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German Pages 180 Year 2015
Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen Herausgegeben von Anton A. Bucher, Gerhard Büttner, Veit-Jakobus Dieterich, Petra Freudenberger-Lötz, Christina Kalloch, Friedhelm Kraft, Hanna Roose, Bert Roebben, Martin Rothgangel, Thomas Schlag, Martin Schreiner und Elisabeth E. Schwarz
»Man kann es ja auch als Fantasie nehmen« Methoden der Kindertheologie Jahrbuch für Kindertheologie Band 14
Herausgegeben von Christina Kalloch und Martin Schreiner
Calwer Verlag Stuttgart
eBook (pdf): ISBN 978–3–7668–4371–5 ISBN 978–3–7668–4363–0 © 2015 by Calwer Verlag GmbH Bücher und Medien, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags. Umschlaggestaltung: Karin Sauerbier, Stuttgart Satz und Herstellung: Karin Class, Calwer Verlag Druck und Verarbeitung: Mazowieckie Centrum Poligrafii – 05-270 Marki (Polen) – ul. Słoneczna 3C – www.buecherdrucken24.de E-Mail: [email protected] Internet: www.calwer.com
Öhler Jugend und Schöpfung – historische und neutestamentliche Anmerkungen
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Inhalt
Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
Gerhard Büttner Kinder- und Jugendtheologie als »Kommunikation des Evangeliums und des Glaubens« – Im Lichte der Kritik von Bernhard Dressler. . . . . . . . . . . . . .
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Mirjam Zimmermann »The medium is the message!« oder Gibt es spezifische Methoden der Kinder- bzw. Jugendtheologie?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Frederic Vobbe Multimodale Methoden des Theologisierens mit Kindern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Gerhard Büttner Grenzen der Kindertheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Barbara Brüning Warum habe ich so viele Fragen im Kopf? Mit Kindern über Sinnfragen philosophieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 II. Pädagogische Anregungen
Christina Kalloch Theologisieren mit Kunstbildern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Martin Schreiner Theologisieren mit Kindern am Beispiel eines Kurzfilms. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Gabriele Haas Das kreative Schreiben und sein Beitrag zum Theologisieren der Kinder. . . . . . . . 97 Sabine Schreiner »Im wirklichen Leben gibt es keine Lösungen wie im Buch« – Ein Erfahrungsbericht mit dem Literarischen Gespräch zu Raquel J. Palacios Jugendroman »Wunder« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
6 Cornelia Oswald / Angela Steinke-Dörpholz Theologisieren mit Kinderliteratur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Andreas Nicht Theatrales Theologisieren mit Elementen der Jeux Dramatiques. . . . . . . . . . . . . . 124 Dirk Schliephake Erfahrungsorientiertes Bibel erzählen – ein Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Dirk Schliephake Singen wirkt! Zur Nach-hall-tigkeit religiöser Kinderlieder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Bernd Hillringhaus Erfahrungsbericht über Figurenaufstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Franz Thalmann Der Weg der religionspädagogischen Praxis – Gestaltungen mit Bodenbildern als Beitrag zur Kindertheologie . . . . . . . . . . . . . . 151 Annika Stramer Urbild und Abbild – Gottesvorstellungen orthodoxer Kinder. . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Caroline Teschmer Mitgefühl durch biblische Geschichten entwickeln? Zugänge für Kinder im Elementarbereich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 III. Buchbesprechungen
Martin Schreiner: Die Grundschul-Bibel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 VI. Bildmeditation
Friedhelm Kraft Die Begegnung zwischen Philippus und dem Kämmerer aus dem Morgenland – eine Bildmeditation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
Die Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
Vorwort
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Vorwort
Das vorliegende vierzehnte Jahrbuch für Kindertheologie geht der Frage nach, inwiefern es spezifische Methoden der Kindertheologie gibt. Der scheinbar so klar definierte Auftrag, Methoden der Kindertheologie vorzustellen und ihre Chancen und Grenzen zu erörtern, erwies sich jedoch im Laufe der Erarbeitung als einer mit unübersehbaren Haken und Ösen. Das Bewusstsein dafür schuf die im September 2014 in Brandenburg durchgeführte Netzwerktagung Kindertheologie zum Thema Methoden. Denn hier zeigte sich bereits erheblicher Klärungsbedarf. Schon ein Blick in die JaBuKi-Bände warf Fragen auf: Wenn selbstverständlich von Methoden gesprochen wird, sind es dann nicht bei genauerem Hinschauen Medien, um die es geht? Oder auch spezifische Sozialformen? Hat Kindertheologie letztlich nicht immer einen diskursiven Charakter, in dem das Gespräch das »letzte Wort« hat/haben muss? Der häufig synonym zu Kindertheologie bzw. dem Theologisieren mit Kindern verwendete Begriff des Theologischen Gesprächs scheint darauf bereits zu verweisen. Für den Bereich der Kinderphilosophie hatten Kerstin Michalik und Helmut Schreier schon vor fast zehn Jahren gefordert, Alternativen zum Gespräch zu finden, um das Nachdenken mit Kindern nicht auf die Methode des Gesprächs zu reduzieren. Aber gibt es überhaupt Alternativen zum Gespräch beim Philosophie-
ren und Theologisieren mit Kindern? Sind es nicht in erster Linie Medien und Methoden, die alternative Zugänge zum Theologisieren schaffen und Impulse setzen, so dass an ihnen und mit ihrer Hilfe theologisiert werden kann? Ein Vergleich der Kindertheologie mit affinen Ansätzen wie Godly-Play oder den Gestaltungen mit Bodenbildern scheint diesen Eindruck zu bestätigen. Gerade das im Kontext des Theologisierens von und mit Kindern betonte reflexive Moment drängt nach Durchdringung und Verbalisierung, möglicherweise zunächst über das Spiel, die Geschichte, das (gemalte) Bild, das geschriebene Wort, irgendwann jedoch immer im Austausch von Gedanken im gesprochenen Wort. Das JaBuKi 14 möchte seine Leserinnen und Leser mitnehmen auf die Suche nach der Beantwortung zentraler Fragen: Welche Relevanz haben Methoden und Medien in der Kindertheologie? Und gibt es überhaupt spezifische Methoden für das Theologisieren mit Kindern? Kann Kindertheologie selbst zur Methode werden, die theologische Kompetenz von Kindern zu fördern? Sie sind eingeladen, in den grundlegenden Beiträgen des JaBuKi Antworten zu finden. Die Praxisbeispiele wollen Ermutigung und Anregung sein, sich auf das spannende Abenteuer des Theologisierens mit Kindern – in der Fülle seiner unterschiedlichen Zugänge – einzulassen.
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Vorwort
Vorschau auf die Beiträge
In seinem Grundsatzbeitrag wirbt Gerhard Büttner für eine Neupositionierung der Kinder- und Jugendtheologie, indem er vorschlägt, das Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen als Modus der »Kommunikation des Evangeliums und des Glaubens« zu beschreiben. Mirjam Zimmermann unternimmt in ihrem Beitrag eine Bestandsaufnahme der vermittlungsorientierten Methoden in der Kindertheologie und plädiert für mimetische Kinderexegese als Bibel-SpracheTandem kindertheologischer Kompetenz. Frederic Vobbe stellt multimodale und kreative Methoden des Theologisierens mit Kindern vor und beschreibt insbesondere die Lehrlingsmethode, den Einsatz von Mediendokumenten und symbolischen Interviews sowie von Spannungsspielen. In einem weiteren Beitrag fragt Gerhard Büttner unter Betonung der Eigenlogik aller Methoden danach, welche Methoden sinnvollerweise der Kindertheologie zugeordnet werden können und welche eben nicht. Aus kinderphilosophischer Perspektive untersucht Barbara Brüning verschiedene Frageformen jüngerer Kinder und stellt fünf geeignete Grundmethoden vor, um mit Kindern über Sinnfragen zu philosophieren. Den Reigen der pädagogischen Anregungen eröffnen Reflexionen von Christina Kalloch über das Theologisieren mit Kunstbildern und von Martin Schreiner über das Theologisieren am Beispiel eines Kurzfilms. Gabriele Haas untersucht in ihrem Beitrag das kreative Schreiben und dessen Bezug zum Theologisieren der Kinder.
In ihrem Erfahrungsbericht über die Methode des Literarischen Gesprächs zu Raquel J. Palacios Jugendroman »Wunder« stellt Sabine Schreiner dar, wie Kinder in der Lage sind, sich intensiv mit existentiellen Fragen auseinander zu setzen. Theologisieren mit Kinderliteratur am Beispiel von Jutta Richters »Der Hund mit dem gelben Herzen« steht im Mittelpunkt des Beitrags von Cornelia Oswald und Angela Steinke-Dörpholz. Einen Einblick in theatrales Theologisieren mit Elementen der Jeux Dramatiques bietet Andreas Nicht, während Dirk Schliephake in zwei Beiträgen sowohl dem erfahrungsorientierten Bibel erzählen als auch dem Theologisieren mit Kindern über religiöse Lieder nachgeht. Bernd Hillringhaus betont in seinem Er fahrungsbericht über eine Figurenaufstel lung zu Joh 5,1–9 die Chancen der indi rekten Selbstbegegnung der eigenen Lebenswirklichkeit mit einem Bibeltext. Den Weg der religionspädagogischen Praxis zeichnet Franz Thalmann nach und zeigt Ansatzpunkte der Verknüpfung der Gestaltungen mit Bodenbildern und der Kindertheologie auf. Den bisher kaum untersuchten Gottesvorstellungen orthodoxer Kinder widmet sich Annika Stramer mit einer kleinen empirischen Studie. Caroline Teschmer stellt dar, dass Kinder bereits im Elementarbereich anhand von biblischen Erzählungen Mitgefühl entwickeln können. Eine Bildmeditation von Friedhelm Kraft über die Begegnung zwischen Philippus und dem Kämmerer aus dem Morgenland rundet das vorliegende Jahrbuch für Kindertheologie ab. Christina Kalloch und Martin Schreiner
Büttner Kinder- und Jugendtheologie als »Kommunikation des Evangeliums und des Glaubens«
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Gerhard Büttner Kinder- und Jugendtheologie als »Kommunikation des Evangeliums und des Glaubens« – Im Lichte der Kritik von Bernhard Dressler 1. Einleitung
Nach einem über ein Jahrzehnt andauernden Erfolg des Konzeptes »Kindertheologie« und neuerdings »Jugendtheologie« scheint es angemessen, diesen Ansatz nochmals neu zu positionieren. Dies gilt umso mehr, als Bernhard Dressler erst beiläufig,1 dann entschieden dieser Theoriekonstruktion widersprochen hat.2 Ist dessen Kritik enggeführt auf einen innertheologischen Diskurs in Deutschland, so kann man sagen, dass der Ansatz der Kindertheologie inzwischen europäisch rezipiert ist und auch in seinen Theorieanstrengungen eingebettet ist in einen internationalen Rahmen, vor allem aber auch im katholischen Raum, wohingegen Dresslers Argumentation im Hof des deutschen Protestantismus verbleibt.3 Zum Status der Auseinandersetzung mit Bernhard Dressler muss festgehalten werden, dass es hier keine Möglichkeit einer Falsifikation geben kann. Dressler beobachtet – wie dies auch die »Kindertheologen« tun – bestimmte Prozesse im Umfeld von Theologie, Religionspädagogik und -unterricht. Dabei sind für mich viele Beobachtungen anregend und nachvollziehbar. Der Grunddissens bezieht sich auf Dresslers Verständnis von Religion. Diese unterscheidet er in gelebte und gelehrte, die beide von der Theologie als Reflexionsinstanz beobachtet werden. Schaut man genauer hin, dann
ist Religion die »evangelische Religion«. Diese Reduktion kann man – mit dem Blick auf Schleiermacher, der damit die Situation in einem christlichen Deutschland vor 200 Jahren beschreibt – treffen. Doch Religion ist hierzulande eine multireligiöse Angelegenheit mit offenen Rändern hin zu der von Thomas Luckmann beschriebenen »unsichtbaren Religion«.4 Just diese Sicht war – und ist es noch immer – weitgehend bestimmend für den religionspädagogischen Diskurs, was uns den Anlass zum Projekt »Kindertheologie« gab. Dressler macht also an dieser Stelle einen Kunstgriff, indem er stillschweigend alle nichtevangelische zumindest alle nichtchristliche Religion in seinem Modell ausschließt. Wie zur Bestätigung finden sich etwa in dem von Dressler zusammen mit Klie und Kumlehn herausgegebenen Band zu Unter1 Bernhard Dressler, Religionspädagogik als Modus Praktischer Theologie. Mit einem kritischen Blick auf den Diskurs zur »Kindertheologie«, TPT 63 (2011), 149–163. 2 Bernhard Dressler, Zur Kritik der »Kinderund Jugendtheologie«, in: ZThK 111 (2014), 332–356. 3 So setzt sich Dressler zwar mit dem protestantischen Systematiker Winfried Härle auseinander, ignoriert aber den Beitrag des katholischen Kollegen Magnus Striet, Kindertheologie? Eine Verunsicherung, in: JaBuKi 6, Stuttgart 2007, 9–17. 4 Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a.M. 1991.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
richtsdokumentationen nur Unterrichtsinhalte, die zum klassischen Repertoire evangelischen Religionsunterrichts gehören.5 Nur dort lässt sich auch die präferierte performative Praxis durchführen. Die von Karl Ernst Nipkow als konstitutiv eingezogene Unterscheidung zwischen einem gegebenen, zu suchenden, nie vorhanden gewesenen und verlorengegangenen Einverständnis im Glauben könnte deutlich machen, welche Breite und Differenziertheit der Religionsunterricht vorauszusetzen hat.6 Nur innerhalb dieses Spannungsfeldes kann dann jeweils entschieden werden, ob der RU eher ein Glaubensdiskurs oder eine religionskundliche Veranstaltung sein kann und muss. Angesichts der faktischen Pluralität vieler Religionsklassen wird dann deutlich, wie inadäquat eine stillschweigende Übereinstimmung von gelebter Religion mit evangelischer Religion ist.7 Kann und soll man die Sederfeier performativ begehen oder die erste Sure probehalber sprechen, um zu erleben, wie sich der Islam »anfühlt«? Die Erfahrung der Pluralität scheint mir in Dresslers Perspektive unterbelichtet. Umso überraschender wirkt es, wenn Dressler seinen Religionsbegriff stillschweigend an den Kommunikationsbegriff anschließt und sich hier in Übereinstimmung mit Christian Grethlein sieht.8 Dieser hatte – wie unten zu zeigen sein wird – seinen Begriff der Kommunikation des Evangeliums gerade als Absetzung vom Religionsbegriff entworfen.9 Dieser Zugriff macht es möglich, legt es vielleicht sogar nahe, statt mit dem Religionsbegriff mit einem extendierten Begriff von Theologie zu arbeiten, wie wir dies mit dem Begriff des Theologisierens tun.10 Im Kontext dieser Argumentation möchte
ich zwei Aspekte betonen. Einerseits ist es ein wichtiges Merkmal des westlichen Christentums, dass es einen Theologiebegriff hervorgebracht hat, der ausgespannt ist zwischen der Artikulation von Glauben einerseits und der apologetischen Entfaltung im Kontext allgemeiner philosophischer Diskurse. Andererseits sehe ich Begriff und Sache der Theologie als die spezifische Variante christlicher Religion.11 Insofern halte ich zumindest die Verbalform Theologisieren für besonders gut geeignet, das Geschehen in den unterschiedlichen Erscheinungsformen von RU zu beschreiben. Hat man die Fülle der Manifestationen von RU in den 5 Bernhard Dressler / Thomas Klie / Martina Kumlehn (Hg.), Unterrichtsdramaturgien, Fallstudien zur Performanz religiöser Bildung, Stuttgart 2012. 6 Karl Ernst Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt, Bd. 2, Gütersloh 1998, 223ff. 7 Katharina Kammeyer, Theologisieren in heterogenen Lerngruppen. Empirische Einsichten in Perspektiven von Lehrkräften und konzeptionelle Überlegungen, in: Veit-Jakobus Dieterich (Hg.), Theologisieren mit Jugendlichen – ein Programm für Schule und Kirche, Stuttgart 2012, 191–210. 8 Dressler, Zur Kritik der Kinder- und Jugendtheologie (wie Anm. 2), 336. 9 Siehe unten. 10 Gerhard Büttner, Theologisieren als Grundfigur der Praktischen Theologie – Grundüberlegungen für das Theologisieren mit Jugendlichen, in: Dieterich (wie Anm. 7), 51–69. 11 Dies mag ebenso anfechtbar sein wie Dresslers Identifikation von Religion mit evangelischer Religion. Doch scheint es mir noch unklar, in welchem Maße das jüdische und muslimische Nachdenken über ihre Religion dieselben Signaturen trägt wie die christliche Theologie westlicher Prägung. Die neuerliche Institutionalisierung jüdischer und islamischer Theologie an den Universitäten schwächt allerdings meine Argumentation. Vgl. Gerhard Büttner, Nichtchristliche Religionen, in: ders. u.a. (Hg.), Handbuch Theologisieren mit Kindern, Stuttgart / München 2014, 40–43.
Büttner Kinder- und Jugendtheologie als »Kommunikation des Evangeliums und des Glaubens«
diversen Alters- und Schulstufen vor Augen – zumal in unterschiedlichen Zusammensetzungen und gradueller Offenheit für die christlichen Inhalte, dann ist es – um einen Dressler’schen Gedanken aufzunehmen – in der Tat die Aufgabe der Lehrkraft, die »Theologizität« des Unterrichts sicherzustellen. Hanna Roose, Veit-Jakobus Dieterich und ich sehen diese dann als gegeben, wenn der Unterricht sich an der Leitunterscheidung Immanenz-Transzendenz orientiert, mit dem christlichen Gott als Exponent der Transzendenz.12 Damit definieren wir ein Kommunikationsfeld, innerhalb dessen sich RU abspielen soll. Dieser Feldgedanke orientiert sich an der Kognitionstheorie. In ihm haben Wissensdifferenzen (Novize / Experte) eine Bedeutung, aber die Inhalte selbst lassen sich nicht strikt zwischen Kindertheologie, Alltagstheologie, Expertentheologie etc. unterscheiden. Das bedeutet keine Zurücksetzung wissenschaftlicher Theologie. Doch als Orientierung kommt eher das in den Blick, was Jeff Astley »Ordinary Theology« nennt.13 Wichtig sind die dort stattfindenden Kommunikationsprozesse, die im Prinzip Anschlüsse bieten für alle angesprochenen Formen des Einverständnisses. Insofern sei im Vorgriff gesagt, dass es eine Stärke und keineswegs Schwäche der Kindertheologie ist, dass sie in erbaulicher wie in diskursiver Gestalt erscheinen kann. So schließt sie weder den Choral noch das philosophische Gespräch aus. Gerade im internationalen Diskurs wird deutlich, wie wichtig die Einbeziehung verschiedener Orte und Kommunikationsbedingungen für ein Konzept von Kindertheologie ist. So zeigt etwa ein Konferenzbericht14, dass für die deutschen Teilnehmer/innen
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der Kontext Religionsunterricht bestimmend ist. Doch für die Norwegerinnen war die entscheidende Frage, wie eine kindertheologische Kommunikation in der Gemeinde organisiert werden kann angesichts des Rückzugs der Kirche aus dem RU.15 Für die tschechische Kollegin war entscheidend, wie es möglich werden kann, in einem religionsskeptischen Umfeld, zumindest transzendenzsensible Themen mit Kindern anzusprechen.16 Karen-Marie Yust hat ihrerseits gezeigt, wie sich ein kindertheologischer Diskurs in den verschiedenen Varianten US-ame12 Gerhard Büttner, / Veit-Jakobus Dieterich / Hanna Roose, Einführung in den Religionsunterricht. Eine kompetenzorientierte Didaktik, Stuttgart 2015. 13 Jeff Astley, Ordinary theology. Looking, listening and learning in theology, Aldershot 2002. 14 Petra Freudenberger-Lötz / Gerhard Büttner (Hg.), Children’s Voices. Theological, Philosophical and Spiritual Perspectives, Kassel 2015. 15 Elisabeth Haakedal, Spiritual nurture for each and every member aged 0 to 18 years. Two children’s voices from the Religious Education reform of the Church of Norway in the second decade of the 21st century, in: FreudenbergerLötz (wie Anm. 14), 41–64; Elisabeth Tveito Johnsen, Læring i den kristne religionen. Mediering og subjektivering, in: Prismet 64 (3/2013), 95–123. Parallele Erfahrungen in Francokanada Elaine Champagne, Born to the Word, in: Freudenberger-Lötz (wie Anm. 14), 27–40. 16 Noemi Bravená, Philosophising and theologising with, for and of children as a way to an integrated development of children’s transcending within the post-communist society and the place of these methods within the reform efforts of »turning to child« in the Czech education, in: Freudenberger-Lötz (wie Anm. 14), 65–85; dies., Theologisieren mit religionsfernen Kindern zum Thema Engel, in: JaBuKi 13, Stuttgart 2014, 69–75. Ähnlich Frank Lütze, »Man will ja auch nicht bedrückt sein …«. Was Kinder über Vergebung denken, in: Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik 6 (2015), i.E.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
rikanischer Kirchlichkeit bzw. Frömmigkeit niederschlägt.17 Kindertheologie ist demnach – gerade in internationaler Perspektive – offen für ganz verschiedene Kommunikationsorte. Ich nenne hier mindestens vier wichtige Bezugsorte. In der (bislang forschungsmäßig kaum beachteten) Familie, in gemeindlich organisierten Veranstaltungen vom Kindergarten bis zum Kindergottesdienst, im schulischen Religionsunterricht und in solchen Bildungsangeboten, die trotz religiöser Neutralität offen sind für Spiritualität und Transzendenz bzw. die intellektuelle Erörterung religiöser Fragen. Will man hier eine übergreifende Begrifflichkeit suchen, dann ist es am ehesten der Begriff der Kommunikation. Ich werde im Folgenden zeigen, dass diese Einsicht inzwischen prominent aufgenommen worden ist. Dabei wurde große Aufmerksamkeit auf die Klärung des Inhalts dieser Kommunikation verwandt. Dies hat zu einleuchtenden, für uns anschlussfähigen Erkenntnissen geführt, die ich im Folgenden darstellen werde. Mir scheint nun aber der benutzte Kommunikationsbegriff in seinen Möglichkeiten noch nicht weit genug ausgeschöpft. So werde ich am Ende die Grundthese, dass Theologisieren ein Modus der Kommunikation des Evangeliums und des Glaubens ist, nochmal im Lichte der Luhmann'schen Kommunikationstheorie erläutern und präzisieren. 2. Kommunikation des Evangeliums nach Christian Grethlein
Christian Grethlein hat in seiner »Praktischen Theologie« den Begriff der »Kommunikation des Evangeliums« ins
Zentrum gestellt. Er möchte damit das Geschehen beschreiben, welches das kirchliche Handeln im weiteren Sinne umfasst. In Anlehnung an die überlieferte Unterscheidung Martyria, Liturgia und Diakonia sieht Grethlein die Kommunikation des Evangeliums in drei Gestaltungen: den Modus des Lehrens und Lernens, den Modus des gemeinsamen Feierns und den Modus des Helfens zum Leben.18 Christian Grethlein sucht einen Begriff, der die traditionelle Hierarchie hinter sich lässt, nach der professionelle Vertreter der Kirche nach ihren Regeln den Gemeindemitgliedern das zukommen lassen, wessen sie nach kirchlicher Meinung bedürfen. Grethlein musste von daher zwei Fragen lösen: Wie ist es möglich, ein partizipatorisches Modell von Kirche zu entfalten, in welchem die Interaktion das bestimmende Moment ist, und welche Alternative zur Benutzung des Religionsbegriffs gibt es. Gegen dessen positive Benutzung – etwa durch Bernhard Dressler – gibt Grethlein zu bedenken, dass diesem die Trennschärfe gegenüber anderen, nichtchristlichen Religionen fehle.19 Für 17 Karen-Marie Yust, »Als Christ/ Christin aufwachsen«. Kindertheologie im US-amerikanischen Kontext, in: JaBuKi 10, Stuttgart 2011, 11–24. 18 Christian Grethlein, Praktische Theologie, Berlin & Boston 2012, 169f. 19 Ebd., 7: »Heute muss kritisch nachgefragt werden: Trägt ein solches christentumstheoretisch ausgerichtetes Verständnis von Religion der Tatsache hinreichend Rechnung, dass in der Lebenswelt vieler Menschen nichtchristliche Formen des Transzendenzbezugs begegnen?« Vgl. auch Michael Domsgen / Bernd Schröder, Vorwort, in: dies. (Hg.), Kommunikation des Evangeliums. Leitbegriff der Praktischen Theologie. FS Christian Grethlein, Leipzig 2014, 9f.
Büttner Kinder- und Jugendtheologie als »Kommunikation des Evangeliums und des Glaubens«
die Lösung dieser Frage greift Grethlein auf den Begriff der Kommunikation zurück.20 Sein Kommunikationsbegriff ist durchaus avanciert und übernimmt etwa von Luhmann den Gedanken der Autopoiesis der Bewusstseine und die gegebenen Kommunikationsrestriktionen, doch fehlt der Gedanke, dass die Kommunikation kein Mittel, sondern in gewisser Weise die Sache selbst ist. Der Genitivanschluss »des Evangeliums« weist indes darauf hin, dass es nicht nur darum geht, die frohe Botschaft adäquat weiterzugeben, sondern das Evangelium selbst als Quelle einer entsprechenden Kommunikation anzusehen.21 Für unsere Fragestellung ist es bedeutsam, dass Grethlein die Kindertheologie explizit als einen Modus der von ihm beschriebenen Kommunikation des Evangeliums betrachtet.22 Den Kernbegriff des Evangeliums, die Reich-Gottes-Botschaft Jesu, sieht Christian Grethlein als Motiv für eine Kommunikation mit einem »grundsätzlich symmetrische[n] Profil«:23 »In Lehr- und Lernprozessen wechseln die Positionen von Lehrenden und Lernenden, was bis heute zu den beglückendsten Erfahrungen z.B. von Religionslehrer/innen gehört. Das Feiern vollzieht sich grundsätzlich gemeinschaftlich. Schließlich vertauschen sich beim Helfen zum Leben bisweilen die Rollen. Der Kranke hilft dem Gesunden, der Demente eröffnet seiner Pflegerin einen neuen Horizont usw.«
Es ist leicht nachvollziehbar, dass sich unter dem ersten Spiegelstrich das Programm der Kinder-(und Jugend)theologie leicht einzeichnen lässt.24
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3. Kommunikation des Glaubens nach Karl Ernst Nipkow und Richard Hartmann
Während der Begriff der Kommunikation des Evangeliums – ursprünglich von Ernst Lange ins Spiel gebracht – von Christian Grethlein breit entfaltet wurde, kommt der von der Kommunikation des Glaubens eher etwas beiläufig in die Diskussion. Es ist auch hier eine Festschrift, die den Begriff lanciert.25 Die Idee ist zunächst einmal, das umfassende Werk Albert Biesingers unter einem Leitbegriff zu charakterisieren. Interessanterweise lässt man Karl Ernst Nipkow die zunächst wohl erst summierende Begrifflichkeit inhaltlich füllen.26 Karl Ernst Nipkow stellt – analog zur Grethlein-Festschrift – fest, dass der Begriff der Kommunikation des Glaubens offensichtlich Abschied genommen hat von einer Perspektive einer asymmetrischen Kommunikation im Sinne einer 20 Grethlein (wie Anm. 18), 144ff. 21 Ebd., 169: »Evangelium ereignet sich in kommunikativen Vollzügen verbaler und nonverbaler Art.« 22 Ebd., 93ff. 23 Ebd., 167f. Domsgen / Schröder (wie Anm. 19) sprechen (9) von einem »dialogische(n) Grundverständnis der Selbstmitteilung des Christentums«. 24 Vielleicht auch unter die anderen Spiegelstriche, wenngleich ich einer Extension der Kindertheologie widersprechen möchte; vgl. Gerhard Büttner, Die Grenzen der Kindertheologie, in diesem Band S. 47. 25 Reinhold Boschki u.a. (Hg.), Religionspädagogische Grundoptionen. Elemente einer gelingenden Glaubenskommunikation, FS Albert Biesinger, Freiburg i.Br. / Basel / Wien 2008. 26 Karl Ernst Nipkow, Grundoptionen gelingender Glaubenskommunikation in lerntheoretischer und anthropologisch-theologischer Spiegelung, in: Boschki (wie Anm. 25), 44–56.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
»Weitergabe des Glaubens«.27 Im Sinne von Watzlawick betont er die Doppelbedeutung des Kommunikationsbegriffs in seinem »Inhalts-« und seinem »Beziehungsaspekt«.28 Gerade letzteren zeichnet seine Kontingenz aus.29 D.h. auch, dass die Kommunikation des Glaubens »gepflegt« werden muss. Auf Dauer kann man mit Reinhold Boschki von gelingender Glaubenskommunikation als »Ausdruck von Spiritualität« sprechen.30 Letztere kann dann auch ein Erkenntnisschema herausbilden, das es zumindest wahrscheinlicher macht, entsprechende Inhalte auch aufzunehmen. Die in der Religionspädagogik geschätzte Subjektorientierung wird damit doppelt eingeschränkt – durch die soziale Verortung im Kommunikationsprozess und das Wissen um die Unverfügbarkeit der Rezeption bestimmter Inhalte. Noch zielbewusster wird der Begriff bei dem Pastoraltheologen Richard Hartmann gebraucht.31 Er geht – und hier schließt sich der Kreis – in seiner Argumentation von der Diskussion um die Kindertheologie aus, in der er auch ein Modell für die »Glaubenskommunikation mit Erwachsenen« sieht. Ihn beeindruckt hier die enge Verknüpfung von Glaube und Theologie:33 »Sobald der glaubende Mensch seinen Glauben in Sprache fasst, beginnt er einen Reflexionsprozess, der in vielfacher Weise eingebunden ist in die Komplexität seiner Wirklichkeitskonstruktion. Wenn es eine Differenz zwischen Glaube und Theologie gibt, dann höchstens als Offenlegung der theoriegeleiteten Hintergründe der jeweils bezogenen Positionen.«
In der Kindertheologie sieht er eine Kommunikation, die nicht von vorn-
herein verzweckt ist, sondern geprägt ist vom gemeinsamen Ringen der Gesprächspartner um Vergewisserung und in der er von daher in besonderer Weise das erkennt, was er unter Glaubenskommunikation versteht.34 Wenn es dann nicht um eine »Weitergabe des Glaubens« von denen, die ihn besitzen und verwalten, an die, denen es daran offensichtlich mangelt, gehen kann, dann bedarf es gerade auf Seiten der professionell Handelnden einer Sensibilität gegenüber den Inhalten und Gesprächsformen des Glaubens in allen Kommunikationssituationen:35 »Mehr denn je brauchen sie selber eine Praxis der Glaubenskommunikation, die über die Übernahme gesetzter Texte hinaus geht, die vielmehr in aller möglichen Vielfalt die ›theologische Wahrheit‹ mit der ›theologischen Lebenspraxis‹ in Beziehung setzen muss.« Wir sehen hier also explizit ein Verständnis von Glaubenskommunikation, das sich analog zur Rede von der Kommunikation des Evangeliums jenseits klerikaler Sonderrechte an einem Modell des gemeinsamen Ringens der Glaubenden aller Altersstufen und Positionen orientiert und dem es um Vergewisserung im Lichte der christlichen Überlieferung geht.
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Ebd., 44. Ebd., 47. Ebd., 54. Ebd., 47. Richard Hartmann, Glaubenskommunikation als pastoraltheologische Aufgabe, in: Gundo Lames u.a. (Hg.), Psychologisch, pastoral, diakonisch. Praktische Theologie für die Menschen. FS Heribert Wahl, Trier 2010, 153–167. 32 Ebd., 154. 33 Ebd., 155. 34 Ebd., 157. 35 Ebd., 163.
Büttner Kinder- und Jugendtheologie als »Kommunikation des Evangeliums und des Glaubens«
4. Kommunikation beobachten nach Niklas Luhmann
Eberhard Blanke schlägt vor, Glaubenskommunikation systemtheoretisch zu beobachten.36 Ich greife dazu auf Niklas Luhmanns Ausführungen zur Kommunikation in »Die Gesellschaft der Gesellschaft« zurück, wo dieser sehr umfassend sein Kommunikationsmodell entfaltet.37 Wir werden sehen, dass dies, soweit es von den oben genannten Theologen rezipiert worden ist, nicht wirklich ausgeschöpft wurde und dass von daher noch neue Perspektiven für die Frage des Theologisierens zu erwarten sind. Luhmann enttäuscht erst einmal zwei Selbstverständlichkeiten beim Blick auf Kommunikation.38 Gelingende Kommunikation ist keinesfalls so wahrscheinlich, wie wir dies beim normalen Gespräch voraussetzen. Luhmann unterscheidet bei der Kommunikation Mitteilung, Information und Verstehen. Ersteres geht von der Mitteilungsabsicht etwa eines Sprechers aus. Das, was in Form von Schallwellen beim Empfänger ankommt, ist dann die Information. Bei letzterem ergibt sich nun ein doppelter Selektionsprozess. Kann er das, was er hört, akustisch entschlüsseln? Enthält die entschlüsselte Information die ursprüngliche Mitteilungsabsicht? Unter Umständen kommt dann noch die weitere Selektion: Will ich das, was mir mitgeteilt wird, annehmen und danach handeln? Beim Modell von Kommunikation kommt es nun deshalb so sehr auf den Empfänger an, weil dieser für die Anschlusskommunikation verantwortlich ist.39 Erfolgt eine solche nicht, ist die Kommunikation am Ende. Nun hat besonders André Kieserling darauf aufmerksam gemacht, dass die
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Aufrechterhaltung von Kommunikation am ehesten durch ein Thema garantiert wird.40 In dem uns interessierenden Kontext ist das Thema der christliche Gott in seinem Gegenüber zur Welt bzw. die Welt in Bezug zu diesem Gott. Insofern diese Kommunikation im weitesten Sinne gesprächsförmig abläuft, spreche ich hier von Theologisieren. In Luhmanns Modell konzentriere ich mich damit auf die mündliche Kommunikation. Diese wird im Falle des Theologisierens zwar begleitet durch die Existenz schriftlicher Kommunikationsmedien, insbesondere der Bibel als Referenzobjekt, doch bestimmend bleibt das Gespräch mit seinen spezifischen Randbedingungen.41 Luhmann selbst hat die mündliche Kommunikation neben deren Erweiterungen durch Schrift, Buchdruck und audiovisuelle bzw. elektronische Medien gestellt 36 Eberhard Blanke, Systemtheoretische Beobachtungen der Theologie, Marburg 2012, 144ff. 37 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1. Tb., Frankfurt a.M. 1998, 190–412. 38 Niklas Luhmann, Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, in: ders., Soziologische Aufklärung 3, Opladen 1981, 25–34. 39 Luhmann (wie Anm. 37), 190: »Die Kommunikation macht sich nur selber wahrscheinlich. Als Einzelereignis kann sie nicht vorkommen. Jede Kommunikation setzt andere Operationen gleichen Typs voraus, auf die sie reagieren und die sie stimulieren kann.« 40 André Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme, Frankfurt a.M. 1999, 179ff. 41 So schreibt Luhmann (wie Anm. 37), 252 im Hinblick auf die ansprechbare Zeitdimension: »Die Nahvergangenheit reicht so weit wie das individuelle Gedächtnis (das heißt das Gedächtnis, das man in der Kommunikation bei anderen voraussetzen und aktivieren kann) und die Nahzukunft reicht so weit, wie gegenwärtiges Verhalten zukünftige Sachlagen erkennbar konditioniert.«
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
und etabliert schließlich seine Theorie der generalisierten Kommunikationsmedien. Letzteres impliziert, dass im Grunde jedes Funktionssystem sein eigenes spezifisches Kommunikationsmedium entwickelt. Am plausibelsten ist dies für das Wirtschaftssystem mit dem Medium Geld. Luhmann erwägt ausdrücklich, dass sich »ein besonderes symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium ›Glaube‹ entwickelt hat, zumindest im christlichen Bereich«.42 Die Explikationen dieses Gedankens zeigen nun aber deutlich, dass das Kommunikationsmedium Glaube im Rahmen der Luhmann’schen Theorie eher unscharf entfaltet ist.43 Gleichwohl sind Überlegungen, wie sie Nipkow und Hartmann zur Glaubenskommunikation unternommen haben, auf jeden Fall anschlussfähig an das Luhmann’sche Konstrukt. Kommunikation des Glaubens wäre demnach der entscheidende Modus der Kommunikation innerhalb des Funktionssystems Religion. Nun weist Grethlein darauf hin, dass die Praktische Theologie mehr umfasst als das, was ich hier als Glaubenskommunikation vorgestellt habe. Dazu kommen mindestens noch die Dimension des Feierns und die der Diakonie. Von daher ist es sinnvoll, den Begriff der Glaubenskommunikation als Teildimension einzuzeichnen in ein Konzept einer Kommunikation des Evangeliums. Im Hinblick auf das Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen ergibt sich noch eine weitere Perspektive bei einer systemtheoretischen Betrachtung. Diese Prozesse lassen sich auch als Kommunikation innerhalb des Erziehungssystems beobachten. Auch hier ist es nicht entschieden, ob das Kind bzw. der / die zu Erziehende44 oder der Unter-
richtsinhalt45 das Kommunikationsmedium darstellen. Eindeutiger ist die Frage nach dem Programm. Letzteres gewährleistet eine bestimmte Inhaltlichkeit. Dabei hat sich gezeigt, dass es für den Religionsunterricht nicht eindeutig ist, aus welchem Funktionssystem er sein Programm übernimmt.46 Der Problemorientierte RU orientierte sich weitgehend am Moralsystem mit seiner Unterscheidung erwünscht / unerwünscht. Der Performative RU neigt dazu, sich am Kunstsystem zu orientieren. Wenn – wofür ich plädiere – der RU und der religiöse Erziehungsprozess sich überhaupt programmgemäß verhalten, sollten sie dies dadurch tun, dass sie sich thematisch an dem christlichen Gott in seinem Verhältnis zur Welt orientieren – und damit im Wesentlichen das tun, was ich theologisieren nenne. Mit seiner Einordnung in ein Konzept der Kommunikation des Glaubens bzw. des Evangeliums ist die Praxis des Theologisierens gut verortet. Es wird deutlich, dass es sich hier um eine entscheidende Aktivität im Rahmen 42 Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, hg. von A. Kieserling, Frankfurt a.M. 2000, 205. 43 Ebd., 205ff. 44 Gerhard Büttner / Veit-Jakobus Dieterich, Religion als Unterricht, Göttingen 2004, 71ff. 45 Jochen Kade, Vermittelbar / nicht-vermittelbar: Vermitteln: Aneignen. Im Prozess der Systembildung des Pädagogischen, in: Dieter Lenzen / Niklas Luhmann (Hg.), Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem. Lebenslauf und Humanontogenese als Medium und Form, Frankfurt a.M. 1997, 30–70. 46 Gerhard Büttner, Die Codierung Immanenz / Transzendenz als Leitdifferenz der Kommunikation des Religionsunterrichts, in: Gerhard Büttner / Annette Scheunpflug / Volker Elsenbast (Hg.), Zwischen Erziehung und Religion. Religionspädagogische Perspektiven nach Luhmann, Münster 2007, 188–202.
Büttner Kinder- und Jugendtheologie als »Kommunikation des Evangeliums und des Glaubens«
des Feldes Praktischer Theologie handelt. Diese Praxis hat Berührungen und Grenzen mit anderen Handlungsfeldern, auf die sie angewiesen ist und die sie ihrerseits stützt, z.B. das gottesdienstliche Feiern.47 5. Erkenntnisgewinne
Ich möchte abschließend drei Einsichten formulieren, die eine systemtheoretische Verortung des Theologisierens ermöglichen. Niklas Luhmann hat im Familiensystem einen besonderen Interaktionsmodus ausgemacht, den er »enthemmte Kommunikation« nennt.48 Er will damit ausdrücken, dass es im Gegensatz zur eher rollenbasierten Interaktion im öffentlichen Leben in der Familie möglich ist (bzw. möglich sein sollte), auch heikle Dinge anzusprechen, die ansonsten peinlich wären. Man kann nun aus dieser Feststellung Schlüsse für die Glaubenskommunikation ziehen.49 Traditionellerweise findet ein wichtiger Teil der Glaubenskommunikation in der Familie statt. Dort ist es dann auch möglich, Glaubensfragen zu thematisieren bzw. Praxen einzuüben. Nun funktioniert das dann weniger und ist komplikationsanfälliger, wenn die Eltern verschiedene religiöse Optionen vertreten bzw. nicht in häuslicher Gemeinschaft mit dem Kind leben. Beides beeinträchtigt die Möglichkeit der Glaubenskommunikation. Andererseits herrschen im Kindergarten und z.T. noch in den Anfangsklassen der Grundschule durchaus noch Elemente einer solchen enthemmten Kommunikation. Dies bringt gerade die Erzieherinnen im Hinblick auf Glaubensge-
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spräche bzw. das Theologisieren in eine exponierte Situation. D.h., dass solche Gespräche dann die Chance haben, quasi ohne Brechung direkt glaubensbildend zu wirken. Ansonsten ist zu vermuten, dass auch in Kontexten der Schulseelsorge zumindest punktuell solche »enthemmten Phasen« eintreten, in denen – mit Gundo Lames gesprochen50 – vom Leistungsund Bewertungscode auf »bedingungslose Annahme« umgeschaltet wird. Für ein theologisches Gespräch im Kontext des RU werden damit zumindest Randbedingungen angesprochen. Eine andere Perspektive bringt Christoph Dinkel ins Spiel. Er beschreibt die besondere Bedeutung der Kommunikation unter Anwesenden für die religiöse Kommunikation (z.B. im Gottesdienst). Diese Beobachtungen treffen aber auch die Kommunikation im RU:51 »Interaktion erzeugt eine authentische Öffentlichkeit, bei der die Kommunikationsteilnehmer die Bedingungen der Kommunikation und die spontanen Reaktionen anderer Kommunikationsteilnehmer weitgehend beobachten und damit einschätzen können. Religiöse Kommunikation lebt ganz wesentlich vom Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der 47 Büttner (wie Anm. 10). 48 Niklas Luhmann, Sozialsystem Familie, in: ders., Soziologische Aufklärung 5, Opladen 2 1995, 196–217. 49 Zum folgenden Gedanken und entsprechenden Belegen Gerhard Büttner, »Enthemmte Kommunikation« als Voraussetzung für Glauben-Lernen, in: Isolde Karle (Hg.), Kirchenreform. Interdisziplinäre Perspektiven, Leipzig 2009, 237–252. 50 Gundo Lames, Schulseelsorge als soziales System, Stuttgart u.a. 2000. 51 Christoph Dinkel, Was nützt der Gottesdienst? Eine funktionale Theorie des evangelischen Gottesdienstes, Gütersloh 2000, 120f.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
Kommunikationspartner. Gibt er oder sie durch Haltung oder Tonfall Anlass zu Zweifeln an seiner oder ihrer Glaubwürdigkeit, brechen die Resonanzmöglichkeiten der religiösen Kommunikation zumeist unmittelbar zusammen.«
Frage ist dann, wie wir es Kindern und Jugendlichen ermöglichen, sich an diese Kommunikation anzuschließen. In Bezug auf ein Herzstück theologischer Kommunikation, nämlich die auf die Bibel bezogene, schreibt Tanja Schmidt:53
Die Face-to-face-Kommunikation ermöglicht eine Beobachtung von Wortaussage und Haltung bei gleichzeitigem eigenem Beobachtet-Werden. Glaubenskommunikation bedarf offensichtlich der mehrfachen Beglaubigung. Wenn ich sehe, dass andere neben mir offenbar ernsthaft beten, dann bestärkt dies auch mich selbst in meiner Gewissheit (beim Gebet). Neben dieser besonderen Bedeutung des Interaktionssystems (in der Luhmann’schen Diktion) kommt noch ein anderes Moment seines Kommunikationsverständnisses zum Tragen. Peter Fuchs fasst Luhmanns Verständnis von Kommunikation mit den Worten zusammen: »Die Kommunikation kommuniziert«.52 Damit wird eine Perspektive eröffnet, die das semantische Feld ins Auge fasst, das durch Kommunikation erzeugt wird. Theologie besteht dann darin und dadurch, dass sie kommuniziert wird. Die praktisch-theologische Fragestellung ist dann eine zweifache: Was tun wir, bzw. was können wir tun, um die Kommunikation bestimmter Inhalte zu unterstützen (wohl wissend, dass wir nicht deren Initiatoren sind). Die zweite
»Die Sprache der Bibel zeichnet sich durch ihre gepflegte Semantik, ihre Gediegenheit und Festigkeit gerade gegenüber der Sprache der Massenmedien aus. Sie stellt den Heranwachsenden Deutungs- und Sprachmuster von hohem existentiellen und poetischen Niveau zur Verfügung. […] Durch die Sprachformen der biblischen Tradition werden individuelle Erfahrungen zugleich erschlossen und transzendiert.«
Das Theologisieren wäre demnach – unabhängig von bestimmten Akteuren – als Netz zu verstehen, an das sich dann konkrete Menschen bei Bedarf einklinken können. Der Vorschlag, das Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen als Modus der Kommunikation zu beschreiben, wäre demnach nicht nur ein Akt wissenschaftlicher Zu- und Einordnung, sondern enthält gleichzeitig Einsichten, die in der Lage sind, unmittelbar die Praxis anzuregen. 52 Peter Fuchs, Kommunikation, in: O. Jahraus / A. Nassehi u.a. (Hg.), Luhmann-Handbuch, Stuttgart / Weimar 2012, 90–92. 53 Tanja Schmidt, Die Bibel als Medium religiöser Bildung, Göttingen 2008, 209.
Zimmermann Gibt es spezifische Methoden der Kinder- bzw. Jugendtheologie?
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Mirjam Zimmermann »The medium is the message!« oder Gibt es spezifische Methoden der Kinder- bzw. Jugendtheologie?
Der bekannte Kinderphilosoph Gareth Matthews stellte bei Kindern zwischen drei und sieben Jahren fest, dass diese gerne und häufig »spontane Ausflüge in die Philosophie«1 unternehmen. Ihm fiel ebenfalls auf, dass dies bei Schulkindern seltener werde oder zumindest seltener in Erscheinung trete, vielleicht, weil die Kinder in der Schule lernten, »dass man von ihnen nur nützliche Fragen erwartet«2. Um herauszufinden, »ob auch ältere Kinder, wenn man sie bewusst dazu provoziert, noch phantasievoll und einfallsreich auf philosophische Fragen antworten können«3, führte Matthews in der Schule verschiedene Versuche mit Schülerinnen und Schülern durch. Damit die Kinder provoziert würden4, schrieb er den Anfang von Geschichten auf, »in denen die Protagonisten, meistens Kinder, allein und ohne Unterstützung von Erwachsenen über irgendein philosophisches Problem stolpern.«5 Durch dieses Initial entstand dann in der anwesenden Gruppe eine intensive motivierte Auseinandersetzung: »ohne zu zögern begannen sie eine geistreiche Diskussion über (z.B. Anm. d.V.) die Identität in der Zeit, die von der Geschichte aufgeworfen wird.«6 Darauf stützt Matthews seine »Verschüttungsthese«7, dass vor allem ältere Schülerinnen und Schüler gezielte methodische Anstöße brauchen, um ins Gespräch zu kommen, während bei jünge-
ren eine »Philosophie bei Gelegenheit« ausreichend Anlass für philosophische Gespräche bietet. In seinem zweiten Buch »Dialogues with children«8 berichtet Matthews von den zahlreichen philosophischen Gesprächen mit Acht- bis Elfjährigen in der Schule. Anhand derer kann Matthews aufzeigen, wie durch die richtigen Impulse, Einführungsgeschichten und eine sinnvolle Gesprächsführung, durch Nachfragen und Strukturieren, Begriffe klären etc. mit Kindern gute philosophische Gespräche geführt werden können. Matthews’ Methode der Verwendung kleiner Geschichten ist nicht neu. Schon Matthew Lipman arbeitete seit 1971 mit philosophischen Geschichten, nämlich denen von »Harry Stottelmeiers Ent-
1 Gareth B. Matthews, Die Philosophie der Kindheit. Wenn Kinder weiter denken als Erwachsene, Weinheim / Berlin 1995; engl.: The Philosophy of Childhood, Cambridge / Massachusetts / London u.a. 1994, 13. 2 Ebd. 3 Ebd., 14. 4 Ebd. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Begriff von Christian S. Weber in seiner Abschlussarbeit »Kinderphilosophie und Kindertheologie im Vergleich« siehe unter http:// www.kinderphilosophie.com/ (letzter Abruf am 20.8.2014). 8 Gareth B. Matthews, Philosophische Gespräche mit Kindern, Freese 21993.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
deckungen«9, die allerdings in siebzehn Kapiteln angeordnet aufeinander aufbauen und in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Wenn sich auch solche methodischen Zugänge nicht nur in kinderphilosophischen Ansätzen finden, sind sie doch spezifisch für diese Art der Kinderphilosophie und setzen auf diese Art und Weise entsprechende Schwerpunkte. Dies tut z.B. auch Detlef Horster, dessen formaler Rahmen der Vorgaben für ein sokratisches Gespräch in der Gesprächsführung häufig auch in kindertheologischen Gesprächen rezipiert wurde.10 Im Rahmen der Kinderphilosophie kann also die methodische Fokussierung auf den sokratischen Dialog und die Entwicklung inspirierender Einstiegsgeschichten festgestellt werden. Lässt sich Analoges auch für die »kleine Schwester Kindertheologie« behaupten? Gibt es hier auch Leitmethoden, die helfen, das Kind bzw. die Kinder ins Gespräch untereinander und / oder mit dem erwachsenen Gesprächspartner zu bringen? Erst einmal kann man an dieser Stelle festhalten, dass im Gegensatz zur Kinderphilosophie manche Mühe auf die methodische Explikation von wahrnehmungsorientierten Methoden einer »Theologie der Kinder« gelegt wurde. Nehmen wir das bekannte Raster einer Unterscheidung im heuristischen Sinn zwischen einer Theologie der Kinder, einer Theologie mit oder für Kinder auf, so kann man kategorial zwei Bereiche von Methoden in der Kindertheologie unterscheiden. Bei Methoden einer »Theologie der Kinder« stehen Methodenstandards qualitativer Sozialforschung im Zentrum, wie die Äußerungen der Kinder empirisch valide erfasst und ausgewertet werden können.11
Bei Methoden einer »Theologie mit oder für Kinder(n)« dagegen geht es um »vermittlungsorientierte Methoden«, wobei Vermittlung hier im »ureigentlichen Sinn des Wortes die Interaktion zwischen Erwachsenen und Kindern in pädagogischen Prozessen«12 meint, die einer methodischen Reflexion und Kontrolle unterzogen werden soll. In engem Zusammenhang dazu steht die Frage nach guter Kindertheologie, also nach Kriterien, anhand derer die Methoden hinsichtlich ihres Ziels überprüft werden können. Ich möchte meine folgenden Ausführungen auf diesen zweiten Aspekt der Methodik konzentrieren. 1. Vermittlungsorientierte Methoden in der Kindertheologie – eine Bestandsaufnahme
An dieser Stelle möchte ich bisher vorliegende Zusammenstellungen methodischer Möglichkeiten oder didaktischer Grund9 Gareth B. Matthews, Harry Stottelmeiers Entdeckungen, Hannover 22009, übersetzt aus dem Amerikanischen von Ursula Scheer, Originaltitel: Harry Stottelmeier’s Discovery, Inst. for the Advancement of Philosophy for Children, Upper Montclair 1980. 10 Vgl. Mirjam Zimmermann, Kindertheologie als theologische Kompetenz von Kindern. Grundlagen, Methodik und Ziel kindertheologischer Forschung am Beispiel der Deutung des Todes Jesu, Neukirchen-Vluyn 22012, 193–200. 11 Ausgeführt bei Mirjam Zimmermann, Methoden der Kindertheologie. Zur Präzisierung von Forschungsdesigns im kindertheologischen Diskurs, in: Theo-Web 1 (2006), 99–125; Dies., Wie mache ich gute kindertheologische Forschung?, in: Anton A. Bucher (Hg. u.a.), »Vielleicht hat Gott uns Kindern den Verstand gegeben«. Ergebnisse und Perspektiven der Kindertheologie, JaBuKi 5, Stuttgart 2006, 69–78. 12 Vgl. Zimmermann (wie Anm. 10), 167.
Zimmermann Gibt es spezifische Methoden der Kinder- bzw. Jugendtheologie?
typen13 im Bereich der Kindertheologie zusammentragen und dabei auch auf die in den Beiträgen der Jahrbücher für Kindertheologie verwendeten Methoden eingehen und diese systematisieren. Hier auf der Tagung14 unterscheidet das Tagungsprogramm zwischen 1. Bewegung und Musik 2. Kunstbilder 3. Kinderliteratur 4. Bibelerzählen 5. Ästhetische Vertiefung biblischer Texte 6. Kurzfilme 7. Dilemmageschichten 8. Bodenbilder Ist die Reihenfolge beliebig oder gibt sie eine Gewichtung vor? Warum haben »kreatives Schreiben« und »szenisches Interpretieren« oder zumindest »Gesprächsführung« als zentralster methodischer Zugang keinen Ort? Warum sind Bewegung und Musik verbunden? Gerade Musik bietet auch vielfältige andere methodische Zuspitzungen. Sind das kinderspezifische Methoden? Katrin Bederna, um mit der Elementarpädagogik zu beginnen, zählt für diese Altersgruppe auf: »Erzählungen, Paradoxie, Gedichte, Sprichwörter, Dilemmata, Gedankenexperimente«15. Als spezifisch elementarpädagogisch verortete Methoden werden genannt: »das Theologisieren im Alltag«, das »Theologisieren im Atelier« als Auseinandersetzung mit und über Kunst und das »Theologisieren mit Puppen.«16 Sind diese Methoden wirklich spezifisch für das Theologisieren im Kindergarten? Findet sich ein ähnliches methodisches Repertoire nicht auch für Jugendliche? Petra Freudenberger-Lötz verwendet in ihrem Buch »Theologische Gespräche
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mit Jugendlichen«17 auch Zitate, auch gemalte Bilder, auch Erzählungen bzw. ausliegende Kindertexte. Zusätzlich zu den genannten noch die »5-Schritt-Methode«, »Filme«, das »Schreibgespräch« und das »kreative Gestalten«. Ist das ebenfalls eine mehr zufällige Auswahl oder der Versuch einer umfassenden Liste? Darüber, warum ausgerechnet diese Methoden für Jugendliche geeignet sein sollen, liest man nichts. Rainer Oberthür versuchte schon 199818 in seinem Buch »Kinder fragen nach Leid und Tod« eine Zusammenstellung didaktischer Ansätze, die sich mehr oder weniger auf spezifische Methoden beziehen. Hier zeigt sich ebenfalls, dass die Frage nach dem Wie nicht von der Frage nach dem Was und dem Woraufhin zu trennen ist. 1. Lernen in und mit Fragen 2. Lernen durch Vergegenwärtigen 3. Lernen durch elementare Zugänge 4. Lernen als Dialog 5. Lernen in Metaphern und Symbolen 13 Vgl. Heinz Schmidt, Kinderfrage und Kindertheologie im religionspädagogischen Kontext, in: Gerhard Büttner / Hartmut Rupp (Hg.), Theologisieren mit Kindern, Stuttgart 2001, 11–19, 18f. 14 Tagungseinladung des Netzwerks Kindertheologie 2014 zum Thema Methoden vom 8.–10. September 2014 in Brandenburg a.d. Havel. 15 Katrin Bederna, Weisheitliches Theologisieren mit Kindern, in: Katrin Bederna / Hildegart König, Wohnt Gott in der Kita? Religionssensible Erziehung in Kindertageseinrichtungen, Düsseldorf / Berlin 2009, 68–81, 79. 16 Ebd. 17 Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Jugendlichen. Erfahrungen – Beispiele – Anleitungen, München 2012, 83–155. 18 Rainer Oberthür, Kinder fragen nach Leid und Tod, München 1998, 50, Erläuterung auf den Seiten 21–39.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
6. Lernen als ästhetische Bildung 7. Lernen im ethischen Urteilen und Handeln 8. Lernen als Subjekt 9. Lernen im theologischen Horizont. Diese Zusammenstellung wird von Heinz Schmidt zitiert, reflektiert und in der Darstellung seiner sieben didaktischen Grundtypen aufgenommen19 1. Das sokratische Gespräch 2. Die elementare »Lehre«, die Falsches heraus- und Richtiges feststellt. 3. Die »mythologische Erzählung« (Jung) 4. Die »literarische Erzählung« u.U. mit Bildern (Bilderbücher) 5. Der »frageorientierte Unterricht«, der von Kinderfragen ausgeht 6. Die Beschäftigung mit »Dilemmageschichten« 7. Die »Freiarbeit« Bei dieser Zusammenstellung steht die Gesprächsmethode noch ganz an der Kinderphilosophie orientiert am Anfang. Auch hier könnte man fragen, warum einerseits die mythologische von der literarischen Erzählung abgegrenzt wird und in welcher Form die »elementare Lehre«20 kindertheologisch tatsächlich eine Rolle spielt, außer dass hier in Form eines Wissensbuches relevante Informationen bereitgestellt werden. Ich kenne keine kindertheologische Publikation, die damit arbeitet, selbst wenn sie vielleicht tatsächlich als »Theologie für Kinder« gewertet werden kann. Indem Schmidt ergänzt, dass in der Freiarbeit die Heranwachsenden eigene Fragen entwickeln und »mit Hilfe unterschiedlicher Antworten selbststän-
dig bearbeiten«21, gehört dieser Ansatz eigentlich zum frageorientierten Unterricht. Ebenfalls nicht einsichtig ist, warum »eine Variante (der Freiarbeit) darin besteht, dass Kinder zum Alphabet Grundbegriffe des christlichen Glaubens entwickeln und diese dann für andere Kinder im Sinne eines Lexikons erläutern«22, wie Schmidt ausführt. Ist Freiarbeit in diesem Sinn eine klassische Methode der Kindertheologie? Auch Elisabeth E. Schwarz stellt in ihrem Beitrag »Philosophieren und Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen – Kompetenzen und Begleitung«23 spezifische Methoden zum Theologisieren zusammen. Sie nennt: – »Kinder sammeln Fragen zu Bibelgeschichten und kategorisieren diese am Boden in Gruppen; – Sie wählen Einzelfragen aus und verfolgen diese ausführlich im theologischen Gespräch; – Sie zeichnen Gottesbilder oder Himmelsvorstellungen und schreiben kurze Erklärungen dazu; – Sie gestalten theologische Begriffe wie »Gnade« und »Erlösung« künstlerisch – Sie schreiben Gedichte und Gebete passend zu einem Thema,
19 Heinz Schmidt (wie. Anm. 13), 18. 20 Als Beispiel wird auf das Buch von Rabbi Marc Gellman und Monsignore Thomas Hartmann »Wo wohnt Gott?« Fragen und Antworten für Eltern und Kinder, Hamburg 1997 verwiesen. 21 Heinz Schmidt (wie Anm. 13), 19. 22 Ebd. 23 Elisabeth E. Schwarz, Philosophieren und Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen – Kompetenzen und Begleitung, in: JaBuKi Sonderband, Stuttgart 2011, 149–164, 158.
Zimmermann Gibt es spezifische Methoden der Kinder- bzw. Jugendtheologie?
– Sie lesen und diskutieren Bilderbücher zu Leben, Tod, Treue, Mut …; – Sie wählen aus vielen Dingen jenes aus, das an Jesus … erinnert und begründen dies.«24 Auch hier wird wieder das gesamte methodische Repertoire genannt: Fragen, Zeichnen, Gestalten, Schreiben, auf Erzählungen hören, Auswählen. Aber warum nur Fragen zu Bibelgeschichten und nicht zu theologischen Problemen? Warum werden Gottesbilder nicht gestaltet oder ist eine beliebige Kombination der Einzelelemente möglich? All diese Listen bieten keine neuen kindertheologiespezifischen Methoden, ihnen scheint eine gewisse Beliebigkeit inne zu liegen. Die Auswahl, Reihenfolge und – falls vorhanden – die Systematisierung werden nicht begründet und eine Zuordnung bzw. Verhältnisbestimmung von Didaktik und Methodik erfolgt – wenn überhaupt – am Rande. Selbst Friedrich Schweitzer behandelt in seinem Buch Kindertheologie und Elementarisierung die Frage nach den »elementaren Formen« auf nur knapp sechs Seiten quasi nebenbei, nicht allerdings ohne festzuhalten, dass »die Frage nach den Formen des Lehrens und Lernens bei beiden Ansätzen, der Elementarisierung und der Kindertheologie, zumindest in gewisser Hinsicht vernachlässigt worden ist.«25 Sieht man die Beiträge in den Jahrbüchern für Kindertheologie nach den darin verwendeten Methoden durch, zeigen sich wieder andere Schwerpunkte, aber auch Überschneidungen z.B. in Form des Bildermalens, der begründeten Auswahl, der Fokussierung auf Kinderfragen bzw. des schriftlichen Formulierens von Erklärungen.
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Eindeutig dominiert allerdings durchgehend das Gespräch. Zusätzlich verwendete Methoden stellen meist nur den Anlass dar, um mit den Kindern ins Gespräch zu kommen. So finden sich nach Durchsicht der elf Jahrgänge und der diversen Sonderbände folgende methodische Zugänge nach der Häufigkeit der Verwendung: gemalte Bilder: Büttner 2002, de Roos 2002, Eckerle 2002, Hilger 2002, van’t Zand / de Ross 2003, Herrmann 2004b, Pola 2004b, de Roos 2005, Rupp / Ruoff 2005, Fenske 2006b, R. Zimmermann 2006b, Hofmann 2006b, Müller 2006b, Pütz 2007, Bünker 2008, Schwarke 2008b, Pirner 2008b, LinkWieczorek 2008b, Boschki / Momber 2008b, Oberdorfer / Naurath 2008b, Pitschmann 2010, Koch 2010, Dinter / Naurath / Scholz 2012, Büttner 2012, Schreibauftrag: Schart 2004b, Schulte 2004b, Schreiner / van Treeck 2004b, Gramzow 2008b, – Geschichten aufschreiben: Fenske 2006b, Jochum-Bortfeld 2006b, Naurath 2007, Schmidt 2009, Nauerth 2011b, – Schriftliche Antwort formulieren, Fragen beantworten: Ziegler 2008, Schiefer Ferrari / Schmid 2008b, Gebler / Riegel 2011b, Wagerer / Grill 2011b, – Gebet formulieren: Ertl / Lojewski 2004b, Schart 2004b, Rusam 2004b, Büttner / FreudenbergerLötz 2006b, – Schreibgespräch: Inou 2013, 24 Ebd. 25 Vgl. Friedrich Schweitzer, Kindertheologie und Elementarisierung. Wie religiöses Lernen mit Kindern gelingen kann, Gütersloh 2011, 73–77, 74.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
Bildbetrachtung/-analyse: Anacker 2004, Baumann 2004b, de Roos 2005, Karweick / Alkier 2006b, Maurer 2006b, Buntfuß / Feind 2008b, Gramzow 2008b, Boschki / Momber 2008b, Roose 2011b, Kraft 2011b, Schwendemann / Ziegler 2011b, Helbing 2011b, Puppenspiel: de Roos 2002, Büttner / Mahringer 2003, Anacker 2004, Bederna 2011b, Müller 2011b, Bilder aussuchen, Begriffen und Personen zuordnen: Liebold 2005, Fenske 2006b, Orth / Gerth 2008b, Oberthür 2013, Kunze-Beiküfner 2013 (Gotteskoffer), Visuelles Gestalten: Szagun 2006, Szagun 2007, Oberthür 2013, Kunze-Beiküfner 2013, Fragen formulieren lassen, evtl. beantworten: Ertl / Lojewski 2004b, Fricke 2004b, Freudenberger-Lötz 2011b, Materialangebot (Godly Play): Steinhäuser 200726, Lasch / Mette 2010, Steinhäuser 2011, Steinhäuser 2013, Bilderbuch / Geschichte vorlesen: Pitschmann 2010, Eikermann 2012, Clustern: Kropac / Mohr 2012, Büttner 2013, Textpuzzle: Hiller 2008b, Oberthür 2013, Biblische Texte / Lieblingstext auswählen: Inou 2013, Gärtner / Pisarski 2013 Leibliche Erfahrungen: Fricke / Riegel 2011, Passende Musik aussuchen: Schiefer Ferrari / Schmid 2008b Experimente entwerfen: Hössle 2012, Dilemmata: Büttner / Rupp 2002. Was trägt eine solche Liste aus? Lässt sich aus der Beschreibung des Status quo auch präskriptiv eine Methodenpräferenz ableiten? Wenn methodische Zugänge wie z.B. »Fish-bowl« oder »Think-pair-
share« hier nicht auftauchen, heißt das, dass diese kindertheologisch nicht verwendbar wären? Auch ist es nicht möglich, in dieser Liste eine spezifische methodische Zuordnung zu Altersstufen oder Lerngruppen festzustellen. Vielleicht möchte man argumentieren, dass die Methoden mit sprachli26 Gemeint sind Regale, die die Räumlichkeiten für Godly Play bestimmen. Das Fokusregal ist der markanteste Orientierungspunkt im Raum. In dem genannten Beispiel beschreibt Steinhäuser die Anordnung folgendermaßen: »Die Krippe wird links und rechts gerahmt von Symbolisierungen zweier zentraler Ichbin-Worte Jesu (Guter Hirte & Licht der Welt). Jeweils darunter, im mittleren Fach, liegen die Materialien zum Spielen der beiden Sakramente (…) links der Korb mit dem Taufmaterial. Im untersten Fach liegen Symbolisierungen dessen, womit sich Menschen an den sakramentalen Wirklichkeiten beteiligen können: ein Korb mit Teelichtern unter der Taufe; multikulturelle Figuren zur weltweiten Gemeinschaft der Christen am Tisch des Herrn auf der anderen Seite. Links vom Fokusregal (…) steht das sog. »Weihnachtsregal« (…). Rechts neben dem Fokusregal sieht man ein Stück vom sog. »Osterregal«, das die Materialien zur Passionsgeschichte, zu Ostern und einiges zur Kirchwerdung beinhaltet. Weitere Regale schließen sich an, die z.B. die Gleichnisschachteln oder die Wüstenkiste mit den Figuren des Volkes Gottes enthalten. Die Ordnung innerhalb der Regale ist stets gleich: Obenauf stehen die Materialien der sog. »Kerndarbietungen«, die Mittelfächer versammeln »Vertiefungen«, in den untersten Fächern finden die Kinder Dinge, mit denen sie weiterarbeiten oder erweitern können, wie verschiedene Bibeln, Gebete-Sammlungen, illustrierendes Zusatzmaterial oder lexikalische Bücher. (…) Diese Anordnung der Materialien ist im Konzept von Godly Play vorgeschlagen und wird je nach räumlichen und konfessionellen Erfordernissen variiert. Vgl. Martin Steinhäuser, Godly Play als Instrument subjektiver Theologie, in: JaBuKi 6, Stuttgart 2007, 65–79, 67f.
Zimmermann Gibt es spezifische Methoden der Kinder- bzw. Jugendtheologie?
cher Reflexion eher für die älteren, die ganzheitlich sinnorientierten eher für die jüngeren Kinder anwendbar wären, weil wir von einem mehrdimensionalen Reflexionsbegriff ausgehen. Die Übersicht zeigt aber, dass außer dem »Theologisieren im Alltag« alle methodischen Zugriffe nicht auf Altersgruppen beschränkt sind, bzw. von diesen bevorzugt werden. Das Malen von Bildern dominiert in der Elementar- und Primarpädagogik, findet durchaus aber auch danach Anwendung. Es deutet sich also an, dass es »100 Wege« für die konkrete Ausgestaltung des Theologisierens gibt. Was lässt sich als Ergebnis dieser Bestandsaufnahme festhalten? Es findet sich eine Vielfalt an eingesetzten Methoden in kindertheologischen Publikationen. Dabei dominiert das Malen von Bildern, anhand derer dann theologische Gespräche stattfinden, nach Schreibaufträgen und Bildbetrachtungen. Die Fokussierung auf Schüler- / Kinderfragen scheint ein methodisches Spezifikum zu sein, wobei Schülerfragen an sich ja keine Methode darstellen, sondern es sich bei der Berücksichtigung von Schülerfragen eher um ein didaktisches Prinzip handelt. Verfügbare methodische Listen aus der Literatur erscheinen eher zufällig zusammengestellt. Eine Reflexion der Methode hinsichtlich der folgenden Gesprächsorientierung findet kaum statt, gesprächsorientierte Zugänge (Gesprächsführung als Methode) sind allerdings in der kindertheologischen Literatur breit aufgearbeitet.27
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Folgende zwei Fragen stellen sich im Kontext vorangegangener Überlegungen: 1. Was bestimmt in der Kindertheologie die Wahl der Methode beim Theologisieren mit Kindern? Der Inhalt, das Ziel oder ein zufälliges Vorgehen? 2. Gibt es Kriterien, die einzelne Methoden als besonders geeignet für theologisches Nachdenken der Kinder prädestinieren? Diese beiden Fragen sollen den weiteren Gang dieses Beitrags bestimmen: 2. Die Begründung der Methodenauswahl
Was sind überhaupt Methoden? Denken wir einen Augenblick darüber nach, wird deutlich, dass die Bestimmung gar nicht so einfach ist. Sind Freiarbeit, das Rollenspiel, Projektarbeit und der Lehrervortrag eine Methode? Wie sieht es mit Partnerarbeit aus – das ist doch eine Sozialform. Ist das gleichzeitig auch eine Methode? Hilbert Meyer schreibt zum Methodenproblem: »Es gibt kaum einen anderen Problembereich der Erziehungswissenschaft, in dem trotz umfangreicher empirischer Forschungen und trotz einer Hülle und Fülle an Ratgeberund Rezeptliteratur ein ähnlich großes Durcheinander in der Begriffs- und Theoriebildung herrscht wie in der Unterrichtsmethodik.«28 27 Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern. Untersuchungen zur Professionalisierung Studierender und Anstöße zu forschendem Lernen im Religionsunterricht, Stuttgart 2007. 28 Hilbert Meyer, UnterrichtsMethoden. Theorieband, Berlin 1987, 38.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
Erinnern wir uns kurz an die Etymologie des Begriffs: Im Griechischen heißt »Methodos« »mit einem Weg«, »hodos« ist der Weg, »meta« die Präposition »mit« – es geht also um einen gewählten Weg. Die Weg-Metapher impliziert aber bereits einen Ausgangsund Zielpunkt oder zumindest einen »Richtungssinn«. Wer einen Weg wählt, möchte in der Regel an einen anderen Ort kommen. Methode wäre im weiten Sinn also der Lernweg des Schülers bzw. der Schülerin, der Weg zur Kompetenzerweiterung, bezogen auf unser Thema: Der gewählte Weg, um theologische Kompetenz von Kindern / Jugendlichen zu fördern. Bleiben wir noch einen Moment bei der Etymologie: Das aus derselben sprachlichen Wurzel abgeleitete »methodéia« lautet »List, Trug« und verweist darauf, dass wir als Lehrende bzw. Forschende etwas erreichen wollen, wofür wir zumindest manchmal eine List brauchen, bzw. diese List es vereinfacht, nämlich z.B. mit den Kindern ins Gespräch zu kommen. Vergleicht man unterschiedliche Definitionen, finden sich stoff- und inhaltsbezogene neben ziel- und motivationspsychologischen und lehrerzentrierten Definitionen. Geht es bei der Methodenfrage um »Hilfe und Führung«29, sind Methoden »Interaktionsroutinen«30 oder bestimmen sie die »Wahl optimaler Mittel bei gegebenen Zielen«31? Dabei variiert das Methodenverständnis hinsichtlich einer Über-, Gleich- oder Unterordnung in Bezug auf den Inhalt. Richtig ist zweifelsohne, dass zwischen Inhalt und Methode eine gewisse Stimmigkeit herrschen muss: Der Inhalt bestimmt die Methode, aber die Methode bestimmt auch den Inhalt. Wissen-
schaftlicher ausgedrückt: »die Struktur des Lernprozesses, der zur Aneignung eines bestimmten Unterrichtsinhalts führen soll, muss der Struktur dieses Inhalts entsprechen.«32 Nun geht es in kindertheologischen Zusammenhängen aber nicht unbedingt um die Aneignung eines bestimmten Unterrichtsinhalts im engen Sinn, sondern vielmehr um den Zuwachs an theologischer Kompetenz.33 Aber auch das ist ein abstrakter formaler Inhalt. Wenn Inhalte und Methoden in einem Wechselverhältnis stehen, dann kann die Wahl der Methode nicht beliebig sein. Methoden sind aber an sich zielgerichtet. Lassen Sie uns das an einem Beispiel veranschaulichen: Wenn bei der Wahrnehmung kindlicher Gedanken z.B. zu Jesu Himmelfahrt34 mit einem Bild gearbeitet wird, zu dem die Kinder ihre Gedanken aufschreiben sollen, dann sind die Antworten auf die Fragen »Was denkt Jesus?«, »Was fühlt Jesus?«, »Was denken die Jünger?«, »Was fühlen die Jünger« stark von der gewählten Abbildung beeinflusst. Das Ergebnis kann somit aber nicht als genuine Deutung der Kinder interpretiert werden, bzw. die didaktische Intention des Bildes müsste vorher
29 W. Flitner 1950, 18 zit. nach Meyer (wie Anm. 27), 53. 30 Bernfeld 1967, Wellendorf 1973, zit. nach Hilbert Meyer (wie Anm. 27), 53. 31 Möller 1973, 28, zit. nach Hilbert Meyer (wie Anm. 27), 53. 32 Hilbert Meyer (wie Anm. 27), 72. 33 Vgl. Mirjam Zimmermann (wie Anm. 10), vgl. zusammenfassend These 6–8, 403–405. 34 Markus Buntfuß / Claudia Feind, Aufgefahren in den Himmel. Das Bekenntnis zur Himmelfahrt Christi, in: JaBuKi Sonderband, Stuttgart 2008, 99–107, 104.
Zimmermann Gibt es spezifische Methoden der Kinder- bzw. Jugendtheologie?
analysiert werden, was an dieser Stelle nicht erfolgt. In der Publikation wird nicht einmal benannt, welches Bild hier verwendet wird.35 Bei einem Malauftrag, dies sei als zweites Beispiel angefügt, hat Szagun kritisch zeigen können36, dass Malaufgaben immer implizite Vorgaben, die das Medium DIN A4 Bild fordert, hinsichtlich der inhaltlichen Bearbeitungen zur Folge haben. So fördert der Auftrag, Gott zu malen z.B. personenbezogene, anthropomorphe Darstellungen. Dennoch rangieren Malaufgaben auch in der Methodenhitliste auf Rang eins, ohne dass selbiges entsprechend reflektiert wird. Wenn Unterrichtsmethoden an sich oder zumindest implizit zielgerichtet sind, muss auch in kindertheologischen Publikationen über die Methodenverwendung reflektiert werden, was an kaum einer Stelle erfolgt. Formulieren wir kindertheologische Ziele offener, muss gefragt werden, inwiefern die gewählte Methode den Zugewinn theologischer Kompetenz unterstützt. Kindertheologie, verstanden als »Theologisieren mit Kindern«, versucht Lehr- und Lernprozesse so zu initiieren, dass Kinder in ihrer theologischen Eigenaktivität angeregt und gefördert werden sollen. Auch wenn das Ziel hierbei nicht von vornherein festliegt, geht es dennoch nicht um ein beliebiges und planloses Plaudergespräch. Das kindertheologische Gespräch möchte vielmehr Kindern einen Gedankenfortschritt, ein »Heureka-Erlebnis« oder die Öffnung für ein Problem ermöglichen. So gesehen sollen Kinder beim Theologisieren domänenspezifisch auf höhere Kompetenzniveaus gelangen, also einen Kompetenzzuwachs erreichen.
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Im Sinne der Grundlagendefinition von Kompetenzen (Weinert) geht es darum, (kognitive) Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Lösen von komplexeren Problemen zu erwerben. Da Kompetenzen bereichs- und domänenspezifisch sind, kann sich Lernen nicht abstrakt vollziehen, sondern findet in Auseinandersetzung mit bereichsspezifischen Inhalten unter Einziehung passender Methoden statt. Nur so sind Kompetenzen erlernbar und ausbaufähig. Betrachten wir das Raster zur theologischen Kompetenz in Applikation des allgemeinen Kompetenzbegriffs37, kann man versuchen, aus der Applikation auf theologische Kompetenz methodische Prinzipien zu entwickeln, die dann bei der Auswahl der kindertheologischen Methoden herangezogen werden können. Die jeweils gewählte Methode muss kognitiv herausfordern, bzw. Erfahrungen zur Verfügung stellen, die kognitiv reflektiert werden können. Anhand dieses Rasters kann so z.B. eine Methode hinsichtlich ihres Ertrags zur Förderung theologischer Kompetenz überprüft werden. Dies soll anschließend an einem Beispiel veranschaulicht werden.
35 Es ist, wie ich nach einer Recherche feststellen konnte: Christi Himmelfahrt von Andrea Mantegna, Altarretabel der Palastkapelle des Herzogs von Mantua, 1461, Florenz, Uffizien. 36 Vgl. Anna-Katharina Szagun, Mosaiksteine einer religiösen Biographie – »… aber Gott hat mich immer wieder aufgebaut«, in: JaBuKi 6, Stuttgart 2007, 138–152, 139. Ausführlich in: Dies., Dem Sprachlosen Sprache verleihen, Jena 2006. 37 Mirjam Zimmermann (wie Anm. 10), 163.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
Methodische Prinzipien
Der Begriff der Kompetenz nach Weinert / Klieme
Applikation auf theologische Kompetenz
1. Kognitive Fähigkeit
Kognitive Fähigkeit – kognitiv aktivierend für jeden a) im Stellen und Verarbeiten einzelnen theologischer Fragen – Erfahrungen werden angeb) durch narrative und metaregt / abgerufen, die dann phorische Denkweise kognitiv reflektiert werden c) im Bearbeiten von Paradoxien können und hermeneutischen Fragen – Frageorientierung – motivationale Bereitschaft kognitiv zu arbeiten, wird unterstützt
2. Geeignet zur Problemlösung
Theologische Probleme als Bezugspunkt zwischen Kind und Sache
– sinnvolle Problemstellungen als Ausgangsbasis
3. Bereichs- und domänenspezifisch
Referenzbezug Glauben
– unterstützt Auseinandersetzung mit christlicher und kirchlicher Glaubenstradition – unterstützt identifikatorische Glaubensvergewisserung – unterstützt Reflexion von Glaubenspraxis und -theorie – unterstützt Vernetzung theologischer Inhalte – differenziert zwischen Deutung im Medium und Deutung der Kinder
4. Erlernbar, überprüfbar und ausbaufähig
Nachhaltigkeit und Überprüfbarkeit theologischer Kompetenz: Gute Kindertheologie durch Anwendung von wahrnehmungs- und vermittlungsorientierten Methoden
Methode fördert – Logik, Stringenz, Kohärenz von Aussagen – Sprachkompetenz – Angemessenheit, Referentialität, Relevanz – Abstraktionsniveau / Komplexitätsgrad, Vernetzungsmöglichkeiten – Bezug zu biblischer und theologischer Sprachtradition – Bezug zu Positionen biblischer Tradition und Wissenschaft
5. In Anwendungssituationen abrufbar
– anwendungsbezogen – unterstützt nachhaltiges Lernen
Zimmermann Gibt es spezifische Methoden der Kinder- bzw. Jugendtheologie?
Möchten wir also z.B. den oben genannten Bildinput hinsichtlich seiner Förderung theologischer Kompetenz bewerten, so ist die Einzelarbeit der Bildbetrachtung im Zusammenhang mit dem Arbeitsauftrag, die Gefühle und Gedanken der Jüngerinnen und Jünger zu beschreiben, in den Blick zu nehmen. Festzustellen ist, dass Schülerinnen und Schüler dabei kognitiv gefördert werden, aber es durch die Aufgabenstellung zu einer Vermischung der theologischen Deutungen der Schülerinnen und Schüler und des Bildes kommt. Die Einschätzung der Kinder ist natürlich von der Aussage des Bildes geprägt. Damit ist zwar ein Bezug zu theologischer »Sprachtradition« hergestellt, dies wird aber nicht explizit durch die Aufgabenstellung deutlich gemacht. Diese hätte dann heißen müssen: »Welche Gedanken und Gefühle werden durch die Darstellung der Himmelfahrt vom Maler assoziiert?« Damit erst wäre klar unterschieden worden zwischen der Theologie des Malers und der der Kinder, die die Autoren hinterher als solche auswerten, ohne auf die Verfälschung zu achten. Es wird dabei sogar verhindert, dass sich die Lernenden ausgehend vom Text in die Situation eindenken, denn das Bild beeinflusst die Assoziationen wahrscheinlich stärker als der zuvor gelesene biblische Text. Weiter wird durch die Aufgabenstellung weder Raum für Fragen gegeben, noch wird in irgendeiner Weise eine Anwendungssituation geschaffen, in der sich die Befragten zumindest positionieren müssen (Soll das Bild in ein Schulbuch aufgenommen werden? Ist es als Altarbild passend? O.Ä.). Auch eine Vernetzung theologischer Inhalte wird nicht angeleitet, indem z.B. gefragt worden
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wäre, welche Textelemente aufgenommen worden sind, welche nach Meinung der Schülerinnen und Schüler falsch sind und welche hätten unbedingt noch aufgenommen werden sollen. Indem die Bearbeitung an sechs Stationen erfolgt, die die Kinder schriftlich auf vier Arbeitsblättern absolvieren, findet keine Prüfung der Logik, der Stringenz, der Kohärenz, der Angemessenheit oder Relevanz der Deutungen statt. Im Sinne der ausschließlichen Erfassung der Theologie von Kindern wäre das zwar denkbar, das wird im Beitrag aber nicht als Zielperspektive ausgewiesen und der methodische Einsatz des Bildes (s.o.) spricht dagegen. Kritisiert werden kann: So wie bei jeder guten Dokumentation der Unterrichtsplanung müsste im Zuge kindertheologischer Arbeit die Verwendung von Methoden, sei es in voraussetzungs-, kompetenz- oder sei es in prozessorientierter Planung, reflektiert werden. Lässt sich die häufige Verwendung von Bildern nun rein von der Tradition rechtfertigen oder gibt es auch inhaltliche Gründe, die qualitativ diesen Methoden eine besondere Relevanz in kinder- und jugendtheologischen Kontexten zuweisen? Hier nur ein flüchtiger Gedanke: Man könnte etwa an die Rolle von »Metaphern« im kindertheologischen Sprach- und Denkvorgang denken. Weil das kindertheologische Denken metaphorisch erfolgt, sind Bilder als Katalysatoren des kindertheologischen Sprechens besonders geeignet. Das Sprachbild wird besonders durch materiale Bilder angeregt. Dies müsste man empirisch prüfen, soll allerdings hier nicht vertieft werden.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
Folgende Leitthesen können diesen Teil aber zusammenfassen: 1. Die Wahl der Methoden ist maßgeblich für die Kindertheologie und muss didaktisch reflektiert erfolgen. Die Förderung theologischer Kompetenz ist von der gewählten Methode abhängig. 2. Die domänenspezifischen Inhalte sind nicht von den verwendeten Methoden zu trennen. Inhalte und Lernwege der Kindertheologie sind aufs Engste miteinander verknüpft. Man könnte vielleicht von einem didaktisch-methodischen Tandem sprechen. Außerdem soll eine weitere hinzugefügt werden, die daraus unmittelbar resultiert: 3. Es gibt spezifische Methoden, die besondere kindertheologische Relevanz im Rahmen prozessorientierter Kompetenzen haben. Damit ist natürlich die Frage gestellt, welche Methoden das sein können, in denen »message and medium« Hand in Hand gehen. Wir haben schon das BildMetaphern-Tandem oder auch das FrageInfragestellungs-Tandem angedeutet. Im folgenden Teil soll das Konzept der mimetischen Bibeldidaktik vorgestellt werden, durch das m.E. ein weiteres Beispiel dieser Verflochtenheit von Inhalt und Methoden der Kindertheologie gegeben ist. 3. Mimetische Kinderexegese als Bibel-Sprache-Tandem kindertheologischer Kompetenz
Dass die Auseinandersetzung mit der Bibel ein zentraler Gegenstand kindertheologischen Lernens ist, bedarf keiner wei-
teren Begründung. Domänenspezifische Kompetenz setzt die Einbeziehung von Sprach- und Denkwelten der jeweiligen Tradition voraus. In Gestalt der Kinderexegese, d.h. einer eigenständigen und spezifischen Auslegungsweise biblischer Texte, wurde dieses Feld immer wieder bearbeitet und reflektiert.38 Wesentlicher Bestandteil kindertheologischer Kompetenz ist jedoch nicht nur die kognitive Auseinandersetzung mit biblischen Traditionen, sondern auch die urteils- und identitätsfördernde Beschäftigung mit denselben. Um in den Sprachformen der Bibel in diesem Sinne heimisch zu werden, ist es notwendig, nicht nur »über« sie zu sprechen, sondern sie auch nachzusprechen, umzusprechen und neuzusprechen. Damit biblische Bilder zu »Vorbildern«, Erzählungen zu »Meister-Erzählungen« der eigenen Lebensgeschichte werden können, oder man sich auch kritisch davon distanzieren kann, muss man sich in ihnen bewegen. Das große Haus der biblischen Poesie muss bewohnt werden. Es darf nicht nur Gegenstand distanzierter Betrachtung sein.39 Dies gilt umso mehr, als eine passive Aneignung dieser Bilder, sei es durch Liturgie, Pre38 Vgl. den Überblick in Mirjam Zimmermann, Kindertheologie und Kinderexegese, in: Dies. / Ruben Zimmermann, Handbuch Bibeldidaktik, Tübingen 2013, 428–433. 39 Vgl. zur schönen Metapher des Bibelhauses das Gleichnis von Carlos Mesters, dazu Mirjam und Ruben Zimmermann, Das Leben ›hinter den Wörtern‹. Befreiungstheologische Bibelhermeneutik, in: Susanne Luther / Ruben Zimmermann (Hg.), Studienbuch Hermeneutik. Bibelauslegung durch die Jahrhunderte als Lernfeld der Textinterpretation. Portraits – Modelle – Quellentexte, Gütersloh 2014, 296–307.
Zimmermann Gibt es spezifische Methoden der Kinder- bzw. Jugendtheologie?
digt oder kulturelle Verwendung (Musik, Kunst), immer weniger möglich ist. Die Sprachschule der biblischen Poesie kommt somit immer mehr einer Alphabetisierung gleich. Mit anderen Worten, es geht um eine Didaktik der Nachahmung biblischen Sprechens. Der biblische Text ist dabei nicht nur bedeutungsloser Träger einer Botschaft, sondern tragendes, fundierendes Medium. Um es mit dem Medienwissenschaftler Marshal McLuhan zu sagen: »The medium is the message.« In meinem folgenden Teil möchte ich dieses didaktische Prinzip unter dem Stichwort der »Mimetischen Bibeldidaktik« etwas grundsätzlicher in den Blick nehmen. 3.1 Mimesis als Prinzip in Bibel und (Religions-)pädagogik40
Die exegetische Wissenschaft hat an vielen Stellen zeigen können, dass die biblische Überlieferung selbst als ›mimetischer Prozess‹ beschrieben werden kann. Dies gilt schon bei den Geschichtserzählungen der hebräischen Bibel (z.B. das deuteronomistische Geschichtswerk in Bezug auf die jahwistisch-elohistische Erzählung), bei Fortschreibungsprozessen der Prophetie (z.B. Jesaja-Buch), aber ebenso bei den Evangelien oder auch einzelnen Mikro-Gattungen wie Gleichnissen oder Wundererzählungen. Die vorfindliche Jesuserzählung des Markus wird z.B. von Lukas nicht einfach kopiert, sondern in einer Weise ›nachgeahmt‹, die wir ›mimetisch‹ nennen können (Lk 1,1–3). Denn einerseits wird die Tradition mit Respekt und Achtung bewahrt, doch zugleich wird sie in kreativer Weise in die jeweilige Situation hinein vermittelt. Selbst begrifflich kann die Weitergabe der Glaubensbotschaft an den Terminus
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»mimesis« gebunden werden. Insbesondere in den paulinischen Texten ermutigt der Apostel seine Adressaten »Nachahmer« zu werden, in 1. Kor 11,1 etwa seiner eigenen Person, wie er seinerseits Nachahmer Christi sei. Bibeldidaktik hat nun das Verstehen der Bibel im religionspädagogischen Kontext zum Ziel.41 Dabei schließt dieses Verstehen drei Dimension mit ein, die im Idealfall ineinanderfließen: Verstehen ist auf den Gegenstand der Bibel selbst bezogen, es geht um den Vorgang des Verstehens im hermeneutischen Prozess mit der Bibel und schließlich um eine (Selbst-) Erkenntnis des Verstehenden im Licht der Bibel. Mit dem MimesisBegriff ist nun ein Prinzip gegeben, das in vieler Hinsicht anschlussfähig ist für die Grundanliegen der Bibeldidaktik wie auch der kindertheologischen Bibeldidaktik im Speziellen. Erstaunlicherweise hat der Mimesis-Begriff weder über Girards allgemein-anthropologische Überzeugung, dass menschliches Handeln auf Nachahmung beruhe, noch über Ricoeurs text- und lebensweltorientierte Hermeneutik bisher Einzug in die religionspädagogische Fachdiskussion gehalten. Dies ist umso beachtlicher als auch bereits die antike Diskussion zum Mimesis-Begriff explizit pädagogische Aspekte 40 Die folgende Passage ist übernommen aus Mirjam und Ruben Zimmermann, Skizze einer mimetischen Bibeldidaktik. Schrifthermeneutik im religionspädagogischen Kontext, in: Praktische Theologie 49 (2014) 3, 165–172, 167–168. 41 Vgl. Mirjam und Ruben Zimmermann, Bibeldidaktik – eine Hinführung und Leseanleitung, in: Dies. (Hg.), Handbuch Bibeldidaktik, Tübingen 2013, 1–21.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
einschließt. So steht die Frage von Mimesis und Erziehung im dritten Buch von Platons Politeia geradezu im Zentrum und lässt die Grundüberzeugung des Philosophen erkennen, dass junge Menschen besonders durch Nachahmung lernen. Leider kann an dieser Stelle nicht weiter auf Aspekte der antiken und späteren Begriffsdiskussion zur Mimesis eingegangen werden. Hier seien nur folgende Ergebnisse genannt: Mimesis ist keine Kopie eines vorgegebenen Gegenstandes, der in einem 1:1-Entsprechungsverhältnis nachgebildet wird. Zugleich kann aber zwischen gelungener und misslungener Mimesis unterschieden werden, was für Platon am Maßstab der Teilhabe an der Wahrheit gemessen wird. Mimesis bezieht sich auf einen vorausliegenden Gegenstand, aber die Art der Darstellung und Bezugnahme vergegenwärtigt diesen in intensivierter, kreativer und produktiver Weise. Damit gelingt eine Balance zwischen Traditio und Innovatio. Mimesis hat eine kognitive und affektive Wirkung, sei es auf den Nachahmer, sei es auf den Rezipienten der Nachahmung, löst also Erkenntnisprozesse und Emotionen aus. Mimesis hat einen Prozesscharakter, bei dem eine Mimesis wieder neue Akte der Mimesis hervorbringt. 3.2 Mimesis als Methode der Kindertheologie
Wollen wir uns der Bibel im Sinne einer mimetischen Bibeldidaktik annähern, kann deshalb die spezifische Form der biblischen Überlieferung nicht nur wahrgenommen, sondern auch didaktisch und sogar methodisch aufgenom-
men werden, da die Botschaft der Bibel nicht jenseits oder hinter ihrer Medialität, sondern nur in, mit und unter ihrer Sprech- und Denkweise zu verstehen ist. Ziel einer mimetischen Didaktik ist es deshalb, dass Schülerinnen und Schüler selbst zu »Mimeten«, zu aktiven Nachahmern werden und nicht nur die Mimesis eines biblischen Autors oder einer Kommentatorin nachempfinden. Dabei können ganz unterschiedliche Aspekte nachgeahmt werden. So kann eine biblische Figur nicht nur in ihrer tugendhaften Weise, sondern gerade auch in der Ambivalenz, wie sie biblischen Charakteren eigen ist (z.B. Jakob als Betrüger und Gesegneter), zum Glaubens-Vorbild werden. Ferner kann eine Einzelgattung oder sogar ein ganzes biblisches Buch mimetisch aufgenommen werden. Oder es geht um eine spezifische Denk- und Sprechweise, mit der ein theologisches Problem z.B. narrativ, metaphorisch oder dialektisch erörtert wird. Auch die Art und Weise des mimetischen Aktes folgt dem Variationsreichtum der biblischen Texte selbst und geht darüber hinaus. Mimesis unterscheidet sich von Auswendiglernen und Kopieren. Es geht immer um einen kreativen Prozess der Übertragung, Anwendung und Vergegenwärtigung: Die Mimesis ermöglicht ein Einstimmen und Einsprechen in biblisches Theologisieren, das zum Weitersprechen und Weiterdenken führt. Das ist Kindertheologie! Ziel des mimetischen Prozesses ist die Erstellung eines Ermöglichungsraums für die lebendige Erfahrung biblischer Grundwahrheiten. Oder konservativer ausgedrückt: Das mimetische Interaktionsgeschehen ermöglicht es, im aktuellen Hören, Sprechen und Verstehen des
Zimmermann Gibt es spezifische Methoden der Kinder- bzw. Jugendtheologie?
›Wortes Gottes‹ zugleich Kontinuität zum biblischen Hören, Sprechen und Verstehen zu erkennen. 4. Beispiele aus der Praxis
Zur Veranschaulichung sollen zwei Projekte aus der Praxis vorgestellt werden, die sich biblischen Fragen, Themen und Texten angenommen haben. Allen steht eine zentrale Schülerfrage zur Seite, aus der heraus die Sequenz gestaltet wurde. Der methodische Zugang wurde so gewählt, dass die oben aufgeführten Kriterien möglichst erfüllt waren. 4.1 Warum können wir nicht mal moderne Gleichnisse machen? (Klasse 5/6)
Im ersten Beispiel ging es darum, selbst Gleichnisse zu schreiben. Zur Zeit der Europameisterschaft im Fußball lag nichts näher als dazu auf das Bildfeld »Fußball« zurückzugreifen. Ziel in einem Unterrichtsprojekt war es, mit Hilfe dieses Bildbereiches von Gott zu sprechen und dafür ein Anspiel für einen Schulgottesdienst zu schreiben. Folgende Fragen stellten sich: Welcher bildspendende Bereich eignet sich dafür? Wie wäre Gott als Torwart, als Trainer, als Mitspieler? Wie würde er handeln, wenn jemand einfach nicht Fußball spielen kann und trotzdem immer mitspielen will (das war ein ernstes und scheinbar reales Lebensproblem, das eine Gruppe von Schülern hatte!). Was wäre ein Foul und wie würde Gott darauf reagieren? Das Gespräch, das sich in der Arbeit an dieser Aufgabe entfaltete, war getragen
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vom Ringen nach Aussagen, die man selbst zu Gott machen könnte und dem Versuch, das in bildhafte Sprache umzusetzen. Fragen wie »Straft Gott?« und die spezifischen Antworten der Kinder wurden gestellt und diskutiert. Dabei ging es darum, mit biblischen Texten zu belegen, dass die eigene Einschätzung richtig war. Hier wurden die Logik, die Stringenz, die Angemessenheit und die Kohärenz von Aussagen in der Gruppe selbst geprüft. Hier wurde Sprachkompetenz gefördert. Ein Bezug zu biblischer und theologischer Sprachtradition fand statt. Die Aufgabe war für viele, vor allem für die Jungen aktivierend. (Einige Mädchen wollten sich lieber damit beschäftigen, wie Gott sich verhalten würde, wenn er einen Reitstall zu leiten hätte). Viele Fragen wurden gestellt, die motivationale Bereitschaft, sich auf theologische Denkprozesse einzulassen, war erstaunlich. Das Ergebnis kann man in dem publizierten Unterrichtsvorschlag nachlesen.42 4.2 Hiob reloaded – Klasse 10/1143
Auch hier stand eine Frage »Warum lässt Gott das Leid zu?« am Anfang der Planung einer Unterrichtseinheit. Die Schülerinnen und Schüler hatten sich Fragen ausgesucht, mit denen sie sich beschäftigen wollten und es war unproblematisch, diesen Themen des Schulcurriculums 42 Mirjam Zimmermann, »… von Gott reden?!« Moderne Bilder für Gott finden und in einem Schulgottesdienst gestalten, in: Religion 5–10 (2011) Heft 1, 8–13 (zuzüglich 6 Materialseiten im Materialheft). 43 »Hiob reloaded« – nach Gerechtigkeit fragen. Schülerinnen und Schüler schreiben moderne Hiob-Erzählungen, in: Religion 5–10 (2011) Heft 4, 28–33 (zuzüglich 3 Materialseiten im Materialheft).
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
zuzuordnen. Schwieriger war die Frage, welcher methodische Zugang sich anböte, um jugendtheologisch arbeiten zu können. Ich entschied mich dafür, den Lernenden den Auftrag zu geben, ein modernes Hiobbuch nach der biblischen Vorlage schreiben zu lassen, weil im Hiobbuch selbst viele unterschiedliche Antwortversuche auf die Ausgangsfrage gegeben werden. Die Schülerinnen und Schüler bekamen unterschiedliche Bilder, anhand derer sie sich eine Ausgangssituation wählen konnten, die als Rahmen für ihre Hioberzählung gestaltet wurde. Erzählerisch fand die Umsetzung eng an den literarischen Strukturen der Hiobrahmenerzählung statt. Im Anschluss wurden dann die Teile des Hiobbuches (Klage, Antworten der Freunde, Anklage Hiobs, Hiob 28 (Weisheitslied), Gottesrede, Rahmen am Ende) besprochen und die Lernenden sollten dies jeweils literarisch umsetzen. Eine Lesung durch die Autorinnen und Autoren selbst ausgewählter Hiobbücher sollte am Karfreitag in der Kirche erfolgen. Folgende Fragen entzündeten sich hier, die jeweils wie im ersten Beispiel im Rückgriff auf andere biblische Texte, im engagierten Austausch und in theologischer Diskussion behandelt wurden: Gibt es den Teufel, bzw. wie kann ich die Himmelsszene gestalten oder möchte ich sie als nicht-zeitgemäß streichen? Was sind die typischen theologischen Fragen, die Menschen in solchen existenziellen Situationen stellen? Welche Antworten geben die Freunde, wie verhalten sie sich? Was ist hier hilfreiche Seelsorge und hilfreiche Theologie?
Wie kann eine Anklage an Gott modern gestaltet werden? Trägt bzw. überzeugt die Antwort, die in Hiob 28 und in den Gottesreden gegeben wird? Wie kann eine Gottesbegegnung heute aussehen? Wie könnte man sie literarisch inszenieren? Möchte ich ein HappyEnd meiner Geschichte? Ist ein solcher Rahmen hilfreich für Menschen im Leid? Inspiriert vom biblischen Text wurde versucht, diesen zu aktualisieren, zu modernisieren und dabei diese Fragen individuell theologisch zu beantworten. Der Austausch darüber, in welcher Form grundsätzliche Abweichungen hilfreich und noch textgemäß sind, war auch für die aktivierend, die selbst nicht so ungewöhnliche Ideen hatten. Auch bei dieser Methode wird der kognitiv aktivierende Anwendungsbezug deutlich. Trotz der biblischen Vorlage werden Erfahrungen angeregt und abgerufen. Eine nicht entscheidbare Frage ist Ausgangspunkt, viele weitere Fragen schlossen sich an und waren im Gespräch zentral. So fand eine Auseinandersetzung mit der christlichen Glaubenstradition im Hiobbuch statt, bei der wiederum die Analyse von Logik, Stringenz, Kohärenz von Aussagen im biblischen Text mit denen im eigenen Text vernetzt wurde: Die Antworten im Hiobbuch sind allerdings nicht kohärent, sie stehen teilweise sich widersprechend nebeneinander. Manche Schülerinnen und Schüler haben hier geglättet, ihre Theologie »durchgezogen«, andere haben dieses Puzzlewerk aufgenommen. Wo lag nun bei beiden Beispielen der theologische Kompetenzgewinn?
Zimmermann Gibt es spezifische Methoden der Kinder- bzw. Jugendtheologie?
Wenn Schülerinnen und Schüler passende Vergleiche und Metaphern suchen, um ein Fußballgleichnis zu schreiben, wissen sie danach um die Technik und um mögliche Chancen und Grenzen von Bildersprache in der Wahrnehmung und Kommunikation von Erfahrungen. Weil Gleichnisse von Gott reden mit Bildern der Welt, weil sie in der Verknüpfung der Metaphernteile Gott aufs Engste in weltliche Sprach- und Lebenswelten hineinvermitteln, setzen sich Schülerinnen und Schüler mit dem inkarnatorischen Prinzip, einem Grundelement der jüdisch-christlichen Gottesrede, auseinander. Sie lernen im Suchen nach eigenen Reich-Gottes-Gleichnissen zugleich auch ihre gegenwärtige Wirklichkeit wahrzunehmen und zu deuten ›als ob es Gott gebe‹. Sie können ihre eigene theologische Identität in diesem Erkenntnisund Sprachfeld entfalten. Wenn Lernende ihr eigenes Hiobbuch nach der großen Vorlage geschrieben haben, wissen sie um literarische Wachstumsprozesse, um Rollenerprobung und selbst um das Prinzip der Literarkritik. Sie haben aber vor allem die Möglichkeit, auch widerstreitende theologische Antwortversuche auf das Leid-Problem zu formulieren und damit theologischen Abstraktions- und Komplexitätszuwachs zu erlangen. Die biblische Sprechweise
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lädt ein, auch im eigenen Theologisieren komplex und widersprüchlich zu denken, und auch Grenzen des Sag- und Denkbaren auszuhalten. In beiden Beispielen war die Aufgabe individuell kognitiv aktivierend, eigene Erfahrungen wurden abgerufen und mussten an der literarischen Vorlage abgearbeitet und reflektiert werden, die Auseinandersetzung mit Glaubenstraditionen unterschiedlicher Art wurde unterstützt, es kam zu einer Vernetzung theologischer Inhalte, die Differenzierung zwischen der Deutung im Medium der Bibel und der eigenen Deutung wurde angeleitet, Logik, Stringenz, Kohärenz, Angemessenheit, Referentialität konnten geprüft werden. Durch den Bezug auf ein Produkt wie das Anspiel in einem Gottesdienst bzw. einer Lesung für Karfreitag war die Aufgabe handlungsorientiert und anwendungsbezogen und konnte so und durch den Bezug auf Lebenssituationen nachhaltiges Lernen unterstützen. Das Prinzip der Mimesis, der Nachahmung von biblischen Methoden, fand hier Anwendung durch den Versuch, Gattungen nachzuahmen, indem Gleichnisse verfasst bzw. ein Hiobbuch aktualisiert wurde. Das Medium des biblischen Textes war hier Methode und Ziel zugleich – »The medium was the message!«
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
Frederic Vobbe Multimodale Methoden des Theologisierens mit Kindern
1. Einleitung
Friedrich Schweitzer hat die Theologien von Kindern als Denken über religiöses Denken bezeichnet.1 Mit seiner Beschreibung bot und bietet er eine Richtschnur an, entlang welcher eine reflektierte Kindertheologie gegenüber weniger reflektierten Glaubensvorstellungen abgegrenzt werden kann. Im konkreten Einzelfall ist es allerdings oft schwierig zu beurteilen, ob eine religiöse Ausdrucksform als reflektiert verstanden werden darf oder eher nicht. Die Unsicherheit verstärkt sich meines Erachtens dadurch, dass man sich mit dem Projekt »Kindertheologie« zum Ziel gesetzt hat, die Theologie von Kindern zu würdigen. Auf einem solchen Hintergrund fällt es gewissermaßen schwer, auch die Grenzen kindlicher Glaubensreflexionen beziehungsweise die Grenzen der Nachvollziehbarkeit dieser Reflexionen zu akzeptieren. Mirjam Zimmermann kritisierte dies erstmals 2006: »Um die Grundthese der Kindertheologie, dass Kinder zu eigenständigen theologischen Sprach- und Denkleistungen in der Lage sind, zu untermauern, mag jede Erfahrung, jede Gelegenheit, jedes wie auch immer gewonnene Material recht sein.«2
In ihrer Habilitationsschrift konkretisiert Zimmermann demgegenüber nicht
nur die kindliche Befähigung zum Theologisieren als einen Kanon verschiedener Kompetenzen, sondern fordert ebenso eine stärkere Kontrolle der Methodik, mit der man diese Kindertheologie wissenschaftlich korrekt erforscht. Dazu beschreibt sie, wie zunächst in Gesprächen mit Kindern ein Denken über religiöses Denken angestoßen und die Gesprächsergebnisse anschließend nach Gütekriterien der Sozialforschung analysiert sowie gedeutet werden können. Im Zuge ihrer methodischen Überlegungen erwähnt Zimmermann auch die Möglichkeit künstlerisch-ästhetischer Reflexionen, also Theologien, die sich in von Kindern angefertigten Bildern oder im Spiel ausdrücken können. Sie verfolgt diese Variante in ihrem eigenen Projekt jedoch nicht weiter.3 Mit solchen alternativen Methoden beschäftigt sich der vorliegende Artikel. Da die Handlungsprinzipien empirischer Sozialforschung im religionspäda1 Vgl. Friedrich Schweitzer, Was und wozu Kindertheologie, in: JaBuKi 2, Stuttgart 2003, 9–18, 11. 2 Mirjam Zimmermann, Methoden in der Kindertheologie, in: Theo-Web 5 (2006), 99–120, 100. 3 Mirjam Zimmermann Kindertheologie als Theologische Kompetenz von Kindern – Grundlagen, Methodik und Ziel kindertheologischer Forschung am Beispiel der Deutung des Todes Jesu, Neukirchen-Vluyn 2010, 165/176.
Vobbe Multimodale Methoden des Theologisierens mit Kindern
gogischen Alltag von Praktikerinnen und Praktikern eher selten eine Anwendung finden, fokussieren die forschungsmethodologischen »Nischenanteile« des Artikels vorrangig, warum und unter welchen Voraussetzungen gerade kreative Methoden sich eignen, um ein Denken über religiöses Denken anzuregen, zu beobachten und zu vertiefen. Gleichwohl sind die beschriebenen Methoden aber Methoden des Theologisierens mit Kindern, soweit sie einen direkten Austausch mit Kindern anregen.4 Folglich lässt ihre Reflexion Rückschlüsse für die pädagogische Praxis zu. Die Essenz dieses Beitrags speist sich aus dem Forschungsprojekt »Auch wenn die Welt manchmal wild aussieht. Multimodale, empirische Forschung zu einer Kindertheologie des Hiobbuches«. In der gleichnamigen Veröffentlichung ist dem empirischen Teil und seinen religionspädagogischen Ableitungen ein umfassendes Forschungsdesign vorgeschaltet.5 Interessierte finden dort die erkenntnistheoretischen Grundlagen der hier vorgestellten Methoden. Eine ergänzende sozialwissenschaftliche Perspektive nimmt außerdem der Aufsatz »Agency in der religionssoziologischen Forschung mit Kindern« ein.6 2. Begründung multimodaler und kreativer Methoden
Das Projekt »Kindertheologie« wertschätzt Kinder als Ko-Konstrukteure ihrer eigenen Religiosität.7 Eine ähnliche Haltung finden wir in der Kindheitsforschung allgemein, wenn von Kindern als Expertinnen und Experten ihrer eigenen Lebensbezüge gesprochen wird.8
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Nehmen wir diese Zugänge zur Eigenwertigkeit von Kindheit ernst, beziehen sie sich auch auf die von Kindern gewählten Formen, sich auszudrücken. Diese Akzeptanz kindlicher Ausdrucksformen stellt das Theologisieren mit Kindern jedoch vor eine Herausforderung, denn sein Ziel ist ja, eine Reflexion von Glaubensvorstellungen anzuregen, zu erkennen und zu vertiefen. Unter »Reflexion« versteht man in der Regel die Fähigkeit, Annahmen mit anderen sinnvollen Annahmen kausal begründen oder widerlegen zu können. Erwachsene setzen hierfür recht selbstverständlich die Sprachfähigkeit ihres Gegenübers als Maßstab voraus. Das ist auch in der Kindertheologie so.9 Beschränken wir die Theologie von Kindern jedoch auf deren argumentative Sprachfähigkeit, im Sinne reziprokreversibler Herleitungen, so verraten wir eine der wichtigsten Forderungen Schweitzers, nämlich unsere »(Erwach-
4 Vgl. Friedrich Schweitzer (wie Anm. 1), 11. 5 Vgl. Frederic Vobbe, Auch wenn die Welt manchmal wild aussieht. Multimodale empirische Forschung zu einer Kindertheologie des Hiobbuches, Göttingen 2012a. 6 Vgl. Frederic Vobbe, Agency in der qualitativen religionssoziologischen Forschung mit Kindern, in: Stefanie Bethmann / Corelia Helfferich / Heiko Hoffmann / Debora Niermann (Hg.) Agency. Qualitative Rekonstruktionen und gesellschaftliche Bezüge von Handlungsmächtigkeit, Weinheim / Basel, 297–315. 7 Vgl. Friedhelm Kraft / Martin Schreiner, Zehn Thesen zum didaktisch-methodischen Ansatz der Kindertheologie, in: Theo-Web 6 (2007), 21–24, 21. 8 Vgl. Friederike Heinzel, Methoden und Zugänge in der Kindheitsforschung im Überblick, in: Dies. (Hg.), Methoden der Kindheitsforschung, Weinheim / München, 21–35, 28 9 Vgl. Frederic Vobbe (wie Anm. 5), 97.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
senen-) Perspektive aufzugeben und in eine fremde (in diesem Falle: kindliche) Welt wirklich einzutauchen.«10 Ganz wird sich Schweitzers Forderung nie umsetzen lassen. Jedoch kann der Zugang zum Theologisieren mit Kindern methodisch geöffnet werden, so dass sich anschließend verschiedene Ausdrucksformen, beispielsweise Spielen, Basteln, Malen und Erzählen, gegenseitig zu einem in kindlicher Weise reflektierten, theologischen Gesamtbild ergänzen. In der Sozialforschung spricht man in diesem Zusammenhang von einer »multimodalen Methodik«11 oder einer »Methodentriangulation«.12 Damit ist das Verknüpfen von verschiedenen Methoden gemeint, durch die sich ein umfassenderes Bild des erforschten Sachverhalts nachzeichnen lässt, als wenn man sich auf nur eine Ausdrucksebene beschränkt. Im Prinzip handelt es sich hierbei um pädagogisches Alltagswissen. In der Erziehungswissenschaft entsprechen methodische Wechsel und Kombinationen heute dem Konsens. Warum und wie alternierende Methoden eines Theologisierens mit Kindern funktionieren, lässt sich jedoch auch unter Einbezug der sozialwissenschaftlichen Perspektive erklären.
umgekehrt. Die Realität ist nicht nur im schulischen Religionsunterricht zunächst einmal eine andere. Die Verantwortung hierfür tragen nicht allein Religionspädagoginnen, Religionspädagogen oder Lehrpläne. Mit der Erziehungswissenschaftlerin Friederike Heinzel gilt nämlich grundsätzlich: »Da Kinder in ihrem Alltag ständig in privaten und öffentlichen Beziehungen von Erwachsenen als zu erziehende Menschen behandelt werden, ist es für Erwachsene nahezu unmöglich, mit Kindern zu kommunizieren, ohne dass Kinder ihre Erfahrungen mit dieser Allgegenwart der Erziehungssituation in irgendeiner Weise thematisieren.«13
Selbst der Dialog zwischen einer Theologie der Kinder und für Kinder birgt damit die Tendenz, dass sich das Theologisieren mit Kindern, wenn schon nicht immer, so zumindest auch, entlang der Erwartungen ausrichtet, die Kinder an die pädagogische Rolle von Erwachsenen stellen. Die Sozialforschung hat hierfür eine Behelfslösung gefunden, die man als »Lehrlingsmethode« bezeichnet.14 Hinter dieser Methode steht die ethnografische Fremdheitsannahme, dass nichts von dem, was eine andere Person erlebt, mit unseren eigenen Erfahrungen identisch
3. Lehrlingsmethode
Das Theologisieren mit Kindern beginnt mit einer Haltung. Vorausgesetzt Kinder sind Expertinnen und Experten ihrer eigenen Lebensbezüge, das heißt auch Ko-Konstrukteure ihrer Religiosität, so dürften Erwachsene streng genommen beim Theologisieren mit Kindern nicht weniger von den Kindern lernen, als
10 Vgl. Friedrich Schweitzer (wie Anm. 1), 11. 11 Vgl. Franz Petermann / Sabine Windmann, Sozialwissenschaftliche Erhebungstechniken bei Kindern, in: Manfred Marefka / Bernhard Nauck (Hg.), Handbuch der Kindheitsforschung, Kriftel / Berlin 1993, 125–139, 125. 12 Vgl. Ralf Bohnsack, Rekonstruktive Sozialforschung, Opladen / Farmington Hills 2007, 66. 13 Vgl. Friederike Heinzel (wie Anm. 8), 24. 14 Vgl. Hubert Knoblauch, Qualitative Religionsforschung, Paderborn 2003, 84.
Vobbe Multimodale Methoden des Theologisierens mit Kindern
sein kann. Die Erfahrungen von anderen sind uns also stets fremd. Schließlich unterscheiden sich die Wahrnehmungen von Menschen sogar hinsichtlich gemeinsam gesammelter Erfahrungen. Ein Zugang, jemand anderen zu verstehen, liegt demnach darin, sich die eigene Unwissenheit um den Anderen / die Andere zunutze zu machen. Forscher begeben sich dazu in die Rolle des Lehrlings, des / der zu Bildenden. Die Unterordnung gegenüber der Lehrmacht der Beforschten muss dabei nicht einmal eine künstliche sein, da tatsächlich nur unser Gegenüber uns jenseits unserer eigenen Deutungsversuche einen Zugang zu dessen Wirklichkeit ermöglichen kann. Um diese Haltung weiter zu veranschaulichen, eignet sich auch der von dem Soziologen Jan Kruse verwendete Begriff des »Praktikanten«.15 Praktikanten sind gerade zu Beginn ihrer Tätigkeit meist unselbstständig. Sie brauchen Hilfe, um sich zu orientieren, vergewissern sich oft, ob sie die letzten Anweisungen verstanden haben und stützen sich zunächst auf möglichst konkrete Abläufe. Erst im Laufe der Zeit durchschauen sie Zusammenhänge und ihre Anliegen gegenüber ihren Anleitern werden abstrakter. Übertragen wir die Haltung auf das Theologisieren mit Kindern, ordnet sich der/ die Erwachsene der Weisungsmacht von Mädchen und Jungen im Bezug auf deren Vorstellungen oder religiöse Themen unter. Im Zentrum stehen anschließend die Ausdrucksformen oder Produkte des Kindes, in deren Funktionieren der erwachsene »Praktikant« / die erwachsene »Praktikantin« möglichst konkret Einsicht zu bekommen versucht. Die Forschung zeigt, dass einige Kin-
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der diese Haltung, d.h. auch die ihnen zugewiesene Rolle akzeptieren und ihre Theologien offenlegen.16 Für den Praktikanten- / Lehrlingsstil bietet sich eine Suchbewegung vom Konkreten zum Allgemeinen an. Durch die zunächst sehr konkrete Auseinandersetzung mit den Details der eigenen Ausdrucksformen von Kindern, setzen sich Kinder, die an dieser Suchbewegung als aktiv Lehrende beteiligt sind, selbst mit ihren eigenen Vorstellungen auseinander. Entfernt man sich dann schrittweise vom Konkreten, sind Kinder früher oder später auch bereit für sie allgemeingültige Äußerungen offenzulegen.17 Der Ertrag hieraus ist für die Kindertheologie so einfach wie bestechend: Aus konstruktivistischer Sicht zeigen sich in kaum einer Äußerung die subjektiven Deutungsversuche von Individuen so deutlich, wie in einer, die diese für allgemeingültig halten.18 4. Einsatz von Mediendokumenten
Ein gängiger Einstieg in das Theologisieren mit Kindern ist, Letzteren zunächst einen Input zu geben, über den man sich anschließend austauscht. In der Sozialforschung bezeichnet man diesen Input
15 Vgl. Jan Kruse, Reader: Einführung in die qualitative Interviewforschung, Freiburg i.Br. 2008, 80. 16 Vgl. Frederic Vobbe (wie Anm. 5), 253 / 314. 17 Vgl. ebd., 147. 18 Vgl. Ernst von Glasersfeld, Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität, in: Heinz von Förster / Ernst von Glasersfeld / Peter M. Hejl / Siegfried J. Schmidt / Paul Watzlawick, Einführung in den Konstruktivismus, München 2012, 9–39, 36.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
als Mediendokument, das können Bild-, Ton-, Videomaterial, Texte, Erzählungen, Performances, Gegenstände u.v.m. sein.19 In unserem Zusammenhang ist es sinnvoll, dass bereits die Ausgestaltung des Inputs genügend Freiraum für eigene Interpretationen der Kinder lässt. Schließlich lebt das Theologisieren mit Kindern davon, mit den religiösen Vorstellungen von Kindern gefüllt und auf Basis dieser Vorstellungen reflektiert werden zu können. Anders ausgedrückt, wird das Spektrum der Interpretationen mit jeder fokussierten religionspädagogischen Vorgabe eingeschränkt. Man stelle sich demgegenüber vor, man wiederholte am Ende einer Erzählung unabhängig von deren Inhalt dreimal laut die vermeintliche »Moral von der Geschicht«. Welche Botschaft würde mit hoher Wahrscheinlichkeit das Zentrum anschließender Reflexionen darstellen? Im Kontext des Forschungsprojekts »Auch wenn die Welt manchmal wild aussieht« war der Ausgangspunkt der kindlichen Auseinandersetzung beispielsweise eine One-Woman-Performance. Der Performance lag die Elementarisierung wesentlicher theologischer Angebote des Hiobbuches zugrunde (Legende, Theodizee, weisheitliche Streitrede, Psalm, Gottesrede).20 Dabei wurde jedoch bewusst darauf geachtet, dass nicht eine Gattung gegenüber den anderen am Ende »Recht« behalten sollte. Zu diesem Zweck wurde die subjektive Erfahrung Hiobs fokussiert. Sprach Hiob mit seinen Freunden, so wurde den Mädchen und Jungen das von den Freunden Gesagte nur durch Spiegelungen Hiobs präsentiert. Die Anklage gegen Gott sprach Hiob in den leeren Raum. Die
spätere Gottesrede wurde als von Hiob beschriebene Vision ebenso in dessen subjektiven Erfahrungsraum verlagert. Darüber hinaus machte das Mediendokument performative Angebote. Zum Beispiel nahm die Hiob-Darstellerin eine Gebetshaltung mit nach oben geöffneten Handflächen ein. Diese sollte die Vorannahme gefalteter Hände verzerren und Hiob als orientalischen Mann zeichnen. Auch Hiobs Opferriten, das Zerreißen seiner Kleider und das Scheren seiner Haare, deuteten die Performance an und lieferten den ZuschauerInnen Stoff für Interpretationen.21 Das breite Spektrum der kindlichen Rekonstruktionen der Perfomance bestätigt die Entscheidung für eine gewisse Offenheit und Reibungsfläche, die ein Mediendokument zu leisten in der Lage sein sollte. Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung ist die Balance zwischen theologischer Elementarisierung und Offenheit entscheidend. 5. Symbolische Interviews
Zimmermann geht davon aus, dass Kinder, die Bilder zu einer biblischen Erzählung anfertigen und diese Bilder anschließend erklären, in den Erklärungen implizit ihr theologisches Verständnis der Geschichte preisgeben.22
19 Vgl. Christel Hopf, Befragungsverfahren, in: Uwe Flick / Ernst von Kardorff / Hainer Keupp / Lutz von Rosenstiel / Stephan Wolff, Handbuch Qualitative Sozialforschung, Weinheim 1995, 177–188, 178. 20 Vgl. Frederic Vobbe (wie Anm. 5), 120–128. 21 Vgl. Frederic Vobbe (wie Anm. 5), 120–128. 22 Vgl. Mirjam Zimmermann (wie Anm. 3), 176.
Vobbe Multimodale Methoden des Theologisierens mit Kindern
Die Annahme Zimmermanns setzt freilich voraus, dass in dem Bild bereits religiöse Vorstellungen enthalten sind, die in der Erklärung zu dem Bild reflektiert werden können, oder das Bild zumindest Ausgangspunkt für eine Reflexion von auf dem Bild nicht gezeigten religiösen Vorstellungen ist. Grundsätzlich deckt sich die Ansicht Zimmermanns mit den Erkenntnissen der Sozialforschung, die hier in zwei Schritten erläutert werden soll. Nach Ralf Bohnsack, dem Entwickler der sozialwissenschaftlichen Dokumentarischen Methode, enthält jedes Bild typische Wesensmerkmale seines Erzeugers / seiner Erzeugerin. Diese Merkmale nennt Bohnsack »Habitus«.23 Die Perspektive wird von Bernhard Haupert, als dem Vertreter einer anderen empirischen Methode, der Objektiven Hermeneutik, untermauert.24 Die Einsicht der Sozialforscher ist plausibel. Wie sollte ein Bild jenseits der Ausdrucksmöglichkeiten seines Erzeugers / seiner Erzeugerin entstehen? Die Ausdrucksmöglichkeiten von Menschen hängen aber mit ihrem Sinnerleben, das heißt ihrer Lebenswirklichkeit, zusammen, unabhängig von der Frage, ob es sich bei einer künstlerischen Äußerung um einen reflektierten oder unreflektierten Prozess handelt. Der Sinn und die Bedeutung, die jedem Bild damit innewohnt, ist Gegenstand der sozialforscherischen Bildanalyse. Leider handelt es sich sowohl bei der Dokumentarischen Methode sowie der Objektiven Hermeneutik um sehr aufwendige Verfahren, die in der religionspädagogischen Praxis kaum angewendet werden können. Möglich ist eine religionspädagogische Auseinandersetzung mit dem Bildmaterial von Kindern dennoch. Hilfreich
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ist hier der Begriff des »offenen Kunstwerks« aus der Rezeptionsästhetik. Nach Ansicht der Rezeptionsästhetik existieren literarische und andere künstlerische Werke nicht als feststehende Objekte, sondern ihr Sinn entsteht in einem kommunikativen Prozess zwischen Betrachterin / Betrachter und Werk.25 Zeigt man beispielsweise Kindern ein Bild, so sind diese in der Regel dazu fähig, das Bild zu beschreiben, Fragen dazu zu formulieren und Deutungen zu dem Gezeigten anzubieten. Bei alledem handelt es sich um einen reflexiven Interaktionsprozess des Kindes mit dem Bild. Erklären Kinder ihre eigenen Bilder, reflektieren sie also den »Habitus« ihres eigenen Bildes. Beinhaltet dieser Habitus religiöse Glaubensvorstellungen, so denken Kinder über ihr eigenes religiöses Denken nach und die Kommunikation ihrer eigenen ästhetischen Ausdrucksformen bringt sehr wahrscheinlich eine Theologie der Kinder hervor. In der Qualitativen Sozialforschung nennt man die methodisch angeleitete Auseinandersetzung mit Bildmaterial »Symbolisches Interview«.26 Das Forschungsbeispiel »Auch wenn die Welt 23 Vgl. Ralf Bohnsack, Qualitative Video- und Bildinterpretation, Opladen / Farmington Hills 2009, 31. 24 Vgl. Bernhard Haupert, Obektiv-hermeneutische Fotoanalyse am Beispiel von Soldatenfotos aus dem zweiten Weltkrieg, in: Detlef Garz / Klaus Kraimer (Hg.), Die Welt als Text, Frankfurt a.M. 1994, 281–314. 25 Vgl. Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: Rainer Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik – Theorie und Praxis, München 1994, 129. 26 Vgl. Burkard Fuhs, Qualitative Interviews mit Kindern, in: Friederike Heinzel (Hg.), Methoden der Kindheitsforschung, Weinheim / München 2000, 87–103, 99.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
manchmal wild aussieht« zeigt, dass sich die Theologie von Kindern in der Auseinandersetzung mit eigenen Bildern als ästhetische Kompetenz nachweisen lässt.27 Wie von Zimmermann vermutet und mittelfristig in weiteren kindertheologischen Beiträgen analysiert,28 können Kinderbilder eine Theologie von Kindern beinhalten. Die Auseinandersetzung mit solchen Bildern eignet sich hervorragend als Methode des Theologisierens mit Kindern.
Gott, der sich in einer Wolke verbirgt, spricht mit Hiob.
Jenny, 8 J.: »Ich will Gott nicht malen (…) In der Bibel steht, dass man sich über Gott kein Bild machen soll. Aber Gott ist ja so riesig und ich weiß nicht, wie er aussieht, deshalb hab ich’s dann gelassen.«
Es ist zu erwähnen, dass die Forschungsassistenten und -assistentinnen im genannten Projekt standardisierte Vorgaben hatten, wie die Auseinandersetzung mit den Bildern zu gestalten sei. Die pädagogische Arbeit bietet demgegenüber mehr Freiraum, mit Kindern individuell an deren Bedürfnissen und Vorstellungen zu theologisieren. Als hilfreich stellte sich bei den Symbolischen Interviews im Forschungsprojekt dennoch der Weg
von einer Auseinandersetzung mit dem Konkreten hin zum Generalisierenden heraus. Diese Bewegung erleichtert es den Mädchen und Jungen, sich zu öffnen. 6. Spannungsspiel
Bereits Jean Piaget nutzte das Spiel als Methode zur Erforschung der Kindheit.29 Der Wirtschaftspsychologe Olaf Rüsing bezeichnet das kindliche Spiel als Ausdruck »infantiler Innerlichkeit". Für Rüsing ist das kindliche Spiel stets ein Wechsel zwischen Spannung und Lösung.30 Wenn man Mädchen und Jungen beim Spielen zusieht, erklärt sich das von Rüsing Gemeinte nahezu von selbst. Im Spiel erschaffen sich Kinder Herausforderungen, Konflikte und Dramen, die sie selbst wieder auflösen, um den Lösungen letztlich neue Herausforderungen folgen zu lassen. Diese Dynamik spitzt sich zu, wenn sich mehrere Kinder an einem (Rollen-) Spiel beteiligen. Olaf Rüsing leitet daraus mit Blick auf die Forschungsmethodologie ab: »Spielorientierte Methoden müssen (…) ein Mindestmaß an Spannung und Dynamik induzieren.«31 27 Vgl. Frederic Vobbe (wie Anm. 5), 325. 28 Vgl. Wolfgang Wagener / Martina Grill, »Wir hörten sie in unseren Sprachen …« (Apg 2,11). Theologisieren im »Hör-Spiel« als eine Basiskompetenz, in: JaBuKi Sonderband, Stuttgart 2011, 165–181, 170. 29 Vgl. Jean Piaget, Das moralische Urteil beim Kinde, München 1973, 59. 30 Vgl. Olaf Rüsing, Kindgerechtigkeit. Überlegungen zur kindgerechten Forschung, Saarbrücken 2006, 38. 31 Ebd., 42.
Vobbe Multimodale Methoden des Theologisierens mit Kindern
Um diese Dynamik und Spannung zu erwirken, stehen unterschiedlichste Möglichkeiten offen. Die Herausforderung von Spielen kann in konstruierten Hindernissen bestehen, die zur Problemlösung überwunden werden müssen. Ebenso erzeugen Wettkampfsituationen Spannung. Jedoch führt im Gegenteil auch das schlichte Auslassen eindeutiger Vorgaben bezüglich der Problemlösung, also eine weitestgehend offene Aufgabenstellung, zu einer Dynamik bei den Spielenden – vorausgesetzt, die Spielenden fühlen sich durch gemachte Rahmenvorgaben soweit motiviert, dass sie sich überhaupt auf die freigestalterischen Anteile der Lösungsfindung einlassen. Dasselbe gilt für Aufgaben, die gemeinschaftlich gelöst werden sollen oder nur gemeinschaftlich gelöst werden können. Alle genannten Varianten finden in entwicklungspsychologischen Experimenten und der Spieltheorie ihre Anwendung.32 Aus den für Rüsing damit maßgeblichen Aspekten der Dynamik und Spannung, leitet dieser das Konzept des »Spannungsspiels« für die Qualitative Forschung mit Kindern ab. Rüsing vereinfacht das Prinzip der »Spannung« so weit, dass er seinen Probandinnen und Probanden die Aufgabe überträgt. Er leitet sie an, ein selbst gewähltes, besonders spannendes Erlebnis zu reinszenieren. Anschließend liegt es an den Mädchen und Jungen, die Spannung zu erzeugen, das heißt trotz des Fehlens eindeutiger Vorgaben eine Problemlösung zu gestalten.33 Dasselbe Prinzip kann beim Theologisieren mit Kindern eingesetzt werden. Letzteres gilt besonders, wenn man mit Kindern zu einer zuvor gemachten
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Erzählung oder einem wie auch immer gestalteten religiösen, theologischen oder philosophischen Mediendokument arbeiten möchte. Um den Prozess zu moderieren, kann auch ein »Regisseur« / eine »Regisseurin« aus der Kindergruppe berufen werden, der / die der Gruppe den Arbeitsauftrag übermittelt und den Vorbereitungsprozess des Spiels leitet, sofern sich keine andere Dynamik ergibt.34 Die Forschungspraxis zeigt, dass Kinder in derart angeregten Spielen zu einem gemeinschaftlichen Theologisieren fähig sind. Sozialwissenschaftlich gesprochen, erzeugen Kinder bei solchen Performances konjunktives Wissen.35 Dabei sticht neben anderen besonders die Prozesskompetenz hervor.36 Die Theologie der Kinder äußert sich nämlich in performativ-kommunikativen Handlungen, also theatralischen Gebärden, dem Einsatz von Verkleidungen oder der räumlichen Beschaffenheit bspw. zum Erhöhen, Erniedrigen, Ein- oder Ausgrenzen einzelner Protagonisten, mit welchen die Bedeutung einer religiösen Äußerung untermauert und als überlegt markiert wird.37
32 Zum Beispiel das Gefangenendilemma. Vgl. Albert W. Tucker, A Two-Person’s Dilemma – The Prisoner’s Dilemma, Stanford 1950. 33 Vgl. Olaf Rüsing (wie Anm. 30), 56. 34 Etwa: »Wir bereiten jetzt ein Theaterstück, das einen besonders spannenden Ausschnitt aus der Geschichte zeigt, vor. Das Theaterstück spielen wir gemeinsam«, Frederic Vobbe (wie Anm. 5), 155. 35 Vgl. Ralf Bohnsack (wie Anm. 23), 18. 36 »Möglichkeiten der eigenen Entfaltung bestimmter Fragen und Antwortversuche (…)«, Mirjam Zimmermann (wie Anm. 3), 378. 37 Vgl. Frederic Vobbe (wie Anm. 5), 367.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
Gott spricht mit Hiob.
Frank, 10 J.: »Ich bin Gott, dein Herr. Auch wenn die Welt manchmal wild aussieht, mache ich sie immer ordentlich. Deine Freunde haben Unrecht getan.«
Um die Bedeutung solcher religiöser Äußerungen zu modifizieren, bietet sich für die religionspädagogische Praxis eine anschließende Besprechung dargestellter Szenen an. 7. Agency in biografischen Schlüsselerlebnissen
Als ertragreich haben sich im Forschungskontext auch Methoden erwiesen, die Mädchen und Jungen dazu auffordern, theologische oder philosophische Sachverhalte in eine Beziehung zu ihrem eigenen biographischen Erlebnishorizont zu setzen. In der Sozialforschung existiert ein eigener Diskurs, der sich ausschließlich damit beschäftigt, ob und inwieweit Kinder in der Lage sind, ihre eigene Biografie auf ausgewählte Aspekte bezogen zusammenfassend reflektieren zu können. Die Erziehungswissenschaftlerin Jutta Ecarius hält diesbezüglich fest, dass sogar Kinder, die nicht fähig seien, ihre Biografie chronologisch
auf bestimmte Fragestellungen hin zu resümieren, nichtsdestotrotz biografische Schlussfolgerungen und Einordnungen in Form von Schlüsselerlebnissen ausdrücken können.38 Für das Forschungsprojekt »Auch wenn die Welt manchmal wild aussieht« wurde dieser Ansatz um die Annahme erweitert, mittels biografischer Schlüsselerlebnisse lasse sich auch ein Zusammenhang zur Theologie von Kindern herstellen. Die Vorgehensweise hierzu war folgende: Im Rahmen der symbolischen Interviews, wurden die Mädchen und Jungen zum Ende der Befragung aufgefordert, ein Ereignis aus ihrem eigenen Leben zu erzählen, wenn sie die im Mediendokument erzählte Geschichte daran erinnere.39 Die Probandinnen und Probanden nahmen sich der Aufgabe teils völlig unbefangen an und machten Vergleichsangebote. In einigen Fällen enthielt das geschilderte Erlebnis keine religiösen Vorstellungen und andere Rekonstruktionen des Mediendokuments rückten in den Vordergrund. In den Fällen, in denen von den Kindern jedoch eine weltanschauliche oder religiöse Vorstellung angeboten wurde, ließ der Vergleich des eigenen Erlebnisses mit vorherigen Äußerungen zum Mediendokument philosophische und theologische Schlussfolgerungen zu. Besonders ertragreich waren in diesem Kontext offene oder verdeckte Parallelen zwischen der Handlungsmacht und dem Verhalten wichtiger Bezugspersonen im Leben der Kinder, etwa der El38 Jutta Ecarius, Kinder ernst nehmen, in: Michael Sebastian Honig / Andreas Lange / Hans Rudolf Leu, Aus der Perspektive von Kindern, Weinheim 1999, 133. 39 Vgl. Frederic Vobbe (wie Anm. 5), 154.
Vobbe Multimodale Methoden des Theologisierens mit Kindern
tern, die sich bspw. in einer Notsituation sorgten oder halfen, und dem Handeln Gottes bzw. Hiobs. Vor allem die moralischen Einordnungen einer Handlung als hilfreich, unterstützend oder schützend, bestätigten im Umkehrschluss als nachgereichte Attribute auch das Handeln Hiobs oder Gottes. In solchen Transferleistungen erweitern Kinder das Spektrum redundanter Theologien um elliptisch wiederkehrende und vertiefende Aspekte. Sie reflektieren also die Qualität von Gottes Handeln oder das legendarischer Figuren im Kontext der eigenen Erlebnisse.40 Die Auseinandersetzung mit Handlungsmacht bezeichnet man in der Sozialforschung als Agency. Mit der Agency achtet man darauf, ob die Protagonisten einer Erzählung im Verhältnis zu den sie umgebenden Umständen als aktiv Handelnde, passiv Ausgesetzte, Mit-Entscheidende oder Inhaber von Kontrolle gezeichnet werden.41 In der Theologie ist Agency eine grundsätzliche Kategorie. Das Bild eines »personifizierten«, äußeren Gottes macht keinen Sinn, wenn dieser Gott nicht als (inter-)agierender also handelnder Gott verstanden wird. Ebenso sind Menschen in dieser Beziehung als Handelnde zu verstehen. Schließlich lässt sich das Verhältnis zu einem Gott nur in Handlungen beschreiben, selbst wenn damit ausschließlich der Glaube gemeint ist. Insofern ist die Agency auch beim Theologisieren mit Kindern ein wertvoller Hinweis für das Vorhandensein reflektierter Glaubensvorstellungen, wie der Einsatz des Konzepts bei biografischen Fragestellungen zeigt. Beschreiben Kinder in eigenen Erlebnissen ihr eigenes Verhalten oder das anderer Personen, so verbirgt
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sich in diesen Handlungsbeschreibungen häufig eine Beurteilung des Verhaltens, welche Rückschlüsse auf die den verglichenen Glaubensvorstellungen zugrunde liegende Ordnung zulässt. Damit sind biografische Handlungsbeschreibungen, welche in einer Beziehung zu religiösen Vorstellungen stehen, geradezu eine Kindertheologie per se. Schließlich wird die zugrunde gelegte Glaubensvorstellung hierzu aus ihrem ursprünglichen Kontext entbettet und vor dem persönlichen Hintergrund reflektiert. In Zuspitzung Zimmermanns hermeneutischer Kompetenz könnte man dabei von einer theologischbiografischen Integrationskompetenz sprechen.42 Wie bei den anderen beschriebenen Methoden, ist es in der religionspädagogischen Praxis nicht möglich, eine Agency-Analyse nach sozialwissenschaftlichen Kriterien durchzuführen. Ein Zugang, um Theologien auf der Basis von Agency voranzutreiben und zu vertiefen, ist jedoch erneut die Lehrlingshaltung. Fokussieren wir das mit biografischen Vergleichen Angebotene und lassen uns von Kindern die darin enthaltenen Einsichten beibringen, so bestehen gute Chancen, dass wir mit Kindern theologisieren. Und selbst, wenn wir die Theologie der Kinder in solchen Gesprächen nicht immer einwandfrei feststellen können, leistet bereits das Zugeständnis, biblische Inhalte auf dem Hintergrund des eigenen Erlebens reflektieren und darin 40 Vgl. Frederic Vobbe (wie Anm. 6), 307. 41 Gabriele Lucius Hoehne / Arnulf Deppermann, Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews, Wiesbaden 2004, 59. 42 Vgl. Mirjam Zimmermann (wie Anm. 3), 374.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
einbetten zu dürfen, einen Anstoß für das Theologisieren der Kinder. Denn, auch wenn Kinder auf die Frage, was ein religiöses Phänomen mit ihrem Leben zu tun hat, keine unmittelbare Antwort finden, so wird mit der Frage womöglich die Saat gelegt, ihr weiter nachzugehen und sie zu einem späteren Zeitpunkt zu beantworten. 8. Ausblick
Abgesehen vom »Mediendokument« berücksichtigt keine der vorgestellten Methoden in der hier beschriebenen Form, dass ein Theologisieren mit Kindern auch eine »Theologie für Kinder« beinhaltet. Die Methoden entstammen einem Forschungskontext, in dem sich Erwachsene zugunsten der Theologie der Kinder möglichst zurücknehmen sollten. Dies lässt sich auf die religionspädagogische Praxis nicht übertragen. Inwieweit Pädagoginnen und Pädagogen ihre disziplinäre erwachsenentheologische Perspektive in das Theologisieren mit Kindern einfließen lassen, variiert. Ein Mindeststandard aus dem Forschungsprojekt zur Theodizee lautete, keine ängstigenden Gottesbilder fördern zu wollen. Deswegen sollte einer pädagogisch angeregten Auseinandersetzung
mit der Frage nach »Leid und Gott« die Didaktik einer befreienden Theologie und entsprechender Gottesbilder vorgeschaltet werden. Anders kann das Kernproblem der Theodizee nicht erkannt und Lösungsansätze nur schwerlich gefunden werden.43 Um jedoch zum Ausgangspunkt, nämlich dem Maß an Theologie für Kinder beim Theologisieren mit Kindern, zurückzukommen, ist eine gewisse Zurücknahme auch dann geboten, wenn Kinder sich in einer Form äußern, die in den Ohren erwachsener Religionspädagogen zunächst kritisch erscheint. Indem Bilder eines ängstigenden Gottes oder ein Zweifeln an Gott vorschnell korrigiert oder gar tabuisiert werden, verspielen Religionspädagoginnen und Religionspädagogen ihre Teilhabe an derartigen Prozessen. Wie schon KarlErnst Nipkow feststellte, ist der Glaubensverlust als Folge theologischer Problemstellungen eine »normale« Erfahrung im Jugendalter.44 Diese Offenheit müssen Methoden des Theologisierens mit Kindern wahren und aushalten.
43 Vgl. Frederic Vobbe (wie Anm. 5), 378. 44 Vgl. Karl-Ernst Nipkow, Erwachsenwerden ohne Gott? Gotteserfahrungen im Lebenslauf, Gütersloh 1987, 49.
Büttner Grenzen der Kindertheologie
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Gerhard Büttner Grenzen der Kindertheologie
Henning Schluß fragt (eher rhetorisch!), ob die Kindertheologie »den Begriff ›Religionspädagogik‹ ablösen will«.1 Wenn die Frage ernst gewesen sein sollte, dann enthält sie ein vergiftetes Geschenk. Schluß hat insoweit nicht unrecht, als sich mittlerweile viele religionspädagogische Aktivitäten mit dem Zusatz »Kindertheologie« schmücken. Doch, je umfassender der Begriff gebraucht wird, umso unschärfer werden die Konturen und umso angreifbarer wird das Konzept. Es scheint an der Zeit, über die Grenzen des Konzeptes nachzudenken.2
tig die typischen Gespräche mit Kindern etablieren. 2. Es bedarf dazu einer überdurchschnittlichen Gesprächsführungskompetenz auf Seiten der Lehrkräfte. Diese lässt sich – das zeigt die Arbeit in den Forschungswerkstätten – im Prinzip durch Übung erwerben. Die dokumentierte Praxis dieser Werkstätten mit mehreren Lehrpersonen in einer Klasse macht gleichwohl die Übertragung auf Normalunterricht nicht einfach. 3. Der theologisierende Unterricht wird oft dort schwierig, wo die theologische Kompetenz der Unterrichtenden zutage tritt.5 Es wird sich zeigen, wie
1. Kurze Bestandsaufnahme
Wenn eine Hochschule oder ein religionspädagogisches Institut eine Veranstaltung zum Thema Kindertheologie ausschreibt, weiß jeder was damit gemeint ist. Das Konzept hat sich als Praktik etabliert.3 Petra Freudenberger-Lötz hat daran maßgeblichen Anteil. Sie hat Kindertheologie vor allem als theologische Gespräche mit Kindern institutionalisiert.4 Dabei wurden bestimmte Merkmale dieses Konzeptes sichtbar. 1. Kindertheologie lässt sich als durchgängiges Prinzip im Unterricht einführen. D.h., man kann die curricular vorgegebenen Themen im Laufe eines Schuljahres bearbeiten und gleichzei-
1 Henning Schluß, Ein Vorschlag, Gegenstand und Grenze der Kindertheologie anhand eines systematischen Leitgedankens zu entwickeln, in: ZPT 57 (2005), 23–34, 23. 2 Dazu fordert indirekt auch das »Handbuch Theologisieren mit Kindern«, hg. von Gerhard Büttner / Petra-Freudenberger-Lötz / Christina Kalloch / Martin Schreiner, Stuttgart / München 2014 durch seinen summierenden Charakter heraus. 3 Gerhard Büttner, Die Kindertheologie und die Theologie, JaBuKi 11, Stuttgart 2012, 11– 21, 12. 4 Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern, Stuttgart 2007 und zahlreiche Berichte aus ihrer Forschungswerkstatt. 5 Annike Reiß, Theologische Gespräche mit Jugendlichen zur Wunderthematik. Phil. Diss. Kassel 2013; von daher hat Oliver Reis zu Recht darauf aufmerksam gemacht, wie wichtig es ist, das Augenmerk auf die theologischen
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
weit eine spezifische Erschließung der entsprechenden Themen hier den Lehrenden weiterhelfen kann.6 Ein theologisierender Religionsunterricht in der Grundschule zeichnet sich wohl am ehesten dadurch aus, dass er in seiner Planung und Durchführung Raum lässt, auftauchende oder bewusst initiierte theologische Fragen gemeinsam zu erörtern. Hanna Roose spricht hier im Anschluss an Michael Proske von kontingenzsensiblem Unterricht.7 Wenn sich eine entsprechende Situation bietet, sollte die von der Lehrkraft auch wahrgenommen werden, um die relevanten Fragen zu klären. Soweit sich in dieser Art ein entsprechendes Zusammenspiel zwischen Schüler/innen und Lehrkräften eingespielt hat, kann man dann von einer Habitualisierung der Kindertheologie sprechen.8 Das beschriebene Szenario weckt nun aber die Frage, was macht man denn in solch einem Unterricht, wenn man kein Klassengespräch führt, und ist das denn auch Kindertheologie? Blickt man in das Handbuch Theologisieren mit Kindern, dann begegnen uns im Methodenteil neben dem Gespräch noch mancherlei Angebote.9 Zusammen mit den Beiträgen des vorliegenden Jahrbuchs erscheint hier insgesamt eine große Zahl von Unterrichtsmethoden. Diese können zweifellos den Religionsunterricht bereichern. Doch tut man gut daran, diese als Modi von Kindertheologie zu bezeichnen? 2. Sinn und Notwendigkeit einer Grenzziehung
Aus dem oben Gesagten geht bereits hervor, dass Kindertheologie in verschiedenen Aspekten erscheint. Als
Unterrichtsprinzip wird man keine grundsätzlichen Einschränkungen registrieren müssen. Jeglicher Religionsunterricht profitiert davon, wenn in bestimmten Phasen den Schüler/innen die Möglichkeit eingeräumt wird, theologische Fragen sachlich kompetent und u.U. mit existenziellem Bezug zu diskutieren.10 Eine erste Distinktion scheint mir notwendig zwischen Kinder- und Jugendtheologie, die inzwischen oft in einem Atemzug genannt werden. Wie oben schon angedeutet, herrscht weitgehender Konsens darüber, was man in unterrichtlicher Praxis mit dem Begriff Kindertheologie verbindet. Dies ist bei der Jugendtheologie nicht in demselben Maße der Fall. Sicher identifizieren lässt sich das, was v.a. im gymnasialen Religionsunterricht bzw. in der Berufsschule geschieht und am ehesten den Charakter eines theologischen Ge-
Konzepte der Lehrenden zu legen, z.B. »Ich denke, dass Gott die Welt gemacht hat, oder was sonst?« Religionslehrende und ihre Konzepte von Schöpfung, in: Veit-Jakobus Dieterich / Gerhard Büttner (Hg.), »Weißt du, wie viel Sternlein stehen?« Eine Kosmologie (nicht nur) für Religionslehrer/innen, Kassel 2014, 152–168. 6 Dies ist die Erwartung an das Handbuch Theologisieren mit Kindern (vgl. Anm. 2). 7 Hanna Roose, Das religionspädagogische Leitbild der Kinder- und Jugendtheologie in kontingenzsensibler Perspektive, in: ZPT 67 (2015), 37–47. 8 Gerhard Büttner, Theologisieren: Einübung in einen Habitus, KatBl 138 (2013), 138–143. 9 Handbuch Theologisieren mit Kindern (wie Anm. 2) 51ff. 10 Ich werde im letzten Abschnitt dieses Beitrags zeigen, inwieweit dies auch und gerade für »performativ« geplanten Religionsunterricht gilt.
Büttner Grenzen der Kindertheologie
sprächs hat.11 Von daher halte ich es für wichtig, meine Aussagen auf die Kindertheologie zu begrenzen. Die zentrale Fragestellung dieses Beitrages konzentriert sich aber auf die Frage, welche Methoden denn sinnvollerweise der Kindertheologie zugeordnet werden können und welche eben nicht. Betrachten wir das von Katharina Kammeyer, Erna Zonne und Annebelle Pithan herausgegebene Werk »Inklusion und Kindertheologie«.12 Dessen implizite Botschaft lautet, dass der Religionsunterricht seinem Beitrag zu einer inklusiven Schule am besten dadurch gerecht wird, dass er auf Methoden der Kindertheologie zurückgreift. Genannt werden explizit die Arbeit mit Psalmen, das kreative Schreiben, Bibliodrama und Bibliolog – also erst einmal nicht das klassische Klassengespräch. Die Frage, die sich stellt, ist eine dreifache: 1. Warum meint man, dass diese Methoden kompatibel mit den Prinzipien der Kindertheologie sind? 2. Wie wird diese Vereinnahmung von den Protagonist/innen dieses Ansatzes gesehen? 3. Wie gehen wir mit der Tatsache um, dass einige dieser Methoden auch von anderen Ansätzen wie dem »Performativen Religionsunterricht« in Anspruch genommen werden? Ich werde die einzelnen Methoden kurz aufführen, ihre mögliche Funktion für die Kindertheologie nennen und mögliche Aussagen der Protagonist/innen erwähnen. Anschließend werde ich kommentierten Unterricht mit solchen Methoden einer Sekundäranalyse aus der Perspektive der Kindertheologie unterziehen.
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3. Blicke auf den Methodenpool
Ich werde im Folgenden drei Typen von Methoden unterscheiden und ihre Zuordnung bzw. Abgrenzung zur Kindertheologie bedenken. Bei der ersten Gruppe handelt es sich um Methoden, die zum Input von Themen unverzichtbar sind, aber nicht genuin zur Kindertheologie zuordenbar sind. Bei der zweiten handelt es sich um Konzepte, die aus eigenem Antrieb entwickelt wurden und von sich aus den Bezug zur Kindertheologie hergestellt haben. Schließlich gibt es Methoden, die im Rahmen kindertheologischer Arbeit zum Einsatz kommen, aber (auch) von anderen Konzepten in Anspruch genommen werden. Wer mit Kindern theologische Gespräche führen will, der muss ihnen in der Regel ein thematisches Angebot machen. Häufig werden dazu biblische Geschichten erzählt, vorgelesen, in Bilderbüchern betrachtet oder auch von den Kindern selbst gelesen. Bilder, Videos und andere Medien können ebenfalls zum Anstoß von Gesprächen werden. In der Kindertheologie werden diese religionspädagogischen Medien benutzt – ohne jeden Anspruch auf einen exklusiven Zugriff. Es kommt freilich der 11 Veit-Jakobus Dieterich, Themen der Jugendtheologie. Spurensuche für den theologischen Dialog mit Jugendlichen, in: Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer (Hg.), Jugendtheologie. Grundlagen – Beispiele – kritische Diskussion, Neukirchen-Vluyn 2012, 45–58. Es ist von daher nicht überraschend, dass Bernhard Dressler seine jüngste Kritik an der Kinder- und Jugendtheologie v.a. an den disparaten Ansätzen der Jugendtheologie festmacht: Bernhard Dressler, Zur Kritik der »Kinder- und Jugendtheologie«, in: ZThK 111 (2014), 332–356. 12 Münster 2014.
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Qualität der Gespräche zugute, wenn der Einsatz dieser Medien nicht naiv erfolgt, sondern die besondere Eigenschaft jedes Mediums gut durchdacht ist. Geschichten haben ihren ganz eigenen Aufforderungsgehalt durch die implizite Frage, was vorher war und was danach.13 Bilder stellen implizit immer die Frage nach der Wirklichkeit des Abgebildeten und führten damit zur Eröffnung einer mediologischen Dimension.14 4. Eigene religionspädagogische Ansätze in ihrem Verhältnis zur Kindertheologie
Godly Play ist ein Ansatz, mit Kindern biblische Geschichten zu behandeln, verbunden mit Phasen der Reflexion, der Meditation, des kreativen Spiels und liturgischen Elementen. Das Konzept wird in vielen Ländern praktiziert. Das kindertheologische Interesse in Deutschland konzentriert sich vor allem auf die Erörterungsphase, in der die Kinder zu den grundlegenden Fragen einer biblischen Perikope ihre eigenen Überlegungen äußern. Doch Martin Steinhäuser, einer der Protagonisten des Ansatzes, betont, dass Godly Play bewusst über diese reflexive Dimension hinausgeht, und deshalb auch beachtet werden sollte, dass es in mystagogischer Weise dazu beiträgt, »sich den Grundfragen des menschlichen Lebens zu nähern, seinen Geheimnissen staunend zu begegnen und den Bildungswert tiefer, unabgeschlossener Fragen zu respektieren«.15 Martin Steinhäuser signalisiert damit, dass die deutsche Rezeption von Godly Play sich sehr wohl am Diskurs der Kindertheologie orientiert – wohl wissend, dass das Konzept deutlich
darüber hinaus geht. Andererseits haben die deutschsprachigen Protagonisten des Godly Play insgesamt eher den diskursiven Zugang innerhalb des Konzeptes gestärkt. Von daher wird man sagen können, dass sich Godly Play durchaus in der Nähe der Kindertheologie situiert, sich gleichwohl deutlich unterscheidet. Das, was Steinhäuser mit dem mystagogischen Element anspricht, finden wir noch profilierter in der sog. Religionspädagogischen Praxis. Das markante Merkmal dieses Programms sind die Bodenbilder: »Das Gestalten eines Bodenbildes, in dem eine Anschauung, ein Märchen, eine biblische Geschichte ihren Ausdruck finden, ist gemeinschaftliches Tun. Jeder trägt dazu bei, legt nieder, gibt hin, ist mit seinem Beitrag, seinem Anteil, seiner Hingabe im Bild präsent, sodass dieses neben der Thematik auch die Gruppe selbst spiegelt, eine Art Gruppenbild ist.«16
Es geht diesem Ansatz um Anschauung:17 Aus den Grunderfahrungen des Lebens und den entsprechenden Symbolen (etwa aus der Natur) entsteht eigenes Erleben, kommen aber auch existentielle Fragen auf. Entstehungsort dieses Ansatzes ist die Arbeit im Kindergarten. Doch 13 Gerhard Büttner, Mit Geschichten theologisieren, in: Handbuch Theologisieren mit Kindern (wie Anm. 2), 64–68. 14 Gerhard Büttner, Bilder im Religionsunterricht – didaktische Perspektiven, entwurf 1/2015, 12–15. 15 Martin Steinhäuser, Godly Play im Theologisieren mit Kindern, in: Handbuch Theologisieren mit Kindern (wie Anm. 2), 51–57, 53. 16 Franz Kett / Robert Koczy, Religionspädagogische Praxis. Ein Weg der Menschenbildung, Landshut 2009, 75. 17 Ebd., 45, 57.
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auch in der Grundschule findet dieses Verfahren Zuspruch.18 Interessant ist die Unterscheidung, die Franz Kett im Hinblick auf die auftauchenden Themen vornimmt. Er unterscheidet Sachwissen und Lebenswissen.19 Im Prinzip entspricht diese Unterscheidung der zwischen entscheidbaren und nicht-entscheidbaren Fragen, die – im Anschluss an den Konstruktivisten von Foerster – in der Kindertheologie üblich ist. Diese Begrifflichkeit zielt auf den eher diskursiven Hintergrund der Kindertheologie, wohingegen die Ketts eher auf einen mystagogischen verweist.20 Ähnlich wie beim Godly Play gibt es ausdrückliche positive Bezugnahmen auf die Kindertheologie, wenngleich mit kritischem Kommentar wegen des Primats der dort nach seiner Meinung bestimmenden intellektuellen Zugangsweise.21 Wieder erleben wir einen Ansatz, der sich seiner Affinität zum Programm der Kindertheologie bewusst ist und gleichwohl auch die spezifischen Differenzlinien bestimmt. Als dritte Methode in diesem Sinn möchte ich das Ausdrucksspiel / Jeux dramatiques präsentieren. Auch dieser Ansatz hat seinen Schwerpunkt erst einmal eher bei jüngeren Kindern. Es geht hier darum, nach der Rollenwahl eine biblische Geschichte – ohne Worte – in Szene zu setzen. Eine wichtige Rolle spielen dabei Requisiten wie Tücher und die Möglichkeit, auch marginale Rollen zu wählen (wie den Baum am Wegesrand). Andrea Braner hält dazu fest:22 »In Bezug auf das Spielen biblischer Geschichten ermöglichen die Jeux Dramatiques Kindern, diese selbst zu deuten. Die Akteure interpretieren die Geschichten durch ihr Ausdrucksspiel und tauschen sich hinterher über ihre
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Erfahrungen und Entdeckungen aus, ohne von Erwachsenen darüber belehrt zu werden, wie die Geschichten ›denn nun wirklich‹ zu verstehen seien.«
Gerade der letzte Aspekt zeigt die Affinität dieses Ansatzes zur Kindertheologie. Petra Freudenberger-Lötz betont dies und meint, Kindertheologie und Jeux Dramatiques seien »hervorragend aufeinander zu beziehen«.23 Damit wertschätzt sie den erlebnishaften Aspekt dieses Ansatzes und unterscheidet ihn gleichzeitig vom mehr reflexiven Charakter der Kindertheologie. Betrachten wir die drei hier präsentierten Ansätze, so ist ihnen gemeinsam, dass sie stark auf das Erleben der Kinder abheben. Dahinter steht – besonders bei Franz Kett – die Vorstellung, dass sich an eine grundlegende spirituelle Erfahrung anknüpfen lasse. Diese ist zum Ausdruck zu bringen und dann auch zu verbalisieren. Wir sehen hier einen Weg, wie ihn vor Jahren auch der Religionspädagoge Hubertus Halbfas im Programm einer
18 Martin Schreiner, Mit Bodenbildern und Legematerialien theologisieren, in: Handbuch Theologisieren mit Kindern (wie Anm. 2), 91–94. 19 Kett / Koczy (wie Anm 16), 86f. 20 Zu Begriff und Sache vgl. Mirjam Schambeck, Mystagogisches Lernen. Zu einer Perspektive religiöser Bildung, Würzburg 2006. 21 Kett /Koczy (wie Anm. 16), 113. Immerhin durfte Angela Kunze-Beiküfner die Ausgabe 2/2009 der Zeitschrift RPP zum Thema Kindertheologie inhaltlich gestalten. 22 Andrea Braner, Hinterm Bibeltor geht’s los. Biblische Geschichten erleben im Ausdrucksspiel, Göttingen 2011, 23. 23 Petra Freudenberger-Lötz, »Und was denkst du?« – Theologische Gespräche mit Kindern führen, in: Ebd., 25–32, 25.
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Symboldidaktik24 vorgeschlagen hat und wie er z.T auch im Programm eines mystagogischen Lernens25 auftaucht. Auch wenn es – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – nicht leicht ist, eine bestimmte Praxis bestimmten Konzepten zuzuordnen, so erscheint es mir doch sinnvoll, die Intentionen der einzelnen Ansätze in ihrer Eigenständigkeit ernst zu nehmen und sie nicht implizit der Kindertheologie »einzuverleiben«. Gerade wenn wir in der Kindertheologie den Fokus auf das Gespräch (und dessen Pflege!!) legen, dann können wir darauf verweisen, wie gut der Ansatz mit anderen religionspädagogischen Entwürfen zusammen geht. 5. Etikett und Inhalt
Die Attraktivität des kindertheologischen Ansatzes führt demnach dazu, dass es für andere Konzepte sinnvoll erscheint, sich zumindest teilweise als Variante von Kindertheologie zu verstehen. Gleichzeitig impliziert ein erweitertes Bild dieses Ansatzes, immer wieder zu überlegen, welche Konkretionen der eigenen Selbstbeschreibung entsprechen. Diese Verhältnisbestimmung stellt nun aber grundsätzlicher die Frage, ob Unternehmungen, die mit der Absicht antreten, Kindertheologie zu betreiben, in der Praxis diesem Anspruch auch entsprechen. Andererseits wird man dann aber auch überprüfen dürfen, ob Unterricht, der anderen konzeptionellen Absichten entspringt, nicht u.U. zumindest teilweise genau dem entspricht, was wir – auch in einem engeren Sinne – als Kindertheologie verstehen.26 Rudolf Englert und seine Essener Forschergruppe haben katholischen Religi-
onsunterricht u.a. der 4. Grundschulklasse untersucht.27 Dabei stieß die Gruppe auf Unterrichtsreihen, die bewusst an Rainer Oberthürs Buch »Kinder fragen nach Leid und Gott«28 anschließen. Rainer Oberthürs Arbeiten gelten nun zu Recht als Klassiker der Kindertheologie. Umso mehr überrascht das Ergebnis der Essener Studie zu den Versuchen, Sache und Bedeutung von Propheten nach dieser Vorlage zu erarbeiten29: »Die Oberthür-Vorlage wird in der aufgezeichneten Reihe also auf den […] elementaren Zugang reduziert und um alles, was darüber hinausgeht, gekürzt. Die Kinder haben zwar viel Raum für eigene Aktivitäten und für die individuelle Adaption der Thematik. Aber das Malen, Sammeln und Collagieren hat keinen rechten Sinn außerhalb seiner selbst. Sind die Kinder hier ins Gespräch mit der religiösen Tradition gekommen? Hat überhaupt eine Art Gespräch stattgefunden? […] Wurde die religiöse Kompetenz der Kinder in irgend einer Weise gefördert?«
24 Hubertus Halbfas, Das dritte Auge. Religionsdidaktische Anstöße, München 71997. 25 Schambeck (wie Anm. 20). 26 So entspricht der Unterricht in der Regel nur bedingt den Planungsprämissen: vgl. Claudia Gärtner, »Alle Unterrichtsreihen sind praxiserprobt und direkt im Unterricht einsetzbar!«, in: Jahrbuch konstruktivistische Religionsdidaktik 5 (2014), 55–70. Nach der systemtheoretischen Sicht sind Unterrichte autopoietische Systeme, die zwar durch äußere Impulse wie konzeptionell inspirierte Planungen irritiert werden, die Irritationen aber in ihrem eigenen Sinne aufnehmen und verarbeiten. 27 Rudolf Englert / Elisabeth Hennecke / Markus Kämmerling, Innenansichten des Religionsunterrichts. Fallbeispiele – Analysen – Konsequenzen, München 2014. 28 München 1998. 29 Englert u.a. (wie Anm. 27), 177 (Hervorhebung von mir).
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Ohne dass Englert u.a. hier diese Terminologie explizit gebrauchen, wird man sagen können, dass in dem analysierten Unterricht trotz der Orientierung an Oberthür kein theologisierendes Gespräch stattgefunden hat. Komplexer und heikler ist der Blick auf eine Unterrichtsdokumentation, in der die Realisierung performativer Konzepte im Unterricht präsentiert wird.30 Schaut man auf die Beispiele aus den Anfangsklassen der weiterführenden Schulen, so sieht man, dass dort Varianten des Rollenspiels dominieren.31 Dies ist nicht weiter verwunderlich bis auf den Umstand, dass gerade auch Verfahren wie Bibliodrama32 oder Bibliolog33 im Methodenpool der Kindertheologie genannt werden und deren Praktizierung im Kontext der Kindertheologie prominent präsentiert wurde. Wie oben schon bei anderen eher »performativ« ausgerichteten Methoden wird man auch hier davon ausgehen können, dass diese Methoden eine eigene Geschichte und Tradition repräsentieren. Damit ist ihre »Verzweckung« in einem anderen Konzept grundsätzlich zu befragen. Hier interessiert aber die Praxis dieser Verfahren und deren unterrichtlicher Kontext. Zugespitzt frage ich, welche Rolle spielen theologische Gespräche (im Sinne der Kindertheologie) in den dokumentierten (»performativen«) Unterrichtsstunden? 6. Kindertheologie im Kontext performativ orientierter Praxis
Ginge es nach der Logik des Performativen RU, dann gehörten alle inszenatorischen und theaterpädagogischen Methoden unter das Dach dieses Konzeptes.
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Wie schon gezeigt, existieren diese Methoden aber z.T. schon deutlich länger und dies auch in unterschiedlichsten Kontexten. Mich interessiert im Folgenden, wie in einer dokumentierten Unterrichtsstunde, die explizit im Kontext des Perfomativen RU präsentiert wird, Phasen des Theologisierens vorkommen und wie diese gewichtet werden. Es handelt sich hier um eine 6. Klasse eines Gymnasi-
30 Bernhard Dressler / Thomas Klie / Martina Kumlehn, Unterrichtsdramaturgien. Fallstudien zur Performanz religiöser Bildung, Stuttgart 2012. 31 Gemeint sind: Bernhard Dressler, »Da möchte Gott was ganz Bestimmtes Jona mit zeigen – Versuchst du das mal in einem Adjektiv zu fassen?«: Eine Stunde zwischen performativer Offenheit und hermeneutischer Bestimmtheit – Fallanalyse »Hartmann«, in Dressler u.a. (wie Anm. 30), 51–82 und Martina Kumlehn, »Ihr seid jetzt meine Instrumente« – Die Stillung des Sturms: Theatral-ästhetische Inszenierung und symboldidaktisch-allegorische Fokussierung – Fallanalyse »Neumüller«, in: ebd., 83– 117. 32 Zur Breite des Ansatzes vgl. Elisabeth Naurath / Uta Pohl-Patalong (Hg.), Bibliodrama. Theorie – Praxis – Reflexion, Stuttgart 2002 mit einem Beitrag, der das Bibliodrama religionspädagogisch in der Korrelationsdidaktik situiert (Gudrun Lohkemper-Sobiech, Beziehungsfähigkeit als praxisorientiertes Qualitätsmerkmal. Bibliodrama und Religionspädagogik 46–54). Elisabeth Naurath praktiziert das Bibliodrama explizit in einem kindertheologischen Kontext: »Wenn ich mich ganz stark konzentriere, muss man einfach glauben. Und dann hört Gott das.« Beten mit Kindern in der Grundschule, in: JaBuki 6, Stuttgart 2007, 153–165. 33 Uta Pohl-Patalong, Bibliolog. Impulse für Gottesdienst, Gemeinde und Schule. Bd. 1: Grundformen, Stuttgart 22011; im kindertheologischen Kontext »… Dass man nicht so weitermachen muss, wie man es bisher gemacht hat«. Glück und Heil mit Jugendlichen bibliologisch entdecken, JaBuKi 10, Stuttgart 2011, 184–197.
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ums.34 In der Doppelstunde geht es um die Stillung des Sturms (Mk 4,35–39).35 Der erste Schritt besteht in einem Texttheater zur Stelle.36 Dabei werden (i.d.F.) fünf Schlüsselwörter aus dem Text gewählt: Boot, Jünger, Sturm, Herr hilf, Stille.37 Diese Worte werden dann ähnlich einer Sprechmotette gesprochen. Dabei übernimmt die Lehrerin die Regie und benutzt die Schüler/innen als »Instrumente«. Im zweiten Schritt soll die Geschichte malerisch dargestellt werden. Martina Kumlehn gibt nun allerdings den Hinweis, dass »in Publikationen zur performativen Religionsdidaktik programmatisch auf den Selbstwert des methodischen Weges verwiesen wird, der damit gegenüber der klassischen Vorordnung didaktischer Entscheidungen deutlich aufgewertet wird«.38 In letzter Konsequenz hieße das dann aber, dass die Ästhetik der Performanz das eigentliche Ziel des Unterrichts wäre und damit die Codes des Kunstsystems und nicht die des Religionssystems maßgeblich wären.39 Im Unterricht setzt sich nach der Besprechung der Bilder das performative Programm dann fort mit der Bitte, die Rolle Jesu in einer Art Standbild darzustellen. Dabei ergibt sich für die Schüler/innen die wichtige Frage, ob sie zwei Haltungen für Jesus wählen dürften, was ihnen dann aber abgeschlagen wird.40 Die Frage ist motiviert aus der Tatsache, dass Jesus in der Geschichte ja in zweierlei Rollen auftritt, als der Schläfer und als der Herr über die Gewalten.41 Martina Kumlehn macht deutlich, dass ihr einerseits der Raum für die theologische Reflexion dann doch zu gering erscheint42 und, gerade am Beispiel der zwei Haltungen Jesu, die mangelnde theologische Durchdringung der Thematik auffällt. Es sind
die Schüler/innen, die die theologischen Akzente setzen:43 »L: Ist es eigentlich für euch völlig selbstverständlich, dass Jesus dahin kommt und so eine Naturgewalt wie so ein Sturm einfach zur Stille bringt. Luis? Luis: Ja, ja der ist ja Sohn Gottes, der muss doch sowas können. L: / Mhm /, also selbstverständlich? Jan? Jan: Ja, ich finde das ziemlich gutmütig, dass er überhaupt sowas macht.« 34 Martina Kumlehn, »Ihr seid meine Instrumente« – Die Stillung des Sturms: Theatralästhetische Inszenierung und symboldidaktisch-allegorische Fokussierung – Fallanalyse »Neumöller«, in: Bernhard Dressler / Thomas Klie / Martina Kumlehn (Hg.), Unterrichtsdramaturgien. Fallstudien zur Performanz religiöser Bildung, Stuttgart 2012, 83–117. 35 Die V. 40 und 41 wurden nicht präsentiert. 36 Dietmar Peter, Texttheater im Religionsunterricht, Loccumer Pelikan 2/1997 (www.rpiloccum.de/material/pelikan/pel2-97). 37 Kumlehn (wie Anm. 34), 89. 38 Ebd., 86. 39 Gerhard Büttner, Die Codierung Immanenz / Transzendenz als Leitdifferenz der Kommunikation des Religionsunterrichts, in: Ders. / Annette Scheunpflug / Volker Elsenbast (Hg.), Zwischen Erziehung und Religion. Religionspädagogische Perspektiven nach Niklas Luhmann, Münster 2007, 188–202. 40 Kumlehn (wie Anm. 34), 105. 41 In der mittelalterlichen Kunst oft dargestellt in einem Simultanbild. 42 Kumlehn (wie Anm. 34), 99: »Das Problematische aus der Perspektive der Lerngruppe ist vor allem darin zu sehen, dass die kreative Lesartenbildung nicht hinreichend ein weiterführendes Gegenüber in der Reflexion und der Deutung gewinnt. Diesbezüglich wird entweder ganz auf die Reflexionsphase verzichtet oder in diesem Kontext wird die Selbsttätigkeit der Lernenden durch die Lehrende durch Vorgaben oder Reformulierungen eingeengt, so dass keineswegs als gesichert gelten kann, ob die offenen Erschließungsformen auch mit einer entsprechenden vielstimmigen, aber auch kritischen kognitiven Deutungskompetenz korreliert werden können.« 43 Ebd., 112.
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Die Frage nach der Person Jesu impliziert dann auch eine originelle theologische Überlegung:44 »Malte: Ja er hätte das ja eigentlich, er, er hat das ja von Anfang an gewusst, dass die Wellen ihn halt nicht töten werden, weil sonst wäre er nicht, sonst hätte er nicht weiter geschlafen.«
Mag die Nennung des Sohn-Gottes-Titels bei Luis noch eine eher unbegriffene Erinnerung sein, so denkt Malte diesen Gedanken zu Ende. Der Gottessohn kann nicht auf diese Weise zu Tode kommen. Deshalb kann er sich im Boot so ruhig verhalten. Es ist die Lehrerin, die diesen Diskussionsfaden dann auf die eher simple Symbolik der Geborgenheit zurückführt. Statt Jesus wird das Boot zum Symbol:45 »Lilli: Vielleicht, will er es aber auch, also will er ihnen auch zeigen, dass sie bei ihm sicher sind und (…) das Meer, weil er ihnen zeigen möchte, dass sie überhaupt nichts fürchten müssen. L: Richtig, das Boot bedeutet Sicherheit, ne?«
Zusammenfassend kann man sagen, dass – wie oben ausgeführt – die Unterrichtsmethoden im Prinzip keinem Ansatz fest zugeordnet werden können. Es zeigt sich vielmehr, was Martina Kumlehn selbst
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herausarbeitet, dass die Kumulation performativer Methoden an sich noch keinen überzeugenden (performativen) Religionsunterricht ausmacht. Die Kinder- bzw. Lehrertheologie tritt dort ins Zentrum, wo es darum geht, zentrale Theologumena zu bedenken. Die gewählte Perikope thematisiert explizit die Rolle Jesu in Richtung auf seine menschliche und seine göttliche »Natur«. Die Kinder haben es – wie in vielen Unterrichtsbeispielen – gemerkt und ihrerseits thematisiert. Die Lehrer/in, deren Planung an dieser Stelle unterkomplex war, hat die Geschichte dann hinauslaufen lassen auf das Dual Angst – Vertrauen mit dem Symbol des bergenden Bootes.46 Die Methodendiskussion zeigte – im Hinblick auf ein anderes Paradigma –, dass Methoden immer ihre Eigenlogik haben. Die Grenzdiskussion betrifft diese selbst, aber auch jedes Konzept, wie in unserem Falle das der Kindertheologie. Wenn sie diese Grenzen nicht bedenkt, verwässert sie ihren Ansatz oder wird übergriffig.
44 Ebd., 113. 45 Ebd., 114. 46 Oliver Reis, Angst / Mut, in: Handbuch Theologisieren mit Kindern (wie Anm. 2) 109–113.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
Barbara Brüning Warum habe ich so viele Fragen im Kopf? Mit Kindern über Sinnfragen philosophieren
Jüngere Kinder beobachten sehr genau, was um sie herum passiert. Sie entdecken die Welt mit allen Sinnen und beginnen, Fragen zu stellen. Dadurch versuchen sie etwas kennen zu lernen, das ihnen bisher verborgen geblieben ist. Denn »Kinder sind Fremdlinge gegenüber allem, das uns bekannt ist; und alles, was ihnen begegnet, ist ihnen zunächst unbekannt, wie es uns einmal unbekannt gewesen ist; und glücklich sind diejenigen, die umgängliche Menschen treffen, welche sich ihrer Unwissenheit annehmen und ihnen helfen aus ihr herauszufinden«.1 Diese Gedanken stammen von dem englischen Philosophen John Locke (1638–1704), der die Bedeutung des Fragens für den Wissenserwerb bereits vor über 300 Jahren herausgearbeitet hat. Nach seiner Ansicht versuchen Kinder mithilfe von Fragen, den großen Dingen der Welt auf die Spur zu kommen. Deshalb sollten Lehrkräfte und Erzieher/innen diese Fragen ernst nehmen und sie so beantworten, dass Kinder weiter darüber nachdenken. Denn nur, wenn eine Antwort der Erwachsenen Raum für eigene Ideen von Kindern lässt, ist sie nach Auffassung von Locke eine gute Antwort. Der folgende Beitrag untersucht verschiedene Frageformen jüngerer Kinder und stellt fünf Grundmethoden vor, die in Schule und Kindergarten angewendet werden können, um mit Kindern über Sinnfragen zu philosophieren. Sie werden anhand des
Märchens »Das Häschen und das Frageknäuel« an einem praktischen Beispiel konkretisiert.2 1. Staunen und Fragen stellen
Die fünfjährige Clara Sophie geht mit ihrer Großmutter abends am Strand spazieren und bleibt plötzlich ganz unvermittelt stehen. »Schau mal Oma«, sagt sie aufgeregt, »die Sonne stürzt sich gerade ins Meer hinein. Macht sie das immer?« Clara Sophie hat noch nie zuvor einen Sonnenuntergang am Meer erlebt und ist erstaunt darüber, wie der rote Feuerball im Ozean versinkt. Sie steht mit weit aufgerissenen Augen und halb geöffnetem Mund da und schaut zu, wie die Sonne allmählich verschwindet. Der Sonnenuntergang war vielleicht Clara Sophies erste Entdeckungsreise in das Universum. Und bevor sie dann irgendwann weiter über die Sonne und ihre Bedeutung für die Welt nachdenken wird, hat sie erst einmal »ihre Augen weit aufgerissen« und einen für uns Erwachsene selbstverständlichen Vorgang in der Natur für sich entdeckt. 1 John Locke, Einige Gedanken über Erziehung, Stuttgart 1997, 152. 2 Vgl. Barbara Brüning, Mit Lara und dem kleinen Saurier philosophieren. Ein Praxisbuch zum Nachdenken über Menschen, Tiere und die Welt, Troisdorf 2010.
Brüning Warum habe ich so viele Fragen im Kopf? Mit Kindern über Sinnfragen philosophieren
Staunen ist eine ganz natürliche Eigenschaft von uns Menschen (nicht nur von Kindern), die schon den griechischen Philosophen Aristoteles (384–322 v.Chr.) fasziniert hat. Er sah im Staunen über die Welt den ersten Schritt zum Philosophieren. Die Menschen »stolpern« zunächst wie Clara Sophie über etwas Ungewöhnliches wie zum Beispiel die im Meer versinkende Sonne. Dann beobachten sie weiter und stellen schließlich Fragen: Warum? Wieso? Weshalb? Staunen bedeutet also, etwas als ungewöhnlich einzuschätzen, das wir bisher noch nicht kannten oder als selbstverständlich hingenommen haben: Die Sonne versinkt am Abend im Meer. Warum ist das eigentlich so? Das Staunen ist nach Aristoteles immer mit dem Bestreben verbunden, etwas wissen zu wollen. Denn wenn jemand zum Beispiel etwas am Himmel unerklärlich findet, bohrt er weiter und stellt dann Fragen über »Größeres« wie das Weltall. Das Staunen von Kindern geht einher mit ihrer Lust, kleine und große Dinge in einer Schatzkiste zu sammeln, wie zum Beispiel Muscheln oder Steine, aber auch Knöpfe oder Sticker. Und diese Dinge werden dann genauer unter die Lupe genommen: betastet, befühlt, geschmeckt. Kinder wollen die Farben und Formen sowie die kleinen Ecken und Kanten entdecken; sie entwickeln einen Forscherdrang. Dieser kann bereits im Kindergarten und in der Grundschule gefördert werden, indem Erzieher/innen und Lehrkräfte Kinder auf bestimmte Dinge in ihrer unmittelbaren Umgebung aufmerksam machen: »Schau mal da, ein vierblättriges Kleeblatt? Hast du schon gehört, wie der Vogel gezwitschert hat? Gestern habe ich einen kleinen Stein ge-
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funden, der gut in deine Sammlung passt. Wollen wir ihn zusammen ansehen?« Die Schatzkisten von Kindern bringen eine Wertschätzung für die kleinen Dinge des Lebens zum Ausdruck, über die große Fragen gestellt werden können. Deshalb sollten Kinder zu bestimmten ethischphilosophischen Themen wie Natur oder Freundschaft im Kindergarten oder in der Schule eine Gruppen-Schatzkiste anlegen. Sie sammeln gemeinsam Dinge, die zum Thema passen, und legen sie dort hinein. Wenn die Kiste voll ist, nehmen die Kinder einige Gegenstände heraus und betrachten sie aufmerksam. Sie erzählen sich gegenseitig, was ihnen daran auffällt und was die Gegenstände mit dem vorher festgelegten Thema zu tun haben. Anschließend könnte das Spiel »Geschichten zur Schatzkiste erzählen« gespielt werden: Aus der gemeinsamen Schatzkiste nimmt ein Kind einen Gegenstand heraus und erzählt dazu eine kleine Geschichte. Danach holt das nächste Kind einen neuen Gegenstand heraus und erzählt dazu ebenfalls eine Geschichte. In dieser Geschichte müssen nun beide Gegenstände vorkommen. Nach vier Gegenständen in einer Geschichte wird das Spiel neu gestartet. Kinder staunen nicht nur über Alltagsdinge und Naturphänomene, sondern auch über das Aussehen von Lebewesen und über menschliche Verhaltensweisen. Damit beginnt die philosophische Dimension des Staunens, denn Kinder stellen fest: Es gibt Menschen, die anders aussehen als die Mehrheit der Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung. Sie haben zum Beispiel eine andere Hautfarbe oder sprechen eine fremde Sprache. Und wenn jemand anders aussieht oder spricht, so ist das vielleicht für ein jüngeres Kind anfangs ungewohnt. Je mehr es
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
sich aber damit beschäftigt, umso mehr wird ihm Fremdes allmählich vertraut. So sagt der Fuchs in dem Märchen »Der kleine Prinz« von Antoine de Saint-Exupéry, dass sich Menschen, die sich nicht kennen, miteinander vertraut machen sollten.3 Dies gilt für alles Unerklärliche auf der Welt. Wenn Kinder frühzeitig lernen, dass jemand, der anders aussieht oder eine andere Meinung vertritt, anders ist, aber deshalb nicht als böse eingestuft werden kann, so werden sie Verständnis für das Fremde und Andere entwickeln. Sie werden weiterhin staunen und nach Erklärungen suchen, ohne von Anfang an eine ablehnende Haltung dazu einzunehmen. 2. Was-ist-das-Fragen
Alice ist drei Jahre alt und sieht eine CD auf dem Wohnzimmertisch liegen. Sie greift danach und fragt neugierig ihre Mutter: »Was ist das?« Die Mutter antwortet: »Das ist eine CD.« »Und was macht man damit?«, bohrt Alice weiter. »Wir hören damit jetzt gleich dein Lieblingslied »Ein Männlein steht im Walde.« Jüngere Kinder wie Alice be-greifen Gegenstände, um sie zu erfassen. Kaum haben sie sprechen gelernt, beginnen sie auch schon Fragen über Dinge ihrer unmittelbaren Umgebung zu stellen, die sie noch nicht so gut kennen. Denn Gegenstände werden nicht nur mit den Händen, sondern auch im Kopf begriffen. Die ersten kindlichen Fragen sind deshalb zum größten Teil »Was-ist-dasFragen«. Sie ermöglichen Kindern, sich mehr und mehr in der Welt zu orientieren, indem sie sich mit unterschiedlichen Dingen vertraut machen und dadurch
ihre Handlungsräume erweitern. Für Erzieher- und Lehrerinnen ist es deshalb wichtig, bei Kinderfragen genau darauf zu achten, was sie bezwecken. Manchmal fragen Kinder wie Alice lediglich, wozu ein Gegenstand da ist. Dann erwarten sie eine Erklärung über seine Funktion, im Sinne von: Was macht man damit? In anderen Fällen stellen Kinder grundsätzliche Fragen über die Welt. Solche Sinnfragen wie beispielsweise nach der Entstehung des Universums lassen sich nicht mit einer einfachen Erklärung beantworten. Aus diesem Grund sollten Erwachsene genau hinhören, ob Kinder lediglich eine bestimmte Information über eine Sache erhalten möchten, oder ob die Frage möglicherweise tiefer geht und weiter bearbeitet werden muss – mithilfe der Methoden des Philosophierens. Der griechische Philosoph Sokrates (ca. 470– 399) hat bereits vor 2400 Jahren auf den Erkenntnisgewinn des Fragenstellens hingewiesen. Sein berühmter Ausspruch »Ich weiß, dass ich nichts weiß« war ein Plädoyer für das Fragenstellen. Keine Antwort ist unwiderruflich, deshalb sollte immer weiter nachgefragt werden, um einen Gegenstand oder ein Problem von allen Seiten zu beleuchten. Kinder können im Kindergarten und in der Grundschule das Fragenstellen spielerisch üben, indem sie einen Fragewürfel basteln: Die sechs W-Fragewörter »Was, Warum, Wieso, Weshalb, Wohin und Woher« werden auf die sechs Seiten des Würfels verteilt, dann wird gewürfelt. Einer beginnt und nennt das entsprechende Fragewort auf dem Würfel. Anschließend werden mit diesem Fragewort verschiedene Fragen zu einem 3 Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz, Düsseldorf 2010.
Brüning Warum habe ich so viele Fragen im Kopf? Mit Kindern über Sinnfragen philosophieren
vorher festgelegten Thema wie zum Beispiel »Freundschaft« oder »Natur« gestellt. Jeder sucht sich eine Frage aus, die er oder sie beantworten möchte. Wenn die Kinder noch nicht lesen können, würfeln sie trotzdem. Das entsprechende Fragewort wird ihnen vorgelesen. 3. Warum-Fragen
Der neunjährige Sebastian hat vor kurzer Zeit seinen Opa verloren, den er sehr geliebt hat. Verzweifelt fragt er nun seinen Papa: »Warum müssen eigentlich alle Menschen sterben?« Der Vater ist sehr erstaunt über diese Frage, aber er versteht Sebastians Intention: Das Leben wäre einfacher, wenn Menschen ewig leben könnten. Dann würde ihnen viel Leid und Traurigkeit erspart bleiben. Mit ihren Warum-Fragen wollen Kinder vielen kleinen und großen Dingen unserer Welt auf den Grund gehen. Sie wollen nicht nur etwas über die Beschaffenheit oder den Namen eines Gegenstandes wissen, wie bei den Was-ist-dasFragen, sondern etwas über seinen Sinn und Zweck sowie die Beziehungen zu anderen Dingen und Menschen. Deshalb sind die Warum-Fragen nach Ansicht von John Locke auch besonders wichtig für die Entwicklung des kindlichen Weltverständnisses. Sie sollten von den Erzieher- und Lehrerinnen so beantwortet werden, dass Kinder selbst weiter über diese Fragen nachdenken und neue Fragen stellen. Denn nur wer nach dem Warum einer Sache fragt, dringt bis ins Innere der Welt vor. Gut geeignet ist das Spiel »Neugier wecken« nach einer Idee von John Locke. Er schlägt vor, Kinder gezielt anzuregen, Warum-Fragen zu stellen: Dazu sollten Erwachsene (un)ge-
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wöhnliche Dinge auf den Tisch stellen. Die Kinder formulieren dazu eine Warum-Frage und die Erzieherin oder Lehrerin beantwortet sie. Das Spiel lässt sich auch umgekehrt spielen: Die Erwachsenen stellen eine WarumFrage zu den Gegenständen und die Kinder beantworten sie. Die Fragen und die Antworten können jeweils gezählt werden. Am Schluss legen die Kinder die unbeantworteten Fragen in einen Fragenkasten. Bei passender Gelegenheit können sie wieder herausgeholt und »neu durchdacht« werden. Der Fragekasten lässt sich mit Fragezeichen und anderen lustigen Gegenständen bemalen. Bei Kindern, die noch nicht schreiben können, legen die Erzieher/innen die Fragen in den Kasten und lesen sie den Kindern vor. 4. Fragen an die Welt
»Ein (…) Kind hört die Schöpfungsgeschichte: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde …, und fragt alsbald: Was war denn vor dem Anfang?«4 Diese kleine Begebenheit erzählt der Philosoph Karl Jaspers (1885–1969) in seinem Buch »Einführung in die Philosophie«. Die grundlegenden Fragen von Kindern, die manchmal die Welt aus den Angeln heben, sind für Jaspers »ein wunderbares Zeichen dafür, dass der Mensch als solcher ursprünglich philosophiert.« Kinder staunen über die Rätsel der Welt und begeben sich noch nicht wie Erwachsene in das »Gefängnis der Konventionen«: Sie fragen unbefangen nach und nutzen jeden noch so kleinen Augenblick, um große Fragen über die Welt zu stellen. Tabus gibt es nicht; alles wird radikal hin4 Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie, München 211998, 10f.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
terfragt, Gott ist genauso ein Thema wie Glück oder Gerechtigkeit. Denn Kinder sind ergriffen von den vielen kleinen und großen Dingen und Augenblicken des Daseins. Und sie geben natürlich auch Antworten, die uns Erwachsenen zeigen, dass ihre Gedanken über die Welt in die Tiefe gehen, so wie die folgenden Gedanken eines Sechsjährigen: »Ich versuche immer wieder zu denken, ich sei ein anderer und bin doch immer wieder ich«.5 Manche Erwachsene sind über die Gedanken von Kindern verblüfft und meinen dann, Kinder hätten sie irgendwo gehört. Sie würden nur nachplappern, was die Erwachsenen ihnen »vorgedacht« haben. Jaspers lässt diesen Einwand nicht gelten. Denn das, was aus den kleinen Köpfen herauskommt, sei teilweise so genial und umwerfend, dass es gar nicht von Erwachsenen kommen kann. Diese würden nämlich mit der Zeit die Fähigkeit des Weiterfragens und die Offenheit für Neues in einer für sie selbstverständlichen Welt verlieren. Deshalb seien eigentlich die Kinder die wahren Philosophen. Für Jaspers sind auch Grenzsituationen des menschlichen Daseins wie zum Beispiel Tod oder Angst ein Thema, vor dem Kinder nicht zurückschrecken. So machen sie beispielsweise die Erfahrung, dass Opa eines Tages nicht mehr da ist oder dass das Meerschweinchen gestorben ist. Und sie fragen dann wie Sebastian mit schonungsloser Offenheit: »Warum müssen alle Menschen sterben? Ist Opa wirklich tot oder schläft er nur? Was passiert jetzt mit Opa, nachdem er gestorben ist? Wo geht er hin?« Bei solchen Fragen sollten Lehrer- und Erzieher/innen nicht davor zurückschrecken, mit Kindern darü-
ber nachzudenken − so gut es von ihrer emotionalen Verfassung her möglich ist. Dadurch erscheint der Tod als ein natürliches Phänomen, das selbstverständlich zu unserem Leben dazu gehört wie das Werden und Vergehen in der gesamten Natur. Vielleicht sollte das Nachdenken über den Tod mit einer verwelkten Blume beginnen und erst später die Menschen mit einbeziehen. Selbstverständlich dürfen Erwachsene und Kinder dabei auch Gefühle wie Trauer und Angst zeigen, die zum Prozess des Sterbens dazugehören. Karl Jaspers hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass wir Menschen mit Grenzsituationen wie dem Tod auf zweierlei Art und Weise umgehen: Wir können daran verzweifeln, weil wir erkennen, dass wir den Tod nicht abschaffen können. Oder wir gehen gestärkt aus einer Grenzsituation hervor und schöpfen daraus neue Kraft für unser Leben. Auf die natürlichen Kinderfragen nach dem Tod sollten Erwachsene auch natürlich reagieren und den Kindern die Zuversicht geben, dass diese Fragen »ganz normale« Fragen an die Welt sind – beispielsweise mit dem Spiel »Fragen zuwerfen«: Die Kinder sitzen im Kreis. Ein Kind wirft einen Tennisball oder ein Tuch zu einem anderen Kind. Dieses muss nun ein Wort sagen, wie zum Beispiel »Himmel«. Dann wird der Ball weitergeworfen. Der- oder diejenige, welche/r den Ball auffängt, stellt nun eine Frage, in der das Wort »Himmel« vorkommen muss: »Wie ist der Himmel entstanden?« Danach wird der Ball weitergeworfen. Der oder die Dritte versucht, die Frage zu beantworten. Anschließend beginnt das Spiel von vorn. Wenn ein Kind die 5 Ebd. 10
Brüning Warum habe ich so viele Fragen im Kopf? Mit Kindern über Sinnfragen philosophieren
gestellte Frage nicht beantworten kann, dürfen die anderen Kinder helfen. Wenn keiner eine Antwort weiß, kann die Frage in den Fragenkasten geworfen werden oder sie wird »einfach vergessen«. Für Lehrer- und Erzieherinnen ist es wichtig, dass sie eine Sensibilität dafür entwickeln, welche Fragen von Kindern zu den »Fragen an die Welt« gehören. In der philosophischen Tradition werden grundlegende Fragen des menschlichen Lebens wie zum Beispiel die Entstehung des Universums oder die Frage nach Glück und Gerechtigkeit durchdacht und in Theorien zusammengefasst. Sie ziehen sich wie ein roter Faden durch die 2500-jährige Geschichte der europäischen Philosophie. Die Antworten auf diese grundlegenden Fragen sind vielfältig und stellen eine Art gemeinsame »Schatzkiste« der philosophischen Tradition dar. Der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) hat sie in vier Grundfragen eingeteilt: Was kann ich wissen? (Erkenntnistheorie) Was soll ich tun? (Moral und Ethik) Was darf ich hoffen? (Religion und Gesellschaftstheorie) Was ist der Mensch? (Anthropologie). Diese vier Grundfragen der Philosophie dienen auch als Orientierung für die Unterscheidung verschiedener philosophischer Kinderfragen.6 Was kann ich wissen: Wie sind die Welt / der Himmel / die Erde / die Menschen entstanden? Woher wissen wir, wie die Welt / die Sterne entstanden sind? Wie groß ist unendlich? Was ist viel, was ist wenig? Warum gibt es Zahlen? Wie kommen die Gedanken / die Wörter … in meinen Kopf hinein? Kann ich die Welt hören / sehen / riechen? Was ist Zeit? Kann ich Zeit sehen? Woher kommt die Zeit?
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Was soll ich tun: Warum darf ich bestimmte Dinge tun und andere nicht? Warum gibt es böse Menschen auf der Welt? Sind Tiere auch gut und böse? Was müssen Menschen machen, damit sie gute Menschen werden? Darf ich auch mal lügen? Warum sind manche Menschen arm und andere reich? Warum werde ich manchmal bestraft? Was darf ich hoffen: Wo wohnt Gott? Warum glauben Menschen an Gott? Warum kann man Gott nicht sehen? Wo ist die Mitte der Welt? Warum gibt es Kriege auf der Welt? Was wäre, wenn es keinen Streit auf der Welt gäbe? Warum soll ich zu anderen Menschen immer lieb sein? Wo kommen wir hin, wenn wir tot sind? Was ist der Mensch: Wer bin ich? Woher komme ich? Gibt es mich nur einmal auf der Welt? Wenn es mich nicht gäbe, würde das keiner merken? Wie wäre es, jemand anderes zu sein? Sind Menschen alle gleich? Wenn ich in … Afrika geboren worden wäre, wäre ich dann ein anderes Kind? Warum sind Jungen anders als Mädchen? Können Tiere auch fühlen / denken / sprechen? 5. Grundmethoden des Philosophierens
Wenn Kinder in der Schule oder im Kindergarten Fragen an die Welt stellen, wie zum Beispiel »Können Kuscheltiere Freunde sein?«, dann sollten sie die Möglichkeit erhalten, mit anderen Kindern
6 Vgl. Barbara Brüning, Philosophieren mit Kindern. Eine Einführung in Theorie und Praxis, Münster 2015, 103.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
gemeinsam Antworten zu finden. Für diese Antwortsuche hat die philosophische Tradition fünf Grundmethoden entwickelt, die es Lehrer- und Erzieherinnen ermöglichen, das Nachdenken von Kindern über die Welt zu unterstützen.
lernen anschließend, die Gegenstände nach Formen, Farben und der Oberflächen-Beschaffenheit zu beschreiben. Erst danach wird die Frage geklärt, warum sie zur Natur gehören.7
Die phänomenologische Methode: wahrnehmen und beschreiben
Allgemein gilt die Hermeneutik als die Kunst der Weltdeutung. Darunter fallen alle Lebensäußerungen wie zum Beispiel Texte, Kunstwerke, Musikstücke, Handlungen oder sprachliche Äußerungen; in der Philosophie richtet sich die hermeneutische Methode traditionell insbesondere, aber nicht ausschließlich, auf die Textinterpretation. Im Ethik- und Philosophieunterricht der Grundschule, der in Bayern, Hessen, MecklenburgVorpommern, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen als Wahlpflicht- bzw. Ersatzfach zum Religionsunterricht stattfindet, wird der Umgang mit philosophischen Fachtexten von der 1. Klasse an gefördert8, das heißt die Gedanken von Philosophinnen und Philosophen zu wichtigen Sinnfragen wie Freundschaft oder Gerechtigkeit werden in anschaulicher und verständlicher Weise präsentiert. Ein Beispiel hierfür ist der Gedanke der Empathie »Mit anderen mitfühlen« des englischen Philosophen David Hume (1711–1776) aus einem Ethiklehrbuch für die Klassen 1/2.9 Zur Texterschließung sollten gezielt Leitfragen von Lehrerinnen und Lehrern gestellt werden. Diese
Der deutsche Philosoph Edmund Husserl (1859–1938) gilt als Begründer der phänomenologischen Richtung der Philosophie. In Auseinandersetzung mit verschiedenen theoretischen Systemen vertrat er die These »Zurück zu den Sachen selbst«, d.h. der Ausgangspunkt philosophischer Reflexion sollten konkrete Gegenstände, Erfahrungen und sinnliche Wahrnehmungen sein. Diese Auffassung kommt dem Interesse von Kindern und Jugendlichen an Dingen und Personen ihrer Umwelt sehr entgegen, denn Dinge sind greifbar und mehrdimensional, d.h. sie fördern beim Philosophieren das Konkrete und sinnlich Anschauliche. Die phänomenologische Methode hat deshalb beim Philosophieren das Ziel, die Beobachtungs- und Wahrnehmungsfähigkeit von Kindern zu schärfen. Ein Gegenstand, eine Person, eine Situation oder eine Verhaltensweise wird zunächst mit allen Sinnen erfasst und anschließend beschrieben. Erst danach findet der Reflexionsprozess statt. So können zum Beispiel beim Nachdenken über die Frage, was denn Natur heißt, verschiedene Natur-Gegenstände wie Blätter oder Tannzapfen mit in die Schule bzw. den Kindergarten gebracht und mit allen Sinnen untersucht werden: tasten, schmecken, sehen, riechen. Die Kinder
Die hermeneutische Methode: Gedanken und Symbole verstehen
7 Vgl. ebd. 28–34. 8 Vgl. ebd. 15ff. 9 Vgl. Udo Balasch/Barbara Brüning (Hg.), Ethik Klassen 1/2, Berlin 2013, 20f.
Brüning Warum habe ich so viele Fragen im Kopf? Mit Kindern über Sinnfragen philosophieren
können sich auf einzelne Gedanken aus einem Text richten oder auch auf das gesamte Textverständnis: »Ihr habt einen Text über das Mitgefühl gelesen. Warum sollten Menschen mit anderen Menschen mitfühlen? Was steht dazu im Text von David Hume?« Die texterschließende Fragemethode hat insbesondere der amerikanische Philosoph Matthew Lipman (1922–2010) in seinem Philosophy for Children-Curriculum in den Mittelpunkt gestellt. Lipmans Ansatz geht davon aus, dass Kindern durch Leitfragen das Textverständnis erleichtert werden soll.10 Leitfragen führen sie an das Verständnis philosophischer Probleme in Texten heran, ohne ihnen die Interpretationsvarianten vorzugeben. Mithilfe der Fragemethode kann ein Text auch im Partnerinterview selbständig von den Kindern erschlossen werden: Die Schülerinnen und Schüler lesen zunächst einen Text und stellen sich gegenseitig Fragen dazu: Eine/r beginnt, und der andere antwortet. Der oder die Fragensteller/in notiert die Antwort in Stichworten. Danach stellt der- oder diejenige, der / die geantwortet hat, die nächste Frage und notiert wiederum in Stichworten die Antwort. Nach dieser Ping-Pong-Methode wird ein Text in seine wichtigsten Gedanken zerlegt – die Partner entscheiden selbständig, ob die Antworten richtig sind. Zur Ergebnissicherung wird die Partnerarbeit in der Klasse ausgewertet. Diese Methode sollte erst dann eingesetzt werden, wenn die Kinder schon über vielfältige Erfahrungen im Umgang mit Texten verfügen – sie wurde insbesondere für den Ethik- und Philosophieunterricht in der Sekundarstufe I und II konzipiert.11
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Die analytische Methode: Begriffe klären und argumentieren
Die philosophische Begriffsanalyse wurde erstmals von dem griechischen Philosophen Platon (ca. 428/27–348/47 v.Chr.) angewendet. Er ließ in seinen Dialogen, wie zum Beispiel »Laches«, seinen philosophischen Lehrer Sokrates und mehrere Schüler über den Gebrauch schwieriger Begriffe wie Tapferkeit nachdenken. Dabei stellt Sokrates gezielte Fragen an seine Gesprächspartner, die ihnen helfen sollen, philosophische Begriffe zu verstehen. In ihren Antworten führen die Gesprächspartner Argumente an, um ihre Meinungen zu rechtfertigen – d.h. die analytische Methode setzt sich seit der Antike aus der Begriffsklärung und der Argumentation zusammen. Dabei werden abstrakte Begriffe wie Glück oder Natur, die in Sinnfragen eine wesentliche Rolle spielen, in ihre verschiedenen Bedeutungsaspekte zerlegt, wie zum Beispiel durch die Methode der Wortfelduntersuchung. Die Kinder erhalten die Aufgabe, auf ein Blatt einen Gegenstand oder ein Erlebnis zu malen, die sie mit einem schwierigen Begriff wie »Freundschaft« verbinden (sie können die entsprechenden Gegenstände auch mit in den Kindergarten oder die Schule bringen). Die Zeichnungen oder Gegenstände werden anschließend in einen Kreis gelegt und zwar in Form einer Blume; es können auch mehrere Blumen gelegt werden. In die Mitte der Begriffsblume wird von den
10 Vgl. Matthew Lipman, Philosophy in the Classroom, Philadelphia 1980, bes. 92–98. 11 Vgl. Michael Wittschier, Textschlüssel Philosophie, München 2010, 86ff.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
Erzieher/innen ein Symbol für Freundschaft gelegt, zum Beispiel die Gesichter zweier Kinder. Es kann aber auch das Wort »Freunde« oder »Freundschaft« auf einen Kreis aus Pappe in die Mitte geschrieben werden, für diejenigen Kinder, die schon lesen können. Die Zeichnungen werden dann als Blütenblätter um die Gesichter herum gelegt. Sie sollen den Kindern verdeutlichen, dass ein Begriff durch andere Begriffe beschrieben werden kann.12 Eine neuere Methode der philosophischen Begriffsexplikation ist das Begriffsmolekül: Es wird aus Styroporkugeln gebaut und dient wie die Wortfelduntersuchung dazu, die unterschiedlichen Bedeutungen von Begriffen zu systematisieren. Das Begriffsmolekül wird in drei Phasen realisiert. Zunächst sammeln die Kinder mehrere wichtige Begriffe oder Symbole, durch die ein philosophischer Begriff wie zum Beispiel »Glück« näher bestimmt werden kann. Diese werden auf verschiedene Zettel geschrieben oder gemalt (Erstellung eines Wortfeldes). Danach werden Gruppen gebildet. Die Gruppenmitglieder tauschen sich über ihre Wortfelder aus. Sie müssen sich genau überlegen, welcher Begriff/ welches Symbol aus ihren Wortfeldern mit einem anderen kombiniert werden kann, um den Begriff »Glück« näher zu bestimmen. Dabei wird die Dreidimensionalität eines plastischen Moleküls genutzt. Beim Bau des Begriffsmoleküls wird an eine zentrale große Kugel des Moleküls der zu klärende Begriff − zum Beispiel »Glück« − mit einem selbstklebenden Zettel geheftet. Die Gruppenmitglieder überlegen anschließend gemeinsam, an welche Stellen des Moleküls weitere Begriffe / Symbole auf selbstklebenden Zetteln geheftet und welche Verbindungen zwischen ihnen geschaffen werden sollen. Die einzelnen Schritte werden hierbei in der Gruppe diskutiert. Die Ver-
bindung zwischen den Kugeln verschiedener Größe (steht für wichtig oder nicht ganz so wichtig) erfolgt mit Holzstäbchen (Zahnstocher und Schaschlik-Stäbchen). Nach dem Bau des Moleküls stellt ein Mitglied der Gruppe das fertiggestellte Begriffsmodell vor; die anderen Teilnehmer/innen ergänzen seine bzw. ihre Ausführungen. Dabei sollte auf Begründungen für die Anordnung der Kugeln mit den verschiedenen Begriffen geachtet werden.13 Der zweite Bestandteil der analytischen Methode ist die Argumentation, das heißt jede Meinung, die Kinder vertreten, sollte von den Schülerinnen und Schülern auch begründet werden: »Kuscheltiere können Freunde sein, weil ich ihnen Geheimnisse anvertrauen kann«. Beim Philosophieren unterscheidet man zwei Grundformen des Argumentierens: empirische und nichtempirische Argumente. Empirische Gründe umfassen Tatsacheninformationen, die gegebenenfalls nachgeprüft werden können; sie dienen dazu, die Angemessenheit von einzelnen Handlungen auf der Grundlage von Fakten zu erklären: »Ich bin zu spät in die Schule gekommen, weil wir verschlafen haben.« Der Wahrheitsgehalt dieser Aussage kann im Zweifelsfall nachgeprüft werden, indem Lehrerinnen und Lehrer in der Familie nachfragen, ob das wirklich so stimmt. Einen größeren Schwierigkeitsgrad hinsichtlich ihrer Überzeugungskraft weisen nichtempirische Gründe auf, die das Hauptinstrumentarium der philosophischen Tradition darstellen. Sie sind begriffliche Konstruktionen, die nicht an Fakten 12 Vgl. Brüning, Philosophieren mit Kindern (wie Anm. 6), 40–43. 13 Vgl. Brüning, Respekt 1. Handreichung, Berlin: Cornelsen 2012, 72–73 mit Abbildung.
Brüning Warum habe ich so viele Fragen im Kopf? Mit Kindern über Sinnfragen philosophieren
überprüft werden können: »Menschen brauchen Freunde, weil man in der Not nicht gern allein ist.« Das Argument »weil man in der Not nicht gern allein ist« kann nicht anhand von Fakten überprüft werden. Denn bei nichtempirischen Gründen handelt es sich um sogenannte Verstehensargumente, die das Verständnis einer Handlung bzw. eines Urteils »verbessern« sollen. Sie erklären, warum jemand eine bestimmte Handlung ausgeführt hat bzw. warum er gerade diese (und keine anderen) Konsequenzen daraus zieht. Auch jüngere Kinder können sich schon darüber Gedanken machen, warum sie eine bestimmte Meinung vertreten. Sie sollten beim Philosophieren dazu angeregt werden, möglichst mehrere Gründe für eine Meinung zu suchen, die mit der Konjunktion »weil« an eine Meinung angefügt werden: Kuscheltiere können Freunde sein, weil 1.Grund: ich ihnen Geheimnisse anvertrauen kann, 2. Grund: sie mir zuhören, 3. Grund: sie immer für mich da sind. Die dialektische Methode: Das sokratische Gespräch
Die dialektische Methode geht auf den griechischen Philosophen Sokrates (ca. 470–399 v.Chr.) zurück, der als Hauptfigur in Platons Dialogen mit einer gezielten Fragetechnik seine Gesprächspartner zum Nachdenken bringen wollte. Sie sollten von der bloßen Meinung (doxa) zu gesichertem, überprüftem Wissen gelangen. Aus der Vielfalt konkreter Beispiele und Einzelheiten wurde durch gemeinsame Reflexion unter der Leitung von Sokrates das Abstrakt-Allgemeine herausgearbeitet, indem von den Einzeldingen das Wesentliche, Unbedingte abstrahiert wurde, bis sich allmählich klare
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begriffliche Vorstellungen entwickelten. In den sokratischen Dialogen wurde allerdings nicht mit letzter Gewissheit geklärt, wie ein philosophisches Problem zu lösen ist. Denn das Ziel des Sokrates bestand darin, vorgefasste Meinungen in Frage zu stellen und neue Aspekte in den Reflexionsprozess einzubeziehen. Die meisten platonischen Dialoge enden deshalb auch in einer Aporie, das heißt sie haben einen offenen Ausgang und präsentieren ein reflexiv bearbeitetes philosophisches Problem mit verschiedenen (denkbaren) Lösungsansätzen, das heißt die Gesprächspartner klären beispielsweise nicht definitiv, was Gerechtigkeit ist, sondern arbeiten mehrere mögliche Aspekte wie Gleichheit vor dem Gesetz bzw. Grundversorgung mit materiellen Gütern heraus. Für das Philosophieren mit Kindern sind vor allem drei Merkmale der klassischen sokratischen Gesprächsmethode wichtig: der Ausgangspunkt von den konkreten Erfahrungen, das heißt den lebensweltlichen Erfahrungen der Kinder, das Miteinander-Denken und die Vorläufigkeit möglicher Antworten, weil der Prozess des Selbstdenkens im Mittelpunkt steht. Dies bedeutet im Sinne des Sokrates, dass jeder Philosophierende eigene Gedanken zu Sinnfragen entwickelt. Ein »Denken-lassen« durch andere, wie zum Beispiel »Lehrerinnen und Lehrer sagen, was richtig ist«, soll ausgeschlossen werden. Dieses Ziel sollte im Vordergrund stehen, da der Kern sokratischer Pädagogik das eigene Nachdenken ist (vgl. hierzu auch Pädagogische Rundschau 2013). Der Dialog über Sinnfragen setzt voraus, dass sich die Gesprächspartner beim gemeinsamen Nachdenken aufeinander beziehen, sich gegenseitig ernst nehmen und Verständ-
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
nis für unterschiedliche Meinungen entwickeln. Diese Fähigkeit zur Empathie, zum »Sich-hineinversetzen in andere« ist dem sokratischen Gespräch deshalb immanent, weil es ohne die gegenseitige Akzeptanz nicht funktionieren kann. In einem sokratischen Gespräch mit jüngeren Kindern sollten folgende Schritte beachtet werden: 1. Im Mittelpunkt des Gesprächs steht ein philosophisches Problem (eine Frage, eine Meinung eines Kindes, ein Bild usw.), über das gemeinsam nachgedacht werden soll: »Können Kuscheltiere Freunde sein?« 2. Das Problem muss eine enge Verbindung zur Lebenswelt der Kinder haben und darf ihren Erfahrungshorizont nicht übersteigen: Die Frage, ob ein Kuscheltier ein Freund sein kann, ist eng mit dem Alltagsleben der Kinder verbunden, weil Kinder Kuscheltiere als enge Begleiter ihres Lebens kennen. Eine Frage, die nicht mit eigenen Erfahrungen verbunden ist, wie zum Beispiel »Was ist Freundschaft?«, wäre zu abstrakt. 3. Jeder, der an einem philosophischen Gespräch teilnehmen will, darf seine Meinung frei äußern. Erwachsene dürfen Kinder nicht zu einer bestimmten Meinung »zwingen«. 4. Alle Kinder verpflichten sich, einander nicht zu täuschen und immer ihre wahre Meinung zu sagen: Strategien wie: »Ich sage einfach, dass Kuscheltiere Freunde sein können, damit ich eine gute Note bekomme«, würde der Verpflichtung, immer seine ehrliche Meinung zu äußern, nicht gerecht. Diese sogenannte »Aufrichtigkeitsregel« hat der deutsche Philosoph Le-
onard Nelson aufgestellt, der in den 1920er Jahren das sokratische Gespräch für die pädagogische Praxis reaktiviert hat.14 5. In einem sokratischen Gespräch soll immer eine gemeinsame Antwort auf eine philosophische Frage gefunden werden (Konsens). Falls dies jedoch nicht möglich sein sollte, bleiben verschiedene Meinungen der Kinder nebeneinander stehen (Dissens). Keiner kann dann für sich in Anspruch nehmen, die »richtige« Antwort gefunden zu haben. Im Falle eines Dissenses sollten die Gesprächsleiter/innen oder die Kinder selbst eine Zusammenfassung der verschiedenen Meinungen geben. 6. Ein sokratisches Gespräch soll durch eine/n Gesprächsleiter/in moderiert werden. Er oder sie fasst verschiedene Meinungen zusammen, stellt Fragen und gibt Denkimpulse, zum Beispiel mithilfe von Beispielen. Die eigene Meinung sollte möglichst zurückgehalten werden. 7. Während eines sokratischen Gesprächs findet auch die analytische Methode Anwendung: Die Kinder klären Begriffe und tauschen Argumente aus. 8. Wichtigstes Ziel eines philosophischen Gesprächs ist im Sinne von Sokrates das Selbstdenken. Jeder macht sich Gedanken und bringt seine Ideen ein: ein »Denken-lassen« durch andere, wie zum Beispiel »die Erwachsenen sagen, was richtig ist«, soll ausgeschlossen werden.
14 Vgl. Brüning (wie Anm. 6), 54f.
Brüning Warum habe ich so viele Fragen im Kopf? Mit Kindern über Sinnfragen philosophieren
9. Vor dem Gespräch sollten die Kinder gemeinsam Regeln aufstellen, die sie im Gespräch beachten wollen, wie zum Beispiel: Wir hören einander zu; wir lassen einander ausreden; wir lachen nicht über die Meinungen von anderen Kindern usw. Wenn jemand die Regeln während des gemeinsamen Gesprächs nicht einhält, genügt manchmal ein Fingerzeig, um auf die Einhaltung der Regeln aufmerksam zu machen. Die Aufgaben der Gesprächsleitung lauten: Leitung des sokratischen Gesprächs; gezieltes Nachfragen während des Gesprächs (Anregung zu Meinungsäußerungen, Begriffsklärungen und Argumentationen); Zusammenfassen oder Zuspitzen von unterschiedlichen Meinungen; Rückführung des Denkprozesses auf das ursprüngliche philosophische Problem, falls zu große Themensprünge auftreten (jeder erzählt, wann er glücklich ist und ob Oma auch glücklich ist); Koordinierung der verschiedenen Denk- und Gesprächsstile der Kinder; das heißt es sollten die Gesprächs-Dominanz einzelner Kinder vermieden und Impulse für »stille« Kinder gegeben werden; auf die Einhaltung der aufgestellten Gesprächsregeln achten; Zusammenfassung der Ergebnisse am Schluss der Diskussion sowie Sammeln von Vorschlägen für die Weiterarbeit nach dem Gespräch. Die verschiedenen Aufgaben der Gesprächsleitung zeigen, dass Kinder diese Aufgabe nicht in vollem Umfang übernehmen können. Dennoch besteht bei entsprechenden Gesprächserfahrungen in der dritten oder vierten Klasse die
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Möglichkeit, auch einem Schüler oder einer Schülerin die Gesprächsleitung zu übertragen. Falls das Gespräch ins Stocken gerät, können Lehrerinnen und Lehrer Hilfestellung geben. Ein sokratisches Gespräch kann zum Beispiel nur fünf Minuten dauern oder auch eine Stunde. Wesentlich ist, wie lange die Kinder Interesse daran haben, eine philosophische Frage zu beantworten. Nach Ansicht des französischen Philosophiedidaktikers Michel Tozzi können Kinder während eines philosophischen Gesprächs verschiedene aktive Rollen übernehmen.15 So kann zum Beispiel ein Kind, das sich selbst nicht am Gespräch beteiligt, am Schluss eine Zusammenfassung der wichtigsten Gedanken mit eigenen Worten geben; dadurch wird die Gesprächsleitung entlastet. Ein anderes Kind, das ebenfalls einen Beobachterstatus einnimmt, unterbreitet anschließend auf der Grundlage der Zusammenfassung Vorschläge für die Weiterarbeit: Welche Fragen sind offen geblieben? Welche wichtigen Gedanken wurden nicht ausführlich diskutiert? Die beiden Beobachter notieren sich diese Gedanken schon während des Gesprächs in Stichworten. Mit Kindergartenkindern lässt sich ein sokratisches Gespräch noch nicht in vollem Umfang realisieren. Zu Beginn des gemeinsamen Philosophierens könnte zunächst das Blitzlicht zum Einsatz kommen. Die Kinder assoziieren zu einer Sinnfrage, wie »Können Kuscheltiere Freunde sein?«, was ihnen gerade durch den Kopf geht – in welcher Reihenfol15 Vgl. Michel Tozzi, Débattre a partir des mythes. A l’école et ailleurs, Lyon 2006, 31–36.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
ge muss durch Gesprächsregeln festgelegt werden. Das Blitzlicht kann auch für nicht so gesprächsfreudige Kinder schriftlich durchgeführt werden. Dabei wird in die Umrisse eines Kopfes auf einem Blatt Papier, das die Erzieherin oder Lehrkraft als Kopie austeilt, an die Stelle des Gehirns (Stirnseite) ein Gegenstand gemalt oder in Stichworten ein Gedanke aufgeschrieben, der zu einer Sinnfrage passt. Die Blitzlichter werden dann angepinnt oder in einen Kreis gelegt und können so als Ausgangspunkt für ein anschließendes Gespräch fungieren. Das Blitzlicht »erhellt« die verschiedenen Aspekte einer Sinnfrage wie ein kurzer Lichtschein und verdeutlicht den Kindern, welche verschiedenen Aspekte eine Sinnfrage umfasst. Die spekulative Methode: Gedankenexperimente durchführen
Beim Philosophieren wird nicht nur nachgedacht und argumentiert, sondern auch die Fantasie entwickelt und mit Gedanken experimentiert. Dabei spielen die Kinder eine Idee im Kopf durch, wobei, ähnlich wie bei einem naturwissenschaftlichen Experiment, anfänglich nicht klar ist, was anschließend dabei herauskommt: ein neuer Gedanke, eine Begriffspräzisierung oder eine völlig andere Sichtweise auf die Welt. Bei Gedankenexperimenten wird von der Wirklichkeit abstrahiert, indem die Philosophierenden Gegenstände, Situationen oder Erlebnisse zu neuen Gedanken kombinieren, die in der Realität so nicht vorkommen, aber vielleicht vorkommen könnten, oder gar sollten, wie zum Beispiel: »Wie sähe eine Welt ohne Freunde aus?« Gedankenspiele ermöglichen Schülerinnen und Schülern, für kurze Zeit die Wirklichkeit zu
verlassen, um sich eine ganz neue oder wünschenswerte Realität vorzustellen: »Die Schule von morgen wäre für mich eine Schule ohne Zensuren«. Gedankenexperimente haben immer die Form von »Was wäre, wenn (nicht) oder stellt euch mal vor-Kombinationen« und lassen sich schnell am Ende oder während eines philosophischen Gesprächs ohne große Vorbereitung in die Diskussion einbringen: »Was wäre, wenn alle Menschen auf der Welt immer nur glücklich sein würden?« Sie tragen dazu bei, viele (selbstverständliche) Dinge auf der Welt mit anderen Augen zu sehen und weiterzudenken. Beim Philosophieren mit Gedankenexperimenten können Kinder frei assoziieren, zeichnen oder auch ein philosophisches Gespräch führen. Die Gesprächsleiter/innen sollten abwarten, welche Gedankenkombinationen entstehen und ob sich aus ihnen ein philosophisches Gespräch entwickelt. Es besteht auch die Möglichkeit, ein Gedankenexperiment schriftlich in Stillarbeit durchzuspielen. Beim Philosophieren mit Kindern können verschiedene Formen von Gedankenexperimenten zielgerichtet eingesetzt werden: Die allgemeine fiktive Annahme regt Kinder an, sich etwas vorzustellen, das es (so) in der Wirklichkeit nicht oder noch nicht gibt: »Was wäre, wenn du wie Pippi Langstrumpf allein ohne Eltern leben würdest?« Die fiktive Verneinung stellt Dinge oder Situationen, die Kinder kennen, in Frage: »Stell dir vor, du hättest keine Freunde?« Die Umkehrung bestehender Tatsachen setzt Fakten ins Gegenteil: »Stellt euch vor, niemand würde mehr auf der Welt sterben – wie sähe die Welt dann aus?« Die fiktive Addition von Eigenschaften stattet Menschen, Tiere oder Pflanzen mit Eigenschaften
Brüning Warum habe ich so viele Fragen im Kopf? Mit Kindern über Sinnfragen philosophieren
aus, die sie in Wirklichkeit nicht haben: »Stellt euch vor, Tiere könnten schreiben und sprechen, sodass wir sie verstehen? Was würden sie uns Menschen mitteilen wollen?« Die fiktive Subtraktion von Eigenschaften denkt wichtige Eigenschaften von Menschen, Tieren oder Pflanzen »weg«: »Nehmen wir mal an, es kämen Außerirdische auf die Erde. Sie sehen aus wie Menschen, können denken, aber nicht lachen und weinen. Würdet ihr sie als Menschen bezeichnen?« Die fiktive Verallgemeinerung regt Kinder an, sich zu überlegen, wie sich die Wirklichkeit verändern würde, wenn plötzlich alle Menschen bestimmte Dinge machen würden: »Stellt euch vor, alle Menschen würden immer nur lügen und keiner würde mehr die Wahrheit sagen, wie würde sich dann unser Leben verändern?« Diese Form des Gedankenexperiments geht auf den Philosophen Immanuel Kant zurück, der durch den »Kategorischen Imperativ« die Menschen aufgefordert hat, bei allen ihren Handlungen darüber nachzudenken, was passieren würde, wenn sie allgemeines Gesetz sein würden. Mithilfe von Gedankenexperimenten können sich Kinder kreative Ideen zur Beantwortung von Sinnfragen ausdenken und auch in nicht diskursiven Formen wie Zeichnungen, Märchen oder Standbildern ausdrücken. Das Häschen und das Fragenknäuel – ein Vorschlag für die Praxis
Die unter den Punkten 2–4 genannten Frageformen des Philosophierens werden in dem Märchen »Das Häschen und das Fragenknäuel in anschaulicher Form für Kinder als »einfache und schwierige
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Fragen« dargestellt.16 Die Kinder versetzen sich in einen Zauberwald. Dort tritt ein Fragenknäuel auf, das alle dortigen Bewohner mit Fädchen umgarnt. Kaum haben sie ein Fädchen erhascht, beginnen sie sofort Fragen zu stellen. Diese Eingangsszene aus dem Märchen könnten die Kinder nachspielen – anschließend wird dann vorgelesen. Als Spiel eignet sich »Ein Fragennetz gestalten«: Als Material benötigen die Kinder eine Rolle dicken Paketfaden. Sie stehen und / oder sitzen in einem engen Kreis. Ein Kind beginnt und wirft die Rolle zu einem anderen Kind. Dadurch wird ein Fädchen aufgespannt. Nachdem das zweite Kind die Rolle aufgefangen hat, stellt es eine Frage. Dann wird die Rolle weitergeworfen – das Kind behält den Faden in der Hand. Allmählich entsteht ein Fragennetz, weil jeder seinen Faden festhält. Das Spiel dauert solange, bis alle Kinder an dem Netz beteiligt sind. Zum Schluss sollten sich die Kinder eine der gestellten Fragen aussuchen und eine Antwort darauf geben. Nach dem Spiel wird das Märchen vorgelesen oder erst einmal das Bild auf der Seite des Märchenbuches betrachtet, auf dem das Fragenknäuel den Fliegenpilz mit Fragen umgarnt. Die Kinder können aufgrund ihrer eigenen Spielerfahrung das Bild gut beschreiben. Das Vorlesen könnte an der Stelle unterbrochen werden, als das Häschen eine letzte Frage an das Fragenknäuel stellen möchte. Hier sollten die Kinder raten, welche Frage das sein könnte. Im Anschluss erfahren sie dann die wirkliche Frage des Häschens: »Warum verteilst du kleine und große Fäden?«. Bevor die Antwort vorgelesen wird, sollen die Kinder wiederum darüber nachdenken, warum unterschiedlich lange Frage-Fäden verteilt werden. 16 Vgl. Brüning, Mit Lara und dem kleinen Saurier philosophieren (wie Anm. 2), 55-61.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
Das Fragenknäuel lüftet im Märchen dann das Geheimnis: Es gibt einfache und schwierige Fragen. Die einen lassen sich schnell beantworten; bei den anderen muss man etwas länger nach einer Antwort suchen. Mit den schwierigen Fragen sind die »Fragen an die Welt gemeint«. Das Märchen gibt dafür ein Beispiel: »Woher kommen Sonne, Mond und Sterne?« Angeregt durch diese Frage können die Kinder nun selbst nach schwierigen Fragen suchen. Eine Zeichnung gibt ihnen dafür einige Fragewörter vor – sie können aber auch mit einem Fragewürfel würfeln. Die Erzieher/innen oder Lehrkräfte sollten dazu Hilfestellung geben und die Fragewörter vorlesen. Ausblick
Durch verschiedene Formen von Fragen versuchen Kinder Orientierung in der Welt zu finden und Wissen zu erwerben. Insbesondere »Fragen an die Welt« tragen
dazu bei, über das Woher und Wohin des Menschen nachzudenken. Kinder und Erwachsene machen dabei die Erfahrung, dass es nicht einfach ist, auf diese Fragen eindeutige Antworten zu finden und dass jeder, ob groß oder klein, eingeladen ist mitzudenken. Beim gemeinsamen Nachdenken in der Schule oder Kita-Gruppe lernen Kinder auch die Meinungen der anderen kennen und erfahren, dass sie mit ihren »Fragen an die Welt« nicht allein sind, weil andere Kinder ähnliche Fragen haben. Die Suche nach Antworten muss nicht immer lange dauern und erfordert keine große Vorbereitung – wichtig ist die Regelmäßigkeit des gemeinsamen Fragenstellens und Philosophierens. Dafür können die fünf Grundmethoden des Philosophierens als »Werkzeugkiste« zum Nachdenken verwendet werden. Sie ermöglichen Kindern, schwierige Begriffe besser zu verstehen, sich eine eigene begründete Meinung zu bilden und durch Gedankenspiele philosophische Phantasie zu entwickeln.
Kalloch Theologisieren mit Kunstbildern
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Christina Kalloch Theologisieren mit Kunstbildern
Wir leben in einer Welt von Bildern. Kaum zu unterschätzen ist, wie sehr sie unsere Wahrnehmung bestimmen. Ob Erinnerungsbilder oder fotografierte und gefilmte Realität, Bilder als Produkte von Gestaltungsprozessen – gemalt, gedruckt, gezeichnet – prägen unser Dasein. Bilder bannen Situationen und Emotionen in Farbe und Form, rufen aber auch Gefühle hervor, überfordern, entlasten, irritieren und stimulieren und können sogar das Schmerzempfinden beeinflussen. Auch auf Kunstbilder kann all das zutreffen, muss es aber nicht. Während die tägliche Bilderflut Menschen schier überwältigt, fristen Kunstbilder häufig ihr Dasein im Elfenbeinturm, bleiben oft unzugänglich und unbeachtet. Brücken zwischen den verschiedenen Bilderwelten, in denen er lebte und die er produzierte, schlug in einzigartiger Weise der Maler Vincent van Gogh. Gemalte, in Farbe umgesetzte Erinnerungsbilder fungierten als Daseinsbewältigung, Lebensprogramm, (Über)lebensmotor, Zukunftsvisionen und Testament. Das Erschaffen seiner Bilderwelt war sowohl motiviert durch die Auseinandersetzung mit gegebenen Traditionen und ikonographischen Programmen sowie den Innovationen der Gegenwartskunst als auch dem Bedürfnis, »Heimat zu finden in der Welt der Bilder«.1 Der Zugang zu Kunstbildern gestaltet sich also vielfältig
und im Hinblick auf das Theologisieren mit ihnen sind die unterschiedlichen Begegnungsdimensionen deutlich zu unterscheiden. 1. Kunstbilder als ästhetische Ereignisse
Ob als Bildmeditationen, Bildbetrachtungen oder Bildkatechesen – Kunstbilder haben in religiösen Lernprozessen einen festen Platz, auch wenn die Arbeit mit ihnen nicht immer gelingt und gelegentlich an dem ursprünglich Intendierten vorbeigeht. Selbstverständlich ist es legitim, wenn Kinder Bilder einfach nur schön finden, sich in ihnen entdecken und sie als Assoziationsmedium nehmen, ihre Gedanken, Gefühle und Geschichten daran festzumachen. Ein kindertheologisches Interesse an Kunstbildern verlangt jedoch ein anderes Vorgehen. Hilfreich ist es, die von Klaus Mollenhauer in diesem Zusammenhang vorgenommene Beschreibung von Kunstbildern als ästhetische Ereignisse aufzugreifen, um der Gefahr der Rezeption von Kunstwer1 Vgl. Christina Kalloch, »Ein Fremdling auf Erden« – Spuren der Gottessuche in den Bildern Vincent van Goghs, in: B. Husmann, Kunst und Theologie. Arbeitshilfen für den Religionsunterricht an Gymnasien, Loccum 2004, 98–108.
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Pädagogische Anregungen
ken als reine Projektionsflächen zu entgehen. Nach Mollenhauer ereignet sich in jeder Begegnung mit einem ästhetischen Ereignis ein neues ästhetisches Ereignis.2 Kulturell produzierte Zeichen (Kunst, Musik, Literatur, Architektur etc.) wollen als ästhetische Ereignisse lesen gelernt werden. Ihre Decodierung ist als ästhetische Alphabetisierung zu verstehen, die ein bestimmtes Zeichenrepertoire kennt und das ästhetische Ereignis somit zu entschlüsseln vermag. Dieser kognitive Prozess des Verstehens eines Kunstwerkes wird durch das Auslösen einer Selbstempfindung begleitet. In ihr zeigt sich die Wirkung eines ästhetischen Ereignisses. Im Hinblick auf die Rezeption von Kunstbildern bedeutet dies, dass im Auge des Betrachters ein individuelles Bild entsteht, das nicht nur die objektiv gegebenen Bildelemente umfasst, sondern diese im Kontext von Vorerfahrungen, selektiven Wahrnehmungsprozessen, kognitiven Voraussetzungen und emotionalen Befindlichkeiten wahrnimmt oder ausblendet, versteht oder ignoriert, neu und anders konstruiert. Bildrezeption ist ein komplexes Geschehen, das sich daher immer sowohl rezeptiv / reflexiv als auch produktiv / reproduktiv gestaltet.3 2. Bildverstehen und ästhetisches Urteil
Beim Theologisieren mit Kunstbildern spielt – anders als bei einer intuitiven und projektiven Annäherung – das Bildverstehen eine zentrale Rolle. Prozesse des Bildverstehens hängen im Wesentlichen davon ab, in welchem Modus sie geschehen. Der ökologische Modus gleicht das
Wahrgenommene mit bereits Bekanntem und Vertrautem ab und setzt voraus, dass daran angeknüpft und Anschluss an schon existierende Vorstellungen gesucht werden kann. Der indikatorische Modus des Bildverstehens setzt beim Unbekannten und Fremden an, das heißt im Vergleich mit dem Bekannten wird das Neue im Bild wahrgenommen und als Impuls verstanden, es in bereits vorhandene Wissensbestände zu integrieren und zugleich als innovatives Moment zu begreifen.4 Ein Lesen des Bildes kann im indikatorischen Modus also nur gelingen, wenn das ikonographische Potential erkannt wird und Veränderungen und Abweichungen gedeutet werden können. Eine weitere Rahmenbedingung für das Theologisieren mit Kunstbildern stellt das sogenannte »ästhetische Urteil« von Kindern dar.5 Es geht davon aus, dass sich die Bewertung von Bildern – abhängig von ihrer kognitiven Entwicklung, aber auch ihrem Umgang mit Kunst – verändert. Ein sehr subjektiver, assoziativer Zugang wäre demnach für jüngere
2 Klaus Mollenhauer, Die vergessene Dimension des Ästhetischen in der Erziehungs- und Bildungstheorie, in: D. Lenzen, Kunst und Pädagogik. Erziehungswissenschaft auf dem Weg zur Ästhetik, Darmstadt 1990, 23–17. 3 Vgl. Gert Otto, Zur ästhetischen Erziehung in der Grundschule. Der Versuch an ein Symposion anzuschließen, in: G. Schneider, Ästhetische Erziehung in der Grundschule. Argumente für ein fächerübergreifendes Prinzip, Weinheim / Basel 1988, 13–33.21. 4 Vgl. Bernd Weidenmann, Prozesse beim Verstehen von Bildern, Bern / Stuttgart / Toronto 1988, 73–94. 5 Vgl. James Parsons, How we understand Art. A cognitive developmental account of aesthetic experience, Cambridge / New York u.a. 1987, 20–25.
Kalloch Theologisieren mit Kunstbildern
Kinder bestimmend, die Wertschätzung realistischer Darstellungen für die mittlere Kindheit kennzeichnend. Grundsätzlich hängt das Verstehen von Bildern auch davon ab, ob ein Bild mehrdimensional gesehen werden kann oder ob es als konkrete eindeutige Wiedergabe empirischer Wirklichkeit betrachtet wird. Nach Parsons entwickelt sich bei entsprechender Anregung durch Begegnungen mit Kunstbildern das ästhetische Urteil von »favoritism« zu »autonomy« hin und mündet in eine Beurteilung, die unabhängig vom eigenen Geschmack den Wert eines Kunstbildes hinsichtlich seiner Originalität, Tiefe und Ausdruckskraft zu würdigen vermag. Die hier nur kurz skizzierten Rezeptionsbedingungen von Kunstbildern durch Kinder verdeutlichen bereits, wie komplex sich Bilderschließungen gestalten und wie überlegt sie arrangiert sein wollen, um durch sie Lernprozesse initiieren zu können. 3. Kunstbilder in religiösen Lernprozessen
Kunstbildern mit (christlich)religiösen Motiven kommt in Lernprozessen ein eigenständiger Rang zu. Anders als (Bibel)Illustrationen, die veranschaulichenden und erklärenden, aber auch schlicht auflockernden Charakter haben können, können sie eine Eigendynamik entwickeln, die in Spannung oder gar Widerspruch zum biblischen Text oder der Lehrtradition steht. Sie unterscheiden sich damit auch von sogenannter religiöser Gebrauchskunst, die eigens erstellte, didaktisch motivierte Bildgegenstände repräsentiert und »Sehhilfe« sein will,
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damit sich auch Kindern komplexe theologische Sachverhalte erschließen.6 Kinderbibeln, Religionsbücher und Materialien für den Unterricht haben hinsichtlich ihrer visuellen Gestaltung einen erheblichen Wandel vollzogen, mit dem sich augenscheinlich nicht nur ihre Optik verändert hat, sondern der auch eine veränderte Wahrnehmung von Kunstbildern spürbar werden lässt. Früher fanden sich zwar ebenfalls schon Kunstdrucke in Religionsunterrichtsmaterialien, sie blieben aber nicht selten wenig attraktive – weil zumeist unerschlossene – Fremdkörper im Zusammenhang der Buchkonzeption. Schulbücher bilden heute häufiger Kunstbilder ab und bieten zugleich Erschließungshilfen an. Die Kinderbibel von Rainer Oberthür wagt es sogar, ganz auf eher kindgemäße Illustrationen und Bebilderungen zu verzichten und bietet ausschließlich Gemälde alter und moderner Meister.7 In Bildern spazieren gehen, ihren Motiven auf die Spur kommen, sie als Impulse zur Deutung eines Textes zu sehen, ist erklärtes Ziel einer so verorteten Bildbetrachtung. Das Bild ist hier kein Beiwerk mehr, sondern rückt in das Zentrum der Reflexion. Damit ergeben sich unterschiedliche Lernwege im Umgang mit Kunstbildern. Zum einen die klassische Bilderschließung im Religionsunterricht, die ein Bild erarbeiten möchte und in eine intensive Auseinandersetzung verwickeln will, um ein Thema zu erschließen. Hauptziel in 6 Vgl. Christina Kalloch, Bilddidaktische Perspektiven für den Religionsunterricht in der Grundschule, Hildesheim / Zürich / New York 1997, 214–219. 7 Rainer Oberthür, Die Bibel für Kinder und alle im Haus, München 2004.
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Pädagogische Anregungen
diesem Zusammenhang ist es, ein Kunstwerk zu interpretieren, seinen künstlerischen Impuls wahr- und es als mögliche eigene Deutungskategorie anzunehmen. Diese Bilder werden im Kontext von Unterrichtsvorbereitungen didaktisch reflektiert, indem ihnen eine bestimmte Funktion im Hinblick auf zu erlangende Kompetenzen und Wissensbestände zugeschrieben wird. Kunstbilder sind in diesem Zusammenhang ein Medium, das durch Methoden der Bilderschließung dieses Wissen vermitteln will. Diesen Lernweg mit Hilfe von Kunstbildern zu beschreiten, ist Unterrichtenden meist vertraut und lässt sich beispielsweise durch das fünfphasige Schema der Bilderschließung nach Günter Lange oder die strukturale Bildanalyse nach Alex Stock realisieren.8 Das Theologisieren mit Kunstbildern ist jedoch grundsätzlich anders zu verorten. 4. Das Theologisieren mit Kunstbildern
Das Führen theologischer Gespräche mit Kindern stellt einen eigenen Zugang dar, der mit bilddidaktischen Bemühungen im Religionsunterricht der Grundschule nicht gleichzusetzen ist. Das Theologisieren mit Kunstbildern ist vom gelenkten Unterrichtsgespräch, das auf ein bestimmtes Lehrziel hin steuert, zu unterscheiden, da es zunächst die intensive individuelle Auseinandersetzung mit dem Kunstbild intendiert. Sprechen Kinder mit einem Erwachsenen »unter vier Augen« über ein vielleicht zunächst als schwierig oder langweilig empfundenes Bild, nehmen sie sich in einer besonderen Rolle wahr. Aufgefordert durch Impulse wie »Was siehst
Du auf dem Bild«, »Was fällt Dir zuerst auf?« oder auch »Was erscheint Dir besonders wichtig?« fühlen sie sich als Experten ernst genommen. Sie erliegen damit weniger der Gefahr erraten zu wollen, was die Gesprächspartnerin / der -partner hören möchte, sondern berichten eher von ihren eigenen Entdeckungen. Häufig eingeleitet durch Formeln wie »Ich weiß jetzt aber nicht, ob das so richtig ist?« und »Also, das ist jetzt meine Meinung« oder auch »Soll ich mal sagen, was ich denke?« gehen sie unbefangener und immer sehr konzentriert auf Entdeckungsreise in dem Bild und berichten von ihren Wahrnehmungen und Eindrücken. Gern sehen sich die befragten Kinder als »Interviewpartner«, deren Meinung gefragt ist und die sie bereitwillig äußern. In Kleingruppen lässt sich diese Dynamik ebenfalls aufrechterhalten. Es gelingt ihnen in einer sehr überschaubaren Gesprächsrunde besser, zuzuhören und die Gedanken der anderen als Impulse aufzunehmen, an diese anzuknüpfen und sie weiterzudenken. In der intensiven Atmosphäre eines Einzeloder Kleingruppengesprächs lassen sich Motivation und Interesse über lange Zeit erhalten. Phasen der kreativen Auseinandersetzung mit einem Bild, wie sie im Klassenunterricht sinnvollerweise häufig eingeplant werden, würden an dieser Stelle fast »stören«, da die Fokussierung auf das Bild eine andere Form annimmt und die Eigentätigkeit gar als unwillkommene Unterbrechung wahrgenommen wird.
8 Vgl. Günter Lange, Zur Methodik der Erschließung von Kunst im Religionsunterricht, in: rhs 27(1987) 279–283; Alex Stock, Bilder besprechen, in: KatBl 109 (1984) 372–376.
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5. Gottesbilder – theologische Gespräche zu Bildern von Emil Nolde und Meister Francke
Die theologischen Gespräche zu den genannten Kunstbildern wurden mit zwei Viertklässlern geführt, Lia und Leo, beide zehn Jahre alt. Die ausgewählten Kunstbilder, einmal von Emil Nolde »Der große Gärtner« (1940), zum anderen »Die Geburt Christi« (um 1424) von Meister Francke, repräsentieren zwei unterschiedliche Gottesbilder, die in einem zeitlichen Abstand von über fünfhundert Jahren gemalt wurden und entsprechend differierende theologische Konzepte verbildlichen. 5.1 »Der große Gärtner« (Emil Nolde, 1940)
Das Bild von Nolde repräsentiert ein modernes Gottesbild, das den Verweis auf Gott zulässt, aber nicht erzwingt. Es ist
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durchaus als symbolisches Gottesbild zu lesen, das Gott als Gärtner im Garten seiner Schöpfung sieht, auch wenn dies vom Künstler selbst so nicht intendiert sein mag. Farb- und Formensprache erweisen sich als konstitutiv für dieses Gottesbild, wie sich an den gedeckten Naturfarben und der Bedeutungsperspektive aufzeigen lässt. Der Gärtner verschmilzt mit seinem Garten, lediglich das ihn umgebende Blau kann als Verweis auf die Sphäre gedeutet werden, die ihn umgibt. Und Noldes großer Gärtner erscheint überdimensioniert in dem Bild, ebenfalls ein Hinweis auf ihn als Urheber dieses Gartens. Mimik und Gestik sind für die Darstellung der Beziehung zwischen Gott und seiner Schöpfung signifikant. Die behutsame Geste, der besorgte, traurige Gesichtsausdruck kön nen durchaus als Leiden bzw. Mitleiden Gottes an und mit seiner Schöpfung interpretiert werden. Ein modernes Gottesbild also auch insofern, als es ein Theodizee-haltiges Bild ist, das die Frage nach dem Leid in der Welt aufwirft, welches im Widerspruch zur Güte und dem Heilswillen Gottes gegenüber seiner Schöpfung steht. 5.1.1 Lia (10 Jahre): »Ich sehe Bäume und Blätter. Und einen älteren Mann mit einem rotorange-rötlichen Bart. Die Bäume haben bunte Blätter. Alles ist ein bisschen dunkel. Es ist Nacht. Es ist ein Fantasiebild. Der Mann ist größer als die Bäume. Das ist normalerweise nicht so – außer im Märchen. Er ist nicht aus diesem Land. Das erkenn ich an der Mütze – vielleicht aus dem Land, wo Jesus gelebt hat – vielleicht aus Israel.« I: »Manche sagen, dass das Gott sein könnte.« Lia: »Ja, manche stellen sich Gott als alten Mann vor. Ich stelle ihn mir anders vor –
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Pädagogische Anregungen
eigentlich stelle ich ihn mir gar nicht so richtig vor. Ich weiß nur, dass er da ist.« I: »Wie könnte man denn darauf kommen, sich Gott so vorzustellen? Stell Dir vor, Du könntest in die Köpfe der Leute hineinkriechen – welche Gedanken findest Du?« Lia: »Er ist so groß, ein Riese, er schaut herunter … Er streicht über die Bäume, weil er sie schön findet, er will sie anfassen. Und sonst, da muss ich erst nochmal überlegen … Also er streichelt die Bäume … so wie eine Mutter ihren Kindern über die Köpfe streicht … Gott hat alles gemacht. Und alles, was er gemacht hat, sind seine Kinder. Er ist traurig … er hat alles gemacht und die Menschen zerstören alles. Sie fällen die Bäume, weil sie das Holz benutzen oder einfach nur Zweige abbrechen. Nicht nur ein bisschen – ganze Wälder.« 5.1.2 Frage an Leo (10 Jahre), der sich ebenfalls das Nolde-Bild intensiv angeschaut hatte: »Könnte dies ein Bild von Gott sein?« Leo: »Nein, das finde ich eher nicht. Gott kann man nicht darstellen. Also ich finde das Bild jetzt nicht beleidigend oder so, aber Gott kann man so nicht darstellen – so ein festes Bild von Gott im Himmel. Gott ist überall. Ich glaube nicht an den alten Mann, der von oben herunter guckt und sagt: ›Das ist richtig und das ist falsch.‹ Gott bestraft die Menschen auch nicht mit Krankheiten oder so. Er macht auch nicht die Welt kaputt, das machen sie selber. Gott hat Verständnis. Er beschützt die Menschen.« I: »Könnte dieses Beschützen aber nicht vielleicht auch in dem Bild vorkommen?« Leo: »Ja, das mit dem Beschützen schon. Also der Mann, wenn er Gott wäre, dann wollte er die Welt beschützen. Er ist traurig, vielleicht weil er das nicht kann …, ich meine die Welt beschützen. Vielleicht wollte das der Maler malen … dass so viel Schlimmes passiert – mit der Natur und
mit der ganzen Welt. Der Maler wollte wohl einen traurigen Gott malen. Aber ich glaube trotzdem nicht, dass man Gott so malen kann …« I: »Wenn Du Dir ein Bild von Gott überlegen solltest, wie würdest Du ihn malen oder beschreiben?« Leo: »Also, ich würde ihn so nicht malen. Ich würde vielleicht hilfsbereite Menschen malen oder etwas Verborgenes, eine Spirale oder so. Wie so was, was nicht aufhört … wie ein ewiger Weg oder so …«
5.2 »Die Geburt Christi« (Meister Francke, um 1424)
Das Bild von Meister Francke repräsentiert den für diese Zeit in Europa häufig vertretenen »schönen Stil«, was besonders an der Darstellung Marias und des Kindes deutlich wird.9 Doch die Kompositionselemente des Bildes 9 Vgl. Rita Burrichter, Meister Francke, Die Geburt Christi (um 1424), in: Rainer Oberthür, Die Bibel für Kinder und alle im Haus, München 2004, 305f.
Kalloch Theologisieren mit Kunstbildern
zeigen noch mehr. Meister Francke hatte in Frankreich die Kunst der Buchmalerei erlernt. Die kulissenartig gestaltete Landschaft wirkt zugleich wie eine Kollage und verweist auf den Stil der Buchillustrationen. Auch die Umsetzung des Motivs lässt einige Besonderheiten erkennen, die auf eine Vision der heiligen Birgitta von Schweden zurückgehen (1372), in der sie die Geburt Christi sah: Das nackte Kind auf dem Boden liegend, von dem ein wunderbares Licht ausging und Maria betend vor ihm.10 Die auf das theologische Konzept zurückgehende Anordnung steht damit in einer gewissen Spannung zur lieblichen Marienfigur und dem niedlichen Kind, die nicht in inniger Verbundenheit, sondern in Distanz zueinander stehen. Josef ist nicht abgebildet, »wohl aber Gott als bärtiger alter Mann oben in den Wolken.«11 Von ihm gehen helle Strahlenbahnen direkt zu dem auf dem Boden liegenden Kind. Die Strahlen führen vom Mund Gottes zu dem Kind, von dem selbst ein göttlicher Strahlenkranz ausgeht. Das Bild visualisiert damit die Inkarnation: Gottes Wort kommt in die Welt und erscheint in einem hilflosen schwachen Kind. Neben den Hauptfiguren sind zwei Engel zu sehen, die Marias blauen Mantel halten sowie ein Verkündigungsengel, der den Hirten bei ihren Herden die frohe Botschaft von der Geburt Christi überbringt. 5.2.1 Lia: »Das soll die ganze Jesusgeschichte in einem Bild sein – irgendwie, also nicht gerade das mit den Heiligen Drei Königen. Ich glaube von Lukas ist die Geschichte. Also die ganze Jesusgeschichte … Nicht jetzt Josef …, sondern das, was mit Gott zu tun hat. Also mit Maria und
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Josef und Jesus, das wäre so wie bei uns. Aber mit Jesus ist es ja nicht wie bei uns, da ist es anders. Und deshalb …, der Maler malt die Sache mit Gott und Maria und Jesus, also diese Geschichte. Also Gott ist da so ein alter Mann, der im Himmel wohnt. Unsere Lehrerin hat gesagt, Gott ist da nicht so über den Wolken … aber hier ist es so …« I: »Wie erklärst Du Dir das?« Lia: »Also der Maler malt Gott im Himmel, weil, da wo Gott ist, ist es schön. Er will was malen, was ganz anders ist. Also, das stellen sich die Menschen so vor … Himmel, irgendwie leicht, wie wenn man fliegt und weich, also so stellen sich die Menschen das vor, so über die Wolken gehen … Ja, und hier geht so ein Strahl von Gott zu Jesus, dem Jesuskind. Also da kriegt Maria jetzt gerade das Jesuskind … also auf dem Bild ist das jetzt anders als im Sexualkundeunterricht – anders. Das Gestrichelte da zwischen Gott und Maria … hm … das ist also jetzt nicht der Samen, nee, das ist, das ist … also das kriegt Jesus jetzt von Gott mit … Er gibt seinem Sohn mit, was er ihm geben möchte … Ja, und dann sind da noch die Hirten, die sehen Jesus ja als erstes also nach dem Lukasevangelium – und der Engel der bringt eine Schriftrolle, also eine Botschaft … Darauf könnte stehen: ›Ein König ist geboren. Er wird alle Menschen gleich lieb haben. Er ist was ganz Besonderes und ihr sollt das als Erste sehen‹. Also das mit Gott ist ja was ganz Besonderes. Ich stell mir das so vor mit den Erbanlagen … wir haben zwei … und Jesus hat drei, also von Maria und Josef und Gott …« 5.2.2 Leo: »Also da ist ein alter Mann, den hat der Maler so gemalt, also, was ich nicht richtig finde, aber trotzdem … gut 10 Ebd. 306. 11 Ebd. 305.
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Pädagogische Anregungen
… ja, und da gehen so Striche runter … die werden dann zu einem Schein, ja und da liegt dann das Jesuskind, und dann ist da so eine Sprechblase, da steht was drin, was ich nicht lesen kann …« I: »Was könnte denn da drauf stehen?« Leo: »Ich glaube sie bedankt sich, ich glaube, ich weiß es nicht, ich glaube schon, dass sie sich bedankt, dass sie den Sohn Gottes gebären konnte …« Leo: »Und mir fällt noch was zu den Schafen ein, also es gibt da so was … wie nennt man das … Psalm, ja, Psalm … ›Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln, er weidet mich auf einer grünen Aue‹ … laber laber laber …, aber das ist da auf dem Bild, weil das auch mit Jesus zu tun hat, weil Jesus ja auch wie ein Hirte ist, der auf die Menschen aufpasst, er beschützt sie und sorgt für sie … na ja, so heißt das ja auch in dem Psalm … mit ›nichts mangeln und so‹ und das finde ich ja irgendwie das bessere Bild von Gott … ich meine nicht so wie ein alter Mann, mehr so wie ein Hirte eben …«
6. »So kann man Gott nicht malen«
Bei beiden Kunstbildern handelt es sich durchaus um für Kinder »schwierige Bilder«, die sich nicht problemlos rezipieren ließen, aber einen starken Aufforderungscharakter besaßen. Als besonders auffällig erwies sich im Gespräch mit beiden Kindern, dass das symbolische Gottesbild des modernen Malers Nolde in der Beurteilung nicht von dem des spätmittelalterlichen Malers unterschieden wurde. Beide erschienen Lia und Leo als anthropomorphe Bilder von Gott unangemessen und wurden aus dieser Perspektive erst einmal abgelehnt. Obwohl nur das Bild Gottvaters von Meister Francke das Klischee vom »alten Mann
mit Bart« bedient und sich für Kinder erwartungsgemäß einer symbolischen Deutung verschließt, repräsentiert auch der »große Gärtner« für Lia und Leo ein unzureichendes bzw. veraltetes Bild von Gott. Obwohl Letzterer sogar selbst symbolische Bilder (hilfsbereite Menschen, Spirale, ewiger Weg) vorschlägt, ist es ihm nicht möglich, die symbolische Dimension in den vorgegebenen Bildern zu erkennen. Vermutlich liegen sie ikonographisch zu nah an von Kindern gemalten Gottesbildern, die in ihrer Konkretion oft auf das Bild eines alten Mannes zurückgreifen. Möglicherweise ist es auch die nicht vertraute biblische Assoziation Gottes als Gärtner, die den Zugang zunächst erschwert. Leo wehrt sich daher vehement gegen das seiner Auffassung nach unpassende Gottesbild. Er findet das Bild »jetzt nicht beleidigend oder so«, macht aber sehr deutlich, dass er es für ein reduziertes, zu festgelegtes Bild hält, das seiner Vorstellung von Gott nicht entspricht: »Ich glaube nicht an den alten Mann, der von oben ’runterguckt und sagt: Das ist richtig und das ist falsch.« Er hält fest an seinem Bild von Gott, der die Menschen nicht bestraft, indem er ihnen Krankheiten schickt oder ihre Welt zerstört. Ist die Hürde des »falschen« Gottesbildes erst einmal genommen und die Perspektive des Malers akzeptiert, zeigen sich in den Kinderantworten bemerkenswerte Deutungen. Die Vorstellung eines sorgenden, an und mit seiner Schöpfung leidenden Gottes wird von Lia in der behutsamen, fast zärtlichen Geste des Gärtners erkannt und in ihre eigene Erfahrungswelt übertragen: Gott ist wie eine Mutter, die ihre Kinder liebt. Aus dem Motiv des Bildes ergibt sich für sie
Kalloch Theologisieren mit Kunstbildern
ein weiterer Aspekt, der sich an der Kritik im Umgang mit der Schöpfung Gottes – hier in der Zerstörung der Natur – konkretisiert. Dieser Gedanke legt sich auch für Leo nahe. Die Menschen machen ihre Welt kaputt und Gott kann sie nicht beschützen. Es muss demzufolge ein »trauriger Gott« sein, den der Maler malen wollte. Viel Potential zum Theologisieren bietet auch das Inkarnationsbild aus dem 15. Jhd. »Das soll die ganze Jesusgeschichte in einem Bild sein« – so Lia. Nicht die ganze Weihnachtsgeschichte, denn es fehlen unter anderem die Heiligen Drei Könige. Und da auch Josef fehlt, muss es sich um die Geschichte handeln, die »mit Gott zu tun hat«. Anhand des Bildes erzählt Lia von ihren Vorstellungen vom Himmel, aber auch, warum das Bild die Zeugung Christi nicht darstellen möchte wie im Sexualkundeunterricht. Mit ihrem Verweis auf die Erbanlagen Jesu Christi verleiht Lia ihrer Auffassung darüber, wie dieser Gott und Mensch sein kann, Ausdruck. Auch Leo erfasst wesentliche Aussagen des Geburtsbildes. Dies zeigt sich vor allem in der inhaltlichen Füllung des für ihn zu entziffernden Spruchbandes, die er wie folgt vornimmt: »… Ich glaube schon, (…), dass sie (Maria) sich bedankt, dass sie den Sohn Gottes gebären konnte.« Doch dann entdeckt er noch etwas für ihn sehr Wichtiges. Durch die Verkündigung der Geburt Christi an die Hirten fühlt er sich an Psalm 23 erinnert. Dieses Bild hat für ihn – anders als im unmittelbaren Kontext der lukanischen Geburtsgeschichte – sehr viel mit Jesus zu tun. Indem Leo die Hirten auf dem Feld mit Jesus gleichsetzt, entdeckt er für sich über den Bezug zu Psalm 23 Chris-
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tus als den guten Hirten: »… weil Jesus ja auch wie ein Hirte ist, der auf die Menschen aufpasst, er beschützt sie und sorgt für sie … na ja, so heißt das ja auch in dem Psalm … mit ›nichts mangeln und so‹«. Schon zu Beginn der Auseinandersetzung mit dem Bild hatte Leo sich von der Visualisierung Gottes als »alter Mann« distanziert, mit der Entdeckung der Hirtenszene hat er sein Gottesbild gefunden, das für ihn die gesamte Geburtsdarstellung im »richtigen« Licht erscheinen lässt: »… und das finde ich auch irgendwie das bessere Bild von Gott … ich meine nicht so wie ein alter Mann … mehr so wie ein Hirte eben.« 7. »Was der Maler sagen will« – Kunstbilder als Medium theologischer Gespräche
Die exemplarisch und nur ausschnitthaft wiedergegebenen Gespräche mit Lia und Leo untermauern bereits auf eindrückliche Weise, dass sich Kunstbilder besonders als Medium theologischer Gespräche eignen. Bei entsprechender Auswahl üben Motive, Bildaufbau und Farbgebung auf Kinder große Faszination aus. Ihr Interesse wird vor allem dadurch geweckt, Bekanntes zu entdecken, Fremdes, auch in ihren Augen Unpassendes oder nicht so Gelungenes aufzuspüren und so in den Dialog mit dem Bild treten zu können. Ein Kunstbild schafft Fakten, doch zugleich macht es bewusst, wer diese Fakten schafft. Der Maler malt das so. Was hat er sich dabei gedacht? Der Künstler bietet ein Konzept an und fordert damit heraus, sich mit diesem Konzept auseinanderzusetzen. Das bringt auf neue Gedanken, schafft weiterführende Impulse und zwingt, sich mit den eige-
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Pädagogische Anregungen
nen Vorstellungen zu beschäftigen. Das Theologisieren setzt Distanz und Bereitschaft zur Reflexion voraus. Kunstbilder als Medium besitzen die für theologische Gespräche hervorragende Eigenschaft, zur Identifikation mit dem Bild anzuregen und zu überlegen, worin diese Übereinstimmung bestehen könnte (Warum gefällt mir dieses Bild? Welche Sichtweisen eröffnet es mir?). Zugleich bieten die künstlerischen Lösungsversuche die Möglichkeit, über sie nachzudenken und sie zu eigenen Antworten in Beziehung zu setzen. (Überzeugt mich das Bild? Worin stimmt es mit meinen Vorstellungen überein, worin nicht? Verändert es meine Perspektive?).12 Die Konfrontation mit den gemalten Gottesbildern von Nolde und Meister Francke führte bei Lia und Leo zur Bewusstmachung eigener Bilder von Gott und zur Notwendigkeit, diese zu reflektieren und letztlich im theologischen Gespräch zu begründen und damit zu verteidigen. So regte das Bild »Die Geburt Christi« Lia dazu an, über den Ursprung Christi in Gott nachzudenken und zu erklären, wie die Beziehung Gott – Jesus zu denken ist. Leo steht in seiner Beschäftigung mit dem Nolde-Bild kurz davor, es explizit als Theodizee-Bild zu entdecken: Immer wieder betont er, dass Gott auf die Menschen aufpasst, sie beschützt, für sie sorgt und zugleich sieht er im großen Gärtner einen traurigen Gott, der das vielleicht nicht kann, »die Welt beschützen«. Das Theologisieren mit Kunstbildern bietet damit religionspädagogisch einzigartige Chancen. Indem sie als ästhetische Ereignisse wahrgenommen werden, kreieren sie eigene, neue Bilder, rufen Zustimmung oder Ablehnung hervor, zie-
hen in die Auseinandersetzung mit dem Bild hinein. Durch Perspektivübernahme (Was will der Maler zum Ausdruck bringen, was erzählt das Bild?) wird ein Verstehen des Bildes ermöglicht und die Gefahr gemindert, es als Projektionsfläche oder ausschließlichen »Aufhänger« für eigene Assoziationen misszuverstehen. Beide Aspekte der Bildrezeption, der der emotionalen Begegnung mit einem Bild ebenso wie der der kognitiven Erschließung, ermöglichen in ihrer Ergänzung einen kompetenten Umgang mit Bildern und das Herausbilden und die Weiterentwicklung theologischer Konzepte. Auf der Basis entsprechender didaktischer Reflexionen lassen sich Kunstbilder für theologische Gespräche auswählen, die aufgrund ihres Bildgegenstands geeignet sind, eine Theologie für Kinder zu repräsentieren. Der von ihnen ausgehende starke Aufforderungscharakter ermöglicht damit, dass Kinder an ihnen ihre Theologie zur Sprache bringen und entfalten. Bilder qualifizieren sich dadurch als ein nahezu ideales Medium für das Theologisieren, dessen Methode aber letztlich das Gespräch bleibt. Verschiedene Zugänge zu Bildern, die beispielsweise in der zunächst ausschnitthaften Präsentation des Motivs, dessen Antizipation durch andere Materialien oder der Nachgestaltung durch Rollenspiele oder Standbilder liegen können, 12 Damit ist auch die Gefahr gebannt, auf die Mirjam Zimmermann in ihrem Grundsatzbeitrag (S. 26f) aufmerksam macht. In der von ihr angesprochenen Himmelfahrtsdarstellung geht es eben nicht um die so vorzustellende und Kindern zu vermittelnde Himmelfahrt Christi, sondern um die Vorstellung eines einzelnen Malers und seine Darstellung dieser theologischen Aussage.
Kalloch Theologisieren mit Kunstbildern
müssen zur Reflexion führen, die schließlich nur in verbalisierter Form stattfinden kann, um sich mitzuteilen. 8. Theologisieren mit Kunstbildern und Religionsunterricht
Die Auseinandersetzung Lias und Leos mit den beiden Bildern dauerte jeweils über eine halbe Stunde. Zu beobachten war ein intensiver, weil »ungestörter« Dialog mit dem Bild. Beide Kinder nahmen sich sehr viel Zeit, um Details in dem Bild zu entdecken und zu überlegen, teilweise entstanden lange Denkpausen. Selbst nach Beendigung des Gesprächs und nach der großen Pause kam Leo noch einmal, um »unbedingt zu sagen, was ihm noch eingefallen war«. Die Konstruktionen der Kinder im Gespräch lagen auf einem sehr hohen Niveau, sie stellten Verknüpfungen zu anderen Themen und Inhalten her und wagten Spekulationen. Beide sagten, sie hätten sich gern noch länger Gedanken über die Bilder gemacht und über sie gesprochen. Deutlich zeigt sich hier die Ausnahmesituation gegenüber regulärem Religionsunterricht, die sich für die beiden sehr interessierten und sprachgewandten Viertklässler ergab, und so drängt sich die Frage auf, wie deren Theologisieren im Klassenverband verlaufen wäre. Hätten sie genügend Zeit und Ruhe gehabt, ihre Vorstellungen zu formulieren? Hätten sie die gesamte Klasse beim Theo-
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logisieren »mitnehmen können«? Wären die anderen überfordert oder gelangweilt gewesen? Der Effekt, sich im gemeinsamen theologischen Gespräch Impulse zu geben und damit voranzubringen, hätte sich in einer Gruppe in Klassenstärke sicher nicht erzielen lassen. Wer jemals unterrichtet hat, weiß zudem, dass Gesprächsphasen immer wieder von anderen Unterrichtsformen abgelöst werden müssen, um die Konzentration von GrundschülerInnen nicht überzustrapazieren und ihnen die Gelegenheit zu geben, sich selbsttätig und unter Einbeziehung ganzheitlicher Lernformen mit dem Gegenstand auseinanderzusetzen. Wird vor diesem Hintergrund nicht eher auf übliche Methoden der Bilderschließung zurückgegriffen werden müssen? Vor allem auch, um im Sinne des Kerncurriculums zu Ziel- und Kompetenzformulierungen zu kommen, die auf die gesamte Lerngruppe zugeschnitten sind. Bleibt das Theologisieren mit Kunstbildern dann eher eine Differenzierungsmaßnahme für Kinder, die im Klassenunterricht unterfordert sind und denen auf diese Weise Zeit und Raum gegeben wird, Gedanken und Vorstellungen zu formulieren und in ihrer Theologie voranzukommen? Die Frage, inwieweit sich Theologisieren mit Kunstbildern im Religionsunterricht realisieren lässt, erscheint vor diesem Hintergrund noch unbeantwortet. Sie bleibt zukünftiges Thema und Desiderat kindertheologischer Forschung.
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Pädagogische Anregungen
Martin Schreiner Theologisieren mit Kindern am Beispiel eines Kurzfilms
Als Kurzfilm wird ein Film bezeichnet, der im Allgemeinen zwischen einer Minute und dreißig Minuten dauert. Neben dieser letztlich formalen Definition lassen sich mit Steffen Marklein allerdings durchaus einige Charakteristika dieses inzwischen als eigenes Genre anerkannten Films benennen: »Kurzfilme konzentrieren sich in der Regel auf eine zentrale Idee. Sie bleiben konsequent in ihrer eindeutigen Ausrichtung auf einen bestimmten Grundcharakter. Ein Kurzfilm ist meistens ausschließlich poetisch, komisch, tragisch usw. Diese Reduktion ist zugleich seine Stärke. (…) Im Gegensatz zur narrativen Struktur des Langfilms, der Szenen und Charaktere behutsam entwickeln und aufbauen kann, wird im Kurzfilm oftmals nur etwas angedeutet oder sehr kurz darauf hingewiesen. Damit wird der ungeübte Zuschauende, der einen Kurzfilm beim ersten Sehen oftmals gar nicht wirklich verstehen kann, zur beabsichtigten ›Eigeninterpretation‹ weiter angetrieben. (…) Damit verbunden ist die Beobachtung, dass am Ende eines Kurzfilms weniger eine übergreifende Erzählung das Gefühl des Zuschauenden bestimmt, als vielmehr das Gefühl für das Thema, das der Film in seiner ästhetischen Ausdrucksweise vermittelt. Die Inhalte und ästhetischen Ausdrucksformen des Kurzfilms stehen heute dem klassischen Spielfilm in nichts nach. Es ist kaum möglich, die Vielfalt
der verschiedenen eigenständigen Gattungen des Kurzfilms zu überblicken. Grundlegend bleibt weiterhin die Unterscheidung von Kurzspielfilm, Animationskurzfilm und Dokumentarkurzfilm.«1 Für die nachfolgende Untersuchung wurde der Film »MISTER TAO« ausgewählt. Als Alternativen wurden im Vorfeld »Da unten« (2007), ein dreiminütiger Realspielfilm zum Thema »Sterben« und »Trauer«, sowie »Dangle« (2003), ein sechsminütiger Realspielfilm über die Hybris des Menschen »Gott zu spielen«, diskutiert.2 Inhalt des Animationskurzfilms »MISTER TAO«
Der Film »MISTER TAO« ist ein dreiminütiger farbiger Animationsfilm, den der italienische Regisseur Bruno Bozzetto (geb. 1938) im Jahre 1989 schuf und der 1990 bei der Berlinale mit einem Goldenen Bären für den besten Kurzfilm ausgezeichnet wurde. Der Film handelt von einem kleinen Männchen, das mit Hut und Rucksack einen pyramidenartigen Berg hinauf wandert, während Musik zu 1 Steffen Marklein, Der Kurzfilm – zu seiner Geschichte und Charakteristik, in: Ders. (Hg.), Kurz und Gut. Kurzfilme für den RU, RPI Loccum, Rehburg-Loccum 2012, 9–11, hier 10ff. 2 Vgl. www.medienzentralen.de.
Schreiner Theologisieren mit Kindern am Beispiel eines Kurzfilms
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hören ist. Es begegnet einem Vogel, den er fröhlich, den Hut ziehend, begrüßt.
Dann setzt es seinen Weg weiter fort. Nur das Zwitschern des Vogels ist zu hören. Nachdem Mister Tao ein Stück gegangen ist, sind Schüsse zu hören, die womöglich dem Vogel gegolten haben. Das Männchen hält kurz inne, geht dann aber weiter. Auf dem Berggipfel angekommen, macht es Rast, setzt sich auf seinen Rucksack, isst genussvoll einen Apfel und spielt anschließend ein heiteres Lied auf seiner Mundharmonika, die er allerdings danach achtlos wegwirft. Der Berg wird nochmals in Gänze aus der Ferne gezeigt, wo sich nun auf der Spitze das Männchen befindet. Anschließend steht das Männchen wieder auf, schultert seinen Rucksack und setzt − ohne einen festen Untergrund unter den Füßen zu haben – überraschend seinen Weg in Richtung nach oben in den Himmel fort. Dort trifft es auf einen älteren Mann mit langem blauem Gewand und Bart, der auf einer Wolke steht und ihn zu sphärischen Klängen mit offenen Armen empfängt. Das Männchen zieht wieder freundlich den Hut und es beginnt eine kurze angeregte Unterhaltung zwischen den beiden in einer unverständlichen Sprache.
Nach dem ihn irgendwie unbefriedigt lassenden Gespräch hebt das Männchen wieder den Hut und geht weiter, über den älteren Mann hinweg. Der Mann auf der Wolke fällt erstaunt auf die Knie und schaut dem kleinen Männchen verdutzt nach.
Dieses setzt unbeirrt ohne Bodenhaftung seinen Weg nach oben fort und verschwindet hinaus ins blaue Weltall.3
3 Bruno Bozzetto schreibt zu seinem Film: »The peak of a mountain is generally just a destination and the end of a trip. For tiny peaceful Mister Tao, on the other hand it simply stands for a temporary stopover before he continues his research which may never come to an end.« (www.bozzetto.com/shorts.html).
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Pädagogische Anregungen
Methodisches Design
Der Kurzfilm wird als Impuls eingesetzt, um nach dessen Betrachtung eigene Gedanken und Auffassungen der Kinder zu religiösen Grundfragen zu initiieren und aufzuzeichnen. Die Erhebung der Daten erfolgte an zwei regulären Schulvormittagen in insgesamt vier Kleingruppen von jeweils fünf Schüler/innen aus einer ersten, zweiten und dritten Klasse im Bibliotheksraum einer stadtnahen kleinen Grundschule; die Kleingruppe aus der vierten Klasse bestand aus sechs Personen. Die Schüler/innen wurden im Vorfeld von der Schulleiterin unter Beachtung einer Mischung nach Geschlecht, Leistungsniveau und religiöser Sozialisation ausgewählt und für die Untersuchung vom Unterricht freigestellt. An der Grundschule wird ein zweistündiger konfessionell-kooperativer Religionsunterricht erteilt. Halbjährlich finden für alle Kinder gemeinsame Schulgottesdienste statt. Die Aufzeichnung der Gespräche erfolgte mit einem Camcorder, der im Hintergrund auf einem Stativ befestigt war. Zu Beginn setzten sich die Schüler/innen in einen Halbkreis, wurden vom Forscher begrüßt und über das Vorhaben informiert. Als erstes wurde dann der Kurzfilm »MISTER TAO« als Impuls für das folgende Gespräch einmal gezeigt. Dabei wurde darauf geachtet, dass der Filmtitel noch nicht gezeigt und somit bekannt wird. Nach der Betrachtung des Films setzten sich die Schüler/innen mit dem Forscher in einen Kreis und erhielten die Aufforderung, untereinander frei über das Gesehene zu sprechen. Erst wenn sie keine eigenen Redebeiträge mehr hätten, würde der Forscher weitere Gesprächsimpul-
se geben. Am Ende des Filmgesprächs erfolgte eine erneute Filmvorführung und daran anschließend eine zweite Gesprächsrunde. Die beiden vorbereiteten Impulse des Forschers lauteten »Worüber würdest du dich mit der Gestalt auf der Wolke unterhalten?« und »Wenn du dem Film einen Titel geben solltest, welchen würdest du vorschlagen?«. Mit einem ausdrücklichen Dank des Forschers für die intensiven Redebeiträge und Beobachtungen der Schüler/innen endete die jeweilige Datenerhebung. Die Datenerhebung erfolgte durch eine Gruppendiskussion der Kinder, die eine bewährte Methode der Kindheitsforschung darstellt und sich insbesondere für die Erfassung von interaktivem Verhalten und subjektiven Ansichten von Kindern eignet. Individuelle Erfahrungen und Meinungen der Kinder zu einem bestimmten Thema können so erörtert und Informationen hierüber gewonnen werden. Ein nicht der Gruppe angehörender Moderator lenkt die Gruppendiskussion, während der sich die Kinder gegenseitig zu Beiträgen anregen und Anknüpfungspunkte liefern sollen, sodass ihre Interaktion das Geschehen bestimmt.4 Bei der Datenauswertung wurde die Qualitative Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring genutzt und die induktive Kategorienbildung angewandt. Als Basistext wird das Transkript der jeweiligen Aufnahme genutzt. Im Zentrum der Datenauswertung steht die Entwicklung 4 Vgl. Friederike Heinzel, Kinder in Gruppendiskussionen und Kreisgesprächen, in: Dies. (Hg.), Methoden der Kindheitsforschung. Ein Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive, Weinheim / München 2000, 117–130.
Schreiner Theologisieren mit Kindern am Beispiel eines Kurzfilms
des Kategoriensystems aus dem Material, ohne dass Theorien mit einbezogen werden und Vorannahmen Einfluss nehmen können.5 So gelingt es am besten, zu Ergebnissen über religiöse Konzepte von Kindern zu gelangen, die durch das Theologisieren über den Film »MISTER TAO« zum Ausdruck gebracht werden. Anhand des Materials werden Kategorien entwickelt, nach denen die Kinderäußerungen analysiert werden. Hier muss zudem das Abstraktionsniveau bestimmt werden, das heißt, inwieweit eine Textstelle einer bereits bestehenden Kategorie zugeordnet oder eine neue gebildet wird. Ergebnisse
Zunächst ist festzuhalten, dass sich die Methode der Gruppendiskussion mit ihren vielseitigen und offenen Möglichkeiten in allen Kleingruppen außerordentlich bewährt hat. In keiner Gruppe traten die in der Fachliteratur skizzierten Schwierigkeiten »fehlende Diskussionskultur von Kindern, ihre eingeschränkten Verbalisierungsfähigkeiten, Hemmungen durch die Gruppensituation und deren öffentliche Atmosphäre sowie Schwierigkeiten bei Interaktionen zwischen Mädchen und Jungen«6 auf. Die Gruppendiskussion dauerte mit den Erstklässler/innen insgesamt 27 Minuten, mit den Zweitklässler/innen 35 Minuten, mit den Drittklässler/innen 42 Minuten und mit den Viertklässler/innen sogar 52 Minuten. In der vierten Klasse erfolgte erst nach 25 Minuten eine erste Einschaltung des Moderators. Im Rahmen dieses Beitrags können nur wenige exemplarische Gesprächsaus-
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züge und Kinderäußerungen aufgeführt werden. Sie sollen insbesondere ermutigen, eigene Erfahrungen beim Theologisieren mit und zwischen Kindern anhand dieses oder eines anderen Kurzfilm zu machen. 1. Klasse
Für die Schüler/innen der ersten Klasse ist es von Anfang an klar, dass das Männchen »zum lieben Gott« gegangen ist. Das Gespräch beginnt nach dem Impuls »Was habt ihr gesehen und gehört?« wie folgt: J (m): Also der ist da so hochgegangen und dann haben die da so, dann hat der da so Pause kurz gemacht, hat einmal an sein Brot angebissen, dann is’ er wieder weitergegangen, hat da vorher noch n bisschen – B (w): Und Mundharmonika gespielt J (m): Und Mundharmonika gespielt, dann is’ er weitergegangen zum lieben Gott und der hat dann mit dem geredet und dann ist er weitergegangen (lacht) T (m): Und dann hat der den lieben Gott angesprochen und dann hat der liebe Gott sich immer so gebückt, der liebe Gott hatte Angst, dass der auf den drauftretet. N (m): Und der ist dann sozusagen in’ Himmel gegangen. B (w): Und mh als er bei dem Gott da war, da is’ er dann weiter hochgegangen.
Auf die Frage »Wie kommt ihr denn darauf, dass das der liebe Gott ist?« erklärt T (m): »Weil der liebe Gott ist ja auch im Himmel! … Deswegen weiß man das.« 5 Vgl. Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim / Basel 112010. 6 Heinzel (wie Anm. 4), 121.
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Da daraufhin keine weiteren Äußerungen von den Kindern kommen, fragt der Moderator: I: Über was könnten die sich denn unterhalten haben? J (m): Vielleicht über den lieben Gott, was der so macht und was er vielleicht schon alles, wie er die Welt gemacht hat. I: Mhm. Was noch? N (m): Vielleicht hat er gesagt, wie es ganz früher war. Könnte auch sein. J (m): Genau. I: Was würdet ihr denn vielleicht, wenn das denn wirklich auf der Wolke Gott war, ihn fragen? Was würdet ihr ihn denn fragen? Wir gucken mal. Wir sagen: Wenn das Gott gewesen wäre, dann, was würdet ihr ihn fragen? N (m): Wie er die Welt erschaffen hat. J (m): Und wie er uns erschaffen hat, uns Menschen. T (m): Und wie er die Stadt erschaffen hat. J (m): Und wie er, ähm und wo er die ganzen Sachen her hatte. T (m): Und woher er n Haus gebaut hat. L (w): Und woher er die Anziehsachen gemacht hat. T (m): Oder die Boxershorts. B (w): Tiere! N (m): Aber die hat er ja nicht gemacht, die Boxershorts, so Anziehsachen und Häuser, das haben Menschen gemacht. B (w): Oder Tiere! J (m): Woher er hat ja eigentlich Star Wars erfunden. N (m): Das waren Menschen. I: Was würdet ihr denn sagen, wer hat Star Wars erfunden? N (m): ’N Mensch. Weil Star Wars, das sind Kostüme und Trickfilme. J (m): Ja und ähm so was, wo dann auch gestorben wird, aber die sterben nicht in echt, sondern das ist ja nur so’n Zeichentrickfilm.
Bevor der Film ein zweites Mal gezeigt wurde, erfolgte der Impuls, einen Film-
titel zu nennen. Die Vorschläge der Kinder lauteten unter anderem »Das kleine Männchen und der liebe Gott und der Vogel«, »Kleiner Mensch«, »Das Männchen klettert auf den Berg«, »Der liebe Gott« und »Der Zeichentrickfilm«. Das zweite Filmgespräch nach zwanzig Minuten drehte sich schwerpunktmäßig um die Frage, woher die Kinder wissen, dass die zweite Gestalt Gott sei und ob denn Gott so aussehe: I: Und ihr habt alle klar gesagt: Das ist Gott – und jetzt will ich wissen, wie kommt ihr darauf? J (m): Weil der auch so’n bisschen wie Gott aussieht. I: Woher wissen wir denn, wie Gott ausschaut? Ich dachte, wir wissen das gar nicht. N (m): Weil Gott auch so’n Heiliger ist und wir stell’n uns das halt so vor, dass der auch in so’n weißen Kittel ist und so. T (m): Ich hab n Buch von Gott und der sieht in meinem Buch genauso aus. N (m): Ja, der sieht in meinem Buch auch genauso aus. Der hat n blauen Kittel in meinem Buch an. T (m): Ja. N (m): Der hat das gleiche Gesicht. T (m): Ja und bei mir, den hab ich auch bei mir zu Hause immer geguckt im Film, da war das genauso und dann hat meine Mutter gesagt: Das ist der liebe Gott. …
Das Gespräch endet nach eher lustig klingenden Vermutungen − J (m): Aber vielleicht ja nur unten auf der Erde immer unsichtbar, wie die Engel und oben im Himmel ist er immer zu sehen, in echt. N (m): Und vielleicht ist der liebe Gott auch erst dahinten in der Ecke und hat da eben gerumpelt, weil er gestolpert ist. T (m): Jetzt geht der wieder durch die Decke gerade, der liebe Gott. (SuS
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lachen) B (w): Hallo, lieber Gott, kannst du dich mal auf die Nase fallen lassen? − mit dem Austausch der Kinder über Lektüreerinnerungen zu einem »Buch vom Christkind«. 2. Klasse
Nachdem die Kinder ausführlich den Filminhalt beschrieben haben, erfolgt der Hinweis des Moderators, dass alle glauben, der Gesprächspartner des Männchens sei Gott gewesen. Auf die Rückfrage, wie die Kinder denn darauf gekommen seien, antworteten diese wie folgt: J (m): Weil Gott ja sehr weit oben ist und deshalb denk’ ich mal, dass das Gott ist, weil das ja weit oben ist – E (w): Oder Jesus Q (m): Auf den Wolken E (w): Jesus L (w): Jesus, Gott, irgendwie so was. E (w): Jesus ähm Q (m): Ähm weil Gott ist, denk ich mir jetzt so`n bisschen weiß vor, so`n bisschen christlich, mit`m kleinen Bart und sah irgendwie so aus und Gott lebt in den, in dem Himmel und das war der Himmel, sozusagen, wenn’s nicht der Himmel war, warum war dann da ’ne Wolke, frag’ ich mich jetzt. L (w): Vielleicht weil’s klarer Himmel war und da war dann eben keine Wolke – LA (w): Also ich glaub einfach, dass das Gott oder Jesus ist und also, vor allem weil Gott ist ja auch im Himmel und deshalb könnte das ja auch sein und ja glaub’ ich einfach so. I: Aber woher wisst ihr denn wie Gott aussieht? […] Q (m): Ähm hm, durch (Pause), einfach durch die Fantasie. I: Mhm, also könnte er auch ganz anders aussehen? SuS: JA!
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E (w): Das weiß man ja nicht. Q (m): Der könnte auch weiß, schwarz LA (w): Ich glaub’ das einfach so. E (w): Nur man stellt sich ihn halt so vor. L (w): Der ist nicht schwarz und auch nicht weiß. I: Aha. Stellt man sich ihn so vor, so als alten Mann mit Bart auf ’ner Wolke? SuS: (lachen) Ja! LA (w): Auf jeden Fall n Bart Q (m): Vielleicht so ’n Bart, der vom Himmel bis, ne, vom Universum bis in die Wolk – einfach in den Himmel kommt und dann aussehen wie Wolken LA (w): N Wattebart SuS (lachen) Q (m): Und dann hat man ’ne Leiter und geht hoch: Ja ich bin hier oben! J (m): ’Ne Unsichtbare Leiter war das vielleicht E (w): Da war wahrscheinlich ’ne unsichtbare Treppe L (w): Vielleicht hat Gott die ja gemacht E (w): Vielleicht ist das Gotts Treppe, von Gott, LA (w): Aber ich frag mich, wo er hingegangen ist. SuS: Ja, ich auch.
Auf die Frage, was die Kinder denn anstelle des Männchens die Gottesgestalt fragen würden, fielen folgende Antworten: E (w): Ähm zum Beispiel: Wird’s mir noch länger gut gehen? Oder so. L (w): Würdest du auch mal nach unten kommen oder geht’s dir auf der Wolke hier gut? LA (w): Also, wie’s überhaupt, ja, im Himmel ist. J (m): Ähm, wann wir sterben, wie alt wir werden. E (w): Ja und ich weiß, was ich auch noch fragen würde: Was er so auf der Wolke macht.
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Q (m): (lacht) Ähm, ich würd ihn vielleicht fragen, warum er im Himmel wohnt und nicht auf der Erde, wenn er doch ’ne Treppe hat, auf ’nem Berg, auf der Erde, das würde ich ihn fragen. LA (w): Wie hat er auch die Treppe gemacht? Q (m): Vermutlich aus Kohlendioxyd E (w): Hat er vielleicht die Treppen schon mal benutzt? E (w): Und putzt er regelmäßig seine Wolke? (SuS lachen laut) LA (w): Vielleicht sind die Treppen ja so unsichtbar, weil er sie immer poliert. (SuS lachen) E (w): Ja so das Glas. L (w): Vielleicht sind ja die Treppen aus Glas. SuS: Ja! Q (m): Ja dann poliert er sie, wenn irgendwer da die berührt, mit’m Finger: Ah Ah!
Spannend entwickelt sich auch die Gesprächssequenz über die Szene mit dem Männchen, der der Gestalt im Himmel auf der Wolke buchstäblich auf der Nase herumtanzt: E (w): Ich glaub, der ähm, der verbeugt sich so’ne Art oder so. L (w): Der guckt dem so hinterher. E (w): Der hat sich nämlich so auf die Knie irgendwie geworfen L (w): (leise) Warum macht der sich eigentlich auf die Knie? I: Was ist das für ein Zeichen? Wie handelt dann eigentlich Gott? E (w): Dass er der, dass der jetzt irgendwie, dass er jetzt jetzt irgendwie, dass der jetzt höher ist und deswegen mehr Macht hat irgendwie. SuS: Mhm. I: So wirkt es doch, oder? L (w): Ja. SuS: Mhm, ja. I: Ja, ist das denn dann noch Gott? L (w) und E (w): Nein! E (w): Dann ist der ja Gott!
I: Aha, wieso? Q (m): Dann ist der Jesus! E (w): Weil wahrscheinlich denkt Gott auch: Das ist n Wundermensch oder so und dann verbeugt er sich und das heißt ja, dass man dem, vor dem man sich verbeugt, dass der das Sagen über einen hat. E (w): Dass der höher ist und mehr Macht und hat – I: Also dann noch einmal die Frage: Ist das denn dann Gott? SuS: Ne, Nein! L (w): Das muss Jesus oder so sein, weil Gott ist ja n bisschen besser als Jesus, also weil Jesus ist ja sein Sohn und E (w): Jesus und dann denkt der Jesus wahrscheinlich: Das ist Gott! L (w): Ja. I: Stellt ihr euch denn Jesus so vor? L (w): Ja Q (m): Hm ja, geht, aber dann hätte er gar keinen Bart gebraucht. L (w): Nö, Jesus kann doch n Bart haben. LA (w): Ja er ist ja vielleicht auch n (…) L (w): Es ist ja n Zeichentrickfilm, da kann ja alles sein. Q (m): Ein Zeichentrick ist ja eigentlich ein Fantasiefilm. L (w): Ja.
Die Kinder stellen etwas später erneut fantasievolle Vermutungen über die Gestalt im Himmel an: E (w): Das ist irgendwie so n Mensch, aber der irgendwie Macht hat. Könnte ja auch, ja irgendwie … Q (m): Zauberer? (lacht) E (w): (flüstert) Nein E (w): Aber irgendwie ähm aber auf jeden Fall muss es ein Toter sein. I: Warum? E (w): Tot, ein Toter oder wer schon immer im Himmel lebt, weil sonst wär’ er ja nicht im Himmel. Oder er ist die Treppe hochgestiegen und ist n normaler Mensch, nen Mönch oder so was.
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LA (w): Ja der sich verkleidet hat oder so. L (w): Ja, es können ja auch alte Menschen da hochgehen. Q (w): Äh aber eigentlich muss das ja n Verwandter gewesen sein oder so, weil sonst hätten die sich ja nicht begrüßt L (w): Doch, man kann Menschen trotzdem begrüßen. J (m): Ja, aber sie hätten sonst nicht geredet miteinander, nur wenn man sich kennt. Q (m): Ja. Es kann L (w): Nö man kann auch so miteinander reden. Q (m): Es kann auch n Dieb gewesen sein, der ihn nur austricksen wollte, mit ’ner billigen Glasleiter, da, der ihn dann da irgendwie – Taschendieb. L (w): Nein, das glaub’ ich ja nicht. LA (w): Ich auch nicht. E (w): Ich auch nicht.
Als Filmtitel schlagen sie vor: »Der Wanderer«, »Der Wanderer auf dem Berg«, »Der Wanderer, der Jesus sieht«, »Der Wanderer, der immer höher geht«, »Der Wanderer, der unsichtbare Treppen steigt«, »Der Wanderer auf der Wolke« und nach dem zweiten Zeigen des Films und intensiven Überlegungen, ob jetzt die Himmelsgestalt Gott oder Jesus sei, »Gott und der Wanderer«, »Der Wanderer ganz oben«, »Der Wanderer bei Gott«, »Der Wanderer, der immer höher will«, »Die unsichtbare Treppe« und »Die Begegnung«. 3. Klasse
In den beiden ersten Stimmen von E (w) und I (w) zum Gesehenen wird die Gestalt auf der Wolke als »Mann« und als »auch so’n Mensch« beschrieben, bevor dann »Gott« nach dem Votum von R (m) auch für I (w) ins Spiel kommt: R (m): Naja, ich fand noch ziemlich witzig, dass das Männchen dann oben Brot ge-
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gessen hat und dann einfach weitergegangen ist, naja nachdem es Ziehharmonika gespielt hat, dann ist es zu Gott gegangen, haben die sich, hat der so gegrüßt, die Mütze gezogen und Gott hat sich dann so gewundert, als er noch höher ging, weil höher als Gott ist ja kein Mensch und das fand ich dann auch ziemlich witzig. I (w): Ja also, ich hab also, ich hab auch mir schon gedacht, dass das Gott ist, weil er sah so’n bisschen durch n Wind aus, kann man sagen, weil der hatte so komische Haare und ähm, ja ähm das hab ich dann auch gedacht, dass das so wär.
Nachdem sich die Kinder über weitere Beobachtungen ausgetauscht haben, macht der Moderator auf die Verschiebung der Zuschreibung von »Mann« zu »Gott« aufmerksam und evoziert dadurch interessante Begründungsversuche: R (m): Ja also eigentlich soll man Gott ja ähm kein Bild geben, weil Gott ist ja im Herzen drin, nur Gott ist ja irgendwie auch unsichtbar und deswegen fand ich das so’n bisschen komisch, dass die dann Gott ’ne Gestalt gegeben haben, aber irgendwie hab’ ich mir Gott auch n bisschen vorgestellt also mh, man kann es ja nicht vermeiden. A (w): Also ich fand, dass die Gott da überhaupt gezeichnet haben, damit man sich überhaupt n Bild machen kann, wie der aussehen könnte oder so. E (w): Und ich fand auch, also ich fand auch, dass ähm er irgendwie, wie A. schon gesagt hat, sich auch Fantasie ist, ausgedacht haben, wie er aussehen könnte und äh ich finde, dass er auf dem Bild so’n bisschen aussah wie Jesus, weil er hatte ja auch lange Haare so’n bisschen und darum kann das schon stimmen n bisschen, weil der kann ja gleich aussehen, wie der so’n bisschen. M (m): Ok ähm, ich fand auch ähm die, das ähm ich hätte mir Gott auch so vorgestellt
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und ähm weil Gott ist auch das einzige außer Jesus auch der einzige, der im Himmel ist sozusagen auf ’ner Wolke. I (w): (dreht sich zu M. und flüstert) Und Tote! M (m): Was? I (w): (sagt im leisen Ton) Tote sind da auch. M (m): Ja äh, ähm die wohn’ doch da bestimmt nicht auf irgend so’ner Wolke, oder? A (w): Oder es könnt’ ja auch sein, dass der Bergwanderer irgendeine Gestalt darstellen soll, die dann da zu Gott hochgeht, ja und ihn besuchen will oder so und dann geht die eben weiter und sucht sich `ne Wolke, ja. M (m): Also nach ’nem Besuch sah das ehrlich gesagt nicht aus, weil das ist ja gleich weitergegangen.
Sieben Stimmen weiter stellt A (w) eine überraschende theologische Sichtweise vor: A (w): Also ich könnte jetzt, hätte jetzt gedacht, dass der Mensch da, wie ihr schon gesagt habt, dass das Gott ist, dass das Jesus ist und dass der dann mit dem Rucksack zu ihm hochwandert und dass er das sein letztes Abendmahl könnte das sein, das letzte Brot und dass er noch so was singt und dass er dann zu Gott dann hochgeht und dann in den Himmel geht. Das hätte ich jetzt so gedacht.
Nach zahlreichen Erwägungen, ob die Gestalten Jesus und Gott sind, kommt es zu folgender spannenden Sequenz: E (w): Ja das ist wahrscheinlich Gott, es kann sogar gut sein, dass er Gott gemeint hat, wenn er malt ähm, das gezeichnet hat den Film eben, dass er, das könnte Gott sein, weil ja Gott ist, ja es gibt keinen anderen, also ich noch nie gehört oder, das ist bestimmt Gott also oben in den Wolken, der wohnt ja anscheinend
I (w): Ja es kann auch sein, das ist ja meistens nur so’ne Vermutung, dass der oben lebt, es kann auch sein, also das glaub’ ich nicht, aber das kann sein, dass da auch irgendwo anders lebt, in den Bäumen oder so. M (m): Also ich ähm, kann mir auch irgendwie nicht vorstellen, dass das Gott und das Jesus is’, weil der is ja einfach nur da hoch gewandert und sagt »Hallo Gott« und das sagt man ja eigentlich nicht, wenn man Gott sieht, dann betet man ja und was weiß ich, der läuft da nur hoch dappdadapp »Hallo Gott« und läuft weiter, also ich kann mir ganz schlecht vorstellen, dass das Gott ist. R (m): Ja aber das hat’er bestimmt nicht bedacht, aber dass das Jesus ist, der da hochgeht, das hab ich auch nicht gedacht und A. hatte dabei auch glaub ich eher Jesus gemeint, als sie das gesagt hat. A (w): Ja ich meinte ja Jesus, der geht da den Berg hoch, aber ihr habt ja jetzt gesagt, dass er da weitergeht und dann kann ich mir das jetzt auch nicht mehr so ganz vorstellen, weil Gott ist ja der Vater von Jesus und dann würde Gott – Jesus ja da bleiben bei Papa und nicht dann einfach weiterwandern. I (w): Vielleicht wohnt Gott ja auch da wo sein Sohn – zusammen wohnt. E (w): Vielleicht sind das so mehrere Etagen, die erste Etage ist n Berg, den können alle besteigen, die zweite Etage kann die Wolke sein und dritte Etage die haben wir noch nicht geseh’n, das kann gut sein.
Auf die Frage, worüber sich die Kinder mit der Gottesgestalt unterhalten würden, formulieren sie folgende Aussagen: I (w): Ich würde sagen ähm sind Sie wirklich Gott? Ähm, was machen Sie so? Und so’n bisschen so interview’n oder so. A (w): Wenn ich da hochgehen würde, würde ich ja nicht ahnen, dass das Gott ist oder
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so und dann ja, würde ich den erstmal fragen: Wie heißt du? Und so und wenn der dann sagt, dass er Gott ist, dann sagen: Oh Gott, – R (m): Oh Gott! A (w): Das wusste ich gar nicht, dann würde ich sagen: Das tut mir leid, dass ich Sie nicht erkannt hab und so, ja und M (m): Würdest du Gott siezen? R (m) (lacht laut) A (w): Und Gott ähm, ja dann würd’ ich sagen: Das tut mir leid, dass ich Sie nicht erkannt hab’ und würde dann erstmal mich entschuldigen und dann die Hände reichen und mich dann nett mit ihm unterhalten, also so I: Worüber? A (w): Ich würd’ mich dann darüber unterhalten, wie es ihm so oben geht, was er dann hier oben macht oder so und so, ob’s langweilig hier oben ist, ob er Freunde hat, ob ihn jemand ärgert, er jemand’ mag oder ob ich ihn duzen darf, vielleicht – M (m): Also A., ähm also das kann wirklich sein, ähm, das der nicht »Hallo Gott« sagt, sondern einfach hochgeht und das gar nicht weiß, dass das Gott ist, das könnte auch gut sein.
Mitten hinein in diverse weitere Vermutungen und Aussagen markiert I (w) eine sehr tolerante Position: I (w): Also ich würde sagen, jeder hat eben seine Fantasie und der kann da ja jeder sagen was er denkt, dass zum Beispiel A. jetzt denkt, dass das Gott ist und irgendwer anderes nicht und dass E. denkt, dass das Jesus ist und n anderer nicht, weil das ja eim jeden Fantasie ist.
Beim Nachdenken über die Szene im Himmel, bei der das Männchen der Gestalt auf der Wolke über die Nase hinweg läuft, ergibt sich nach 35 Minuten folgender Gesprächsablauf:
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A (w): Ja also ab da könnte ich mir dann jetzt nicht mehr richtig vorstellen, dass das Gott ist, weil ich, wenn ich Gott wäre, würde ich nicht auf die Knie fallen und dann so dem hinterhersehen, so äh dumm gucken und ich würd’ dann was machen ich würd’ dann nicht R (m): Naja und ich würde auch Gott fragen, ob er mir Spielzeug zaubern kann, naja I (w): Es könnte ja sein, dass das sein Opa war oder so R (m): N Opa, klar (lacht) I (w): Sein Opa der halt, ob vielleicht, weil er sah ja so alt aus und dann, weil ich glaub auch nicht mehr, das’ Gott ist, weil ähm ich würde nicht so auf die Knie fallen und sagen »Komm zurück, komm zurück« und dann so, aber vielleicht wollte der Opa ja ähm irgendwas Bestimmtes von ihm und darum hat er gesagt »Komm zurück«, also so auf die Knie gefallen sozusagen M (m): Also ich kann mir das jetzt alles irgendwie nicht mehr vorstellen, dass er auf die Knie fällt und der hat ja so’ne große Macht und da könnte er ihn ja auch einfach zurückholen und weil er da ja auf die Knie fällt und auch so macht, ne, könnte es ja auch sein, das er ihn warnen will, dass da oben irgendwas Gefährliches ist und er da irgendwie die Treppe dann aufhört und er dann runterfallen kann oder wat weiß ich, aber auf jeden Fall sah es so aus, als wenn er zurückkommen soll und da oben irgendwas Gefährliches ist. E (w): Ich glaube, dass der Wanderer, dass der schon n bisschen Kraft hat, aber der ähm Opa das weiß nur, dass er den Berg hochgehen kann und der weiß nur, dass er da in die Lüfte kann genauso wie er und ähm deswegen, das sah auch so aus, als würde er ähm das die Musik aus dem Bauch kommen M (m): Ja und ähm, jetzt hab ich das auch erst richtig verstanden, ich glaube nämlich, dass das irgend’n Mensch da oben ist, der da schon lange wohnt und der geht da einfach höher und der bewundert
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ihn und deswegen betet der- fällt auf die Knie und, weil er ihn bewundert und er glaubt, das ist irgendein Mann, der magische Kräfte hat oder so R (m): Ja ähm, ich glaube aber trotzdem noch fest daran, dass das Gott ist, weil sonst wohnt ja niemand im Himmel. A (w): Doch, die Toten, das könnte ja auch ein E (w): Nein, nein, nein, das glaub’ ich nicht, dass soll Gott sein bestimmt, das soll bestimmt Gott sein.
Als Titel schlagen die Kinder der dritten Klasse folgende Optionen vor: »Der Wanderer«, »Der Mann, der den Berg hochgeht und nicht zufrieden ist«, »Die Treppe, die für Unzufriedenheit sorgt«, »Der halbe Gott«, Die Treppe zu Gott und höher« und »Die Treppe bis zum Horizont und bei Gott vorbei«. 4. Klasse
Nach den ersten Stimmen zur Filmbeschreibung, in denen ungefähr zehn Minuten nur »dieser Mann in den Wolken«, »dieser Mann im Himmel sozusagen«, »der Mann da oben«, »diese komische Gestalt«, »der Mann auf den Wolken« und »dieser Geist da oben« auftauchen, mutmaßen die Kinder etwa weitere zehn Minuten über die Machart und Gattung des Films: »So sieht das für mich aus, als wäre das so ein Film, den man mal aus Spaß dreht«, »Ja also hat’s ein offenes Ende, da könnte man, es ist ja eigentlich der Fantasie überlassen«, »Oder es ist ein Werbevorspann, weil so kurz ist eigentlich kein Film«, »Oder dass das so ne Schöpfungsgeschichte ist, die durcheinander ist und vielleicht so ein Lernfilm ist, wo man das dann in der richtigen Reihenfolge danach so sortieren muss«, »Vielleicht ist das ja auch so ne Abenteu-
ergeschichte, wo er immer so Abenteuer erlebt«, »Vielleicht ist das so ein Kinderfilm für so Dreijährige«. Diese Sequenz mündet in die Feststellung zweier Kinder »So langweilig war der ja gar nicht, weil man da jetzt so viel drüber reden kann und so. Das hätte man ja jetzt so am Anfang gar nicht so gedacht, dass man so viel drüber zu sagen gibt!« und »Ja, also ich find den Film jetzt eigentlich ganz spannend auch so. So – vielsagend, eben, obwohl er so kurz ist.« Nach 25 Minuten löste ein erster Impuls des Moderators, der den Hinweis auf einen möglichen Inhalt der Begegnung zwischen Männchen und Mann auf der Wolke enthielt, folgende Sequenz aus: L (w): Ich hab’ ne Idee, vielleicht ist dieser Mann da oben, vielleicht ist das so einer, der sich so’n bisschen, also der sah jetzt schon so’n bisschen so verwunschen aus, so also n bisschen komisch, vielleicht der sich auch so verwandeln kann, dass es dann der Vogel auch gleichzeitig war und dass er dann schon weiß, dass der immer weiter hoch geht, weil der ist dann ja auch weggeflogen ist, der Vogel und dass das die eigentliche Gestalt ist und vielleicht ist da oben ja irgendwas ganz Schlimmes, dass er den aufhalten will, aber der lässt sich eben nicht beeindrucken und geht weiter. M (w): Ja oder der kann sich halt verwandeln, wie du gesagt hast und aber vielleicht war er auch selber mal so ein Mann wie der jetzt ist und der hat das selber mal erlebt und dann weiß er auch wie das ist und deswegen will er ihn zurückhalten und bei sich behalten – A (m): Der hat sich ja so richtig gewundert. M (w): Dass er nicht hochgehen will und wenn er dann – auch mal so war wie der und dass der dann auch immer so traurig war und so und dass die dann darüber re-
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den, dass sie beide irgendwie n bisschen traurig sind und so und vielleicht fragt der größere ihn auch, wo er hingehen will und ist dann so erstaunt, warum er da jetzt hochgehen will und so. C (w): Vielleicht denkt der dann auch: Wieso hört der denn nicht auf mich? L (w): Ja vielleicht ist das dann so, dass da irgendwie der große auch mal so ein kleiner war und das dieser kleine Mann so ein Mann ist, der hat immer ganz wenig Zeit. Das hat man auch gesehen: Essen – hamham, also runter. Mundharmonika später hat er auch keine Lust mehr – weg! Also, dass er immer weiter muss und dann dieser große Mann dem ganz ausführlich und in Ruhe erklären was da oben ist – und er dann sagt: Nö ich hab jetzt keine Zeit, ich muss weiter gehen und immer weiter muss und deshalb irgendwie was weiß ich wohin kommt, weil alle wollen ihn warnen, da kommen vielleicht noch seltsamere Gestalten, alle wollen ihn warnen, denn er hat immer keine Zeit und dann erlebt er das und entweder er rettet sich dann oder bleibt dann auch so. C (w): Oder er hat dann so’n ganz schönes Erlebnis und die anderen vielleicht nicht. J (m): Oder ähm der große Mann da ist ja auch erstaunt, als er da hochgekommen ist. A (m): Ja und ich würde sagen, dass der Film dann am Ende kam ja dieses von wem der war und so, deswegen hat mich das gewundert, ich würde sagen, dass Film eher davor noch ähm war, also vor dem Film, den wir gesehen haben, dass das vielleicht das Ende war, dass davor noch was war. L (w): Ja stimmt. M (w): Oder ähm, die Leute jetzt, ähm nochmal zu L’s Thema, also die Leute, die für L. andere Wesen sind, dass die dann vielleicht auf helfen wollen, dass er es jetzt nicht mehr so eilig hat und dass er einfach mal darüber nachdenkt, dass er, was er da jetzt macht und, dass er vielleicht n bisschen unglücklich ist und du hast ja
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gesagt, dass es so aussieht, als ob er immer schnell weitergeht und so, und dass er halt versucht ihm zu sagen, dass er, der große Mann halt den kleinen schon kennt und so, ihn schon ab und zu schon mal gesehen hat, wenn er da schon öfter hoch ist und ihm immer wieder versucht zu sagen, dass er es nicht immer so eilig haben muss, damit er mal richtig überlegt, was er da macht und so und, dass er dann vielleicht auch wieder n bisschen fröhlicher ist, wenn er sieht: Oh ich kann ja jetzt da oben auf den Berg und so, und sonst ha’m wir ja auch gesagt, dass ihm sonst alles egal ist. SuS: Hm. Joa. A (m): Ja und weil vor dem Film müsste ja auch noch was kommen, wie der Film heißt …
Folgende Titel wurden daraufhin dem Film gegeben: »Der eilige Mann«, »Der Wanderer«, »Der einsame Mann«, »Der Abenteuerlustige«, »Der Mann, der sich von nichts abbringen lässt« sowie »Der Mann, dem alles egal ist«. Noch bevor die Kleingruppe den Film ein zweites Mal anschaute, entspann sich sodann eine weitere zehnminütige Sequenz mit eigenwilligen Vorstellungen über den Filminhalt: J (m): Ja, wie so’n Engel, der einfach fragt: Hä? Was will der denn jetzt? I: Wie kann da jemand da heraufkommen? Genau, ja?! L (w): Ja, vielleicht ist das auch ein Reich, wo jetzt vielleicht auch Verstorbenen hin sind, und dass das vielleicht n Wächter war, … M (w): Das da ein Lebender hinkommt L (w): Ja, da kommt jetzt ein Lebender hin, vielleicht ist das auch so ’ne Treppe gewesen, wo die dann immer hochkommen können, also die Verstorbenen und dass der jetzt so stutzt: Wie kommt der hier
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hoch? Weil der auch so’n, und will den auch vertreiben oder will ihm das dann erklären, dass er hier nicht hochgehn muss. A (m): Oder dass er vielleicht ganz einsam ist und hinkommen, und dass alle die einsam sind und traurig sind, die können eben diese Treppe hochgehen. Und dann ha’m die eben besprochen, dass dieser Typ da, der mit langen Haaren, dass der dann sagt: Du bist dem Reich aufgenommen oder so und dann geht er eben weiter sozusagen in sein Zimmer oder so. M (w): Und wenn’s jetzt die Toten wären, dann so wie L. das gesagt hat, der da hochgeht, dann wenn sie so miteinander reden, dass der ihm dann sagen will, dass er den Himmel nicht hochgehen soll, weil manche denken ja auch, dass tote Leute dann irgendwie Geister werden und die dann was Böses sind und vielleicht denkt der große Mann das ja auch und dann, der kleine Mann ist dann auch so’n bisschen, wenn er was will, dann macht der’s auch und lässt sich auch nicht abhalten. L (w): Eigensinnig! M (w): Ja genau, eigensinnig und dann geht er einfach weiter und ihm ist das völlig, völlig egal, was der jetzt sagt, also ich würde ja auch dann n bisschen drüber nachdenken, was der, wenn du mir jetzt sagst: M. geh mal lieber nicht dahin, da kann’s gefährlich sein, dann würde ich nicht sagen: Die lügt ja sowieso, dann geh’ jetzt einfach mal weiter – dann würd auch mal darüber nachdenken, was du damit gemeint hast, was du damit meinst und so. L (w): Vielleicht hat der ja so’n eigenen, so’n ganz starken eigenen Willen, dass er irgendwie, irgendwo vielleicht n schreckliches Erlebnis hatte und dass, weil ihm da irgendwer was gesagt hat Geh nicht weiter und dann war da aber n Vergnügungspark zum Beispiel und dass er nicht mehr auf den hört und sagt, vielleicht hat der Vogel ihm ja auch irgendwie irgendwas gesagt und der sagt: Nö, der lügt mich ja auch nur an. Ich geh da jetzt weiter.
A (m): Aber, wenn man da diesen Berg sieht, fragt man sich: Was is’n da jetzt los? – Also: Was kann da jetzt passieren? J (m): Ja, der Berg ist irgendwie auch so komisch, weil oben is’ ja rund, aber kein Berg geht ja nur so hoch. A (m): Ja, der ist ja auch viel zu steil zum Klettern. C (w): Ja oder da oben sind die Toten und der will dem sagen: Geh nicht da hoch, die wollen ihre Ruhe haben!, oder so, aber, und der will ihm nur was Gutes. M (w): Und wenn der Vogel jetzt, du hast, ich glaub du hast das gesagt, dass der Vogel ihm was sagen will und, also man hat ja jetzt nicht gehört, dass der Vogel so geredet hat, wie der Mann, aber es kann sein, dass der Vogel denkt ja, der Mann ist ja normal und wenn ich da jetzt so langfliege und wenn das dahinten, dieses Laute da, der Vogel war, dass er dann denkt: Ja der dreht sich jetzt um und hoffentlich geht er zurück und so, dass der Vogel auch schon anfängt zu sagen: Geh da lieber nicht hoch und so und der Vogel kennt ihn auch n bisschen und denkt: Der geht bestimmt weiter und dann will ich jetzt mal versuchen, dass er da nicht hochgeht. L (w): Ja und vielleicht ist das dann, also der Vogel, der denkt ja, dass ist n ganz normaler und der kann sich dann eben doch verwandeln und dann wundert er sich so sehr, dass der dann doch hochgegangen ist, also nicht, dass er ’ne andere Gestalt ist und so: Was macht der denn da?, sondern dass er eben der gleiche ist und dann irgendwie: Was ähm, wie, ich hab’ mich doch jetzt so angestrengt, was, warum kommt der jetzt so? Weil ich weiß … M (w): Ja und dann weiß er halt, dass das so’n eigenwilliger Mann ist und dass man mit dem vorsichtig sein muss und dass man da auch schnell, dass der nicht auf einen hört und dann hat er’s nochmal probiert, ihm was zu sagen und das ist dann die Stelle, wo er mit ihm redet, wo er dann halt sagt, also zum Beispiel sagt, dass er’s nicht
Schreiner Theologisieren mit Kindern am Beispiel eines Kurzfilms
probieren soll und der Mann, der weiß ja nicht, dass das der Vogel ist.
Auch nach dem zweiten Ansehen des Films diskutieren die Kinder lange mit neuen Ideen über den Inhalt: C (w): Ja oder ähm, dass also da wurde der Vogel erschossen und dann ist er praktisch zum Mensch geworden (dreht die Hand), da oben und daher kennen die sich schon mal aus der Begegnung. L (w): Es kann ja sein, dass der das ähm, jetzt nicht, dass der kein Neffe wär, der wollte vielleicht Eier legen und dann kommt da irgendwie, muss ja nicht, dass er erschossen ist, sondern dass er einfach so gestorben ist, weil er sich vielleicht gar nicht so erschreckt hat, weil der Mann dann – M (w): Ja weil dann jemand geschossen hat, kann ja auch sein. L (w): Ja aber vielleicht hat er ja wen ganz anderes erschossen, n Reh oder so geschossen, das ihn dann so erschreckt hat und dann eben gestorben ist und dann ist er eben zum Menschen – A (m): Zu dem Engel geworden L (w): Ja, zum Engel geworden oder so A (m): Ja. L (w): Und dann freut der sich ganz doll: Oh das ist so toll und dass du kommst, der wollte ihm irgendwas ganz Tolles zeigen und dann geht er einfach weiter. C (w): Oder der Vogel, bzw. jetzt der Mensch, der da auf der Wolke ist sagt: Da oben ist – vielleicht ist der Mensch da oben irgendwie auch tot geworden, da oben ist dieser böse Mensch, der geschossen hat – Geh da lieber nicht hoch. Denn vielleicht, erschießt der dich oder so. L (w): Ja stimmt, also dass der den warnen will M (w): Ja und er war ja auch, erst hat er ja immer so geguckt, weil er ist ja hier so lang gegangen und dann hat der sich sogar ja auf die Knie geworfen und als ob die sich schon kennen würden und: Wie kannst
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du das machen und ich dachte immer du wärst mein Freund und so und wie und warum machst du das jetzt und so? Ich hab dir doch gesagt – L (w): Du wirst sterben M (w): Ja genau: Warum machst du das, bist du jetzt wahnsinnig geworden? L (w): Aber er sah, als er hochgegangen ist, ganz glücklich aus, also als ob er – Ja, mich kann jetzt nichts mehr abhalten, ich geh da jetzt hoch, also wenn jetzt, egal was da jetzt mein alter Freund sagt, vielleicht hat der da auch schon ein paar Jahre zu lang’ gesessen, einfach jetzt so’n bisschen wirr im Kopf und ich geh da jetzt hoch. A (m): Oder der Vogel wurde vom großen Greifvogel gepackt und deswegen hat der da so gekrächzt und danach hat der große Greifvogel das Geräusch gemacht. M (w): Und wenn L., L. hat ja gesagt, dass der da jetzt einfach hoch geht und denkt: Jetzt kann mich nichts mehr abhalten. Und da jetzt, in den anderen Sachen nicht, aber jetzt nicht wenn er auf den Berg geht oder so, nur wenn er jetzt da hoch geht, dann könnte man ja fast denken, dass, wenn du das jetzt so meinst, so »Jetzt kann mich nichts mehr abhalten«, dass ja n bisschen eingebildet ist, dann, dass er dann denkt: Ja ich bin jetzt hier so weit hochgekommen und der kann mich jetzt auch nicht abhalten, weil sonst werd’ ich ja jetzt nicht so toll und dann bin ich ja schön, wenn ich da oben bin. L (w): Oder der hat irgendwie von seinen Freunden, also die unten, als wäre das jetzt so’n Wettbewerb, dass man irgendwie zum Mond gehen soll zu Fuß und dass da der andere Mann, der hat das irgendwie nicht geschafft, weil er da’n Luftloch, also diese Treppe nicht gesehen hat und da irgendwie so’ne Stufe fehlt und dann ist er da runtergefallen ist und ist dann gestorben, nach der Wolke eben, und deswegen will er den abhalten, also und der denkt: Ne, ich bin jetzt schon ganz nah am Mond und ich muss das jetzt einfach
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schaffen. Ich darf jetzt nicht wieder zurück, weil ich diesen Preis gewinnen will. M (w): Ja und ähm wenn man das jetzt nicht so sieht, wie du es gesagt hast, ich lauf’ da jetzt hoch, weil ich den Preis gewinnen will, weil wir sagen, wie wir es ganz am Anfang gesagt haben, wenn es was mit der Schöpfung zu tun hat, dann könnte es ja auch sein, dass jetzt der andere Mann, der es nicht geschafft hat, wie du gesagt hast, dass der auch einfach nicht daran geglaubt hat, dass es dem halt nur um den Preis geht und der hat gesagt: Ich weiß zwar, dass es nicht geht, hier rauf zu steigen und so aber ich mach’ es jetzt einfach, auch wenn ich danach sterbe, dass der gar nicht darüber nachgedacht hat, warum er das jetzt macht und so, dass es ihm einfach nur darum ging, dass er gewinnt und der andere Mann, der ging da ja so lang und so, ist ja ganz normal und dass der dann einfach auch gedacht hat: Es wird schon nicht so schwierig sein da jetzt hochzugehen! Und dass der nicht die ganze Zeit daran gedacht hat: Oa, ich will jetzt diesen tollen Preis gewinnen und dann kenn’ mich alle Leute und so. L (w): Und dass er dann, dieser andere, also der alte (…) Freund, dass er ihn doch nicht warnen will, sondern dass er dann ganz wütend ist, also: Ich bin jetzt tot, also ich leb’ jetzt nicht mehr auf der Erde und deswegen kriegt jetzt nicht mein alter Freund diesen Preis, nö, du gehst jetzt schön wieder runter. (…) A (m): Ja naja, aber ich würde sagen, dass ist gar kein Mann, sondern vielleicht ir-
gendwie so’n Vogel oder so was. Oder so’n Gehvogel oder so was, weil der sah nicht so richtig wie ein Mann aus.
Fazit
Zunächst belegen die Gesprächsausschnitte eindrücklich, dass sich alle Kinder auf ein Gespräch über den gezeigten Kurzfilm eingelassen und phantasiereich über ihre Beobachtungen, Empfindungen und Vermutungen Auskunft gegeben haben. Der Kurzfilm erwies sich als geeignetes Medium insbesondere auch für das Theologisieren zwischen den Kindern! Diese Erkenntnis könnte die bisherige Unterscheidung von Kindertheologie in Theologie der Kinder, Theologie mit Kindern und Theologie für Kinder erweitern. Sodann wäre es nun im Rahmen einer ausführlichen Analyse der Gesprächs protokolle erforderlich, auf die Argumentations- und Deutungsmuster der Kinder im Einzelnen einzugehen. An dieser Stelle sei abschließend nur auf das Phänomen hingewiesen, dass für die Viertklässler/innen im Unterschied zu den jüngeren Klassen die Gestalt auf der Wolke keineswegs als »der liebe Gott« identifiziert worden ist – eine erfolgreiche Ernte guten Religionsunterrichts!?
Haas Das kreative Schreiben und sein Beitrag zum Theologisieren der Kinder
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Gabriele Haas Das kreative Schreiben und sein Beitrag zum Theologisieren der Kinder
Aus eigener Erfahrung weiß man, dass das gesprochene Wort eine größere Wirkkraft hat als der Gedanke, das geschriebene Wort ihm aber noch einmal eine andere Dimension gibt. Das Wort ist festgehalten und kann immer wieder gelesen werden. Es ist festgemacht auf Papier und kann nicht abgestritten werden. Dem Geschriebenen geht immer eine Überlegung voraus, ein Gedanke, der im Kopf entsteht und über die Hand zu Papier gebracht wird. Beim Schreiben im freien Fluss erschließt sich uns Neues durch die Art, wie aus dem Unbewussten bzw. Vorbewussten Inhalte zu Papier kommen, oft gar nicht so beabsichtigt, und erst im Nachhinein ergibt sich die Möglichkeit, darüber nachzudenken und das Geschriebene zu deuten. In den letzten Jahren machte ich vielfach die Erfahrung, dass man Erlebtes durch den Ausdruck des Schreibens besser verarbeiten kann oder auch Ungeklärtes, das im Kopf herumspukt, ein Stück weit der Klärung zugeführt wird, wenn man es in Gedanken ordnet und zu Papier bringt. Diese eigene Erfahrung hat mich als Religionslehrerin angestoßen, auch meine Volksschulkinder zum Schreiben zu animieren. Dabei sind zu verschiedenen Themen Texte und Geschichten entstanden, unterschiedlich in der Methodik, immer individueller Ausdruck der Schüler/innen. Im Folgenden werde ich einen Teil der Ergebnisse
vorstellen, dazu jeweils auch den Kontext im Unterricht, in dem die Arbeiten entstanden sind. 1. Zur Einordnung im RU
Kreative Prozesse gehören organisch zum Lernprozess dazu. Sie sind wie ein Ausatmen, nach dem »einatmenden Tun« des Kindes beim Aufnehmen von Lerninhalten egal welcher Art (Beobachtungen / Informationen / Erzählungen / biblische Inhalte / Bildbetrachtungen / Filme / Erlebnisse u.v.m.). Im »ausatmenden Tun« kann das Kind seine gewonnenen Eindrücke aktiv verarbeiten und zur Außenwelt hin sichtbar und greifbar machen. Dies sollte im Optimalfall eine kreative Phase sein, sodass das Kind seinem inneren Schaffensdrang frei folgen kann. Denn es geht nicht allein darum, das Aufgenommene wiederzugeben, sondern es geht vielmehr um einen künstlerisch-hermeneutischen Prozess. Dieser Prozess kann äußerst inspirierend verlaufen, so dass das Kind unmittelbar neu hinzugewonnene Einsichten in konkrete Ideen umsetzen möchte (Expression, Selbstausdruck, Gestaltungs- und Schaffensfreude). Was innen angeregt ist, drängt nach außen, um wahrgenommen zu werden. Durch diesen Fluss von Aufnehmenund Verarbeiten-Können ohne Furcht
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vor Beurteilung und Versagen wird das psychomotorische Gleichgewicht des Kindes gewährleistet1. Eine Möglichkeit, dieser Schaffensfreude Ausdruck zu verleihen, ist das kreative Schreiben. Wichtig ist, dass die Anlässe beim kreativen Schreiben stimulierend sind und zu ungewöhnlichem Ausdruck motivieren. Die Schreibanlässe sollen der eigenen Sichtweise des Kindes auf seine Welt und seine eigene Wirklichkeit entgegenkommen, aber auch das Hineintauchen in andere Wirklichkeiten und neue Perspektiven herausfordern2. So können die Kinder sich mit ihren kreativen Einfällen und Vorstellungen in den Unterricht einbringen. Dabei ist der Prozess der Schreiberfahrung wichtiger als das Produkt. Wie bei jedem kreativen Unterricht müssen den Kindern eigenwillige Experimente und Irrtümer zugestanden werden. Ausgehend von einer »Theologie der Kinder« ist das kreative Schreiben geeignet, die Ausgangslage der Kinder zu einem theologischen Thema zu erheben. Die Konfrontation und Auseinandersetzung mit Geschichten, Gedichten und Bibelworten erfährt im Verfassen eigener Texte eine Intensivierung. Im Erfinden und Erzählen von Geschichten, im Erweitern von Gedichten, im Schreiben eigener Worte in der Sprache der Bibel bringen Kinder verdeckt oder offen ihre Erfahrungen ein, bearbeiten Konflikte, nehmen ihre Wirklichkeit wahr und entwerfen Möglichkeiten der Veränderung, entdecken Handlungsmöglichkeiten und Lebensperspektiven, entwickeln ein ganzheitliches Verständnis metaphorischer Sprache. Schreibend können sich Kinder als Subjekte äußern und sich so als Subjekte erfahren. Das stärkt das Ver-
trauen in die eigene Ausdrucksfähigkeit und das Selbstbewusstsein.3 In der Auseinandersetzung mit den Beiträgen der Kinder werden neue Deutungsmöglichkeiten eröffnet. Der Austausch darüber kann im Gespräch, aber durchaus auch in schriftlicher Form geschehen, indem Beiträge kommentiert oder Fragen dazu formuliert werden. 2. Beiträge zum kreativen Schreiben aus der Praxis 2.1 Schreiben nach Mustern
»Kinder brauchen Gedichte. Kinder lieben Gedichte. Sie erfahren sie mit allen Sinnen, fühlen sich wohl mit ihnen, auch oder gerade, wenn sie sie nicht so schnell verstehen.«4 Selbst ein Gedicht zu verfassen ist für die Kinder eine lustbetonte Aufgabe. Hier bewährt es sich, einen Rahmen vorzugeben, Regeln oder Muster. Dieses Schreiben ist gelenkter als assoziative Verfahren und arbeitet mit der Dialektik von Begrenzung und Spontaneität.5 Das »Elfchen« erfreut sich im Unterricht der Grundschule großer Beliebtheit. Es besteht aus elf Wörtern in der charakteristischen Anordnung untereinander: 1-2-3-4-1.
1 Vgl. Petra Freudenberger-Lötz, Spuren lesen, Lehrermaterialien für das 3./4. Schuljahr, Stuttgart 2012, 15f. 2 Ingrid Böttcher, Kreatives Schreiben, Berlin 1999a, 20. 3 Rainer Oberthür, Kinder und die großen Fragen, München 1995, 150. 4 Böttcher, Kreatives Schreiben (wie Anm 2), 57. 5 Vgl. Georg Hilger / Werner Ritter, Religionsdidaktik Grundschule, München / Stuttgart 2006, 363.
Haas Das kreative Schreiben und sein Beitrag zum Theologisieren der Kinder
Richtig verstandene Regeln begrenzen nicht, sondern regen die Kinder an, machen neugierig und lassen sie in ihren eigenen poetischen Schreibversuchen lyrische Strukturelemente und neue Schreibformen entdecken. Die Kinder können spielerisch-entdeckend mit Sprache umgehen und schreibend den Gedichten auf die Spur kommen.6 Poetischer Schreibversuch: Osterelfchen
Unsere Osterelfchen waren die ersten Versuche dieser Schreibgattung in der 4. Klasse. Sie wurden nach einem Brainstorming zum Thema an der Tafel verfasst. Hier einige Beispiele: Ostern Zusammen sein Friede auf Erden Ich bin sehr froh Schön ( Jonas, 9 J.) Kreuz Tod Jesu Er litt Schmerzen Mutter Maria weinte sehr Erlösung (Anna, 9 J.) Auferstehung
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2.2 Kreative Auseinandersetzung mit biblischen Texten
»Zentraler Bezugspunkt des Religionsunterrichts ist die Bibel und damit historisch-gesellschaftliche Gegebenheiten sowie eine Sprach- und Bildwelt, die für heutige Schüler Jahrtausende entfernt sind. Das macht den Transfer unerlässlich, um das Berichtete zu verstehen und um es für das eigene Leben fruchtbar zu machen. Ein Weg, diesen Transfer zu ermöglichen und die Botschaft der Bibel zu reflektieren, ist der der kreativen Auseinandersetzung mit biblischen Texten.«7 Es bieten sich unterschiedliche Zugänge an, die nach der jeweiligen didaktischen Intention ausgewählt und zugespitzt werden können. Für die Grundschule geeignet ist hier das Vorstellen von Personen in der Ich-Form, das Nacherzählen aus der Perspektive einer Person, Briefe oder Tagebuch schreiben, einen inneren Monolog entwickeln.8 Aus dem Tagebuch des Gelähmten
Im Zusammenhang mit einer biblischen Erzählung wählte ich in der dritten Klasse im Rahmen unseres Jesus-Projektes die Perikope von der »Heilung des Gelähmten«. Nachdem wir die Geschichte gelesen und die Besonderheiten (Öffnung im Dach) erklärt hatten, sie nochmals mit Magnetbildern wiederholt hatten, bekamen die Schüler ein Arbeitsblatt, auf dem eine Tagebuchseite abgebildet ist. Sie sollten nun die Gedanken des gerade
Neues Leben Jesus ist auferstanden Ich glaube an Gott Freude ( Julia, 9 J.)
6 Vgl. Böttcher, Kreatives Schreiben (wie Anm. 2), 57f. 7 Mirjam Zimmermann / Michael Hellwig, Wo glaubst du hin? – Kreatives Schreiben im Religionsunterricht, Göttingen 2011, 53. 8 Vgl. ebd., 53ff.
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geheilten Mannes niederschreiben. Da die Kinder gerade erst in den Anfängen des kreativen Schreibens waren, gab es auf dem Blatt einige Gedankenblasen mit möglichen Wörtern: Jesus – glücklich – dankbar – Freunde – Gott – gesund. Hier einige Beispiele der Beiträge der Kinder (8 Jahre):
Liebes Tagebuch, Jesus hat mich heute von meiner Krankheit geheilt. Ich bin meinen Freunden sehr dankbar, dass sie mich zu ihm gebracht haben. Ich bin sehr, sehr, sehr glücklich, dass ich jetzt wieder gehen kann. Und wie ich da gelegen bin, wusste ich, dass es Gottes Sohn war. (Bernhard) Liebes Tagebuch, etwas Unglaubliches ist passiert. Ein Mann mit Namen Jesus Christus hat die mich schon so viele Jahre dauernde Krankheit geheilt. Ich selber kann es noch gar nicht glauben, aber dank dieses Mannes kann ich wieder gehen, laufen, rennen und springen. (Leonardo) Liebes Tagebuch, ich bin so glücklich, dass mich Jesus geheilt hat. Ich bin so dankbar, dass ich wieder gesund bin. Meine Freunde werden staunen. Lieber Jesus, denkst du an mich? (Silvia) 2.3 Kreative Auseinandersetzung mit literarischen Texten oder / und Bildern zu religiösen Themen
Neben den biblischen Texten können auch andere literarische Texte oder Bilder Ausgangspunkt sein, einen Anstoß zu geben, sich mit einem Thema kreativ zu befassen. Besonders in der Grundschule ist hier das Bilderbuch sehr fruchtbrin-
gend, da es Bild und Wort beinhaltet und so die Fantasie der Kinder anregt. Impuls Bilderbuch: Wie war das am Anfang?9
Schüler/innen einer 4. Klasse beschäftigten sich im Rahmen des Schöpfungsthemas mit der Frage, die folgendes Bilderbuch aufwirft: Wie war das am Anfang, als Gott an mich gedacht hat? Nach dem Vorlesen des Buches wurden die Kinder gebeten, hierzu ihre Gedanken zu schreiben. Katrin: Gott wollte, dass ich ein Mensch werde. Dass ich klug werde …, und dabei viele Freundinnen und Freunde finden werde. Er wollte, dass ich gut erzogen werde. Dass ich nette Eltern und Lehrer und Lehrerinnen bekomme! Er gab mir immer Rat und half mir, wenn ich Hilfe brauchte!! Er gab mir, wenn ich meinen Mut verloren habe, wieder Mut. Er schaute, dass ich ein nettes Kind werde, dass ich Spaß habe. Dass ich hilfsbereit werde. Dass ich ehrlich bin. Er wollte, dass ich wie meine Schwester werde. Dass ich gerne: Lese, schreibe und rechne. Er gab mir ein schönes Leben. Er hat mich glücklich gemacht. Er passt auf, dass mir im Straßenverkehr nichts passiert! Er hat einfach immer ein Auge auf mich. Er schaute, dass ich nette Omas und Opas, nette Onkels und Uronkels bekomme. Er schaut immer, dass mir und meiner Familie nichts passiert z.B. bei einem Unfall oder beim Radfahren. Er schaute, dass ich ein nettes Zuhause habe und glücklich mit meiner Schwes9 Heinz Janisch / Linda Wolfsgruben, Wie war das am Anfang, Wien 2010.
Haas Das kreative Schreiben und sein Beitrag zum Theologisieren der Kinder
ter und meinem Bruder leben kann. Er dachte, dass ich groß werde. Er schaute, dass ich gute Noten bekomme. Er will einfach, dass ich mit meiner Familie glücklich bin. Dass meine Schwester oft mit mir spielt und fortfährt, mich überall hinbringt oder mit mir etwas unternimmt so wie gestern. Jakob: Er dachte sich, dass ich kein Hase werden soll. Auch kein Schmetterling und kein Vogel. Gott wollte, dass ich ein Mensch werde. Und so ist es auch geschehen. Sophie: Du willst kein Kaktus und kein Tier werden, dann wirst du ein Mensch. Menschen sind mutiger, lustiger, freundlicher und freudenlustiger als Tiere und Kaktusse. Manuel: Er dachte, dass ich anders bin als die anderen. Er gab mir das Leben. Gott wollte, dass ich Freunde habe, die mir helfen und unterstützen. Projekt: Wer ist Jesus für mich?
Der Frage nach der Person Jesu Christi wird im Lehrplan der Volksschule des katholischen Religionsunterrichts breiter Raum gewidmet. Viele biblische Jesusgeschichten werden erzählt. Die zugleich menschliche und göttliche Natur soll dabei zur Sprache gebracht werden. Wenn man jedoch Kinder fragt: Wer ist Jesus? herrscht oft betretenes Schweigen. Durch die eingehende Auseinandersetzung mit dem Thema über mehrere Wochen sollten den Kindern einer 3. Klasse viele Deutungsmöglichkeiten für Jesus angeboten werden. Zum Abschluss waren die Kinder aufgefordert, selbst Stellung zu beziehen.
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Wer ist Jesus für mich? Die Schüler schrieben ihre Gedanken in ihr Heft. Zunächst im freien Assoziieren. Dabei habe ich mit drei Parallelklassen gearbeitet und je nach Voraussetzungen in den Klassen wurden dabei Hilfen angeboten, wie z.B. folgende Satzanfänge: – Jesus ist für mich wie … – Ich mag Jesus, weil … – Ich mag Jesus nicht, weil … – Ich finde Jesus toll, weil … – Jesus ist besonders, weil … – Mich beeindruckt, dass … – Ich bewundere Jesus, weil … Die Beiträge der Schüler wurden vorgelesen, aber nur von denen, die dies ausdrücklich mochten. In einer Klasse ergab sich danach ein anregendes Gespräch, wie wir eigentlich über Jesus schreiben können. In dieser Klasse hatte ich den Satzanfang »Jesus ist für mich wie …« an die Tafel geschrieben. Viele Kinder hatten die unterschiedlichsten Vergleiche gefunden. Nach dem Vorlesen bemerkten wir, dass viele Jesus mit Dingen vergleichen, die für uns schön sind, oder mit Menschen, bei denen wir gerne sind. Stellvertretend hier die Beiträge von Leonie und Daniel: Leonie: Jesus ist für mich wie eine Blume. Jesus ist für mich wie ein Sonnenstrahl. Jesus ist für mich wie ein Kristall. Jesus ist für mich wie ein Herz. Jesus ist für mich wie ein Schatz. Jesus ist für mich wie ein Engel. Jesus ist für mich wie die Freiheit. Daniel: Jesus ist für mich wie ein Labyrinth. Jesus ist unsichtbar. Jesus ist für
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mich toll. Jesus ist für mich wie ein unendliches Wasser. Jesus ist für mich wie etwas Unendliches. Jesus ist für mich wie ein Bruder. Jesus ist ein Freund. Jesus ist etwas Unscheinbares. Jesus ist ein Leben. Jesus ist ein Wasserfall. Jesus ist für mich wie etwas Unerreichbares. Jesus ist für mich wie eine unendliche Wasserquelle. Jesus ist eine Sonne. Leonardo bemerkte, dass er keine Vergleiche verwendet hat, sondern eine Geschichte geschrieben hat. Als er vorliest, beginnen einige Kinder zu lachen. Aber als er geendet hat, macht einer spontan beide Daumen hoch! »Jesus ist für mich und alle Wissenschaftler der Welt unverständlich, man kann meiner Meinung nach auf keine wissenschaftliche Art genau erklären, wie Jesus Christus seine Taten vollbracht hat wie zum Beispiel seine Wiederauferstehung oder als (er) mit 6 Fischen und 2 Broten mindestens 1000 Personen satt bekam. Genaues Verstehen bei Jesus Christus Taten ist unmöglich und man (kann) auch gar nicht genau sagen, ob Jesus Christus existiert, doch eines ist für mich sicher, und zwar, dass Jesus Christus existierte und er existiert immer noch in unser aller Herzen.« Leonardo bemerkt, dass er den letzten Satz selbst erfunden hat, also nicht wissenschaftlich ist. Auch Nico sagt, er hätte nur drei Sätze geschrieben. Er liest vor: »Jesus ist für mich wie eine Hand, die mich tröstet. Jesus ist für mich ein guter Mensch, der mir immer hilft. Jesus ist für mich wie ein Engel.« Wir staunen über diese drei Sätze und Nico genießt das Lob der Kinder.
Andreas hat einige Fragen gestellt: »Warum kann Jesus über das Wasser gehen? Warum kann Jesus Menschen heilen? Jesus ist für mich wie mein Papa. Jesus ist für mich wie ein Herz. Ich glaube an Jesus.« Alexandra, ein Integrationskind, schrieb: »Jesus ist für mich da. Mama. Jesus ist für Menschen da. Jesus ist für andere da.« Zum Abschluss fassen wir zusammen, wie wir über Jesus reden können. Wir können ihn vergleichen oder wir können eine Geschichte schreiben wie Leonardo. Oder wir schreiben Sätze über ihn, was uns gefällt und über sein Leben. Ich kann aber auch Fragen an Jesus richten, wenn ich etwas nicht verstehe. 3. Resümee
Der Einsatz des kreativen Schreibens im Religionsunterricht hat den Vorteil, dass die Schüler/innen die Möglichkeit haben, über das Thema in Ruhe nachzudenken ohne Zeitdruck; es passiert echte persönliche Auseinandersetzung. Die Methoden des kreativen Schreibens ermöglichen außerdem, Gehörtes in Ruhe zu verarbeiten und eigene Ansichten dazu unbeeinflusst weiterzuentwickeln. Beim Gespräch geht alles schnell, oft verhindern schnelle Antworten, dass intensiv nachgedacht wird. Beim kreativen Schreiben ist das Kind aufgefordert, Stellung zu beziehen, sich zu einem Thema zu äußern. Alle Schüler/in nen arbeiten gleichzeitig, man könnte sagen, kreatives Schreiben ist Theologisieren für sich selbst. Danach wäre es schön, über die Beiträge ins gemeinsame Theologisieren zu kommen.
Haas Das kreative Schreiben und sein Beitrag zum Theologisieren der Kinder
Im Vorfeld stellte ich Überlegungen an, inwieweit die Kinder Vorgaben oder Unterstützung brauchen, um nicht vor dem leeren Blatt überfordert zu sein. Zu einem Thema ohne Vorbereitung zu schreiben hat den Vorteil, unbeeinflusste Meinungen der Schüler/innen sammeln zu können. Tatsächlich ist es aber im Grundschulalter manchmal schwierig, ohne Hilfe oder vorhergehende Beschäftigung zu einem Thema zu schreiben. Deshalb habe ich bei meinen Versuchen in den Klassen, wo das freie Schreiben noch nicht geübt war, darauf geachtet, dass die Kinder die Möglichkeit haben, völlig frei zu schreiben, andererseits ihnen beiläufig aber auch Hilfen angeboten werden. Es war mir bewusst, dass damit eine gewisse Engführung beim Schreiben passiert. Dies nahm ich in Kauf, um den Schüler/innen, die sich schwer taten, zu ersparen, dass sie am Ende noch immer vor dem leeren Blatt saßen. Wie die Ergebnisse zeigen, gab es in diesen Klassen immer auch Kinder, die völlig frei geschrieben haben. Es ist bemerkenswert, dass es eben nicht immer die guten Schüler/innen waren. Die Angst, etwas »Falsches« zu schreiben, war bei den sehr guten Schüler/innen sichtlich größer, auch im Hinblick auf die Rechtschreibung. Dass es eben kein »richtig« oder »falsch« gibt, ist auch hier ein Lernprozess, der nicht von heute auf morgen geschehen kann. Der »safe place«10 kann nur langsam wachsen, das Vertrauen, dass alle Beiträge gleichwertig sind. Hier ist das Umfeld »Schule«, wo es doch sonst immer um Leistung geht – besonders beim schriftlichen Arbeiten – nicht gerade förderlich. Als ich den Kindern sagte, die Rechtschreibung
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wäre hier nicht wichtig, nur sie müssten es dann nachher lesen können, war Erleichterung spürbar. Tatsächlich stellte sich heraus, dass manche Kinder mit einzelnen vorgegebenen Wörtern oder auch Strukturen wie dem Elfchen besser zurechtkamen, aber dennoch eine eigene kreative Arbeit entstand. Das Verfassen der Texte wurde mit viel Eifer betrieben. Manche Beiträge erfüllten mich mit Staunen, allen Arbeiten merkt man an, dass sich da ein Kind die Mühe gemacht hat, nachzudenken und seine Gedanken zu Papier zu bringen. Die Schüler/innen sahen ihre Beiträge selbst als etwas Besonderes, das von ihnen kam. Es war ihr Werk und sie freuten sich, es der Klasse vorzutragen. Die gegenseitige Wertschätzung dabei war groß, kein Kind wurde ausgelacht, was anfangs doch auch meine Befürchtung war. Einer Verbesserung bedarf es auf alle Fälle beim äußeren Rahmen. Das Sitzen in den Reihen während des Schreibens verleitet viele, beim Nachbarn Anregungen zu holen für das eigene Werk. Es wäre besser, wenn sich die Schüler/in nen zurückziehen könnten. Hier ist von mir eine Schreibecke beim offenen Lernen angedacht, wo es dann einen Impuls zum kreativen Schreiben gibt. Nicht alle Kinder schreiben gerne, für manche war es eher mühsam. Da ist es besser, das kreative Schreiben neben anderen Auswahlmöglichkeiten anzubieten.
10 Der hawaiianische Kinderphilosoph Thomas Jackson hat den Begriff des »physically, emotionally and intellectually safe place« geprägt, in: Eva Zoller-Morf, Selber denken macht schlau, Basel 2011, 35.
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Pädagogische Anregungen
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ich im Vorfeld eher skeptisch war, ob Kinder in der 3. Schulstufe selbst Texte, die ihre eigene Meinung und ihre Gedanken beinhalten, verfassen können. Ich hatte Sorge, dass sie damit überfordert sind, zumal es in unserer Schule kreatives Schreiben in anderen
Fächern nur ansatzweise gibt. Die Erfahrungen mit dem kreativen Schreiben waren aber durchwegs positiv, die Kinder waren motiviert bei der Sache und die Ergebnisse erstaunlich. Die Kinder haben in reichem Maße ihren religiösen Gefühlen und Vorstellungen Ausdruck verliehen.
Schreiner »Im wirklichen Leben gibt es keine Lösungen wie im Buch«
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Sabine Schreiner »Im wirklichen Leben gibt es keine Lösungen wie im Buch« – Ein Erfahrungsbericht mit dem Literarischen Gespräch zu Raquel J. Palacios Jugendroman »Wunder« Didaktisch-methodische Vorüberlegungen
Der Übergang von der Grundschule auf die weiterführende Schule ist für Kinder im Alter von zehn Jahren eine enorme Aufgabe: Neue Lehrerinnen und Lehrer, Mitschülerinnen und Mitschüler, neue Fächer, neue Räume und häufig ein weiter neuer Schulweg. Für jedes Kind bedeutet dieser Neustart einerseits eine Chance auf eine neue Rolle und spannende neue Erfahrungen und andererseits ebenso eine extreme Herausforderung: Gehöre ich zu den Beliebten und Angesagten oder zu denen, die am Rande stehen? Kann ich leistungsmäßig mithalten oder nicht? Mag ich die Menschen, denen ich neu begegnen werde? Als Klassenlehrerin einer fünften Klasse sucht man nach Wegen, wie aus einer zufällig zusammengewürfelten Gruppe mit dreißig Individuen eine Klassengemeinschaft entstehen kann, die eine gute Basis für eine lange Phase gemeinsamen Lernens schafft. Um aber Raum zu geben für drängende Fragen der neuen Schülerinnen und Schüler, um einen Weg ins gemeinsame Gespräch zu finden und gleichzeitig zu erkennen, wo die Kinder Sorgen haben, ohne diese explizit zum Thema zu machen, bietet sich die Methode des offenen Vorlesens eines anspruchsvollen und zur Situation passend ausgewählten Kinderbuches an.
Nicht jede oder jeder erzählt der neuen Lehrerin offen, was sie oder er auf dem Herzen hat: Im Gespräch über Fragen, die die Literatur in den Raum stellt, kann sich eine neue Klasse kennenlernen und einüben über Dinge zu sprechen, die geklärt werden müssen. Einer Deutschlehrerin liegt zudem das Gespräch über Literatur am Herzen. Ein gutes Kinder- oder Jugendbuch hält das Unterrichtsgespräch lebendig. Man liest einfach weiter, wenn alles gesagt ist und begegnet neuen Fragen. Viele Methodenwechsel erleben die Kinder während eines langen Schultags, dass sich aber eine Lehrkraft mit ihnen in den Kreis setzt, ein Buch in die Hand nimmt, vorliest und dann ruhig wartet auf Fragen und Kommentare bis sich ein Gespräch entwickelt, das fasziniert Schülerinnen und Schüler so sehr, dass sie immer wieder diese Vorlesephasen einfordern. So üben sie Schritt für Schritt das Zuhören und Hinhören auf das, was die Mitschülerinnen und Mitschüler sagen, das Rückfragen zu Gesagtem und Rückversichern von Verstehen. »Lesen wir wieder vor?«, ist eine häufige Frage, wenn die Verfügungsstunde für die Klasse ansteht. Obwohl einige Eltern das Buch ebenfalls kauften, wollen die meisten Kinder nicht »schneller« lesen als die gemeinsame Lektürestunde in der Klasse. Manchmal wird nur ein Satz gelesen, der ein langes gemeinsames Gespräch eröffnet, ein anderes Mal verfolgt man länger
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Pädagogische Anregungen
den Fortgang der Geschichte, um Zusammenhänge zu erschließen. Praktisch sieht die Methode dieses Literarischen Gesprächs an Hand von vorgelesenen Textpassagen so aus, dass die Vorlesende entweder nach einem wichtigen Satz oder Wort das Vorlesen unterbricht und aufschaut oder auch eine möglichst offene Frage stellt und dann wartet, was die Kinder zu sagen haben. Häufig melden die Kinder sich und äußern ihre Gedanken zu einem der angesprochenen Themen und Probleme. Diese Unterrichtsmethode entwickelt sich Schritt für Schritt mit den Kindern und je intensiver eine Klasse miteinander im Gespräch Erfahrungen sammelt, desto leichter wird es Gedanken auszutauschen, ethische Fragen aus verschiedenen Perspektiven auszuloten und Ordnungssysteme sowie Begründungszusammenhänge zu erkennen. Die Lehrkraft ist nicht die allein Verantwortliche. Natürlich wählt sie das Buch aus und markiert durch Pausen den literarischen Text, aber dieser assoziative Zugang erlaubt jedem Mitglied der Klasse, auch der Lehrkraft, Einfluss auf das Gespräch zu nehmen. Wer etwas Besonderes weiß und Sachinformationen beitragen kann, bringt sie ein. Das die Klasse im Gespräch verbindende Medium bleibt das Buch, das im Klassenraum, auch für Vertretungsstunden, bereit liegt. Die Lehrende weiß nicht im Voraus, was den Schülerinnen und Schülern auf den Nägeln brennt, aber die Geschichte kann vieles ans Licht bringen, was den Kindern Sorgen macht und womit sie sich beschäftigen. Die Methode des fortschreitenden Literarischen Gesprächs, macht stetig deutlich, dass Literatur etwas mit Lesern zu tun hat, dass sie Fragen stellt, die berühren können und dass sie beim gemeinsamen Lesen alle schnell und erfolgreich ins
Gespräch bringen kann. Im Literarischen Gespräch begegnen sich Schülerinnen und Schüler und ihre Lehrerin auf Augenhöhe. Es kommt darauf an, gemeinsam eine Gesprächshaltung und Gesprächskultur zu entwickeln, die die Beiträge eines jeden Einzelnen wertschätzt, indem sie weiterentwickelt und aufgenommen werden. Auch Gesprächsbeiträge der den Gesprächsverlauf steuernden Lehrkraft gehören dazu. So zeigen die Protokolle, dass die Kinder sehr häufig Bezug nehmen auf etwas, was Klassenkameraden vorab gesagt haben. Sie ergänzen, setzen sich ab oder bestätigen Aussagen erfreulich vielfältig. Sie verarbeiten also nicht nur verstehend für sich den Text, sondern ebenfalls die Aussagen der Gruppenmitglieder.1 Heinrich Bosse und Ursula Renner weisen in ihrem Einführungsartikel zum Themenheft »Literarisches Verstehen« der Fachzeitschrift »Der Deutschunterricht« darauf hin, dass »Verstehen« eine »soziale Handlung« ist, die im Literaturunterricht, und hier ist zu ergänzen, nicht nur hier, zu entwickeln ist. Literatur hat mit den Menschen zu tun, die sie lesen. Sie soll bewegen und berühren, sie soll einen Dialog zwischen Text und Leser ermöglichen und hier, durch die Methode des unterbrochenen Vorlesens, einen Dialog zwischen Zuhörenden, hier Kindern, eröffnen. Sie öffnet einen Blick auf den »Fremden« neben mir, auf fremde Wahrnehmungserfahrungen, fremde Perspektiven und fremden Sprachgebrauch. 1 Vgl. Sabine Schreiner, »Philosophieren mit Kindern« an der Europäischen Schule München, in: Helmut Schreier (Hg.), Nachdenken mit Kindern. Aus der Praxis der Kinderphilosophie in der Grundschule, Bad Heilbrunn/ Obb. 1999, 77f.
Schreiner »Im wirklichen Leben gibt es keine Lösungen wie im Buch«
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Ergänzend zu den Ausführungen von Kaspar Spinner zum Literarischen Lernen als Kernkompetenz im Deutschunterricht wird die folgende Definition zum Literarischen Verstehen von Bosse und Renner den Ausführungen zu Grunde gelegt.
Jugendlichen »treffen«, er soll einerseits vertraute Situationen ansprechen, andererseits »das Fremde« zeigen und somit den Blick öffnen für neue Fragen.4
»Unter der Bezeichnung ›Literarisches Verstehen‹ wollen wir von dem sprechen, was immer vorausgesetzt, aber selten thematisiert wird. … Mit Begriffen wie ›Verstehensleistung‹ oder ›hermeneutischer Kompetenz‹ täuschen wir uns darüber hinweg, dass es eine soziale Handlung ist, welche im Literaturunterricht zu entwickeln und bewusst zu machen wäre – die Begegnung mit dem Fremden im Bereich der Sprache.«2
2 Heinrich Bosse / Ursula Renner, Vorwort, in: Der Deutschunterricht. Literarisches Verstehen, 4/2010, 1. 3 Vgl. Kaspar H. Spinner, Literarisches Lernen, in: Praxis Deutsch 200, 2006, 6–16: 1. Beim Lesen und Hören Vorstellungen entwickeln 2. Subjektive Involviertheit und genaue Wahrnehmung miteinander ins Spiel bringen 3. Sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen 4. Perspektiven literarischer Figuren nachvollziehen 5. Narrative und dramaturgische Handlungslogik verstehen 6. Mit Fiktionalität bewusst umgehen 7. Metaphorische und symbolische Ausdrucksweise verstehen 8. Sich auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses ein-lassen 9. Mit dem literarischen Gespräch vertraut werden 10. Prototypische Vorstellungen von Gattungen / Genres gewinnen 11. Literaturhistorisches Bewusstsein entwickeln. Kaspar H. Spinner beruft sich in seinen Ausführun-gen zum literarischen Lernen auf das »Heidelberger Modell« des Literarischen Unterrichtsgesprächs, das von Härle und Steinbrenner 2004 im Rahmen eines Forschungsprojekts an der PH Heidelberg entwickelt wird und die Gesprächsleitung nach dem Modell der Themenzentrierten Interaktion (TZI) organisiert. Vgl. Markus Steinbrenner / Maja Wiprächtiger-Geppert, Literarisches Lernen im Gespräch. Das »Heidelberger Modell« des literarischen Unterrichtsgesprächs, Literarisches Lernen, in: Praxis Deutsch 200, 2006, 14f. Diese Hinweise können für die Planung von literarischen Gesprächen ebenfalls hilfreich sein. 4 Michael Niehaus stellt am Beispiel von Burckhard Spinnens Kurzgeschichte »Gründe für ein Massaker« die Methode der fortschreitenden Analyse vor, die dem unterbrochenen Vorlesen mit literarischem Gespräch ähnelt. Auch Niehaus geht es »um die Auseinandersetzung mit einer Sache im Text, die auch uns angeht.« Michael Niehaus, Fortschreitende Analyse, in: Der Deutschunterricht. Literarisches Verstehen, 4/2010, 27.
Elf Aspekte literarischen Lernens formuliert Kaspar H. Spinner in einem zusammenfassenden Basisartikel als Grundlegung für die Vermittlung literarischer Kompetenz als wichtigem Ziel des Deutschunterrichts.3 Die gleichzeitige Vernetzung der Vermittlung von Kernkompetenzen des Deutschunterrichts zusammen mit dem Ziel, durch literarisches Gespräch eine Klassengemeinschaft zu gestalten und bindende gemeinsame Erfahrungen zu ermöglichen, soll im Folgenden konkret vorgestellt und begründet werden. Die Beschäftigung mit dem Erzähltext soll von den Schülerinnen und Schülern und von der Lehrerin als Gewinn erlebt werden und Freude bereiten. Der Jugendroman »Wunder« – vorgelesen in einer fünften und sechsten Klasse
Die Auswahl eines geeigneten Textes ist die Aufgabe der Lehrerin oder des Lehrers. Der Text soll die Kinder oder
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Pädagogische Anregungen
Für eine fünfte Klasse fiel die Wahl auf das 2013 erschienene Jugendbuch von Raquel J. Palacio: Die amerikanische Autorin erzählt in ihrer Geschichte »Wunder« von dem aufgeweckten und sensiblen zehnjährigen Jungen August, der durch genetische Mutationen mit einem verunstalteten Gesicht in eine warmherzige Familie in New York geboren wurde. Nachdem ihn zunächst seine Mutter zu Hause unterrichtete, wird er mit zehn Jahren in die erste Klasse der Middle School eingeschult und erlebt nun, wie seine Mitschüler und Mitschülerinnen mit ihm und seiner »Behinderung« umgehen. Direktor, Lehrer und Eltern versuchen, ihm zu helfen, seinen Platz im sozialen Gefüge der Schule zu finden, aber es sind einige eigenständig denkende Kinder, die den rechten Ton treffen und genug Mut haben, das Rechte zu tun, um August die Chance zu geben, selbsttätig einen Platz in der Beecher Prep School zu finden. Im ersten Kapitel stellt sich August den Lesern vor: »Ich heiße übrigens August. Ich werde nicht beschreiben, wie ich aussehe. Was immer ihr euch vorstellt – es ist schlimmer.«5 Eine zentrale Frage dieses Romans ist zum einen die nach dem Umgang mit Andersartigkeit, aber viel wichtiger ist das Thema der eigenen Identität: Wer bin ich? Wer will ich sein? Diese Fragen erinnern an Immanuel Kants drei zentrale Fragen, die in seine Schlussfrage münden: Was ist der Mensch? Kant versucht in seinen philosophischen Texten die Fragen »Was kann ich wissen?«, »Was soll ich tun«? »Was darf ich hoffen?« zu beantworten. Da der Mensch, so Kant, sich nicht aus Raum und Zeit lösen und somit die Wirklichkeit nicht objektiv erfassen könne, obwohl sie unabhängig von
ihm existiere, richte sich die menschliche Erkenntnis nicht nach den Gegenständen, sondern die Gegenstände ergeben sich aus ihr. Die Beschäftigung mit Fragen nach »Unsterblichkeit«, »Gott« oder »Freiheit«, erlauben so keine allgemeingültige Antwort, weil sie den Erkenntnisbereich des Menschen übersteigen. Der Mensch ringt nach individuellen Antworten. Diese Problematik wird in Raquel Palacios Buch »Wunder« durchdekliniert und sie unterliegt als roter Faden auch dem Klassengespräch, ohne explizit erläutert zu werden. Literatur dreht sich immer um diese zentralen Fragen des Menschseins und es ist »wunder«bar, wenn wir durch Geschichten uns selbst und unser Verhalten befragen, ausloten und möglicherweise verändern.6 Diese Geschichte eignet sich für eine neue fünfte Klasse sehr gut, weil Probleme des Neuanfangs an einer neuen Schule thematisiert werden. Dieser Neuanfang unterliegt anderen Traditionen, weil die Handlung in New York in einer amerikanischen Middle School spielt. Obwohl die Organisationsstrukturen völlig andere sind, geht es auch in der Beecher Prep um nette und nicht so nette Schüler, um angesagte Kinder und um Außenseiter, um den richtigen Platz in der Mensa, um Star Wars, Handys, Playstation und erste Partys: Was soll ich tun? Was kann ich hoffen? »Die imaginative Vergegenwärtigung sinnlicher Wahrnehmungen ist«, so Spinner, »ein grundlegender Aspekt (literar-) 5 Raquel J. Palacio, Wunder, Aus dem Englischen von André Mumot, München 2013, 10. 6 Vgl. Katrin Hörnlein, Gesicht zeigen? Lieber nicht! Ein entstellter Junge und die Frage nach Identität – »Wunder« ist ein Wunder von einem Roman, Die Zeit Nr. 20, 8.5.2013, 40.
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ästhetischer Erfahrung.«7 So können die Zuhörenden lebendige Vorstellungen dieser Großstadtschule vor ihrem inneren Auge entwickeln und sie gleichzeitig mit den neuen Verhältnissen in ihrer Schule vor Ort vergleichen. Die eigenen Erfahrungen im neuen Kontext werden zum einen genauer wahrgenommen, zugleich aber wieder relativiert. Die Kinder berichten von ihren ersten Eindrücken und Begegnungen, äußern Freude über die Organisation des Schulalltags oder ihren Ärger über komplizierte Abläufe oder über Störungen beim Schlange stehen am Bistro oder beim Essen in der Mensa. Spinners zweiter Aspekt »Subjektive Involviertheit und genaue Wahrnehmung miteinander ins Spiel bringen« wird hier ebenso bedeutsam. Die Fragen »Wer bin ich?« und »Wie sehen mich die anderen?« brennen vielen Kindern auf den Nägeln. Sie können sich in die Situation von August und seinen Freunden gut hineinversetzen. Auch sie müssen ihren Platz finden. Die Gefühle der Figuren im Text werden so leichter nachvollziehbar, eigenes Verhalten kann somit neu durchdacht werden und um die Perspektive einer möglichen Fremdwahrnehmung ergänzt werden. Die Kinder hören genau zu, wie August sich fühlt, was er beobachtet und wie er reflektiert. Sie erkennen sprachliche Gestaltungselemente, hier besonders die alterstypische Sprache der Figuren, die der ihren sehr nah ist. Da August ein sogenanntes Inklusionskind ist, können die Zuhörenden sich jederzeit versichern, dass für sie doch vieles anders ist: »Man sieht sich und seine Erfahrungen im literarischen Text wie in einem Spiegel und wird zugleich irritiert.«8
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Um den Blickwinkel der verschiedenen handelnden Figuren nachzuvollziehen, hat die Autorin die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Diese Erzähltechnik erleichtert es den Zuhörenden sich vorzustellen, wie unterschiedlich eine Situation aus der Sicht verschiedener Menschen aussehen kann, und sie ist gleichzeitig ein gutes Beispiel für literarische Gestaltungsmöglichkeiten. Der Roman ist in acht übergeordnete Kapitel eingeteilt, wovon jedes aus einer anderen Erzählerperspektive in Ich-Form erzählt wird. Im ersten Kapitel beginnt August mit seiner Sicht auf die Dinge, es folgen seine ältere Schwester Olivia, seine Freundin Summer, der Klassenkamerad Jack, Olivers Freund Justin und anschließend wieder August, dann Miranda, Olivias Freundin, und erneut August. Die Andersartigkeit der Wahrnehmungen ist für die Kinder einer fünften und sechsten Klasse äußerst erhellend. Sie wird häufig in den Diskussionen angesprochen und mit zunehmender Erfahrung im Literarischen Gespräch auch eingefordert: »Wir müssen noch warten, bis wir besser beurteilen können, wie Jack die Situation sieht und ob es stimmt, dass er August wirklich ablehnt!« Somit erhalten die jungen Leser bei diesem Text Hilfe bei der Entschlüsselung der Mehrdimensionalität der Wahrnehmung. Neben der Handlung, die in diesem Jugendbuch selbstverständlich auch wichtig ist, sind die psychischen Prozesse, die die Figuren durchmachen, besonders ausführlich dargestellt. Sie 7 Spinner, Literarisches Lernen (wie Anm. 3), 8. 8 Ebd.
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entfalten sich im Hinblick auf ihre Beziehungen in Familie und Schule. Dieser Ansatz ist für die moderne Jugendliteratur typisch. Die Kinder sollen im Literarischen Gespräch angeleitet werden, diese Innensicht auf ihre eigenen Wahrnehmungen zu übertragen, ihre eingeschränkte Perspektive auf Ereignisse zu reflektieren und erkennen, dass es allen Menschen so ergeht. Das Fremde, das jedem Menschen im anderen begegnet, kann durch Gespräch und gemeinsames Tun und Spielen zwar nicht aufgehoben, wohl aber vertrauter werden. Diese Erfahrung kann entlastend wirken. Schritt für Schritt besteht der Lernzuwachs auch darin, dass die Kinder stetig besser mit widersprüchlichen und wechselnden Verhaltensweisen umgehen lernen, weil sie diese auch im literarischen Text wiederfinden.9 Die Kompetenz, narrative und dramaturgische Handlungslogik zu verstehen, spielt bei diesem Vorleseprozess eine eher untergeordnete Rolle, auch wenn die Schülerinnen und Schüler durchaus erkennen, welche Bedeutung die Star Wars Figuren für August, besonders an Halloween, haben. August sagt: »Für mich ist Halloween der beste Feiertag der Welt. Er schlägt sogar Weihnachten. Ich kann mir ein Kostüm anziehen. Ich kann eine Maske tragen. Ich kann wie jedes andere Kind mit einer Maske rumlaufen, und niemand findet, dass ich komisch aussehe. Niemand schaut zweimal hin. Niemandem falle ich auf. Niemand kennt mich.«10
Die symbolische Bedeutung der Auswahl des Kostüms »Boba Fetts« aus der Star Wars Episode V erschließt sich nicht der Lehrerin, wohl aber den Kin-
dern, die dies eindrücklich erläutern. Boba Fett sei einer der gefährlichsten Kopfgeldjäger der Galaxis. August ist die Wahl des Kostüms wichtig, man unterhält sich vorab darüber, wie man an Halloween in die Schule kommen wird. Spontan ändert August am Morgen des Festtages sein Kostüm, weil er gespürt hat, dass Julian, einem sozial sehr anerkannten Jungen, seine Wahl nicht gefallen hat und so wird er in der Schule von den Klassenkameraden nicht erkannt. Aus diesem Grunde hört er unfreiwillig ein Gespräch zwischen Klassenkameraden, darunter auch sein vermeintlicher Freund Jack: »Ich finde, er sieht aus wie ein Ork.« »Ja, genau!« »Wenn ich so aussehen würde«, sagte die Julian-Stimme mit einem komischen Lachen, »ich schwöre bei Gott, dann würd ich mir jeden Tag ne Kapuze übers Gesicht ziehen.« »Ich habe viel darüber nachgedacht«, sagte die andere Mumie und klang ernst. »Und ich glaub echt … wenn ich aussehen würde wie er, ganz im Ernst, ich glaub, dann würd ich mich umbringen.« »Würdest du nicht«, antwortete Darth Sidious. »Doch echt«, sagte dieselbe Mumie mit Nachdruck. »Ich kann mir nicht vorstellen, jeden Tag in den Spiegel zu gucken und mich so zu sehen. Das wäre zu schrecklich. Und dann die ganze Zeit angeglotzt zu werden.« »Warum hängst du denn dann so viel mit ihm ab?«, fragte Darth Sidious. »Weiß ich nicht«, antwortete die Mumie. »Pomann (der Direktor, A.d.A.) hat mich am Anfang des Schuljahres gebeten, mich 9 Vgl. ebd., 10. 10 Wunder. 92
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ein bisschen um ihn zu kümmern, und er muss allen Lehrern gesagt haben, dass sie uns in allen Fächern nebeneinander setzen sollen oder so. … Ich meine, es ist halt so: Er läuft mir ewig hinterher. Was soll ich denn machen?«11
Diese zentrale Textstelle des Romans wird intensiv besprochen und emotional nachempfunden. Sogar eine Verbindung zur Leugnung des Petrus in der Nacht nach der Kreuzigung Jesu wird von den Schülerinnen und Schülern thematisiert und durchdacht. Emotional stehen die Kinder hinter August, fragen aber auch intensiv nach den Beweggründen Jacks, der sich hier gegenüber dem starken und angesagten Julian von August distanziert. August leidet unendlich darunter, diese Sätze von Jack gehört zu haben, zieht sich zurück und erzählt später Summer, einem mutigen Mädchen, das zu ihm steht und mit ihm zusammenarbeitet, was Jack gesagt habe. Es folgt ein Protokoll des anschließenden Klassengesprächs: M1: »August traut sich, Summer zu erzählen, was er gehört hat.« M2: »Summer will wirklich mit ihm befreundet sein.« M1: »Summer mag ihn einfach, wie er ist.« J1: »Gefährdet Summer nicht sich selbst durch diese Freundschaft? Ist sie vielleicht irgendwann selbst nicht mehr integriert? Im realen Leben kann man das nicht aushalten. Man muss sich irgendwann abwenden.Man muss zwischen der Perspektive im Buch und dem realen Leben unterscheiden. Im realen Leben gibt es keine Lösungen, wie im Buch.« Frage vorab an die Lehrerin: J1: »Gibt es ein Happy End im Buch?« – »Ja!« J1: »Im wirklichen Leben gibt es keine Lösungen wie im Buch.«
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M3: »Wenn ich jemandem in den Rücken falle, habe ich ein schlechtes Gewissen, dann finde ich keinen Frieden.« Lehrerin: »Was ist Gewissen?« M4: »Unterscheidungsversuch: Gutes Gewissen (Hilfe) – schlechtes Gewissen (keine Hilfe)« M5: »Man weiß aus eigener Erfahrung, dass Hilfe gut ist.« J 2: »Belohnung und Dank als Anzeichen von gutem Gewissen.« M4: »Aber man kann auch ein gutes Gewissen haben, wenn man keinen Dank bekommt.« J3: »Es ist wichtig, wobei man hilft und mit welchem Ziel – dieses Ziel ist auch zu bewerten.« M1: »Das Glück des Menschen steht im Vordergrund.« J3: »Es wäre interessant zu wissen, wie Jack das alles empfindet.« J4: »Im Buch werden die Bösen häufig »böse« dargestellt, aber vielleicht haben sie andere Gründe für ihr Verhalten.« J3: »Man kann über Jack noch kein Urteil fällen, man kennt seine Beweggründe nicht.« J5: »Wird Julian dadurch unbeliebt, dass er vom Direktor ebenfalls gebeten wurde, sich um August zu kümmern?« J1: »Wenn man ausgeschlossen ist, steht man am Abgrund. Man kommt nicht mehr alleine heraus, man braucht Hilfe. Wenn man einmal drin ist, braucht es sehr lange, bevor man wieder heraus kommt. Es ist eigentlich ein Teufelskreis, man wird durch die Hilfe für einen anderen mit in den Abgrund gezogen.« M5: »Vielleicht sind dadurch irgendwann alle unten auf einem Niveau – der Abgrund ist dann kein Abgrund mehr.«
Dieser Ausschnitt aus einem Literarischen Gespräch zeigt, dass die Kinder ein hohes 11 Wunder, 96f.
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Niveau des Austausches erreicht haben. Fragen und Kommentare der Lehrerin sind kaum mehr notwendig. Zunächst versichern sie sich, dass sie verstanden haben, was Summer und August wünschen, sie möchten befreundet sein. Schnell wird die Frage gestellt, wie es um Summers Integration in die Gruppe bestellt ist, wenn sie sich deutlich zu August bekennt. Anschließend werden eigene leidvolle Erfahrungen mit Ausgrenzungen verallgemeinert berichtet: »Im realen Leben kann man das nicht aushalten. Man muss sich abwenden.« Der bewusste Umgang mit Fiktionalität zeigt sich in der ernsten Frage an die Lehrerin: »Gibt es im Buch ein Happy End?« Die Schlussfolgerung des Schülers, dass man zwischen der Perspektive im Buch und in der Wirklichkeit unterscheiden müsse, die Absage an glückliche Lösungen im realen Leben, führt allen die Ernsthaftigkeit dieser Aussage vor Augen. Nach einer philosophischen Sequenz zum Thema »Gewissen« kommt der gleiche Schüler auf seine vorherige Aussage zurück: »Wenn man ausgeschlossen ist, steht man am Abgrund. Man kommt nicht mehr alleine heraus, man braucht Hilfe.« Das Gespräch erstarrt einen Augenblick, weil Verletzungen spürbar geworden sind. Genial aufgelöst werden sie durch die Bemerkung einer Mitschülerin: »Vielleicht sind dadurch irgendwann alle unten auf einem Niveau – der Abgrund ist dann kein Abgrund mehr.« Das Gesprächsprotokoll zeigt, dass die Schülerinnen und Schüler in der Lage sind, eigene Gedanken sinnvoll zu entwickeln und Vorschläge anderer wahrzunehmen: Sie verstehen das Gespräch als »Suchbewegung« und »dass
sie mit dazu beitragen, eine Balance zwischen Selbstkundgabe, Ernstnehmen des anderen und Textbezug herstellen«.12 Gleichzeitig nehmen sie sehr sensibel wahr, wenn es einem Schüler nicht gut geht und reagieren angemessen und wohlwollend. Im Roman »Wunder« gibt es keinen expliziten religiösen Bezug. Nur der Titel lässt Assoziationen zu biblischen Wundergeschichten zu. Das Happy End der Geschichte begründet vermutlich den Titel: August erlebt, dass er anerkannter Teil der Schulgemeinschaft wird. Und Jack erkennt, dass vielleicht das Mutigste, was er in seinem Leben getan hat, war, sich mit August anzufreunden.13 Dies wird Jack klar, als er als Hausaufgabe im Englischunterricht zur Maxime »Das Glück ist mit den Tapferen« eine Begebenheit aus seinem Leben aufschreiben soll. Philosophisch-humanistisches Gedankengut wird in dem Jugendroman durch Episoden aus dem Englischunterricht einbezogen: Der Englischlehrer Mr. Brown kennzeichnet jeden Monat des Schuljahres mit einer Maxime, zu der die Schülerinnen und Schüler Essays schreiben müssen. Diese Maximen − Mr. Brown bezeichnet sie als »Regeln über wirklich wichtige Dinge« − kennzeichnen jeweils einen Monat im Schuljahr. Der Lehrer fragt die Schüler, was das wirklich Wichtige sein könnte und auch nachdem ein Mädchen fragend »Gott?« angibt, spürt August, dass das noch nicht die Antwort war, auf die der Lehrer gewartet hat. Dieser schreibt dann an die Tafel: »WER wir 12 Spinner, Literarisches Lernen (wie Anm. 3), 12. 13 Vgl. Wunder, 183.
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sind?« und führt aus, dass sie alle hier seien, um die Frage zu beantworten, was für ein Mensch ein jeder sei, um sich so selbst kennenzulernen. Die monatlichen Maximen sollen, so dieser fiktive amerikanische Lehrer, zum Nachdenken über genau diese Frage anregen. Sie vertiefen somit den philosophischen Gedankenhintergrund des Textes.14 Das Gespräch über »Gott und die Welt«, das auch der amerikanische Lehrer im Roman ermöglichen möchte, eröffnet sich immer wieder im Klassengespräch, zum Beispiel in dem Moment, in dem Summer August fragt, ob in seinem Umfeld jemand gestorben sei und ob er über das Leben nach dem Tod nachdenken würde: »›Fragst du dich manchmal, was mit den Menschen passiert, wenn sie sterben?‹ Er zuckte mit den Schultern. ›Nicht wirklich. Ich meine, ich nehm an, dass sie in den Himmel kommen, oder? Da ist jedenfalls meine Großmutter.‹«15 Nach diesen Sätzen unterhalten sich die Kinder in der sechsten Klasse zunächst über ihre Erfahrungen mit dem Tod der Großeltern und ihre Erinnerungen an diese. Anschließend erinnern sie an die Erlebnisse von Augusts Schwester Via, die eine sehr innige Beziehung zu ihrer Großmutter hatte. L.: »Was denkt ihr?« J4: »Ein unendliches Leben ist nervig. Der Mensch hat eine Seele, wer tot ist, kommt in den Himmel.« J3: »Es gibt das mit der Seele und so was, wenn du tot bist, was dann?« M2: »Die Seele ist eigentlich nur das Innere vom Menschen, das Selbst von einem Menschen. Und wenn die Seele in den Himmel übergeht, sackt der Körper zusammen und kann sich nicht mehr bewegen.«
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M1: »Und wenn ein Mensch in den Himmel übergeht, zu Gott dann hat man immer noch das Gefühl, dass man ein Wissen über ihn hat. Solange man immer noch an einen Menschen denkt, ist er noch lange nicht weg. Wenn man jemanden vergisst, ist er weg. J5: Ich kann mir das schlecht vorstellen, man liegt einfach da und kann sich nicht mehr bewegen, dass man aus den Wolken herausguckt und man liegt einfach und weiß gar nichts und ist einfach – tot. J6: »Ich habe die Vorstellung, man weiß es nicht, dass das Gehirn noch ein bisschen weiterarbeitet.« J1: »Ich finde es ganz ehrlich nicht so angenehm über das Thema Tod nachzudenken, man macht sich schon im Voraus Sorgen, und man macht sich eigentlich, wenn man jeden Tag darüber nachdenkt, das Leben kaputt, weil man Angst hat. Die Angst frisst einen auf. Den Tod kann man nicht verhindern. Das ist eine Sache, die einen irgendwann eingeholt hat. Und wenn ich immer drüber nachdenke, dass ich da nur noch liege wie J., dann … (lacht) … das ist sozusagen nicht so angenehm für einen. Man kann sich überraschen lassen.« J4: »Und vielleicht hat man, wenn man jetzt in den Himmel kommt, kein Zeitgefühl mehr, da ist eine Sekunde so was, wie die ganze Erde ist, oder man hat kein zeitliches Empfinden mehr, man weiß gar nicht, man denkt, man ist erst vor einer Minute hier (oben) angekommen und es sind schon Milliarden, tausendstel Milliarden Jahre …« L.: »Du hast ein Konzept, dass die Zeit sich aufhebt.« 14 Wunder, 65. Mr. Browns Septembermaxime lautet: »Wenn du die Wahl hast, ob du Recht behalten oder freundlich sein sollst, wähle die Freundlichkeit.« 15 Wunder, 159.
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J1: »Im Universum sind wenige Minuten mehrere Stunden, da hat man auch ein anderes Zeitgefühl. Wenn man dann denkt, man ist zehn Minuten hier, man ist am Morgen losgeflogen, …«
Die Kinder denken nun über Flüge im Weltraum nach, versuchen die Zeitkonzepte von Lichtjahren zu verstehen, unterhalten sich über Engel und tauschen Berichte über Nahtoderfahrungen aus. L.: »Ihr äußert Erfahrungen, die eine Richtung von hinauf und oben beinhaltet – Wer möchte dazu etwas sagen?« M6: »Die Seelen der Toten gehen zu Gott hinauf.« L.: »Wir wissen nicht, wo ist Gott? Ist er oben oder unten oder ist er mitten unter uns?« J3 »Vielleicht, ich weiß es nicht.« M2: »Himmel ist Unendlichkeit.« J5: »Gut – alle sitzen da oben.« M7: »Meine Mutter, ihre Mutter ist gestorben, hat das Gefühl, dass sie anwesend ist.« J6: »Ich habe die Vorstellung: Im Himmel ist alles gut.«
Anschließend ist für die Schülerinnen und Schüler das Gespräch beendet, wir lesen weiter, welche Vorstellungen Summer von den Leben nach dem Tod hat. Gerade das oben protokollierte Gespräch macht allen Beteiligten klar, dass die Frage nach Leben nach dem Tod nicht abzuschließen ist und jeder es aushalten muss, diese Frage ein Leben lang nicht beantworten zu können. Diese Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses16 betrifft aber auch die Fragen nach der Charakterisierung der Figuren, der Begründung ihres Handelns und der
durchaus wechselnden Positionierung der eigenen Sympathien. So ergibt sich beim schrittweisen Vorlesen, dass ein Deutungskonzept immer wieder verändert, ergänzt und problematisiert werden muss. Gerade dieser Prozess kann allen viel Freude machen und genau hier beginnt literarisches Lernen: »Eine Progression im literarischen Lernen wird man«, so Spinner in seinen elf Aspekten zum literarischen Lernen, »vor allem darin sehen, dass zunehmend komplexe Sinnzusammenhänge und -ambivalenzen zur Sprache kommen können.«17 Die Ausführungen haben gezeigt, dass die Schülerinnen und Schüler der fünften und dann sechsten Klasse über eineinhalb Jahre grundlegende literarische Kompetenzen erworben haben. Es gelang zudem, wie die Gesprächsprotokolle zeigen, eine Gesprächsatmosphäre zu schaffen, in der Fragen und Probleme Raum finden. »Teilhabe an literarischer Kultur«, so Spinner, »schließt ein, sich mit anderen über Texterfahrungen austauschen zu können.«18 Diese Aussage muss in diesem Zusammenhang erweitert werden. Soziales Miteinander im Klassenverband bedeutet, über wichtige Fragen miteinander reden zu können, Störungen zu vermeiden, Disziplin zu erhalten, das Fremde im anderen zu erkennen und zu schätzen. Die Freude am Vorlesen und am Gespräch ist für alle Beteiligten wundervoll! 16 Vgl. Spinner, Literarisches Lernen (wie Anm. 3), 12. 17 Ebd. 18 Ebd.
Oswald / Steinke-Dörpholz Theologisieren mit Kinderliteratur
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Cornelia Oswald / Angela Steinke-Dörpholz Theologisieren mit Kinderliteratur
Das unter anderem mit dem Rattenfänger-Literaturpreis ausgezeichnete Buch von Jutta Richter »Der Hund mit dem gelben Herzen oder die Geschichte vom Gegenteil« ist zu einem Klassiker des Religionsunterrichts beim Einsatz von Kinderliteratur geworden. Es steht auf evangelischen und katholischen Empfehlungslisten, zahlreiche didaktische Materialien sind erschienen.1 Wir haben die Erzählung parallel in einer 4. und einer 5. Klasse und danach nochmals in einer 6. Klasse einer Berliner Grundschule eingesetzt. Die Schüler/innen kommen aus bildungsinteressierten Elternhäusern. Das Lesen ist eine Grundkompetenz aller an dieser Schule, die sehr gefördert wird: Der Besuch des Bibliotheksbusses und der schuleigenen Bibliothek ist vertraut. Viele besitzen eine Kinderbibel zuhause, die sie mit ihren Eltern schon im Vorschulalter angeschaut und vorgelesen bekommen haben. Im Blick auf die altersspezifischen Rahmenbedingungen und den literarischen Komplexitätsgrad der Erzählung ergaben sich für uns zwei grundlegende Fragen: Inwieweit ist die Erzählung von ihrer anspruchsvollen literarästhetischen Struktur für das Theologisieren in dieser Altersstufe geeignet? Welche Interpretationsfähigkeiten müssen mit den Schüler/innen entwickelt werden, um die Geschichte als eine Geschichte vom Anfang der Welt, von der Bezie-
hung Gottes zu den Menschen und als eine Geschichte von der Möglichkeit der Rückkehr zum Paradies zu erkennen und auf die eigene Lebenswelt beziehen zu können? Unsere Ausgangsfrage war, ob die Lektüre der Erzählung von Jutta Richter »Der Hund mit dem gelben Herzen – oder die Geschichte vom Gegenteil« ein Theologisieren der Schüler/innen initiieren kann. Wir haben uns bei der Begegnung mit dem Text für die Methode des Vorlesens entschieden. Zum einen sollte auf diesem Weg allen Schülern ein das Verständnis eröffnender Weg angeboten werden und die unterschiedlichen Lesefähigkeiten ausgleichen. Zum anderen hat diese Methode den Vorteil, dass sofortige Nachfragen und Unterbrechungen möglich sind. Die Erzählung selbst stellt die Situation des Zuhörens der Kinder der Erzählung vom Hund in den Mittelpunkt und wird so nachvollzogen. Die Kinder hatten die Lektüre nicht in der häuslichen Verwendung, sondern es wurde die Möglichkeit geboten, während des Vor-
1 Jutta Richter, Der Hund mit dem gelben Herzen oder die Geschichte vom Gegenteil, München 1998. Vgl. beispielsweise Hannah Richter / Jutta Richter, Der Hund mit dem gelben Herzen, in: Mirjam Zimmermann (Hg.), Religionsunterricht mit Jugendliteratur, Göttingen 2006, 14–28.
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lesens selbst mitzulesen. Ein gemeinsames Voranschreiten bei der Arbeit konnte so gewährleistet werden. Für die Datenerhebung wurden die Unterrichtsgespräche gefilmt und ausgewertet. Die schriftlichen Arbeiten wurden in ein eigens für die Lektüre angelegtes Heft geschrieben. Bisweilen griffen die Schüler/innen auf bildnerische Gestaltung ihrer Vorstellungen zurück, da es ihnen schwerfiel, ihre Gedanken in einen fließenden Text zu übertragen. Die Bilder konnten sie immer erläutern und auch diese Erläuterungen wurden mit der Kamera aufgezeichnet. Die für das Theologisieren notwendige Erarbeitung der Erzählstruktur erfolgte an der Tafel und wurde ebenfalls im Heft notiert. Die Tafelbilder wurden protokolliert und standen so der Auswertung zur Verfügung. Die Lernenden der beiden gewählten Jahrgangsstufen haben unterschiedliche Interpretationsfähigkeiten. Es war für uns von Interesse, dieser Unterschiedlichkeit auf die Spur zu kommen. So konnten die Viertklässler die Erzählstruktur des Buches als in zwei Ebenen getrennte Handlungsstränge erkennen. Die Reflexion dieser Konstruktion blieb jedoch auf der dualistischen Sichtweise stehen. Die Fünftklässler konnten bereits intensiver über das Gottes- und Menschenbild der Erzählung ins Gespräch kommen und zu den eigenen Vorstellungen in Bezug setzen. Nach den Sommerferien wurde die Lektüre in einer sechsten Klasse gelesen, die in ihrer Interpretation in Ansätzen erkannte, dass die beiden dualistischen Welten ineinander verschränkt sind und es einen möglichen Weg zwischen diesen Welten gibt.
Inhaltsangabe des Buches
Die Erzählung »Der Hund mit dem gelben Herzen oder die Geschichte vom Gegenteil« von Jutta Richter entfaltet zwei aufeinander bezogene und ineinander verschränkte Handlungsebenen. Die diesseitige Welt wird von der wunderbaren Begegnung Lottas mit Hund geprägt, die den Hund, den sie im Wald gefunden hat, mitnimmt und verspricht, er dürfe so lange bleiben, bis er wisse, wo er hingehöre. Der Hund wird im Schuppen von Opa Schulte untergebracht, wo er auch Lottas Bruder, Prinz Neumann, kennenlernt. Die Kinder kümmern sich um den Hund, indem sie ihn mit Futter und Zuwendung versorgen. Der Hund erfindet auf die Frage nach seiner Herkunft eine Geschichte von der Begegnung mit G.Ott, der zweiten Handlungsebene der Erzählung, die auf eine transzendente Welt verweist. G.Ott wohnt in einem paradiesischen Garten, in dem alle Pflanzen gleichzeitig blühen und Früchte tragen. Hund trifft G.Ott alleine an, der seinen Namen im großen Buch »Meine Welt« verzeichnet hat und Hund kennt. In diesem Garten erfährt Hund, dass G.Ott einmal nicht alleine lebte, sondern mit einem guten Freund gemeinsam die Erfindungen im Buch geschaffen hat. Lobkowitz musste jedoch den Garten verlassen. Eine Teamarbeit von G.Ott und Lobkowitz ist der Grund für die Trennung der beiden Freunde. G.Ott möchte Abbilder von ihm und Lobkowitz schaffen, damit die beiden ihr Glück mit jemandem teilen können. An dieser Aufgabe gerät G.Ott in eine Schaffenskrise. Er will die Abbilder so schaffen, dass die Gründlichkeit seiner Schöpfungskraft und die Spontaneität von Lobkowitz bei-
Oswald / Steinke-Dörpholz Theologisieren mit Kinderliteratur
de ihren Raum in den Abbildern haben. Doch es gelingt ihm nicht, die richtige Balance zwischen beidem zu finden und er will aufgeben. Lobkowitz ermutigt den Freund, nicht aufzugeben und nimmt ihm den Stift aus der Hand und vollendet damit die Schöpfung der Abbilder. Die Abbilder jedoch scheinen weder G.Ott noch Lobkowitz zu gleichen. Sie grölen und zerren G.Ott vom Stuhl, schubsen ihn in der Küche herum und lachen ihn aus. Lobkowitz ermahnt die Abbilder, doch diese ballen die Fäuste und verprügeln G.Ott. G.Ott entscheidet sich, die missratenen Abbilder mitsamt Lobkowitz aus dem Garten (Paradies) zu werfen. Lobkowitz soll sie »begleiten, … auf sie achten, sie lenken und leiten … und … nicht eher ruhen, bis sie wissen, was Recht und was Unrecht ist« (80). G.Ott und Lobkowitz sind entzweit. Hund möchte den traurigen G.Ott, der sein Gegenüber vermisst, wieder mit Lobkowitz zusammenbringen und diesem mitteilen, dass auch für ihn die Tür zum Paradiesgarten wieder offen steht. Auf seiner Suche nach Lobkowitz findet er ihn alkoholkrank in einem Schlossgarten, der ein Abbild des paradiesischen Gartens zu sein scheint, in dem es viele Regeln gibt. Für streunende schwarze Hunde ist dort kein Platz, doch Hund will Lobkowitz unbedingt wieder mit G.Ott zusammenbringen. Lobkowitz sehnt sich nach G.Ott und spricht noch immer mit dem fernen Freund, dessen Paradiespforte für ihn unauffindbar ist. Die Pforte bleibt für Lobkowitz verschlossen. Hund scheitert in seiner Mission und sucht nach einem Ort, an dem er bleiben kann. Prinz Neumann schenkt Hund das gelbe Herz, damit er niemals vergisst,
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dass er zu den Kindern gehört. Dieses neue Paradies wird jedoch von Feinden bedroht. Ratten wollen von der Hähnchenhaut, die Hund geschenkt bekommt, ihren Anteil haben oder sie vertreiben Hund mit Gewalt. Um die Forderung der Ratten zu befriedigen, muss Hund mit einer Lüge gegenüber Prinz Neumann neue Hähnchenhaut besorgen. Unerwartete Hilfe erhält er von einer jungen kampfesfreudigen Katze. Sie bietet ihre Unterstützung im Kampf gegen die Ratten an, unter der Bedingung, dass Hund ihr etwas Hähnchenhaut abgibt und sie einen guten Kampf gemeinsam schlagen. Der Hund nimmt dieses Angebot an und in der nächsten Nacht werden die Ratten in einem gemeinsamen Kampf besiegt. Das neue Zuhause von Hund hängt jetzt noch an der Zustimmung von Opa Schulte. Er kennt die Geschichten des Spinners Lobkowitz von G.Ott und hat sie nie für wahr gehalten. Als er jedoch den sprechenden Hund ebenfalls hört, glaubt er an die Wahrheit dieser Geschichten. Er lässt Hund bei sich leben, die Kinder erzählen ihm die Geschichte von Hund und er ermutigt die Kinder, die Gartenpforte suchen zu gehen. Theologisieren bei der Lektüre
Im Rahmen dieses Beitrages soll nicht die ganze Unterrichtsreihe dargestellt werden, sondern der mögliche Gewinn der Berücksichtigung der Erzählstruktur für das Theologisieren mit Kindern aufgezeigt werden. Unter Berücksichtigung der eigenen Vorkenntnisse gelang es den Schüler/innen schnell, die Differenzierung der paradiesischen Ebene und der
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Pädagogische Anregungen
Welt vorzunehmen.2 Die Gegensätzlichkeit des perfekten Paradieses und der unvollkommenen Welt war eine Matrix, die die Interpretation des Buches durchzog. Für ein Theologisieren ist es aber notwendig, die Tür dieser Welten füreinander offen zu halten. Dies ermöglicht die Erzählstruktur der Erzählung, so dass die Frage nach den Bezügen der Welt zu Gottes Welt und umgekehrt ermöglicht wird. Der Unterricht folgte der Chronologie der Erzählung. Die Kinder brachten ihre eigenen Gottesvorstellungen schon als Vorerfahrung mit, hatten aber im Unterricht noch nie ein längeres Gespräch darüber miteinander geführt. An folgenden Stellen der Handlung stiegen sie gerne in eine inhaltliche Auseinandersetzung ein: Welche Funktionen haben Geschichten? (16) Wo kommt Hund her? Was ist Zuhause? G.Ott ist Gott, der Erfinder allen Lebens (25) Bedeutung des gelben Herzens (32f) Wie ist die Schöpfung entstanden? (43) Wer sind die Abbilder von G.Ott und Lobkowitz? Werden die Abbilder je in den Garten zurückkehren können? (86) Nicht alle inhaltlich interessanten Textstellen waren dazu angetan, mit den Schüler/innen zu theologisieren. Es ist notwendig, das Theologisieren durch eine gezielte Auswahl durch den Lehrer zu initiieren. Erst die Betrachtung der Erzählstruktur öffnete den Blick für theologische Fragen, da erst nach dieser Erarbeitung auch biblische Bezüge von den Kindern in ihre Argumentationen mit aufgenommen wurden. Insbesondere die Ebene der Kinder wurde ausschließlich an der eigenen Erwartung an die Welt gemessen. Zuhause-Sein wurde der Familie zugeordnet, einen Hund zu versorgen als ein von den Erwachsenen nicht selten verhinderter Wunsch gese-
hen. Die Identifikation mit den Titelhelden war sehr deutlich. Die Struktur der Erzählung legt nahe, dass Kinder zuhören und direkt nachfragen, so wie Lotta und Prinz Neumann. Die Textbegegnung erfolgte daher durch das Vorlesen der Erzählung. Diese Form ermöglichte, sofort Rückfragen zu stellen und an den Stellen, die die Kinder wichtig fanden, miteinander ins Gespräch zu kommen. Die schwächeren LeserInnen haben durch das Vorlesen und gleichzeitige stumme Mitlesen die Möglichkeit, befreit von Leseschwierigkeiten Zugang zum Inhalt zu bekommen. So wird der literarische Text zunächst dekodiert und erst einmal als Werk wahrgenommen. Die Auseinandersetzung mit dem textlich dargebotenen Inhalt steht zunächst im Vordergrund. In die Interpretation des Textes fließen eigene Vorkenntnisse und Vorstellungen ein, die ausgetauscht werden können. In der Darstellung unserer Praxiserfahrung folgen wir hier der Entwicklung der Interpretationsaspekte von der vierten zur sechsten Klasse. Zentral gelungen ist die Initiierung des Theologisierens zum Gottesbild in allen Klassenstufen. Erzählstruktur als Anknüpfungspunkt zum Theologisieren: Gott und Welt sind voneinander getrennt (4. Klasse)
Das Gottesbild des Kinderbuches hat die Schüler/innen dazu angeregt, sich über 2 Die Kinder haben die erste biblische Schöpfungsgeschichte auf den Türen des Küchenschrankes sofort erkannt, da sie diese Bilder aus der häuslichen Lektüre der Kinderbibel vor Augen hatten.
Oswald / Steinke-Dörpholz Theologisieren mit Kinderliteratur
ihre eigenen Gottesbilder zu verständigen. Der Gärtner G.Ott entspricht ihren Vorstellungen von Gott, dem Allmächtigen und Fehlerlosen. Ein Gegenüber wie Lobkowitz, eine in sich widersprüchliche Persönlichkeit, ist Gott für die SuS dieser Jahrgangsstufe nicht. Die Erzählstruktur wurde auf der Ebene der Personen nicht in ihrer Verknüpfung, sondern ausschließlich als dualistische Struktur erkannt. Sie machten den Alkohol zum Schuldigen für die missratene Schöpfung. G.Ott und Lobkowitz wurden von ihnen nicht als eine Einheit gesehen, sondern als ein Freundespaar, bei dem Lobkowitz ein Problem mit dem Alkohol hat. Der unkontrollierte Alkoholkonsum war für diese Gruppe der Grund für das Scheitern der AbbildSchöpfung. Dass die Schöpfung erst durch die Ergänzung der beiden Seiten Gottes gelingt, wurde nicht erkannt. Die Schüler/ innen der vierten Klasse konnten eine Idee anhand der Grundstruktur der Erzählhaltung entwickeln, dass es eine Möglichkeit gibt, Paradies und Welt miteinander in Kontakt zu bringen.
Felicia formulierte, dass der Hund das Paradies zu langweilig fand und doch wieder etwas Abenteuerliches erleben wollte. Er sei der Wanderer zwischen den Welten, der mit Lobkowitz und G.Ott befreundet ist und beide Seiten in sich trägt. »Er will zeigen, dass die Welt nicht abgeschlossen ist und man immer wieder zueinander kommen kann.« »Das Paradies
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steht ja offen. Man muss nur losgehen und suchen.« (Julian, 4. Klasse) Gott und Welt werden als getrennte angesehen, da G.Ott als Vertreter des Guten einen Gegenpart, Lobkowitz, den Trinker hat. Beide als Einheit zu sehen, gelang den Kindern der 4. Klasse nicht. So folgt Felicia auch in ihrem Tagebucheintrag dieser Auffassung der Erzählhandlung: »Erster Tag der Abbilder – G.Otts Tagebucheintrag. Heute habe ich sie fortgeschickt. Von wem ich schreibe, fragst du dich? Von den Abbildern (den Menschen), ich war betrunken als ich sie erschuf und sorglos zugleich. Lobkowitz führte meine Hand, doch als sie da waren, war es nicht mehr friedlich in meinem Haus. Sie prügelten, waren bösartig und lachten mich aus, zusammen mit Lobkowitz schickte ich sie raus. Er soll sie lehren zu lieben, den Frieden zu finden und mir erst wieder unter die Augen zu treten, wenn sie freundlich geworden sind. Meine Freunde sollten sie werden, Freunde mit denen man teilen kann (und möchte), Freunde die einen unterstützen und einen nicht hänseln. Doch stattdessen wurden sie das genaue Gegenteil von dem allen. Tja und das war der erste Tag der Abbilder, aber wegmachen kann ich sie nicht.« Die Schuld für die misslungene Schöpfung wird dem Einfluss des Alkohols gegeben und seinem Trinkerfreund Lobkowitz. Gott bleibt an seine Schöpfung gebunden, er ist einsam ohne sie. Damit folgt Felicia der Erzählungsvorgabe. Felicia hinterfragt nicht, warum plötzlich der jahrhundertelange Schöpfungsakt durch ein paar wenige Striche vollendet wird. Die Erzählung lässt das auch offen. »Lobkowitz malte den letzten Strich.« (77) Ohne das Gegenteil wäre die Schöpfung nicht fertig geworden.
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Pädagogische Anregungen
Aber das entging den Kindern der vierten Jahrgangsstufe vollends. Sie folgten lieber der dualistischen Struktur und konnten die Einheit der Gegensätze nicht erkennen. Einzig der Hund erhielt die Option, in beiden Welten unterwegs sein zu können und die Gegensätze einander näherbringen zu können. Die Schüler/innen der vierten Klasse haben sehr gerne zu der Erzählung gemalt, um ihre Vorstellungen zum Ausdruck zu bringen. Sie gelangten über die bildliche Vorstellungskraft zu einer Annäherung an die sprachliche Kompetenzerweiterung in theologischen Fragen. Die Aufgabe war, zu malen oder zu schreiben, wie es für Hund bei G.Ott ist. Livia (4. Klasse) malte es so:
Livia zeigt in ihrem Bild die Schöpfungstage auf dem Schrank in G.Otts Gartenlaube und Hund wie ein Mensch auf einem Stuhl sitzend und eine Schüssel mit den Armen berührend. Die Motive der Schranktüren kommen aus ihrer eigenen Kinderbibel. Dieses Bild zeigt, dass Livia Hund als Menschen ansieht und nicht als ein Tier auf vier Pfoten. Seine Fähigkeit des Sprechens gibt ihm natürlich eine menschliche Qualität, doch in ihrem
Bild hat sie einen sitzenden Menschen mit Hundekopf und schwarzem Fell gemalt. Gerade in den Bildern der jüngeren Kinder finden sich immer wieder gute Anknüpfungspunkte, die (bildlichen) Vorstellungen sichtbar und ausdrückbar zu machen. Anknüpfungspunkt Gottesbild: Gott ist außen und innen (5. Klasse)
Die differenzierte Sichtweise auf Gott als in sich widersprüchlich regte die Fünftklässler/innen zu einer intensiven Auseinandersetzung mit ihren Gottesbildern an. Das unterrichtliche Arrangement sah vor, dass sie Notizen zum Bild von G.Ott in der Erzählung machen sollten. Diese vorbereitende Hausaufgabe hat sie nicht interessiert. Sie wollten sich darüber auseinandersetzen, wie ihre eigenen Gottesbilder sind und worin sie sich unterscheiden. Ein Ausschnitt aus einem Unterrichtsgespräch sei hier wiedergegeben: Oscar: »Also ich hab ihn mir, bevor wir dieses Buch gelesen haben, also als ich auch noch kleiner war, hab ich mir früher so vorgestellt, dass er also so ein Licht ist, der so auf die Erde hinab scheint und halt aber, er wird von den Wolken dann verdeckt.« Linus: »Ja, so hab ich ihn mir auch immer vorgestellt.« Oscar: »Also dass er so über den Wolken dann im Himmel ist.« Linus: »So ein riesen Lichtgeist.« Oscar: »Und dann so die Engel dienen.«
Die Schüler/innen haben das Thema Gottesvorstellung selbst gewählt, weil sie sich darüber noch nie miteinander aus-
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getauscht hatten. Es ist ein Tabuthema, über das nicht auf dem Schulhof gesprochen wird. Der geschützte Raum des Religionsunterrichts wurde von ihnen mit großer Freude genutzt, sich wertschätzend und neugierig über ihre Gottesvorstellungen auszutauschen. Dabei lösten sie sich schnell von der Textgrundlage und beschritten die Metaebene. Das ganze Gespräch dauerte über fünfzehn Minuten und wurde mit großer Ernsthaftigkeit geführt. Hier zeigte sich deutlich, dass die Erzählung geeignet ist, das Theologisieren zu initiieren. Im Gegensatz zur vierten Klasse hatte die fünfte Klasse erkannt, dass Gott und Lobkowitz eine Person sind, als die Entscheidung getroffen wird, Abbilder von uns (62) zu schaffen. Für die vierte Klasse blieben sie ein Team von Freunden, bei dem der eine durch seinen Alkoholismus nicht fehlerlos sein konnte.
schen das Richtige tun. Aber wie soll man Mitgefühl lernen?« Diese Anfrage an die Erziehungsfähigkeit des Menschen als einen Weg ins Paradies hat die Klasse diskutiert, ohne zu einem abschließenden Ergebnis zu gelangen. Gott geht mit den Menschen mit und lehrt sie, das Rechte zu tun. So interpretierte Jan-Erik das Handeln Jesu als mit dem Auftrag G.Otts an Lobkowitz vergleichbar: »Du wirst nicht eher ruhen, bis sie wissen, was Recht und was Unrecht ist! Du wirst nicht eher ruhen, bis du sie wirklich zum Abbild gemacht hast!« (80). Jan-Erik: »Ist das nicht so wie bei Jesus. Er hat eine Botschaft von Gott und zeigt, was richtig ist. Dafür wird er verfolgt. Er tut Gutes, wie sein Vater.«
Lasse: »Ich wollte auch sagen, dass er sich vielleicht so teilen kann. Aber dass halt trotzdem er, also dass er, also dass ganz viele den Garten machen und er trotzdem noch die Namen aufschreibt und dann aber trotzdem die Last von allen, die was machen, trotzdem auf ihm hängenbleibt, weil er es ja macht.«
Die Gegensätzlichkeit von Welt und Paradies wurde auch im Zusammenhang mit der Verfassung der Abbilder diskutiert. Die Fünftklässler/innen erkannten schnell, dass die Abbilder von G.Ott und Lobkowitz schon widersprüchlich sein müssen. Auch hier zeigte sich, dass die initiierte differenzierte Strukturanalyse zu einer differenzierten theologischen Argumentation führte. Sie entwickelten das folgende Tafelbild als Konstruktion der Abbilder: G.Ott – geduldig, fleißig, Vegetarier; Lobkowitz – ungeduldig, Trinker, Ideen. Für die Schüler der vierten Klasse war dies keineswegs zu erkennen. Das Gottesbild von Lasse, das große Zustimmung in der Klasse gefunden hat und das er mit einem eigenen Text versehen hat, sei hier aufgeführt:
Erstaunlich war, dass die Möglichkeit, dass Gott auf der Erde ebenfalls tätig ist und nicht nur im »Himmel« oder im fernen »Paradies«, für die Kinder diskussionswürdig war. Leidet Gott mit seiner Schöpfung, die es nicht schafft, aus sich heraus das Gute zu tun? Wird der Mensch jemals lernen, nur das Gute zu tun? Diese Frage stellten sich die Fünftklässler/innen nicht mehr. Oscar konnte einen Weg ins Paradies jedoch ausmachen: »Man muss wohl das Mitgefühl lernen, damit Men-
Differenziertes Gottesbild führt zu differenziertem Menschenbild
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Pädagogische Anregungen
Anknüpfungspunkt offener Schluss: Rückkehr ins Paradies durch den Glauben (6. Klasse)
Die Idee, das offene Ende der Erzählung zu schließen, hatten die Schüler/innen der 6. Klasse. Sie hatten zwanzig Minuten Zeit, um einen passenden Schluss zu der Erzählung zu schreiben. Alle siebzehn Jungen und Mädchen waren sich darin einig, dass die Geschichte ein gutes Ende nehmen muss. Exemplarisch hier der Vorschlag von Bastian: »Am nächsten Morgen starteten sie. Sie liefen lang, sehr lang und fanden die Tür und redeten mit Ötte und er fing an zu weinen, als er den Hund sah. »Kommt er zurück, kommt er endlich zurück?« fragte Ötte. »Wir waren hier, aber die Pforte war weg«, sagte Hund. »Nein, sie war offen«, sagte Ötte. Sie wunderten sich. Hund und Lotta und Prinz
Neumann und sie fanden Lobkowitz und brachten ihn zu seinem einzig wahren Ötte. »Aber jetzt weiß ich, warum ihr sie fandet, aber damals nicht. Ihr wart nicht mit ganzem Herzen rein«, sagte Gott. »Wie, nicht rein?« fragte Hund. »Er war sich nicht sicher, ob ich ihm verziehen hab. Deshalb fandet ihr es nicht.«, sagte G.Ott wieder. »Schön, dich endlich wiederzusehen, Lobkowitz«, sagte Ötte mit Tränen im Gesicht. Lobkowitz konnte nichts mehr sagen, weil er gleich anfing vor Freude zu weinen.«
Der Glaube an die Vergebung ist die Tür, durch die Lobkowitz wieder ins Paradies eintreten kann. Der Glaube öffnet den Schüler/innen ebenfalls die Tür und wird von Bastian als eine Möglichkeit der Rückkehr ins Paradies formuliert. Glaube ist die Voraussetzung für diese Rückkehr. Gott hat vergeben und die Tür geöffnet.
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Fazit
Die Erzählung eignet sich sehr gut, mit Kindern zu theologisieren. Die Struktur der Erzählung mit ihrem Aufbau von Gegensätzen und ihrem Ineinander dieser Gegensätze bietet die Möglichkeit, das Ineinander von göttlicher und irdischer Welt als ein Konzept zu diskutieren und eine theologische Konzeption zu entwickeln. Die schon vorhandenen Vorstellungen werden aktiviert, mit der Konstruktion der Erzählung ins Gespräch gebracht und können im Unterrichtsgespräch oder geeigneten schriftlichen Aufgaben verbalisiert werden. Die Sehnsucht von Hund, der in beiden Welten Aufenthalt nimmt, ist ein wichtiges Moment zum Theologisieren. Eine Heimat bei Gott zu haben, schafft eine Bindung. Doch das Fehlen des jeweiligen Gegenteils lässt Hund zwischen den Welten wandeln. Gegensätze können auch friedlich miteinander leben. »Sie liegen dort Rücken an Rücken, beide zusammengerollt, der Hund und die Katze, und träumen vom Rattenkampf.« (92) Gerade die Erarbeitung der Textstruktur öffnet den Kindern die Möglichkeit, eigene theologische Konzepte zu entwickeln und sich nicht im bloßen Assoziieren von schon mal Gehörtem oder Gelesenem und der (antizipierten) Erwartung der Religionslehrkraft zu ergehen. Geschichten in ihrer Konstruktion zu analysieren, ist gewinnbringend für die Erarbeitung der Metaebene. Damit ist die Entwicklung literarischer Kompetenz im Religionsunterricht fruchtbringend für die Initiierung des Theologisierens als auch für die Vorbereitung einer literarkritischen Sichtweise auf die biblischen Texte, die ja auch »nur« Er-
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zählungen sind, die gebaut sind, um eine Metaebene zu eröffnen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Schüler/innen der Jahrgänge 4 bis 6 unterschiedliche Kompetenzen der Analyse von Textstrukturen mitbringen. So ist es dem 4. Jahrgang möglich gewesen, Gott und Welt als zwei voneinander getrennte Welten zu erkennen und die Welt als das Ergebnis eines Fehlers zu diskutieren. Die komplexe Erzählstruktur des Ineinandergreifens von Transzendenz und Immanenz wurde nicht durchschaut. Anbahnend ist hier jedoch die Figur des Hundes als eines Mittlers zwischen beiden Welten diskutiert worden. Die Kinder blieben hier auf der vordergründigen Handlungsebene und diskutierten von hier aus auch ihre Gottesvorstellungen. Die Schüler/innen des 5. Jahrgangs konnten auf der Ebene der Personenkonstellation erkennen, dass G.Ott und Lobkowitz eine Einheit sind, eine in sich widersprüchliche Figur. Auch die Verbundenheit dieser Schöpfereinheit mit der Welt wurde gesehen. Gott geht in der Gestalt von Lobkowitz mit zu den Menschen, um sie zu lehren. Das Mitgefühl wurde als eine Möglichkeit der Rückkehr ins Paradies gesehen. Bezüge zu anderen biblischen Geschichten konnten sie selbstständig vornehmen. Die Schüler/innen des 6. Jahrgangs erkannten wie die der 5. Jahrgangsstufe die transzendente Größe als in sich widersprüchlich. Als Motor für die Aufhebung des Leides und der Zerstörung sahen sie die Sehnsucht nach der Rückkehr ins Paradies an. Eine solche Rückkehr ermögliche der Glaube, das Vertrauen in Gott. Für sie ist die Tür zum Paradies offen, das sie aber gerne von dem »Fehler« der Widersprüchlichkeit befreit glauben möchten.
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Pädagogische Anregungen
Andreas Nicht Theatrales Theologisieren mit Elementen der Jeux Dramatiques
Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen ist häufig sehr sprachorientiert. Das Reden über theologische Fragestellungen erfordert oft nicht nur allgemein sprachliche Kompetenzen, sondern auch die Fähigkeiten, Symbole und Bilder zu verstehen und sich in sprachlichen Bildern auszudrücken. Was ist möglich, wenn das Theologisieren mit Kindern an sprachliche Grenzen stößt? Wenn entweder sprachliche Einschränkungen vorliegen oder versucht wird, sprachlich Unfassbares oder schwer Fassbares in Sprache auszudrücken? Neben anderen Theaterformen und Zugangsweisen können Jeux Dramatiques Kindern und Jugendlichen Ausdrucksformen bieten, die es ihnen ermöglichen, sich theologischen Gedanken, Texten oder Themen ohne sprachliche Barrieren zu nähern. Was meint theatrales Theologisieren? Theatrales Theologisieren bedeutet, »schwierige« theologische Texte, Sachverhalte, Themen oder Fragen so in Einzelheiten zu zerlegen, dass sie verstehbar werden. Im Spiel oder in kleineren Theaterformen wie Standbildern, Stuhltheater, Erlebnisstationen, Erlebnisplätzen oder -räumen oder Kurzszenen werden sie dann zusammengeführt. Der Text bzw. die Situation entsteht im Theaterspiel neu und wird als Ganzes verstehbar bzw. in einer neuen Dimension erschlossen. Gleichzeitig werden die verschie-
denen Sichtweisen der einzelnen an der szenischen Darstellung Beteiligten zusammengebracht. Sie begegnen einander, ergänzen sich oder streiten miteinander. Theatrales Theologisieren ermöglicht dem pädagogischen Begleiter / der pädagogischen Begleiterin sowohl von den Fragen und Antworten der Kinder und Jugendlichen auszugehen als ihnen auch schon vorhandene Antworten von Theologen, Philosophen, Dichtern, der Bibel oder anderen religiösen Schriften (etwa dem Koran) in offener Form anzubieten bzw. nahezubringen. Diese These soll im Folgenden an Beispielen konkretisiert werden. Kinder oder Jugendliche möchten sich zum Beispiel mit der Frage »Wer oder wie ist Gott?« beschäftigen. Unter der Voraussetzung, dass der pädagogische Begleiter / die pädagogische Begleiterin sich theologisch mit Gottesvorstellungen auseinandergesetzt und auch die eigenen Gottesvorstellungen reflektiert hat, stellt sich zunächst die Frage nach den Voraussetzungen der Lerngruppe. Sind die Mitglieder der Lerngruppe in der Lage, eigene Gottesbilder theatral darzustellen, könnten sie sich direkt einzeln mit der Aufgabe auseinandersetzen: »Gestaltet einen »(Spiel)-Platz« so, wie ihr euch Gott vorstellt«. Als Hilfsmittel stehen dabei Tücher und verschiedene Gegenstände zur Verfügung. Mögliche Ideen der
Nicht Theatrales Theologisieren mit Elementen der Jeux Dramatiques
Kinder und Jugendlichen können sein: Fragezeichen, leerer Platz, heller Platz, dunkler Platz, mit vielen Gegenständen (positiv, negativ, gemischt) gefüllter Platz, Platz als Schutzraum, bedrohlicher Platz oder ähnliches. Das Wahrnehmen der unterschiedlichen Plätze (zum Beispiel in einem »Museumsgang«) und der Austausch darüber (verbal, schriftlich, visuell, gebärdensprachlich, mit Mitteln der unterstützten Kommunikation) lässt die Vielfalt der Sichtweisen deutlich werden. Eine Weiterführung / Alternative kann die Gestaltung von Erlebnisstationen sein mit der Aufgabe: »Gestaltet eine Erlebnisstation so, wie ihr euch Gott vorstellt«. Auch hier setzen die Kinder und Jugendlichen ihre Vorstellungen konkret um. Jetzt steht jedoch nicht nur der Wahrnehmungsaspekt, sondern auch der Erlebnis- und Begegnungsaspekt im Vordergrund. Mögliche Ideen können sein: Nähe, Geborgenheit, Schutz, Bedrohung, Gastfreundschaft, Verweigerung, Unfassbarkeit, Verborgenheit, Stille, laute ungewöhnliche Ereignisse und ähnliches. Die Erlebnisstationen können im Ausnahmefall − wenn die Mitglieder der Lerngruppe dazu in der Lage sind − in Kleingruppen gemeinsam gestaltet werden, entweder zu einem gemeinsamen oder zu einem differenten / ambivalenten Gottesbild / Gotteserleben. Erzählerisch angeleitet haben die einzelnen Teilnehmenden Gelegenheit, in einem freien Spiel nach den Prinzipien und Regeln der Jeux Dramatiques die eigene Station und die der anderen zu erleben. Das Erleben/Erfahren der unterschiedlichen Stationen und der Austausch darüber (verbal, schriftlich, visuell, gebärdensprachlich, mit Mitteln der unterstütz-
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ten Kommunikation) zeigen wiederum deutlich die Vielfalt der Sichtweisen. Als nächsten Schritt können, je nach Lerngruppe und Intentionen, Gottesbilder angeboten werden, die im christlichen Kontext, in anderen Religionen oder darüber hinaus – bis hin zu atheistischen Vorstellungen – vertreten werden. Die Mitglieder der Lerngruppe stellen diese dann in Erlebnisstationen dar, erleben sie im gemeinsamen Spiel und reflektieren sie anschließend. Bei Gruppen, denen die freie Entwicklung eigener Vorstellungen Probleme bereitet, empfiehlt es sich, auf die freien Assoziationen zu verzichten und direkt eine Auswahl verschiedener Gottesvorstellungen anzubieten. Neben dem freien Spiel stellt innerhalb der Jeux Dramatiques das Spielen nach Text eine weitere Zugangsform dar. Ein Text, bei unserem Beispielthema möglicherweise ein Psalm, der verschiedene Gottesbilder anbietet, wird auf Rollen hin erforscht und gemeinsam nach den Regeln der Jeux Dramatiques gespielt. Betrachten wir einmal gemeinsam Psalm 23. Je nach Lerngruppe kann die Gruppe möglicherweise erst zum Beispiel durch eine Fantasiereise, durch mehrsinnige Erfahrung von Gegenständen (z.B. Schafe, Wolle, Wasser, Brot, Öl, Blätter, Blüten, Obst, Gegenstände der Bedrohung und ähnliches) oder Bilder für die Schlüsselbegriffe bzw. -situationen des Psalms sensibilisiert werden. Nach dem (mehrmaligen) Hören des Textes wird entweder in der Gesamtgruppe oder in Teilgruppen erarbeitet, welche Rollen im Text erkennbar sind. Rollen können im Sinne der Jeux Dramatiques Personen, Tiere, Gegenstände oder Gefühle sein. Auf Psalm 23 bezogen können erfahrungsgemäß folgende
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Pädagogische Anregungen
Begriffe genannt werden: Begleiter / Begleitung, Wanderer, Hirte, Schaf, dunkles Tal, Bedrohung, Stock (Stecken und Stab), Weg, Baum, Stein, Quelle, Fluss, See, grüne Aue, Teil(e) der grünen Aue, (gedeckter) Tisch, Gastgeber, Gott, Psalmbeter, Ungläubige, Feinde, Haus des Herrn, Leben, Zeit, Zuwendung, Geborgenheit, Angst, Freude, Zuversicht und vieles mehr. In der Phase der Rollenfindung − Wer / Was möchte ich sein? Rollenfestlegung in bis zu drei Runden (Abklärung / Verfestigung des Rollenwunsches) – wählen die Spielerinnen und Spieler ihre jeweilige Rolle aus. Dabei können Rollen mehrfach oder gar nicht belegt werden, alles (Personen, Tiere, Gegenstände, Gefühle) kann gespielt werden. Eine Rolle, die in jedem Spiel angeboten wird und von Bedeutung sein kann, ist die Rolle des teilnehmenden Zuschauers / der teilnehmenden Zuschauerin. Entscheidend ist allein der Wunsch des einzelnen Spielers / der Spielerin. Der pädagogische Begleiter / die pädagogische Begleiterin (auf das Spiel bezogen Spielleiter / die Spielleiterin genannt) sollte Wert darauf legen, dass sich Spieler und Spielerinnen nicht durch Nennung ihres Rollenwunsches durch andere in ihrer Wahl gestört fühlen. Er / sie sollte auch nicht der Versuchung erliegen, Rollen, die er / sie theologisch für wesentlich hält, zu protegieren. Diese beiden Spielregeln sind an dieser Stelle von entscheidender Bedeutung: »Du spielst für dich selber und nicht für Zuschauer wie im Theater.« »Du bestimmst, was und wie du etwas spielen willst.« Das anschließende Verkleiden (Tücher, Gegenstände werden zur Verfügung gestellt) und das Gestalten der Spielplätze gibt den Teilnehmen-
den die Gelegenheit, mit ihrer Rolle in Kontakt zu kommen. Die Vorstellungsrunde: »Ich bin im Spiel … und ich möchte erleben / nicht erleben …« gibt den Spielerinnen und Spielern Gelegenheit, sich mit ihrem Wunscherleben auseinanderzusetzen und ermöglicht den Mitspielerinnen und Mitspielern sowie der Spielleitung, die Bedürfnisse und Vorstellungen der anderen wahrzunehmen und gegebenenfalls zu berücksichtigen. Das Spiel hat einen klaren Anfang und ein klares Ende, das durch einen Gong bzw. eine Klangschale gesetzt wird. Im Spiel gelten die Regeln: »Du spielst so, wie du dich fühlst.« »Du gibst deinen Mitspielern keine Anweisungen.« »Du verbesserst die anderen nicht und lachst nicht über sie.« »Du achtest darauf, dass du keinem Kind wehtust.« (Jede Spielerin / jeder Spieler hat das Recht »Stopp« zu sagen oder ein vereinbartes Stoppzeichen zu geben, wenn die persönlichen Grenzen überschritten werden.) »Du kannst jederzeit Zuschauer/in sein.« Die Spielleiterin / der Spielleiter begleitet durch Erzählen /Lesen des Textes oder nachgehendes Erzählen durch das Spiel. In der ersten Form wird der Text gelesen oder erzählt, langsam und mit Pausen und Wiederholungen, die sich dem Spielfluss anpassen. Beim nachgehenden Erzählen erzählt die Spielleiterin / der Spielleiter den Text frei und greift dabei Spielimpulse einzelner Spielerinnen und Spieler auf, rückt diejenigen in den Blick, die bisher am Rande des Geschehens waren und führt die Geschichte weiter. Bei einem freien Spiel kann sich die Spielleiterin / der Spielleiter ganz auf die Spielideen der Spielerinnen und Spieler beziehen und setzt lediglich kurze Impul-
Nicht Theatrales Theologisieren mit Elementen der Jeux Dramatiques
se, um die Spielenden auf Ideen anderer aufmerksam zu machen. Zudem können Spielidee und Spielregeln in den Mittelpunkt gerückt werden. Außerdem kann die Spielleiterin / der Spielleiter so den Spielfluss steuern, wenn Rechte und Bedürfnisse von Mitspielerinnen und Mitspielern nicht berücksichtigt werden. Bei einer vorgegebenen Geschichte, wie zum Beispiel einem biblischen Text, kommt es darauf an, sowohl der Aussage des Textes gerecht zu werden als auch die Spielimpulse der Spielerinnen und Spieler aufzugreifen und zu würdigen. Bei einem biblischen Text muss der Spielleiter / die Spielleiterin vorher für sich exegetisch klären, welche Tendenzen, Abweichungen, Ergänzungen zum Text zugelassen werden und welche durch das Erzählen nicht unterstützt oder verhindert werden. Das nachgehende Erzählen ist für den Spielleiter / die Spielleiterin eine Gratwanderung zwischen der Aussage des Textes und den Ausdrucksbedürfnissen der Spielerinnen und Spieler. Auf der anderen Seite ermöglicht das nachgehende Erzählen den Spielerinnen und Spielern den Verzicht auf eigene Sprache und damit die Konzentration auf den eigenen Körper, die eigenen Gefühle und Impulse. Das nachgehende Erzählen leitet Spielerinnen und Spieler, führt sie durch die Geschichte und lässt ihnen damit den Raum, sich auf ihre Stimmungen und Gefühle zu konzentrieren und diese im Rahmen der Geschichte auszuspielen. Spieler und Spielerin können sich darauf verlassen, dass die Spielleiterin / der Spielleiter ihr Tun in Worte fasst, soweit sie/er es beobachten kann, und Gefühle ausdrückt, soweit sie wahrnehmbar sind. Durch das nachgehende Erzählen haben die Spielerinnen und Spieler Anteil am
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Spiel der anderen. Sie werden auf die anderen aufmerksam, können auf deren Spiel reagieren, aus dem vereinzelten Spiel wird ein gemeinsames, in aller Freiheit der Einzelnen. Diese Form stellt sehr hohe Anforderungen an die Spielleitung, da diese den Text und die beobachtbaren Gefühle der Teilnehmenden in gleicher Weise zu berücksichtigen hat. Die Entscheidung für eine bestimmte Form der Begleitung im Spiel (texttreues Begleiten / nachgehendes Erzählen) ist abhängig von der Erfahrung des Spielleiters / der Spielleiterin und der Vertrautheit der Lerngruppe miteinander und mit Jeux Dramatiques. Das nachgehende Erzählen hat den Vorteil, dass es Mitspielerinnen und Mitspieler, die zurückhaltend sind, ermutigen kann. Andere, die Probleme mit der Beachtung von Grenzen und Regeln haben, können zu deren Einhaltung angehalten werden. Hier muss jede/jeder seinen eigenen Stil in Bezug auf seine Lerngruppe(n) und deren Bedürfnislage entwickeln und einüben. Bestimmte Texte können außerdem einen bestimmten Stil nahelegen. So kann bei einem Gedicht, einem Lied oder einem liturgischen Text wie einem Glaubensbekenntnis, einem Gebet oder einem Segen durchaus in bestimmten Situationen das texttreue Begleiten angeraten sein. In der sich dem Spiel anschließenden Reflexion geht es um die Inhalte: »Ich in meiner Rolle als … habe erlebt …« (vom eigenen Erleben ausgehen), »Ich habe für mich neu entdeckt / erfahren / erlebt« (Gab es grundlegende/allgemeingültige Erkenntnisse?) und um Regelbeachtung. Dabei sind Äußerungsformen aller Art wie verbal, schriftlich, visuell, gebärdensprachlich, körpersprachlich, mit Mitteln
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Pädagogische Anregungen
der unterstützten Kommunikation, mit Hilfe von Assistenz und ähnliches denkbar und möglich. Da hier das eigene Erleben und die eigene Meinung im Vordergrund stehen, geht es nicht um eine Bewertung von Aussagen. Zunächst ist im Spiel und im Austausch alles richtig (was regelkonform ist). Das persönliche Erleben steht im Vordergrund und die Vielschichtigkeit des gemeinsamen Erlebens ermöglicht erst ein Gefühl für die Vielfalt des menschlichen Lebens. Der Gehalt der Äußerungen ist abhängig von den Lernvoraussetzungen der Lerngruppe allgemein, aber im Besonderen von ihrer Bereitschaft und Fähigkeit, sich auf das Spiel einzulassen. Eine Gruppe, die das Spielen und Körperarbeit gewohnt ist und untereinander Vertrauen und vorurteilsfreie Offenheit aufgebaut hat, wird intensivere Erfahrungen machen, als eine Gruppe, in der dies nicht so gegeben ist. Bezogen auf Psalm 23 konnte mittlerweile eine Fülle von theologischen und lebensbedeutsamen Aussagen gewonnen werden. Zunächst macht das gemeinsame Spiel in der Regel deutlich, dass hier nicht nur das Bild des (guten) Hirten als Gottesbild erkennbar ist, sondern dass in diesem Psalm eine Vielzahl von Gottesbildern enthalten ist. Einige Äußerungen zu Psalm 23 von Teilnehmenden: »Es ist schwer, sich weiter feindlich zu zeigen, wenn einem freundlich begegnet wird.«»In der Gruppe / mit Partnerin oder Partner fällt es leichter, gegen den Mainstream zu arbeiten.«»Oft ist Gott nicht erfahrbar, gerade dann, wenn man ihn am meisten braucht, obwohl er da ist.«»Ich wollte Gott begegnen. Das ist passiert.« »Gott ist wie ein Begleiter.« »Gott begleitet nur, wenn man es auch will.« »Gottes Begleitung spürt man nur,
wenn man dafür offen ist.« »Im Haus Gottes war es langweiliger als am Tisch oder in der grünen Aue.« »Für alle Zeit oder mein Leben lang kann ganz schön lang sein.« »Die Bedrohung (am Tisch) war da, aber sie spielte keine Rolle.« »Im Leben ist alles da, was ich brauche, ich muss es nur nutzen.« In der Weiterarbeit ist die Erarbeitung eines eigenen Psalms 23 denkbar, der der heutigen, eigenen Lebenssituation entspricht. Als Hilfe können dazu aktuelle Übertragungen oder eine Gliederung des Psalms dienen. In ähnlicher Form kann beispielsweise bei der Frage nach dem Sinn des Lebens den Fragen »Was kommt nach dem Leben auf dieser Erde?«, »Warum bin ich so wie ich bin?« und anderen großen Fragen des Lebens vorgegangen werden. Die Aufgabe des pädagogischen Begleiters / der pädagogischen Begleiterin ist es dann, die geeigneten Begriffe bzw. Geschichten und Texte auszuwählen. Theatrales Theologisieren eignet sich ebenfalls zur Erarbeitung von Texten, die sich auf den ersten Blick nur schwer erschließen. So können zum Beispiel die einzelnen Bilder der Bergpredigt, der Feldrede, des Vaterunsers oder von Glaubensbekenntnissen so in Begriffe bzw. Rollen zergliedert werden, dass sie Assoziationen hervorrufen und somit darstellbar werden, entweder als Erlebnisstationen (Spielplätze) oder im Spiel nach Text mit entsprechender Rollenwahl. Die Auseinandersetzung mit den Seligpreisungen führte beispielsweise in einem Spiel zu der Erkenntnis, dass die Seligkeit immer schon da ist, sich im Spielprozess verändert, sich in den einzelnen Seligpreisungen unterschiedlich
Nicht Theatrales Theologisieren mit Elementen der Jeux Dramatiques
darstellt und erst die Gesamtsicht auf alle Seligpreisungen eine erste Erahnung des Begriffs Seligkeit ermöglicht. Die Durchführung theatralen Theologisierens mit Jeux Dramatiques zeigt, dass Kinder und Jugendliche (und auch Erwachsene) dabei zu erstaunlichen Erfahrungen und Deutungen gelangen: »Was unsichtbar (als Gefühl oder Vorstellung) da ist, wird im Spiel sichtbar.« »Es ist ganz schön schwer, Gott zu sein.« »Barmherzigkeit kann auch aufdringlich oder unbarmherzig sein.« »Schutzengel haben es oft nicht leicht.« »Das Karussell des Lebens dreht sich, ob man will oder nicht.« »Das Karussell des Lebens dreht sich manchmal langsam, manchmal schnell.« »Wer voller Hass oder Ärger ist, kann die Liebe (oder andere positive Gefühle) nicht wahrnehmen, obwohl sie da ist.« Da nicht vorhersehbar ist, welche theatral-präsentative Bedeutungsgestalt (das heißt welche konkrete szenische Form) der Text bzw. die Frage oder die Spielidee im Verlauf des Arbeitsprozesses annehmen wird, kommt der Flexibilität des pädagogischen Begleiters / der pädagogischen Begleiterin eine hohe Bedeutung zu. Er / sie muss insbesondere abschätzen können, wie viel Gefühlsintensität den Einzelnen in der Gruppe zumutbar ist. Es ist unabdingbar, ein Klima der Offenheit, des Angenommenseins und der gegenseitigen Wertschätzung zu schaffen und zu erhalten und den Einzelnen/die Einzelne oder die Gruppe in geeigneter Form zu unterstützen, zu ermutigen oder zur Zurückhaltung anzuhalten. Wie verhält es sich bei Teilnehmenden mit verbalen und / oder kognitiven Einschränkungen?
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Beim Spiel bzw. der szenischen Darstellung selbst wirken sich eingeschränkte sprachliche und kognitive Möglichkeiten nicht aus, entscheidend ist die szenische Ausdruckskraft und die Bereitschaft, sich auf die eigenen Gefühle, das gemeinsame Spiel und den Text bzw. die Fragestellung oder das Thema einzulassen. Bei der anschließenden Reflexion gilt es, je nach Voraussetzungen der Lerngruppe, Formen zu finden, die nicht ausschließlich verbaler Art sind. Dies gilt bereits für die fest zu Jeux Dramatiques gehörende Spielreflexion »In meiner Rolle als … habe ich erlebt …« und insbesondere für Überlegungen, ob es zu neuen Erkenntnissen zu den großen Fragen des Lebens gekommen ist. Eine Hilfe kann sein, bei der Reflexion die Spielstätten / Spielplätze / Erlebnisstationen zunächst zu erhalten und durch gezielte Impulse den Einzelnen / die Einzelne anzuregen, das Erlebte zu zeigen bzw. darzustellen. Einige Impulse seien hier in Anlehnung an Petra Freudenberger-Lötz aufgeführt:1 »Was war wo, wie besonders intensiv für dich?« »Was ist dir leicht gefallen?« »Was ist dir schwer gefallen?« »Was hat dir Spaß gemacht?« »Was hat dich traurig gemacht?« »Was hast du erfahren, was neu für dich war?« »Stellt eine Kerze dahin, wo ihr Gott besonders erfahren habt.« »Legt ein ›?‹ dahin, wo ihr Gott gar nicht gespürt habt.« »Versucht eure Gefühle mit farbigen Tüchern auszudrücken.« »Versucht das, was ihr erlebt habt, mit Lach- / Weingesichtern 1 Vgl. Petra Freudenberger-Lötz, Jeux Dramatiques und Theologisieren mit Kindern, in: A. Braner, Hinterm Bibeltor geht’s los. Biblische Geschichten erleben im Ausdrucksspiel, Göttingen 2011, 25–32.
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Pädagogische Anregungen
oder Gefühlsbildern oder biblischen Stellfiguren auszudrücken.« »Versucht das, was ihr erlebt habt, in einem Bodenbild / Standbild / einer Kurzszene auszudrücken.« »Was möchtet ihr bei einem nächsten Spiel erleben?« Diese und andere Impulse können Anregungen dazu geben, in einem nächsten Spiel oder anderen Weiterführungen Eindrücke zu vertiefen, zu ergänzen oder ganz andere Erfahrungen zu machen. Eine weitere Möglichkeit ist es, ein freies Spiel oder ein Spiel nach Text mit anderer oder gleicher Rollenwahl erneut zu spielen (zu wiederholen wäre der falsche Begriff, weil selbst bei gleicher Rollenwahl ein völlig neues Spiel entsteht). Theologisieren an sich findet nicht erst in der dem Spiel nachfolgenden Reflexion statt. Schon im Spiel selbst erfolgt Theologisieren durch die spielerische Darstellung. Dies geschieht jedoch »nur« ›by heart‹, für den Einzelne / die Einzelne in sich erlebbar, für Außenstehende möglicherweise zu erahnen, aber nicht überprüfbar. Manchmal, wenn ein Spiel für die Teilnehmenden besonders intensiv war, kann es sinnvoll sein, die Erlebnisse eines Spiels ohne eine öffentliche Reflexion einfach stehen zu lassen. Ein meditativer Ausklang, ein nochmaliges Vortragen des Textes kann dann die Teilnehmenden dabei unterstützen, ihre im Spiel entstandenen inneren Bilder mitzunehmen und zu bewahren. Hier ist es eine Aufgabe der Religionspädagogik, Ausdrucksformen des Theologisierens über Verbalsprache hinaus stärker in den Blick zu nehmen und als gleichwertig zu akzeptieren. Theologisieren ist nicht nur eine Angelegenheit des Kopfes und der verbalsprachlichen Kommunikation, sondern des ganzen Menschen.
Der pädagogische Begleiter bzw. die pädagogische Begleiterin hat während des Spielprozesses und der Reflexion verschiedene Aufgaben. Während des Spiels versucht er / sie, die Intentionen der Spielerinnen und Spieler aufzunehmen und durch die entsprechende Begleitung zu unterstützen (bzw. bei Gewalt oder Einflussnahme einzudämmen). Im Reflexionsprozess nimmt er / sie die unterschiedlichen Empfindungen / Deutungen wahr, bringt sie miteinander in Beziehung, strukturiert / visualisiert sie und setzt neue Impulse. Didaktisch / methodisch hinterfragt, lässt Jeux Dramatiques eine sinnvolle Problemstellung zu, hat einen hohen Lebensbezug, ermöglicht Reflexion von Glaubenspraxis und -theorie und fördert den Erwerb von Sozial-, Methoden-, Deutungs- und Sprachkompetenz. Theatrales Theologisieren mit Jeux Dramatiques steht mit den Grundsätzen der Kinder- und Jugendtheologie im Einklang.2 Es sieht Kinder als Subjekte, ist subjektorientiert, geht von einem weiten Theologiebegriff aus, zielt auf die Förderung einer theologischen Frageund Argumentationsfähigkeit, führt zu Anknüpfungen an bisherige religionspädagogische Fragestellungen, eröffnet Zugänge zur jüdisch-christlichen Tradition und setzt nicht nur auf das gemeinsame Gespräch, sondern verwendet bevorzugt theaterpädagogische und gestaltpädagogische Elemente. Theatrales Theologisieren mit Jeux Dramatiques ist nicht Jeux Dramatiques 2 Vgl. Friedrich Kraft / Martin Schreiner, Zehn Thesen zur Kindertheologie, in: theo-web 1/2007, 21–24.
Nicht Theatrales Theologisieren mit Elementen der Jeux Dramatiques
in deren ursprünglichen Form und Zielsetzung. Vielmehr werden hier Elemente, Sichtweisen, Menschenbild und Regeln der Jeux Dramatiques reflektiert in einen religionspädagogischen Kontext eingesetzt. Oft wird nach einer Abgrenzung zu anderen religionspädagogischen Ansätzen wie zum Beispiel dem Bibliodrama gefragt. An dieser Stelle kann dies nicht abschließend beurteilt werden, da es im Bibliodrama unterschiedliche Ansätze und Schwerpunkte gibt. Ein großes Spiel im Bibliodrama kann im Spielprozess durchaus einem Jeu nach Text sehr ähnlich sein. Die Wurzeln und schwerpunktmäßigen Intentionen sind jedoch andere. Wolfhard Schweiker hat dargestellt, dass Jeux Dramatiques eine Methode ist, die in einem inklusiven Religionsunterricht ihren Platz hat.3 Die verschiedenen Zugangsweisen (basal-perzeptiv, konkret gegenständlich, anschaulich, abstrakt begrifflich) werden hier eingesetzt und ermöglichen ein zieldifferentes Unterrichten. Theatrales Theologisieren mit Jeux Dramatiques bietet Chancen und beinhaltet Risiken: Durch die Handlungsorientierung sind alle Schüler erreichbar. Wer sich sprachlich und schriftlich nicht äußern kann, erhält die Möglichkeit sich mimisch, gestisch oder nonverbal auszudrücken. Es werden soziale, emotionale, kognitive Zugänge eröffnet (= ganzheitlicher Ansatz) und mehrkanaliges, projektorientiertes und damit nachhaltiges Lernen ermöglicht. Fächerverbindungen sind möglich bzw. wünschenswert. Allerdings gilt auch: Die Schüler brauchen zunächst ein Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten (»Wie lassen sich Gefühle z.B. über Standbilder ausdrücken?«).
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Vorübungen / kleine Elemente sind notwendig (»warming up«). Theaterpädagogisches Vorgehen benötigt viel Zeit. Theatrales Theologisieren mit (Elementen der) Jeux Dramatiques stellt hohe Anforderungen an die (allgemein pädagogischen und methodischen) Kompetenzen des Spielleiters / der Spielleiterin. Wissenswertes zur Methode der Jeux Dramatiques4
Jeux Dramatiques (franz.: Dramatische Spiele oder Ausdrucksspiel aus dem Erleben heraus) ist eine Ausdrucksform innerhalb der Theaterpädagogik. Es ist in Gruppen fast jeden Alters einsetzbar und eignet sich für die Arbeit mit Kindern, für Erwachsene sowie für die Arbeit mit heterogenen Gruppen. Das inhaltliche Ziel ist das Spielen eines Textes oder das Spiel zu einem Thema, für die Gruppe und nicht für von außen kommende Zuschauer. Die unterschiedlichsten Texte bieten sich hier an: z.B. Märchen, biblische Geschichten, selbstverfasste Geschichten, Bildergeschichten, literarische Texte wie Gedichte und Kurzgeschichten, Traumtexte o.ä. Darüber hinaus sind thematisch offene Spiele (in der Sprache der Jeux Dramatiques »freie Spiele«) denkbar (wie zum Beispiel »Am Strand«, »Auf dem Marktplatz in Jerusalem«, »Ein Tag im Leben einer Tagelöhner-Familie 3 Vgl. Wolfhard Schweiker, Arbeitshilfe Religion inklusiv, GS und Sek I, Basisband: Einführung, Grundlagen und Methoden, Stuttgart 2012. 4 Vgl. Arbeitsgemeinschaft Jeux Dramatiques (Hg.), Ausdrucksspiel aus dem Erleben, Bern 1984 und Heidi Frei, Jeux Dramatiques mit Kindern 2, Bern 1990.
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Pädagogische Anregungen
in Galiläa«) oder auch das Spielen von Bildern oder Symbolen. Es wird bewusst auf das Einüben von Texten, Rollen, Ausdrucksformen verzichtet. Die Spielerinnen und Spieler spielen spontan, nachdem sie sich möglichst unbeeinflusst ihre Rolle gewählt haben. Zum Verkleiden stehen bunte Tücher, Hüte, Bänder etc. zur Verfügung. Diese Dinge erleichtern das Hineinversetzen in die gewählte Rolle. Da der Text von dem Spielleiter / der Spielleiterin während des Spiels begleitend gelesen bzw. erzählt wird, entfällt das Auswendiglernen und Sprechen eines Textes für die Spielenden. Somit bleibt Freiraum für die Fantasie, das intensive Erleben und die individuellen Ausdrucksmöglichkeiten der Einzelnen. Im Spiel gibt es kein »richtig« oder »falsch«! Jede/r spielt so, wie er / sie sich in diesem Moment in der Rolle fühlt. Eine anschließende Reflexion, in der sich die Teilnehmenden einzeln zu ihren Erlebnissen in ihrer Rolle nach ihren Möglichkeiten äußern und in der auch die Beachtung der Spielregeln hinterfragt wird, beendet die jeweilige Spieleinheit. Voraussetzung für das Gelingen dieser Form des Theaterspiels ist eine annehmende Atmosphäre und das Einhalten der Spielregeln. Soziales Verhalten, Eigenverantwortlichkeit, Konzentrationsfähigkeit und die Fähigkeit, Bilder im Kopf zu entwickeln, werden im Spiel fast »nebenbei« gefördert. Die Erfahrung, dass es kein »richtig« und »falsch« gibt, dass verschiedene Darstellungsmöglichkeiten gleichberechtigt nebeneinander stehen, fördert die Akzeptanz und das Verständnis für andere Menschen und führt zu einer Erweiterung des eigenen Wahrnehmungs- und Deutungshorizontes.
Die eigene Fantasie wird geweckt oder erweitert, die Verantwortung für das eigene Handeln und Empfinden gefördert. Gleichzeitig bietet das Ausdrucksspiel die Möglichkeit, innere Spannungen und/oder aufgestaute Aggressionen im selbstvergessenen, scheinbar zweckfreien Spiel abzubauen. Die ständige Reflexion des eigenen Erlebens und der Beachtung der Spielregeln befähigt die Spielerinnen und Spieler mit der Zeit, auf ihre Mitspieler/innen Rücksicht zu nehmen, so dass Übergriffe und Verletzungen vermieden werden können. Darüber hinaus ist es Aufgabe der Spielleiterin/des Spielleiters, durch die Spielbegleitung Eskalationen zu vermeiden. Die Spielregeln in den Jeux Dramatiques (Formulierungen für Kinder)
1: Du spielst für dich selber und nicht für Zuschauer wie im Theater. 2: Du bestimmst, was und wie du etwas spielen willst. 3: Du spielst so, wie du dich fühlst. 4: Du gibst deinen Mitspielern keine Anweisungen. 5: Du verbesserst die andern nicht und lachst nicht über sie. 6: Du achtest darauf, dass du keinem Kind wehtust. (Jede Spielerin / jeder Spieler hat das Recht »Stopp« zu sagen oder ein vereinbartes Stoppzeichen zu geben, wenn die persönlichen Grenzen überschritten werden.) 7: Du kannst jederzeit Zuschauer/in sein. Der Spielaufbau in den Jeux Dramatiques
Spielvorbereitung: Text erzählen oder vorlesen bzw. Begriffe / Spielplätze bestimmen; Benennen möglicher Rollen und Spielorte; Wer / Was möchte ich sein?
Nicht Theatrales Theologisieren mit Elementen der Jeux Dramatiques
Rollenfestlegung in bis zu drei Runden (Abklärung / Verfestigung des Rollenwunsches); Rollen können mehrfach oder gar nicht belegt werden; alles (Personen, Tiere, Gegenstände, Gefühle) kann gespielt werden; Festlegung der Spielorte; Verkleiden, Spielorte gestalten; Vorstellungsrunde: »Ich bin im Spiel … und ich möchte erleben (nicht erleben) …« Spiel: Gong als Zeichen für Anfang und Ende; Anleitung durch Spielleitung (begleitendes Erzählen); im Spiel konzentrieren sich die Teilnehmer/innen
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auf ihre nichtsprachlichen Ausdrucksformen; Sprache wird nicht als Kommunikationsmittel eingesetzt, sondern nur als unterstützende Ausdrucksform bzw. Signal (Ruf um Hilfe, immer wiederkehrende Aufforderung, o.ä.). Reflexion: »Ich als … habe erlebt …« (Vom eigenen Erleben ausgehen); Regelbeachtung (Wie haben wir die Regeln beachtet, wo gab es Regelverletzungen?); »Ich habe für mich neu entdeckt / erfahren / erlebt …« (Gab es grundlegende / allgemeingültige Erkenntnisse?).
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Pädagogische Anregungen
Dirk Schliephake Erfahrungsorientiertes Bibel erzählen – ein Bericht
1. Von erzählender Theologie zum theologischen Erzählen
Jahrelange Erfahrungen mit dem Bibel erzählen belegen, dass theologisch hand- und mundwerklich gut vorbereitete und erzählte Bibelgeschichten als »erzählende Theologie« theologische Gespräche mit Kindern erleichtern und intensivieren und Kinder zum eigenen theologischen Erzählen stark ermutigen, denn Erzählen wirkt − oftmals tiefer und emotionaler als vorgelesene Texte, betrachtete Bilder oder Filme. Erzählen wirkt in Leib und Seele, in Herz und Kopf. Fremde Erfahrungen begegnen hier eigenen Erfahrungen. Erfahrungsräume werden erweitert und neue Räume eröffnet für neue Perspektiven und andere Haltungen. Die Hebräische Bibel und das Neue Testament sind reich gefüllt mit wundervollen Beispielen dieser erstaunlichen Wirkkultur des freien Erzählens1. Menschen erzählen dort von ihren bewegenden Lebenserfahrungen, in denen der Gott Israels spürbar, erlebbar, erfahrbar wurde. Sie erzählen von überraschenden Gotteserfahrungen, die das eigene Leben, den eigenen Glauben und das eigene Handeln bleibend verändert, gestärkt und erneuert haben. Im Erzählen dieser emotionalen Erfahrungsgeschichten wendet sich der Erzähler nicht nur seinen Zuhörern zu, sondern in, mit
und unter dem freien Erzählen wird die menschenfreundliche Zuwendung Gottes gegenwärtig erfahrbar. Erzählen ist nicht nur eine wesentliche Grundform menschlicher Kommunikation, sondern die biblische Kommunikationsform des Evangeliums.2 Bibel erzählen ist erzählende Theologie und erzählende Diakonie. Sie nimmt Menschen mit auf den heilsamen Weg Gottes mit seinen Menschen. Bibel erzählen stärkt die Kompetenz der eigenen Imagination3, fördert Empathie, öffnet ethische und diakonische Handlungs-
1 Diese wurde im Zuge der Verschriftlichung zur »erzählten Theologie«. Durch Bibel Erzählen als ästhetische Neuinszenierung des erzählten Textes wird dieser neu zu einer »erzählenden Theologie und Diakonie«. Der Exodus des Volkes Israel aus der Sklaverei wird beim Pessachfest in jüdischen Familien Kindern so erzählt, als geschehe der Auszug in dieser Nacht und alle Anwesenden wären hier und jetzt mit dabei. Vgl. Kathrin Klausing / Erna Zonne (Hg.), Religiöse Früherziehung in Judentum, Islam und Christentum, Frankfurt a.M. 2014. 2 Vgl. Christian Grethlein, Erzählen als Kommunikationsform des Evangeliums in der neueren Theologie und Religionspädagogik, in: Monika E. Fuchs / Dirk Schliephake (Hg.), Bibel erzählen, Neukirchen-Vluyn 2014, 89–102. 3 Vgl. Martin Steinhäuser, Imagination. Studien zu Theorie und Wirksamkeit der Vorstellungskraft in Prozessen religiöser Bildung, Berlin 2011.
Schliephake Erfahrungsorientiertes Bibel erzählen – ein Bericht
möglichkeiten4. Und Bibel erzählen för dert dadurch das theologische Erzählen von Kindern beim Theologisieren5. Diese außerordentliche Bedeutung und Wirkung des Bibel Erzählens für das Theologisieren wird im Folgenden konkretisiert. Wesentliche Regeln einer biblisch orientierten Mund- und Handwerks-Erzählkunst und einige bewährte Möglichkeiten, von dem Bibel erzählen in theologische Gespräche einzusteigen, werden vorgestellt. 2. Bibel erzählen und seine Wirkungen
Biblische Geschichten sind zunächst Lebensgeschichten , emotional bewegende Erfahrungsgeschichten. Menschen erfahren miteinander und untereinander Rettung und Befreiung, Vergebung und Liebe, aber auch Verrat und Gefangenschaft, Flucht und Hass. Wenn sich Erfahrungssituationen wiederholen, oder »Innere Bilder« durch das Erzählen von Familiengeschichten, Märchen oder Bibelgeschichten wieder aktiviert werden, reagieren Menschen darauf, wie sie als Kind reagiert haben, aber je auf unterschiedliche Weise. Löst die Erzählung von der großen Flut (Genesis 6–8) bei einem Kind das starke Gefühl von Nähe und Geborgenheit aus – »Ich fühle mich geborgen in der Arche wie Noah und seine Familie« – fühlt ein anderes Kind zutiefst erschreckendes Mitleid – »Was ist mit den vielen Tieren und Kindern, die in der großen Flut ertrinken?«. Beide Gefühlsreaktionen – Nähe oder Distanz – haben ihren Grund in konkreten Erfahrungen der frühen Kindheit. Besonders in theologischen Gesprächen im Anschluss an eine erzählte Bibelge-
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schichte kommen diese verschiedenen Wirkungen zur Sprache.7 Qualifizierte Bibelerzählerinnen und -erzähler rechnen heute mit sehr unterschiedlichen Wirkungen ihrer Erzählung und versuchen jegliche Wertung zu vermeiden. Sie wertschätzen jede sprachliche und kreative Äußerung von Kindern in ihrer Einmaligkeit und verzichten auf jede Pädagogisierung einer Bibelerzählung. Sie stellen den erzählten Bibeltext in einen weiten Raum der Wirkungen. Sie vertrauen, dass der Heilige Geist mit seiner Kraft in den Kindern wirkt, wo und wie er will. Das Zentrum für Qualitätsentwicklung im Gottesdienst, eine Einrichtung der Evangelischen Kirche Deutschlands im Michaeliskloster Hildesheim, hat ein Modell der vier Wirkfelder eines Gottesdienstes entwickelt.8 Diese vier Wirkfelder können auch auf alle einzelnen Elemente eines Gottesdienstes bezogen werden. Auch und besonders für die Kommunikationsform des Evangeliums: Bibel erzählen. Anhand einiger Beispiele werden die vier Wirkfelder mit ihren antipolaren Wirkungen kurz vorgestellt. 4 Vgl. Bernd Wannenwetsch, Leben im Leben der Anderen. Zur theologischen Situierung und Pointierung der narrativen Dimension der Ethik in der angelsächsischen Diskussion, in: Marco Hofheinz / Frank Mathig / Matthias Zeindler (Hg.), Ethik und Erzählung. Theologische und philosophische Beiträge zur narrativen Ethik, Zürich 2009, 93–112. 5 Vgl. Frieder Harz, Bibel erzählen bei Kindern – psychologische Perspektiven und didaktisches Potential, in: Bibel erzählen (wie Anm. 2), 155–167. 6 Vgl. Martina Steinkühler, Bibelgeschichten sind Lebensgeschichten. Erzählen in Familie, Gemeinde und Schule, Göttingen 2011. 7 Vgl. Dirk Schliephake, Theologisieren im Kindergottesdienst, Hildesheim 2014. 8 Vgl. Folkert Fendler / Christian Binder, Gottesdienst wirkt! Die Wirkfelder des Gottesdienstes entdecken und gestalten, Hildesheim 2014.
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Pädagogische Anregungen
Wirkfeld existentielle Erfahrung: zwischen Lebensfreude und Lebensernst
Das »Sehen-können« von Bartimäus (Mk 10,46–52) wirkt in einigen Kindern besonders stark. Sie freuen sich mit Bartimäus und zählen alles auf, was er jetzt mit Jesus zusammen sehen und erleben kann. Ein Kind meint: »Nun kann er sehen und freut sich. Aber seinen alten Vater Timäus lässt er ganz allein in Jericho zurück.« Wirkfeld Handlungsorientierung: zwischen Selbstsorge und Nächstenliebe
Nach der Erzählung von dem Gelähmten und seinen vier Freunden (Mk 2,1–12) identifizieren sich einige Kinder mit dem gelähmten Jungen: »Klasse, dass er solche tollen Freunde hat, die alles für ihn tun. Solche Freunde brauche ich auch!« Andere finden die vier Freunde cool: »Die trauen sich was, um ihren Freund zu Jesus zu bringen. So mutig will ich auch werden und für andere den Weg freimachen. Geld spielt keine Rolle!« Wirkfeld Sinnorientierung: zwischen Selbsterkenntnis und ewiger Wahrheit
Nach der Erzählung von Paulus und Silas im Gefängnis (Apg 16,23–40) äußerte sich ein Kind: »Die beiden mussten für ihren Glauben ganz schön viel Leid ertragen. Vielleicht gehört das zum Glauben, dass die Menschen einem böse sind.« Ein anderes Kind meinte: »Wow, Gott hat die beiden aus dem Gefängnis geholt. Echt starker Gott. Der lässt seine Leute nicht im Stich.«
te in der Höhle.« Neben dieser Nähe wirkt die Erzählung (1. Sam 24,1–23) bei einem anderen Kind eher distanzierend: »Voll fies, dieser David. Hält dem Saul dieses abgeschnittene Mantelstück hin, nur damit er groß rauskommt und Saul ganz eingeschüchtert ist. So ein blödes Spiel.« Mit solchen unterschiedlichen Wirkungen innerhalb der vier Wirkfelder ist bei jeder gut erzählten Bibelgeschichte zu rechnen und zwar immer dann, wenn sich die emotionalen Beziehungserfahrungen in einer Bibelerzählung mit den oft unbewussten gespeicherten biographischen Erfahrungen der einzelnen Kinder und Mitarbeitenden begegnen. Eben diese Erfahrungsvielfalt und Erfahrungsstärke in unterschiedlichen Wirkfeldern, die eine erzählte Bibelgeschichte auslöst, ist gerade in der Gestaltung theologischer Gespräche wahrzunehmen und wertzuschätzen. Die vier Wirkfelder bieten zudem eine großartige Möglichkeit, diejenigen Wirkfelder, die beim Theologisieren besonders diskutiert werden sollen, bewusst in der Erzählkonzeption einer biblischen Geschichte zu berücksichtigen. 3. Erzählmundwerk und Erzählhandwerk
Damit eine erzählte Bibelgeschichte in den vier Wirkfeldern intensiv wirken kann, sind bewährte Erzählregeln zu beachten9.
Wirkfeld Beziehung: zwischen Nähe und Distanz
»Der David wird mir immer lieber. Lässt einfach den König Saul am Leben. Einfach so. Wo er ihn doch leicht umbringen konn-
9 Vgl. Dirk Schliephake, Bibel erzählen praktisch, in: Bibel erzählen, 199ff.
Schliephake Erfahrungsorientiertes Bibel erzählen – ein Bericht
Textbegegnung und Texterarbeitung
Eine intensive und berührende Begegnung mit dem zu erzählenden Bibeltext ist die Basis für ein gelingendes Erzählen. Mit unterschiedlichen Methoden – z.B. Storyboard − wird die Handlungs- und Beziehungsstruktur eines Textes und seiner Szenen sichtbar. Leerstellen im Text öffnen den Blick für emotionale Erfahrungen der handelnden Personen und ermöglichen, den Text kreativ auf eigene Erfahrungen zu beziehen.10 Schließlich folgen zum Beispiel sozialgeschichtliche Entdeckungen in theologischer Fachliteratur.11 Erzählperspektive und Erzählkommunikation
Je nachdem, welches Wirkfeld besonders stark gemacht werden soll, wird die Perspektive der Erzählperson ausgewählt. Nun werden die inneren Bilder des Textes frei erzählt ohne Textvorlage. Mit einer gelesenen oder auswendig gelernten Geschichte wird – so zeigt jahrelange Erfahrung in Bibelerzählkursen − nicht die tiefe Erzählpräsenz entfaltet, die in der aktuellen Kommunikation mit den Hörern entsteht. Erzählzeit und Erzählraum
Klassische Erzählzeit ist die Vergangenheit. Dialoge und Gedanken der handelnden Personen werden hingegen im Präsens erzählt. Entscheidend ist, dass zu Beginn der Erzählung keine Zusammenfassung oder Hinführung in den Text gegeben wird (z.B. »Heute erzähle ich euch die Geschichte, wie Jesus einen Zöllner in die Nachfolge rief«). Nach einem akustischen Signal (Klangröhre, Windspiel) oder dem Anzünden einer Erzählkerze, beginnt der Erzäh-
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ler unmittelbar mit der Erzählung (z.B. »Komm vom Baum herunter, Zachäus!«). Bereits der erste Satz soll einen »Zeitsprung« in die biblische Zeit ermöglichen. Dabei entsteht ein unsichtbarer Erzählraum, der Erzähler und Hörer umgibt. Zwischenfragen und Unterbrechungen beenden leider abrupt die Erzählung, bringen das Erzählzelt zum Einsturz und sind darum nicht gestattet. Erzählweise und Erzählwirkung
Bibel erzählen nach den Leitlinien der Leichten Sprache lässt Zeit für eigene innere Bilder und Emotionen.12 Im engen Erzählradius (1x1m) wird die Erzählung mit Stimme und Körper so inszeniert, dass ein Mitfühlen, Schmecken, Sehen, Hören und Greifen erleichtert wird. Bibel erzählen ist kein Bibeltheater, sondern das Erzählte soll am besten mit geschlossenen Augen »im Kopf« zu sehen sein. Die Erzählung wird mit keiner zusammenfassenden Erklärung (»Jesus erzählte dieses Gleichnis, weil …«), keinem predigtartigen Appendix (»Wir alle sind doch wie Petrus …«) oder einer Kernaussage (»Wir lernen: Gott hat alle Kinder lieb!«) beendet, sondern endet in der Regel offen, so dass sie in den Hörern weiterwirken kann. Nach der Bibelerzählung ist in der 10 Vgl. Uta Pohl-Patalong, Bibliolog. Impulse für Gottesdienst, Gemeinde und Schule, Stuttgart 2009. 11 Vgl. exemplarisch Frank Crüsemann u.a. (Hg.), Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009. 12 Vgl. Jochen Arnold / Anne Gideon / Raute Martinsen (Hg.), Leicht gesagt! – Biblische Lesungen und Gebete zum Kirchenjahr in Leichter Sprache, Hannover 2013; Dirk Schliephake, Kindergottesdienst in Leichter Sprache, Hildesheim 22014.
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Pädagogische Anregungen
Regel keine »Auslegung« oder »Deutung« notwendig. Diese kann die Vielfalt der Wirkungen eher eindämmen. 4. Bibel erzählen als Impuls für theologische Gespräche
Biblische Geschichten sollten in erster Linie als emotionale Beziehungsgeschichten erzählt werden. Gott kommt dabei erst am Ende – zum Beispiel im Bekenntnis einer handelnden Person – ins Spiel: »Noah sagte am Ende der großen Flut: Dass wir gerettet wurden, das war Gott.« Traditionell wird hingegen häufig so begonnen: »Gott schickte eine große Flut.« Dieser Einstieg führt oft zu drei harten Blockaden bei Kindern: Blockade 1: »Kevins Vater sagt: Gott gibt es nicht.« Blockade 2: »Was ist das für ein böser Gott, der Menschen und Tiere ertrinken lässt.« Blockade 3: »Bei Galileo habe ich gesehen: Das war ein Meteorit, der die Flut verursachte.« Bei der neuen, veränderten Perspektive ist die eigene Position viel leichter – am Ende der Erzählung – zu finden und andere Meinungen können besser akzeptiert werden: »Ja, das glaubte Noah. Aber glaubten das auch seine Söhne? Vielleicht hatte Noah Recht? Ob Gott heute auch Menschen und Tiere rettet?« Wenige bewährte Impulsfragen führen relativ schnell in längere theologische Gespräche: Was war für dich das Schönste in der Geschichte? Was war für dich das Wichtigste in dieser Geschichte? Wo ist dein Ort in der Geschichte? Wen möchtest du in der Geschichte begleiten? Auch ein konkretes Aufnehmen der letzten offenen Frage der Erzählung bietet sich an.
Theologische Gespräche können zu Sternmomenten werden, wenn die Person, die diese Gespräche begleitet und moderiert mit den Grundregeln des Theologisierens vertraut ist. Besonders spannend ist es nun, die Äußerungen der einzelnen Kinder mithilfe der vier Wirkfelder wahrzunehmen und zu orientieren und Rückfragen gezielt in Richtung eines Wirkfeldes zu stellen. Das betroffene Kind fühlt sich ernstgenommen und gut begleitet. Gerade Äußerungen jenseits des Mainstreams innerhalb eines anderen Wirkfeldes können so bewusster wahrgenommen und auch ins Gespräch eingebracht werden. Immer wieder sind Bibelerzähler überrascht, welche unterschiedlichen Wirkungen eine einzige biblische Geschichte ermöglicht. Gerade die Vielfalt der wahrgenommenen Äußerungen erweitert den eigenen Erfahrungshorizont von Kindern und öffnet für neue Wirkmöglichkeiten in bislang unbeteiligten Wirkfeldern. Kinder sind oftmals in Gottesdiensten viel offener und bereiter, sich auf theologische Gespräche einzulassen, weil im Gottesdienst als geschütztem Raum jeglicher Zensurendruck entfällt und auch der Druck, vorher festgelegte Ergebnisse zu erzielen. Auch theologische Gespräche können hier lange weiter wirken. 5. Perspektiven
Bibel erzählen und erzählendes Theologisieren korrespondieren intensiv miteinander, wenn die dargestellten und begründeten Erzählleitlinien und auch die Grundregeln des Theologisierens kompetent miteinander ins Spiel gebracht werden. Nicht nur in Gottesdiensten mit
Schliephake Erfahrungsorientiertes Bibel erzählen – ein Bericht
Kindern, auch in Kindertagesstätten und in einem am Bibel erzählen orientierten Religionsunterricht öffnen sich neue Perspektiven, die besonders die Mädchen und Jungen, aber auch Erwachsene begeistern, die durch langweilig vorgelesene und schlecht erzählte biblische Geschichten und pädagogisch verengte Gespräche enttäuscht wurden. Fort- und Ausbildungen zum erfahrungsorientier-
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ten Bibel erzählen und zum kompetenten Theologisieren mit Kindern sind sehr zu empfehlen.13
13 So bietet zum Beispiel das Michaeliskloster in Hildesheim regelmäßig Fortbildungen zum Theologisieren und Bibel erzählen an sowie eine qualifizierte Ausbildung zum / zur Bibelerzähler/in. Vgl. www.michaeliskloster.de.
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Pädagogische Anregungen
Dirk Schliephake Singen wirkt! Zur Nach-hall-tigkeit religiöser Kinderlieder
Dieser Beitrag geht den Fragen nach, wie religiöse Kinderlieder bei Kindern wirken, wie diese Wirkungen im Theologisieren wahrgenommen und wertgeschätzt werden können und wie mit erwarteten Wirkungen theologische Gespräche gestaltet werden können. In einem ersten Schritt werden vier Wirkfelder eines Liedes konkreter betrachtet und grundsätzliche Konsequenzen für ein Theologisieren mit Kindern über religiöse Lieder herausgearbeitet. Schließlich werden Chancen einer didaktisch orientierten Liedauswahl zur Gestaltung theologischer Gespräche erwogen und einige Perspektiven für Kindergottesdienst, Kindertagesstätte und Religionsunterricht eröffnet. 1. Wie religiöse Lieder wirken. Praxisbeispiel: Gottes Engel weichen nie
Das Lied »Gottes Engel weichen nie« wurde 2012 im Liederheft für Kirche mit Kindern 2 veröffentlicht.1 Die einfache, auf Synkopen verzichtende Melodie, aufgeteilt in drei Teile, hat Anklänge an einen Gregorianischen Choral. Im Modus von Call (Vorsänger/in) und Response (Alle) kann das Lied auch ohne Textvorlage sofort mitgesungen werden. Während der Tonsprung zu Beginn von Teil 1 und 2, sowie das hohe D zu Be-
ginn von Teil 3 den himmelweiten Abstand der Engel Gottes von uns Menschen (Transzendenz) aufzeigen, spiegelt Teil 3 das immanente Herabkommen der Engel Gottes (Himmelsleiter) wider. Im zweiten Teil werden bewusst im Sinne einer reformatorischen Theologie biblische Handlungseigenschaften der Engel aufgezeigt, keine ontologischen Wesensbeschreibungen. In der dritten Strophe wechselt die Perspektive auf das NaheSein der Engel bei Gott. Wie wirkt dieses Lied nun konkret bei Kindern? Bekannt ist, dass Lieder und Musik unterschiedlich erlebt werden können. Dabei spielen verschiedene, oft ambivalente emotionale, kognitive und motorische Erlebnisbereiche eine entscheidende Rolle.2 Im Bereich »Gefühl« wirkt Musik zwischen Trauer / Angst und Freude / Zuversicht. Im Bereich »Bewegung« wirkt Musik beruhigend oder anregend. Im Bereich »Verstehen« wirkt Musik in ihrer Einfachheit 1 Das Liederheft für Kirche mit Kindern 2, Hildesheim 32015, 267; Instrumentalversion: CDs zum Liederheft für Kirche mit Kindern 2, 2015. 2 Vgl. Gunther Kreutz, Töne, die gut tun? Kognitive und emotionale Wirkungen von Musik, in: Jochen Arnold u.a. (Hg.), Gottesklänge. Musik als Quelle und Ausdruck des christlichen Glaubens, Leipzig 22014, 143–153. Es sind letztlich die »Wirkungen von Musik, die ihr mutmaßlich Bedeutung verleihen« (143).
Schliephake Singen wirkt! Zur Nach-hall-tigkeit religiöser Kinderlieder
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oder Komplexität. Im Bereich »Erinnerung« wirkt sie zwischen Vertrautheit und Fremdheit. Schließlich wirkt Musik im Bereich der »Imagination« zwischen Fokussierung und Phantasie, im »Begegnungsbereich« isolierend oder gemeinschaftsfördernd und schließlich spirituell im »Bereich des Ergriffenwerdens« zwischen Erschütterung und Faszination.3 Das EKD Zentrum für Qualitätsentwicklung im Gottesdienst im Michaeliskloster Hildesheim hat ein Modell der »vier Wirkfelder eines Gottesdienstes«4 entwickelt. Diese vier Wirkfelder können auf alle einzelnen Elemente eines Gottesdienstes bezogen werden, auch und besonders auf die Musik und Lieder. Anhand des Liedes »Gottes Engel weichen nie« werden die vier Wirkfelder mit ihren antipolaren Wirkungen kurz vorgestellt.
Wirkfeld Handlungsorientierung: zwischen Selbstsorge und Nächstenliebe
Wirkfeld existentielle Erfahrung: zwischen Lebensfreude und Lebensernst
Manche Kinder lehnten Engelvorstellungen ganz ab: »Ich brauche keinen Engel. Ich kann alles alleine schaffen. Außerdem habe ich genug Freunde. Engel sind was für Mädchen.« Ein Junge hingegen strahlte über das ganze Gesicht und sagte: »Gott ist ja gar nicht einsam und allein. Er hat viele Helfer. Ich will auch einer werden. Dann bin ich im Auftrag Gottes unterwegs und super wichtig. Fast wie Gott selbst.«
Einige Kinder fühlen sich beim Theologisieren über dieses Engellied an ihre Krippenspielerfahrungen im Engelchor erinnert. An den fröhlichen Gloriagesang der Engel und die Weihnachtsbotschaft: Fürchtet euch nicht! Andere Kinder hingegen spürten bei diesem Lied den eigenen tiefen Lebensernst. »Ich wünsche mir einen Engel, wie Michael, an meiner Seite. Wenn die anderen mich in der Schule mobben. Einen Engel, der für mich kämpft.« »Martin Luther brauchte auch so einen Hau-drauf-Engel. Jeden Tag betete er: Dein heiliger Engel sei mit mir. Darum konnte er so mutig das Böse ertragen.«
Einige Kinder bezogen das Lied direkt auf eigene Engelerfahrungen: »Ich werde mir als Konfirmationsspruch das Engelwort aussuchen: Gott hat seinen Engel befohlen, dass sie dich behüten!« »An meiner Schultasche baumelt ein Reflektor-Engel. Den gab es im Einschulungsgottesdienst. Der behütet und beschützt mich auf dem Schulweg.« Bei anderen Kindern löste das Lied Erinnerungen in Richtung Nächstenliebe aus: »Im Urlaub hatten wir eine Autopanne. Da kam ein Mann und hat den Motor wieder repariert. Papa sagte: Das war ein gelber Engel. So ein Engel möchte ich auch sein. Aber ein pinker.« Wirkfeld Sinnorientierung: zwischen Selbsterkenntnis und ewiger Wahrheit
3 So aktuelle Erkenntnisse eines Arbeitskreises Kirchenmusik im Michaeliskloster Hildesheim. 4 Folkert Fendler / Christian Binder, Gottesdienst wirkt! Die Wirkfelder des Gottesdienstes entdecken und gestalten, Hildesheim 2014.
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Pädagogische Anregungen
Wirkfeld Beziehung: zwischen Nähe und Distanz
Viele Kinder fühlten sich beim Singen des Liedes ganz nahe verbunden mit intensiven Erfahrungen von Geborgenheit. Ein Mädchen erzählte: »Wir singen am Weihnachtsbaum auch immer so ein schönes Engellied: Alle Jahre wieder. Meine Lieblingsstrophe ist: Geht auch mir zur Seite, still und unerkannt. Ja, Gottes Engel sind ganz nahe, aber sehen können wir sie nicht. Sie verstecken sich, damit wir ihnen nicht wehtun.« Ein Junge erzählte: »Meine Patentante hat mir ein Gedicht von Dietrich Bonhoeffer geschenkt. Das ist richtig stark. Immer, wenn ich Angst habe, vor Mathe oder so, dann lese ich das Gedicht ganz laut und lege die Karte unter mein Kopfkissen. Irgendwie sind dann die guten Mächte ganz nahe bei mir. Die Engelmächte.« Andere Kinder gingen auf Distanz zu dem Lied. »Engel gibt es nicht. Die sind voll kitschig.« »Engel hängen an Ketten und glitzern. Aber wirklich helfen können sie nicht. Nur einer kann das, Superman oder Luke Skywalker.« 2. Die vier Wirkfelder eines religiösen Liedes als Impuls zum Theologisieren
Mit solchen unterschiedlichen Wirkungen innerhalb der vier Wirkfelder ist bei jedem noch so guten oder schlechten religiösen Kinderlied zu rechnen. Wirkungen werden spürbar und kommen
zur Sprache, wenn die emotionalen Beziehungserfahrungen des Textes oder der Melodie eines Liedes den oft unbewussten gespeicherten biographischen Erfahrungen der einzelnen Kinder begegnen und diese neu stimulieren. Eben diese Erfahrungsvielfalt und Erfahrungsstärke in unterschiedlichen Wirkfeldern, die ein Lied auslöst, ist gerade beim Theologisieren und in der Gestaltung inklusiver Gottesdienste mit Kindern oder inklusiver Religionsunterrichtsstunden wahrzunehmen und wertzuschätzen.5 Alle unterschiedlichen Wirkungen haben ihren Grund in konkreten Erfahrungen der frühen Kindheit. Besonders in theologischen Gesprächen im Anschluss an ein gehörtes oder gesungenes Lied können diese verschiedenen Wirkungen zur Sprache kommen bzw. können in unterschiedlichen kreativen Vertiefungen6 sichtbar werden. Qualifizierte Mitarbeitende rechnen heute mit diesen sehr unterschiedlichen Wirkungen von Liedern und versuchen jegliche inhaltliche Engführung und Wertung zu vermeiden. Sie wertschätzen jede sprachliche und kreative Äußerung von Kindern in ihrer Einmaligkeit und verzichten besonders beim Theologisieren in Gottesdiensten mit Kindern auf jede Pädagogisierung eines Liedes. Sie stellen ein Lied in einen weiten 5 Vgl. Dirk Schliephake, Impulse für inklusive Kindergottesdienste, Hildesheim 2012 und ders., Theologisieren im Kindergottesdienst, Hildesheim 2014. 6 Vgl. Bernd Hillringhaus, Im Kindergottesdienst ist alles Rosa!? Ästhetische Zugänge zu biblischen Texten im Kindergottesdienst, KIMMIK-Praxis 51, hg. von Dirk Schliephake, Hildesheim 2013.
Schliephake Singen wirkt! Zur Nach-hall-tigkeit religiöser Kinderlieder
Raum der Wirkungen und vertrauen, dass der Heilige Geist mit seiner Kraft in den Hörenden wirkt, wo und wie er will. 3. Die Wirkfelder eines religiösen Kinderliedes wahrnehmen
Die Qualität eines religiösen Kinderliedes zeigt sich vor allem in seinen Wirkfeldern: in den je individuellen und emotionalen Berührungserfahrungen, die das Lied bewirkt. Um in theologischen Gesprächen diese Wirkungen und ihre je biografische Verwurzelung in emotionalen Berührungserfahrungen bewusst wahrnehmen zu können, sind folgende Fragen hilfreich: Welche Wirkungen habe ich selbst / haben die einzelnen Kinder wahrgenommen, gespürt, erlebt? In welchem Wirkfeld sind diese Erfahrungen verortet? Was hat diese Wirkungen in diesem Wirkfeld bestärkt (Musik / Text / Liedgestaltung / Beteiligung / Raum)? Welche bisherigen Erfahrungen verstärken diese Wirkung bzw. blockieren sie? In welchem Wirkfeld habe ich / haben Kinder neue, überraschende Erfahrungen gemacht? Was hat Gott / meine Gottesbeziehung/ die Gottesbeziehung einzelner Kinder mit diesen Wirkungen zu tun? Wo sind diese Wirkerfahrungen in Bibel, Kirche oder Theologie auch zu entdecken? 4. Die Wirkfelder eines religiösen Kinderliedes didaktisch für theologische Gespräche einsetzen
Die vier Wirkfelder bieten zudem eine großartige Möglichkeit, diejenigen Wirkfelder, die beim Theologisieren in einem
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Gottesdienst oder in einer Religionsunterrichtseinheit verstärkt werden sollen, bewusst in der Vorbereitung auszuwählen und im Ablauf sinnvoll zu verorten. Folgende Fragen unterstützen diese Liedauswahl: Was sollen die Kinder mit diesem religiösen Lied konkret erfahren? Welches Wirkfeld soll besonders zum Tragen kommen? Welche Gestaltungsmöglichkeiten habe ich dafür unter den jeweiligen Rahmenbedingungen eines Gottesdienstes oder einer Unterrichtsstunde? Wie verhalte ich mich gegenüber unerwarteten Wirkungen des Liedes?7 5. Perspektiven für ein qualifiziertes Theologisieren mit religiösen Liedern
Gemeinsam mit Kindern religiöse Lieder singen macht glücklich und verbindet miteinander. Singen hat inklusive und auch salutogenetische Wirkungen, erleichtert den Erwerb religiöser Sprache und gibt gelungene Beziehungsmodelle zwischen Gott und den Menschen an die nächsten Generationen weiter. Singen ist eine Gabe Gottes, ein Trost des Herzens8, eine wesentliche »spielerische« Verkündigungsform des Evangeliums. Theologisieren bietet die große
7 Liedbeispiele für einzelne Wirkfelder finden sich im Liederheft für Kirche mit Kindern 1, hg. von Dirk Schliephake, Hildesheim 92015; Liederheft für Kirche mit Kindern 2, hg. von Dirk Schliephake, Hildesheim 32015. 8 Vgl. Jochen Arnold, Ton der Tiefe. Musik als Gabe Gottes und Trost des Herzens, als Zeugnis von Christus, als Seufzen des Geistes und Botin des Evangeliums, in: Reformation und Kirchenmusik. Das EKD-Magazin zum Themenjahr der Lutherdekade Nummer 4, 2012, 11–15.
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Pädagogische Anregungen
Chance, die vielfältigen je individuellen Wirkungen religiöser Lieder noch intensiver und individueller wahrzunehmen und zu vertiefen. Gerade so kann sich die Lebenswirklichkeit von Kindern, ihre biografische »Gestimmtheit« mit den oft heilsamen Erfahrungen der Lieder verweben und zusammenklingen. Besonders in Kindertagesstätten, Gottesdiensten mit Kindern und im Religionsunterricht
kann durch das Theologisieren mit religiösen Liedern eine seelsorgliche und singende Theologie weiten Raum gewinnen, die lebenslang den Grundton der Kinder prägt. Der reiche Glaubensschatz der alten und neuen Lieder von dem Gott Israels, der Menschen in die Freiheit begleitet, kann Kinder in frohen und schweren Zeiten erreichen und ihre Widerstandskraft nach-hall-tig stärken.
Hillringhaus Erfahrungsbericht über Figurenaufstellungen
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Bernd Hillringhaus Erfahrungsbericht über Figurenaufstellungen
Nachfolgend gebe ich Erfahrungen wieder von einer Figurenaufstellung zu Johannes 5,1–9 (Die Heilung eines Kranken am Teich Bethesda) mit zwölf Kindern im Alter von sechs bis neun Jahren. Aktiv haben sich zehn Kinder beteiligt, zwei Kinder schauten und hörten gespannt zu.1 Ich stehe auf und zünde die Kerze an. Ich öffne die Bibel an der Textstelle Joh 5,1–9 und setze mich wieder. Ich schaue alle Kinder an und beginne: »Das Folgende geschieht in Freiwilligkeit. Ihr könnt euch gerne beteiligen oder aber auch etwas stiller nur da sein und zuhören und zuschauen. Wir befinden uns vor den Toren Jerusalems. Jerusalem war damals mit einer hohen und sehr breiten Stadtmauer umgeben. Habt ihr schon einmal eine alte Stadtmauer gesehen?« Jan: »Ja, im Urlaub, da waren wir in Italien. Da war eine kleine Stadt mit alten Häusern. Und eine hohe Mauer mit einem großen Tor.« »Jerusalem hatte auch solche großen Stadttore. Zwölf große Tore. Die Stadtmauer war mindestens sechs Meter hoch und bestimmt drei Meter breit. Eines der Tore war ein besonderes. Es hieß das Schaftor. Vor dem Tor befanden sich Wasserteiche. Und einige große Hallen. In einem der Teiche wurden Schafe gereinigt und gewaschen. Anschließend wurden diese Schafe durch das Schaftor zum Tempel gebracht und dort geopfert.
Wir wollen jetzt diesen Ort nachbauen. Wir brauchen einen Teil der Stadtmauer Jerusalems und davor einen Teich mit Wasser. Dazu findet ihr hier Steine und Ton. Mit dem Ton formen wir eine Teichfläche mit einem etwas höheren Rand − wie ein Teller. Da hinein schütten wir dann später Wasser. Ihr könnt nun gemeinsam beginnen.« Ich ordne etwas die spontanen schnellen Zugriffe auf das Material auf dem Tisch. Nicht alle wollen sich an der Gestaltung sofort beteiligen. Es sind dann sechs Kinder, die zunächst die Mauer bauen. Drei Kinder beteiligen sich an der Gestaltung des Teiches. Nach Fertigstellung legen wir eine Frischhaltefolie auf den Ton und dichten damit den Ton ab. Anschließend gießen die Kinder Wasser hinein. Mit dem Wasser der Glasschüssel waschen sich die Kinder den Ton von den Händen und trocknen sie mit dem Küchenpapier. Zum Schluss streuen wir den feinen Sand um den gebauten Teich 1 Die Namen der Kinder sind verändert. Die Aufstellung fand im Rahmen eines Kindergottesdienstes statt. Der Tisch und der Stuhlkreis standen in einer Kirche. Nach der Begrüßung, einem Gebet und einem Lied stellten sich die Kinder kurz selbst vor. Vgl. zu Figurenaufstellung insgesamt Bernd Hillringhaus, Im Kindergottesdienst ist alles Rosa!? Ästhetische Zugänge zu biblischen Texten im Kindergottesdienst, KIMMIKPraxis 51, hg. v. D. Schliephake, Hildesheim 2013.
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Pädagogische Anregungen
und bilden einen Sandweg zum Stadttor. Drei Kinder unterhalten sich während der Gestaltung. Ich ordne die Materialien und Stoffsäcke unter dem Tisch. Nun sehen alle die gestaltete Situation. Wir gehen um den Tisch herum, um alles aus verschiedenen Perspektiven wahrzunehmen. Wir sitzen wieder im Kreis. »Der Ort hatte etwas Besonderes! Denn es hieß, dass ab und zu ein Engel des Herrn niederkam. Dann bewegte sich das Wasser.« Dabei stehe ich auf und bewege leicht das Wasser in unserem Teich. »Und wenn dann ein kranker Mensch zuerst in das Wasser stieg, wurde er gesund.« Ich wiederhole diese Sequenz. »Nun könnt ihr euch vorstellen, dass sich an diesem Ort viele Kranke und Bedürftige aufhielten. Sie warteten alle auf den Engel, auf die Bewegung des Wassers. Aber sie wussten nicht, wann der Engel niederkam und das Wasser berührte. Manche warteten eine lange Zeit.« Ich lege dabei eine Tonfigur sehr nahe an die kleine Teichfläche auf die Unterlage aus Karton und kaschiertem Zeitungspapier. »Stellt euch vor, ihr habt einen kranken Menschen in eurer Familie oder im Freundeskreis. Wo würdet ihr diesen hinbringen. Auch an den Teich?« Ann Katrin: »Wenn meine Oma krank wäre, würde ich sie ganz nah an den Teich bringen und mit ihr zusammen auf den Engel warten.« »Ja, du würdest sogar mit ihr am Teich auf den Engel warten? Aber das kann sehr lange dauern, bis der Engel irgendwann wieder herabfährt und das Wasser bewegt!« Ann Katrin: »Ich will meine Oma dann nicht alleine lassen!« »Willst du einen Platz aussuchen? Hier nimm eine Figur. Lege sie an die Stelle, die du für deine Oma am besten findest.« Ann Katrin nimmt die Figur und legt sie eben-
so direkt an das Wasser, aber gegenüber der ersten Figur. »Magst Du deine Oma nicht neben die andere Figur setzen, dann habt ihr doch dann noch jemanden zum Erzählen.« »Nein, meine Oma will bestimmt mit mir zusammen sein.« »Du kannst das ja im Laufe unserer Geschichte wieder ändern. Danke, dass du unser Spiel mitgestaltest.«2 Fabian: »Also: mein Vater ist krank, ich würde ihn sehr nah an den Teich bringen. Ich will, dass er gesund wird.« Fabian bekommt eine Figur und setzt sie sehr nahe an den Teichrand. »Ja, hier kann er schnell in das Wasser kommen.« »Schneller, als die anderen?« Fabian: »Weiß ich nicht.« Er setzt sich wieder und schaut nachdenklich. »Wer möchte noch eine Figur hier in unser Spiel einbringen?« Melanie: »Wenn bei mir jemand krank wäre, würde ich sagen: Hier, das ist ein guter Platz.« Sie zeigt auf einen Stein nahe am Teich. »Auf den Stein?« Melanie: »Ja, dann kann er besser sehen. Wenn der Engel kommt, ist er bestimmt ganz schnell.« Sie setzt ihre Figur auf einen flachen Stein. Das Gesicht der Figur richtet sie zum Wasser und setzt sich wieder. Jan meldet sich. »Ich will auch eine Figur.« »Hast du denn auch einen Platz dafür ausgesucht?« Ich gebe Jan eine weitere Figur. Er setzt sie zielgerecht neben die Figur von Fabian. »Sollen die beiden sich unterhalten und sich gegenseitig helfen?« 2 Ich habe Ann Katrin keine Figur für sie selbst gegeben. Ich wollte an dieser Stelle nicht zu tief mit ihr in das Spiel eintreten. Mir war klar, dass sie von dieser Situation am Teich betroffen und bewegt war. Es gab von ihr Kontakt zu der Geschichte, die sie offensichtlich sehr bewegte. Mit einer Figur für sich hätte ich sie noch tiefer in das Geschehen mit einbezogen.
Hillringhaus Erfahrungsbericht über Figurenaufstellungen
Jan: »Ja, dann wird das für sie nicht so langweilig.« Alex: »Also ich würde da gar nicht warten. Vielleicht kommt der Engel gar nicht mehr.« Ann Kathrin: »Doch der kommt noch, bestimmt!«
Es ergibt sich ein Gespräch über die mögliche Engelankunft. Es beteiligen sich auch Kinder, die keine Figur in der Aufstellung haben. Ich lasse die Kinder sich austauschen. Dann fahre ich fort: »Nun so war das, die Menschen haben gewartet. Nicht einen Tag, nicht nur einen Tag und eine Nacht, zwei Tage, drei Tage und noch mehr. Und es kamen in der Zeit immer mehr Menschen mit Krankheit zum Teich.« Ich lege dabei zwei weitere Figuren an den Teich. Nun liegen sieben Figuren um den Teich. »Was meint ihr, wie geht es den Menschen am Teich? Was denken sie? Was fühlen sie?« Fabian: »Mein Vater wäre bestimmt traurig. Und ich auch. Wenn der Engel nicht kommt, bleibt er krank und wird nicht wieder gesund.« Jan: »Aber wir sind doch hier zusammen. Dein Vater braucht nicht traurig sein.« Alex: »Gesund wird dein Vater nur, wenn er als erster in das Wasser steigt. Aber da sind ja noch andere, die könnten ja schneller sein.« Brigitte: »Vielleicht müsst ihr euch absprechen, wer als erster in das Wasser steigen kann.« »Brigitte, wie kann das gehen?« Brigitte: »Sie können ja losen. Oder wer die schwerste Krankheit hat, der darf als erste ins Wasser steigen.« Fabian: »Nein, das will ich nicht. Mein Vater ist der erste!« Melanie: »Dann rücke ich meine Figur noch näher an den Teichrand.« Sie steht auf
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und nimmt ihre Figur und legt sie an einer Stelle direkt auf die Teichkante. Alex: »Die haben sich bestimmt gestritten.« Ann Kathrin: »Ich hole Hilfe, wenn der Engel kommt, dann würde bestimmt meiner Oma jemand helfen.« »Ja, den Menschen dort am Teich ging es bestimmt nicht gut. Vielleicht haben sie sich gestritten, vielleicht haben sie sich geeinigt, oder sie waren alle nur auf sich bezogen und haben nur an sich selbst gedacht, ohne den anderen zu sehen. So verging die Zeit, aber der Engel kam nicht. Tags nicht und nachts nicht. − Einige verließen den Teich und andere kamen dazu. So verging die Zeit. − Nun war Jesus auf dem Weg nach Jerusalem. Er kam an dem Schaftor vorbei. Er sah die vielen Kranken und Gebrechlichen. Er vernahm, dass ein Mensch dort am Teich 38 Jahre lag. Jesus ging zu diesem Menschen.« Ich nehme eine Holzfigur und frage die Kinder: »Diese Figur ist in unserem Spiel Jesus. Zu welcher Person, meint ihr, ist er gegangen?« Anna Lena: »Bestimmt zu dieser.« Sie steht auf und zeigt auf die Figur, die ich zu Beginn der Aufstellung ins Spiel gebracht habe. Ich gebe ihr die Holzfigur mit der Bitte, sie dort aufzustellen. »Warum meinst du, dass er dort hingegangen ist?« Anna Lena: »Die Figur lag am längsten hier an dem Teich, die anderen Figuren kamen ja erst danach.« »Und Jesus sprach den Menschen an und fragte: Willst du gesund werden? Und der Mensch antwortete: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt. Ja ich will gesund werden, doch immer wenn der Engel das Wasser berührte, war schon ein anderer im Teich und wurde gesund. Ich habe niemanden, der mich zu Wasser bringt. Jesus antwortet: Steh auf, nimm deine Matte und geh! Und dieser Mensch stand auf, ward gesund und ging. Jesus folgte ihm nach einer kurzen Zeit in die Stadt.« Ich nehme dabei die Tonfigur
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Pädagogische Anregungen
und die Matte vom Tisch und etwas später die Holzfigur. Dann setzte ich mich und warte ab. Fabian: »Warum geht Jesus weiter, da sind doch noch viele Kranke und mein Vater wäre ja auch dabei?« Jan: »Ich verstehe das nicht, hat Jesus die anderen nicht gesehen?« Ann Kathrin: »Er kommt bestimmt wieder zu dem Teich.« Melanie: »Vielleicht ist Gott jetzt für die Kranken da. Vielleicht war Jesus müde und hatte keine Kraft mehr. Ich glaube, Gott wird die kranken Menschen nicht alleine lassen. Sie alle haben doch so lange gewartet.« »Ja, wie müssen sich die Menschen, die Jesus nicht angesprochen hat, gefühlt haben? Waren sie enttäuscht? Was meint ihr?« Alex: »Ich bin überrascht. Der Engel ist nicht gekommen. Aber Jesus. Ich glaube, dass Jesus gewusst hat, dass da ein Mensch so lange gelegen hat.« Fabian: »Schade. Er hat meinen Vater gar nicht gesehen. Mich auch nicht.« »Fabian, warst du bei deinem kranken Vater zu Besuch als Jesus kam?« Fabian: »Ja, ich wollte ihm etwas zu essen bringen.« »Fabian, was können wir nun tun für dich? Hast du eine Idee?« Fabian: »Ich weiß nicht. Es ist ja gut, dass Jesus einen Menschen geheilt hat. Aber was ist mit den anderen Menschen?« Ich halte eine kleine Stille. »Ann Kathrin, Fabian, Melanie, Jan, ihr könnt nun eure Figur von der Spielfläche nehmen. Vielleicht sagt ihr dabei ein Wort, einen Satz, etwas, was euch jetzt bewegt. Ihr könnt aber auch schweigend die Figur herunternehmen. Ich nehme sie dann wieder in Empfang.« Melanie: »Ich glaube, dass die Menschen gesund werden. Gott ist ja dafür zuständig. Bitte. Hier ist meine Figur.« Jan: »Nun, ich hätte es ja nicht gedacht. Aber verstehen tue ich das nicht. Melanie, viel-
leicht hast du Recht. Ich weiß es nicht.« Er gibt mir schweigend die Figur. Ich sage: »Danke, Jan.« Ann Kathrin: »Ich glaube, Jesus kommt wieder. Er musste vielleicht in Jerusalem jemanden treffen.« Fabian: »Ich erzähle das meinem Vater.« Auch er gibt mir seine Figur schweigend zurück. Ich bedanke mich und sage: »Alles Gute für deinen Vater, wir wünschen ihm gute Besserung!« »Alex, möchtest du auch noch etwas sagen?« Alex schweigt. Ich lasse ihn.
Ich stehe auf, nehme die Bibel und lese den Text zum Schluss vor und beende ihn mit einem ›Amen‹. Ich lege die Bibel wieder auf den Tisch und schließe sie. Die Kerze bleibt brennen. Anschließend spreche ich ein Gebet und einen Segen. Wir singen noch ein Lied zum Abschluss. Nachblick
Ich habe viele Aufstellungen zu verschiedenen biblischen Texten inszeniert. Mit verschiedenen Figuren, mit verschiedenen Gruppen, im Gottesdienst, im Religionsunterricht, in der Konfirmandenarbeit, im Kindergottesdienst oder im Vorbereitungskreis. Ich habe immer neue Tischgemeinschaften erlebt mit einer sehr tiefen
Hillringhaus Erfahrungsbericht über Figurenaufstellungen
Auseinandersetzung mit dem biblischen Text; gerade mit Texten, die offene Fragen hinterlassen, das Jesusbild neu hinterfragen, in der Offenheit eigene Antworten formulieren. Dabei sind mir die Materialien wichtig, die ich einsetze, die Art der Figuren, meistens die Entscheidung für nur ein Material, (Ton, Papier, Holzfiguren) reduziert und immer ohne Buntheit und Verniedlichung in der Gestaltung. Je reduzierter und offener die ästhetische Gestaltung und je klarer das liturgische Ritual mit Eröffnung, Inszenierung und Abschluss mit Segen, desto nachhaltiger sind die Gedanken und Lösungen für offene Fragen bei den Teilnehmenden. Auch wenn sie noch länger mit ihren offenen Fragen, Enttäuschungen oder auch inneren Bewegungen weiter denken müssen, können sie für sich möglicherweise Antworten, Hoffnung, Heilendes und Frieden finden. Der Textraum ist ebenso stärkend. Ich versuche, in einer Aufstellung den biblischen Text zu wahren. Bei unbequemen Texten neigen wir schnell dazu, den Textraum zu verlassen. Gerade im Spielprozess und in der eigenen Betroffenheit ereignen sich immer mal wieder Lösungen, die nicht im Text zu finden sind. Im Vorliegenden: Jesus verlässt den Ort des Teiches. Einen Hinweis, dass Jesus an die Stelle zurückkehrt und die anderen be-
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dürftigen kranken Menschen heilt, gibt es nicht. Die Stärke der Figurenaufstellung liegt in der indirekten Selbstbegegnung der eigenen Lebenswirklichkeit mit dem biblischen Text. Hier greift Betroffenheit, hier greift dichtes Nachfühlen, hier greift das Hineinholen der biblischen Erzählung in das eigene Leben. Die Konfrontationen können sehr tief geschehen, wenn sich die Teilnehmenden einlassen. Kinder lassen sich schneller ein. Sie brauchen aber dabei auch einen Schutzraum und Behutsamkeit. Sie brauchen auch eine stärkende Entlassung aus dieser Situation. Diese ist unbedingt wichtig, auch wenn sie dann trotzdem manchmal einige Zeit mit der Geschichte und ihren Berührungen hadern, reden wollen, zweifeln, staunen. Die Aufstellung öffnet und verbindet erlebte Gefühle, Erlebtes aus dem eigenen Leben. Hier finden Teilnehmende inneren Kontakt zu der biblischen Geschichte, sie können nachfühlen, sie können mitfühlen, sie haben die gleichen Fragen und suchen nach Antworten. Sie sind selbst Betroffene. Der Prozess geschieht indirekt. Es ist nicht die direkte Konfrontation, sondern über die Figur eine indirekte. Damit sind Teilnehmende in einem geschützten Raum, können jederzeit den Prozess abbrechen, beenden,
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Pädagogische Anregungen
verändern. Diese Freiheit in der Betroffenheit öffnet zu intensiven theologischen Gesprächen, zu Glaubenserweiterung, zu Vertrauen, zu eigener Vergewisserung. Es bedarf einer sehr konzentrierten annehmenden und vertrauensvollen Art, diese Prozesse zu bewegen. Der Kontakt zu den Teilnehmenden ist höchst wich-
tig. Das Einfühlen und die Achtung gegenüber den Teilnehmenden und ihren Äußerungen sind notwendig. Der Überblick zu den Teilnehmenden, die »ihre Figur« in das Spielfeld stellen, ist außerordentlich wichtig. Denn nur so lässt sich im Kontakt Tiefe zum Geschehen entwickeln und die gestellte Situation bewegen. Jederzeit muss die Leitung die gestellten Figuren zu den teilnehmenden Personen zuordnen können und ihre inhaltlichen Äußerungen bewegen und in Kontakt mit den anderen Beteiligten ins Gespräch bringen. Dabei ist es wichtig, nach einer gewissen Konfrontation stärkende Begegnungen zu schaffen, Variationen denken zu lassen. Manchmal bleiben auch Fragen offen stehen. Es geht nicht darum, Antworten zu geben, (die wir nicht haben), sondern die biblischen Situationen zu verdichten und an eigene Erfahrungen zu knüpfen, die Gefühle, Fragen, Einsichten und Hoffnung ermöglichen.
Thalmann Der Weg der religionspädagogischen Praxis – Gestaltungen mit Bodenbildern
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Franz Thalmann Der Weg der religionspädagogischen Praxis – Gestaltungen mit Bodenbildern als Beitrag zur Kindertheologie 1. Zur Entstehung
2. Zur Bezeichnung
In den siebziger Jahren ist in einem Kindergarten in Süddeutschland ein religionspädagogischer Ansatz entwickelt worden, der schnell über die bayrischen Grenzen hinaus bekannt und populär wurde. »Erfinderin« war eine Ordensschwester, Sr. Esther Kaufmann, die damals langjährig als Erzieherin und Kindergartenleiterin tätig war. Ziel dieses Weges sollte es sein, Kinder mit allen Sinnen an biblische Geschichten und religiöse Inhalte heranzuführen, ganz bewusst im Gegensatz zu Bestrebungen in der damaligen Zeit, die kognitive Dimension in der Elementarpädagogik über zu betonen. Manche erinnern sich noch an Lehrgänge zum Frühlesen- und Frührechnen und die dazugehörigen »Mappen«. Auch vor der Religionspädagogik machte der Trend nicht Halt. Franz Kett, ehemals Lehrer, lernte Sr. Esther Kaufmann und ihren religionspädagogischen Weg als Fortbildungsreferent beim Caritasverband kennen. Beide haben diese Methode religiöser Bildung und Erziehung in die Fortbildung eingebracht und seit 1978 in der Zeitschrift »Religionspädagogische Praxis« dokumentiert, die seither quartalsweise erscheint.
Schon bald wurde der Weg im gesamten deutschsprachigen Raum bekannt, zunächst in den Kindergärten und Gemeinden und dann auch in den Grundschulen. Offizieller Name war ursprünglich »Ganzheitlicher Weg der Religionspädagogischen Praxis«. Doch schon bald wurden Kurztitel erfunden wie »Tücher(lege)methode« oder auch »Bodenbildmethode«, Bezeichnungen, die sich auf das Äußerliche beschränken, dem erzieherischen Gehalt aber keinesfalls gerecht werden. Äußerst fragwürdig ist der vielfach verwendete Begriff »Kettmethode«, weil er der Entstehungsgeschichte nicht gerecht wird. Inzwischen hatte sich ein ganzes Team der Erstellung der Hefte gewidmet. Anfänglicher Kritik, der Ansatz sei theologisch zu wenig fundiert, begegnete die wachsende Herausgebergruppe mit längeren Einführungen in die Themen. Konzeptionelle Wandlungen des Periodikums werden auch in den Untertiteln deutlich: Handreichungen für eine elementare Religionspädagogik (1978–1997) Anregungen zu einer ganzheitlich sinn orientierten Pädagogik (1998–2007) Zeitschrift für eine ganzheitliche Glaubensverkündigung (seit 2008).
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Pädagogische Anregungen
3. Grundelemente
Rein äußerlich betrachtet geht es um Bilder, die mittels Rhythmiktüchern und Legematerialien auf dem Fußboden inmitten eines Stuhlkreises vor den Augen und unter Beteiligung der versammelten Kinder entstehen. Der Stuhlkreis ist elementar, da er Bewegung, Beziehungsaufnahme und Konzentration auf die zunehmend gestaltete Mitte fördert. Die Tücher helfen innere Bilder zu wecken. Ihre Farben und Formen nehmen die Kinder mit in die Geschichten hinein und tragen dazu bei, die Geschichten zu veranschaulichen, und helfen ihren Symbolgehalt zu erschließen. Die Legematerialien, die auch um gegenständliche Dinge ([Jesus-]Kerze, Reifen, Seil, biblische Erzählfiguren etc.) ergänzt werden können, geben den Kindern die Möglichkeit, das Bodenbild mitzugestalten und sich selbst in die Bilder einzubringen. 4. Philosophisch-pädagogische Bezüge
Vor allem die Einleitungen zu den Heften oder zu einzelnen Einheiten nehmen vielfältigen Bezug auf philosophisch-pädagogische Denker. Das dialogische Prinzip Martin Bubers wie auch die Jungsche Archetypenlehre werden häufig zitiert, ebenso Elemente der Reformpädagogik Hermann Nohls und Pestalozzis. Impulse erhält der Weg der Religionspädagogischen Praxis auch aus der Gestaltpädagogik und der Symboldidaktik. Der Ansatz weiß sich, wie immer wieder betont wird, einer christlichen Anthropologie mit folgenden Postulaten verpflichtet:
»Der Mensch wird dabei gesehen als: 1. einer, der sich seiner Existenz verdankt weiß; 2. der in und durch Beziehung wird; 3. der nach Sinn fragt und sucht; 4. der die Welt mitgestaltet; 5. der begrenzt lebt und scheitern kann.«1 5. Elementare Schritte
Bei aller Unterschiedlichkeit und Vielfalt der Gestaltungen lassen sich grundlegende Phasen unterscheiden, nach denen die Einheiten gegliedert sind. Sie beginnen mit Übungen, die dazu beitragen, dass sich die Gruppe miteinander vertraut macht und sammelt. Das kann z.B. spielerisch, mit Liedern oder einem Tanz geschehen. Wichtig ist, dass die Gruppe zur Ruhe kommt, der Kreis nicht nur räumlich, sondern auch emotional »rund« wird (Sammlungsphase). Erst dann kann eine Konzentration auf die Mitte erfolgen. Dort begegnen die Kinder einem Gegenstand in einer Anschauung, einer Aktion oder einem Symbol, die der Erschließung einer Geschichte dienen (Begegnungsphase). Nachdem in der Mitte ein Bodenbild entstanden ist, sind die Kinder eingeladen, mit der Erzieherin oder Lehrerin das Bild und das Geschehen zu deuten (Deutephase). Zum Schluss erhalten die Kinder Gelegenheit, das entstandene Bild auszugestalten und sich selbst mit eigenen Zeichen zu verorten. (Gestaltungsphase).
1 Religionspädagogische Praxis 200/1, 4.
Thalmann Der Weg der religionspädagogischen Praxis – Gestaltungen mit Bodenbildern
6. Methodische Elemente
Der Weg der Religionspädagogischen Praxis zeichnet sich durch eine Vielzahl der Methoden aus, die in Kombination Spannung und Entspannung, Ruhe und Bewegung, inneres und äußeres Erleben, Meditation und Gespräch ermöglichen. Lieder und Tänze gehören ebenso dazu wie Interaktionsübungen, Phantasiereisen, empathische Spiele, Stilleübungen und Gespräche. Die Anleitenden regen Interaktionen zwischen den Kindern an und ermöglichen, sich mit einer Person in der Geschichte zu identifizieren und Bezüge zum eigenen Leben zu finden. Große Bedeutung hat dabei das Erzählen. Die Einheiten regen an, das Bild in der Mitte im Gespräch mit den Kindern oder auch im Gebet zu deuten. 7. Ziele
Der Begriff »Bodenbildmethode« weckt Assoziationen eines rezepthaften Geschehens. Damit wäre der Ansatz gründlich missverstanden, wenn auch die detaillierten Beschreibungen in den Heften dazu verleiten. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich um ein intensives interaktives Geschehen, in dem Wahrnehmungen geschult und innere Bilder geweckt werden. In den Kindern werden Haltungen geweckt und ein achtsamer Umgang mit Gegenständen und Menschen geschult. Inhalte werden veranschaulicht durch das Erleben von Symbolen, lebendiges Erzählen und Mitgestalten. Die Kinder werden durch die Übungen ermuntert, in eine Beziehung zu Dingen, zu den Mitmenschen, zur Welt und zu sich selbst zu treten. In
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katechetischen oder liturgischen Zusammenhängen sind sie eingeladen zu Meditation und Gebet, sich auch in Beziehung zu Gott und zur Welt des Religiösen zu setzen sowie den Glauben zu feiern. Im Religionsunterricht helfen die Gestaltungen, über Gott und die Welt nachzudenken und ins Gespräch zu kommen. Nach Franz Kett lassen sich die bedeutsamen Elemente und Intentionen seiner ganzheitlichen Religionspädagogik wie folgt zusammenfassen: Die Kinder wirken mit an der Ausund Fortgestaltung der Welt. Sie schauen Ganzheiten anstelle einer intellektuell zergliederten Wirklichkeit. In einer äußeren Gestaltung und unter Zuhilfenahme vertrauter äußerer Dinge bekommen sie ihre Innenwelt gespiegelt. Die Kinder erhalten eine vertiefte Sicht der Wirklichkeit, ihres inneren Zusammenhangs und ihres eigenen Selbst. Bilder entfalten ihre Wirklichkeit und werden zu Vorbildern für gelingendes Leben durch die Gestaltung und körperlichen Nachvollzug. Das Bodenbild hat Bilderbuch- und Bühnencharakter. Die Gestaltung intendiert neben der Weckung räumlicher Vorstellungen auch das Wachrufen von Haltungen. Die Bodenbildgestaltung versucht Kompetenzen anzusprechen, die in dieser Altersstufe ausgebildet werden: – Beziehungsfähigkeit – Selbstwertgefühl – Sprachfähigkeit – Kreativität Die religiöse Dimension wird in den Kindern wachgerufen.
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Pädagogische Anregungen
Bei der Bodenbildmethode kommen ästhetische Momente zum Tragen. Der Anleiter ist Bühnenbildner, Regisseur, Lehrer und Lernender.2 8. Bewertung
Der Weg der religionspädagogischen Praxis ist aus einer konkreten Praxis erwachsen und hat sich dort bewährt. Der Ansatz ist kindgerecht und vermittelt eine positive Weltsicht. Im Religionsunterricht der Grundschule lässt sich die Bodenbildmethode gut mit anderen Methoden verbinden. Allerdings ist in den meisten Heften der Schwerpunkt katechetischer Natur. Mancherorts wird der Weg auch in der Erstkommunionskatechese mit mystagogischem Anspruch verwendet. Trotz der guten Möglichkeiten, Kinder mit religiösen Inhalten vertraut zu machen, muss auf einige »Anfälligkeiten« hingewiesen werden. Wo Kinder diesen Ansatz häufig erleben, kann es zu gewissen Konditionierungen kommen. Ein gelbes Tuch in der Mitte wird nahezu schematisch als Sonne, ein braunes Tuch als Erde assoziiert. Ein Problem ist auch, dass sich die Symbole zur Erschließung von Geschichten nicht beliebig vermehren lassen, so dass das Haus, der Acker, der Baum etc. wiederholt aufgegriffen werden. Damit verbunden ist ein Vorwurf der Oberflächlichkeit, mit der Geschichten erschlossen werden.3 Nicht intendiert, aber in der Praxis durchaus vorkommend, ist eine Tendenz zur Psychologisierung. Franz Kett und Sr. Esther Kaufmann haben in der Fortbildung immer wieder darauf hingewiesen, dass nur die Kinder selbst Interpreten
ihrer Bilder sind und dies nur dann vor anderen tun sollen, wenn sie es selber mögen. Nicht gefeit ist der Ansatz vor religiöser Vereinnahmung der Kinder. Er erfordert seitens der Erzieherin oder Lehrerin ein hohes Maß an Achtsamkeit und Behutsamkeit gegenüber dem Kind, seinen Gefühlen und seinem Glauben. Wo Kinder in liturgische Vollzüge mit Bekenntnischarakter eingebunden werden, tragen die Anleitenden eine große Verantwortung. In der Grundschule hat sich der Ansatz bewährt, wo er partiell als meditativer Zugang andere Wege der religiösen Welterschließung ergänzt und bereichert. 9. Ansatzpunkte für die Kindertheologie
Aus all den Ausführungen von der Genese bis zur Methodik wird deutlich, dass das Theologisieren mit Kindern und von Kindern nicht im Vordergrund steht. Der Schwerpunkt liegt eher auf dem Schauen, Erleben, Hören und Gestalten. Insofern ist der ganzheitliche Weg auch nicht als Methode der Kindertheologie anzusehen. Die Bodenbildmethode ist aber gut geeignet, Kinder miteinander über religiöse Themen ins Gespräch zu bringen. Ausgangspunkte für eine 2 Siehe ausführlich dazu: Franz Kett, Gedanken zu einer Bodenbildgestaltung – ihre Intentionen, in: Jahrbuch 2013, 188f. 3 Mit kritischen Anmerkungen setzt sich Robert Koczy in seinem Beitrag auseinander: »Die Religionspädagogische Praxis (RPP) im Spiegel der Kritik – Eine klärende Stellungnahme zu den Hauptkritikpunkten am Weg der RPP«, in: Franz Kett / Robert Koczy, Die Religionspädagogische Praxis, 179–229.
Thalmann Der Weg der religionspädagogischen Praxis – Gestaltungen mit Bodenbildern
Reflexion über die großen Fragen, den Sinn des Lebens und über Gott und die Welt können Anschauungen, Bildworte, Geschichten und andere Zugänge sein. Methodisch kann das Gespräch gelenkt werden durch gezieltes Nachfragen, durch das Anregen eigener Entdeckungen und durch Selbstexploration eigener Gestaltungen. So kann eine Einheit zum Psalm 39 die Kinder anregen, darüber ins Gespräch zu kommen, wo und wie Menschen die vom Beter geäußerten Erfahrungen mit Gott heute machen und welche Ambivalenzen an dem Gebet deutlich werden. Das Gleichnis vom Sämann, das mit den Kindern anschaulich gestaltet wurde, kann zu einem Gespräch über die Wirklichkeit und Wirksamkeit des Wortes Gottes motivieren. Das Heft 2009/2 der Religionspädagogischen Praxis setzt sich explizit mit dem Theologisieren von und mit Kindern auseinander.
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Angela Kunze-Beiküfner stellt dort einen »Gotteskoffer« vor. Das Betrachten von Bildworten und symbolträchtigen Gegenständen soll zum Theologisieren über Gottesbilder motivieren.4 Das Gespräch über Gottesbilder wird fruchtbar, indem Bildmotive, die auch in der Bibel verwendet werden, veranschaulicht und erlebt werden. Es wird deutlich, wie Anschauungen, Meditationen und Erfahrungen der Deutung, der Reflexion und des Austausches bedürfen, gleichzeitig aber kognitive Zugänge ins Leere laufen, wenn sie zumindest im Kindesalter nicht erfahrungsgesättigt, greifbar und anschaulich werden.
4 Eine ausführliche Beschreibung zum Umgang mit dem »Gotteskoffer« erfolgt im JaBuKi 12, Stuttgart 2013, 124–146.
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Pädagogische Anregungen
Annika Stramer Urbild und Abbild – Gottesvorstellungen orthodoxer Kinder
Der vorliegende Beitrag gewährt einen Einblick in die Gottesvorstellungen orthodoxer Kinder. Die Ergebnisse einer kleinen empirischen Studie bringen interessante und unbekannte Gotteskonzepte von Kindern zum Vorschein. Da oftmals nicht nur evangelische und katholische Kinder am Religionsunterricht teilnehmen, sondern auch orthodoxe, ist es für Lehrende und Erziehende wichtig, Kenntnisse über die Grundlagen der Orthodoxie und deren Gottesvorstellungen zu besitzen. So werden eventuelle Glaubensvorstellungen dieser Kinder nicht missinterpretiert und ihnen kann mit Respekt und Verständnis begegnet werden. Insbesondere die Ikonen haben für orthodoxe Kinder einen hohen Stellenwert, wie die Ergebnisse der folgenden Studie zeigen. Das Erkenntnisinteresse liegt auf den Gottesvorstellungen orthodoxer Kinder, die als ›Expert/innen‹ ihrer Religion mittels eigener zeichnerischer Darstellungen von Gott und anschließenden fokussierten Leitfadeninterviews1 einen Einblick in ihre Glaubensvorstellungen geben und dadurch Kennzeichen orthodoxen Glaubens vermitteln. Orthodoxe Kinder nehmen seit ihrer Geburt wahr, dass von Gott gesprochen wird. Die Mutter spricht zu ihrem Kind mit betenden Worten »Gott beschütze dich«, macht ein Kreuzzeichen am Kinderbett beim Zubettgehen und lässt die Ikone küssen.2 Da den orthodoxen Kin-
dern schon früh der Umgang mit Ikonen vertraut ist und ihre Gottesvorstellungen stark davon geprägt werden, wird nachfolgend zunächst in wichtige Aspekte der Ikonographie eingeführt. Die Literatur, die sich mit der Ikonographie beschäftigt, weist zu Recht darauf hin, dass deren Dogmatik und Funktion für Nichtorthodoxe schwer begreiflich und zu erfassen sind. Sie können zwar rational und religionswissenschaftlich erklärt werden, jedoch fehlen den nicht-orthodox Gläubigen die Gabe und Fähigkeit, die Inhalte auf emotionaler und geistiger Ebene zu erfassen: »Selbstverständnis und Fremdverständnis mögen einander
1 Vgl. zur Methodik: Stephanie Klein, Gottesbilder von Mädchen. Bilder und Gespräche als Zugänge zur kindlichen religiösen Vorstellungswelt, Stuttgart 2000 und Heinz Reinders, Qualitative Interviews mit Jugendlichen führen. Ein Leitfaden, München 2005. Die Auswertung der Interviews erfolgte nach Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse, Weinheim 102010. Im Rahmen des von der orthodoxen Kirche in Hannover angebotenen kostenfreien Griechisch- und Orthodoxieunterrichts an zwei Nachmittagen nach dem allgemeinen Schulunterricht wurden an einer Schule sieben Kinder im Alter von neun bis elf Jahren gebeten, ihre Vorstellungen von Gott zu malen, dabei Videos aufgenommen und hinterher anhand eines semi-strukturierten Leitfadeninterviews befragt (Tonbandaufnahme). 2 Vgl. Ines Kallis (Hg.), Gott ist lebendig. Ein Glaubensbuch der orthodoxen Kirche, Münster 2002, 110.
Stramer Urbild und Abbild – Gottesvorstellungen orthodoxer Kinder
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verbal noch so nahe kommen; inhaltlich werden sie unvermeidlich verschiedenartig bleiben.«3
darf dabei nicht angebetet, sondern nur verehrt werden anhand äußerer Form, wie das Küssen und Verbeugen vor ihr.7
1. Die Ikonen
Die Ikonenschreiber und die Anfertigung der Ikonen
Bedeutung und Funktion der Ikonen
Der Ursprung des deutschen Wortes »Ikone« liegt im altgriechischen Wort »eikon«, das übersetzt »Bild« und »Abbild« bedeutet. Dazu gehört das Verb »eiko«, das »ähnlich sein, gleichen, scheinen« bedeutet. Die Ikone der orthodoxen Kirche bedeutet »Ausdruck und bildhafte Darstellung des Glaubens, Verkündigung des Wortes Gottes und Manifestation der lobpreisenden Gott-Menschen-Gemeinschaft«.4 Dabei verehren die Orthodoxen nicht die Ikonen an sich, sondern die dort abgebildeten Heiligen. Nicht nur der Inhalt der dargestellten Personen (Heilige) und Ereignisse sind entscheidend, sondern der orthodoxe Glaube an deren Anwesenheit. Diese «gnadenhafte« Anwesenheit wird durch die Weihe der Ikone durch die Kirche gewahrt. Es handelt sich dabei um eine »sakramentale Handlung« respektive eine »Verbindung zwischen Urbild und Abbild«.5 Anhand der Weihe trifft der Beter mit Christus auf geheimnisvolle Weise zusammen. Die Ikone ist demnach mehr als nur eine reine Darstellung: »Die Ikone gibt [dem Gläubigen] das Gefühl der spürbaren Anwesenheit Gottes. (…) Nach dem Glauben der Orthodoxie ist die Ikone der Ort der gnadenhaften Anwesenheit, gleichsam der Erscheinung Christi (…), für das Gebet an ihn.«6 Wichtig ist die Unterscheidung zwischen Verehrung und Anbetung. Angebetet wird nach dem orthodoxen Glauben Gott allein. Die Ikone an sich
Die Fertigung und die Übernahme der Ikonen sind kirchlich geregelt. Der Schreiber8 befindet sich in der Entstehungszeit meist in einem Kloster und ist während der Produktion tief ins Gebet versunken.9 Es muss in diesem Zusammenhang betont werden, dass der Ikonenschreiber nicht als Künstler definiert wird, sondern als »Verkünder göttlicher Wahrheit«.10 Während des Gebetes erfährt der Schreiber Inspiration aus dem Wort Gottes, verbindet diese mit seinem theologischem Denken und seiner geistigen Vision, um der Ikone ihre Schönheit
3 Helmut Fischer, Die Ikone. Ursprung − Sinn – Gestalt, Hannover 2001, 184. 4 Gregorius Larentzakes, Die orthodoxe Kirche. Ihr Leben und ihr Glaube, Graz 2001, 101. 5 Sergej N. Bulgakov / Thomas Bremer, Die Orthodoxie. Die Lehre der orthodoxen Kirche, Trier 1996, 213. 6 Ebd., 211f. 7 Vgl. Karl Christian Felmy, Einführung in die orthodoxe Theologie der Gegenwart, Berlin / Münster 2011, 88. 8 Im Griechischen wird zwar nicht zwischen den unterschiedlichen Wörtern »schreiben« und »malen« unterschieden, da für beides das griechische Wort »graphein« verwendet wird. Es ist aber dennoch wichtig, dass das »Schreiben« von Ikonen im deutschen Sprachgebrauch verwendet wird, da es für das »Verständnis der Ikone als optisch vermittelte Lehre der Kirche über die dargestellten Personen« gilt (Martin George, Bild und Ikone. Was macht in den Ostkirchen ein religiöses Bild zur Ikone? In: Evangelische Theologie 67, 112–122, hier 121). 9 Vgl. Konrad Onasch, Ikone. Kirche, Gesellschaft, Paderborn 1996, 26ff. 10 Fischer, Die Ikone (wie Anm. 3), 162.
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Pädagogische Anregungen
zu verleihen. Die Ikonenschreiber sollen »nicht die möglichst naturalistische Wiedergabe der realen Wirklichkeit« darstellen, sondern die »Heilswahrheiten«, die ewig ihre Gültigkeit besitzen.11 Die Schreiber müssen sich streng an literarische Vorgaben halten wie zum Beispiel Bibeltexte, Predigten, Hymnen und Heiligenlegenden und sich zudem an deren offizielle Auslegung halten. Dies gewährleistete in den frühen Jahren der Ikonographie, dass auch Analphabeten die Darstellungen verstehen und begreifen konnten. Eine Ikone hat spezielle Kriterien zu erfüllen. So muss sie »als Kultbild verstanden werden und den Charakter der Heiligkeit haben«. Darüber hinaus muss sie dem »Bildkanon der Ostkirche« entsprechen und nach festgelegten Reglements hergestellt werden und durch einen speziellen Ritus geweiht sein.12 Die Kirche weiht die Ikone. Kraft des Heiligen Geistes wird die Ikone »aktiv« und der Betrachter kann die göttlichen Energien empfangen. Das heißt, dass die vorherige materielle Abbildung zu einem lebendigen Kontakt zwischen der Ikone und der dargestellten Person wird und die Energien durch sie hindurchstrahlen können. Die aus Menschenhand gefertigte Ikone wird durch die Weihe zu einem »Werk Gottes« und stellt somit eine lebendige Beziehung zwischen Gott und dem Gläubigen her. Ohne diese Weihe würde das Bild ein einfaches Andachtsbild sein. Der Umgang und die Verehrung der Ikonen
Auch die Betrachtung und die Formen der Verehrung der Ikonen sind kirchlich reglementiert und jeder orthodoxe Christ ist mit dem Umgang vertraut. Zur
Begrüßung wird die Ikone vom Betrachter geküsst, durch die Bekreuzigung verehrt und im Anschluss wird sich vor ihr verbeugt.13 Gott Vater gilt für die orthodoxen Gläubigen als erster Ikonenmaler, da er sich durch die Fleischwerdung Christi selbst abbildete. Der zweite Ikonenmaler ist Jesus Christus, der mit dem Mandylion (Abdruck seines Gesichts in einem Tuch) die erste Christusikone selbst herstellte. Als dritter Ikonenmaler gilt der Heilige Geist, der die Herstellung der Ikonen durch die Liturgie begleitet und zugleich weiht. Die Ikonographie »versucht keine Person wiederzugeben, sondern ein Antlitz.«14 Daher werden Ikonen auch nicht dreidimensional dargestellt, sondern, wie die antike ägyptische Kunst es vormachte, in einer flachen Darstellung und umgekehrter Perspektive. Die Bildtypen
Der orthodoxe Gläubige sieht Gott, wenn er die Ikone betrachtet. Demzufolge ist es wichtig, dass es nach dem orthodoxen Glaubensverständnis nur ein richtiges Gottesbild gibt. Der Mensch hat den Drang, Gottes Wesen zu erfassen und zu erkennen. Es ist aber schier unmöglich, den unsichtbaren und unermesslichen Gott zu sehen beziehungsweise zu malen / schreiben. In der Christusikone hingegen wird der unsichtbare Gott nicht als ein Unsichtbarer abgebildet, da Christus sich dem Menschen 11 Helmut und Stefan Brenske (Hg.), Ikonen. Fenster zur Ewigkeit, Hannover 2000, 16. 12 Fischer, Die Ikone (wie Anm. 3), 118. 13 Vgl. Martin Tamcke, Das orthodoxe Christentum, München 2004, 67. 14 Bulgakov / Bremer, Die Orthodoxie (wie Anm. 5), 217.
Stramer Urbild und Abbild – Gottesvorstellungen orthodoxer Kinder
durch sein Fleisch und Blut sichtbar gemacht hat. Deshalb ist zu sagen, dass mit der Christusikone nicht der unsichtbare Gott abgebildet wird, »sondern das sichtbar gewordene Fleisch Gottes. Die Christusikone ist somit das Abbild des Sichtbargewordenen.«15 Durch den eingeborenen Sohn, der das Ebenbild des unsichtbaren Gottes impliziert, wird die Gottheit gegenwärtig. Gott kann in Form eines Menschen dargestellt werden, da dieser Ebenbild Gottes ist. Das Wesen Gottes kann zwar nicht in seiner Unbegreiflichkeit, Unsichtbarkeit und Unbeschreiblichkeit dargestellt werden, aber durch seine Offenbarung in Jesus Christus hat er eine menschliche Gestalt angenommen, die der Mensch beschreiben und umschreiben kann. Er kann / darf gemalt werden.16 Johannes von Damaskus, der die maßgebliche theologische Darlegung zur Ikonentheologie lieferte, äußerte sich in seiner Bildertheologie wie folgt: »Wenn Gott, der Körperlose und Unsichtbare, Mensch werde und sichtbar, dann dürfte auch das Bild seiner menschlichen Gestalt gemalt werden, die doch sichtbar war.«17 Eine Reduzierung auf den Menschen Jesus von Nazareth und dessen alleinige Darstellung sowie die alleinige Darstellung seiner Gottheit gehört nicht zum orthodoxen Dogma. Das heißt, erst durch die hypostatische Vereinigung von Gott und dem Menschen in Jesus Christus kann dieser in der gottmenschlichen Person dargestellt werden. Die Darstellung Gottes im Menschen wird durch Gen 1,26 gerechtfertigt, da dort beschrieben wird, dass der Mensch durch seine Erschaffung das Abbild Gottes in sich trägt. Jesus Christus, der die menschliche Existenz angenommen hat, »zeigte
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in seiner sündenlosen Menschheit den wahren Menschen.«18 Gott bleibt transzendent und unvorstellbar, doch anhand seiner Offenbarung an den Menschen hat er eine Gestalt angenommen, die dargestellt und umschrieben werden kann. Anhand der Ereignisse und Taten, die im Evangelium beschrieben werden, ist Jesus Christus gut darstellbar. Daher wird in der Orthodoxie Christus als »WortIkone« verstanden. Die Christusikone wird bewusst zweidimensional gezeigt, um auf eine Tiefendimension des irdischen Raums zu verzichten. Der goldfarbene Hintergrund, der die Gestalt mit Licht durchflutet, dient »als Abglanz des unerschaffenen, raum- und zeitlosen göttlichen Lichts.«19 Dabei wird Christus stets in der Frontalperspektive in drei Grundtypen dargestellt: Das Mandylion
Nach der Abgarlegende des 5./6. Jahrhunderts zufolge soll Jesus selbst sein Antlitz in ein Tuch gedrückt haben, das als »Urbild« definiert wird. Die Abgarlegende besagt, dass Christus dem kranken Fürst Abgar von Edessa auf seine Bitte hin ein Bild von sich schickte. Nach dieser Legende soll Jesus sein Gesicht (Antlitz) in ein Tuch (Mandylion = [Hand] tuch) gedrückt haben und dieses folglich zusammen mit einem Brief an Abgar gesandt haben. Dieses Bild wurde dem15 Johannes von Damaskus, Verteidigungsschriften, III, 2, zitiert nach George, Bild und Ikone (wie Anm. 8), 127. 16 Vgl. ebd. 123. 17 Johannes von Damaskus, zitiert nach Tamcke, Das orthodoxe Christentum (wie Anm. 13), 68. 18 Bulgakov / Bremer, Die Orthodoxie (wie Anm. 5), 212. 19 Florenskijm, Ikonostase, zitiert nach George, Bild und Ikone (wie Anm. 8), 128.
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Pädagogische Anregungen
nach »nicht aus Menschenhand gemacht« (griechisch: Acheiropoietos) und gilt seit dem 7. Jahrhundert als zweite Inkarnation Christi.20
Acheiropoietos — nicht von Menschenhand geschaffenes Antlitz Christi. 12 Jh., Novgorod, Moskau
weils ersten und letzten Buchstaben des Namen Jesus Christus (Iesous Christos).
Pantokrator
Pantokrator
Emmanuel Der Pantokrator
Seit dem Bilderstreit herausgebildetes männliches Antlitz des »Alleinherrscher Christus«, dargestellt mit Bart, schulterlangem Haar, halbfigurig, ganzfigurig oder thronend mit dem Segensgestus der rechten Hand. In der linken Hand hält er die Bibel aufgeschlagen oder geschlossen. Der Pantokrator wird von den orthodoxen Christen als Gott, Schöpfer, Erhalter, Richter und Liebender verstanden und in der Kuppel der Kirche abgebildet. Nach dem orthodoxen Glauben schaut er segnend vom Himmel hinab auf die Menschen, die von ihm Liebe und Erlösung erwarten. Deshalb wird er Sohn und Vater zugleich. Die zwei gestreckten Finger des orthodoxen Segensgestus21 zeigen, dass Christus Mensch und Gottessohn zugleich ist. Die Trinität wird anhand der drei gestreckten Finger (Zeigefinger, Mittelfinger und kleiner Finger) symbolisiert. Die geöffnete Bibel soll die Richterrolle Christi zeigen. Die Inschriften der Pantokrator-Ikonen sind ebenfalls von Bedeutung. Die üblichen griechischen Kürzel IC XC sind die je-
Die biblische Basis bildet Jes 7,14, wo eine Frau einen Sohn gebar, den sie Emmanuel (Gott mit uns) nannte. Emmanuel stellt im orthodoxen Glauben den präexistenten und zugleich menschwerdenden Logos dar.22
Emmanuel
Es wird mit Vorsicht bedacht, wie Gott dargestellt werden kann. In den trinitarischen Disputen wurde sich geeinigt, dass »die drei göttlichen Personen eine unauf20 Vgl. Fischer, Die Ikone (wie Anm. 3),167. 21 Zeigefinger und Mittelfinger. Der Segensgestus kann aber auch anhand der Berührung von Daumen und Ringfinger ausgedrückt werden, sodass diese beiden Finger das Ω ergeben, als Abkürzung für Ο Ω Ν »der Seiende«. Vgl. Gabriele von Horn, Wörterbuch zu Ikonenkunst, Hannover 2003, 161f. 22 Vgl. Fischer, Die Ikone (wie Anm. 3), 168.
Stramer Urbild und Abbild – Gottesvorstellungen orthodoxer Kinder
lösbare Einheit bilden«.23 Wie diese Einheit dargestellt werden kann, war nicht immer klar. Aus diesem Grund bildeten sich zwei Grundtypen für die Darstellung der Trinität: Der angelomorphe Typ (angelos = Engel; morphe = Erscheinung)
Als Grundlage für diese Darstellung diente die alttestamentliche Geschichte von Abrahams Gastfreundschaft (Gen 18,1–9). Der Besuch der drei Engel wurde in diesem Kontext als Hinweis auf die Trinität gedeutet war. Dabei werden alle Personen aus der Geschichte (drei Besucher, Abraham und Sara) oder auch nur die Besucher dargestellt.
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solch einer anthropomorphen Darstellung der ersten Person der Trinität, da es sich auf Joh 1,18 bezieht: »Niemand hat Gott je gesehen; der einzige Sohn, der Gott ist und der im Schoß des Vaters ist, der hat ihn uns verkündet.« Aus diesem Grund bleibt die Gottheit undarstellbar. 2. Die Gottesvorstellungen orthodoxer Kinder
Im folgenden Teil werden die Gotteskonzepte orthodoxer Kinder aufgezeigt, die eine starke Anlehnung an die Ikonographie aufweisen. Gotteskonzept von A., 11 Jahre
Heilige Dreieinigkeit. Gemalt von Andrej Rublew 1411
Der anthropomorphe Typ (anthropos = Mensch; morphe = Erscheinung)
Damit sind die Versuche gemeint, aus biblischen Texten eine Rechtfertigung für die menschliche Darstellung der Trinität zu gewährleisten. Legitimiert wurde die Darstellung von Gott Vater anhand Dan 7,9: »Ich sah, wie Throne aufgestellt wurden, und einer, der uralt war, setzte sich. Sein Kleid war weiß wie Schnee und das Haar auf seinem Haupt rein wie Wolle.« Das orthodoxe Dogma widerspricht
A. spricht während des gesamten Interviews sehr leise und zurückhaltend. Für die Beantwortung der Fragen aus dem Interview nimmt er sich viel Zeit. Das erzeugt den Eindruck, dass er seine Antworten und seine Äußerungen mit Bedacht formuliert und über jede einzelne Frage nachdenkt, bevor er zu einer Antwort kommt, sodass von »Ehrfurcht« ge23 Fischer, Die Ikone (wie Anm. 3), 163.
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Pädagogische Anregungen
genüber Gott gesprochen werden kann. Unter Berücksichtigung der Bildanalyse und der zentralen Aussagen des Interviews wird deutlich, dass A.s Gotteskonzept eine starke Anlehnung an die Ikonographie aufweist. Besondere Merkmale, die auf eine Ikone deuten, sind der Nimbus, die Beschriftung seiner Zeichnung mit den griechischen Buchstaben und das in braun gehaltene Gewand. Die Aussage von A., dass er einen »Mann gemacht« hat und diesem erst einmal keine Bezeichnung / Namen gibt, deutet darauf hin, dass er das Bild aufgrund des Bilderverbotes nicht unmittelbar das Bild mit Gott in Verbindung bringen will. Darüber hinaus betitelt er seine Figur als einen Mann, sodass er ehrfürchtig mit den Gottesnamen umgeht und nicht explizit erwähnt, dass es sich um Gott Vater handelt. Diese Vermutung wird dadurch bestätigt, dass er die griechischen Zeichen XP und IΣ im Nimbus erklärt, die übersetzt »Jesus Christus« heißen. Indem A. Jesus Christus darstellt, hält er sich erneut an das Bilderverbot, dass Gott Vater nicht vor der Inkarnation Christi und auch nicht danach abgebildet werden darf, sondern nur Jesus Christus, der durch sein Fleisch und Blut sichtbar wurde. Den Buchstaben – im Nimbus erwähnt er nicht explizit, dieser kann aber anhand der Erläuterung zu der Nimbusbeschriftung als »der Seiende« übersetzt werden. In diesem Zusammenhang merkt A. an, dass er nicht genau weiß, welche griechischen Buchstaben im Kreuznimbus zu sehen sind, und malt daraufhin die genannten Buchstaben. Da es sich bei diesen um eine Abkürzung von »Jesus Christus« und »der Seiende« handelt, ist davon auszugehen, dass A. während seines langen Griechenlandaufenthalts diese Buchstaben gelernt haben
muss, was zudem auf seine ausgeprägte religiöse Sozialisation hinweist. Obwohl er nicht mehr detailliert weiß, wie die Beschriftung in der Ikone aussieht, versucht er sie aus dem Gedächtnis abzurufen und in seine Vorstellung mit einzubringen. Dies erweckt den Eindruck, als würde die Inschrift eine hohe Bedeutung für ihn haben. A. malt den Nimbus in einem kräftigen Gelb aus. Im Interview merkt er aber an, dass er diesen lieber in Gold gemalt hätte. Da die Farbe Gold das Göttliche »ausstrahlt«, soll sie das Besondere und Heilige in und an der dargestellten Figur − Jesus Christus − zum Ausdruck bringen. Da A. Jesus Christus halbfigurig und mit Nimbus darstellt, deutet dies auf die Pantokrator-Ikone hin, die durch das männliche Antlitz charakterisiert werden kann. Darüber hinaus wird Christus auf den Ikonen meist allein dargestellt. So zeigt es auch die Zeichnung von A., der Jesus Christus ebenfalls mittig und zentral im Bild anordnet. Des Weiteren betont A. zu Beginn seines Interviews, dass er zwei Finger gezeichnet hat, die sich kreuzen. Dieser Handgestus ist zwar kein Segensgestus, der in traditionellen Christusikonen vorkommt, da aber die zwei Finger den Buchstaben X verdeutlichen, kann hier wieder die Parallele zu dem griechischen Buchstaben gezogen werden, welcher für Christus steht. Die rechte Hand wird von A. nicht gezeichnet. Auch die Christusikone wird ebenfalls ohne Hände dargestellt, was wieder eine Verbindung zu der Zeichnung von A. aufweist. Für A. ist Gott lebendig und lebt im Himmel24. Der Himmel wird bei ihm 24 Gott und Jesus Christus werden als Synonym im Gotteskonzept von A. angeführt, da in der orthodoxen Glaubenslehre beide eine Einheit bilden und als gleichwertig anzusehen sind.
Stramer Urbild und Abbild – Gottesvorstellungen orthodoxer Kinder
aber unterschieden in den irdischen Himmel, den die Menschen von »unten« sehen können, und den göttlichen Himmel, den die Menschen nicht sehen können und von dem sie auch nicht wissen, wo dieser sich befindet. Damit folgt er erneut dem Bilderverbot (Ex 20,4) und geht vermutlich nicht näher auf die Lokalisierung des Himmels und dessen Aussehen ein. Er erwähnt nur, dass es sein kann, dass sich dort ein Wald befindet, wo auch Tiere sind. Seiner Vorstellung nach leben in diesem göttlichen Himmel die Verstorbenen und die Tiere mit Gott allein. Dass die Tiere ebenfalls im Himmel wohnen, deutet daraufhin, dass A. ihnen eine Seele gibt und sie somit für ihn von besonderer Bedeutung sind. Gott hat nicht nur die Menschen erschaffen, sondern auch die Tiere, die nach ihrem Tod ebenfalls neben dem Menschen einen »Platz« im Himmel erhalten sollen. Die Augen Gottes werden nicht farblich markiert, jedoch zeigen sie auffällig große Pupillen, wie auf dem Mandylion zu sehen ist. Die Augen schauen den Betrachter der Zeichnung direkt an, sodass eine Verbindung zwischen beiden aufgebaut wird. Gott geht anhand seiner Größendarstellung in der Zeichnung eine »face-to-face-Interaktion« mit A. ein, was seine Nähe zu ihm ausdrückt. Somit ist für A. Gott ein Wesen, das ihm gegenübersteht und dem er sich zuwenden kann. Der Mantel wird in der Farbe Braun ausgemalt, die ebenfalls als Gewänderfarbe in den Ikonen auftritt. Er wählt die Kolorierung vermutlich nicht nach der allgemeinen Farbsymbolik, sondern weil er diese in den Ikonen und in Griechenland gesehen hat. A. erklärt zwar im In-
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terview, dass die Buchstaben im Gewand für ihn nicht von Relevanz sind, aber diese können auch die Abkürzungen für Christus (X) und der Seiende (O) sein. Für die Farbe der Haare hat A. ein anderes Braun ausgewählt, um diese vom heiligen Gewand abzusondern. Das Braun der Haare soll somit von dem Braun des Gewands unterschieden werden. Das Braun der Haare suggeriert die Menschlichkeit, das Braun im Mantel, das auch in den Ikonen verwendet wird, steht für das Göttliche. Zusammengefasst ist über das Gotteskonzept von A. zu sagen, dass es sich deutlich an die Ikonographie anlehnt, religiöse Gesten, Symbole und Beschriftungen aus seiner religiösen Sozialisation entnimmt und diese mit seinem Konzept verknüpft. Darüber hinaus wird die Nähe zu Gott anhand seiner Größendarstellung und seiner Platzierung ausgedrückt. Gotteskonzept von P., 11 Jahre, männlich
Unter Berücksichtigung der Bildanalyse und der zentralen Aussagen im Interview wird deutlich, dass P.s Gotteskonzept ebenfalls eine starke Anlehnung an die Ikonographie aufweist. Besondere Merk-
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Pädagogische Anregungen
male, die auf eine Ikone deuten, sind der Nimbus und das in braun gehaltene Gewand. P. hat zu dem braunen Gewand noch eine Stola (Epitrachelion) gemalt, die das liturgische Gewand der Priester während der Messen zeigt. Es handelt sich dabei um ein Stoffband, das um den Hals getragen wird und schräg nach vorne bis zum Rocksaum herabfällt. Üblicherweise, so wie es P. gezeichnet hat, ist es mit Kreuzen versehen. Daher verknüpft er die ikonographischen Elemente (Nimbus, braunes Gewand) mit den Elementen (Epitrachelion), die die orthodoxen Priester während der heiligen Messe tragen, zu seinem eigenen Gotteskonzept. Obwohl seine generelle Farbauswahl (vorwiegend Braun und Gelb) sehr beschränkt ist, nimmt er die blaue Farbe, um die Augen einzuzeichnen, die sich dadurch stark vom restlichen Gesicht abgrenzen lassen. Das Blau steht in der Ikonographie für das Himmlische und Unendliche. Diese Attribute können in Beziehung zu seinem Gotteskonzept gesetzt werden, da sich Gott im Himmel und überall aufhält. Die Pupillen sind so wie in der Pantokrator-Ikone nach unten gerichtet. Auffällig ist auch, dass er Gott mit einem Bart gemalt hat, sodass das Gotteskonzept auch hier eine Anlehnung an die Ikonographie aufweist. Ebenso steht der Bart auch als Attribut für die Männlichkeit, sodass Gott ein maskulines Aussehen erhält. Die Abgrenzung zu einem weiblichen Gottesbild wird auch anhand der Verneinung von P. deutlich, als nachgefragt wird, ob er sich vorstellen kann, dass Gott eine Frau sein könnte. P.s Vorstellung davon, wo Gott lebt, entspricht in ihrer Beschreibung einem »metaphysischen Raum«. Das heißt, dass Gott in seiner Lokalisierung nicht ein-
geschränkt ist, da er überall und auch für den Menschen nicht sichtbar ist. Ebenfalls kann er sich kein Bild vom Himmel machen, was auf das Bilderverbot hinweist. Gott wird von P. mittig in seiner Zeichnung positioniert. Sein Oberkörper grenzt an den Bildrand an, sodass kein Unterleib und keine Hände zu sehen sind. Auf den Ikonen können ebenfalls die Heiligen ohne Unterleib und ohne Hände dargestellt werden. Um Gott herum befinden sich keine weiteren Zeichnungen, sodass dieser im Fokus steht. Anhand der Frontalperspektive zeigt sich, dass Gott sich nicht absondert, wegdreht oder unnahbar erscheint, sondern sich P. zuwendet und dadurch mit ihm eine persönliche Beziehung eingeht. Zusammenfassend ist zu sagen, dass auch das Gotteskonzept von P. sich an die Ikonographie anlehnt. Er übernimmt für sein Konzept die typischen Elemente der Ikonographie und vereint diese mit den Attributen religiöser Kleidung orthodoxer Priester und Heiliger. Gotteskonzept von C., 9 Jahre, weiblich
C. Gotteskonzept ist stark an Ikonen angelehnt. Während des Malprozesses und
Stramer Urbild und Abbild – Gottesvorstellungen orthodoxer Kinder
im Interview überlegt sie abermals, wie die Ikone, die sie sich vor ihrem »geistigen Auge« vorstellt, aussieht. Besonders betont sie den Nimbus, den sie gerne in der Farbe Gold gemalt hätte. Auch das Gewand sollte ursprünglich diese Farbe besitzen, um das Heilige und Besondere ihrer Gottesvorstellung zum Ausdruck zu bringen. Wegen des Heiligenscheins kann sie keine Haare malen und merkt deshalb an, dass Gott aussehen würde wie eine Frau. Sie erwähnt aber explizit im Interview, dass Gott für sie männlich ist, da die orthodoxen Priester und auch die Heiligen stets Männer sind/waren. Auf die Zeichnung eines Bartes verzichtet sie, sodass die weiblichen Gesichtszüge bestehen bleiben. Obwohl Gott für sie unsichtbar ist, hat sie ihn in Form einer Ikone sichtbar dargestellt, da er durch Jesus Christus Mensch wurde und sich zeigte. Gott nimmt ihrer Auffassung nach persönlich Kontakt zu den Menschen auf, da dieser ihnen in Schwierigkeiten hilft. So zeigt sich, dass er seine Güte gegenüber den Menschen offenbart. C. malt einen Himmel mit Vögeln und einer Sonne. Obwohl sie Gott unterhalb des Himmels zeichnet, ist er für sie grenzenlos. Den Himmel stellt sie sich in der Farbe Blau vor, genauso wie die Augen von Gott, die das Himmlische ausdrücken. Sie malt Gott mit einem braunen Gewand, das das irdisch Menschliche repräsentieren soll. Dadurch, dass sie das Papier im Hochformat wählt, kann
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hier ebenfalls die Parallele zu Ikonen gezogen werden, da Ikonen sehr häufig im Hochformat abgebildet werden. Aufgrund dessen wirkt Gott »größer« und »mächtiger«, was die Zeichnung von C. aufzeigt. Gott zeigt sich ihrer Vorstellung nach frontal in einer zweidimensionalen Form zum Betrachter und schaut diesen lächelnd mit seinen großen Augen an, was wiederum die persönliche Beziehung zwischen Gott und dem Betrachter (C.) sichtbar werden lässt. Resümee
Die zu ihrem Gottesbild befragten Kinder orientierten sich in ihren Darstellungen sehr stark an den Grundelementen der Ikonenmalerei. Ikonen scheinen im Alltag der Kinder noch recht präsent zu sein und prägen deren Gottesvorstellungen unübersehbar. Dies führt einerseits zu standardisierten Bildern, die andererseits aber im Detail durch die Betonung bestimmter ikonographischer Elemente individuelle Züge erhalten. Für A. steht die Inschrift im Nimbus im Fokus, bei P. die Stola und bei C. das Gewand. Anhand der ausgewählten Kinderzeichnungen und -äußerungen kann man von Gottesbildern personal-ikonographischen Typs sprechen. Kinder drücken durch sie ihre persönliche Beziehung zu Gott aus: Gott ist überall, Gott ist auch unter den Menschen, Gott hilft.
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Pädagogische Anregungen
Caroline Teschmer Mitgefühl durch biblische Geschichten entwickeln? Zugänge für Kinder im Elementarbereich
Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass Kinder bereits im Elementarbereich anhand von biblischen Erzählungen Mitgefühl entwickeln können.1 Zunächst wird eine begriffliche Klärung des Terminus ›Mitgefühl‹ als Teil der Empathie in Abgrenzung zum Mitleid vorgenommen und anschließend werden Schlüsselfunktionen biblischer Texte zur Sensibilisierung des Mitgefühls betrachtet. 1. Mitgefühl als Teil der Empathie in Abgrenzung zum Mitleid
Mitgefühl stellt einen Teil der Empathie dar und muss auch als solches verstanden werden. »Unter Empathie wird […] die übergeordnete Kategorie des SichEinfühlens in einen anderen verstanden; ein Prozess, aus dem sich so unterschiedliche Gefühle wie Mitgefühl, aber auch Schadenfreude oder der sogenannte ›personal distress‹ entwickeln können.«2 Dabei findet eine Trennung zwischen Empathie auf der einen Seite und verschiedenen Gefühlen wie Mitgefühl (Sympathie), eigenem Unbehagen (personal distress) oder Schadenfreude auf der anderen Seite statt.3 »Mitgefühl oder mitfühlende Empathie (sympathy) beschreibt […] einen engeren Begriff von Empathie: gemeint sind in erster Linie affektive Reaktionen, die im Beobachten einer misslichen Situation zugunsten
des / der Notleidenden hervorgerufen werden.«4 Hervorzuheben ist, dass der Terminus des Mitgefühls nur innerhalb eines multiperspektivischen Bedeutungsspektrums geklärt werden kann. Die Neigung zum Mitleidsbegriff sowie die synonyme Verwendung von verwandten Begrifflichkeiten erschwert eine Konkretisierung. Der Mitleidsbegriff dominiert sowohl in moralischen als auch in theologischen Diskursen. Die Sätze »Du tust mir leid« oder »Ich habe Mitleid mit dir« sind umgangssprachlich mit einem pejorativen Klang versehen, sodass evident ein hierarchisches Gefälle sichtbar wird. Der 1 Vgl. insgesamt Caroline Teschmer, Mitgefühl als Weg zur Werte-Bildung. Elementarpädagogische Forschung zur Beziehungsfähigkeit als emotional-soziale Kompetenzentwicklung im Kontext religiöser Bildungsprozesse, Göttingen 2014. 2 Jutta Kienbaum, Entwicklungsbedingungen prosozialer Responsivität in der Kindheit. Eine Analyse der Rolle von kindlichem Temperament und der Sozialisation innerhalb und außerhalb der Familie, in: F. Wilkening u.a. (Hg.), Psychologia Universalis, Lengerich 2003, 9. 3 Vgl. Caroline Teschmer, Biblische Texte als Schlüssel zur Werte-Bildung, in: Elisabeth Naurath u.a. (Hg.), Wie sich Werte bilden. Fachübergreifende und fachspezifische WerteBildung, Göttingen 2013, 209–229, hier 212. 4 Elisabeth Naurath, Mit Gefühl gegen Gewalt. Mitgefühl als Schlüssel ethischer Bildung in der Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn 2 2008, 122.
Teschmer Mitgefühl durch biblische Geschichten entwickeln?
Terminus wird als Gefühlsbegriff an sich abgewertet, da Gefühl und Handlung getrennt voneinander betrachtet werden. Offenkundig wird eine dualistische Sichtweise, die Tun und Sein, Handlung und Identität voneinander trennt.5 Hervorzuheben ist, dass im Gegensatz zum Mitleid das Mitgefühl kein hierarchisch bestimmtes Beziehungsgefälle begünstigt, sondern deutlich eine Subjektivität der Partner wahrt. Der Terminus ›Mitgefühl‹ ist dabei positiv konnotiert, »da auf affektiver Ebene durchaus identifikatorische Nähe geschehen kann – ohne jedoch Identität zu proklamieren. Dies meint: in der Betroffenheit mit dem Leid eines anderen Menschen (oder auch Tieres) wird ein Mit-sein gefühlt, wobei die Personengrenze klar gewahrt bleibt.«6 Der Begriff ›Mitgefühl‹ darf dabei nicht als ›Mitleiden‹ verstanden werden. Vielmehr geht es um ein Mitfühlen, das an eigene Schmerzen erinnern kann oder innerhalb der gefühlten Identifizierung das Schmerzerleben vorstellbar macht. Dabei ist zu beachten, dass das Mitgefühl immer nur komplementär zu verstehen ist: Identität als Differenz auf der einen Seite, Nähe als Distanz auf der anderen Seite.7 »Mitgefühl meint also: Ich habe nicht deine Schmerzen, ich bin nicht du, ich bleibe also ›bei mir selbst‹ und doch so, dass ich mich auf emotionaler Ebene mit Dir identifiziere.«8 Demnach muss von einem Mit-fühlen ausgegangen werden und nicht von einem Mit-leiden. Dieses Mitfühlen kann an eigene Schmerzen erinnern oder in der gefühlten Identifizierung das Schmerzerleben vorstellbar machen, wobei die Personengrenze9 gewahrt bleibt. Die Verbundenheit ist lediglich im Sinne eines gegenseitigen Beziehungsgeschehens zu verstehen.
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2. Schlüsselfunktionen biblischer Texte zur Sensibilisierung des Mitgefühls bei Kindern im Elementarbereich
Die Erfahrung zeigt, dass Erzieherinnen und Erzieher häufig vor alttestamentlichen Texten zurückschrecken. In der Praxis zeigt sich deutlich eine Überforderung von Erzieherinnen und Erziehern im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit biblischen Texten. Dabei haben Kinder die Gabe, sich auf fremde Zusammenhänge unbefangen und offen einzulassen. Das Erzählte lassen die Kinder in ihrer eigenen Welt mit Hilfe der Fantasie lebendig werden. Dem Erzählen biblischer Texte kommt deshalb eine besondere Bedeutung zu, sodass sich zwei Positionen unterscheiden lassen. Nach Dietrich Steinwede sollte die Texttreue der biblischen Vorlage gewahrt werden, sodass nur einzelne Passagen, die für die Kinder unverständlich sein könnten, altersgemäß verändert werden sollten. Der Erzählduktus, der sprachliche Stil und die Atmosphäre des Bibeltextes 5 Vgl. u.a. Elisabeth Naurath, Die emotionale Entwicklung von Beziehungsfähigkeit fördern. Religionspädagogische Ziele in der Begegnung und im Zusammenleben mit Kindern, in: Bibel und Liturgie, 82/2 (2009), 107–118, hier 109. 6 Ebd., 109. 7 Vgl. ebd, 108f. 8 Ebd., 108. 9 »Nur wenn die Grenzen zum anderen als einem Fremden gewahrt bleiben, ist der Gefahr einer Verobjektivierung Einhalt geboten. Die Grenzen der Person verbieten eine wie auch immer geartete Teilhabe am Leiden des Gegenübers und damit eine ›wohlmeinende‹ Vereinnahmung, die den Anderen letztlich nicht mehr als Subjekt ernst nimmt.« (Naurath, Mit Gefühl gegen Gewalt [wie Anm. 4], 70).
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Pädagogische Anregungen
sollten erhalten bleiben. Demgegenüber vertritt Walter Neidhart die Annahme, dass Nacherzählungen Transformationsprozesse sind. »In seinem Konzept einer fantasierenden Erzählung geht es darum, gegenwärtig relevante Aussagen der biblischen Vorlage kindgerecht umzusetzen und so auch Spannung zu erzeugen. Relevant ist hierfür zum einen die historischkritische Arbeit am Bibeltext, die Integration persönlicher Überzeugungen, und die Kindgemäßheit, die beispielsweise dazu führen kann, Identifikationsfiguren in die Erzählung einzufügen.«10 Die Bibel sollte innerhalb des pädagogischen Alltags als ein Medium eingesetzt werden, das Lebenssituationen der Kinder integriert. Erzieherinnen und Erzieher müssen sich demnach adäquat mit biblischen Geschichten auseinandersetzen, diese zu ihren eigenen Texten machen und anschließend die biblische Botschaft in die Lebenswelt der Kinder integrieren. Denn nur so beginnt die Bibel zu leben.11 Das Erzählen von biblischen Geschichten bereichert die Wirklichkeitserfahrung und führt die Kinder in eine unbekannte Lebenswirklichkeit ein, die für Kinder eine völlig andere kulturelle Welt darstellt. Die fiktiven Personen können zu wertvollen Begleiterinnen und Begleitern auf ihrem individuellen Lebensweg werden. Biblische Geschichten können als ›Mutmachgeschichten‹ dienen, in denen die Menschen auf Gott vertrauen, denn Gott handelt durch den Menschen.12 Zudem leisten biblische Erzählungen einen wichtigen Beitrag zur Identitätsbildung und religiösen Identitätsentwicklung. Biblische Erzählungen ermöglichen Begegnungen, geben Einblicke in eine Kultur und Religion und haben demnach eine sozialisatorische
und horizonterweiternde Funktion. Das Deuten biblischer Geschichten regt darüber hinaus zur Förderung des religiösen Spracherwerbs an. Dabei lernen die Kinder angemessen von Gott und die damit einhergehenden Gefühle und Erfahrungen zu sprechen. Beachtet werden sollte in diesem Zusammenhang, dass die sprachlichen Kompetenzen in religiöser Hinsicht bei Kindern im Vorschulalter sehr heterogen entwickelt sind, sodass sich die Unterstützung des religiösen Spracherwerbs an den individuellen Voraussetzungen des Kindes orientieren muss.13 Gegenwärtig ist die Religionspädagogik unter anderem von dem religionsdidaktischen Ansatz der Elementarisierung geprägt. Dabei geht es primär um das Erarbeiten »elementarer Strukturen im Sinne der wissenschaftlichen Exegese, elementarer Erfahrungen, elementarer Zugänge, elementarer Lernformen und elementarer Wahrheiten, die bestimmend werden bei der Re-
10 Elisabeth Naurath, Erzählen, in: G. Lämmermann u.a. (Hg.), Arbeitsbuch Religionspädagogik. Ein Begleitbuch für Studium und Praxis, Gütersloh 2005, 291–293, hier 192. 11 Vgl. Andreas Leinhäupl-Wilke, Die Bibel als Buch des Lebens entdecken. Basiswissen für Erzieherinnen, in: M. Hugoth / M. Benedix (Hg.), Religion im Kindergarten. Begleitung und Unterstützung für Erzieherinnen, München 2008, 120–130, hier 123. 12 Vgl. Frieder Harz, Biblische Geschichten erzählen, in: F. Harz u.a. (Hg.), Religiöse und ethische Bildung und Erziehung im evangelischen Kindergarten. Aktivitäten und Projekte, Troisdorf 2008, 28–46, hier 29ff. 13 Vgl. Sarah-Lena Lasch / Norbert Mette, Die Förderung religiösen Spracherwerbs – Eine zentrale religionspädagogische Aufgabe im Elementarbereich. Eine Pilot-Studie, in: Anton A. Bucher u.a. (Hg.), »In der Mitte ist ein Kreuz«, JaBuKi 9, Stuttgart 2010, 123–139.
Teschmer Mitgefühl durch biblische Geschichten entwickeln?
zeption biblischer Texte.«14 In diesem Zusammenhang impliziert der Elementarisierungsansatz die Erforschung umfassender Wissensgebiete der kindlichen Aneignung. Da Kinder schon sehr früh in der Lage sind, individuelle Glaubensbilder und Metaphern zu produzieren und ihre theologischen Ansichten zu formulieren, entwickeln sie im Prozess der Auslegung biblischer Texte signifikante Zugänge und Deutungen und bringen ihre individuellen Erfahrungen, ihr Verstehensniveau und ihre Intentionen in den Interpretationsprozess ein, sodass eine adäquate Textinterpretation erfolgen kann.15 Kindergartenkinder setzen sich aktiv mit einem Text auseinander und probieren verschiedene Verstehensoptionen aus. Zudem verlangen Kinder nach einer von ihnen selbsthergebrachten Theologie, die ihre Imaginationskraft und Fantasie als aktiven Impuls für Theologie und Religionspädagogik erfasst und anerkennt.16 In diesem Kontext muss deutlich für eine entwicklungspsychologische Bibeldidaktik plädiert werden, die sich auf die subjektorientierte, lebensgeschichtliche, religiöse Entwicklung des Kindes bezieht. Denn nur dann können Kinder einen biblischen Text deuten und sich mit diesem intensiv auseinandersetzen. Nachfolgend nimmt eine biblische Geschichte eine Schlüsselfunktion hinsichtlich einer Sensibilisierung zum mitfühlenden Handeln ein. 3. Die Erzählung von Kain und Abel (Gen 4,1–16) als gewaltvoller Text
Obgleich es aus religionspädagogischer Sicht als durchaus problematisch gilt, mit Kindern Gewalttexte zu deuten, ist
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es für Jungen und Mädchen dennoch wichtig zu erfahren, dass Gott Gewalt zulässt – auch wenn Kinder in der Regel innerhalb ihrer religiösen Sozialisationsgeschichte einem liebenden und mitfühlenden Gott begegnet sind. Aus biblisch-theologischer Sicht offenbart sich Gott dem Menschen als mitfühlender und leidenschaftlicher Gott. Dabei kommt der biblische Terminus der Barmherzigkeit dem Terminus des Mitgefühls am nächsten. Für Jesus hat die Barmherzigkeit die höchste theologische und ethische Priorität. Er erklärt die Barmherzigkeit innerhalb verschiedener Parabeln zur Methode. Die Forderung nach Barmherzigkeit ist dabei identisch mit dem Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe. Die Liebe erklärt dabei das Wesen der Barmherzigkeit: »Wie ein roter Faden setzt sich in der Bibel das Thema Barmherzigkeit Gottes als Gabe und für den Menschen als Aufgabe fort, indem die Evangelien Jesu Hinwendung zu gesellschaftlich marginalisierten Menschen in den Vordergrund stellen. Sowohl inkarnationstheologisch (Gott wie Mensch) als auch kreuzestheologisch (Gott stirbt am Kreuz) ist eine christli-
14 Gerhard Büttner / Martin Schreiner, Im Spannungsfeld exegetischer Wissenschaft und kindlicher Intuition: Mit Kindern biblische Geschichten deuten, in: JaBuKi Sonderband, Teil 1: Altes Testament, Stuttgart 2004, 7–16, hier 7. 15 Vgl. Peter Müller, »Da mussten die Leute erst nachdenken …«. Kinder als Exegeten – Kinder als Interpreten biblischer Texte, in: JaBuKi 2, Stuttgart 2003, 19–30. 16 Vgl. Renate Hofmann, Batman in der Weihnachtsgeschichte? Kinder als Exeget/innen des Weihnachtsevangeliums Lk 2,1–21, in: JaBuKi 2, Stuttgart 2003, 132–139.
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Pädagogische Anregungen
che Gottesbezeichnung nicht apathisch vorstellbar. Das aber heißt: Gottes leidenschaftliche Liebe zum Menschen wählt den ›menschlichen‹, den leiblichen, emotionalen und mitfühlenden Weg zum Menschen.«17 Der Terminus des Mitgefühls zeigt verschiedene Verbindungslinien auf, indem einerseits theologische Grundlagen und andererseits ethische Implikationen in Korrelation gebracht werden und der Anfang jeder Ethik in dem von Gott begründeten Beziehungsgeschehen begründet liegt. Der theologische Ausdruck einer Gottesbeziehung unter dem Terminus des Mitgefühls wird im Sinne des ›sola gratia‹ subsumiert. Biblische Erzählungen leben von Emotionen jeglicher Art, sodass in diesem Zusammenhang auch auf die machtvoll eingreifende Seite Gottes eingegangen werden muss. Elisabeth Naurath formuliert in diesem Zusammenhang treffend: »Wer von Gott reden will, darf auch vom Bösen nicht schweigen!«18 Demnach wird deutlich, dass innerhalb der Religionspädagogik auch von den dunklen Seiten Gottes gesprochen werden muss. Bereits Kinder im Elementarbereich stellen die Theodizeefrage, die Frage nach dem ›Warum‹, nach dem Zulassen Gottes von Gewalt und Bösem in der Welt. Diese Gottesfrage angesichts der wahrnehmbaren Gewalt und des Bösen ist so alt wie die Gottesfrage selbst. Versucht wurde eine Vielzahl an Varianten zur Beantwortung dieser Frage zu entwickeln, doch argumentiert Ulrike LinkWieczorek zurecht kritisch: »Das Leiden kann nicht auf ›das Böse‹ als eine Macht zurückgeführt werden, die Gott gleichwertig wäre. In einer solchen Sicht wäre kein Raum für das christliche Bekenntnis zu Gottes endgültigem Heilswirken. Aus
diesem Grund hat sich schon das frühe Christentum gegen zeitgenössische religiöse Systeme gewehrt, die die Ambivalenz der Erfahrung von Lebensbewahrung und Lebensbedrohung durch einen Dualismus entsprechender Mächte zu erklären suchten.«19 Betont werden muss, dass biblische Geschichten nicht harmonisiert werden dürfen. Denn die gewalttätigen Eigenschaften Gottes korrespondieren mit den Spannungen im Neuen Testament. In beiden Testamenten finden sich eine Reihe von ›Gott-und-Gewalt-Verben‹20. Naurath macht deutlich, dass die Gewalttätigkeit Gottes lange vernachlässigt wurde und weist expressis verbis darauf hin, dass die Sichtung der Gott zugeschriebenen Gewalttätigkeit erschreckend erscheint. Obgleich sich biblisch betrachtet ein gewalttätiger Gott nicht leugnen lässt, entstehen Mechanismen der Verdrängung. Hermeneutisch ist dahingehend zu differenzieren, ob der Fokus biblischer Texte explizit auf der 17 Naurath, Mit Gefühl gegen Gewalt (wie Anm. 4), 47f. 18 Ebd. 37. 19 Ulrike Link-Wieczorek, Verzweiflung im Leiden und Ringen um den Gottesglauben, in: U. Link-Wieczorek u.a. (Hg.), Nach Gott im Leben fragen. Ökumenische Einführung in das Christentum, Gütersloh 2004, 22–46, hier 22. 20 »Gott rottet aus, vernichtet, reißt nieder, schlägt, zerschmettert, durchbohrt, tötet, schlachtet, macht kinderlos, frisst, verschlingt, zerreißt, macht krank, lässt hungern und verhungern, stachelt zum Kampf an« (Manfred Oeming, Gott und Gewalt im Alten Testament. Unzeitgemäße Betrachtungen eines Exegeten, in: N. Ammermann u.a. [Hg.], Frieden als Gabe und Aufgabe. Beiträge zur theologischen Friedensforschung, Göttingen 2005, 67–87, hier 68f).
Teschmer Mitgefühl durch biblische Geschichten entwickeln?
Gewalt liegt, oder ob zum Nachdenken über Gewalt angeregt werden soll und demnach eine effiziente Gewaltprävention durch biblische Erzählungen erfolgen kann. Obgleich die Gewaltthematik in biblischen Geschichten nicht außer Acht gelassen werden sollte, basiert die christliche Theologie auf einer liebevollen, zugewandten und mitfühlenden Beziehung Gottes zu jedem Menschen. Es handelt sich um eine Botschaft des Heils, die nicht den Blick auf die Wahrnehmung des Leides, der Gewalt und des Todes verklärt. Jesus leidet und stirbt für uns Menschen am Kreuz. Aber auch »am Ort der Gewalt ist Gott selbst mitleidend und mitfühlend.«21 Wenn Kinder von einem rächenden und zornigen Gott erfahren, besteht die Gefahr eines kognitiven Konflikts. Diesen Konflikt tragen die Erzieherinnen und Erzieher selbst aus, indem sie zu kontroversen Diskussionen ansetzen: Man könne es religionspädagogisch nicht verantworten, den Kindern einen Gott zu vermitteln, der Gewalt zulässt oder selbst als Gewalttäter dargestellt wird. Kindern solle ein bedingungslos liebender Gott vermittelt werden, alles andere wäre diametral. Im Gegenzug kann in diesem Zusammenhang angeführt werden, dass auch in Märchen Grausamkeiten geschildert werden.22 Zudem müssen Kinder, in deren Lebenswelt alltäglich Streitigkeiten, Grausamkeiten, Tod und Leid vorkommen, die Möglichkeit bekommen aus biblischen Vorbildsituationen für ihr Leben etwas lernen zu können. Das bedeutet nicht, dass man bei Streitigkeiten à la Kain seinen Streitpartner erschlagen soll, sondern dass man lernt Konflikte zu lösen, Konsequenzen zu ziehen und sich
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der Liebe Gottes (egal, wie man sich entscheidet) gewahr wird. Allerdings wirft der nur liebende Gott nicht nur in den biblischen Überlieferungen Probleme auf, sondern auch in Bezug auf die Lebenswirklichkeit der Kinder. Authentische Einblicke in die kindliche Psyche zeigen, dass sich bereits Vorschulkinder mit Konflikt- und Gewaltsituationen im Alltag auseinandersetzen müssen, beziehungsweise selbst Konflikte austragen oder mit Gewalt auf bestimmte Situationen reagieren. Das Dunkle und Böse darf demnach auch in der Bibel nicht verdrängt werden, sondern fordert eine altersgerechte religionsdidaktische Auseinandersetzung.23 Die Geschichte von Kain und Abel ist im Rahmen der Theologie der Urgeschichte zu betrachten. »Es geht um die condition humaine – hier um Kain als Prototyp des Menschen. Sein 21 Naurath, Mit Gefühl gegen Gewalt (wie Anm. 4), 41. 22 Im Alter von vier bis acht Jahren befinden sich Kinder entwicklungspsychologisch in der sogenannten magischen Phase und sind infolge dessen von Märchen fasziniert. Märchen entsprechen dem kindlichen, animistischen und magischen Denken. Dabei korrespondiert die eindeutige Sprachwahl mit dem SchwarzWeiß-Denken der Kinder. Einen Schonraum bieten Märchen keineswegs und sie stellen auch keine heile Welt dar. Grausamkeiten stehen im Fokus und entsprechen dem kindlichen Gerechtigkeitssinn. Bei Märchen kann immer von einer verlässlichen Botschaft ausgegangen werden, indem das Gute über das Böse siegt. Vgl. Teschmer, Mitgefühl als Weg zur WerteBildung (wie Anm. 1), 315 sowie Carl-Heinz Mallet, Kopf ab! Über die Faszination der Gewalt im Märchen, München 1990, 128–136. 23 Vgl. Anton A. Bucher, »Da hat der liebe Gott einen Wutanfall gehabt«. Gewalttexte in der Bibel. Zwischen Faszination und Trauma, in: JaBuKi 2, Stuttgart 2003, 64–74.
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Pädagogische Anregungen
Konflikt ist der Umgang mit Erfolg und Misserfolg. Es geht um Gottes Größe und um Gottes Gerechtigkeit.«24 Die Geschichte zeigt auch eine emotionale Zuwendung Gottes auf und die Frage nach dem Erfolg des Menschen. Darüber hinaus lässt sich das Thema der Gewalt im Zusammenhang mit dem Verlust eines Menschen thematisieren. Bei der Erzählung handelt es sich nicht um eine historische Begebenheit, sondern um eine existenzielle Geschichte über das, was das Menschsein zutiefst ausmacht. Die Geschichte erzählt etwas, was niemals war und doch immer ist. Die Protagonisten Kain und Abel konfrontieren die Leserinnen und Leser mit der menschlichen Schuld und mit einem Gott, der diese Schuld aufdeckt. Jedoch wird dem Schuldig-Gewordenen Gottes Mitgefühl und Fürsorge zuteil. Die Erzählung kann als ein Plädoyer gegen Gewalt zwischen Menschen und als Geschichte der Gottessuche bezeichnet werden. Zur Lebenswirklichkeit der Kinder gehören Gewalterfahrungen und -beobachtungen. Die Kinder kennen das Gefühl ungerecht behandelt zu werden, aber
auch geliebt zu werden. Auch kennen sie nicht selten aus eigener Erfahrung Opferund Täterrolle. In der Erzählung muss sich der Mensch selbst für gutes oder böses Handeln entscheiden. Die Strafe besteht in der Verwehrung des Lebens in Gottes Nähe. Durch die Erzählung entdecken Kinder die Auseinandersetzung mit dem eigenen Konfliktverhalten verbunden mit einer Reflexion über unterschiedliche Verhaltensweisen.25 Gewaltvolle Texte irritieren, sie erlauben ein Infragestellen des Bekannten und fordern bewusst zu Neuentdeckungen und zu konsequentem Entscheiden auf.26
24 Vgl. Hans-Jürgen Herrmann, »Zu meinem Bruder hätt ich noch nie so was getan!« Zweitklässler über Kain und Abel (Genesis 4), in: JaBuKi Sonderband, Teil 1: Altes Testament, Stuttgart 2004, 31–43, hier 31f. 25 Vgl. Susanne von Braunmühl, Was hast du getan, Kain? Die Urgeschichte vom Brudermord, in: Grundschule Religion 40 (2012), 8–10, hier 9. 26 Vgl. Michael Fricke, Ein gewalttätiger, dunkler, zorniger Gott? Zum Umgang mit schwierigen Texten der Bibel, in: Grundschule Religion 40 (2012), 4–7, hier 6.
Buchbesprechungen
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Buchbesprechungen
Die Grundschul-Bibel, herausgegeben von Axel Wiemer, Ernst Klett Verlag, Stuttgart 2014, 304 Seiten, ISBN 978-3-12-006660-6
Anzuzeigen ist die von Esther Richter, Axel Wiemer und Juliane Zeuch unter Mitarbeit von Karin Hank und Sara Henkel im Klett Verlag erarbeitete eigens für den Religionsunterricht in der Grundschule entwickelte Auswahlbibel »Die Grundschul-Bibel« mit der durchgängigen Illustration durch Liliane Oser und einer Auswahl von sechzehn Kunstbildern vor allem aus neuerer Zeit. Sie ist Teil einer ganzen Produktfamilie »Grundschul-Bibel«, die des Weiteren aus 80 Karteikarten zum selbständigen Arbeiten (978-3-12-006662-0), einem Lehrerband mit CD-ROM inkl. 120 Kopiervorlagen (978-3-12-006661-3), einer Audio-CD mit achtzehn größtenteils neu entstandenen Liedern und sechs Playbackversionen (978-3-12-006664-4) sowie einem Kniebuch mit zehn ausgewählten Illustrationen aus der Grundschul-Bibel in Großformat (978-3-12006663-7) besteht. Nach Angaben der Verfasser entstand die Grundidee zu diesem Projekt aus der Frage, wie Grundschulkinder Bibeltexte in deren eigenem Kontext kennenlernen und einen Zugang zur Bibel als Buch gewinnen können. Die grundlegenden theologischen und religionspädagogi-
schen Leitlinien des bibeldidaktischen Konzepts der Grundschulbibel lauten: 1. Die Bibel ist uns als Heilige Schrift vorgegeben. Auch die Einsicht in die Entstehung ihrer Texte aus dem Glaubenszeugnis von Menschen ändert nichts daran, dass der darin bezeugte Gott unverfügbar ist und bleibt. Die Gabe der Bibel achten wir also auch als Vorgabe. 2. Die Bibel zeichnet kein eindeutiges, sondern ein vielfältiges und vielschichtiges Gottesbild. Diese Vielfalt soll auch in der Grundschul-Bibel erkennbar werden. 3. Ebenso vielfältig wie das Gottesbild sind die menschlichen Lebenssituationen, in denen die Texte der Bibel entstanden sind. So regen die Texte zu eigenem Fragen und Nachdenken an und tragen dazu bei, Sprachfähigkeit und Lebenskompetenz für verschiedene Herausforderungen zu entwickeln. 4. Wir gehen davon aus, dass gerade diese Vielstimmigkeit der Bibel die richtige Weise ist, Antworten auf Fragen der Kinder anzubieten. Nicht nur theologisch, sondern auch religionspädagogisch ist eine Reduktion auf eindeutige Antworten nach unserer Überzeugung nicht angezeigt. 5. Etliche Evangelientexte bringen die Glaubensüberzeugung zur Sprache, dass Jesus als »Messias« bzw. »Christus«, »Sohn Gottes« oder »Herr« auf die Seite Gottes gehört, also nicht einfach nur
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Buchbesprechungen
ein Mensch ist »wie du und ich«. Entsprechend ist sein Tod am Kreuz für die Evangelien nicht (nur) ein tragisches, aber konsequentes Ende seines Lebenswegs, sondern hier geschieht etwas »für uns« bzw. »für viele«. Diese (christologischen und soteriologischen) Aussagen sollen auch in der Grundschul-Bibel deutlich werden. 6. Die Grundschul-Bibel soll in Form und Gestalt der Bibel vergleichbar sein, also nach biblischen Büchern und deren Kapitelfolge geordnet werden. Nach Möglichkeit sollen die ausgewählten Texte nicht völlig ihrer biblischen Kontexte entkleidet werden. 7. Die Grundschul-Bibel soll kein bewusstes konfessionelles Profil tragen. Als evangelisches Team gehen wir in der Erarbeitung der Texte gleichwohl von der Lutherübersetzung aus.1 Diese rundum äußerst gelungene Grundschul-Bibel enthält insgesamt »sechszehn Entdeckerseiten« mit hervorragenden Impulsen zum Nachdenken über Hintergründe und Aussageabsichten der Texte. Die beiden einleitenden Übersichtsseiten zum Alten und Neuen Testament (s. 6/7 und 171/172) akzentuieren unter anderem Fragen des Verhältnisses von Judentum und Christentum: »Die vielen Bücher der Bibel teilen wir in zwei Testamente ein: Das Alte Testament und das Neue Testament. Das Alte war zuerst da. Es ist die Heilige Schrift des jüdischen Volkes. Auch Jesus und seine Jünger kannten das Alte Testament. Klar, die waren ja Juden. Viele Juden glaubten an Jesus. Sie schrieben die Geschichten von ihm auf. Daraus entstand das Neue
Testament. Aber nicht alle Juden glaubten an Jesus. Darum gehört das Neue Testament nur zur christlichen Bibel. Das Alte Testament aber ist für Juden und Christen Heilige Schrift« (7). Die anderen vierzehn Entdeckerseiten tragen »Gott« im Titel und machen so eben das deutlich, dass die Bibel durchgängig Zeugnis von Gott ist. Die Verfasser begründen dies mit dem Hinweis auf Erkenntnisse der Kindertheologie: »Da sich das Fragen nach Gott auch im Theologisieren mit Kindern immer wieder als zentrale Dimension zeigt, weisen diese Überschriften außerdem auf die entsprechende Relevanz der Themen hin und wecken Energie für das eigenen Nachdenken.«2 Im Anhang finden sich hilfreiche Worterklärungen von Altar über Menschensohn bis Zöllner / Zoll, ein Personenverzeichnis von Aaron über Josua bis Zachäus sowie Ortslisten und sehr anschauliche Karten zum Alten und Neuen Testament (Israel und Juda zur Zeit des Alten Testaments, Länder und Völker zur Zeit des Alten Testaments, Das Land Jesu zur Zeit des Neuen Testaments sowie Das römische Weltreich und die ersten Christen). Martin Schreiner
1 Siehe Die Grundschul-Bibel. Lehrerband, Stuttgart 2015, 6f. 2 Ebd. 9.
Kraft Die Begegnung zwischen Philippus und dem Kämmerer aus dem Morgenland
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Friedhelm Kraft Die Begegnung zwischen Philippus und dem Kämmerer aus dem Morgenland – eine Bildmeditation
Das abgebildete Bronzerelief ziert die Außenwand der Kapelle der Loccumer Einrichtungen. Wer am Relief vorbeigeht, betritt den Haupteingang der Evangelischen Akademie Loccum. Zu sehen sind zwei Menschen, die nicht unterschiedlicher sein könnten: Eine eher hagere Figur zu Fuß neben einem Wagen, auf dem ein Mensch mit behäbiger Statur und vornehmer Kleidung sitzt. Beide sind verbunden durch das fragende und deutende Studium eines Buches. Der Sitzende hat seine offene linke Hand auf das Buch gelegt, während der andere mit seinem langen Finger auf eine Textstelle des Buches zeigt.
Die Darstellung verweist auf die Begegnung des Kämmerers aus Äthiopien mit Philippus, wie sie in der Apostelgeschichte im achten Kapitel überliefert wird. Was für eine bemerkenswerte Erzählung: Philippus, ein Evangelist aus Samaria, bekommt von einem Engel den Auftrag, sich auf die Straße aufzumachen, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt. Er trifft dort den mächtigen Hofbeamten, den Schatzmeister der äthiopischen Königin Kandake, sitzend in seinem Wagen und vermutlich kein Buch, sondern eine Schriftrolle in den Händen haltend. Unser Text spricht von einem Kapitel des
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Bildmeditation
Propheten Jesaja. Geleitet vom göttlichen Geist tritt Philippus auf ihn zu und fragt ihn, ob er denn verstehe, was er da liest. »Verstehst du auch, was du da liest?« Der Kämmerer war ein gebildeter Mann. Die Frage, »Verstehst du auch, was du da liest?«, hat es in sich. Sie könnte belehrend, ja sogar als arrogant verstanden werden. Ich weiß etwas, was du nicht weißt. Menschen, die über ein Mehr an Wissen verfügen, sind nicht immer angenehme Zeitgenossen. Insbesondere wenn sie es uns immer zeigen müssen. Und dann dieser Finger, in Übergröße. Was ist, wenn er sich von der Textstelle plötzlich auf die Person richtet? Du bist gemeint! Warum hast du es nicht verstanden? Menschen in Ausbildungszusammenhängen wird diese Frage alles andere als unbekannt sein: Sind Sie mitgekommen? Verstehen Sie die Aussagen des Autors? Können Sie die Aussagen nachvollziehen und sich dazu positionieren? Wie oft werden diese Fragen nicht nur Schülerinnen und Schülern gestellt? Sie gehören zum Alltagsrepertoire von Lehrenden. Und dann dieser lange Zeigefinger: Wofür steht er? Für die Überlegenheit oder die pädagogische Kompetenz von Lehrenden? Der lange Zeigefinger kann sehr unterschiedlich wahrgenommen werden. »Verstehst du, was du da liest?« So darf nur jemand fragen, der auskunftsfähig ist und in pädagogischen Perspektiven denken kann. Von Philippus wissen wir, dass er einer der sieben Diakone war, die die Apostel in Jerusalem zu ihrer Unterstützung eingesetzt hatten. Wenn Philippus sprach, kam Freude auf. So wird über sein Wirken in Samaria berichtet. Also
können wir aus gutem Grund sagen, dass hier der Zeigefinger nicht belehrend, sondern Ausdruck einer Didaktik ist, die von einem pädagogischen Ansatz des Zeigens weiß. Wer sich im pädagogischen Alltagsgeschäft bewegt, für den ist das Zeigen eine selbstverständliche und elementare Lehr- und Lernform. Aufgabe der Erziehung ist, den Kindern und Heranwachsenden die Welt und das Leben zu zeigen, und zwar zuerst und unausweichlich so, wie wir uns den Kindern zeigen. Sie ist Darstellung der Welt für diejenigen, die sie noch nicht oder unvollständig kennen. Die Pointe dieses Ansatzes: Wir zeigen unseren Kindern die Welt, indem wir uns zugleich als Person selbst zeigen, wie wir als Eltern oder Lehrpersonen Teil dieser Welt und des Lebens sind und damit als Person von dem Prozess des Zeigens nicht zu trennen sind. Klaus Prange hat in seiner Pädagogik die Zeigestruktur der Erziehung insgesamt herausgearbeitet.1 Das Zeigen hat immer eine thematische, aber eben auch eine soziale Seite. Zeigen ist gerade nicht distanziertes Belehren. Wir zeigen nie nur etwas. Derjenige, der etwas zeigt, weist nicht nur auf etwas hin, sondern indem er die Aufmerksamkeit auf etwas Bestimmtes richtet, zeigt er zugleich sich selbst. Anders formuliert: Ich kann nur das zeigen, was für mich von Bedeutung ist. Auch dies macht unser Text deutlich. Der Apostel hat eine Mission, er weiß 1 Vgl. Klaus Prange, Die Zeigestruktur der Erziehung. Grundriss der operativen Pädagogik, Paderborn 2005.
Kraft Die Begegnung zwischen Philippus und dem Kämmerer aus dem Morgenland
von seiner Beauftragung. Davon ist er bestimmt, der »Geist Gottes« – so heißt es im Text – lenkt seine Schritte. Zeigen heißt hier berichten, was der Apostel selbst erfahren hat und was ihm aufgetragen ist. Er wird zum Zeigenden, weil der Geist Gottes ihn leitet. Er ist als Person präsent, doch sie tritt hinter der Botschaft zurück. Die Pädagogik des Apostels zeigt noch ein Weiteres: Der Apostel fängt erst an zu reden, zu erklären, nachdem der Kämmerer seine Frage gestellt hat: »Von wem spricht der Prophet Jesaja eigentlich?« Erst dann – so vermerkt unser Text – »öffnet Philippus seinen Mund«. Auch das kann nicht jeder. Abwarten bis der Lernende seine Frage gestellt hat, dann erst Antworten. Die klassische Lehrerfrage implizierte immer schon die richtige Antwort. Lernen erfolgt anders. Auch dies zeigt unser Text. Erst mit der Frage des Kämmerers beginnt ein Lernvorgang – Lehrerinnen und Lehrer würden jetzt von »Sternstunden« reden bzw. vom »fruchtbaren Moment im Bildungsprozess« –, der in einem atemberaubenden Tempo erfolgt. Philippus erklärt dem fremden Gottessucher die schwierigen Bildworte aus einem der Gottesknechtslieder des Propheten Jesaja. Dort ist die Rede von einem Schaf, das klaglos zur Schlachtbank geführt wird. Er deutet dieses Geschehen, indem er – wie es im Text heißt – das Evangelium von Jesus verkündigt mit dem Ergebnis, dass sich der Kämmerer spontan taufen lässt. Die Frage nach dem Verständnis des Jesaja-Textes vom leidenden Gottesknecht ist mit Sicherheit keine Einstiegs-
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frage in den Glauben. Im Gegenteil: Sie fungiert eher als Ausstiegsfrage. Wer möchte sich schon mit einer Person identifizieren, die wie ein Schaf zur Schlachtbank geführt wird? Über wen sagt der Prophet dies?, so fragt der Kämmerer. Wer ist gemeint? Wir kennen die Deutung des Philippus. Aber überzeugt sie uns? Wir kennen die kritischen Fragen, die immer wieder gestellt werden: Warum verkündigt die Kirche, dass Gott das Blutopfer seines Sohnes verlangte, um uns zu vergeben? Die Apostelgeschichte überliefert im Rahmen dieser Erzählung einen für die urkirchliche Christologie zentralen Text. Die Verse aus dem Lied vom leidenden Gottesknecht aus Jesaja 53 werden hier zum ersten Mal christologisch auf das Leiden Jesu übertragen. Dennoch: Der Verfasser der Apostelgeschichte sagt nicht, wie diese Verse näher christologisch zu verstehen sind. Er sagt nur, dass sie so verstanden werden müssen. Es wird uns keine Auslegung des Zitats geboten. Die Deutung auf Jesus hin muss reichen. Damit bleibt dem Leser die Aufgabe gestellt, nachzuvollziehen, in welcher Weise sich in dem Text die Geschichte Jesu spiegelt. Die eigentliche Deutungsleistung wird also nicht vorgegeben, sie muss sich immer wieder neu vollziehen im lesenden Subjekt. Christologisches Denken ist das Ergebnis von Aneignungsprozessen, nicht das Ergebnis dogmatischer Belehrung. Der Kämmerer aus dem Morgenland war weder ein Anfänger im Glauben noch ein religiös ungebildeter Mensch. Er könnte sogar zur Gruppe der sogenannten Proselyten gehören. Die Gruppe der Nicht-
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Bildmeditation
juden, die zum Judentum übergetreten sind. Denn er pilgerte nach Jerusalem, betete im Tempel und ist im Besitz der Prophetenrolle. Dennoch bleibt die Frage des Philippus: »Verstehst du auch, was du da liest?« Sie ist die Grundfrage biblischer Hermeneutik und zugleich eine Grundfrage für unser »Lesen von Gottes Welt«. Philippus und der Kämmerer, der eine geht zu Fuß, der andere lässt sich fahren. Der Kämmerer öffnet seinen Wagen, Philippus die Schrift. Beiden ist ein Schatz
anvertraut, dem einen der Hofschatz seiner Königin, dem anderen das Geheimnis der Botschaft vom lebendigen Christus. Zwei unterschiedliche Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, aber vereint im Gespräch über die Bedeutung der Schrift. Philippus und der Kämmerer: Das ist eine Beziehung, aus der Glauben wächst. Auch wir haben es in der Hand: Wir können uns öffnen, fragen, zeigen und erklären. Der Finger, der hinweist, und die Hand, die empfängt. Möge dieses wechselseitige Geschehen unser Leben bestimmen.
Die Autorinnen und Autoren
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Die Autorinnen und Autoren
Dr. Barbara Brüning schrieb 1985 die erste Dissertation zum Philosophieren mit Kindern in Deutschland. Sie ist Professorin für Philosophiedidaktik an der Universität Hamburg und publiziert Lernwerke für den Ethik- und Philosophieunterricht. Dr. Gerhard Büttner ist em. Professor für Evangelische Theologie mit den Schwerpunkten Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Universität Dortmund. Mag. Gabriele Haas absolvierte ein Lehr amtsstudium für Philosophie, Psychologie und Pädagogik an der Universität Wien. Derzeit unterrichtet die Dipl. Religionspädagogin an der Volksschule Schrems (Niederösterreich). Bernd Hillringhaus ist Referent im Arbeitsbereich Kindergottesdienst, Michae liskloster, Ev. Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik der Ev.-Luth. Landeskirche Hannover. Dr. Christina Kalloch ist Professorin für Religionspädagogik am Institut für Katholische Theologie der Universität Hildesheim und im Lehrgebiet Katholische Theologie der Leibniz-Universität Hannover. Dr. Friedhelm Kraft ist Oberkirchenrat der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.
Dipl. Päd. Andreas Nicht ist Sonderschullehrer und anerkannter Spielleiter für Jeux Dramatiques. Er ist Dozent am Pädagogischen Institut Villigst der EKvW in Schwerte für Sonderpädagogik und Inklusion. Cornelia Oswald, Gymnasiallehrerin für die Fächer Deutsch, Politische Bildung/ Geschichte und Evangelische Religion ist Studienleiterin für Religionspädagogik am Pädagogisch-Theologischen Institut (PTI) der Evangelischen Kirche BerlinBrandenburg-schlesische Oberlausitz. Pastor Dirk Schliephake ist Beauftragter der Ev.-Luth. Landeskirche Hannover für den Kindergottesdienst. Er leitet den Arbeitsbereich Kindergottesdienst im Michaeliskloster, Ev. Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik. Dr. Martin Schreiner ist Professor für Religionspädagogik am Institut für Evangelische Theologie der Universität Hildesheim. Dr. Sabine Schreiner ist Lehrerin für Deutsch und Kunst am Bischöflichen Gymnasium Josephinum Hildesheim. Dr. Angela Steinke-Dörpholz, Studium der Germanistik und Evangelischen Theologie für das Lehramt an Gymnasien, promovierte in Germanistik und ist in Berlin als Religionslehrerin an verschiedenen Schulen tätig.
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Die Autorinnen und Autoren
Annika Stramer absolvierte 2014 das Lehramtsstudium mit den Fächern Ev. Theologie und Deutsch an der Universität Hildesheim. Derzeit unterrichtet sie u.a. konfessionell-kooperativen Religionsunterricht an der IGS Helpsen. Dr. Caroline Teschmer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Praktische Theologie / Religionspädagogik am Institut für Evangelische Theologie der Universität Osnabrück.
Dipl. theol. Franz Thalmann, Schulrat i.K., ist Referent für Religionspädagogik im Bischöflichen Generalvikariat Hildesheim. Dr. Frederic Vobbe ist Professor für Soziale Arbeit an der SRH-Hochschule Heidelberg. Dr. Mirjam Zimmermann ist Professorin für Religionspädagogik an der Universität Siegen.