Intelligenzblatt‹ degradiert das einfache Volk nämlich nicht zum bloßen Objekt der Belehrung, sondern vermittelt den sich als besser dünkenden Ständen Verständnis für dasselbe und behaftet sie gleichzeitig um des Gemeinwohls willen bei ihrer Verantwortung und Fürsorgepflicht. Bönings Ausführungen und seine Textsammlung zeigen den »Geheimen Justizrath« als Menschen und machen ihn im besten Sinne des Wortes für unsere Zeit wieder lesbar. FRANK STÜCKEMANN, SOEST Böhm, Elisabeth: Epoche machen. Goethe und die Genese der Weimarer Klassik zwischen 1786 und 1796. Studie zu den »Römischen Elegien« in der Zeitschrift ›Die Horen‹ und den »Venetianischen Epigrammen« in Friedrich Schillers ›Musenalmanach‹. Bremen: edition lumière 2017 (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Bd. 105), 274 S. Die gelungene Studie widmet sich der Etablierung der Weimarer Klassik als Epoche der Literaturgeschichte und fragt nicht zuletzt auch danach, welche Rolle dabei periodische Publikationsformen gespielt haben. Im Mittelpunkt stehen Goethes Gedichtzyklen »Römische Elegien« und »Venezianische Epi-
gramme«, die im Kontext ihrer Entstehung und Publikation untersucht werden. Gefragt wird, wie diese beiden Textcorpora die Stabilisierung der Autorposition Goethes auf dem literarischen Feld zwischen dem Italienaufenthalt und der fruchtbaren Zusammenarbeit mit Schiller begleitet haben. Die Autorin betrachtet diese Jahre als wichtige Scharnierstelle zwischen einer Ästhetik der Überbietung und der Klassik in ihrer kanonisierten Form, weil in deren Verlauf die Grundmuster einer umfassenden Schreibstrategie formuliert und etabliert worden seien, die bis zur Moderne die Funktionsweisen des literarischen Feldes geprägt hätten. Begriffen wird die Klassik somit nicht allein als literaturgeschichtliche Epoche, sondern auch als eine Dynamisierung der literarischen Kommunikation, die insbesondere durch Periodika möglich wurde. AÏSSATOU BOUBA, BREMEN Böning, Holger / Siegert, Reinhart (Hg.): Volksaufklärung. Ausgewählte Schriften. Bd. 1–13. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1993–2002 [Bd.9.1–2, 10 und 12: Bremen: edition lumière, 2010–2018]. Bd. 8: Rudolph Zacharias Becker: Versuch über die Aufklärung des Landmannes. – Heinrich Gottlieb Zerrenner: Volksaufklärung. Neudruck der Erstausgaben Dessau und Leipzig 1785 bzw. Magdeburg 1786. Mit einem Nachwort von Reinhart Siegert. 2001. 326* S., 1 Bl. Bd. 9.1/9.2: [Rudolph Zacharias Becker]: Noth- und Hülfsbüchlein. Seitengleicher Antiqua-Neudruck der zweibändigen Erstausgabe von 1788/1798. Mit Texten zur Vorbereitung und Programmatik. Hg. u. kommentiert von Holger Böning und Reinhart Siegert. Bremen: edition lumière, 2017. Bd. 1: N&HB , 1788. VII S., T, 446 S., S.447*–462*; rot/schwarzes Titelblatt, 49 Holzschnitte; Bildanhang; Bd. 2: N&HB 2, 1798. VIII S., 365 S., S.366*–497*; rot/schwarzes Titelblatt, 16 Holzschnitte Bd.10: Mildheimisches Lieder-Buch von 518 lustigen und ernsthaften Gesängen über alle Dinge in der Welt und alle Umstände des menschlichen Lebens, die man besingen kann. Gesammelt für Freunde erlaubter Fröhlichkeit und ächter Tugend, die den Kopf nicht hängt, von Rudolph Zacharias Becker. Zeilengleicher Antiqua-Neudruck der volksaufklärerischen Urfassung Gotha 1799
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen mit kritischem Apparat, Nachweis der Dichter und Komponisten und Nachwort von Reinhart Siegert. Bremen: edition lumière, 2018. 3 Bl., XIV, 546 S. Bd.12: Ueber das Lesen der ökonomischen Schriften und andere Texte vom Höhepunkt der Volksaufklärung (1781–1800). Hg. und mit einer Einleitung zum Höhepunkt der Volksaufklärung begleitet von Reinhart Siegert. Ausgewählt und kommentiert gemeinsam mit Tonio Martin Aiello, Swantje Arndt, Kosima Hammelehle, Anna Hoeffler, Jakob Meirer, Martin Nissen und Karin Vorderstemann. (= Volksaufklärung. Ausgewählte Schriften. Bd. 12) (= Philanthropismus und populäre Aufklärung, Bd. 3) Bremen: edition lumière, 2010, 420 S. Es ist unbestreitbar, dass die Erforschung der Volksaufklärung gemessen an der Zahl der Publikationen in den letzten Jahrzehnten erhebliche Fortschritte zu verzeichnen hat. Der Anstoß erfolgte vor 40 Jahren wohl durch die Dissertation Reinhart Siegerts über das »Noth- und Hülfsbüchlein für Bauersleute« [N&HB] von Rudolph Zacharias Becker von 1978 (Aufklärung und Volkslektüre. Exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacharias Becker und seinem »Noth- und Hülfsbüchlein«. Mit einer Bibliographie zum Gesamtthema. Frankfurt a. M.: Buchhändler-Vereinigung, 1978). Einen Höhepunkt erreichte diese erfreuliche Entwicklung mit dem vorläufigen Abschluss des monumentalen Biobibliographischen Handbuchs zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850 »Volksaufklärung« von Reinhart Siegert und Holger Böning 2016 (Bd. 1–3 in 7 Bänden: Stuttgart: Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1990– 2016). Zugleich waren die beiden Autoren bestrebt, zu Studienzwecken schwer zugängliche Texte der Volksaufklärung neu herauszugeben. So entstand die Reihe »Volksaufklärung. Ausgewählte Schriften«, in der seit 1992 13 Bände erschienen sind. Soviel zur Einleitung einer Rezension, in deren Mittelpunkt die Neuausgabe des N&HB stehen soll. Da das N&BH längst als die bekannteste, erfolgreichste und letztlich wichtigste Musterschrift der Volksaufklärung gilt, kann hier auf seine inhaltliche Beschreibung zugunsten einer Betrachtung der neuen Edition verzichtet wer-
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den. Bereits 1980 hatte Siegert einen Reprint der Erstausgabe von 1788 besorgt (Dortmund: Harenberg-Reprint, 1980). Ein erneuter, dann durch den »Andern Theil« von 1798 vervollständigter fotomechanischer Nachdruck hätte aber die nunmehrigen Herausgeber Siegert und Böning bezüglich der Textgestaltung vor erhebliche Probleme gestellt. Sie werden von ihnen ausführlich dokumentiert (Band 2, S.455*–456*). Daraus resultierte der Entschluss zu einem »Antiqua-Faksimile«. Eine Rolle spielte wohl auch die Überlegung, dass das sich Einlesen in einen Text in Frakturschrift nicht mehr als selbstverständlich angesehen werden kann. Siegert konvertierte daher Teil 1 mittels Fraktur-OCR in eine Antiqua und kommentierte ihn. Teil 2 wurde von Holger Böning durch Abschreiben neu erstellt und von ihm kommentiert. Der Antiqua-Neudruck ist einschließlich der Holzschnitt-Illustrationen seitengleich mit der Erstausgabe von 1788 bzw. 1798. Allein diese Arbeit verdient größten Respekt. Den »Mehrwert« dieses Unternehmens machen die Beigaben und Anhänge zu beiden Bänden aus. Zu Band 1 sind dies eine Inhaltsübersicht, ein editorischer Anhang mit Anmerkungen und Texterläuterungen, zu Band 2 eine Inhaltsübersicht, Texte zur Vorbereitung und Programmatik des N&HB von der Ankündigung von 1784 bis zur Ankündigung von Teil 2 von 1798, Anmerkungen zur Textgestalt, das Nachwort von Reinhart Siegert (übernommen aus der Ausgabe von 1980), ein kleines Verzeichnis von Beckers Schriften sowie ein Personen- und Schlagwortregister. Die wichtigste Ergänzung der Ausgabe des N&HB ist aber das als Band 10 der Reihe 2018 veröffentlichte »Mildheimische Lieder-Buch« [MLB] von Rudolph Zacharias Becker. Dieser Band ist kein bloßes Addendum, sondern ein Baustein von Beckers »Mildheim«-System von volksaufklärerischen Volkslesestoffen. Wie Siegert im Nachwort ausführt, sollte das Liederbuch »das aufklärerische Gedankengut, das im ›Nothund Hülfsbüchlein‹ in Romanform und in Sachdarstellungen präsentiert wurde, in möglichst einschmeichelnder Liedform in die Sing-Anlässe des Alltags integrieren«. Beckers Ziel war somit ein ganz anderes als es Clemens Brentano mit »Des Knaben Wunderhorn« vor Augen hatte und mit seiner Liedersammlung »das platte
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oft unendlich gemeine Mildheimische Liederbuch« ersetzen wollte (Brief an Achim v. Arnim, 15.02.1805, siehe im Neudruck S. 430). Siegert weist aber darauf hin, dass dieser Versuch Beckers nur sehr unvollkommen geglückt sei. Im Rahmen einer kurzen Rezension kann auf die inhaltliche Seite des MLB nicht näher eingegangen werden. Aber wie schon beim N&HB vermag sich der Leser selbst durch die über 200 Seiten Anhänge und Register einen Über- und Einblick verschaffen. Von den Anhängen seien hervorgehoben die Texte zur Vorbereitung und Programmatik des »Mildheim«-Systems, eine Ausgabenübersicht des MLB, die Erläuterungen zur Textgestalt und das zum tieferen Verständnis besonders wichtige Nachwort (S.403–430). Im Registerteil finden sich unter anderem in Tabellenform die Lieder der Ausgaben von 1799 bis 1815 mit den Dichtern und Komponisten sowie ein Dichter- und ein Komponisten-Register. Siegert spricht vom »späteren zweifelhaften Ruhm« des MLB. Aber wer hätte gedacht, dass es einmal, wie er zutreffend formuliert, »ein Leckerbissen für jeden Geisteswissenschaftler« werden würde, überdies noch in seiner vorbildlichen Edition leicht zugänglich? Beinahe so etwas wie eine Jubiläumsausgabe: 40 Jahre nach der wegweisenden Dissertation von Siegert, 230 Jahre seit dem Teil 1 des N&HB und 220 nach dem »Anderen Theil«. Wer sich eingehender mit dem »Mildheim«System befassen will, sei auf den bereits 2001 erschienenen Band 8 der Reihe hingewiesen. In diesem hat Siegert zwei Publikationen als Reprint wieder leicht zugänglich gemacht. Nach einer Vorlesung in der »Churmaynzischen Akademie der Wissenschaften zu Erfurt« 1781 und einer Ankündigung in seiner ›Deutschen Zeitung‹ 1784 hatte Rudolf Zacharias Becker 1785 mit dem in diesem Band reproduzierten »Versuch über die Aufklärung des Landmannes« den Plan eines Volksbuches vorgestellt. Er enthält Proben von drei Kapiteln des künftigen N&HB einschließlich des Titelblatts in RotSchwarz-Druck. Bei dem zweiten Text handelt es sich um die Schrift »Volksaufklärung« von Heinrich Gottlieb Zerrenner von 1786. Sie ist gewissermaßen eine »Parallelaktion« zu Beckers »Versuch«, denn so wie er mit diesem sein N&HB ankündigte, ließ Zerrenner seiner »Volksaufklärung« 1787 sein »Volksbuch« fol-
gen. Das Nachwort Siegerts (S.289–321) stellt beide Texte einander gegenüber und zeigt damit »zwei gleichzeitige Spielarten« der Volksaufklärung. Beide sind Programmschriften und unterscheiden sich nicht nur durch »unterschiedliche Geschicklichkeit« sondern auch durch »eine unterschiedliche Auffassung von ›Volksaufklärung‹«. Siegert hat überdies herausgefunden, dass Zerrenners »Volksaufklärung« die erste Schrift ist, die diesen neuen Begriff auf dem Titelblatt trägt. Band 12 der Reihe mit dem Titel »Ueber das Lesen der ökonomischen Schriften« erschien 2010, wurde ebenfalls von Siegert herausgegeben und mit einer »Einleitung zum Höhepunkt der Volksaufklärung (1781–1800)« versehenen. (Die Einleitung ist die gekürzte Fassung der Einführung zu Bd. 2/1 des biobibliographischen Handbuchs »Volksaufklärung«, 2001, S. XXV–XLIV). Er ergänzt das biobibliographische Handbuch »Volksaufklärung« und die bisher erschienenen Texte der Reihe mit ausgewählten Schriften der Volksaufklärung. Sie sollen insbesondere dem Studienbetrieb zur Verfügung stehen. Der Band ist aus einem zweisemestrigen Seminarprojekt am Deutschen Seminar der Universität Freiburg i. Br. hervorgegangen. Folgerichtig sind die 40 kurzen Texte von fortgeschrittenen Studierenden transkribiert, kommentiert und von Siegert aufbereitet sowie mit Überschriften versehen worden. Die vier hier besprochenen Titel in zusammen fünf Bänden können als ein zusammenhängendes Textkorpus gesehen werden. Sie sind nicht nur eine Dokumentation (volks)aufklärerischen Denkens, sondern zugleich eine Grundlage für weitere Studien und Forschungen. Wer sich wie der Rezensent seit den 1970er Jahren mit der Volksaufklärung befasst und mit den Schwierigkeiten der Auffindbarkeit und Beschaffung von Texten konfrontiert war, wird es zu schätzen wissen, welche Hilfsmittel vom biobibliographischen Handbuch bis zur Edition von Quellentexten ihm heute zur Verfügung stehen. PETER VODOSEK, STUTTGART Beez, Julia: Christoph Gottlieb Steinbeck. Dimensionen volksaufklärerischer Publizistik um 1800. Bremen: edition lumière 2016 (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Bd.103 / = Zeitschrift für Thüringische Geschichte, Beiheft 42), 185 [+1] S.; 8 Abb.
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen Auf den ersten Blick vermutet man in dieser Arbeit einfach eine der (oft verdienstvollen) biographischen Arbeiten, die jetzt, im Zeitalter besserer Zugänglichkeit seltener Schriften, weniger bekannte Autoren und Aktoren aus dem Dunkel holen und neben ihre bekannteren Kollegen stellen. So erscheint auch hier zunächst Steinbeck als ein etwas blasseres Seitenstück zu Rudolph Zacharias Becker (1752–1822): etwas jünger, ebenfalls Freier Schriftsteller, aber nicht so erfolgreich, ebenso Verfasser volksaufklärerischer Schriften und Journalist, aber literarisch weniger begabt und vom Glück weniger begünstigt. Mit seinem »Aufrichtigen Kalendermann« (1792/1804) hat er immerhin eine der Erfolgsschriften der deutschen Volksaufklärung geschrieben; von den vielen Schriften, die er daneben angekündigt hat, ist ein ungewöhnlich großer Teil bibliographisch nicht nachweisbar, lediglich ein Brandschutz-Katechismus scheint in mehreren Varianten einigen Publikumserfolg gehabt zu haben. Seine Zeitschriften wiederum konkurrierten thematisch und in der aufklärerischen Tendenz bedenklich mit den bereits eingeführten und überaus langlebigen Periodika Beckers, der ›Deutschen Zeitung‹ / ›Nationalzeitung der Deutschen‹ und dem ›Anzeiger‹ / ›Reichsanzeiger‹, publizistischen Flaggschiffen der deutschen Aufklärung, ohne freilich deren Verbreitung und Bedeutung erreichen zu können. Sie blieben kurzlebige Sternschnuppen am Blätterhimmel; eine einzige hat es auf sechs Erscheinungsjahre gebracht. Die Arbeit macht aber Ernst mit ihrem Untertitel, und hier wird es interessant. Denn was unter dem Namen »Salzgroschen-Affäre« eher nach einer Lokalposse klingt, trifft ins Herz aufklärerischen Journalismus' unter den Bedingungen der Französischen Revolution. Der Beitrag eines ungenannten Korrespondenten brandkmarkt ohne Namensnennung das unberechtigte Einziehen von Gebühren durch einen Amtmann – nichts Ungewöhnliches in einer Zeit, in der Beckers vielgelesene ›Deutsche Zeitung‹ eigene Register »über die Personen, welche den Beifall der Leser erhalten haben« und »über die guten Lehren, welche in den Begebenheiten liegen« aufwiesen. Die Negativ-Parallele hatte Becker nach kurzem Probelauf wohlweislich wegfallen lassen. Steinbeck hingegen versuchte, einen solchen
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Fall durchzustehen, und das bei einem (wenn auch kleinen) öffentlichen Amtsträger und nach den Erschütterungen durch die Französische Revolution. Sein Scheitern dabei wirft daher ein Licht auf die Möglichkeiten und Grenzen aufklärerischer Publizistik. Ein abschließender Exkurs beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Religion und Volksaufklärung. Was dort steht, ist nicht neu, aber auf dem neuesten Stand und verstanden. Julia Beez zieht diese Übersicht heran, um Steinbecks theologischen Standort aus seinen Aussagen in seinen Zeitschriften zu ermitteln. Er hat diesen nicht in programmatischen theoretischen Beiträgen dargelegt, doch selbstverständlich bildet er den Hintergrund zu seiner publizistischen Arbeit. Nicht vom Umfang her, wohl aber in ihrer wissenschaftlichen Qualität hat diese Arbeit den Rang einer guten Dissertation und das Erscheinen in diesem hübsch ausgestatteten Bändchen wirklich verdient. REINHART SIEGERT, FREIBURG IM BR. Tortarolo, Edoardo: The Invention of Free Press. Writers and Censorship in Eighteenth-Century Europe. Dordrecht: Springer 2016, 200 S. This book examines a common thread in early modern European history: the constant process of building up and deconstructing, legitimizing and questioning of a variety of systems of control over written, visual, or verbal forms of communication. It is the process of creation of that »iron cage« or better of »a shell as hard as steel« (»stahlhartes Gehäuse«), using Max Weber's imaginative metaphor, that characterized early modernity. According to the author's definition, censorship »can encompass virtually all possible manifestations of human life in a society upon which some form of power, direct and indirect, can be exercised« (S. XIII). For this reason, the study of censorship, and of the persistent conflict between censors and censored, remains a central issue not just for the history of early modern communication, but for the interpretation of Western society as a whole. In recent decades there have been two prevailing historiographical paradigms used to interpret the phenomenon of censorship: the so-called »Externalist« and »Internalist« ap-
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proaches. According to the »Externalist« paradigm, represented by Leo Strauss's »Persecution and the Art of Writing«, censors and authors were two antagonistic poles and contending wills. This dichotomous representation stresses the role of censorship as an obstruction to intellectual progress and depicts European history as a teleological trajectory from censorship towards the freedom of the press. On the other hand, the »Internalist« approach (intellectually rooted in the works of »New Censorship« theorists like Freud, Lacan, and Bourdieu) has focused on the pervasiveness of censorship and on the censors' active participation in the production of discourses by the censored. According to this interpretative paradigm, censorship is a ubiquitous and necessary feature of society. The weakness of this structural approach is the risk of losing sight of specific practices, socio-political contexts, and individuals involved in the process of control. Tortarolo’s book presents an alternative view to these two conflicting grand narratives of the history of censorship. Focusing on the mechanisms of secular censorship operating in the eighteenth century, it shows how there emerged in continental Europe a paradigm characterized by the complimentary concepts of »functional ambiguity« and »participatory freedom«. In pre-revolutionary Europe there was an intermediate space between theory and practice of censorship, a space of mediation between censors, authors, and publishers which allowed for the negotiation of a form of intellectual participatory freedom. This imperfect and asymmetric compromise between censors and censored represented the enlightened »invention of the free press«, as indicated in the book's title. Almost ironically, the introduction of the principle of the freedom of the press in the French Declaration of 1789 marked the conclusion of this experimental balance between control and free expression that had succeeded in early modern Europe. MASSIMO ROSPOCHER, TRIENT Berg, Gunhild / Gronau, Magdalena / Pilz, Michael (Hg.): Zwischen Literatur und Journalistik. Generische Formen in Periodika des 18. bis 21. Jahrhunderts, Heidelberg: Winter 2016 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 343), 401 S.
Der anzuzeigende Band widmet sich einem Phänomenbereich der Literatur, der in jüngster Zeit verstärkt in den Fokus des Interesses geraten ist. Nach grundlegenden Arbeiten zur Gattungstheorie kommen nun vermehrt diejenigen literarischen Formen in den Blick, deren eindeutige Zuordnung zu nur einer Gattung schwer möglich ist. Gerade in nicht »klassischen« Publikationszusammenhängen – wie eben an der Schnittstelle zwischen Literatur und Journalistik – entstehen neue, oftmals generische Formen. Die Herausgeberinnen und Herausgeber stecken in ihrer instruktiven Einleitung ein weites Feld ab, in dem sich hybride Gattungsformen in Periodika finden lassen. Die starke inhaltliche und formale Varianz der angezeigten Möglichkeiten macht einen systematischen Zugriff unumgänglich, wie die Einleitung präzise Herausarbeitet. Ziel soll es sein »eine […] stärker reflektierte Perspektive auf die Spezifika periodischer Publikationen in ihrer konkreten Funktionalität, Materialität und ›medialen Eigenlogik‹ einzunehmen« (S. 10). Der Band versammelt insgesamt siebzehn Beiträge über vier Jahrhunderte, von der Entstehung der Zeitschriftenliteratur im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts und ihrer Bedingungen (Gustav Frank) über den bis dato immer noch nicht hinreichend erforschten Schatz an Journalliteratur des 19. Jahrhunderts bis hin zu Jörg Fausers seriellen Abdrucken seiner Literatur in Massenmedien wie ›Spiegel‹ und ›Playboy‹ (Magdalena Gronau) und Hubert Fichte (Daniela Gretz). Mit Aufsätzen zur Reiseliteratur von Christian Kracht und Christoph Ransmeyer (Volker Mergenthaler) sowie dokumentarischer Versuche mittels Webcam in Onlinemedien (Constanze Bartsch) erreicht der Band die Gegenwart. In systematischer Absicht ist – da geben sich die Herausgeber keinen Illusionen hin – noch viel zu leisten: »Vielmehr stellt gerade das komplexe Zusammenspiel von Form- und Gattungstraditionen und -innovationen vor die Aufgabe, gattungstheoretische und gattungssystematische Zugriffe erst zu entwerfen« (S. 25). Die hier versammelten Beiträge geben erste Fingerzeige und vereinzelt auch schon sehr solide Vorschläge, wie solch ein Unterfangen zukünftig aussehen und gelingen könnte. MICHAEL MULTHAMMER, SIEGEN
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen Kriegleder, Wynfrid / Seidler, Andrea / Tancer, Jozef (Hg.): Deutsche Sprache und Kultur in Kroatien. Studien zur Geschichte, Presse, Literatur und Theater, sprachlichen Verhältnissen, Wissenschafts-, Kultur- und Buchgeschichte, Kulturkontakten und Identitäten. Bremen: edition lumière 2017 (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Bd. 106), 286 S. Nach Sammelbänden zur deutschen Sprache und Kultur im Raum Pressburg, in Westungarn/Burgenland, in der Zips, in Siebenbürgen, im Raum Pest, Ofen und Budapest und im Banat ist der jetzt vorliegende zu Kroatien bereits der siebte einer verdienstvollen Erkundung von Orten und Landschaften mit einer durch die deutsche Kultur geprägten Geschichte, hervorgegangen jeweils aus Tagungen, die erstmals 2003 in Smolenice den Anspruch realisierten, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus unterschiedlichen Fachgebieten und aus verschiedenen Ländern zu versammeln, um ein interdisziplinäres und transnationales Gespräch in die Wege zu leiten. Wieder kann das Ergebnis sich sehen lassen. 22 Studien vermitteln, welcher kulturelle Reichtum sich hier in der Sprachgeschichte, der Buchgeschichte, im kulturellen Austausch, in der Publizistik, im Theater und in literarischen Werken zeigt. Wiederum geht es um die Frage, welchen Einfluss die deutsche Sprache sowie die Rezeption der deutschsprachigen Literatur und der deutschsprachigen Wissenschaften auf das kulturelle Leben in der betreffenden Region, in diesem Fall in Kroatien, hatten, und wie das Zusammenspiel von sprachlicher und nationaler Identität sich realisierte. AÏSSATOU BOUBA, BREMEN Lehner, Ulrich L.: Die Katholische Aufklärung. Weltgeschichte einer Reformbewegung. Paderborn: Schöningh 2017, 271 S. Oettinger, Klaus: Aufrecht und tapfer. Ignaz Heinrich von Wessenberg als katholischer Aufklärer. Konstanz, München: UVK 2017, 207 S. Liegt die zentrale These dieser Globalgeschichte der katholischen Aufklärung darin, die Reformen des Konzils von Trient im 18. Jahrhundert hätten eine Reformbewegung inspiriert, welche in einen produktiven Austausch mit der Aufklärung getreten sei, eine Reformbewegung in Nord- und Südamerika, Europa und Asien, die nicht allein gegen den
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Aberglauben gekämpft und das Verhältnis zu den Kirchen der Reformation thematisiert habe, sondern auch gesellschaftliche Fragen angegangen sei wie die Rechte der Frau, die Abschaffung der Sklaverei oder die Demokratisierung der Kirche, so zeigen die biographischen Studien zu Wessenberg bescheidener, wie der letzte Bistumsverweser der ehemaligen Diözese Konstanz sich als katholischer Kirchenreformer aus dem Geiste der Aufklärung betätigte. Beide Werke sind sich darin einig, dass sie nach dem immer noch weithin übereinstimmenden Urteil der Historiker die Aufklärung – gerade in Deutschland – ein protestantisches Phänomen gewesen sei, eine Auffassung, der unlängst profund und quellenbasiert Jochen Krenz in zwei wichtigen, kommunikationshistorisch ausgerichteten Monographien widersprochen hat (»Konturen einer oberdeutschen kirchlichen Kommunikationslandschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts«; »Druckerschwärze statt Schwarzpulver. Wie die Gegenaufklärung die Katholische Aufklärung nach 1789 mundtot machte«, Bremen 2012 und 2016). Bei ihm ist auch zu lesen, was die katholische Aufklärung in ihrem Wirken befeuerte, wie sie publizistisch wirkte und dass es die Französische Revolution war, die ihrem Wirken vorerst weitgehend ein Ende bereitete. Die Ehrenrettung Wessenbergs, dessen Verfemung und Rehabilitation von Oettinger einleitend behandelt wird, ist ein lesenswertes Werk, wenn auch dessen populäraufklärerisches Engagement keine besondere Rolle spielt, seine »Ansichten über Volksaufklärung« etwa, ebenso von 1814 wie sein Nachdenken über »Die Elementarbildung des Volkes«, seine 1847 formulierten Gedanken über »Schriften über und für das Volk«. Dass in der sehr globalen Darstellung der katholischen Aufklärung durch den an der Universität Milwaukee lehrenden Religionshistoriker Lehner ein Name wie der Wessenbergs im Personenregister nicht zu finden ist, muss bei der Allgemeinheit, in der der Autor sich seinem Thema zuwendet, nicht wundern. So anregend beide hier vorgestellten Werke sind, so wenig wird deutlich, dass es eine praktisch orientierte, aufklärerisch inspirierte Reformbewegung in Mitteleuropa gegeben hat, in der Protestanten und Katholiken gemeinsam gewirkt haben. Die deutsche katholische Aufklärung spielt in der
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globalen Darstellung Lehners praktisch keine Rolle. Dass sich »viele« Leitartikel der »europäischen Zeitungen« über Joseph II. als eines toleranten Kaisers lustig gemacht hätten, ist leider nicht belegt. (S. 75) Oettinger erwähnt das medienpolitisch kluge Handeln Wessenbergs, das in der von ihm gegründeten ›Geistlichen Monatsschrift‹ und dem ›Archiv für die Pastoralkonferenzen‹ zum Ausdruck kommt (S. 17), insgesamt ist seine Sicht auf Wessenberg stark von innertheologischen und innerkirchlichen Gesichtspunkten geprägt. HOLGER BÖNING, BREMEN Knopper, Françoise / Fink, Wolfgang (Hg.): Das Abseits als Zentrum. Autobiographien von Außenseitern im 18. Jahrhundert. Halle: Universitätsverlag Halle-Wittenberg 2017, 489 S. Der Sammelband widmet sich Autobiographien von ins Abseits gedrängten deutschen Aufklärern, die die Herausgeber aus dem Kanon der gewürdigten Werke verdrängt sehen und denen sie Gerechtigkeit widerfahren lassen wollen. Darunter sind doch recht bekannte Autobiographien und autobiographische Texte wie die von Ulrich Bräker, Karl Philipp Moritz, Carl Friedrich Bahrdt (allerdings im Urteil seiner Zeitgenossen), Friedrich Christian Laukhard, Jung-Stilling, Sophie von La Roche, Franz Xaver oder Peter Prosch, allerdings auch weniger bekannte wie die des Seilermeisters Johann Gotthilf August Probst, der Naturprosaisten Johann Kaspar Steube und Johann Christoph Sachse, Amand Berghofers oder der Salomon Maimons im ›Magazin zur Erfahrungs-Seelenkunde‹. Sehr schön der Satz im Beitrag von Pierre Brunel zu Ulrich Bräker: »Seine Lebensgeschichte zu erzählen bedeutet, die Sozialgeschichte in die Literaturgeschichte einzuführen und sie dadurch zu verändern.« (S. 198) Entstanden ist hier ein anregender Band, der von der Autobiographieforschung hoffentlich gebührend zur Kenntnis genommen werden wird. HOLGER BÖNING, BREMEN Berghahn, Cord-Friedrich / Biegel, Gerd / Kinzel, Till (Hg.): Johann Joachim Christoph Bode. Studien zu Leben und Werk. Heidelberg: Winter 2017, 573 S. Der 1731 geborene Sohn eines Braunschweiger Soldaten, der nur wenig Unterricht im Lesen und Schreiben, aber eine musikalische Ausbildung als Lehrling bei einem
Stadtmusikus erhielt und zunächst Militärmusiker in Helmstedt wurde, erwarb sich seine Bildung weitgehend als Autodidakt und gehört zu den bedeutendsten und interessantesten deutschen Publizisten, Übersetzern und Verlegerpersönlichkeiten. Ab 1757 wirkte er als Musik- und Französischlehrer in Hamburg, 1762 bis 1763 war er Redakteur beim Hamburger ›Corresspondenten‹, 1767 erfolgte die Gründung einer Buchdruckerei in Hamburg durch Kauf des Betriebes von Clermondt, er druckte zunächst »mit Clermondtischen Schriften«, ab 1770 dann unter eigenem Namen. Befreundet mit Lessing, schmiedete er mit diesem gemeinsam den Plan einer »Buchhandlung der Gelehrten«. 1787 siedelte er nach Weimar um, wo er 1793 starb. Seinem bewegten Leben und Werk ist nun erstmals ein rundum gelungener Sammelband gewidmet, der ihn nicht nur in seiner Bedeutung für den Kulturtransfer zwischen Frankreich, England, Spanien und Deutschland zeigt, sondern auch in seiner Rolle als Publizist, Freimaurer und Illuminat, der in der aufklärerischen Öffentlichkeit wirkt. Ergänzt werden 21 Studien durch Editionen von Bodes autobiographischen Texten sowie eine umfassende, von Till Kinzel erarbeitete Bibliographie seines Werkes und der über ihn verfassten Arbeiten. Sehr schön die autobiographische Einführung von Anett Lütteken unter dem Titel »Der ›dumme Christoph‹ oder: Der europäische Lektüre-Kanon eines norddeutschen Autodidakten«, überhaupt sind die vor allem den Lebenswegen und dem Wirken Bodes im Netzwerk der Aufklärer, seiner Tätigkeit als Übersetzer und Freimaurer gewidmeten Studien durchweg vorzüglich. Unerfindlich nur, dass seinem Wirken als Journalist kein eigener Beitrag gewidmet ist. HOLGER BÖNING, BREMEN Mojem, Helmuth / Potthast, Barbara (Hg.): Johann Friedrich Cotta. Verleger, Unternehmer, Technikpionier. Heidelberg: Winter 2017 (= Beihefte zum Euphorion, Bd. 98), 322 S. Der vorliegende Sammelband dokumentiert eine »Jubiläumstagung« im Vorfeld von Johann Friedrich Cottas 250. Geburtstag, die bereits 2013 im Deutschen Literaturarchiv in Marbach stattgefunden hat und deren Anspruch war, die Persönlichkeit Cotta jenseits der reinen »Innensicht des Verlagsarchivs« erstmals »polyper-
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen spektivisch« im Hinblick auf die Tätigkeitsfelder Ökonomie, Publizistik, Technik, Kunst und Politik zu betrachten und so der CottaForschung »wichtige Impulse« zu geben. De facto legen die versammelten Aufsätze aber vor allem Zeugnis vom Prosperieren jener Cotta-Forschung ab, der sie insgesamt wenig Neues hinzufügen können. Dies betont eine Reihe der Beiträge sogar explizit und kaum einer kommt ohne den Verweis auf deren »vorläufigen und wohl kaum überbietbaren Höhepunkt« (so Christine Haug) aus: Bernhard Fischers monumentale CottaBiographie (sowie dessen frühere Verlagsbibliographie). Aus ersterer ist auch in »pointierter Wiedergabe« dessen Beitrag zu Cottas Berliner Zollvereinsverhandlungen entnommen, der unter dem Obertitel »Politische Ökonomie« gleich zwei der avisierten Themenfelder adressiert. Den Politiker Cotta beleuchtet zudem Erich Pelzer, aber auch Barbara Potthast wirft ausgehend von den Gedichten Ludwig I. von Bayern im CottaVerlag ein Streiflicht auf Cottas Liberalismus. Abgesehen von den primär technikgeschichtlichen Beiträgen von Thomas Schuetz zum Scheitern einer von Cotta mitfinanzierten Flachsspinnerei und Anna Marie Pfäfflin zu Cottas lithographischem Institut ist die Mehrzahl der Beiträge dann aber ebenfalls dem Bereich der Kunst, vor allem der Literatur gewidmet, die u.a. in der Gestalt der Verlegerbeziehungen zu Goethe (Osterkamp), Jean Paul (Angela Steinsiek) und Schlegel (Stefan Knödler) in den Blick genommen wird. Die beiden letzteren sind auch aus presse- und kommunikationsgeschichtlicher Perspektive interessant, weil sie en passant mit den Zeitschriftenprojekten von Klassikern und Romantikern auch ein Stück Pressegeschichte beleuchten. Versierte buchwissenschaftliche Kontextualisierungen Cottas bieten die Abhandlungen von Stephan Füssel und Christine Haug, die Cotta vor dem Hintergrund des Strukturwandels im Buchhandel und dem Aufstreben des »spekulativen« Buchhandels in Süddeutschland profilieren. Publizistisch im engeren Sinne sind die Beiträge von Helmuth Mojem zum ›Morgenblatt für gebildete Stände‹ und Holger Böning ausgerichtet, der neben der Integration von Tradition und Innovation als zentrales Novum von Cotta als Zeitungsverleger die bis dahin
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dem Leser eher aus Zeitschriften bekannte, »räsonierende und auf Grundlage von Informationen urteilende« Berichterstattung herausarbeitet. Letztlich ist der Band aber durchaus den von Cotta verlegten Almanachen und Alben um 1800 vergleichbar: Er bietet einen abwechslungsreichen und kurzweiligen, zuweilen auch kritisch resümierenden und kommentierenden Einblick in die vielseitigen Forschungen zu Johann Friedrich Cotta. Wie so oft sind es aber die scheinbar abseitigen, miszellan(eisch)en Beiträge von Ulrich Raulff zu Cottas ›Taschenkalender für Pferdeliebhaber‹ oder Ulrich Gaier zu Cottas Bodensee-Dampfer in der Literatur, die noch wirklich Neues zu Tage fördern. DANIELA GRETZ, KÖLN Bever, Edward / Styers, Randall (Hg.): Magic in the Modern World: Strategies of Repression and Legitimization. University Park: Pennsylvania University Press 2017 (= The Magic in History), 207 S. This volume nicely illustrates the »discursive turn« which manifested in the study of magic over the past decade, for the editors (1) treat »magic« as a discursive formation rather than an outer-worldly »thing«, and (2) they apply the insider-outsider distinction to historical discourses of »magic«. The volume also lines up with recent publications that ponder the relationship between »magic« and »modernity« (e.g. Meyer/Pels »Magic and Modernity« 2003; Landy/Saler, »The ReEnchantment of the World« 2009; Bell »Magical Imagination« 2012; JosephsonStorm »The Myth of Disenchantment« 2017). The anthology includes an introduction and eight articles, six of which emerge from a conference held at the University of Waterloo in 2008; it is divided into two parts. The first part comprises four articles which focus on outsider positions, that is, in the words of the editors, »the pervasive and systematic campaign of dominant cultural elites […] to marginalize magic by relegating it to the realms of fiction and delusion« (p. 12). This part includes chapters on concepts of »superstition ֿ◌ from early modernity to the 20th century (Randall Styers); on a series of dreams of René Descartes (Edward Bever); on premodern »experimenta« literature and »magic’s« immunity to falsification (Benedek
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Láng); and on anti-magical polemics in early 19th century North America (Adam Jortner). Alluding to Styers’s »Making Magic« (2004), the editors claim that these polemics have contributed to the »making of modernity«, a process which attempted but failed to suppress »magic« and instead led to its persistence and on-going re-invention: »just as religion continues to adapt and thrive in the modern world, so, too, magic and supernaturalism […] prosper in modernity […] magic belongs to modernity« (p. 2–3). This persistence, which contradicts the wide-spread »myth of disenchantment«, is what the second part is about. This part likewise comprises four articles and is devoted to modern insider positions, i.e., the beliefs, deeds, and self-legitimisations of 20th and 21st century practitioners of »magic«. It includes chapters on the continuity and changeability of Enochian (an angelic language »revelated« to or invented by John Dee) during the 20th century (Egil Asprem); on the split identity of Jack Parsons, who was both an important rocket engineer and devotee of Aleister Crowley (Erik Davis); on ›Seiðr‹, a type of contemporary Norse Neopaganism, its representative Raven Kaldera and his/her transgender identity (Megan Goodwin); and on the »invented tradition« of the »Necronomicon« (first publ. 1977) and the grimoire’s enormous popularity. Even though the volume is well-conceived and thought-provoking, some critique is necessary: (1) Applying the insider-outsider distinction to historical discourses of »magic« is not new, but this time-displaced impression may be due to the striking gap between the initial conference and its proceedings; (2) the book remains fragmentary and one thus wonders about the validity of the wide-ranging claims in its introduction; (3) some of these claims seem to indicate the editors’ – misleading – belief in a unilinear history of »magic«; yet, many of the motifs identified as »new« in the book can already be found in ancient discourses of »magic«; (4) the editors and contributors frequently – and contradictorily – oscillate between discursive and essentialist understandings of »magic«; (5) the editors employ different understandings of »modernity«: Is it a specific timeframe or epoch? Is it a stereotype, social imaginary or cultural trope? Is it an »agent« that creates
something, as suggested by some formulations? Due to these lacunae, the volume fails to exploit its full potential. BERND-CHRISTIAN OTTO, ERFURT Lüning, Otto: Otto Lüning Lesebuch. Zusammengestellt von Walter Gödden. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2018 (= Nylands Kleine Westfälische Bibliothek 73), 160 S. Der zu Unrecht vergessene und nach 1848 bzw. 1870/71 im nationalkonservativen Kanon der Geisteswissenschaften großzügig verkannte [Heinrich] Otto Lüning (1818–1868) erfreut sich als Publizist und Poet in seinem westfälischen Vaterland keines ähnlichen Bekanntheitsgrades wie seine lippischen Zeitgenossen Christian Dietrich Grabbe (1801– 1836) Ferdinand Freiligrath (1810–1876) oder Georg Weerth (1822–1856); die letzte nennenswerte Studie – Roland Köhne über Lünings Beziehung zu Georg Herwegh (1817– 1875) – erschien 2007 im 92. ›Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg‹. Um so erfreulicher ist es, dass Walter Gödden, Geschäftsführer der Literaturkommission des Landschaftsverbandes WestfalenLippe nun zum 200. Geburtstag Lünings eine Lesebuch-Anthologie aus dessen 1844 in Schaffhausen (!) erschienen »Gedichten« und Beiträgen aus seinen Zeitschriften ›Das Weser-Dampfboot‹ (1844) sowie ›Westphälisches Dampfboot‹ (1845–1848) herausgegeben und benachwortet hat. Die Auswahl schöpft aus dem Vollen und bietet heutigen Lesern ein großartiges document humain dieses kämpferischen Demokraten, der die politischen und wirtschaftlichen Missstände seiner autoritärobrigkeitlichen Zeit scharfsinnig analysierte, benannte und anprangerte. Nachwort wie Texte bieten ein stringentes Charakterbild dieses schriftstellernden Arztes aus protestantischem Pfarrhaus, der schon als Schüler durch hohe Begabung, aber auch Renitenz und Verachtung jedweder Autorität auffiel, als Theologie- bzw. Medizinstudent in Greifswald und Breslau das Tragen einer roten Jakobinermütze der Burschenschaftstracht vorzog und wegen Rauchens auf offener Straße fast relegiert wurde. Als 22-jähriger Arzt ließ er sich in Rheda nahe seiner Heimatstadt Gütersloh nieder und knüpfte Beziehungen zu Freiligrath, Hoffmann von
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen Fallersleben (1798–1874), Karl Marx (1818– 1883), Friedrich Engels (1820–1895) und dem Bielefelder Industriellen Rudolf Rempel (1815–1868), der dort von 1848 bis 1850 die radikaldemokratische Wochenzeitschrift ›Der Volksfreund‹ herausgab und auch Lünings Zeitschriften finanzierte; dieser »Redaer Kreis« traf sich in Schoß Holte und fiel sehr bald der preußischen Regierung durch politische Umtriebe unangenehm auf. Lüning verstand es, die Obrigkeit der preußischen Provinz Westfalen mit Justiz und Zensurbehörde systematisch zu reizen und zur Weißglut zu bringen; bei den anhängigen Verfahren und Prozessen konnte er immer wieder seinen Kopf aus der Schlinge ziehen. Es gehört zu den Stärken des Nachworts, gerade diesen Aspekt angemessen knapp gewürdigt und dem hurrapatriotischen Mief der Zeit gegenübergestellt zu haben. Auch als Mitbegründer der ›Neuen Deutschen Zeitung‹ eckte Lüning bei den Behörden an und musste 1849 bis 1856 ins Schweizer Exil gehen. Wie sein Freund Herweg blieb Otto Lüning auch der Niederschlagung der Revolution von 1848 seinen demokratischen Überzeugungen treu und wurde deshalb vom preußischen Geheimdienst bis zuletzt argwöhnisch bespitzelt; die Regierung versuchte sogar, ihn durch Entziehung seiner medizinischen Approbation berufs- und brotlos zu machen. 1862 kandidierte er als Vertreter der Fortschrittspartei für den Berliner Reichstag und gab in Rheda die ›Kleine Zeitung für Stadt und Land‹ heraus, welche 1864 (wen wundert’s) behördlicherseits ebenfalls durch einen Presseprozess geehrt wurde. »Was bleibt? Die Hochachtung vor einem Aufrechten, Unbeugsamen. Sein Sarg wurde von einer großen Schar Arbeiter zu Grabe getragen – ein Indiz für die Volksverbundenheit dieses unnachgiebigen Streiters. Man hätte ihm gegönnt, in einer besseren Zeit gelebt zu haben.« Göddens Schlußwort (S. 157) zu Lüning dürfte auch zur Lektüre dieses unbedingt lesenswerten Buches Anlass geben, vielleicht sogar zur weiteren Beschäftigung mit einem ebenso gradlinigen wie missliebigen Vertreter einer radikaldemokratischen Minderheit im Vor- und im Nachmärz; den Populisten, Taktierern und Wendehälsen unserer Tage sei allerdings dringend von Lüning abgeraten. FRANK STÜCKEMANN, SOEST
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Schwager, Johann Moritz: Autobiographische Schriften und kleinere Reisebeschreibungen über Westfalen. Hg. und kommentiert von Frank Stückemann. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2017, 438 S. Schwager, Johann Moritz: Homiletische Volksaufklärung für den Landmann. Einzelpredigten und Predigtskizzen. Bielefeld: Luther-Verlag 2014, 423 S. Weddigen, Peter Florenz: Lesebuch. Zusammengestellt von Walter Gödden und Frank Stückemann. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2017, 174 S. Unermüdlich rufen die beiden Herausgeber das Wirken der westfälischen Aufklärung ins Gedächtnis. Nach seiner großen Dissertation über Johann Moritz Schwager und der von ihm mitherausgegebenen Werkausgabe dieses Autors liegen nun sorgfältig edierte lesenswerte autobiographische Schriften Schwagers und Reisebeschreibungen vor, die uns Westfalen mit den Augen dieses Aufklärers zeigen. Wichtig sind als frühe, von Aufklärung und Volksaufklärung inspirierte Volkskunde neben seinen Reisebeschreibungen seine Schriften »Ueber den Ravensberger Bauern«, »Ueber das Einförmige im Charakter des gemeinen Mannes«, »Wie kann ein Prediger sich das Vertrauen des gemeinen Mannes erwerben?«, »Ueber den Landprediger«, »Von dem Einflusse des Schulmeisters auf den Charakter des gemeinen Mannes», ‹Ueber den Bauernstolz‹ oder »Menschenstudium. Einige zerstreute und zufällige Bemerkungen und Fragen über Aberglauben und Volkssagen«, allesamt auch Ausdruck des publizistischen Wirkens Schwagers. Von Interesse auch die psychologischen und medizinischen Aufsätze zur Erfahrungsseelenkunde, zur Seelenkrankheitskunde oder über Galvanismus und Schutzblattern. Die Auswahl, die Stückemann aus den Predigten und Predigtskizzen Schwagers getroffen und unter dem Titel »Homiletische Volksaufklärung« ediert hat, zeigen trefflich den Aufklärer bei seiner Alltagsarbeit, dem es nicht allein darum geht, wie »der gemeine Mann von der Wahrheit der christlichen Religion überzeugt werden« kann, sondern der in seinen Predigten auch über die Kindererziehung spricht, über die Pockenimpfung oder das zu frühe Begraben, das preußische Landrecht oder die philanthropi-
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sche Reformpädagogik. Die Zusammenstellung von Werken Peter Florens Weddigens endlich zeigt einmal mehr, wie wichtig die Intelligenzblätter und die regional-landesgeschichtlich orientierten Zeitschriften für die ländliche, moralische, ökonomische und literarische Aufklärung waren. Zu Recht bezeichnen die Herausgeber Weddigen als Bahnbecher auf volkskundlichem Gebiet, als bedeutenden Aufklärer und Publizisten, als Vertreter einer Gelehrtenrepublik, denen Gelehrsamkeit kein Selbstzweck war und die sich gemeinnützig-praktisch für ihre Mitmenschen engagierten. HOLGER BÖNING, BREMEN Sangmeister, Dirk: Vertrieben vom Feld der Literatur – Verbreitung und Unterdrückung der Werke von Friedrich Christian Laukhard. Bremen: edition lumière 2017, 164 S. Womit soll ich beginnen? Ja, ich bin glücklich und dankbar, dass sich Dirk Sangmeister des fasst vergessenen, zumindest heute gänzlich unbekannten Literaten Magister Friedrich Christian Laukhard (* 7.6.1757 in Wendelsheim; † 28.4.1822 in Kreuznach) zum Forschungsgegenstand genommen hat, denn ich habe ebenfalls zu ihm geforscht. Sangmeisters Arbeit hat sich gelohnt. Das Ergebnis ist ein flüssig und spannend zu lesendes Buch, das einen in der Forschung kaum beachteten Aspekt der Literaturgeschichte exemplarisch am Beispiel Laukhards untersucht und dessen Werk aus einem völlig neuen Blickwinkel betrachtet. In wie weit gab es Zensur und Selbstzensur in der Zeit der Spätaufklärung und deutschen Kleinstaaterei? Zensur und Selbstzensur ist ja ein Phänomen, das sich durch alle Epochen der Literaturgeschichte bis heute zieht. Hier Nachweise zu finden, ist schwierig. Sangmeister war dabei sehr fleißig und hat akribisch alles gesichtet, was hierfür als Beleg zu finden ist. Fünfzig Seiten Anmerkungen bei einem Gesamtumfang von 162 Seiten sprechen für sich. Der Autor wählte Laukhard bewusst und klug aus, denn zum einen liegen seine in weiten Teilen glaubhaften Lebenserinnerungen »Leben und Schicksale« in 5 Bänden vollständig vor und zum anderen war Laukhard hoch politisch, hat polarisiert, ja provoziert. Er war ein schwieriger und streitbarer Charakter, der schonungslos Missstände aufzeigte und oft missionarischen Ehrgeiz entwickelte. Als Person kann man ihn,
wahrscheinlich zu Recht, als ausgesprochen widersprüchlich beschreiben. Er war ein intelligenter Vielschreiber, der immer wieder versucht hat, an Hochschulen sein Brot zu verdienen. Dies gelang ihm nur kurz, denn ein guter Stratege für seine eigene Karriere war er nicht. Auch die Anstellungen als Hauslehrer und Vikar waren, angeblich wegen seines liederlichen Lebenswandels, nur von kurzer Dauer, so dass er sich aus der Not dem Militär andiente. Hier diente er zunächst auf preußischer Seite, desertierte dann und schloss sich den französischen Sansculottes an. Immer wieder hat sich der Magister ohne Rücksicht auf sein eigenes Fortkommen mit vielen angelegt, war aber auch zuweilen devot bis zur Unterwürfigkeit. Bei den Studenten meist beliebt, hatte er Neider und Personen in entscheidender Position, die ihn, ob seiner Ansichten, geradezu hassten. All das führte dazu, dass letztlich viele seiner Projekte scheiterten und er verarmt starb. Der Titel des Buches scheint mir unglücklich gewählt, denn Laukhard wurde ja nicht vertrieben vom Feld der Literatur. Eine universitäre Karriere wurde ihm allerdings verweigert. Der Untertitel trifft es schon eher. Die Veröffentlichung einiger Werke Laukhards wurden unterdrückt bzw. zumindest regional verboten. Auch hat er sich, wie Sangmeister nachweist, selbst zensiert, um sein Überleben zu sichern. In dieser Beziehung war er nicht der einzige, kann aber, wie hier geschehen, aufgrund der schriftlichen Zeugnisse als beredtes Beispiel dienen. ANDREAS HARMS, BREMEN Mix, York-Gothart / Ahrend, Hinrich (Hg.): Raynal – Herder – Merkel. Transformationen der Antikolonialismusdebatte in der europäischen Aufklärung. In Zusammenarbeit mit Kristin Kandler. Heidelberg: Winter 2017, 298 S. Der Sammelband geht auf eine Marburger Tagung vom Dezember 2014 zurück und ist ein wichtiger Beitrag zum vielschichtigen Verhältnis der Aufklärung zum Kolonialismus und Antikolonialismus. Er zeichnet nicht zuletzt ein Bild Johann Gottfried Herders, der keineswegs der Irrationalität und dem Nationalismus das Wort redete, sondern höchst differenzierte Beziehungen zu fremden Völkern hatte und etwa in seinen »Liedern fremder Völker« antikoloniale Positionen bezog. Hier erscheinen besonders wichtig die umfangreichen Abhandlungen von Wolfgang Proß
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen über »Kolonialismuskritik aus dem Geist der Geschichtsphilosophie« und von Thomas Taterka über baltische Varianten des kolonialkritischen Diskurses der europäischen Aufklärung um 1800. York-Gothart Mix setzt sich mit den Facetten der Begriffe Sklave und Leibeigener in der Spätaufklärung auseinander, sehr aufschlussreich auch Peter Steins Studie zu den Erfahrungen der Herrnhuter Missionare mit der Kolonialgesellschaft der Dänischen Jungferninseln. Bemerkenswert, dass unter den zahlreichen deutschen Aufklärern, die sich in eigenen Schriften mit bäuerlichem Eigentum und Leibeigenschaft beschäftigt haben, im Personenregister nur Merkel zu finden ist. Es ist doch leicht immer wieder derselbe Kanon, der Berücksichtigung findet, wenn Germanisten zusammenkommen. HOLGER BÖNING, BREMEN Lütteken, Laurenz: Mozart. Leben und Musik im Zeitalter der Aufklärung. München: C.H. Beck Verlag 2017, 296 S. Der Autor zeichnet zunächst die musikästhetischen Debatten nach, an deren Ende er die Herausbildung einer selbständigen Musikästhetik sieht und die die Folie für die gravierenden Veränderungen des Musiklebens im späteren 18. Jahrhundert bilden. Er beschreibt einen Prozess, dessen Anfänge man sicherlich auch schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts beobachten könnte, nämlich eine Neuformierung der musikalischen Öffentlichkeit, mit der das ständische Privileg der Teilhabe an ihr durch das materielle der Leistung, also den Kauf einer Eintrittskarte, ersetzt werde. Dieses Leistungsprinzip, nämlich Geld gegen Aufführung von Musik und schließlich der Erwerb gedruckter Musik, habe zugleich auch die Struktur der Öffentlichkeit verändern müssen. Jetzt habe sie sich endgültig in aktive und passive Teilnehmer geteilt, in Handelnde und Zuhörer, auch sei nun das Urteil gefragt gewesen, ob Leistung und Gegenleistung in einem akzeptablen Verhältnis zueinander stehen. Es sei die »Critic« entstanden, deren Grundlage die Rückführung auf das davor geringgeschätzte Sinnesorgan des Ohres gewesen sei – ein Prozess, der etwa bei Johann Mattheson ebenfalls schon in der ersten Hälfte des Jahrhunderts stattfand, wenn das Ohr neben der Vernunft zum einzigen Richter über die Quali-
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tät der Musik ernannt wurde. Eine weitere entscheidende Voraussetzung für das Wirken Mozarts sei die Herausbildung eines differenzierten Musikalienmarktes gewesen, alles dies habe die Denkzusammenhänge der Aufklärung betroffen, die im Blick auf die Musik keineswegs nur Äußerlichkeiten einer sozialen Konfiguration gewesen seien, vielmehr hätten sie Mozarts Verständnis von Musik auf grundlegende Weise berührt und zudem den spektakulären Entwurf seiner eigenen musikalischen Existenz in Wien bestimmt. Mozart habe danach gestrebt, sich mit einem genau definierten Marktwert in Wien zu positionieren, dies sei erfolgreich gewesen, nehme man »sein so generiertes, exorbitantes Einkommen« zum Maßstab. (S. 23) Lütteken ist im Zusammenhang mit seinem Komponisten an der Musik im Wandel interessiert, an ihrer Beziehung zu Aufklärung und dem aristotelischen Kunstideal der formschönen Naturnachahmung. Ein gelungenes Buch, das einen neuen Blick auf Mozart ermöglicht, auf einen Tonkünstler, der wichtigen Prämissen der Aufklärung verpflichtet war. HOLGER BÖNING, BREMEN Schleuning, Peter: So könnte es gewesen sein. Musikergeschichten. Johann Sebastian Bach, Carl Philipp Emanuel Bach, Wolfgang Amadé Mozart, Ludwig van Beethoven, Fanny Hensel. Hildesheim, Zürich, New York: Olms 2017, 176 S. Ausgerechnet ein essayartiges Werk, das mit den Möglichkeiten, die uns die musikhistorische Forschung bietet, einerseits, mit den auf dieser Grundlage möglichen Spekulationen andererseits spielt und die Phantasie der Leser anregt, scheint mir eine der gelungensten jüngeren musikhistorischen Publikationen zu sein. Jenseits gelehrter Hermetik und in gut lesbarer deutscher Sprache, eng vertraut mit den Quellen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts bereiten die Phantasien über Johann Sebastian und Carl Philipp Emanuel Bach, Mozart, Beethoven und Fanny Hensel größtes Lesevergnügen, ohne dass der Autor den Leser bei der Frage, wo mit größter Wahrscheinlichkeit auf gesicherte Fakten zurückgegriffen wird und wo etwas dargestellt wird, was zumindest eine innere Wahrscheinlichkeit hat, nie alleine lässt. Wohltuend ist ein respektvoller Umgang mit den Helden der hier gebotenen biographischen Miniatu-
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ren, nirgendwo ein hämisches Urteil, selbst über Johann Mattheson nicht, zu dem sich dies aus durchaus nachvollziehbaren Gründen kaum ein Musikhistoriker nehmen lässt, der hier aber als erster und bedeutender Musikwissenschaftler vorgestellt wird. Dass einen Musikhistoriker wie Peter Schleuning ganz besonders die sozialgeschichtlichen Dinge interessieren, die mit dem Kampf um ein ausreichendes Einkommen von Musikern verbunden sind, wird den Kenner seiner Werke nicht verwundern. Dass Komponisten von den Aufführungen ihrer Werke noch im frühen 19. Jahrhundert keinerlei materiellen Nutzen hatten, außer dass dies der Bekanntheit ihres Namens diente, wird im Internetzeitalter, in dem Musik allenthalben ohne Kosten gehört werden kann, nicht ohne Interesse sein. (S. 73f.) Aufschlussreich hier die Utopie Beethovens, der sich wünschte, es solle »nur ein Magazin der Kunst in der Welt seyn, wo der Künstler seine Kunstwerke nur hinzugeben hätte, um zu nehmen, was er brauchte«. So aber müsse »man noch ein halber Handelsmann dabey seyn«. (S. 99) Welche Kämpfe Beethoven mit Verlegern ausfocht und mit Nachdruckern, wird recht anschaulich: »Ich wünschte, ich wäre alles Handelns und Feilschens mit den Verlegern überhoben und fände einen, der sich entschlösse, mir für meine Lebenszeit eine bestimmte Jahresrente zuzusichern, wofür er das Recht haben sollte, alles, was ich komponiere, verlegen zu dürfen, und würde im Komponieren nicht träge sein. Ich glaube, Goethe hat es so mit Cotta«. (S. 101) Auch der Kummer mit den Fehlern von Setzern zeigt sich als uralte Geschichte, die erst heute ihr Ende gefunden hat, da Autoren den Satz ihrer Werke selbst besorgen dürfen: »Die Fehler wimmeln wie die kleinen Fische im Wasser d.h. ins unendlich – questo è un piacere per un autore – das heiß ich stechen, in Wahrheit meine Haut ist ganz voller Stiche und Rize.« (S. 104) Ein schönes Buch, lediglich ein wenig Zahlensalat hätte das Lektorat verhindern müssen, denn natürlich wurde Mattheson nicht 1781 geboren, sondern genau ein Jahrhundert früher, auch war er nicht Musikdirektor der Michaelis-Kirche, der er zwar eine Orgel spendete, aber Kantor war er am exterritorialen Hamburger Dom. Falsche Lebensdaten
auch bei Johann Christoph Friedrich Bach (S. 64). HOLGER BÖNING, BREMEN Neuß, Elmar / Offermann, Toni (Hg. u. Kommentatoren): Der Arzt und Aufklärer Johann Christian Jonas (1765–1834) – Seine medizinische Topographie des Kantons Monschau und weitere Schriften. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2017, 320 S. Über 40 Jahre lang wirkte Johann Christian Jonas in Amt, Kanton und Kreis Monschau, zuletzt als preußischer Kreisphysikus. Er gehörte zu jenen aufklärerisch engagierten Ärzten, die aus eigenem Antrieb nicht nur eine medizinische Topographie ihres Wirkungsgebietes abfassten, sondern sich auch intensiv, im Rheinland 1798 als erster, für die Kuhpockenimpfung einsetzten. Ein Jahrzehnt dauerte es, bis sein Sprengel pockenfrei war. Bemerkenswert, dass er sich als einer der ersten Arbeitsmediziner mit der Situation der Textilarbeiter befasste und etwa die Schrift über »Krankheiten der Wollweber und Walkmüller« verfasste, ebenso mehrere veterinärmedizinische Werke und eine Abhandlung über Zivilhospitäler und über Vieharzneischulen. Auch gab er eine medizinische Zeitschrift heraus. Der vorgelegte Band bietet auf gut 60 Druckseiten eine Biographie des Arztes und sodann die wertvolle Edition der von ihm verfassten medizinischen Topographie sowie einiger weiterer Aufsätze und seiner Dissertation. Abgerundet wird die erfreuliche Publikation durch Personen- und geographisches Register. HOLGER BÖNING, BREMEN Geck, Martin: Beethoven. Der Schöpfer und sein Universum. München: Siedler 2017, 509 S. Die Annäherung an den Komponisten erfolgt in zwölf jeweils einem thematischen Schwerpunkt gewidmeten Kapiteln, eingerahmt von einem Vorwort und einem Epilog. Das Ziel Gecks besteht darin, als ein Sänger »im Chor der vielen Stimmen« zu schreiben, die sich originell zu Beethoven geäußert haben oder bis in die Gegenwart hinein durch ihr eigenes künstlerisches Werk Licht auf dessen Werk zu werfen vermögen. (S. 8) Las ich das Inhaltsverzeichnis mit den dort genannten Personen höchst unterschiedlichen Charakters zunächst mit der Befürchtung, mich erwarte Bildungsprotzerei, so wich diese mit der Lektüre der Begeisterung angesichts
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen der erhaltenen Anregungen. Um einige Beispiele zu nennen, die das Vorgehen verdeutlichen. Das erste Kapitel »Titanismus« stellt naheliegenderweise Napoleon Bonaparte in den Mittelpunkt, gemeinsam mit Wilhelm Furtwängler und Lydia Goehr. Das Kapitel »Festigkeit« dreht sich um Johann Sebastian Bach, Aldous Huxley und Glenn Gould, das Kapitel »Lebenskrisen, Gottergebenheit, Kunstfrömmigkeit« um Johann Michael Sailer, Karl van Beethoven und »Die ›unsterbliche‹ Geliebte«, das Kapitel »Utopien« endlich um Richard Wagner, Thomas Mann und Hans Eisler. Nie kommt das Gefühl einer Beliebigkeit auf, sondern der Leser nähert sich mit jedem Kapitel der Lebensgeschichte, Persönlichkeit und dem Werk Beethovens stärker an, so dass er, obwohl hier eigentlich gar keine Biographie geboten wird, das Gefühl wachsenden Verständnisses für die historische Figur und sein Werk erhält. Erstaunlich, wie Geck sich in der Auseinandersetzung mit den musikalischen Werken und deren unterschiedlichsten Deutungen immer wieder auch der historischen Person nähert, wenn er zur Schlussfuge der Hammerklaviersonate meint, man dürfe durchaus spekulieren, dass sich in ihr Wut und existenzielle Verzweiflung entladen: »Ich sehe den kleinen Ludwig vor mir, der vom Vater zum Klavierspiel ›stränng angehalten‹ wird.« (S. 263f.) Bemerkenswert, welcher Quellenreichtum in dem Werk Gecks Berücksichtigung gefunden hat; hier erfährt man, welche Bedeutung die Musikpublizistik, die allgemeine Zeitschriftenpresse und selbst die Tageszeitungen im 19. Jahrhundert für Deutung und Interpretation musikalischer Werke erhalten haben und wie sie das aktuelle Musikgeschehen begleiten (siehe nur die Beispiele auf den S. 52, 102, 138, 160, 199f. 206, 213, 214, 216, 274, 275, 381, 382, 383, 387, 394, 395, 396, 410, 415), wie in ihr der musiktheoretische und kulturelle Diskurs zusammengebracht wird (S. 207) oder wie über Musikerpersönlichkeiten diskutiert wird. Es ist wohltuend, wie Geck den Leser in das Universum der Beethovendeutungen einführt, die er – auch wo er sie nicht teilt – niemals abwertend, sondern stets mit Respekt und um Verständnis bemüht vorträgt und nach den historisch-gesellschaftlichen Bedingungen fragt, unter denen sie entstanden sind. Auch wenn im Mittelpunkt dieses Buches
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steht, wie andere das Werk Beethovens begriffen haben, hält der Autor eigene Urteile nicht zurück, wenn er beispielsweise von der politischen Anfälligkeit der Musik Beethovens spricht, die als Ideenkunst ihre Hörer nicht nur auf hohem Niveau unterhalten, sondern erklärtermaßen für das Edle und Bessere gewinnen wolle. (S. 34) Ein höchst gelungenes Buch. HOLGER BÖNING, BREMEN Helmut Loos: E-Musik. Kunstreligion der Moderne. Beethoven und andere Götter. Kassel: Bärenreiter 2017, 160 S. Die hier gebündelten Vorträge des Autors zur Kunstreligion der Moderne thematisieren die sozial- und kulturgeschichtlichen Hintergründe, vor denen eine Säkularisierung der Musik einhergeht mit deren Sakralisierung, jenen Prozess also, in dem die Musik sich von ihren religiös-kirchlichen Bindungen löst, durch Autonomie und Rationalität selbst höchsten Rang erreicht, sich vom Mittel zum Zweck emanzipiert und zum Gegenstand der Verehrung und Anbetung wird, der Komponist zugleich als Schöpfer und Genie zum »Vorbild höchsten Menschseins«. (S. 12f.) Lange Zeit sei eine derartige kulturhistorische Betrachtung der Musikgeschichte durch das Paradigma der absoluten Musik verhindert worden. (S. 10) Loos spricht von einem »zutiefst religiösen Charakter der Ernsten Musik«, wie er in der romantischen Musikauffassung von Anfang an grundgelegt sei. In diesem Zusammenhang habe Ludwig van Beethoven eine besondere Rolle als Leitfigur gespielt, er sei zu einem Gott herangewachsen, in Feuerbachscher Manier habe ein bürgerliches Publikum sich einen Künstlergott ganz nach seinem Bilde geschaffen. (S. 10f.) Als »ganz wichtiges Organ für die Verbreitung der neuen Musikauffassung identifiziert Loos die ›Allgemeine musikalische Zeitung‹ aus Leipzig, sie habe zur Vorstellung der »heiligen Musik« entscheidend beigetragen, die »Konzertmusik im emphatischen Sinne einer Kunstreligion des national-liberalen Bürgertums« sei zur »ernsten Musik« geworden, uns bis heute als E-Musik bekannt. (S. 25–27) Maßgeblich sei diese Richtung von den sich an den Universitäten konstituierenden Musikwissenschaft befördert worden, die damit ihre eigene Bedeutung betonte. HOLGER BÖNING, BREMEN
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Greiling, Werner: Verlagsstrategien zur Schulverbesserung und Volksbildung im 19. Jahrhundert. Gustav Friedrich Dinter und Johann Karl Gottfried Wagner. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2017, 383 S. Die Studie bietet die Geschichte des abseits von den großen Buch- und Medienzentren in Neustadt an der Orla agierenden Verlages von Johann Karl Gottfried Wagner (1763– 1831) mit seinem Schwerpunkt auf theologischer und pädagogischer Literatur sowie seines wichtigsten Autors, des Theologen und Pädagogen Gustav Friedrich Dinter (1760– 1831). Dieser Konstellation, in der deutlich wird, dass reformerisches Engagement und wirtschaftliche Interessen sich nicht widersprechen müssen und die Werner Greiling als »strategische Allianz« (S. 7) bezeichnet, geht dieses Buch nach, das mit seiner quellenbasierten Darstellung der publizistischen Strategien Dinters und Wagners einen wertvollen Beitrag zur Buch- und Verlagsgeschichte darstellt. Kommunikationshistorisch besonders interessant ist das Kapitel »Mittel und Strategien der Markteroberung«, in dem der Umgang mit Bücheranzeigen, Subskriptions- und Pränumerationsangeboten ebenso dargestellt wird wie die Kooperation mit verschiedenen Obrigkeiten und die Eroberung des Schulbuchmarktes, der Einsatz von Vorreden und Vorworten sowie die Nutzung der Messen und der Rezensionszeitschriften. Interessant, wie der Verleger sich seinen Autor selbst heranzieht und ihn mit steigenden Honoraren am Erfolg beteiligt, wichtig auch, wie er sich ein Fundament seiner Verlagstätigkeit durch Kalender und Periodika schafft. Greiling zeigt, was an Rekonstruktion der Verlags- und Buchgeschichte trotz des Fehlens eines Verlagsarchivs möglich ist. HOLGER BÖNING, BREMEN Jeremias Gotthelf: Historisch-kritische Gesamtausgabe (HKG). Hg. von Barbara MahlmannBauer und Christian von Zimmermann. Abteilung A: Romane. Band 2.1: Leiden und Freuden eines Schulmeisters. Band 1–2: Drucktexte. Hg. Eveline Wermelinger, Christian von Zimmermann in Zusammenarbeit mit Matthias Osthof. Hildesheim, Zürich, New York: Olms 2017, 1118 S. Es ist eine Freude, dass dieser große, literarisch und sozialhistorisch so bedeutende Roman nun in einer kritischen Ausgabe vorliegt.
Jeremias Gotthelf hat seine »Leiden und Freuden eines Schulmeisters« nach dem Erstdruck 1838/39 für ein deutsches Lesepublikum überarbeitet. Geboten wird nun eine synoptische Neuedition, die den Vergleich beider Fassungen auf gegenüberliegenden Textseiten ermöglicht und damit den Einblick in die Prinzipien ermöglicht, unter denen Gotthelf eine adressatenspezifische Bearbeitung der eigenen Texte unternahm. Das Werk steht wie schon Gotthelfs erster Roman in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Wirken von Albert Bitzius als Pfarrer und Schulkommissär, der einen kritischen Blick auf die Verhältnisse in den Berner Landgebieten, insbesondere auf das Schul- und Erziehungswesen hat. Der Roman greift das schon klassische Motiv des verachteten ländlichen Lehrers auf, das auch für das »Goldmacherdorf« Heinrich Zschokkes zentral ist. Wiederum hat Gotthelf die Form einer fiktiven Autobiographie gewählt; man könnte auch von einem Entwicklungsroman sprechen, in dem das Leben des Schulmeisters Peter Käser im Mittelpunkt steht. In Gotthelfs »Wie fünf Mädchen im Branntwein jämmerlich umkommen« (Bern: Wagner 1838, unpag. Verlagsanzeige am Ende des Bandes) werden die »Leiden und Freuden eines Schulmeisters« angekündigt. Einen vagen Hinweis auf den Autor gibt nur der Hinweis: »Die schwierige Aufgabe, ein echtes Volksbuch zu schreiben, hat der Verfasser, der sich den Bauernspiegel von Jeremias Gotthelf zum Vorbilde nahm, auf's Glücklichste gelöst.« Die Schilderung ist ein episches Meisterwerk; der Autor vermag sich wie kein Romanautor zuvor in die Nöte und Wünsche, Träume und Ängste eines Lehrers zu versetzen, dem Anerkennung seiner Tätigkeit weder von den Obrigkeiten noch von den Bauern oder den Schülern zuteil wird. Wie der »Bauernspiegel« bietet der Roman nicht nur eine anschauliche und spannende Erzählung, sondern bildet eine sozial- und kulturhistorische Quelle ersten Ranges. Wichtig ist der Schulmeisterroman auch dadurch, dass Gotthelf sich in ihm mit den Strategien der volksaufklärerischen Literatur und zugleich mit den eigenen einschlägigen Erfahrungen, mit seiner Zeit »goldmacherischen Schwärmens« während der Vikarstätigkeit, auseinandersetzt. Die Segen bringende Allianz von Pfarrer und
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen Schulmeister, die seit dem von Friedrich Eberhard von Rochow in der Praxis erprobten Modell in so vielen volksaufklärerischen Schriften literarisch gestaltet wurde, scheitert bei Gotthelf. Die Bemühungen um Reformen und Aufklärung brechen sich am Widerstand der Dorfgesellschaft. Die hier zum Ausdruck kommende Skepsis formuliert Gotthelf in einer Kritik volksaufklärerischer Literatur, in die er selbst Pestalozzis »Lienhard und Gertrud« einbezieht: »Mir waren von je die meisten Volksschriften abgeschmackt vorgekommen. Weise Leute rüsteten eine solche Schrift zu wie die Apotheker ihre Mittel, nahmen ein Lot Religion, anderthalb Lot Moral, zwei Lot feine Lebensart, ein halb Pfund gemeinnütziges Allerlei, streuten einige Volksausdrücke darunter, preßten irgendeinen alten Witz darein, rührten alles wohl untereinander und stellten dem Volk das Fressen vor. Das Volk wandte sich zumeist angewidert davon ab, nur hier und da ward ihm durch gemeinnützige, gutmütige Ammen was eingezwängt« (SW, Bd.5, S.331). Die »unnatürliche Überladung mit Gemeinnützigem« ist in Gotthelfs Romanen nicht nur vermieden, sondern im Schulmeisterroman stellt sich der Autor im Konflikt zwischen gelehrter ökonomischer Theorie und bäuerlichem Erfahrungswissen auf die Seite der Bauern. Die Anstrengungen des Pfarrers, durch Belehrung und praktisches Beispiel ökonomische Veränderungen durchzusetzen, werden ironisierend und satirisch bis zu ihrem gänzlichen Scheitern beschrieben. Damit wird jedoch nicht der Volksaufklärung eine Absage erteilt, sondern deren Strategien und der aufklärerischen Hoffnung auf die Evidenz der Vernunft. »Der bessere Mensch«, so äußert sich Gotthelf dazu, »der unverhohlen mit dem Bessern hervortritt, den Leuten es anpreiset, zu Erreichung desselben sie in Tätigkeit versetzen will, der findet keine Augen, die sehen, keine Ohren, die hören, keine Kräfte, die zu seinem Zwecke sich zur Verfügung stellen, er findet keinen Sinn dafür, wird nicht begriffen, ausgelacht, verfolgt, totgeschlagen« (SW, Bd. 3, S.287). Gotthelfs eigene Strategie verkörpert der neue Pfarrer im Schulmeisterroman: »Ich brauchte meinen Leuten nur etwas vorzuschlagen, so machten sie das Gegenteil davon.« Im bäuerlichen Misstrauen und Eigennutz, im Aberglauben und im Traditionalis-
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mus erkennt Gotthelf die wichtigsten Handhaben zur Leitung und Beeinflussung seiner Bauern, »woran man sie führen kann, wie Pferde am Leitseil«. Es ist zu hoffen, dass diese mustergültige Edition dazu beiträgt, dem Roman zusätzliche Leser zu gewinnen. HOLGER BÖNING, BREMEN Radu, Robert: Auguren des Geldes. Eine Kulturgeschichte des Finanzjournalismus in Deutschland 1850–1914. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 224), 382 S. Diese 2014 abgeschlossene Rostocker historische Dissertation liefert ein fundamentales Forschungsergebnis zur Geschichte des Journalismus im 19. Jahrhundert (Betreuer: Ulrike von Hirschhausen, Rostock, und Alexander Gallus, Dresden). Ihr Autor Robert Radu interessiert sich für die Wechselbeziehung zwischen der Entstehung, Entwicklung eines finanzjournalistischen Feldes (Medien, mediale Angebote, Akteure: Verleger, Journalisten, in der Frühphase u.a. auch Bankiers) und der Expansion und Differenzierung des Finanzfelds (Banken, Börse, Makler). Sein kulturgeschichtliches Interesse richtet sich auf den Stellenwert finanzjournalistischer Deutungen für staatliches und gesellschaftliches Handeln und Entscheiden insbes. im deutschen Kaiserreich. Eine gesellschaftliche Voraussetzung und zugleich eine Folge des Finanzjournalismus erkennt Radu in einer bes. seit dem Aktienboom der 1830er Jahre fortschreitenden finanziellen Marktvergesellschaftung: Immer mehr Menschen nahmen am Geschehen auf dem Finanzmarkt teil und waren von ihm betroffen. Für seine Untersuchung auf der Makro-, Meso- und Mikro-Ebene entwickelt Radu eine ideenreiche komplexe theoretischmethodische Konzeption, mit deren Hilfe er sich auch ein bemerkenswert breites Spektrum an Quellen erschließt. Die Grundlage für die Genese des Finanzjournalismus, der sich medial mit der Gründung u. a. der ›Bankund Handelszeitung‹ (1853), der ›Berliner Börsen-Zeitung‹ (1855) und der ›Frankfurter Handels-Zeitung‹ (1856, später: ›Frankfurter Zeitung‹) zu formieren begann, arbeitet Radu als eine zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzende Periode der öffentlichen finanziellen Kommunikation heraus. Ihre Akteure waren häufig Bankiers und Makler, ihre
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medialen Formen bildeten Kurszettel und Maklerberichte, die seit den 1830er Jahren mehr und mehr in die Tageszeitungen drangen. Die Entwicklung des eigentlichen Finanzjournalismus bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs vollzog sich in drei sich teilweise überschneidenden Phasen bzw. Prozessen: die Formierung (1850–1879), die Politisierung (1880– 1896) und – als deren Folge – die Professionalisierung (1897–1914) mit einem informellen berufsethischen Kodex mit dem altruistischen Kernelement eines gesinnungstreuen, gleichwohl unabhängigen »Dienstes an der Allgemeinheit« und dem daraus resultierenden Postulat einer strikten Grenze zwischen dem finanzjournalistischen und dem Finanzsektor. Räumlich konzentriert sich die Studie auf die beiden deutschen Finanzmetropolen Berlin und Frankfurt am Main. Radu liefert eine beeindruckend quellennahe, differenzierte, analytisch wie stilistisch gründlich durchgearbeitete dichte Beschreibung dieser Phasen, deren charakteristischen Merkmale und Prozesse er sehr gut nachvollziehbar herausarbeitet und in Zwischenfazits zusammenfasst. Die Untersuchung setzt durch ihre theoretische und methodische Konzeption und ihre Befunde Maßstäbe für die historische Erforschung weiterer Teilbereiche bzw. Ressorts des Zeitungsjournalismus im 19. Jahrhundert. Eine kritische Quisquilie am Rande: Radu bindet den Finanzjournalismus in diesem Säkulum definitorisch an das Medium Zeitung (S. 20). Das entspricht nicht ganz seinen Forschungsergebnissen. Wie er zeigt, vollzog sich der Finanzjournalismus seit etwa dem letzten Drittel dieses Jahrhunderts auch in Zeitschriften und in einer weiteren medialen Gattung, die er als Fachzeitung bezeichnet. Wie etwa im Fall von ›Buchwald’s Börsen-Berichten‹ (S. 299f.) handelte es sich dabei um Korrespondenzen, die sich i. d. R. nicht unmittelbar an die Öffentlichkeit richteten, sondern vornehmlich Zeitungsredaktionen mit journalistisch recherchiertem, ausgewähltem und aufbereitetem ressortspezifischem Stoff versorgten. ARNULF KUTSCH, MÜNSTER Homberg, Michael: Reporter-Streifzüge. Metropolitane Nachrichtenkultur und die Wahrnehmung der Welt 1870–1918. Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht 2017 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 223), 396 S.
Journalistisches Erzählen und transnationale Journalismuskulturen stehen seit einiger Zeit verstärkt im Fokus der Forschung. Dank Michael Hombergs Arbeit erfahren diese Phänomene nun erstmals auch aus dem Blickwinkel der Kommunikationsgeschichte ausführliche Beachtung. Die Untersuchung fokussiert auf die erste Phase der massenmedialen Sattelzeit, also die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, die als Konstitutionsphase des modernen Journalismus westlicher Prägung gilt. Angenommen wird, dass das Genre Reportage in diesem Zeitraum den Bezugsrahmen der journalistischen Berichterstattung prägte und prototypische Wirklichkeitserzählungen der Moderne hervorbrachte. Homberg versteht Reporter als aktive Gestalter dieses Prozesses und definiert sie dafür als journalistische Geschichtenerzähler. Ihre Erzeugnisse sind »Miniaturen eines Prozesses massenmedialer Selbstbeobachtung« (S. 24) und können Aufschluss über die Etablierung und Verfestigung einer globalen Nachrichtenkultur geben. Die Arbeit veranschaulicht diese These anhand zahlreicher Fallbeispiele im Konnex der journalistischen Auslandsund Lokalberichterstattung. Trotz der lediglich kursorischen Berücksichtigung von Besonderheiten der Presseentwicklung in den USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich gelingt es, transkulturelle Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Im Schlaglicht der urbanen Lokalberichterstattung liefert die Arbeit zahlreiche Beispiele für die innovative Erprobung von journalistischen Darstellungsund Recherchepraktiken, die etwa als »stuntreporting« – der inszenierten Rollenreportage – alsbald zum Standardrepertoire der Massenpresse gehörten. Auch wird die Adaption neuer Abbildungsverfahren mit Blick auf die Genese sozialdokumentarischer journalistischer Arbeitsweisen thematisiert. Die Auslandsberichterstattung rückt in den Fokus, weil die Reportage als Ergänzung zum Depeschenwesen die Beschleunigung und Verdichtung globaler Informationsströme belegt. Zugleich ist sie in diesem Zusammenhang auch Sinnbild für den Konkurrenzkampf journalistischer Akteure. Anhand des Fallbeispiels Henry Morton Stanley wird dargelegt, wie sich das Korrespondentenwesen sukzessiv durch die erworbenen Freiheiten und Fähigkeiten einer neuen Reportergeneration verändern konnte.
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen Insgesamt ist zu kritisieren, dass die Untersuchung überwiegend auf die bereits bekannten Reporterpersönlichkeiten der Pressegeschichte rekurriert, auch wenn zu diesen Legenden fraglos viel Interessantes und Neues zusammengetragen wurde. Der Verdienst von Hombergs Arbeit liegt hingegen eindeutig in den durch umfassende Quellenarbeit erzielten Detailbefunden und in dem Versuch, durch interdisziplinäre Ansätze eine Neuperspektivierung der Reporterrolle im Kontext der Massenpresse des 19. Jahrhunderts anzustoßen. HENDRIK MICHAEL, BAMBERG Löbl, Emil: Kultur und Presse. Hg., eingeleitet und kommentiert von Wolfgang Duchkowitsch. Baden-Baden: Nomos 2017 (= ex libris kommunikation, N.F. Bd. 19), 326 S. Die von Hans Wagner (München) und Philomen Schönhagen (Fribourg) herausgegebene Buchreihe »ex libris kommunikation« ediert und kommentiert Texte zur sozialen Kommunikation und ihren Medien. Das theorie- und fachgeschichtliche Programm der Reihe reicht vom Ende des 17. Jahrhunderts bis in unsere Gegenwart. Der vorliegende 19. Band ist eine Edition der 1903 veröffentlichten Monographie »Kultur und Presse« des Wiener Redakteurs Emil Löbl (1863–1943). Otto Groth (»Geschichte der deutschen Zeitungswissenschaft«, 1948) ordnete das Buch der sog. Praktiker-Literatur zu. Das ist eine formale, auf die Autoren, zumeist namhafte Chefredakteure unterschiedlicher Couleur, bezogene Bezeichnung für eine Gruppe von kleineren, überwiegend in populären Buchreihen vom Ende der 1870er bis in die 1920er Jahre erschienenen Werken über die Zeitung und den Journalismus. Diese Bücher entstanden im Protostadium der akademischen Zeitungskunde, als im deutschsprachigen Raum nur wenige Universitätswissenschaftler die Analyse der Zeitung überhaupt als ertragreich erachteten. Solche Bücher erschienen aus vergleichbaren Gründen im gleichen Zeitraum auch bspw. in England, Frankreich, in den Niederlanden und in den USA. Sie können als bedeutender Teil des Versuchs verstanden werden, den Journalismus als Beruf aus diesem selbst u. a. durch die Erarbeitung von berufsspezifisch theoretischem Wissen und die Benennung von berufsethischen Normen zu professio-
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nalisieren. Nicht nur in diesem Zusammenhang gewinnt der in der vorliegenden Edition zu wenig beachtete Titel von Löbls Werk seine spezifische Bedeutung. Auf dem Höhepunkt einer strukturellen und wirtschaftlichen Expansion und Differenzierung der Presse ging es diesen Berufspraktikern in ihren Schriften letztlich darum, in der Zunft und Öffentlichkeit gegen die Rationalität des Kapitalismus, nach der die Presse funktionierte, und das ramponierte Berufs-Image des Journalismus den salvierenden »Frame« der Kulturbedeutung der Presse zu platzieren. Zwei Beispiele allein aus dem Jahr 1903 mögen genügen: In Zürich wählte der Journalist Oskar Wettstein für seine universitäre Antrittsvorlesung bewusst das Thema »Die Tagespresse in unserer Kultur« und in New York stiftete der Verleger Joseph Pulitzer einen für Zeitgenossen unvorstellbar hohen Geldbetrag für eine »School of Journalism« und den bis heute international wohl namhaftesten Preis für journalistische Leistungen. Aus der internationalen Praktiker-Literatur ragte das inzwischen als »Schlüsselwerk« und »Klassiker« der Kommunikationswissenschaft nobilitierte Buch von Löbl durch seine wissenschaftliche Qualität hervor. Es gliederte sich in die vier Teile »Die Zeitung«, »Die Journalistik«, »Presse und Gesellschaft« sowie »Presse und Staatsgewalt«. Löbl umriss eine auf das Medium bezogene Theorie der Zeitung. Die ausführliche Einführung des Wiener Kommunikationshistorikers Wolfgang Duchkowitsch, der die Edition besorgte und dabei begründet auf den – dem Rezenten wichtig erscheinenden – Abschnitt »Begriffsbestimmung« (der Zeitung) sowie den schon von Löbl selbst als wenig wichtig bezeichneten Abschnitt »Presse und Staatsgewalt« des Originals verzichtete, ordnet das Buch instruktiv in den fachgeschichtlichen Zusammenhang ein. ARNULF KUTSCH, MÜNSTER Ginneken, Jaap van: Kurt Baschwitz. Pioneer of Communication Studies and Social Psychology. Amsterdam: Amsterdam University Press 2018, 354 S. Kurt Baschwitz (1886–1968), Sohn einer Offenburger assimilierten jüdischen Familie, wurde nach seiner Münchener nationalökonomischen Promotion bei Lujo von Brentano (1908) Redakteur des ›Hamburger Fremden-
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blatts‹. Die liberale Zeitung schickte ihn im Oktober 1916 als Korrespondenten mit Sitz in Rotterdam in die neutralen Niederlande. Ende Januar 1919 in die Zentralredaktion zurückgekehrt, verarbeitete er die antideutsche Propaganda und Germanophobie des Kriegs in seinem Buch »Der Massenwahn« (1923) – eine historische und sozialpsychologische Studie über Prozesse der öffentlichen Meinung, Leser, und Pressewirkungen. 1924 wechselte er ins Ressort Außenpolitik der ›Deutschen Allgemeinen Zeitung‹ nach Berlin. Nach einem kurzen Zwischenspiel bei den ›Dresdner Neuesten Nachrichten‹ übernahm er im Sommer 1929 die Redaktion der Fachzeitschrift ›Zeitungs-Verlag‹. Seine Artikel, die Themen der von ihm besorgten Sonderausgaben dieses Organs des Reichsverbands der deutschen Zeitungsverleger sowie einige Vorträge, die er in zeitungswissenschaftlichen Instituten hielt, deuteten darauf hin, dass sich sein Interesse mehr und mehr vom Journalismus als Beruf hin zur Zeitungswissenschaft verlagerte. Durch seine Abstammung und Anti-Hitler-Einstellung doppelt gefährdet, floh Baschwitz nach dem Reichstagsbrand nach Amsterdam. Von niederländischen Hilfsorganisationen unterstützt, vermochten er und seine ihm noch 1933 nachgefolgte Familie dort zu überleben. Im Exil begann seine zweite Karriere als Wissenschaftler: Anfang 1935 übertrug ihm die (kommunale) Universität Amsterdam eine unbesoldete Privatdozentur für Pressegeschichte. Daneben bearbeitete er die Pressesammlung des Internationalen Institut für Sozialgeschichte, das der mit ihm befreundete Historiker Nicolaas Posthumus in dieser Zeit aufbaute. Dort entwarf Baschwitz auch Konzeptionen für ein bis dahin in den Niederlanden noch nicht bestehendes Universitätsinstitut für Presseforschung, ehe ihm die Tätigkeit in beiden Institutionen 1940 versagt wurde. An seine Konzeptionen knüpfte er an, als er 1948 – im Alter von 62 Jahren – an der Universität Amsterdam eine Professur für Presse, Propaganda und öffentliche Meinung erhielt und die ersten wissenschaftlichen und organisatorischen Grundlagen des Instituts schuf, das sich zu einer der führenden Forschungs- und Lehreinrichtungen der Kommunikationswissenschaft in Europa entwickelte.
Die aus dem Nachlass von Baschwitz, aus ausführlichen Interviews mit seinen beiden Töchtern und zahlreichen weiteren Quellen gearbeitete, beeindruckend detaillierte und anschaulich in die historischen Kontexte gebettete Biographie von Baschwitz (und seiner Familie) richtet sich an ein breites Publikum – auch jenseits der niederländischen Grenzen. Aufschlussreich sind die zwischen die Darstellung der unterschiedlichen Lebensphasen eingeschobenen Kapitel, in denen van Ginneken die vier Bücher von Baschwitz im Zusammenhang seiner beruflichen, politischen und gesellschaftlichen Beobachtungen und Erfahrungen darstellt. Der Autor profitierte von den beiden profunden publizierten Magisterarbeiten von Vera Ebels-Dolanová (Amsterdam 1983) und Dieter Anschlag (Münster 1990) über das Leben und Werk von Baschwitz, die er in einigen wichtigen biographischen Fragen ergänzt bzw. korrigiert. Aus deutscher Sicht erscheinen in dieser eingängig geschriebenen Biographie die Verdienste von Baschwitz um die Wiedereingliederung der deutschen Zeitungs-/Publizistikwissenschaft in die internationale Fachgemeinschaft während der 1950er Jahre zu wenig gewürdigt. ARNULF KUTSCH, MÜNSTER Gehrke, Pat J. / Keith, William M. (Hg.): A Century of Communication Studies. The Unfinished Conversation. New York, London: Routledge 2015, XI, 308 S. Während in Europa die ersten professionell organisierten Fachgesellschaften für das kommunikations- und medienwissenschaftliche Disziplinenfeld erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Erscheinung getreten sind, kann die 1914 ins Leben gerufene »National Communication Association« (NCA), heute die größte und wichtigste Fachgesellschaft für Kommunikationsforscher in den USA, bereits auf eine über hundertjährige Geschichte zurückblicken. Aus Anlass des Gründungsjubiläums haben Pat J. Gehrke und William M. Keith diesen Band vorgelegt. Die elf Beiträge schreiben vor dem Hintergrund der Organisationsgeschichte der NCA zugleich eine Fachund Theoriengeschichte der US-amerikanischen Communication Studies: »It may not be that their fates are intertwined, or that one persistently guides the other, but the study of the NCA is at minimum a useful lens or
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen possibly even a synecdoche for the study of the discipline« (S. 18). Im Vergleich mit Deutschland und dem dort dominant historisch-nationalökonomisch geprägten Entstehungszusammenhang gehen die Gründungsimpulse für die Communication Studies in den USA hauptsächlich von der fachlichen Vielfalt der English Studies aus. Und anders als in Deutschland drehte sich frühe fachliche Identität nicht primär um immer neue Medien als materiale Erkenntnisobjekte, die im Wesentlichen wegen ihres Anteils an der Herstellung und Vermittlung von Öffentlichkeit interessierten, sondern orientierte sich stärker an kommunikativen Phänomenen der Sprache, des Sprechens und der Rhetorik. Hierzu passt die anekdotisch überlieferte Geschichte zur Gründung der NCA am Rande einer Konferenz von Englischlehrern im Auditorium Hotel Chicago: »The 1914 National Council of Teachers of English meeting was held there, and a group of speech teachers began the conversation, in a parlor on the second floor, that led to the formation of what is now the NCA.« Entlang der langfristigen Entwicklung der formalen Erkenntnisperspektive »from oratory, to speech, to communication« (S. 2) ist der Sammelband vor allem als diskursive und kritische Ideen- und Theoriegeschichte konzipiert. Diskutiert wird dieser Wandel als disziplinäre Verschiebung von der geisteswissenschaftlichen Tradition des »speech age« und einem breiten Zugriff auf »the whole field of human speech« (S. 56), die bis in die 1950er Jahre inhaltlich und sozial identitätsstiftend wirkte (»speech« war sogar Namenspatron für Departments, Institute und Journals), hin zu den eher medienorientierten sozialwissenschaftlichen »Communication Studies« seit den 1960er Jahren. Obwohl sich Fach und Fachgesellschaft im Zuge dieses Wandels inhaltlich und sozial modernisierten und öffneten, interpretieren die einzelnen Beiträge diesen Prozess dezidiert als Verlustgeschichte von Gegenständen, Theorieperspektiven und sogar sozialer Identität. Mit der Marginalisierung und dem Zurückdrängen von »conversation« und »human speech« als fachintegrative Phänomene, so William F. Eadie im Nachwort (S. 296), seien nicht zuletzt der fachliche Dialog und Diskurs und die großen, übergreifend verbindenden Themen verloren gegangen: »Disciplines consist of big and small ongoing conversations. If too many of the
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conversations are small ones, the discipline’s scholars tend to lose sight of disciplinary boundaries – the ›big picture‹. If too many of the conversations are large ones, there might not be enough specific scholarship going on to fill in the details. With communication, the conversation have been diffuse, perhaps too much so.« ERIK KOENEN, BREMEN Mendelssohn, Peter de: Zeitungsstadt Berlin. Menschen und Mächte in der deutschen Presse. Erweitert und aktualisiert von Lutz Hachmeister, Leif Kramp und Stephan Weichert. Berlin: Ullstein 2017, 811 S. Ein Sachbuchklassiker zur Geschichte der Presse in Berlin liegt mit der Neuausgabe des »Mendelssohns« vor. Es ist der Nachdruck der zweiten Ausgabe von 1982, der aus Anlass des 400. Geburtstags der Zeitungsstadt Berlin publiziert, erweitert und, wie es im Untertitel heißt, aktualisiert von Lutz Hachmeister, Leif Kramp und Stephan Weichert, in Zusammenarbeit mit dem Herausgeberkreis Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus angeboten wird. Der Untertitel weist auf den sachlichen Kern hin. Aber weder Mendelssohns bibliophil gestaltete Erstausgabe von 1959 mit der verschwenderischen Fülle aufwendig produzierter und sorgfältig eingebundener Faksimiles ist wiedererstanden, noch wurde die zweite, von Mendelssohn überarbeitete Ausgabe abschnittsweise »aktualisiert« und von ihrer nicht geringen Fehlerzahl, respektive von ihren Fehleinschätzungen befreit, sondern Mendelssohns Text wurde unverändert nachgedruckt. Die Neuausgabe bietet mehrere Ergänzungen: Ein instruktives Geleitwort von Hermann Rudolph, ein eher feuilletonistisch gehaltener Epilog unter dem Titel »Von der Zeitungsstadt zur Digitalwirtschaft« (59 S.), ein Nachwort (2 S.), das Mendelssohn als »Helden« feiert, dabei aber über die seine Tat verkennende Metapher »Bibel der Zeitungswissenschaft« nicht hinausführt, und neuere Titel zur Zeitungsliteratur, die in einer unübersichtlichen Bibliographie präsentiert werden. Da verwundert es nicht, dass das Personenregister unvollständig ist und etliche Fehler enthält. BERND SÖSEMANN, BERLIN Wilke, Jürgen: Journalismus und Medien in Geschichte, Forschung und Praxis. Gesam-
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melte Studien III. Bremen: edition lumière 2017 (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Bd. 107), 522 S. Nach zwei 2009 und 2011 veröffentlichten Sammelbänden mit seinen Aufsätzen legt der Mainzer Kommunikationswissenschaftler Jürgen Wilke nun einen solchen dritten Band vor. Dieser vereint 23 der von Wilke seither in zentralen deutschen und ausländischen Fachzeitschriften sowie an anderweitigen Orten erschienene Studien. Gegliedert sind sie in acht thematischen Gruppen (u. a. Fach und Theoriegeschichte der Kommunikationswissenschaft, Presse- und Journalismusgeschichte, Visuelle Kommunikation, Internationale Kommunikation, Wahlkampfberichterstattung), die zentrale Schwerpunkte seiner Forschungsinteressen bezeichnen. Verwiesen sei an dieser Stelle auf zwei Untersuchungen über die theoretischen und wissenschaftssoziologischen Entwicklungsstadien der Kommunikationswissenschaft sowie zwei berufsgeschichtliche Studien über die Herausbildung journalistischer Normen und den Wandel journalistischer Praktiken. Auch wenn die Mehrzahl der Beiträge kommunikationshistorischen Erkenntnisinteressen und Fragestellungen folgt, dokumentiert der Band, dass Wilke stets ebenso kompetent und wegweisend im weiten Feld der sozialwissenschaftlichempirischen Kommunikationswissenschaft forscht. Nicht zuletzt aber belegt der Band die enorme Schaffenskraft, die sich der Mainzer Gelehrte auch in den Jahren nach seiner Emeritierung bewahrt hat. ARNULF KUTSCH, MÜNSTER Danyel, Jürgen / Paul, Gerhard / Vowinckel, Annette (Hg.): Arbeit am Bild. Visual History als Praxis. Göttingen: Wallstein 2017 (= Visual History. Bilder und Bildpraxen in der Geschichte, Bd. 3), 240 S. »Visual History« kann genauso wenig mit einer knappen Formulierung ins Deutsche übersetzt werden, wie das Gemeinte mit nur wenigen Sätzen ausreichend zu beschreiben ist. Wer sich aber etwas ausführlicher darüber informieren möchte, wie sich dieser Forschungsbereich in den letzten Jahren entwickelt hat, in welcher Weise er das Gebiet der traditionellen textorientierten Geschichtswissenschaft erweitert und welche Möglichkeiten ihm noch offen stehen, der muss den
profunden, klar gegliederten Überblick des Pioniers dieses Ansatzes, Gerhard Paul, studieren (»Vom Bild her denken«, S. 15–72). Den Erwartungen, die dieser Einstieg weckt und die von den Herausgebern noch insofern geschürt werden, als sie in ihrer Einleitung die Beiträge ihres Sammelbandes als »Best-Practice-Beispiele« im Umgang »mit den noch ungewohnten Quellen« bezeichnen (S. 8), werden die folgenden acht Beiträge jedoch höchstens ansatzweise gerecht. Fast durchweg verdeutlichen sie vor allem die große Kluft zwischen Anspruch und realisiertem Werk – ein Grundproblem, das sich schon darin artikuliert, dass von den ursprünglich 19 Beiträgern zu der Anstoß gebenden Berliner Tagung im März 2016 nur Texte von fünf Autoren tatsächlich Aufnahme in den Band fanden. Unbedingt lesenswert ist der Beitrag von Stephan Scholz, der kritisch »Ikonen der Flucht und Vertreibung« durchleuchtet (S. 137–157), und dabei nicht nur am Beispiel konkrete Kanonisierungs- und Ikonisierungsprozesse analysiert, sondern auch die »bis heute zentrale Motivikone des Trecks« (S. 139) überzeugend auf die nationalsozialistische Propaganda des frühen (und nicht des späten!) Zweiten Weltkriegs zurückführen kann. Wesentlich ambivalenter ist der Eindruck, den die meisten anderen Beiträge hinterlassen. Wenn es richtig ist, wie die Herausgeber selbst formulieren (S. 11), »dass Bilder nur dann forschungsrelevant sind, wenn sie neue Aspekte ins Spiel bringen, alte Befunde widerlegen oder zumindest in neuem Licht erscheinen lassen oder wenn sie Wissen generieren, das sprachliche Quellen gar nicht enthalten,« so rechtfertigen die Erkenntnisgewinne, die mit der von Ulrike Pilarczyk vertretenen »seriell-ikonografischen Fotoanalyse« am Beispiel jüdischer Jugendfotografie in der Weimarer Zeit gewonnen wurden (S. 75-99), genauso wenig den dahinter stehenden Aufwand wie die von Silke Betscher vorgestellte und das Problem der Bestimmung der die Grenzen ihres Untersuchungsmaterials auch nicht ansatzweise thematisierende visuelle Diskursanalyse. Der allgemeinen Feststellung Agnes Labas, dass »Landkarten Ergebnis und Ausdruck spezieller Wissensbestände einer bestimmten Gesellschaft zu einem
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen bestimmten historischen Zeitpunkt« sind (S. 180), ist schließlich vorbehaltlos zuzustimmen. Um die damit verbundene Problematik zu illustrieren, genügt es jedoch nicht, ein Beispiel aus einer entlegenen Veröffentlichung heranzuziehen und bei einem zweiten den eigentlich relevanten Befund, es sei »auch in zahlreichen Tageszeitungen abgedruckt« worden (S. 195), mit dieser lapidaren Bemerkung und ohne weitere Belege abzutun. KONRAD DUSSEL, FORST Radtke, Wolfgang: Brandenburg im 19. Jahrhundert (1815–1914/18). Die Provinz im Spannungsfeld von Peripherie und Zentrum. Berlin: BWV – Berliner Wissenschafts-Verlag 2016 (= Bibliothek der Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Bd. 15), 887 S. Der Titel dieser monumentalen Provinzgeschichte deutet an, warum Brandenburg eine der interessantesten preußischen Provinzen war: Sie bot, wie unter einem Brennglas, detaillierten Einblick in die Friktionen der Modernisierung. Das urbane Kerngebiet ist Lokomotive des Fortschritts und Attraktor der Bevölkerungsbewegungen; das verstärkt sich noch, als Berlin 1881 aus dem Provinzialgefüge ausscheidet. Die ländliche Peripherie hingegen droht abgehängt zu werden, verliert Leute und hält – trotz großer Investitionen in die Infrastruktur – nur mit Mühe Anschluss. Damit ist die Provinz in vielerlei Hinsicht ein Preußen im Kleinen und exemplarisch für Klein-Deutschland nach 1871. Aus kommunikationshistorischer Perspektive ist die quellendichte Beschreibung der strukturellen Veränderungen in Vereinen, Kultur und Gesellschaft sowie bei den Verkehrs-Infrastrukturen am interessantesten. Unterbelichtet bleibt das Pressewesen. Das schmälert die Bedeutung der gewichtigen regionalgeschichtlichen Abhandlung kaum, da die Verwerfungen und die Dynamik des Modernisierungsprozesses im langen 19. Jahrhundert sehr gut ausleuchtet werden. RUDOLF STÖBER, BAMBERG Dreckmann, Karin: Speichern und Übertragen. Mediale Ordnungen des akustischen Diskurses, 1900-1945. München: Wilhelm Fink 2018, 357 S. Die Annahme, dass Medientechnologie soziale und kulturelle Effekte zeitigt, dürfte
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kaum auf Widerspruch stoßen. Sie klingt einfach, ist aber durchaus anspruchsvoll. Denn um das Wirkungsverhältnis zu ergründen und die besagten Effekte im Einzelfall zu ermessen, bedarf es einer Forschung, die zugleich historische Quellen erschließt und sich von medientheoretischen Konzepten informieren lässt. Vor diesem Hintergrund erscheint die hier zu besprechende, für den Druck überarbeitete Dissertation zur Geschichte akustischer Speicher- und Übertragungsmedien in Deutschland während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchaus vielversprechend. Auf der einen Seite deckt die medienhistorische Darstellung in vier Kapiteln zur Frühgeschichte des Grammophons (1.), zum Einsatz der Tonaufnahme in der Wissenschaft und der Konzeption von Lautarchiven (2.) sowie zum Radio in der Weimarer Republik (3.) und im Nationalsozialismus (4.) die zentralen Themenfelder ab. Das kleinteilige Inhaltsverzeichnis weist die wichtigsten Aspekte aus, die dabei zu berücksichtigen sind. Auf der anderen Seite betreibt die Verfasserin einen Begriffsaufwand, der weit über das in gängigen Mediengeschichten Übliche hinausgeht. Die lange Liste der medientheoretischen Positionen reicht von den Überlegungen Friedrich Kittlers über Jan und Aleida Assmanns Gedächtniskonzepte und Michel Foucaults Archäologie des Wissens bis zu Klaus Theweleits neurobiologisch-psychoanalytischen Thesen zur Wirkung von Musik. Die mediengeschichtliche Darstellung gerät dann aber vergleichsweise konventionell, indem sie sehr weitgehend den in der Disziplin etablierten Interpretationslinien folgt. Dass etwa das Weimarer Rundfunkprogramm stark vom bildungsbürgerlichen Kanon von Musik und Literatur geprägt war und sich rundfunkspezifische Formate nur allmählich herausbildeten, wird in der Disziplin ebenso wenig in Zweifel gezogen wie die propagandistischen Absichten nationalsozialistischer Rundfunkpolitiker, die ihre Hörerschaft vor allem mit Unterhaltungssendungen zu erreichen und zu einer »Volksgemeinschaft« zu vereinen suchten. Die Verfasserin verwendet ihr heterogenes Theoriearsenal nur sehr ansatzweise dazu, alte Deutungen herauszufordern oder neue Fragen zu stellen. Und da sie in den Kapiteln auf jeweils unterschiedliche Forschungen Bezug nimmt, fällt es schwer, einen
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die gesamte Arbeit durchziehenden roten Faden zu entdecken. Die Forschungsfrage, »wie (kulturelle; KN) Verfügbarkeit medienarchäologisch und geschichtlich wirkt und wie diese Verfügbarkeit der Medien Ordnung schafft« (S. 15), und die These, »kulturelle Techniken der Speicherung und Übertragung haben eine neue Medienordnung ermöglicht, innerhalb derer sich neue Formen, Formate, Genres und Gattungen des Akustischen konstituiert haben« (ebd.), sind zu allgemein, um die vier Kapitel zu einer Einheit zusammenzubinden. Auch die in der Einleitung formulierte Absicht, »eine Gedächtnistheorie akustisch-medialer Speicher- und Übertragungsprozesse« zu entwerfen (S. 34), wird nicht konsequent verfolgt. Umgekehrt bleibt auf der theoretischen Seite manche grundlegende Frage unbeantwortet. So postuliert die Verfasserin beispielsweise im Kapitel zum NS-Rundfunk mehrfach, dass die Hörerinnen und Hörer »durch ihre Wünsche und Resonanz« einen »Anteil an der Programmgestaltung hatten« (S. 273) und »sozusagen mit dem ›Ein/Aus‹-Knopf für Unterhaltung votierten« (S. 322). Gewünscht hätte man sich in einer medientheoretisch informierten Studie mehr Skepsis gegenüber dieser unter Historikerinnen und Historikern verbreiteten Deutung, welche die prinzipielle Unbekanntheit des leibhaften Publikums und seiner zukünftigen Präferenzen ebenso ausblendet wie die eigentlich der Untersuchung werte Tatsache, dass mit dem Argument des Publikumswunsches Programmpolitik gemacht wurde, auch und gerade im Propagandafunk der Nationalsozialisten. Unter dem Strich bietet die zu besprechende Studie eine Zusammenfassung bekannten mediengeschichtlichen Wissens, ergänzt um die Vorstellung einer Reihe interessanter medientheoretischer Überlegungen. Eine tiefergehende wechselseitige Durchdringung dieser beiden Aspekte und eine schärfere Fokussierung auf ausgewählte Forschungsfragen hätte den Wert dieser Arbeit erheblich gesteigert. KLAUS NATHAUS, OSLO Epkenhans, Michael: Der Erste Weltkrieg, Stuttgart: UTB 2015, 282 S. Das Werk soll hier vor allem deshalb kurz angezeigt werden, weil es auf knappem Raum einen für die Lehre vorzüglich geeigneten
Überblick nicht nur über die Konstellationen und internationalen Beziehungen bietet, die zum Ersten Weltkrieg führten, sondern auch die Ereignisse dieser militärischen Auseinandersetzung, wobei der Autor seine Stärken als Militärhistoriker besonders ausspielt, wird doch beeindruckend geschildert, was es bedeutet, wenn Millionen Menschen umfassende Heere aufeinander losgehen. Vorzüglich dargestellt ist auch die deutsche Besatzungspolitik in Ost und West, ebenso die Entwicklung der sogenannten Heimatfront und der dort veranstalteten Propagandaaktionen wie Kriegsausstellungen und Nagelungsaktionen. Selbst das jüdische Engagement im Krieg wird beschrieben und dabei der Antisemitismus erwähnt, der mit der sogenannten Judenzählung im Heer Ende 1916 verbunden war. Sehr wohltuend ist die klare Position des Autors angesichts der von den Medien gepuschten Schlafwandlerdiskussion. Er hält es für richtig, den jeweiligen Anteil auch der anderen Mächte am Kriegsausbruch auszumessen, doch solle die deutsche Verantwortung nicht heruntergespielt oder gar ausgeblendet werden. Die Diskussionen unter jenen, die sich quellennah insbesondere mit der englischen, französischen und russischen Politik befasst hätten, mache deutlich, dass manche polemisch formulierte, den deutschen Anteil an der Zuspitzung der internationalen Spannungen vor 1914 relativierende Thesen der Überprüfung durch weitere Detailforschungen bedürften. (S. 22) Es ist gerade für die universitäre Lehre vorbildlich, wie der Autor seine eigenen Positionen ohne Wenn und Aber darlegt, aber dabei andere Auffassungen nicht verschweigt, sondern so darlegt, dass dem Leser die Möglichkeit zur eigenen Urteilsbildung geboten wird (z.B. S. 41–43) HOLGER BÖNING, BREMEN Exner, Lisbeth / Kapfer, Herbert: Verborgene Chronik 1915-1918. Berlin: Galiani 2017, 815 S. Hoffentlich wird das Publikum diesem voluminösen, inhaltsreichen, sorgfältig redigierten und mit einer ausführlichen Zeittafel versehenen Sammelband mit Tagesnotizen aus dem Ersten Weltkrieg eine ähnliche Beachtung schenken wie etlichen Büchern zu dem Thema im Jahr 2014. Zahllose Einzelschicksale werden dokumentiert: Erlebnisse,
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen Erfahrungen und Reflexionen, euphorische, nüchterne oder skeptische Kommentare zum Geschehen an Front, zu Angst, Leid und Grauen in der Etappe und Heimat. Die Nachlebenden, die das Ende des Krieges und seine Folgen kennen, können Hoffnungen, Befürchtungen und Sorgen von über einhundert Diaristen bedrängend nah nachvollziehen. Die sprachlich-stilistischen Formen differieren, denn die Herausgeber haben Wert daraufgelegt, Personen unterschiedlicher sozialer Herkunft, beruflicher (militärischer) Funktionen und Intelligenzgrade zu berücksichtigen. Aber wieso wird 1914 ausgeklammert (auch in der Chronik), warum gibt der Titel 1918 an, wenn 1919 mitberücksichtigt ist, weshalb fehlen ein Personenregister und Hinweise auf vollständig edierte Tagebücher, warum findet sich bei der Autoren-Biographie nicht der Nachweis aller Textstellen, der eine vertiefte Rezeption eines jeden Autors ermöglicht hätte – und weshalb sind belanglose Zweizeilen-Zitate aufgenommen worden? Das Kompendium darf zu bleibenden Zeugnissen der großen Katastrophe gezählt werden: Es belegt auch eindrucksvoll, welche kulturgeschichtlichen Schätze das »Deutsche Tagebucharchiv« in Emmendingen bei Freiburg bereithält. BERND SÖSEMANN, BERLIN Jones, Mark: Founding Weimar. Violence and the German Revolution 1918–1919. Cambridge: Cambridge University Press 2016, 380 S. Jones, Mark: Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik. Berlin: Propyläen 2017, 432 S. »Founding Weimar« sei, so schreibt ihr Verfasser Mark Jones, die erste Studie, die mit Blick auf die Gründungsphase der Weimarer Republik »politische Gewalt« zum zentralen Thema mache (S. 1). Jones fragt, welche Ereignisse, reale wie fiktive, zur – wie er meint – generellen Akzeptanz sogenannter staatlicher »Gründungsgewalt« (»foundation violence«) in der deutschen Bevölkerung beigetragen haben (S. 2). Von der friedlichen Matrosenrevolte bis zur Niederschlagung der Münchener Räterepublik entwickelt der Autor in acht Kapiteln eine minutiöse Analyse der politischen Gewaltkultur 1918/19. Dabei stützt sich Jones hauptsächlich auf Ego-Dokumente und eine verdienstvolle Auswertung
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der zeitgenössischen Presse. Er stellt die These auf, dass die vor allem medial und situativinterpersonal vermittelte Angst vor revolutionärer Gewalt (Stichwort »Gerüchte«) innerhalb von sechs Monaten die Eskalation physischer Gewalt forcierte (S. 4). Die gewaltsame Niederschlagung der Revolution versteht er als einen »performativen« Akt der Machtdemonstration des neuen Staates (z.B. S. 4; 290). Jones benennt Medieninhalte präzise, indes bleibt die Untersuchung der Medienwirkung hinter der Presseauswertung zurück. So verflechtet er etwa im Unterkapitel »Liebknecht Fixation« Presseberichterstattung und Tagebucheinträge zu einem Gesamtbild, das den Eindruck vermittelt, ein Großteil der Deutschen habe die Person Liebknechts als stetig wachsende Bedrohung wahrgenommen – und impliziert sowohl Decodierverhalten als auch Stimmungsbild einer nicht näher bestimmten Allgemeinheit, das sich auf der Grundlage einzelner Aussagen kaum konstruieren lässt. Das Buch mit dem biblisch-martialisch anmutenden Titel »Am Anfang war Gewalt« gibt sich als Übersetzung der oben besprochenen englischsprachigen Version aus – keinerlei editorische Anmerkungen stellen dies in Frage. Doch nicht nur die Buchtitel, sondern auch die Kapiteleinteilungen weichen voneinander ab (in der englischen Version acht gegenüber 15 Kapiteln in der deutschen Ausgabe). Diese Tendenz setzt sich auf inhaltlicher Ebene fort. Benötigt beispielsweise die englischsprachige Fassung zur Schilderung eines blutigen Zusammenstoßes zwischen regierungstreuen Truppen und Demonstrierenden am 3. November in Kiel 188 Wörter (S. 40), so wächst die Darstellung desselben Ereignisses in der deutschen Übersetzung auf 460 Wörter an (S. 40–41) – eine beachtliche Wortvermehrung, die dem Umstand geschuldet ist, dass die deutschsprachige Ausgabe auf umfangreiche Ausschmückungen zurückgreift, die im Original nicht enthalten sind. Dafür verzichtet die deutsche Übersetzung oftmals auf die Einbettung in den Forschungsstand, »Founding Weimar« wiederum nimmt diese vor. Weitere Diskrepanzen ließen sich auflisten. Von »Am Anfang war Gewalt« kann dem wissenschaftlich interessierten Leser nur abgeraten werden – ein Urteil, das auf »Founding Weimar« nicht zutrifft. ELIAS ANGELE / SIMON SAX, BREMEN
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Fischer, Michael / Jost, Christofer (Hg.): Amerika-Euphorie – Amerika-Hysterie. Populäre Musik made in USA in der Wahrnehmung der Deutschen 1914–2014. Zum 100-jährigen Bestehen des Deutschen Volksliedarchivs und zur Gründung des Zentrums für Populäre Kultur und Musik. Münster: Waxmann Verlag 2017, 387 S. Woody Guthrie – The Tribute Concerts. Audio- und Buchedition. Holste: Bear Family Records 2017. 3 CDs, 2 Bücher, insges. 240 S. Der Sammelband ist der Rezeption und kulturellen Wahrnehmung musikalischer Erzeugnisse und Praktiken aus den USA als einem zentralen Aspekt der populären Musik in Deutschland gewidmet. Der erste große Teil des Bandes befasst sich unter anderem mit »Neuen Klängen in deutschen Landen« in den Jahren 1914 bis 1945: Im Zentrum steht die Jazzrezeption zwischen den Weltkriegen etwa auch in der Berliner Presse der 1920er Jahre, die Artikulationen »afroamerikanischer« Musik in Deutschland oder das Verhältnis von Amerikaschwärmerei, Systemkritik, Frust und Desillusionierung in den Theaterprojekten von Kurt Weill und Bert Brecht. Der zweite Abschnitt ist »Von Besatzern, Freunden und Feinden« betitelt und umfasst die Jahre vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis 1960, der dritte beschreibt »Neue Freiheiten« der Jahre 1960 bis 1980, der vierte und letzte trägt die Überschrift »Vollamerikanisiert?« Leider fehlt dem, einen insgesamt guten Überblick über die Bedeutung der amerikanischen Musikkultur für Deutschland gebenden Band, ein Register. Ein Thema, das in dem Sammelband sehr kurz kommt, ist ausführlich in einer Box von drei CDs und zwei reich illustrierten Büchern mit einer Woody Guthrie-Biographie, Konzertbesprechungen, Interviews mit Konzertbesuchern, Fotos und anderen historischen Zeugnissen behandelt. Hier steht mit Woody Guthrie als Zentralgestalt jenes Phänomen der Singer Songwriter in den USA im Mittelpunkt, die neben dem französischen Chanson so großen Einfluss auf die deutsche Liedermacherszene seit Mitte der 1960er Jahre hatte und Liederdichter wie Hans-Eckardt Wenzel bis heute inspiriert. Nach Woody Guthries Tod am 3. Oktober 1967 wurden zwei »Tribute To Woody Guthrie«-Konzerte in den USA veranstaltet, eins am 20. Januar 1968 in
der New Yorker Carnegie Hall und ein zweites am 12. September 1970 in der Hollywood Bowl in Los Angeles, die hier dokumentiert sind. Im Rahmen des JanuarKonzerts traten Judy Collins, Bob Dylan mit Mitgliedern von The Band, Jack Elliott, Arlo Guthrie, Richie Havens, Odetta, Tom Paxton und Pete Seeger auf, in Los Angeles waren neben Joan Baez Jack Elliott, Arlo Guthrie, Odetta, Country Joe McDonald, Richie Havens, Earl Robinson und Pete Seeger auf der Bühne. Ein wichtiges historisches Dokument, das hier wieder zugänglich gemacht wurde. HOLGER BÖNING, BREMEN Tribukait, Maren: Gefährliche Sensationen. Die Visualisierung von Verbrechen in deutschen und amerikanischen Pressefotografien 1920–1970. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017, 438 S. In this book, Maren Tribukait makes a significant contribution to the history of crime and media, focusing on how newspapers and magazines presented crime photography, the strategies employed to provoke emotional reactions in readers, the critiques that exploitative methods generated and the efforts by regulators to set limits on the use of crime-related imagery. Rather than assuming that crime photos – like media more generally – simply served to reinforce dominant ideologies and enabled new forms of social discipline, the author focuses on their ambivalent nature as products of competing interests and complex processes of editorial and commercial negotiation. Taking a comparative approach to Germany and America (focusing on Berlin and New York), Tribukait also seeks to avoid simplistic dichotomies: without denying particular differences between the two countries – such as the role of the First Amendment in enabling broad legal tolerance for gruesome imagery in the US – she also draws out a number of commonalities, such as the dynamic struggle between photographers, editors and regulators to set, or to shift, the limits of acceptability. She takes into account the contexts of both media production and reception and explores a diverse sample of newspapers and magazines, giving particular attention to American tabloids and German Fotoillustrierten.
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen Throughout, she moves between detailed reconstructions of particular cases – many of them well known, such as the execution of Ruth Snyder, the Lindbergh kidnapping, the »St. Valentine’s Day Massacre« and the serial murders committed by Peter Kürten (the socalled »Vampire of Düsseldorf«) – and conceptual overviews. At times, she draws out perspectives that are too seldom stressed by historians, such as the sympathetic, humanising newspaper coverage given to some of those accused (or even convicted) of murder. In the German case, she also examines how images of criminality were shaped by the National Socialist regime to serve its political interests. The book contains many images, which are well used to support the authors’ analyses. In sum, this is a wellresearched and sophisticated study that should interest historians of crime and media regardless of the specific national contexts on which they work. JOHN CARTER WOOD, MAINZ Segel, Binjamin: Die Protokolle der Weisen von Zion kritisch beleuchtet. Eine Erledigung. Herausgegeben von Franziska Krah. Freiburg, Wien: ça ira 2017, 517 S. »Die in einem geheimen Keller zu Basel versammelten Zionisten aus Litauen, Galizien und Rumänien haben folgendes beschlossen …« – sarkastisch leitet der jüdische Journalist Binjamin Segel (1866–1931) in seiner »Erledigung« (1924, 16 Kapitel exklusive Einleitung) eine pointierte und wohlbegründete Widerlegung der »Protokolle der Weisen von Zion« ein, jenes berüchtigten und bis heute folgenreichen Textes, der die jüdische Weltverschwörung propagiert. Als einer der »hervorragendsten jüdischen Publizisten« seiner Zeit (Nachruf, ›Gemeindeblatt Frankfurt am Main‹, April 1931) übt Segel scharfe Quellenkritik, etwa wenn er besonders auffällige Passagen der Protokolle akribisch analysiert (8. Kapitel) oder in einer umfangreichen Gegenüberstellung nachweist, dass ihr Verfasser aus der Schrift »Dialogue aux enfers« (1864) von Maurice Joly abgeschrieben hatte (9. Kapitel). Dem angezeigten Buch sind zahlreiche Aspekte zur Kommunikationsgeschichte der »Protokolle« zu entnehmen, u.a. die Darstellung ihrer Resonanz in Medien wie der Londoner ›Times‹ und auf Versammlungen (z.B. S. 137–140); die bereits enthaltenen Fiktion
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einer fremdgesteuerten »Lügenpresse«, hier »Judenpresse« (S. 156–157; 176); die Untersuchung der Äußerungen von Meinungsführern, die dieser Verschwörungstheorie das Wort redeten (u.a. Reventlow, Ford, Ludendorff, Rosenberg; 13. Kapitel); schließlich die Frage nach der Vorbildfunktion der »Protokolle« für Verfahrensweisen des Goebbelsschen Ministeriums (S. 249–257; vgl. Stein: Adolf Hitler, Schüler der »Weisen von Zion«, 2011 [1936]). Freilich, Segel führt gegen die Unfähigkeit zu denken das Wort und die Ratio ins Feld. Des Widerspruchs ist er sich bewusst: »es ist zwecklos, gegen diese Art von Beweisführung anzukämpfen«, denn der Antisemitismus »flüchtet sich […] in das Gebiet des […] mystisch verbrämten Aberglaubens« (S. 482). Und dennoch fühlt Segel sich verpflichtet, der Verschwörungstheorie mit den Mitteln der Vernunft entgegenzutreten (z.B. S. 142). Damit steht er in der geistigen Tradition des »Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens«, in dessen Philo-Verlag sein Text 1924 zuerst erschien. Es ist das große Verdienst Franziska Krahs, die »Erledigung« neu herausgegeben und sorgfältig editiert zu haben. Darüber hinaus rundet sie den Text mit einer biographischen Skizze Segels ab (S. 487–505) und bereichert die Journalismusgeschichte der Weimarer Republik um Erkenntnisse über einen ihrer Protagonisten aus dem Umfeld der deutsch-jüdischen Presse: Segel schrieb u.a. für ›Ost und West‹, das ›Frankfurter Israelitische Familienblatt‹, ›Im deutschen Reich‹ und die ›C.V.Zeitung‹. Zudem leitet Krah die »Erledigung« mit einem Überblick zur Geschichte der »Protokolle« ein (S. 7–29). Hier erfährt der Leser, dass der Text auch nach 1945 weltweit »ein sehr lebendiges Dokument geblieben« ist (S. 16). So bleibt die Betrachtung von Segel gültig: »Die Geschichte [hat] das Experiment« noch nicht abgeschlossen, »was man alles in einem aufgeklärten Zeitalter […] den Klassen zumuten darf« (S. 37). SIMON SAX, BREMEN Pittrof, Thomas (Hg.): Carl Muth und das ›Hochland‹ (1903–1941). Freiburg i. Br.: Rombach 2018 (= Catholica. Quellen und Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte des modernen Katholizismus, Bd. 4.1), 609 S. Die katholische Publizistik gehört nicht
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gerade zu den bevorzugten Untersuchungsfeldern der Medien- und Kommunikationsforschung. Und der aktuelle Bedeutungsverlust der konfessionellen Medien motiviert offenbar auch nicht besonders zur Beschäftigung mit ihrer wechselvollen und facettenreichen Vergangenheit. Umso bemerkenswerter ist der voluminöse Sammelband, den der Eichstätter Literaturwissenschaftler Thomas Pittrof über »Carl Muth und das ›Hochland‹« vorgelegt hat. Muth (1867–1944) erregte mit zwei programmatische Schriften am Ende des 19. Jahrhunderts erstmals Aufmerksamkeit; darin beklagte er die Trivialität und Rückständigkeit der zeitgenössischen katholischen Literatur. Die von ihm 1903 gegründete und bis zur Einstellung durch die Nationalsozialisten 1941 herausgegebene Monatsschrift ›Hochland‹ versuchte einen Brückenschlag zwischen dem akademischen katholischen Milieu und den zum Teil kirchenkritischen aktuellen Strömungen in Politik, Gesellschaft, Literatur, Kunst und Wissenschaft. Die Gliederung der Beiträge, die in der Mehrzahl zuerst auf einer von Hans Maier initiierten Tagung im November 2014 vorgetragen wurden, folgt der Chronologie. Am Beginn steht eine Analyse der Kommunikationsziele der neuen Monatsschrift im Jahrzehnt nach der Gründung. Maria Christina Giacomin, die über die Literaturkritik im ›Hochland‹ promoviert hat, zeichnet die Gründungsgeschichte nach und sieht die Blattlinie realisiert im »›goldenen Mittelweg‹ zwischen Kirche und moderner Welt«, wobei sie eine »Pluralität der Stimmen« registriert (S. 69). Weitere Beiträge befassen sich mit der Bildpublizistik und Kunstvermittlung (samt einer umfangreichen Dokumentation im Anhang des Bandes) sowie der Positionierung zu bestimmten Dichtern und zu ausgewählten Themenfeldern, etwa der Berücksichtigung ausländischer Kulturen. Otto Weiß, der kurz vor Erscheinen des Bandes verstorbene Wiener Religionshistoriker, liefert präzise biographische Porträts der Redakteure und der Mitarbeiter – oft eigenwillige Persönlichkeiten und profilierte Autoren, mit denen der durchaus autoritäre Muth im Laufe der Jahre nicht immer konfliktfrei zusammenarbeitete. In den meisten Aufsätzen wird deutlich, dass diese Monatsschrift, die in manchen Jahren fünfstellige Auflagenzahlen erreichte, mannigfa-
che Impulse zu einer religiösen Neubesinnung in einer zunehmend säkularisierten Umwelt gab, und das auf hohem intellektuellem Niveau. War ›Hochland‹, wie 1965 in einer Münchner Dissertation behauptet, »die bedeutendste Zeitschrift des geistigen Widerstandes« gegen den Nationalsozialismus? Nach einer akribischen Artikel- und Dokumentenanalyse kommt Hans Günter Hockerts zum Ergebnis, dass man hier »eher von Abstand als von Widerstand sprechen sollte« (S. 442). Thomas Pittrof, einer der besten Kenner der Literatur- und Kulturgeschichte des modernen Katholizismus, legt mit diesem mit Anmerkungen reichlich gespickten Band ein materialreiches Kompendium vor, das vor allem Philologen, Theologen und Historiker erfreuen dürfte. Als Kommunikationswissenschaftler vermisse ich den Blick über den Tellerrand: Eine Einordnung und Abgrenzung zur zeitgenössischen Publizistik zwischen Kaiserreich, Weimarer Republik und NaziRegime findet so gut wie nicht statt. WALTER HÖMBERG, EICHSTÄTT/WIEN Corner, Paul (Hg.): Popular Opinion in Totalitarian Regimes. Fascism, Nazism, Communism. Oxford: Oxford University Press 2017, 234 S. Der Sammelband geht auf einen Workshop im Juni 2006 zurück, er wurde in der ersten Auflage 2009 veröffentlicht und erscheint jetzt als Paperback, wobei nicht klar ist, ob der Verlag damit der großen Nachfrage entspricht oder ob er – wie in letzter Zeit vor allem bei angloamerikanischen Verlagen zu beobachten – durch eine Ausgabe im neuen Gewand, Bibliotheken zum erneuten Kauf bewegen will. Wie dem auch sei, die Neuausgabe kann bei diesem anregenden und wohlüberlegten Band dazu beitragen, ihm die Aufmerksamkeit zu verschaffen, die er verdient hat und die ihm bisher nicht überall zugekommen ist. Die Beiträge, die alle von ausgewiesenen Spezialisten auf ihrem Feld stammen, nehmen sich vor, die öffentliche Meinung in der stalinistischen Sowjetunion, im nationalsozialistischen Deutschland, im faschistischen Italien und in den Diktaturen Polens und der DDR nach 1945 zu untersuchen. Paul Corner hält in seiner Einleitung fest, dass die Problemstellung, der »popular opinion« in Diktaturen nachzugehen, immer noch auf Erstaunen stoßen könne, da für die Totalitarismus-
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen forschung die Ausschaltung von Öffentlichkeit ein zentrales Definitionskriterium totalitärer Regime bleibe. Für das nationalsozialistische Deutschland muss Ian Kershaw dieser Einschätzung in seinem Forschungsüberblick beipflichten; denn nachdem es mit der Alltagsgeschichte in den 1980er Jahren einen Aufbruch hin zur Frage nach Konsens, Mitbestimmung und Mitarbeit gegeben habe, sei inzwischen eine Rückkehr zu Vorstellungen von der totalen Kontrolle und mächtigen Propaganda zu verzeichnen. An Sheila Fitzpatricks Forschungsüberblick zur öffentlichen Meinung im Vorkriegsstalinismus, an den Beiträgen zur Sowjetunion und zur DDR wird dann deutlich, dass die Diskussion bei den kommunistischen Diktaturen ein gutes Stück weiter ist. Jan Plamper identifiziert in seinem Beitrag nach der klassischen totalitären Interpretation und den Revisionisten, die stärker den Konsens in den Vordergrund rückten, nun einen neorevisionistischen Ansatz, der den Eigensinn der Bevölkerung entdecke, und eine poststrukturalistische Interpretation, die meint, aus den zeitgenössischen Berichten nur noch Informationen über das Regime selbst ziehen zu können. Die hier versammelten Beiträge teilen weder den poststrukturalistischen Pessimismus noch tappen sie in die Falle totalitärer Vereinfachungen. Sie schreiben alle daran mit, die binäre Gegenübersetzung von Kontrolle und Widerstand bzw. Zustimmung und Dissens zu überwinden, und zeichnen so ein Bild von Öffentlichkeiten, in denen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erstaunlichen Schwung an den Tag legten und aktiv in die Gestaltung der Öffentlichkeit miteinbezogen waren, in denen lebhafter diskutiert werden konnte und eine breitere Palette von Meinungen zulässig war als gemeinhin angenommen,. Methodisch ist der Band ein Aufruf dazu, Individuen in unterschiedlichen sozialen Situationen unterschiedliche Rollen zuzugestehen und kritische Äußerung auch als Ausdruck des Engagements für eine Diktatur zu lesen. Ein Ansatz müsse das Ziel sein, so schließt Jan Plamper, »[to] integrate a Sovjet subject who pushed his way through the crowds toward the Mausoleum on the morning of 5 March 1953 and cried profusely, told an anti-Stalin joke in the evening, and went on to live another half-century« (S. 75). PATRICK MERZIGER, LEIPZIG
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Burmistr, Svetlana: Die ›Minsker Zeitung‹. Selbst- und Fremdbilder in der nationalsozialistischen Besatzungspresse. Berlin: Metropol 2016, 364 S. Im Juni 1941 marschierten deutsche Truppen in die Weißrussische Sowjetrepublik ein. In der Folge unterstand das Territorium dem (Militär-)Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebiets Mitte, bevor es am 1. September an ein ziviles Besatzungsregime überging. Der Westteil Weißrusslands, der bis zum HitlerStalin-Pakt zu Polen gehörte, wurde mit dem Gebiet um Minsk zum Generalbezirk Weißruthenien vereinigt, der fortan mit Litauen, Lettland und Estland das Reichskommissariat Ostland mit Sitz in Riga bildete; Generalkommissar Weißrutheniens wurde Wilhelm Kube, vormals NSDAP-Gauleiter der Kurmark. Die neuen Machthaber ließen keinen Zweifel daran, dass sie sich auf Dauer zu etablieren gedachten. Am 15. April 1942 gründeten sie die ›Minsker Zeitung‹, die sechs Mal pro Woche, sechsspaltig in Antiqua gesetzt und großzügig illustriert, in insges. 680 Ausgaben erschien. Am 28. Juni 1944 kam das Ende, am 3. Juli eroberten Einheiten der 5. sowjetischen Garde-Panzerarmee die Stadt Minsk. Svetlana Burmistr porträtiert in ihrer (trotz prekärer Quellenüberlieferung) detailreichen, strukturierten Dissertation, die sie am Institut für Antisemitismusforschung der TU Berlin schrieb, einen neuen Pressetypus, der bisher nur wenig erforscht wurde. Die NS-Okkupanten installierten in 14 Staaten Besatzungszeitungen in deutscher Sprache. Die Blätter stießen auf Resonanz, erreichten in der Addition eine Millionenauflage und waren finanziell einträglich. Die ›Minsker Zeitung‹ entpuppte sich vom Start weg als ein Organ von kategorischer Regimetreue, das sich großspurig, pathetisch und phrasenhaft im Politjargon der Zeit erging. Die Redaktion wurde aus erfahrenen Parteijournalisten, Männern und Frauen, rekrutiert, die ihre Karriere befeuern oder dem Kriegsdienst entweichen wollten; die Herstellung besorgten einheimische Kontrakt- und Zwangsarbeiter. Die Zeitung erschien im Europa-Verlag, einer Tochter der Franz Eher Nachf. GmbH in München, des Zentralverlags der NSDAP, der zum größten Medienkonzern des Reiches gewachsen war. Schon im Sommer 1942 erzielte sie eine Auflage von 70.–90.000 Exemplaren, die später auf 120.000 anstieg. Das Lesepublikum bestand aus
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im Land stationierten oder durchreisenden Militärs, Angehörigen der SS, der Polizei und der Organisation Todt, Zivilbeamten und Mitarbeitern von Firmen, die im Osten ihren Geschäften folgten. Die ›Minsker Zeitung‹ war Sprachrohr der Kube-Administration und der Regierung in Berlin. Zugleich fügte sie sich den Wünschen ihrer Rezipienten, die auf (unverstellte) Berichte aus der Region und Neuigkeiten aus der Heimat Wert legten. Und sie hüllte sich in Schweigen, wenn es das politische Kalkül erforderte. So war die Ermordung der weißrussischen und der aus Westeuropa deportierten Juden, die sich dem Bestreben um Geheimhaltung entzog, kein Thema, das die ›Minsker Zeitung‹ jemals aufgriff. ALEXANDER HESSE, SIEGEN Adler, Jeremy: Das absolut Böse. Zur Neuedition von »Mein Kampf«. Bremen: Donat 2018, 94 S. Anfang 2016 erschien die kommentierte Neuausgabe von Hitlers »Mein Kampf« im Selbstverlag des Münchner »Instituts für Zeitgeschichte«. Das allgemeine Interesse an einem der wichtigsten Dokumente der NS-Zeit war groß. Die Kritik an dem zweibändigen Werk fiel in den Geschichts-, Sozial- und Politikwissenschaften (vgl. z.B. »Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte«, 19. Jg. 2017, S. 131–150) deutlich negativer aus als die Spontan-Besprechungen der meisten Zeitungen. Zu den frühen Kritikern der IfZ-Neuausgabe gehört Jeremy Adler. Trotz des durchgehend polemischen Tons und der häufigen Wiederholungen sind die Feststellungen des Shoa-Experten und ausgewiesenen Editors präzis und kenntnisreich. Sie zeigen, wie unzulänglich die Kommentierung des Münchner Instituts in den Bereichen Judentum, Anti-Judaismus, Antisemitismus, Verfolgungen und Holocaust ausgefallen und partiell geradezu leichtfertig formuliert worden ist. Vor diesem Hintergrund ist es unverständlich, dass das IfZ immer noch zögert, auf diese und die übrige breite fachliche Kritik einzugehen und die handwerklichen Mängel in der Editorik, in der Sache und im Formalen zu beseitigen. Etliche Stellungnahmen des Instituts sind – Adler bietet zahlreiche Belege – nicht ohne selbstgefällige Arroganz und sachlich völlig unzulänglich ausgefallen. Das Institut druckt die unzulängliche Ausgabe weiterhin nach. Die sich in Vorbereitung befindenden fremdspra-
chigen Ausgaben werden der Fachkritik eine größere Beachtung widmen müssen. BERND SÖSEMANN, BERLIN Arendt, Hannah: »Wie ich einmal ohne Dich leben soll, mag ich mir nicht vorstellen«. München: Piper 2017, 688 S. Die hier in Auswahl edierten Briefwechsel Hannah Arendts mit fünf Freundinnen und einem Freund, mit denen sie nicht zuletzt durch ihr Emigrantenschicksal verbunden war, geben nicht nur intimen Aufschluss über das Privatleben der Philosophin, sondern zeigen unterschiedlichste Facetten ihrer gesamten Persönlichkeit und nicht zuletzt auch ihres publizistischen und wissenschaftlichen Wirkens. Von der Jugendfreundin Anne Mendelssohn/Weil erhält sie eine Sammlung von Rahel Varnhagen-Büchern, als sie mit ihren postdoktoralen Forschungen über »das Problem der deutsch-jüdischen Assimilation, exemplifiziert an dem Leben der Rahel Varnhagen« beginnt, Hilde Fränkel kennt sie seit den 30er Jahren durch ihren Kontakt mit dem Frankfurter Institut für Sozialforschung, mit der Schriftstellerin und Journalistin Charlotte Beradt verband sie bis zum Tod ihres Mannes Heinrich Blücher eine ménage à trois, Rose Feitelson half, dem englischen Text von »The Origins of Totalitarianism und Human Condition« jene Perfektion zu verleihen, die Hannah Arendt so wichtig war. Persönlich berührend, gleichzeitig aber auch verlags- und buchgeschichtlich eine wichtige Quelle sind die Briefe mit dem Verlegerehepaar Helen und Kurt Wolff. Jeder einzelne dieser Briefwechsel, bei denen man sich manchmal fragt, nach welchen Kriterien hier Briefe ausgeschieden und deren Inhalt in die Fußnoten verbannt wurden, ist durch eine höchst detaillierte, sorgfältige und oft aufschlussreiche, aber manchmal auch abschreckend akademische Einleitung versehen, die einen interessanten Kontrast zu den sprachlich ganz klaren und frischen Briefen bilden. Die Brieflektüre jedenfalls ist ein wirkliches Leseerlebnis. Beeindruckend, wie eigentlich für alle Briefpartner in ihrem Verhältnis zu Deutschland neben den vielen, zu denen alle Beziehungen abgebrochen wurden, auch positive Erfahrungen mit einzelnen Persönlichkeiten wichtig sind, jene Volksschullehrerin beispielsweise, die 1942 an die
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen NSDAP schrieb, sie führe Deutschland ins Verderben, wogegen sie protestiere, und dann auf den Tod wartete, stattdessen aber von einem Gestapo-Psychiater für unzurechnungsfähig erklärt wurde. (S. 101) Zu Hilde Fränkel spricht Hannah Arendt davon, es sei ja doch die deutsche Sprache und diese unerhört schöne, heimatliche Landschaft, eine Vertrautheit, »die es nirgendwo mehr für uns gegeben hat oder geben wird«. (S. 269) Angesichts der Nachricht, dass in Deutschland dem alliierten Personal verboten werden solle, in Cafés und Restaurants zu gehen, findet sie im Januar 1950 die Bezeichnung »Drecksbagage« und schreibt, es sei ihr »sehr piepe, ob die in ihrem Dreck umkommen oder nicht«. (S. 282) Sehr pointiert und witzig auch Charlotte Beradt, wenn sie 1961 angesichts einer spanischen Ehrendoktorwürde für den deutschen Minister Erhard schreibt: »er sah wie eine Kreuzung zwischen Lampenschirm und Ku-Klux-Klan aus«. (S. 386) Angesichts ihrer Erfahrungen in der neuen Heimat schrieb Hannah Arendt dann: »was auf mich wirkte, als ich in die Vereinigten Staaten kam, war genau jene Freiheit, Bürger zu werden, ohne den Preis der Assimilation zahlen zu müssen«. (S. 523f.) HOLGER BÖNING, BREMEN Münkel, Daniela / Bispinck, Henrik (Hg.): Dem Volk auf der Spur ... Staatliche Berichterstattung über Bevölkerungsstimmungen im Kommunismus. Deutschland – Osteuropa – China. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017 (= Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Bd. 50), 270 S. Ein feines Buch, auch wenn Medien- und Kommunikationsgeschichte allenfalls am Rande vorkommen. Thema: Wie erfahren die Herrschenden, was das Volk denkt, wenn die klassischen Rückkopplungskanäle Journalismus und Meinungsforschung verstopft sind und die Öffentlichkeit auch sonst gelenkt und kontrolliert wird (etwa: Versammlungen oder Demonstrationen)? Daniela Münkel und Henrik Bispinck gehen davon aus, dass Stimmungsberichte der Geheimpolizei in den kommunistischen Staaten »die fehlende plurale Öffentlichkeit« kompensieren und hier vor allem das ersetzen sollten, was sonst der
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»öffentliche Diskurs über differierende Meinungen« leistet (S. 12 f.). Die Herausgeber haben dazu zwölf Beiträge zusammengetragen und dabei (bei dem Entstehungs- und Publikationskontext nicht verwunderlich) einen starken DDR-Schwerpunkt gesetzt. Neben einem Überblicksaufsatz von Münkel gibt es drei »Tiefenbohrungen« (Beiträge über die Jahre 1956 und 1965 sowie über den Kreis Halberstadt, S. 22) und drei Beiträge, die das Land durch die Brille westlicher Stimmungsberichte betrachten (mit Kritik an den Quellen BND und Verfassungsschutz und Lob für die Stellvertreterforschung von Infratest). Dazu kommen Aufsätze über die Sowjetunion (Berichte des Inlandsgeheimdienstes in den 1920er und frühen 1930er Jahren), über die ČSSR (vom Prager Frühling bis in die 1980er), über Polen sowie über Bulgarien und China im Vergleich. Der Beitrag von Rudolf Stöber (»Spurenlese: Deutschlands öffentliche Stimmungen zwischen Kaiserzeit und Weimarer Republik«) steht als »Exkurs« ganz am Ende – wohl weil er thematisch und zeitlich nicht ganz zu den anderen Texten passt, aber einen Bogen zur Einleitung der Herausgeber schlägt – vor allem zur Konzeptualisierung von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung. Vielleicht ist es das, was die Kommunikationshistoriker diesem Buch entnehmen können: die Anregung, hier quellenkritisch neu zu denken, und zwar nicht nur für kommunistische Staaten. MICHAEL MEYEN, MÜNCHEN Frank, Stefanie Mathilde: Wiedersehen im Wirtschaftswunder. Remakes von Filmen aus der Zeit des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik 1949–1963. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017, 451 S. mit CD. Die Arbeit, die als Dissertation bei Wolfgang Mühl-Benninghaus an der Berliner Humboldt-Universität entstanden ist, untersucht deutschsprachige Filmen, die zwischen 1950 und 1963 entstanden sind und sich auf Vorgängerfilme aus der Zeit zwischen 1933 bis 1945 beziehen. Es geht der Verf. in ihrer Untersuchung um Kontinuität und Wandel in der deutschsprachigen Filmproduktion zwischen der NS-Zeit und der frühen Bundesrepublik Deutschland der 1950er Jahre. Kommunikationsgeschichtlich stehen Werteveränderungen und Transformationsprozesse im
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Zentrum der Untersuchung, so sie sich an den Filmen aufzeigen lassen. Im ersten, historischen Teil gibt Frank eine problemorientierte, mehrdimensionale und sehr souveräne Übersicht über die Remakes in der deutschen Filmgeschichte seit den 1930er Jahren, zunächst über die Remakes nach Stummfilm- und Tonfilm-Vorgängern, dann über die Remakes im bundesdeutschen Kino. Neu ist vor allem die Darstellung der Urheberrechtskonflikte. Hier betritt sie für die deutsche Filmgeschichtsschreibung Neuland und kann aufschlussreiche Beobachtungen bezüglich der Stoffbearbeitungs- und Musikrechte anstellen. In der folgenden systematischen Analyse gliedert die Verf. den Zeitraum plausibel in drei Phasen: 1950–53, 1954–56 und 1957– 1963. Für diese drei Phasen betrachtet sie nach Genres geordnet die einzelnen Remakes und ihre Vorgängerfilme, untersucht Produktionskontexte und die Besetzung, die Differenzen in Handlungsaufbau, Figurengestaltung und den Musikeinsatz. Häufig werden historische Akzente entschärft bzw. entpolitisiert, also den gegenüber der NS-Zeit neuen bundesdeutschen Werten angepasst. Als Gesamttendenz stellt sie eine Hybridisierung der Genres, einen veränderten Musikeinsatz und einen neuen Einsatz der Off-Stimme fest, wobei sie leider eine Deutung dieses Phänomens und seiner Funktion schuldig bleibt. Interessant sind vor allem Franks Befunde zur Thematisierung der zeitgenössischen Gegenwart, die sie wiederholt in zentral erscheinenden, mentalitätsgeschichtlich aufschlussreichen Motiven erkennt: Modernisierung vs. Tradition, Sparsamkeit vs. zuviel Konsum und Arbeitseifer vs. Schlendrian, die wachsende Thematisierung von Generationenkonflikten, Beziehungsproblemen und Sexualität und nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit männlichen und weiblichen Rollenmustern. Das alles ist in der Analyse außerordentlich dicht und immer überzeugend – ja, es macht Spaß, ihre Beschreibungen der Filme zu lesen, die auch der Rezensent nicht wirklich alle gesehen hat und die er auf diese Weise kennen lernt. Im dritten Teil geht Frank schließlich auf drei Remakes und ihre Vorgängerfilme ausführlicher ein. »Detailanalysen« benennt sie sie, etwas verharmlosend; es handelt sich hier um musterhafte Filmanalysen, wie man sie
sich häufiger in der Wissenschaft wünscht. »Frühjahrsparade« (1934/35) / »Deutschmeister« (1955), »Der Herrscher« (1937) / »Sonnenuntergang« (1956) sowie »Schloss Hubertus« (1934/1954). Hier zeigt die Verf. noch einmal ihr Können der Filmanalyse, zeigt an den Differenzen die verschiedenen Eigenarten der jeweiligen Filme auf. Dabei sind ihre Analysen vor allem handlungs- und figurenbezogen, weniger filmsprachlich angelegt, gleichwohl kann sie durch die Einbeziehung von Produktions- und Rezeptionskontexten eine außerordentlich überzeugende und spannend zu lesende Darstellung liefern. In der Zusammenfassung bleibt die Verf. dabei, die Unterschiedlichkeit der Versionen und die Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Erneuerung bei den Remakes zu betonen. Dies ist nicht falsch, aber am Ende hätte man sich doch noch etwas Grundsätzliches zum Remake gewünscht, eine begriffliche Zuspitzung oder auch konziser eine theoretische Zuspitzung dessen, was Frank eigentlich en detail an vielen Stellen implizit schon entwickelt hat. Denn ihr Zusammensehen von Theater und Literatur, filmischer Adaption und Remake stellt das Remake in einen größeren kulturellen Zusammenhang der wiederholten Umwälzung von Geschichten und Stoffen, die damit kleine kulturelle Narrative darstellen und eine besondere Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt gewinnen. Die möglichen Einwände verkennen jedoch nicht, dass Frank mit diesem Buch eine herausragende mediengeschichtliche Leistung geliefert hat: eine Arbeit, die in ihrer tief greifenden Darstellung wie in ihrer sprachlichen Gestaltung als Standardwerk zu den deutschen Filmremakes der 1950er Jahre gelten kann. KNUT HICKETHIER, HAMBURG Oehmig, Richard: »Besorgt mal Filme!«. Der internationale Programmhandel des DDRFernsehens. Göttingen: Wallstein 2017 (= Medien und Gesellschaftswandel im 20. Jahrhundert, Bd. 7), 223 S. »Besorgt mal Filme!« – mit diesen Worten soll angeblich ein Politbüro-Mitglied der SED angesichts des tristen Fernsehprogramms den Intendanten des Deutschen Fernsehfunks (DFF) 1953 aufgefordert haben, für mehr Abwechslung zu sorgen. Das junge Medium sollte den ZuschauerInnen nicht nur Infor-
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen mation und Bildung bieten, sondern zunehmend auch Unterhaltung. Da die Kapazitäten der DDR-Filmindustrie bei weitem nicht ausreichten, mussten Filme und Serien im sozialistischen und – trotz der ideologischen Gefahren – auch im kapitalistischen Ausland eingekauft werden. Richard Oehmig untersucht in seiner am ZZF Potsdam entstandenen Dissertation, wie der DDF den internationalen Programmhandel institutionell und strategisch entwickelte. Damit rückt die wichtige Frage in den Blick, inwiefern der Import von ausländischen fiktionalen Produkten das DDR-Fernsehprogramm, die kulturpolitischen Werte und Normen zwischen 1952 und 1990 veränderte. Eindrücklich zeichnet der Verfasser auf breiter Quellenbasis in angenehm konziser Weise nach, dass kulturpolitische und ökonomische Motive eng miteinander verwoben waren. Ebenso leuchtet die These ein, dass sich die Grenzen des Zeigbaren in der langen Perspektive deutlich verschoben und ausländische Produkte das DDR-Fernsehen erheblich durchdrangen. Auf diese Weise näherte sich das Abendprogramm trotz des Systemwettstreits inhaltlich dem westdeutschen Fernsehen deutlich an. In der scheinbar binären Informationswelt des Kalten Krieges grenzte sich die DDR offiziell bis zu ihrem Ende über eine angeblich sozialistische Codierung der Medieninhalte vom Klassenfeind ab. Dennoch bewirkte der rasche Aufstieg des Fernsehens in der Gunst des Publikums zum Leitmedium bis zum Ende der 1960er Jahre, dass der DDF zunehmend eng mit den kapitalistischen Filmhändlern und Fernsehstationen kooperierte. Trotz der Sorge, dass importierte westliche Weltbilder das Publikum für die eigenen gesellschaftlichen Zustände sensibilisieren könnten, betrug der Anteil westlicher Filme an allen importierten bis zu 66 % im Jahre 1970. Insgesamt stieg der Anteil ausländischer Produktionen am Gesamtprogramm bis 1972 auf über 45 %. Zugleich exportierte der DDF stetig zunehmend in kapitalistische Länder. Diese ökonomischen und kulturellen Verflechtungen ermöglichten wechselseitige Transferprozesse, die, wie Oehmig eindrucksvoll aufzeigt, im Kontext des Kalten Krieges besonders relevant waren. Der Verfasser liefert hier vor allem die sorgfältig recherchierte, quantitative Grundlage, um zukünftig auch
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die qualitativen Auswirkungen auf politische und kulturelle Wahrnehmungen und Aneignungen des Fernsehpublikums zu untersuchen. KIRSTEN BÖNKER, BIELEFELD Beutelschmidt, Thomas: Ost-West-Global. Das sozialistische Fernsehen im Kalten Krieg. Leipzig: VISTAS 2017, 499 S. Gleich vier Zugänge zu einem ohnehin komplexen Thema bietet die Studie »OstWest-Global« von Thomas Beutelschmidt, die als ein Teil des DFG-Projektes »Transnationale Medienbeziehungen in Europa« am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) entstanden ist. Neben einer Organisationsgeschichte der Internationalen Rundfunkund Fernsehorganisation (OIRT), die seit 1946 von der Sowjetunion und ihren Verbündeten dominiert wurde, bietet das Buch eine Programmgeschichte der Intervision und ihres Nachrichten- und Programmaustauschs, eine Technikgeschichte der Infrastrukturen des internationalen Programmtransfers sowie eine nationale Mediengeschichte des DDR-Fernsehens als Paradigma für die osteuropäische Medienentwicklung. Überaus kenntnisreich und auf sehr breiter Quellenbasis breitet Beutelschmidt ein großes medienhistorisches Panorama des Fernsehens der östlichen Hemisphäre in der Zeit der Systemkonfrontation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus. Dem Autor geht es um »die Formen der Interaktion sowie die Selektionskriterien in Bezug auf den Programmaustausch […] die Strategien und die Aushandlungsprozesse der Protagonisten« (S. 7); dabei soll der Einfluss der OIRT und ihrer Distributionsnetze auf die globale Medienentwicklung bemessen werden. Die multidimensionale Studie bearbeitet ein klares Forschungsdesiderat und leistet in vielen Einzelaspekten wichtige Beiträge zur Mediengeschichte des Fernsehens in seiner internationalen Dimension. Allerdings lässt das Buch den Leser auch etwas ratlos zurück. Trotz vieler überzeugender Passagen verliert sich die Studie immer wieder in Details internationaler Organe und Organisationen sowie in der Multidimensionalität des Erkenntnisinteresses über alle Ebenen, Programminhalte und technischen Grundlagen hinweg. Für Nichtexperten ist das Buch daher eine Herausforderung, zumal das Resümee der Studie angesichts der Fülle des Materials
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reichlich abstrakt und teilweise unscharf bleibt. Neue Thesen oder übergreifende Erkenntnisse vermisst man – jenseits der bekannten Tatsachen, dass der Eiserne Vorhang eben doch porös war, die östliche Staatengemeinschaft durch strukturelle und technische Defizite in einen wachsenden Rückstand gegenüber dem Westen geriet und sich dennoch mit ihren Programminhalten von den 1970er Jahren an zunehmend am »Klassenfeind« orientierte bzw. diese zu adaptieren versuchte. Daher liegt die Vermutung nahe, dass die Studie zu viele Dimensionen auf einmal analysieren möchte und eine Beschränkung auf einen bestimmten Kontext oder Aspekt dieses überaus spannenden Feldes dem Buch und seinen Lesern gutgetan hätte. THOMAS GROßMANN, BERLIN Kuhnert, Matthias: Humanitäre Kommunikation. Entwicklung und Emotionen bei britischen NGOs 1945–1990, Berlin: De Gruyter Oldenbourg 2017 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 115), 318 S. Der Zusammenhang von Medienberichterstattung und humanitären Hilfseinsätzen hat in den letzten Jahren einige Aufmerksamkeit erhalten. Nachdem lange Zeit Medienberichte von Katastrophen als Spezialfall der Auslandsberichterstattung auf rassistische Stereotype, koloniale Attitüden und die Darstellungsweisen des globalen Südens hin untersucht wurden, steht inzwischen die grundlegende Frage im Vordergrund, wie Medienberichte humanitäre Hilfe verändern oder überhaupt erst möglich machen bzw. notwendig erscheinen lassen; kurzgesagt geht es um die Medialisierung des Humanitären. Auf den ersten Blick scheint der Band von Matthias Kuhnert mit dem Titel »Humanitäre Kommunikation« hieran anzuschließen. Es geht allerdings, auch wenn der Titel denkbar allgemein gehalten ist, nur um zwei britische Hilfsorganisationen: »War on Want« und »Christian Aid«. Deren historische Gründungskontexte und Organisationsentwicklung werden gestützt auf eine überzeugende Aufarbeitung der Archive souverän darlegt. Daran hätten sich nun Fragen z.B. zur Zusammenarbeit mit Journalisten, die Wirkung des Medienwandels auf die Organisationen, die Chancen, mit der eigenen Botschaft durchzudringen, und den Einfluss auf die Auslösung
von Hilfsaktionen angeschlossen, aber der Verf. will ausschließlich die Öffentlichkeitsarbeit der beiden humanitären Hilfsorganisationen untersuchen. Denn Matthias Kuhnert stellt seine Erkundungen in den eher entfernten und kaum weiterführenden Kontext der Emotionsforschung. Es sei zwar schon vielfach beschrieben worden, dass humanitäre Organisationen in ihrer Werbung auf Emotionen setzten, es bleibe aber die Frage offen, »[w]elche Funktionen sie […] genau hatten, welche Emotionen mit dem Engagement verbunden waren und wie humanitäre Organisationen versuchten, an Gefühle zu appellieren« (S. 11). Diese Frage meint der Verfasser nun mit den Materialien, die die Organisationen hinterließen, beantworten zu können. Schließlich könne er »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon« ausgehen, »dass eine humanitäre NGO mit der Abbildung eines hungernden Kindes aus Afrika Emotionen wecken wollte« und »ebenso wahrscheinlich« sei, dass die Veröffentlichung mit »der Absicht geschah, Mitgefühl und Betroffenheit gegenüber dem Kind zu wecken und nicht etwa Hass«. (S. 13) So entsteht insgesamt ein Katalog von unterschiedlichen Strategien bzw. von »emotionalen Stilen«, die die Öffentlichkeitsarbeit der beiden Organisationen ausmachten. Als allgemeine Entwicklung erkennt der Verf., dass beide Organisationen sich immer stärker darum bemühten, »ein Einfühlen mit den Menschen in der ›Dritten Welt‹ herzustellen« (S. 290). Ein solcher Katalog kann sicherlich für die PR-Forschung von Interesse sein, die versucht »humanitäre Kommunikation« zu optimieren. Leider aber gehen solche Fragen nach dem »Wie?« nicht über das Material hinaus, und der Verfasser vermeidet es, seine Fallstudien mit anderen Organisationen zu vergleichen, und auch in seinem Schlusswort unterbleibt eine Einarbeitung seiner Ergebnisse in die wachsende Forschung zum Humanitarismus. PATRICK MERZIGER, LEIPZIG Stallmann, Martin: Die Erfindung von »1968«. Der studentische Protest im bundesdeutschen Fernsehen, 1977–1998. Göttingen: Wallstein 2017 (= Medien und Gesellschaftswandel im 20. Jahrhundert, Bd. 8), 412 S. Mit seiner Dissertation über die »Erfindung von ›1968‹« im bundesdeutschen Fern-
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen sehen zwischen 1977 und 1998 ergänzt Martin Stallmann die medienhistorische Auseinandersetzung mit der 68er Bewegung um das Kapitel ihrer Nachgeschichte, indem er das andauernde »lange 1968« (S. 11) untersucht. Entstanden ist eine fundierte und lesenswerte Studie, die nicht nur zeigt, wie das Fernsehen nach dem Ende der Proteste bis zur Jahrtausendwende die Geschichte der 68er Bewegung dargestellt hat, sondern auch, wie das Zusammenspiel fernsehjournalistischer Trends und kollektiver Erinnerungsprozesse zu einer – folgt man dem Fazit der Studie – weitestgehend entpolitisierten, popkulturellen und in geographischer und zeitlicher Perspektive komprimierten Version der Protestjahre um 1968 geführt hat. Die an der Universität Heidelberg entstandene Studie orientiert sich methodisch an Fragestellungen der historischen Fernsehanalyse. Die Wirklichkeitserzählungen über »1968« versteht der Autor als »audiovisuelle Historiografie« (S. 34), die er mit der historischen Entwicklung des Mediums »Fernsehen« vom auf Aufklärung bedachten »Erklärfernsehen« zum unterhaltenden »Erzählfernsehen« verknüpft. Dabei behält er stets die Rolle einzelner Fernsehredakteure und ehemaliger Protestakteure – zuweilen in Personalunion – in der Themensetzung und -auswahl im Blick. Rund 40 dokumentarische Filme und Debattierrunden hat er auf der Suche nach »dominanten Erzählmustern« (S. 37) analysiert, von denen er schließlich vier herausgefiltert hat. Zuerst wird das Narrativ von »1968« als »Generationengeschichte« untersucht und das mediale »generation building« als Entwicklung von »Gleichaltrigen« zu »Gleichartigen« (S. 157) unter dem Einfluss der ersten Welle publizistischer Rückblicke 1977 und des Deutschen Herbstes nachvollzogen. Dem folgt die »Alteritätsgeschichte«, bei der Martin Stallmann am Beispiel der Dokumentationen über die Kommune 1 aufzeigt, wie »1968« im Fernsehen zu einem »Ausgangspunkt für ein Anderswerden der Bundesrepublik« (S. 167) avancierte. Nach dieser ausschließlich bundesdeutschen Wandlungs- und »Kanonisierungsgeschichte« (S. 226) untersucht ein drittes Kapitel, wie die internationale Dimension der Protestereignisse zu einer »Gewaltgeschichte« (S. 231) verdichtet wurde, bevor ein viertes Kapitel die
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journalistische Strategie der Personalisierung anhand von Dokumentationen über Rudi Dutschke ausleuchtet. Ein prägnant formuliertes Schlusskapitel rundet die Studie ab, die ein Schritt zur Historisierung einer Geschichte ist, deren Sendezeit noch nicht um ist. SILJA BEHRE, BIELEFELD Niese, Kristof: »Vademekum« der Protestbewegung? Transnationale Vermittlungen durch das ›Kursbuch‹ von 1965 bis 1975. Baden-Baden: Nomos 2017 (= Mediengeschichte, Bd. 2), 776 S. Hans Magnus Enzensbergers und Karl Markus Michels ›Kursbuch‹ ist sicherlich bis heute eine der bekanntesten Intellektuellenzeitschriften der Bundesrepublik Deutschland. Umso erstaunlicher, dass die Historiographie zum Kursbuch vergleichsweise überschaubar ist. Nach der wegweisenden, 2011 erschienenen Monographie von Henning Marmulla und einer 30 Jahre alten, englischsprachigen, quellenkritisch fragwürdigen Arbeit von Vibeke Rützou Petersen legt Kristof Niese nun mit seiner Dissertation eine weitere Studie vor. Nieses Grundthese lautet, dass das ›Kursbuch‹ nicht lediglich im Stile einer Hauspostille der Linken die gesellschaftspolitischen Entwicklungen dokumentierte und kommentierte, sondern sich vielmehr zu einem Handbuch der selbsternannten Revolutionäre entwickelte. Es rief zu Demonstrationen auf, verurteilte staatliche Maßnahmen und solidarisierte sich relativ unkritisch mit den Revolutionären, gleich, ob es sich um West-Berliner Studenten, kubanische Guerilleros oder italienische Hausbesetzer handelte. Suhrkamp wollte diesen Weg auch aus wirtschaftlichen Erwägungen bald nicht mehr mitgehen, die Herausgeber Enzensberger und Michel ihre intellektuelle Autonomie nicht aufgeben. Also trennte man sich. Das ›Kursbuch‹ erschien weiter im Wagenbach- bzw. Rotbuch-Verlag und erfuhr im Zuge der Radikalisierung der Studentenbewegung einen gehörigen Linksruck. Enzensbergers Wunsch, eine wirklich internationale Zeitschrift herauszugeben, erfüllte sich jedoch nicht. Es wurden Brücken über den Atlantik, nach Lateinamerika und China geschlagen, doch blieb das ›Kursbuch‹ letztlich eine bundesrepublikanische Zeitschrift. Kristof Niese entwickelt einige interessan-
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te, neue Perspektiven auf das ›Kursbuch‹, insbesondere das publizistische Umfeld und die Rezeption der Zeitschrift, indem er sie in ihre Kontexte stellt und z.B. mit dem Blick auf ›Argument‹, ›Konkret‹ und ›Kürbiskern‹ in den wachsenden »Markt für Marx« einbindet. Die Wahrnehmung der beliebten, rezeptionsgeschichtlich bisher kaum beachteten ›Kursbuch-Kursbögen‹ als neues Medium erlaubt einen lohnenden Blick auf die »Bildsprache der Neuen Linken« und bietet sicherlich Anknüpfungspunkte für weitere Untersuchungen. Darüber hinaus erfährt der Leser leider nicht allzu viel Neues. Dass das Kursbuch ein »Vademekum der Protestbewegung« war, ist sicher kein überraschendes Ergebnis, und das Hauptanliegen des Autors, »den Blick von ›1968‹ zu lösen«, wird nicht eingelöst. Im Gegenteil bestätigen sich die früheren Charakterisierungen einer Zeitschrift »um 1968«. Ein Verdienst Nieses besteht sicherlich darin, dass er die beachtliche Themenvielfalt des ›Kursbuch‹ berücksichtigt und sämtliche Hefte des Betrachtungszeitraums untersucht. Das geschieht allerdings derart ausführlich, dass das Buch mit knapp 700 Seiten sehr langatmig wird. Auffallend viele formative und grammatikalische Fehler wirken sich zusätzlich negativ auf Lesefluss und -freude aus. Kürzungen, Zwischenfazits und ein gewissenhaftes Lektorat hätten gutgetan, sodass das Buch, auch angesichts des hohen Preises von 149 Euro, insgesamt einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt. FABIAN KUHN, POTSDAM Gooding, Paul: Historic Newspapers in the Digital Age: »Search All About It!«. New York, London: Routledge 2017, XVIII, 200 S. Mit dem Anbruch des digitalen Zeitalters wird die historische Presseforschung zunehmend mit einer vollkommen neuen Forschungs- und Quellensituation konfrontiert. Infolge von großen Massendigitalisierungsprojekten und der digitalen Bereitstellung und Edition historischer Zeitungen in oftmals leicht online zugänglichen Datenbanken und Portalen entsteht seit gut zwei Jahrzehnten weltweit ein immenser Text- und nicht zuletzt Bildkorpus für diesen kommunikationshistorischen Forschungszweig. Zugleich erweitert und verschiebt sich mit dem Digitalisierungsprozess der Charakter und das Poten-
tial von Zeitungen als historische Quellen, wenn sich ganze Jahrgänge auf einmal in wenigen Sekunden im Volltext durchsuchen lassen: »The shift from physical to digital media has necessitated a shift in our understanding of the text which moves us away from the artefact and towards the interface« (S. 70). Unter dieser methodologischen Prämisse setzt sich Paul Gooding in den in diesem Buch versammelten »user studies« ganz grundsätzlich und kritisch mit dem »state of the art« und den Herausforderungen der Zeitungsdigitalisierung im alltäglichen Zusammenspiel von Bibliotheken und Nutzern auseinander und rückt dabei empirisch einige Zerrbilder und Vorurteile zurecht, die in diesem Zusammenhang kursieren – so u.a. dass Forschung mithilfe digitaler Sammlungen einfach nur noch Forschung per »Knopfdruck« sei: »user behaviour online is in many respects similar to archival research« (S. 44). Wesentlich für die nachhaltige Akzeptanz und Relevanz digitaler Portale als Forschungsgrundlage und somit die Voraussetzung für effektives Online-Forschen und -Recherchieren ist laut Gooding, inwieweit Bibliotheken nicht nur einfach digitale Infrastrukturen aufsetzen und anbieten, sondern sich künftig auch im »institutional impact« dem Leser als »User« anpassen: »Access, quality and usability define digitised collections for users and have a huge influence on how library services on the web are perceived« (S. 118). Sichtet man die gegenwärtig verfügbaren Sammlungen und Portale hinsichtlich Funktionalität und Nutzerfreundlichkeit, so charakterisieren jedenfalls nicht komfortable Interfaces oder portalübergreifende Standards das Angebot. Vielmehr stellen eine kaum zu überblickende Vielfalt und Uneinheitlichkeit den Forscher in vielerlei Hinsicht vor große forschungspraktische Probleme: »Users of large-scale digitised collections find difficulties in using search functionality to return accurate results due to poor quality metadata and OCR scanning. They also face the enforcement of a particular type of search and browsing behaviour, created by inflexible interfaces, which force all users into a narrow range of interactions. Inconsistent citation practices are caused by unstable URLs, a lack of guidance on citing scholarly digital resources and an inability to link deeply to individual items in collections
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 20 (2018) – Buchbesprechungen online« (S. 182). »Open access«, »open interfaces« und »open dialogue« (S. 183) sind in diesem Kontext die Schlüsselparameter, um in Kooperation mit den Nutzern solche Angebote zukünftig zu virtuellen Forschungsumgebungen weiterzuentwickeln: »A successful large-scale digitised newspaper collection is one that recognises the digitised source material [...]. It serves a variety of purposes: it allows [...] to access digitised materials from around the world, for free; it provides access to full text, metadata and scanned images under licences which encourage reuse; it provides an interface which supports multiple approaches to the material, and it builds user-focused design into its planning and implementation« (S. 181f.). ERIK KOENEN, BREMEN Beyer, Robert: Mit deutschem Blick. Israelkritische Berichterstattung über den Nahostkonflikt in der bundesrepublikanischen Qualitätspresse. Eine Inhaltsanalyse mit linguistischem Schwerpunkt von ›Frankfurter Allgemeine Zeitung‹ und ›Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung‹, ›Die Welt‹ und ›Welt am Sonntag‹, ›Nürnberger Nachrichten‹, ›Süddeutsche Zeitung‹, ›Die Zeit‹, ›Focus‹ und ›Der Spiegel‹. Bremen: edition lumière 2016 (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Bd. 95), 688 S. Die Studie – eine an der TU Berlin angenommene Dissertation – analysiert die Nahostberichterstattung der deutschen Qualitätspresse während einer weitgehend eskalationsfreien Phase des Nahostkonflikts im Zeitraum vom 1. Dezember 2009 bis zum 31. März 2010. Einem transdisziplinären Ansatz folgend, kombiniert ihr Verfasser Robert Beyer geschickt Methoden der Kommunikationswissenschaft und der Linguistik: Integriert in die quantitative Inhaltsanalyse von 705 Presseartikeln und die qualitative Auswertung von 24 prototypischen Texten sind bisher häufig unbeachtete Mittel der sprachlichen Bewertung und Perspektivierung. Zu den empirischen Befunden dieser Arbeit gehört, dass die ca. ein Drittel des Korpus umfassenden monoperspektivischen Presseartikel signifikant häufiger den palästinensischen als den israelischen Blickwinkel wählten. Auch fällt auf, dass, wenn Artikel eine Aggressor-Opfer-Rolle zuwiesen (ca. 40 Prozent), Israelis signifikant häufiger als Aggressoren dargestellt wurden; ebenso deutlich häufiger erwartete hand-
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lungsauffordernde Berichterstattung (ca. 50 Prozent der Artikel) die Initiative von israelischer Seite. Dabei hielten sich die Journalisten mit expliziten Bewertungen keineswegs zurück, etwa zwei Drittel der negativen Bewertungen im untersuchten Korpus betreffen Israel, 17 Prozent die Palästinenser. So zeichne sich insgesamt ein »doppelter Doppelstandard« ab: häufigere und stärkere Kritik an Israel als an den Palästinensern und einseitige Handlungsaufforderungen (S. 572). Über die Untersuchung einseitiger Israelkritik hinaus beinhaltet die vorliegende Studie eine nicht zu vernachlässigende Erörterung, in welchem Ausmaß antisemitische Stereotype vereinzelt Eingang in die Zeilen deutscher Zeitungen finden. In der Gesamtschau bietet sich Robert Beyer das Bild eines »dicht geknöpften Teppichs von Negativevaluationen […]« durch eine »Mehrheit […] durchaus multiperspektivisch berichtende[r] aber stärker Israel bewertende[r] Artikel«. Dieser sei jedoch »durchwirkt von einem Faden extrem israelkritischer und monoperspektivierender […] Einzeltexte« (S. 575). Ein alarmierendes Resümee, bedenkt man, dass solche Artikel die »Vernachlässigung alternativer Konfliktsichten (z.B. Win-win-Perspektive)« begünstigt (S. 185). Man wünscht deutschen Journalisten, sie möchten den Ratschlag ihrer Kollegin Carolin Emcke berücksichtigen. In der qualitativen Inhaltsanalyse bewertet Robert Beyer eine Zeit-Reportage Emckes als »Positivbeispiel für Neutralität beziehungsweise Multiperspektivität und legitime Kritik« (S. 252): »Wer verstehen will, […] muss gar nicht die Extremisten oder die Hasserfüllten aufsuchen, […] er sollte zu den Wohlmeinenden gehen, den Liebenden, den Suchenden, den Jerusalemern mit den Brüchen und den Widersprüchen, die dennoch oft nur in ihrer eigenen Welt leben und eine andere nicht sehen« (Emcke, zit. nach Beyer S. 258). SIMON SAX, BREMEN Kötscher, Dagmar: Meine Mutter, mein Vater, Hitler und ich. Lebenswege einer Familie im Dritten Reich. Stuttgart: Alfred Kröner 2018, 398 S. Es ist ein schwer genießbares Buch, in dem die Autorin auf der Grundlage von Tagebüchern, Briefen, von den Eltern als Studenten verfassten Flugblättern und Romanen der
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Mutter äußerst detailliert die Weltanschauung ihrer Eltern rekonstruiert und mit ausführlichsten Zitaten dokumentiert – Zeugnis einer misslungenen und verweigerten Kommunikation zwischen den Generationen, die aber doch soweit gelingt, dass wichtige Teile der nationalsozialistischen Ideologie an die Töchter- und Söhne-Generation weitergegeben werden. (S. 378f.) Das Niederschreiben der Auseinandersetzung mit den Eltern beschreibt die Autorin als immer weiteres Entfernen, »und doch fühle ich mich mit ihnen nach wie vor verknüpft, ja verflochten: nicht nur mit ihnen als meinen Eltern, wie ich sie als Kind erlebt habe, sondern auch mit ihnen als Nazis«. (S. 262) Aus »unserer idealistisch-klassisch-romantischen Tiefe, unserer Innerlichkeit« (S. 252), wie der Vater die ihn mit seiner Frau verbindende Geisteshaltung nennt, entsteht in den 1930er Jahren eine Weltanschauung, die sich das Herrenmenschentum, den Rassenhass, die Eroberungsabsichten der Nationalsozialisten und den Führerkult zu eigen macht und bis zum Mai 1945 nicht aufgeben lässt. Genährt und gefestigt wird sie durch nationalsozialistische Propagandaschriften, besonders durch das stets sehnsüchtig erwartete Goebbels-Blatt ›Das Reich‹. Noch am 20. April 1945 wird vom Vater wie von den Gefangenen fast ohne Ausnahme im US-amerikanischen Kriegsgefangenenlager Hitlers Geburtstag gefeiert und der Glaube an den Endsieg gepflegt (S. 369), zuvor hat der Soldat am Russlandfeldzug (die Tochter kommt »zu der Auffassung, dass er an den »Judenmassakern oder an anderen Erschießungsaktionen« nicht beteiligt war, obgleich sie detailliert darlegt, wie sehr diese Verbrechen dort, wo ihr Vater tätig war, zum Alltag auch der Wehrmacht gehörten (S. 284); von ihm selbst hat sie darüber nie auch nur ein Wort vernommen (S. 301), er hat teilgenommen und das Besatzerdasein in Frankreich genossen. Nicht nur im Lager, sondern auch in Deutschland, so wird dokumentiert, spielte eine Kommunikation über Gerüchte eine wichtige Rolle, nach denen die »Feinde« die Vernichtung Deutschlands und der Deutschen planten. Nur ganz langsam bietet das Lager dem Vater die Chance, wieder zu Verstand zu kommen. Am Ende glaubt die Tochter, er habe den Weg zurück zu einem »der Aufklärung verpflich-
teten Denken« gefunden – »doch es war ein schwerer Weg«. (S. 353) Auf den Gedanken, selbst Miturheber der Katastrophe gewesen zu sein, die fast ganz Europa und die angeblich so geliebte Heimat verwüstete, kommen die Eltern nicht, stattdessen inszenieren sie sich als Opfer eines Unglücks, obwohl man nur »das Beste gewollt« habe. (S. 374) Die Mutter pflegt noch lange nach 1945 den Glauben »an die deutsche Mission«, die nun die Gestalt »einer alle Völker umfassenden Humanität« angenommen hat. (S. 391) Ausgesprochen aufschlussreich ist das Buch durch seine Informationen zur Rezeption der völkischen und nationalsozialistischen Propaganda vor und nach 1933, etwa in Form von Oswald Spenglers »Untergang des Abendlandes« und später der Rundfunkreden Hitlers. Als Studienassessor hatte der Vater 1934 die Aufgabe gestellt bekommen, die pädagogischen Gedanken des »Führers« zusammenzustellen: »Ich hab ihn als Spezialgebiet neben Pestalozzi und Fichte«. (S. 141) HOLGER BÖNING (BREMEN)
Bibliografie Wilbert Ubbens
KOMMUNIKATIONSHISTORISCHE AUFSÄTZE IN ZEITSCHRIFTEN DES JAHRES 2017 (mit Nachträgen und Korrekturen für die Jahre 1998–2016) In Fortsetzung der bibliografischen Berichterstattung in diesem Jahrbuch (vgl. 1 (1999) S. 289–310, 2 (2000) S. 280–306, 3 (2001) S. 281–315, 4 (2002) S. 302–335, 5 (2003) S. 265–293), 6 (2004) S. 307–334, 7 (2005) S. 289–320, 8 (2006) S. 303–342, 9 (2007) S. 299–352, 10 (2008) S. 218–292, 11 (2009) S. 249–331, 12 (2010) S. 245–320, 13 (2011) S. 247–337, 14 (2012) S. 243–337, 15 (2013) S. 243–337, 16 (2014) S. 246–336, 17 (2015) S. 260–353, 18 (2016) S. 206–351 und 19 (2017) S. 211–333 werden im Folgenden wissenschaftliche Beiträge zu kommunikationshistorischen Themen in Zeitschriften verzeichnet, deren Erscheinungsjahr von den Verlagen mit 2017 deklariert wird. Nachgetragen werden Aufsätze aus den Jahren 1998 bis 2016, die bisher übersehen worden sind oder nicht berreichbar waren. Der wachsende Umfang der Bibliografie und die große Zahl an Nachträgen in den letzten Ausgaben und auch in dieser Ausgabe beruhen vor allem darauf, dass im Nachgang zahlreiche geschichts- und literaturwissenschaftliche Zeitschriften durchgesehen worden sind, dass Zeitschriften inzwischen auch mit ihren älteren Jahrgängen über das Internet zugänglich sind und dass vermehrt neue, nur online zugängliche Zeitschriften publiziert werden, die dem Bearbeiter nicht immer sofort bekannt werden. Nahezu alle Titelangaben werden wieder durch kurze inhaltliche Hinweise präzisiert oder erläutert; lediglich dann, wenn die Titel ausreichend für sich sprechen, und in den (wenigen) Fällen, in denen der Bearbeiter sich allein auf bibliografische Hinweise oder auf im Internet angebotene Inhaltsverzeichnisse von Zeitschriften (ohne Zugang zum Volltext) verlassen musste, wurden solche Zusätze fortgelassen.
Hinweise auf hier vermisste Aufsätze oder übersehene und nicht ausgewertete Zeitschriften werden vom Autor gern entgegengenommen. Nach Möglichkeit sollen sie in der nächsten Jahresübersicht berücksichtigt und nachgetragen werden. Die Liste der in den letzten Jahren mit Erfolg durchgesehenen Zeitschriften folgt am Schluss der Bibliografie. Ältere Bibliografien können auf der Homepage des Jahrbuchs http://www.steiner-ver lag.de/JbKG eingesehen werden. Die zuletzt nicht immer vollständig abgedruckte Titelgruppe 10.2 »Einzelne Personen« ist mit vollzähligen Angaben jahresweise und kumuliert einsehbar unter der URL https://pressefor schungbremen.wordpress.com/jbkg-themati sche-bibliographie-einzelpersonen/. Redaktionsschluss für die Bibliografie: 30.6.2018. GLIEDERUNG: 1. Theorie und Methode, Wissenschaft, Institutionen 2. Geschichte der Kommunikationswissenschaft 3. Allgemeine und vergleichende Kommunikationsgeschichte 4. Presse, Druckmedien 5. Film 6. Elektronische Medien (Hörfunk, Fernsehen, Internet) 7. Übrige Medien 8. Werbung, Public Relations 9. Propaganda, Kommunikationspolitik, Recht 10. Kommunikatoren 10.1. Allgemein 10.2. Einzelne Personen 11. Rezipienten
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Bibliografie
1. THEORIE UND METHODE, WISSENSCHAFT, INSTITUTIONEN Albera, François: Musée du cinéma: Esprit es-tu là? In: 1895: Revue de l’Association Française de Recherche sur l’Histoire du Cinéma (2004) 43, S. 87-100. [Über Begriff und Geschichte] Albers, Christoph: Das Presseausschnittarchiv des Berliner Verlages. In. Bibliotheksmagazin: Mitteilungen aus den Staatsbibliotheken in Berlin und München (2017) 1, S. 31-35. [Über die Übernahme des Archivs 1945 – 1994 in die Staatsbibliothek Berlin] Albers, Christoph: Zeitungen in Bibliotheken. Aufsätze, Monographien und Rezensionen aus dem Jahr 2015/16 mit Nachträgen aus den beiden Vorjahren. In: Bibliothek, Forschung und Praxis 41 (2017) 1, S. 122-126. [Jährliche Bibliografie seit 1982, zuletzt in: Bibliothek, Forschung und Praxis 40 (2016) 1; darin Beiträge zur Erhaltung und Nutzung historischer Zeitungen vor allem aus berufspraktischer Sicht, hier nicht weiter ausgewertet] Andorfer, Peter u. Michael Span: Lesen im Alpental. Privater Buchbesitz in Tirol 1750 bis 1800. Eine Projektvorstellung. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Buchforschung in Österreich (2016) 2, S. 7-21. [Über das Forschungsprojekt an der Universität Innsbruck ab 2017] Archive and archivists. Ed. Victoria Duckett, Jill Julius Matthews. In: Feminist media histories 2 (2016) 1, S. 1-197. [Themenheft mit 4 Beiträgen, alle hier einzeln verzeichnet, und 7 Interviews mit Medien-Archivaren, hier nicht einzeln verzeichnet] Archives. Ed. Thomas Augst. In: American literary history 29 (2017) 2, S. 219-447. [Themenheft zur digitalen Archivierung und ihrer Bedeutung für die Literaturgeschichtsschreibung mit Einleitung und 11 Beiträgen, davon 2 hier einzeln verzeichnet] Archives. Ed. Valérie Vignaux. In: 1895: Revue de l’Association Française de Recherche sur l’Histoire du Cinéma (2003) 41, S. 5-215. [Themenheft über Filmarchive in Frankreich mit Einleitung und 22 Beiträgen, hier nicht einzeln verzeichnet] Archives of the digital. Ed. Hermann Rotermund, Christian Herzog. In: Interactions: Studies in communication and culture 8 (2017) 1, S.
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Register der im Textteil der Aufsätze behandelten wichtigsten Personen und Sachen Acta Eruditorum 102 Adelbuhlner, Michael 108, 119 Adelungk, Wolfgang Heinrich 119 Adler, Aegidius 94 Albin, Bernard 54 Albinus, Gottfried 79 Apiarius, Samuel 44, 57f. Arzneibücher 29–32 Aufklärungsforschung 96 Barock 71–93 Barthelmaeus, Jacob 110 Bartoldi, Johann Gottlieb 119 Bärwald, Zacharias 47 Bauer, Albert 119 Bauer, Johann 106 Bauer, Johann Melchior 110 Beijer, Johan Gustaf v. 81, 84 Berliner Tageblatt 125 Blaesing, David 119 Bode, Johann Elert 101, 119 Bourgoing, Edmond 54, 66f. Brachfeld, Paul 47, 53 Briefe 71–93 Bruyn, Abraham de 51 Buchbach, Rudolph 96 Buchgeschichte 27–41 Buchwesen im 16. Jahrhundert 42–70 Buchwissenschaft 32–34 Buntschriftstellerei 30 Busch, Georg 118 Bussche zu Hünnefeld, Clamor Eberhard von dem 98 Cesaree, Petrus 49, 53 Clément, Jacques 53, 58, 66 Cock, Hieronymus 55 Concius, Andreas 106 Cruger, Peter 105 Crusius, Johannes 110 Deutsche Presseforschung Univ. Bremen 114–116 Diplomaten 77f. Einblattdrucke 43–48, 50
Endter, Verlag in Nürnberg 98 Euler, Leonhard 101 Ewerbeck, Christian Gottfried 119 Fabricius, Georgius 102 »Fake-News« 144–178, 179–182 Felsecker, Wolf Eberhard 105 Fischart, Johann 30, 51, 55, 66f. Flugpublizistik 18–20, 28, 43–67, 69, 86, 89, 96, 103f., 111, 113 Francken, Jacob 53 Friedrich II., König von Preußen 126 Friedrich Wilhelm I., König von Preußen 127f. Fritsch, Ambrosius 99 Fuggerzeitungen 28, 42f., 54–57, 59, 61–63, 83 Funktionseliten 71–93 Galilei, Galileo 101 Gaupp, Johannes 119 Geret, Samuel Luther 119 Gerhard, Christoph 107 Geschichte des Buchwesens 27–41 Gesner, Conrad 30 Götter-Both Mercurius 105, 111 Graf, Jeremias 110 Gräuf, Jesaias 110 Greilich, Susanne 108 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 99f. Grischow, Augustin Nathanael 119 Grüneberg, Christian 106 Grynæus, Samuel 36 Guldenmund, Hans 94 Gutenberg, Johannes 87 Habermas, Jürgen 71, 85, 87 Halcke, Johann 119 Halcke, Paul 119
Hamberger, Georg Albrecht 103–108, 119 Handbuch der Kalendermacher 112 Hebenstreit, Johann 95f. Hecker, Constantin Gabriel 119 Hecker, Constantin Gottlieb 119 Heinrich III., König von Frankreich 44, 53, 55– 57, 64f. Heinrich von Guise in Blois, Herzog 53, 58, 67 Heinrich von Navarra 53 Heußler, Leonhard 49, 53, 64f. Hiltebrant, Andreas Thomas 79 Hinkender Bote 108f. Hintzsch, Paul 110 Hogenberg, Franz 45, 50f., 55, 59, 66 Honold, Jacob d. Ä. 106 Huguerie, Michel de La 54 Hurault de l’Hôpital, Michel de 55 Intelligenzblätter 112 Internet-Handbuch der Kalendermacher 112 Internetportal Historische Kalender 112 Janot, Bernard 51 Jobins, Bernhard 46, 51, 55f., 66f. Junius, Ulrich 102, 106, 108, 119 Kalender als Medium der Frühaufklärung 103f. Kalender als Medium der Volksaufklärung 103f. Kalender und Aufklärung 96 Kalender, Schreibkalender 94–124 Kalender, seine Erforschung 94–124
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Register
Kalendergattungen 108f. Kalenderinhalte 111f. Kalender im Internet 112 Kalendermacher 94–124 Kalendermacher, ihre Konfessionszugehörigkeit 117–119 Käppler, Bartholomäus 46 Karl III. von Lothringen 54 Keck, Johann Georg 119 Kempen, Gottfried v. 48 Kirch, Christfried 119 Kirch, Gottfried 102f., 106, 117, 119 Knopf, Jan 108 Kommunikationsgeschichte, Debatte über Methoden und Ziele 9–26 Kompilationen im 16. Jahrhundert 27–41 Kompilationsnetzwerk 28, 32 Konfession von Kalendermachern 117–119 Korrespondenz 71–91 Koselleck, Reinhart 138 Kriegsberichterstattung 42–70 Kritik an aktueller Presseberichterstattung 144– 178, 179–182 Kühn, Heinrich 119 Kulik, Jakob Philipp 119 Kulmus, Johann Adam 119 Lambert, Johann Heinrich 101 Landolt, Joachim 117 Lautenbach, Conrad 53 Ludewig, Johann Peter v. 83 »Lügenpresse« 144–182 Magirus, Johannes 104 Marius, Simon 101 Matthäus, Klaus 97, 110 Mayer, Andreas 119 Mayer, Lucas 45, 49, 52 »Medien-Mainstream« 144– 178, 179–182 Mediensystem der Frühen Neuzeit 88–90 Medizin 29–31, 39 Memmius, Conrad 52 Messrelationen 81, 96 Mix, York-Gothart 108
Moepps, Emmy 7 Moralische Wochenschriften 111f. Nachrichten als soziale Ressource 71–93 Nachrichten, ihr Wert 71–93 Nachrichtenagenten 75–93 Nachrichtenbeschaffung 43–70, 71–93 Nachrichtendrucke(r) 9 42–93 Nachrichtengewerbe 42–93 Nachrichtenknotenpunkte 44 Nachrichtenmarkt des 17. Jahrhunderts 71–93 Nachrichtenmedien, elektronische 91 Nachrichtennetzwerke 42–93 Nachrichtenübermittlung in Verwaltungen 125– 143 Neue Zeitungen 48, 52 Neue Zeitungen von gelehrten Sachen 111 Novellanus, Simon 51 Öffentlichkeit 13, 17f., 23, 25f., 30, 42, 71f., 82, 84– 92, 105 Otto Heinrich, Herzog von Braunschweig 56 Pater, Paul 119 Perna, Pietro 39f. Peters, Bernhard 48, 50 Plantijn, Christoph 55 Politische Interessenkommunikation 125–143 Poltz, Johann Moritz 106 Porta, Johannes Baptista della 31 Postmeister 77–82, 84 Presseberichterstattung aktuelle 144–178, 179–182 Quad, Matthias 51 Rabelais, François 30 Ramus, Petrus 29 Relationes Curiosae 111 Religionskriege 42–70 Richter, Christoph 105f. Richter, Georg Friedrich 119
Rohlfs, Matthias 119 Rohlfs, Nicolaus 119 Schlez, Johann Ferdinand 108 Schlögl, Rudolf 85–88 Schönfeldt, 101 Scultetus, Bartholomaeus 98f. Seyffert, Wolff 96 Siegert, Reinhart 108 Smesman, Abraham 47, 50, 54 Spiarius, Samuel 44f. Steiger, Jost 49 Stieler, Kaspar 89 Stöckel, Matthes 48, 65 Strauss, Jacob 117 Sturm, Johann Christoph 103, 106f. Uranophilus, Ernestus 119 Volksaufklärung im Kalender 103f. Wahn, Hermann 119 Wahn, Johann Matthias 119 Waldorf, Johann 47f., 58, 64f. Walz, Johann Theophil 119 Weber, Hans 52 Wecker, Jacob 27–41 Weigel, Erhard 107f. Weinsberg, Hermann 57 Willers, Georg 59 Wissensbestände und Wissensaneignung 27–40 Wörli, Josias 45 Wrangel, Carl Gustaf 79 Zeitschriften 102, 105, 111f. Zeitungen, Auflagen 82f. Zeitung, handgeschriebene 19, 56–58, 61f., 69, 80–84, 88 Zeitung, Mittel zur Bildung der Leser 76 Zeitungen, gedruckte periodische und Öffentlichkeit 81–92, 102f. Zeitungsberichterstattung innerhalb von Verwaltungsbehörden 125–143 Zensur 82 Zschokke, Johann Heinrich Daniel 119 Zwinger, Theodor 32, 35f., 40
Forum Kommunikationsgeschichte Massimo Rospocher (Trient): What Is the History of Communication? An Early Modernist Perspective . . . . . . . . . . . . . .
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Daniel Bellingradt (Erlangen-Nürnberg): Annäherungen an eine Kommunikationsgeschichte der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Maria Löblich / Niklas Venema (Berlin): Kommunikationsgeschichte in der Kommunikationswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 22
JbKG
Aufsätze Simone Zweifel (St . Gallen): Ein Blick hinter die Produktion von Kompilationen im 16 . Jahrhundert am Beispiel Johann Jacob Weckers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Alexandra Schäfer-Griebel (Mainz): Die Arbeitspraxis im Nachrichtendruckgewerbe . Religionskriegsnachrichten im Heiligen Römischen Reich um 1590 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Heiko Droste (Stockholm): Das Geschäft mit Nachrichten . Ein barocker Markt für soziale Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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www.steiner-verlag.de
ISSN 1438-4485
Miszellen Klaus-Dieter Herbst (Jena): Der Schreibkalender der Frühen Neuzeit und seine Autoren . Ergebnisse der Forschung . Mit einer Personalbibliografie seit 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Albrecht Hoppe (Berlin): Das »Schottische Moorhuhn« – oder: Vom Nutzen und vom Niedergang der »Zeitungsberichterstattung« preußischer Verwaltungsbehörden (1722–1918) . . . . . .
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Holger Böning (Bremen): Von »Lügen-Presse«, »Fake-News« und »Medien-Mainstream« . Gedanken zu einigen Neuerscheinungen zum Thema und zum Zustand der gegenwärtigen Presseberichterstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Rudolf Stöber (Bamberg): Kommentar zur Miszelle von Holger Böning . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Buchbesprechungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
183
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ISBN 978-3-515-12239-9
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7 83 5 1 5 1 2 2 399