Gesammelte Aufsätze zur Kindertheologie 3766845616, 9783766845610

Das Buch bietet eine umfassende Bestandsaufnahme der kindertheologischen Forschung des Theologen und Religionspädagogen

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German Pages [290] Year 2021

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Inhalt
Vorwort
I. Kindertheologie – eine Einleitung
II. Kindertheologie und Kinderphilosophie
III. Kindertheologie zwischen Entwicklungspsychologie und Theologie
IV. Kindertheologie im Vorschulalter
V. Christologie
VI. … andere Themen
VII. Theologie von Erzieher/innen und Lehrpersonen
Nachweis der Erstveröffentlichungen
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Gesammelte Aufsätze zur Kindertheologie
 3766845616, 9783766845610

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Gerhard Büttner Gesammelte Aufsätze zur Kindertheologie

Gerhard Büttner

Gesammelte Aufsätze zur Kindertheologie

Calwer Verlag Stuttgart

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Calwer Verlag-Stiftung.

eBook (pdf): ISBN 978-3-7668-4569-6 © 2021 by Calwer Verlag GmbH Bücher und Medien, Stuttgart – Alle Inhalte, insbesondere Texte, Fotografien und Grafiken sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, Kopieren und Bearbeiten der Datei, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags. Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek: Ein detaillierter Datensatz ist im Internet über https://www.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-7668-4561-0 © 2021 by Calwer Verlag GmbH Bücher und Medien, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags. Umschlaggestaltung: Karin Sauerbier, Stuttgart Satz und Herstellung: Karin Class, Calwer Verlag Druck und Verarbeitung: Mazowieckie Centrum Poligrafii – 05-270 Marki (Polen) – ul. Słoneczna 3C – www.buecherdrucken24.de Internet: www.calwer.com E-Mail: [email protected]

Inhalt

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

I. Kindertheologie – eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

II. Kindertheologie und Kinderphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

„Die khindlen haben so feine gedancken de deo [über Gott]“ (Martin Luther) – Über die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Kinder-Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Landkarten des Denkens – Argumentationsstrukturen beim Nachdenken über das Verhältnis zwischen göttlicher Führung und menschlicher Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Kindertheologie zwischen „Glaubenswissen“ und „Kinderphilosophie“ . . . . 41

III. Kindertheologie zwischen Entwicklungspsychologie und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

Woher haben die Kinder ihre Theologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kindertheologie – beobachtet. Dekonstruktive Ansichten . . . . . . . . . . . . . Die Rolle der Tradition beim Theologisieren mit Kindern . . . . . . . . . . . . . Kinder – Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Kindertheologie im Vorschulalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

Kontingenzverarbeitung als kognitiver Kern des Religiösen bei Vorschulkindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Religiöse Erziehung als Arbeit am „kulturellen Gedächtnis“ – Überlegungen zur Gebetspraxis im Kindergarten . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Das Jesuskind zwischen Christkind und Weihnachtsmann – Untersuchungen zur Genese der Weihnachtsgestalten bei Vorschulkindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 5

Inhalt



„Engel“ – zwischen biblischen Geschichten und kindlicher Phantasiewelt – Empirische Einblicke in die kindlichen Konstruktionsweisen . . . . . . . 165

V. Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

„Halb Mensch, halb nicht, das weiß man nicht so sehr, denn Jesus ist ja eigentlich Gottes Sohn!“ – Kindliche Versuche, die Paradoxien der Christologie bildhaft auszudrücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Christologie als Wissensdomäne – theologische und didaktische Konsequenzen im Hinblick auf aufbauendes Lernen . . . . 191 „Erlöst durch Christi Blut?“ – Die Bedeutung des Kreuzestodes Christi in der Sicht von Schüler/innen der 6. Klasse . . . . . . . . . . . . . . 206

VI. … andere Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Kinder als Exeget/innen der Heiligen Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Der „Heilige Geist“ in der Vorstellungswelt der Kinder . . . . . . . . . . . . . . 226 „Zwei Personen zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Stellen können nicht ein und dieselbe Person sein, das ist unmöglich –“ Annäherungen an das Thema Trinität im Unterrichtskontext . . . . . . . 234 Mit Kindern und Jugendlichen über den Himmel sprechen . . . . . . . . . . . 246 Familienkommunikation und kindliche Gottesvorstellungen im Lichte von Kinderbüchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

VII. Theologie von Erzieher/innen und Lehrpersonen . . . . . . . . . . . . . 279 Erzieher/innen-Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Die Theologie der Kinder, die Theologie der Lehrpersonen . . . . . . . . . . . 285

Nachweis der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

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Inhalt

Vorwort Seit etwa einem Vierteljahrhundert gibt es einen Diskurs über das, was wir heute selbstverständlich „Kindertheologie“ nennen. Es gibt dazu mehrere Qualifizierungsarbeiten, die dabei auch den bisherigen Diskussionsverlauf dokumentieren. Eine Monografie zum Thema existiert bisher noch nicht. Die hier vorgelegte Sammlung von Aufsätzen umspannt mehr als 20 Jahre und lässt sich als systematische Darstellung meines Konzepts von Kindertheologie verstehen. Die Sammlung versteht sich als Ergänzung zu meinen Beiträgen im „Jahrbuch für Kindertheologie“, wenngleich zwei dort erschienene Aufsätze auch in den vorliegenden Band übernommen wurden. Ich habe mich in diesem Band auf solche Titel konzentriert, die ich alleine verfasst habe, was mir nicht immer leicht gefallen ist. Dass dieses Buch im Calwer Verlag erscheinen kann und von Dr. Berthold Brohm hervorragend betreut wurde, ist nur ein weiteres Zeichen dafür, wieviel die Kindertheologie der Tatsache verdankt, dass er und der Verlag sich von Anfang an für diese Sache stark gemacht haben. Für all das herzlichen Dank! Frau Lena Muhn hat emsig dazu beigetragen, dass die Aufsätze die angemessene Form erhielten. Auch dafür herzlichen Dank! Widmen möchte ich das Buch den europäischen Freundinnen und Freunden der Kindertheologie Noemi Bravená (Prag), Anton A. Bucher (Salzburg), Annemie Dillen (Löwen), Henk Kuindersma (Dokkum) und Elisabeth E. Schwarz (Wien). Haßmersheim, im Frühjahr 2021

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I. Kindertheologie – eine Einleitung

I. Kindertheologie – eine Einleitung Seit dem letzten Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende gibt es in der deutsch­ sprachigen Religionspädagogik ein verstärktes Interesse für die Art und Weise, wie Kinder mit den Inhalten und Formen der religiösen Überlieferung umgehen. Anton A. Bucher und Friedrich Schweitzer fanden – unabhängig voneinander – dafür das Wort „Kindertheologie“. Seit 20 Jahren wird der Diskurs darüber maßgeblich in den „Jahrbüchern für Kindertheologie“ geführt, und dieser erhielt Unterstützung durch wichtige Qualifikationsarbeiten. Es gab immer wieder stilbildende Anregungen, wie etwa die Kasseler Forschungswerkstatt von Petra Freudenberger-Lötz oder Kurse zum Philosophieren und Theologisieren, die Anton A. Bucher und Elisabeth E. Schwarz in Österreich veranstaltet haben. Inzwischen findet sich das Stichwort „Kindertheologie“ in zahlreichen Curricula. Da ich selbst das Projekt „Kindertheologie“ von Anfang an durch Veröffentlichungen begleitet habe, könnte die Publikation dieser Aufsätze ein Ersatz für eine mögliche Monografie sein. Beim Zusammenstellen der Beiträge wurde mir mein besonderer kindertheologischer Stil bewusst. Zentral sind für mich dokumentierte Gespräche mit Kindern. Auch wenn man ein mögliches Missverstehen nie ausschließen kann, so zeigen diese Gespräche in eindrücklicher Weise, was Kinder gedanklich zustande bringen können. Dabei muss klar sein, dass die ins Auge gefasste Aussage immer nur bedingt verallgemeinert werden kann, ja dass dasselbe Kind zu einem anderen Zeitpunkt möglicherweise anders argumentieren wird. Immerhin zeigt jedes Beispiel, was prinzipiell möglich ist. Dies hat zu dem Vorwurf der ‚Rosinenpickerei‘ geführt – dem man aber entgegenhalten kann, dass bei optimaler Förderung die meisten Kinder auf einem entsprechenden Niveau entsprechende Beiträge liefern können. Dies löst noch nicht die Frage, inwieweit wir es hier mit ‚Theologie‘ zu tun haben. Die meisten Gesprächsprotokolle werden in der kindertheologischen Forschung nach einem Verfahren ausgewertet, das sich mehr oder weniger an der sog. ‚Grounded Theory‘ orientiert, einer Variante qualitativer Sozialforschung.1 Theoriegemäß 1 Gerhard Büttner, „Experimental Teaching“ zur Christologie. Kategorisierung als Forschungsmethode, in: Dietlind Fischer / Volker Elsenbast / Albrecht Schöll (Hg.), Religionsunterricht erforschen. Beiträge zur empirischen Erkundung von religionsunterrichtlicher Praxis, Münster 2003, 172–187.

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I. Kindertheologie – eine Einleitung

findet man die Kategorien, die den Sinngehalt der Protokolle sichtbar machen, im Auswertungsprozess selbst. Wenn ich Kindern die Frage vorlege, warum Gott zur Vergebung der menschlichen Schuld seinen Sohn Jesus Christus sterben ließ, dann erhalte ich ein Bündel sich z.T. widersprechender Antworten.2 Wie gehe ich etwa mit den beiden folgenden Aussagen um: „Gott bestrafte Jesus, weil er etwas Böses getan hat“ und „Gott lässt Jesus leiden als Ausgleich für unsere Sünden“? Im Sinne kognitivistischer Entwicklungstheorien (in der Folge von Fritz Oser) kann ich feststellen, dass beide Aussagen einem Do-ut-des-Modell folgen. Als (an der Bibel orientierter) Theologe kann ich nur sagen, dass nur die zweite Aussage theologisch und sachlich korrekt ist. Andere Antworten verweisen auf das Theodizee-Problem, wenn sie das Handeln Gott-Vaters in diesem Fall thematisieren. Man sieht, dass es kaum möglich ist, Aussagen außerhalb dieser vorgegebenen Interpretationsrahmen zu finden. D.h., dass Kinderäußerungen zu theologischen Fragen in der Regel auch als ‚Theologumena‘ verstanden werden können. Doch aus dieser Betrachtungs­ weise ergibt sich eine radikale Konsequenz. Wir sind es gewohnt, Aussagen der Theologie nach Kriterien der Richtigkeit zu ordnen bzw. Nuancierungen etwa zwischen orthodox und liberal einzuzeichnen. Doch prinzipiell können wir diese auch unter kognitionstheoretischen Kriterien unterscheiden. Der für die alttestamentliche Theologie so wichtige Tun-Ergehens-Zusammenhang lässt sich beispielsweise als Variante eines Do-ut-des-Schemas lesen. Von diesen Prämissen her ist es sinnvoll und möglich, kindliche Äußerungen über ‚Gott und die Welt‘ in den Modus der Theologie einzuordnen. Natürlich besteht dabei immer auch die Gefahr, Dinge misszuverstehen oder sie überzuinterpretieren. Doch in der Praxis zeigt sich eher das Problem, dass die Breite der kindlichen Beiträge den theologischen Horizont von Eltern, Lehrer/innen und Erzieher/innen überschreitet, so dass diese die Qualität der Beiträge nicht erkennen. Insofern sind das Aufzeigen der theologischen Qualität kindlicher Aussagen und deren Verortung zentrale Aufgaben der Kindertheologie. Durch solches Vorgehen entstand ein Fundus von Wissen, der es ermöglicht, Kenntnis davon zu haben, in welchen Vorstellungswelten sich das kindliche Denken über theologische Fragen bewegt. Dies bildet nun aber die Voraussetzung dafür, das religiöse Bildungsangebot zielgenauer zu adressieren. In den Beiträgen dieses Buches wird gewissermaßen exemplarisch gezeigt, wie das kindertheologische Projekt alters- und themenbezogen profiliert werden kann.

2 Anke Blümm / Gerhard Büttner, „… es ist Gott nicht leicht gefallen, seinen einzigen Sohn zu opfern.“ Wie Schüler/innen der Klassenstufen 4–8 den Tod Jesu sehen, in: entwurf, Heft 1, 1998, 35–37.

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„Die khindlen haben so feine gedancken de deo [über Gott]“ (Martin Luther)

II. Kindertheologie und Kinderphilosophie Das Interesse an den Fachdidaktiken der Nachbarfächer war lange Zeit in der Religionspädagogik eher gering. Dies galt auch für das ‚Ersatzfach‘ Philosophie / Ethik. Doch als in den neuen Bundesländern der Unterricht in diesem Fach auch in der Grundschule eingeführt wurde, entstand ein Nachdenken darüber, was Philosophie mit Kindern bedeuten könnte. So kamen Versuche in den Blick, eine solche Praxis zu etablieren. Es ist das große Verdienst Rainer Oberthürs, diesen Diskurs in seinem Buch über die ‚großen Fragen‘ referiert zu haben.1 Dieser Impuls führte bei mir dazu, diese Diskussion genauer zu verfolgen. Für mich war damals frappierend, dass ich in den Werken z.B. von Matthews und Freeses kindlichen Fragen und Antworten begegnete, die nach meinem Dafürhalten den Kern dessen betrafen, was eigentlich den Religionsunterricht ausmachen sollte. Doch dieser interessierte sich in den Jahren vor der Jahrhundertwende eher für religiöse Phänomene in der Alltagskultur oder interreligiöse Themen als für die existentiellen Fragen von Kindern. Die empirischen Befunde der Kinderphilosophie waren insoweit ein wichtiges Argument, als sie deutlich machten, dass eine Orientierung am Kind mit einer gewissen Zwangsläufigkeit in die Richtung dessen gehen musste, was später Kindertheologie heißen sollte. Schaut man sich die Praxis des Philosophierens mit Kindern im Unterricht an, so zeigt sich – nach der Beobachtung von Mechthild Ralla – ein gewichtiger Unterschied zum Religionsunterricht.2 So arbeitet Ersterer vor allem die Argumentationen und deren Logik heraus, wohingegen Letzterer eher assoziative Verknüpfungen (etwa zu biblischen Narrativen) fördert. Dies erschwert es den Religionslehrkräften, eine genaue Kartografie ihres Themas zu erstellen. Genau dies ist die Voraussetzung dafür, dass Lehrkräfte beim Theologisieren adäquat auf die Voten der Schüler/innen reagieren können. In diese Richtung geht mein Aufsatz zu den ‚Landkarten des Denkens‘. Neuerdings haben Oliver Reis und ich diesen Ansatz zu einer allgemeinen Modelltheorie weiterent­wickelt.3 1 Rainer Oberthür, Kinder und die großen Fragen, München 1995. 2 Mechthild Ralla, „Also, was jetzt tot ist und noch nicht gelebt hat, das gibt’s eigentlich nicht.“ Neunjährige im Gespräch mit Philosophen und Theologen über Leben und leben, in: P. Müller/ M. Ralla (Hg.), Alles Leben hat ein Ende. Theologische und philosophische Gespräche mit Kindern, Frankfurt a.M. 2011, 47–70, 67. 3 Vgl. Kap. VII in diesem Band.

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II. Kindertheologie und Kinderphilosophie

Die meisten Dokumentationen zum Theologisieren mit Kindern im Kontext von Schule stammen aus dem konfessionellen RU. Dies fällt besonders im europäischen Vergleich auf. In vielen Ländern stellt sich die Frage, wie und wo das Gespräch über die ‚großen Fragen‘ mit Kindern organisierbar ist. Dabei wird die oben erwähnte Beobachtung relevant, dass das spekulative Philosophieren gewissermaßen zwangsläufig auch zu religiösen Fragestellungen führt. Wie lässt sich eine solche Praxis denken? Dem nähert sich mein dritter Beitrag „Kindertheologie zwischen ‚Glaubenswissen‘ und ‚Kinderphilosophie‘“.

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„Die khindlen haben so feine gedancken de deo [über Gott]“ (Martin Luther)

„Die khindlen haben so feine gedancken de deo [über Gott]“ (Martin Luther)1 Über die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Kinder-Theologie

Martin Luther spricht von den „feinen Gedanken“ der Kinder in den „Tischreden“ voll Bewunderung. Dies ist gewiss ein Lob des Kinderglaubens. Doch scheint er beim Wort „Gedanken“ weniger das Denken der Kinder zu meinen, denn er fährt fort: „Non enim habent cogitationes de Deo“2, auf Deutsch, denn sie reflektieren nicht über Gott. Entbehrt der Glaube der Kinder wirklich des tieferen Nachdenkens, der logischen Überlegung? Dieser Fragen möchte ich im Folgenden nachgehen. Um unserem Thema gewissermaßen live zu begegnen, müssen wir uns als Lauscher in ein Kinderzimmer begeben. Dort spielen gerade drei 5-jährige Kinder und unterhalten sich über Gott: „Mascha: Der sieht bunt aus … Fabian: … und hat Arme. Und hat … Mascha: … Beine. Fabian: Beine. Und hat alles normal wie ein Mensch. Aber das ist dran, dass er viele Menschen in seinem Körper hat und er die immer wieder lebendig bringen kann. Aber bloß keinen Menschen, der tot gegangen ist, kann er wieder lebendig bringen. Mascha: Und er kann keine Autos lebendig bringen. Fabian: Gott hat ja alles erfunden. Gott hat die Menschen erfunden und Gott hat ja auch das erfunden, dass in Echt keiner zaubern kann. – Aber das kann sich niemand vorstellen. Sarah: Auch wenn man‘s sich nicht vorstellen kann – aber das kann sich niemand vorstellen, ob das echt stimmt oder nicht. Das kann niemand wissen. Mascha: Der Gott sitzt auch in der Apfelsine. Das könnte doch sein, dass Gott in einer Apfelsine sitzt. Und ich glaube auch, dass Gott immer da im Tuch sitzt. Man kann‘s nicht sehen. Leider, leider.“3 1 Martin Luther, Weimarer Ausgabe, Tischreden 2, 412. – Mein Dank gilt Elsbeth Rose Frank und Dr. Hartmut Rupp, die mir jeweils eines der schönen Beispiele genannt haben. 2 Ebd. 3 Reinhard Kahl, Laufen, Sprechen, Lutschen. Mascha, Fabian, Sarah, in: Antoinette Becker / Hartmut v. Hentig (Hg.), Geschichten mit Kindern. Velber 1996, 117–122, 121f.

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II. Kindertheologie und Kinderphilosophie

Was haben wir gehört und wie reagieren wir? Erst schmunzeln wir, denken an andere Aussagen aus Kindermund, die wir gelesen oder gehört haben. Doch wenn wir unsere wissenschaftliche Brille aufsetzen, was erblicken wir dann? Wenn wir Piaget-Kenner/innen sind, dann fällt uns der Artifizialismus auf: „Gott hat ja alles erfunden.“ Alles was ist, muss geschaffen worden sein, vom Handwerker, vom Bauern oder von Gott. Als Konsequenz daraus ergibt sich nach Fetz: „Alles, was ist, hat einen Sinn und letztlich einen Sinn für den Menschen.“4 Diese Erfahrung, dass alles einen Sinn hat, ist wohl das Kernstück dessen, was wir gemeinhin Kinderglauben nennen. Doch ist dieser Begriff sehr schillernd. In der Geschichte der Religionspädagogik gab es immer Vertreter, die diesen Kinderglauben idealisiert haben gemäß dem Jesuswort „wenn ihr nicht werdet wie die Kinder“. Andere sahen ihn als Ausdruck von Unreife an, die möglichst bald oder zu ihrer Zeit zu überwinden sei. Die neuere Diskussion ist gerade dabei, die Bedeutung des Kinderglaubens als eigenständige Hervorbringung stärker zu würdigen. Dies geschieht nicht zuletzt als Konsequenz der Säuglingsforschung. Außerdem erweist sich die angelsächsische Unterscheidung zwischen „faith“ und „belief“ als hilfreich. Nipkow hat im Zusammenhang mit Fowler das Wort „faith“ mit Lebensglaube übersetzt. Er wollte damit hervorheben, dass es hier um ein Stück Haltung geht, die nicht nur das Denken, sondern auch alle anderen Funktionen des Menschen umfasst. Doch wie ist es mit dem „belief“, den Glaubensinhalten? Lassen sich in dem von mir präsentierten Abschnitt wirkliche „Inhalte“ ausmachen? Spontan möchte ich zwei Einfälle nennen: die Tatsache, dass Gott „viele Menschen in seinem Körper hat“, hat Verwandtschaft mit dem Bild des Paulus vom Leib Christi, der sich aus der Gemeinde der Christinnen und Christen zusammensetzt. Die Angebote von Mascha, Gott in der Apfelsine und im Tuch zu sehen, lassen sich als Bemühung verstehen, das Problem der Gegenwart Gottes angesichts seiner Unsichtbarkeit zu begreifen. Unter dem Stichwort der Ubiquität, d.h. Allgegenwart Gottes hat diese Frage auch Theologen von Rang beschäftigt.5 Doch sind Mascha und die anderen Kinder deswegen schon „Theologen“, wie in der neueren Diskussion Anton Bucher als erster behauptet hat?6 Oder handelt es 4 Reto Luzius Fetz, Der Kinderglaube. Seine Eigenart und seine Bedeutung für die spätere Kindheit, in: Engelbert Groß (Hg.), Der Kinderglaube. Perspektiven aus der Forschung für die Praxis, Donauwörth 1995, 25. 5 Johannes Stöhr, Allgegenwart (Omnipräsenz) Gottes. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel/Stuttgart 1971, Sp. 162ff. 6 Anton A. Bucher, Kinder als Theologen?, in: RL Heft 1 (1992), 19ff.

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„Die khindlen haben so feine gedancken de deo [über Gott]“ (Martin Luther)

sich hier eher um das, was ein Kritiker in der Diskussion als „Kinder-Theo-Phantasie“ bezeichnet hat? Es geht dabei natürlich um das „Logische“ im Wort Theologie. Anton Bucher möchte, dass man den Kindern zubilligt, „dass sie – auf ihre eigene Weise – auch ‚Theologen‘ sind, die sich darum bemühen, mit der Frage nach dem Letzten und Unbedingten zurechtzukommen und auf sie eine Antwort zu finden.“7 Glücklicherweise findet eine solche Sichtweise neuerdings auch Zuspruch zumindest von einigen Systematischen Theologen. So schreibt etwa Wilfried Härle in seiner Dogmatik8: „Damit der Glaube das ganze Dasein eines Menschen erfassen und durchdringen kann, ist es notwendig, dass auch das menschliche Denken (samt aller Fragen, Zweifel und Einwände) nicht ausgeklammert, sondern einbezogen wird. Dies geschieht normalerweise in Gestalt einer sog. Laientheologie, die auch schon bei Kindern in bemerkenswerten Ansätzen ausgebildet sein kann.“ Die wissenschaftliche Theologie wäre nach Härle demnach ein Sonderfall, der im Prinzip dasselbe betreibt wie die Laientheologie, allerdings nach systematisierteren Spielregeln und Kriterien. Trotz dieser Ermutigungen wird das Projekt „Kindertheologie“ jedoch noch einer intensiveren Diskussion bedürfen, wenn es mehr sein soll als eine anregende Metapher. Glücklicherweise kann unser Nachbarfach schon auf eine über 10-jährige Diskussion zum Thema „Kinderphilosophie“ zurückblicken. Ich werde deshalb jetzt wichtige Überlegungen aus dieser Diskussion hier vorstellen. Daran werde ich die Übertragbarkeit dieser Ergebnisse diskutieren und Konsequenzen für Unterricht und Lehrer/innenausbildung formulieren.

Kinderphilosophie Nach dem instruktiven Überblick von Stephan Englhart9 gibt es zwei Grundtypen von „Kinderphilosophie“: Vermittlungstheorien und Haltungstheorien. Ersteren geht es – verkürzt gesagt – vor allem um die Vermittlung rationaler Argumentationsformen bei Kindern. Bei den sog. Haltungstheorien steht dagegen ein entsprechendes Eingehen auf die Produkte kindlichen Phantasierens und Nachdenkens im Mittelpunkt. Theologisches und religionspädagogisches Nachdenken kann wohl besonders von den Autoren der zweiten Gruppe profitieren. Wie andere Rezipienten10 konzentriere ich mich dabei auf die beiden Autoren Gareth Matthews und Hans-Ludwig Freese. Neben der grundsätzlichen Affinität zu deren Arbeitsweise gefällt mir bei diesen, 7 Ebd., 20. 8 Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin/New York 1995, 65. 9 Stephan Englhart, Modelle und Perspektiven der Kinderphilosophie, Heinsberg 1997. 10 Z.B. Rainer Oberthür, Kinder und die großen Fragen, München 1995.

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II. Kindertheologie und Kinderphilosophie

dass sie die religionsphilosophische Dimension bei ihrer Arbeit weder ausblenden noch gar rationalistisch brechen wollen. Drei Fragestellungen möchte ich herausstellen: 1. Mit welchen Materialien arbeiten Matthews und Freese? 2. Wie nehmen sie die Argumentationen der Kinder auf? 3. Wie definieren sie Ziel und Bedeutung ihres Unternehmens? Zum ersten Punkt geben wir Matthews selbst das Wort: „Als Anstoß zum gemeinsamen Nachdenken mit diesen jüngeren Menschen benutze ich gewöhnlich Erzählungen, entweder schon vorhandene oder auch solche, die ich selbst zu diesem Zweck geschrieben habe: Die selbst verfassten Geschichten stelle ich immer in unvollendeter Form dar. Bei den Kindern suche ich dann Rat, wie die Erzählungen zu vervollständigen wären. Um eine dieser unvollständigen Geschichten zu ergänzen, braucht man eine Antwort auf eine schon in der ersten Hälfte vorgekommene Philosophische Frage. Und es geht nicht nur um die Aufgabe, die dort angesprochene Frage – z.B. ‚Was heißt tapfer sein?‘ oder ‚Wie kann ich wissen, ob ich jetzt träume?‘ – einfach zu beantworten, sondern auch darum, dass man seine Antworten gegen mögliche Einwände verteidigen kann. […] Es fragt sich, ob auch klassische Texte der Philosophie diesem Zweck gut dienen könnten. In diesem Zusammenhang denkt man natürlich an PLATON, insbesondere an die frühen Dialoge. Dienen Abschnitte aus diesen Dialogen nicht als idealen Reiz zum Philosophieren, auch mit Kindern?“11 Die Qualität der Kinder-Beiträge zeigt sich in Episoden, wie sie etwa Matthews von einem Seminar erzählt, wo eine Studentin mit dem 7-jährigen Michael das folgende Gespräch führt: „Die Diskussion begann mit Überlegungen über das Böse und seinen Ursprung. ‚Was macht Menschen böse?‘ ‚Sind Menschen schon immer böse gewesen?‘ und so weiter. Das Gespräch wandte sich dem Wesen des Weltalls zu und schließlich der Frage, ob das Weltall unendlich ist. Meine Studentin hat vermutlich niemals ernsthaft darüber nachgedacht, ob das Weltall unendlich ist. Michael sehr wohl: ‚Mir ist die Vorstellung eines Universums ohne Ende unsympathisch. Das macht mir so ein komisches Gefühl im Magen. Wenn das Weltall immer weiter besteht, gibt es keinen Platz für Gott, der es erschaffen hat.“12 11 Gareth Matthews, „Freundschaft“ und „Autorität“. Sokrates in der Schule: Ein Versuch, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie, Heft 3, 1993, 174–178. 12 Ders., Denkproben. Philosophische Ideen jüngerer Kinder, Berlin 1991, 52.

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„Die khindlen haben so feine gedancken de deo [über Gott]“ (Martin Luther)

Der Clou liegt nun darin, dass diese durchaus gehaltvollen kindlichen Beiträge nicht beliebig sind, wie Hans-Ludwig Freese nachdrücklich herausstreicht: „Kinder haben bisweilen überraschende philosophische Einsichten, in denen man im Kern die Gedanken der großen Philosophen wiederfindet. Toni drückte einen Gedanken von Anselm von Canterbury aus, wenn er von Gott sagt: ‚Er ist sooo groß, soooo groß – er ist eine Idee.‘ Günther schließt aus dem Satz, dass Gott alles geschaffen habe, ‚Wie merkwürdig, dass sich Gott selbst geschaffen hat.‘, womit er den Gedanken, Gott sei causa sui, Ursache seiner selbst, ausspricht. Nicola befindet, dass alles zu wissen und zu besitzen, was man wolle, dem Leben jeden Reiz nähme, ähnlich wie Heraklit, von dem das Wort überliefert ist: ‚Für die Menschen wäre es nicht besser, wenn ihnen alles zuteil wird, was sie wollen.‘“13

Ich breche hier die Reihe der Beispiele ab, obgleich sich bei Matthews und Freese noch zahlreiche, auch breiter dokumentierte, finden lassen. Den Stellenwert des Gesprächs bei Matthews charakterisiert Englhart so: „1. Es ist für Erwachsene gewinnbringend, zusammen mit Kindern philosophische Fragen zu reflektieren. 2. Die Beziehung Erwachsener – Kind soll frei von jeglicher Herablassung und von ungleicher Machtverteilung sein. Kinder sollen als gleichwertige Gesprächspartner betrachtet werden.“14 Und Helmut Schreier sieht eine zentrale Absicht bei Matthews zu zeigen, „dass Kinder sich mit den gleichen Fragen beschäftigen, an denen die Philosophie sich systematisch abarbeitet.“15 Deshalb kann es im philosophischen Gespräch auch nicht im Sinne der naturwissenschaftlich geprägten Erkenntnislehre darum gehen, „richtige“ oder „richtigere“ neuere Erkenntnisse gegen „falsche“, weil überholte auszuspielen. Denn in der Philosophie steht wie in der Kunst ein Konstrukt neben dem anderen: Popper ist nicht richtiger als Kant oder Plato, Picasso nicht richtiger als Rembrandt oder eine Höhlenzeichnung.16 Bevor wir den Sprung zur Theologie machen, sollten wir noch zur Kenntnis nehmen, wie denn die Vertreter der „Kinderphilosophie“ ihr Verhältnis zur wissenschaftlichen Philosophie bestimmen. Englhart bietet hier im Anschluss an Barbara Brüning die Unterscheidung in eine esoterische Philosophie der Fachphilosophen und eine exoterische Alltagsphilosophie. Beide haben ihren Ort und ihre 13 Hans-Ludwig Freese, Kinder sind Philosophen, Weinheim 51994, 14. 14 Stephan Englhart (wie Anm. 9), 117. 15 Helmut Schreier, Geleitwort zur deutschen Ausgabe, in: Gareth Matthews (Hg.) (wie Anm. 11), 11. 16 Ebd., 11f.

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II. Kindertheologie und Kinderphilosophie

Notwendigkeit. Zwingend aber ist, dass beide sich aufeinander beziehen lassen: „Eine esoterische Theorie ist nutzlos, wenn sie sich nicht praktisch bewährt. Eine nicht an esoterischen Theorien orientierte [philosophische] Praxis gerät in Gefahr, wahl- und grundlos ins Blaue zu handeln.“17

Kinder-Theologie Lassen sich nun diese Einzelaspekte vom Feld der Kinderphilosophie in den Bereich einer Kinder-Theologie übertragen? Beginnen wir mit der Präsentation des Materials. Matthews bevorzugt offene Fragen. Diese unterscheiden sich grundlegend vom didaktisch verzweckten Fragen dadurch, dass der Frager um die grundlegende Fragwürdigkeit seines Themas weiß. D.h., dass auch dort, wo er oder sie einen bestimmten Antwortweg bevorzugt, die grundsätzliche Möglichkeit für alternative Antworten gewahrt bleibt. Eine inzwischen schon klassisch gewordene Präsentationsform ist das Dilemma. Darauf haben besonders Lawrence Kohlberg und seine Schüler/innen aufmerksam gemacht. Da es keine eindeutig richtige Antwort geben kann, provozieren diese Geschichten immer neue kreative Lösungsversuche. Nach meiner Beobachtung scheuen wir uns viel zu häufig, uns zur Dilemmastruktur unseres Arbeitsfeldes Theologie zu bekennen. Ich nenne nur aus den biblischen Themen einige beliebige Beispiele: „Soll Josef in Ägypten sich seinen Brüdern offenbaren, nachdem sie ihm so übel mitgespielt hatten; muss Jephta wirklich sein Versprechen gegenüber Gott halten und seine einzige Tochter opfern; soll Petrus in Jerusalem zugeben, dass er zu dem eben verhafteten Jesus gehört?“ Ich möchte an dieser Stelle noch eine Unterrichtserfahrung aus dem Praktikum vortragen.18 Meine Student/innen baten mich, bei der Elija-Einheit doch bitte die Karmel-Geschichte selbst zu unterrichten. In dieser Geschichte geht es ja darum, dass der Prophet in einer Art Wette mit den konkurrierenden Baalspropheten entscheiden lassen will, wer der rechte Gott sei, JHWH oder Baal. Die Geschichte endet mit dem Sieg JHWHs und dem Tod der Baalspropheten. Bei der Vorbereitung stand mir immer das Religionsheft meines Sohnes vor Augen, wo er mit großer Liebe zum Detail die hingeschlachteten Baalspropheten gemalt hatte. Wie konnte ich eine Wiederholung dessen vermeiden? Ich ging von der Überlegung aus, dass die in der Bibel überlieferte „Lösung“ der Geschichte ja nur eine mögliche darstellt. 17 Stephan Englhart (wie Anm. 9), 182f. 18 Gerhard Büttner, Elija – auf dem Karmel und in den Köpfen der Schüler/innen und Religionslehrer/innen, in: entwurf 3/1994, 29–42.

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„Die khindlen haben so feine gedancken de deo [über Gott]“ (Martin Luther)

Dies gilt zumindest dann, wenn wir die Beziehung unseres eigenen Glaubens im Verhältnis zu konkurrierenden Religionen diskutieren. So bot ich drei mögliche Lösungen der Geschichte an: einmal trifft der Blitz beide Altäre auf dem Karmel und Elija und die Baalspropheten müssen mit der Koexistenz beider Gottheiten leben, einmal passiert nichts und die beiden Konfliktparteien verständigen sich, dass es letztlich nur einen Gott geben kann, den sie unter verschiedenen Namen verehren, und als drittes die Lösung von 1. Kön 18. Damit hatten die Schüler/ innen alternative Lösungsmöglichkeiten, die jeweils auch in ihren Stärken und Schwächen erkennbar wurden. Die biblische Antwort kam dabei gar nicht so schlecht weg. Denn dass es auch geboten sein kann, sich kämpferisch mit problematischen Positionen wie z.B. Scientology auseinanderzusetzen, leuchtete auch den Schüler/innen ein. Dass dabei die Mittel andere zu sein haben als zur Zeit des Elija, ist dabei unstrittig. Immerhin konnte diese zu Recht als schwierig eingeschätzte Geschichte zum Anstoß für eine konstruktive Diskussion werden. Haben wir bisher die Gattung philosophieanregender Texte betrachtet, so geht es jetzt um die Inhalte: Auffällig ist es für den theologischen Betrachter, welche Texte und welche Themen im Kontext der kinderphilosophischen Diskussion auftauchen. Einerseits finden wir Themen wie „Gott und seine Welten“ oder „Gut und Böse“19 und dabei Autoren wie Leibniz und Kant bzw. elementarisierte Darstellungen von deren Argumentation, andererseits aber auch den Rekurs auf große philosophisch argumentierende Theologen wie Augustin20, Nikolaus von Kues21 und Anselm von Canterbury22. Dabei kommt einer Rezeption auch entgegen, dass diese Werke häufig wie Platon in Dialogform präsentiert werden. Ich will herausstellen, dass die Vertreter der Kinder-Philosophie damit eine Tradition aufnehmen, die in der aktuellen religionspädagogischen Diskussion verloren gegangen ist. Warum sind diese philosophischen Fragen zusammen mit aller metaphysischen Spekulation über Himmel, Hölle etc. aus der theologisch-religionspädagogischen Diskussion herausgefallen? Vermutlich rührt dies von der stark historisch fragenden neueren Theologie her. Mit der historisch-kritisch arbeitenden Wissenschaft fragen wir auch in der Religionspädagogik meistens: „Was hat sich ereignet? Was ist geworden?“ und weniger „Was ist?“ 19 Hans-Ludwig Freese, Abenteuer im Kopf. Philosophische Gedankenexperimente, Weinheim 1995, 242ff, 259ff. 20 Gareth Matthews (wie Anm. 11), 122ff. 21 Eckhard Nordhofen, Die Grenzen der Logik, oder: was ist sagbar?, Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 1991, 54–57. 22 Anselm von Canterbury, Cur deus homo. Warum Gott Mensch geworden. Lat./deutsch, Darmstadt 51993.

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Dazu kommt eine in unserer Alltagswelt tief verankerte positivistische Weltsicht, die es uns als Erwachsene und Erzieher oft schwer macht, den spekulativen Hintersinn vieler Kinderfragen zu beachten. Hans-Ludwig Freese23 berichtet ein Beispiel aus Christa Wolfs Buch „Störfall“, wo die Eltern der faszinierten Kinderfrage, wie denn das große Fenster in das kleine Auge des Kindes kommen könne, mit immer neuen naturwissenschaftlichen Erklärungsversuchen beizukommen versuchen. Das in der Frage enthaltene Staunen und die für das Kind offensichtlich interessanteren erkenntnistheoretischen Fragestellungen haben sie damit eher verstellt. Ich möchte dies erläutern an einem Beispiel, das Armin Krenz24 von dem 5-jährigen Moritz erzählt: Es ist Frühling. „Alles um ihn herum beginnt grün zu werden und er kann einfach nicht die für ihn schwierige Frage beantworten, wieso plötzlich alle Pflanzen in seinem Garten, im Kindergarten und auf den Straßen, im Wald und im Stadtpark ‚wissen‘, dass es Frühling ist und sie daher grün werden müssen.“ Die Mutter versucht eine Antwort mit dem Hinweis auf eine Art innere Uhr. Das mit der Uhr versteht Moritz erst nicht, weil er keine Uhren gesehen hat. Dann spricht die Mutter von neuem Leben in den Pflanzen. Jetzt fragt Moritz, ob auch sein toter Opa, der jüngst verstorben ist und den er sehr gern mochte, jetzt auch wieder lebendig wird. Da muss die Mutter wieder einen Rückzieher machen und darauf verweisen, dass die Pflanzen im Gegensatz zum Großvater nicht wirklich tot sind. „Moritz lässt nicht locker: ‚Im Kindergarten haben wir aber gehört, dass Gott die Natur wachsen lässt. Da haben wir nichts von einer Uhr erzählt bekommen.‘“ Da fragt die Mutter schließlich Moritz nach seiner Erklärung, und der meint: „‚Ich stelle mir das Ganze so vor, dass Gott im Frühling auf die Erde kommt und alle Pflanzen berührt. Und die Berührung lässt dann die Pflanzen grün werden. Er muss nur aufpassen, dass er nichts übersieht.‘“

Eindrücklich ist hier, wie das Kind Moritz einem säkularen Erklärungsversuch der Mutter einen Interpretationsversuch entgegensetzt, den ich für theologisch durchaus gehaltvoll halte. Er knüpft an das Bild Gottes im Garten Gen 3,8 an und lässt auch an den Gedanken einer noch andauernden Weiterschöpfung „creatio continua“ denken. Doch sind solche Identifikationen theologischer Topoi in Aussagen von Kindern wirklich möglich und legitim? Die Frage stellt sich natürlich nach beiden Seiten, Kind und Erwachsenem. 23 Freese, Kinder sind Philosophen (wie Anm. 13), 11ff. 24 Armin Krenz, Kinderfragen gehen tiefer, Freiburg i.Br. 31996, 22f.

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Bezogen auf das Kind wird man vor allem fragen müssen, ob die hier zutage tretenden Äußerungen zumindest eine gewisse Kontinuität und Stabilität haben. Bei dem anfangs beschriebenen Gespräch hat man eher den Eindruck eines spielerischen Vortastens, bei Moritz dagegen ist zu spüren, dass er eine theologische Grundeinsicht „Gott ist der Schöpfer der Natur“ zu übertragen und zu verteidigen weiß gegenüber einer alternativen Deutung der Mutter. Will man dies entwicklungspsychologisch verallgemeinern, dann wird man doch gewiss mit dem Übergang zum konkretoperatorischen Denken im Sinne Piagets, d.h. dem Übergang zur Grundschule, mit zunehmend stabilen Vorstellungen der Kinder rechnen können. Dass diese, um mit Fowler zu sprechen, einen mythisch-wörtlichen Charakter haben, wird man dabei akzeptieren müssen. Dies gilt aber auch für zahlreiche biblische Theologumena. Was bedeutet das für die erziehenden Gegenüber der Kinder? Gewiss wird man eine ausgeprägte theologische Kompetenz brauchen, um die Gesprächsangebote der Kinder auch wirklich zu erkennen und dann aufnehmen zu können. Wie schwierig dies oft ist, möchte ich an der kleinen Anekdote zeigen 25: Eine Lehrerin vermittelt den Kindern, dass das zunehmende Kerzen-Licht der Adventszeit die Ankunft des Jesuskindes ankündigen soll. Dies wird auch in Liedern, Geschichten usw. vorbereitet. Doch als ein Kind dann die Weihnachtsgeschichte im Stall von Bethlehem mit hellen gelben Farben umkränzt, schilt die Lehrerin das Kind, denn die Geburt Jesu fand doch nachts bei Dunkelheit statt und nicht bei erleuchtetem Himmel. Dass sie die Möglichkeit der Engelserscheinung Lk 2,9 nicht bedacht hat, ist der offensichtlichste Fehler der Lehrerin. Gravierender ist wohl, dass sie ihre eigene Licht-Theologie selbst nicht ernst nimmt. Sie konnte sie zumindest nicht identifizieren, wenn sie außerhalb des von ihr benannten Kontextes auftaucht. Spitz gesagt, außerhalb der Kerzen gibt es für sie keine Theologie des Lichts. Verallgemeinert wird man sagen können, wir brauchen Religionslehrer/innen, die gute Theolog/innen sind. Doch diese Theologie muss wie eine Fremdsprache nach beiden Richtungen benutzbar sein. Es geht nicht nur darum, „Theologisch“ zu sprechen, sondern mehr noch darum, die Fremdsprache „Theologisch“ zu verstehen. Dabei sollte unser „Theologisch“ nicht nur einzelne wenige Vokabeln umfassen. Je mehr scholastische, gnostische, arianische theologische Konstrukte wir kennen, umso mehr können wir den Reichtum der unmittelbaren Schöpfungen der Kinder verstehen. Wenn wir sie verstehen, können wir sie, wie dies etwa Matthews tut, extra aufnehmen und formulieren und dann den Schüler/innen 25 Leider kann ich mich nicht mehr erinnern, in welcher Zeitschrift ich diese Episode gefunden habe.

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wieder zur Diskussion vorstellen. Dies wird auch die Kinder in ihrer Erfahrung bestärken, dass sich ihr eigenständiges Theologisieren lohnt. Andererseits wird man mit Matthews darauf verweisen können, dass es nicht zuletzt die Erwachsenen sind, die bei einem solchen – in unserem Fall nun theologischen – Diskurs profitieren. Will man ein erstes Resümee des Vergleichs von Kinderphilosophie und dem Projekt einer Kinder-Theologie ziehen, dann lassen sich folgende Beobachtungen festhalten: 1. Die Arbeiten zur Kinder-Philosophie finden auf einem Terrain statt, das sich zu einem nicht unerheblichen Teil deckt mit den Arbeitsfeldern der Religionspädagogik. Das hängt damit zusammen, dass – wie Freese26 konstatiert – die KinderPhilosophie in ein Vakuum vorgestoßen ist, was die religiös fundierte Daseinsvorsorge angeht. Wir finden in den Beiträgen der Kinder-Philosophie aber auch drei der vier von Nipkow diagnostizierten religiösen Grundfragen 27 von Jugendlichen: die nach der Weltentstehung, die nach dem Geschick nach dem Tode und die nach Gottes Existenz. Denn dies sind auch Grundfragen der Philosophie. 2. Wenn Freese28 meint, dass alle wirklich wichtigen Fragen der Philosophie solche sind, die auch ein Kind versteht, dann sollte diese Überlegung auch die Theologie herausfordern. Umgekehrt gelingt es Anton Bucher in den Antworten von Kindern und Jugendlichen zur Frage nach dem Leid in der Welt, die Grundmuster der offiziellen Theologie wiederzufinden. Von daher meint er, dass nichts mehr dagegen spricht,29 „auch in Kindern Wesen zu sehen, die auf ihre ureigene Weise Welt deuten, auch eine Theodizee entwickeln und infolgedessen auch ‚Theologen‘ sind, nicht wissenschaftlich diplomierte zwar, aber doch ‚Gottesgelehrte‘, auf die hinzuhören der ‚wissenschaftlichen‘ Theologie zu raten ist.“ 3. Wenn Englhart30 darauf verweist, dass es eher um das „Philosophieren mit Kindern“ geht als um eine „Kinderphilosophie“, dann ist auch dies prinzipiell übertragbar. Es geht in der Tat weniger darum, dass Kinder eine ausgearbeitete Theologie entwickeln, obwohl auch dies mit zunehmendem Alter nicht unmöglich ist. Wichtiger ist es, ein gemeinsames Ringen zum Verstehen von „Gott und der Welt“ zu ermöglichen. Was damit gemeint ist, möchte ich an einem Zitat von Freese zeigen, in dem ich das Wort philosophisch durch theologisch ersetzen möchte31: 26 Hans-Ludwig Freese, Kinder sind Philosophen (wie Anm. 13), 21. 27 Karl Ernst Nipkow, Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, Gütersloh 21992, 377ff. 28 Hans-Ludwig Freese, Kinder sind Philosophen (wie Anm. 13), 16. 29 Anton A. Bucher, Kinder und die Rechtfertigung Gottes. Schweizer Schule, 79. Jg. 10/1992, 7f. 30 Stephan Englhart (wie Anm. 9), 21. 31 Hans-Ludwig Freese, Kinder sind Philosophen (wie Anm. 13), 90.

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„Kinder sind ideale Partner für das philosophische Gespräch: Sie besitzen einen ausgeprägten Sinn für das Rätselhafte und Staunenerregende. Für Ungereimtheiten und Perplexitäten, ihr Denken ist spielerisch, risikofreudig, offen, noch nicht festgelegt und eingeengt durch konventionelle Antworten, sie besitzen spekulative Phantasie und, was schwer zu fassen ist, bisweilen tiefere Ahnungen, metaphysische ‚Wahrheitswitterungen‘.“

4. Entwicklungspsychologisch gesehen wird man die größte Produktivität gewiss bei den Kindern der Grundschulzeit finden, eine Weiterführung des Theologisierens ist aber auch in den Sekundarstufen möglich. 5. Die entscheidenden Kriterien für das Theologisieren mit Kindern sind einmal die Fähigkeit zum Zuhören und zur Gesprächsführung, zum andern die theologische Kompetenz des erwachsenen Partners. Da mir dieser Gedanke besonders am Herzen liegt, möchte ich ihn nochmals an einem Matthews-Beispiel erläutern. Matthews entlaust zusammen mit seiner vierjährigen Tochter die Katze. Sarah möchte wissen, woher die Flöhe kommen. Als Matthews antwortet, von einer anderen Katze, beginnt der Regress, denn Sarah möchte natürlich wissen, woher diese Katze die Flöhe erhielt usw., und meint schließlich ungeduldig: „Aber Daddy […], es kann doch nicht unendlich so weiter gehen, das einzige, was unendlich weitergehen kann, sind Zahlen!“32 Die Antwort von Sarah ist beachtlich. Doch wer den von Thomas von Aquin überlieferten Gottesbeweis durch die Frage nach dem „ersten Beweger“ kennt, kann weiterfragen nach ersten Katzen und ersten Flöhen und geriete dann in eine ähnliche Argumentationskette wie Thomas. Denn wenn alles, was in Bewegung ist, von einem anderen bewegt worden sein muss, dann ergibt sich die Frage nach dem „ersten Beweger“, den er dann mit Gott identifiziert.

Das Theologische in der Kindertheologie Nach meinen bisherigen Ausführungen konnte man den Eindruck gewinnen, dass Kindertheologie nichts anderes sei als eine Sonderform der Kinderphilosophie. Im letzten Abschnitt möchte ich deshalb versuchen, einige Besonderheiten der Theologie in diesem Zusammenhang zu erarbeiten. Der Weg des Philosophierens und Theologisierens, wie ich ihn bisher gezeichnet habe, ist ein induktiver. Kindliche Erfahrungen und kindliche Reflexion ver32 Gareth B. Matthews, Die Philosophie der Kindheit. Wenn Kinder weiter denken als Erwachsene, Weinheim 1995, 7f.

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binden sich mittels Moderation mit bestimmten Gestaltungen, wie wir sie aus der philosophischen, z.T. auch der theologischen Tradition kennen. Doch kann sich das Theologisieren auf diesen induktiven Weg beschränken? Vermutlich nicht. Theologie, zumindest christliche Theologie braucht einen zweiten Bezugspunkt. Diesen bilden die Bibel als Ort der Offenbarung Gottes einschließlich ihrer Auslegungsgeschichte und die Bekenntnisse der Christenheit. Klassischerweise hat Theologie ihre Wahrheiten von diesen Axiomen her abgeleitet. Das Konzept einer Kindertheologie ließe sich auf diesem Wege allerdings nicht gewinnen. Kinder kommen in einem solchen Modell nur als Rezipienten vor, die die Wahrheiten möglichst ungefragt zu übernehmen hätten. Ein solches, als autoritär empfundenes Modell von Theologie verfällt in der Moderne und Postmoderne zunehmend der Kritik. Der Religionssoziologe Peter Berger spricht in diesem Zusammenhang von einem Zwang zur Häresie.33 Häresie bedeutet hier die Notwendigkeit vieler konkurrierender Antworten auf theologische Fragen. Berger verweist zu Recht auf den Wortstamm haireo – wählen. Häresie wäre demnach weniger die Abweichung vom Richtigen als Ausdruck ständiger Qual der Wahl. Allerdings hat diese Wahlsituation auch ihre spezifischen Schwächen in dem Umstand, „dass geistige Aufgeschlossenheit nicht selten mit geistigem Leerlauf einhergeht, und dies frustriert den starken religiösen Hunger nach Sicherheit“34 Nur eine orthodoxe (also rechtgläubige) Antwort vermag der Ungewissheit Paroli zu bieten, weil sie auf den Zweifel verzichtet. Meine These lautet nun dahin, dass ein Theologisieren mit Kindern zwischen diesen beiden Polen Orthodoxie und Häresie ausgespannt sein sollte, weil es so der Sache der Theologie und auch der der Kinder entspricht. Ich möchte das Gesagte nochmals erläutern anhand eines Beispiels kindlicher Theologie. Anlässlich des diesjährigen Kirchentages haben Leipziger Schüler/innen der 4. und der 9. Klasse ein ABC zu Fragen des Glaubens entworfen. Ich stelle hier eine Viertklässler-Antwort zu Gott und zu Jesus vor.35 „Gott ist der Vater von Jesus […] Gott hat die Welt geschaffen. Niemand weiß, wie Gott aussieht. Aber er ist sein bester Helfer und Freund. Man singt für Gott, weil er jedem die Schulden vergibt. Und man betet zu Gott, weil er seinen Sohn für uns geopfert hat.“

33 Peter Berger, Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Freiburg i.Br. 1992. 34 Ebd., 76. 35 Burkhard Jung (Hg.), Himmel und Heide, Leipzig 1997, 32.

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Wie soll man darauf reagieren? Es ist schön zu sehen, dass Schüler/innen in der Lage sind, zentrale Glaubensaussagen eigenständig zu formulieren. Es bestätigt sich eine Beobachtung meiner eigenen Untersuchungen, dass Kinder besonders dann in der Lage sind, eigenständige theologische Aussagen zu formulieren, wenn sie bereits über ein entsprechendes eigenes Vorwissen verfügen. Als wir Kinder baten, Jesu vermutliches Verhalten angesichts einer Bedrohungssituation am See Genezareth zu beschreiben, brachten sie analoge Szenen von Mose und Jona oder auch von anderen Jesusgeschichten. Man kann wohl sicher aussagen, dass die Verfügung über eigene theologische Bausteine die Schüler/innen dazu befähigt, eigenständige theologische Häuser zu bauen. Die Schwierigkeit mit der „korrekten“ Schülerantwort fängt dort an, wo wir eben nicht sicher sein können, ob die Kinder das nur nachsprechen, weil es Konvention ist. Oder haben sie es wirklich verstanden und zumindest teilweise in ihre persönliche Glaubensbiografie integriert? Darin liegt nämlich der besondere Reiz von abweichenden Interpretationen, dass man ihnen häufig abspürt, wie sehr sie wirklichem Nachdenken entsprungen sind. Ich möchte dies belegen durch zwei Antworten von Schüler/innen auf eine schriftliche Befragung zum Thema „Wa­r um ließ Gott Jesus leiden und sterben?“ So schreibt eine Sechstklässlerin: Man würde denken, dass Gott Jesus lieber hat als die anderen. Gott hätte dann Lieblingskinder gehabt. Man würde dann denken, dass Gott immer den Besseren hilft. Die anderen hätten sich dann vernachlässigt gefühlt. Und wären neidisch auf Jesus und wollten ihn dann vielleicht umbringen, damit Gott keinen Liebling mehr hat.

Oder aus derselben Klasse: Da Jesus Gottes Sohn war, und Gott im Himmel lebte, wollte er wahrscheinlich, dass Jesus in den Himmel kam und ihm half, die Welt in Ordnung zu halten. Doch da das Gerücht aufkam, dass Jesus seine Landsleute verraten hat, dachte Gott wahrscheinlich, dass das die Lösung sei, sein Problem zu lösen.

Beide Antworten sind im wahrsten Sinne des Wortes sehr unorthodox. Man kann in ihnen die von Friedrich Schweitzer beschriebene Tendenz der Kinder entdecken, theologische Fragestellungen in den Kontext des eigenen Familienverständnisses zu assimilieren36. Es geht dann um Lieblingskinder und Vater-Sohn-Beziehungen. 36 Friedrich Schweitzer u.a., Religionspädagogik und Entwicklungspsychologie. Elementarisierung in der Praxis, Gütersloh 1995, 15ff.

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Sind aber deshalb diese beiden Antworten theologisch völlig unhaltbar? Ich meine nicht. Ist der Gedanke, dass Jesus kein „Lieblingskind“ sein sollte, nicht eine radikale Konsequenz des Gedankens von der Menschwerdung Gottes? Lässt sich in der zweiten Antwort nicht eine Ahnung vom Gedanken der Mitregentschaft Christi entnehmen? Wollte man die Schüleraussagen als endgültige Formulierungen ansehen, dann könnte man sie gleichwohl nicht ohne weiteres so stehen lassen. Sieht man sie allerdings als Voten oder sogar als Anstöße in einem theologischen Diskurs, dann können sie zweifellos fruchtbarer wirken als die beiden zitierten Aussagen der Leipziger Schüler/innen. Was ist dann das Charakteristikum des Theologisierens mit Kindern – gerade auch im Kontrast zur Philosophie? Es ist wohl das oben erwähnte Ausgespanntsein zwischen Orthodoxie und Häresie. Bleibt das Gespräch zu nahe bei der Orthodoxie, dann reduziert es sich auf die Reproduktion von bereits Geläufigem. Löst es sich aber völlig von der Orthodoxie, dann läuft es Gefahr, ins Beliebige abzugleiten, was die Schüler/innen dann häufig mit dem Begriff des Laberns bedenken. Der abschließend vorgestellte Gesprächsausschnitt bringt dies, wie ich meine, exemplarisch zum Ausdruck. Auf Anstöße und Nachfragen seines Vaters ist der 12-jährige Benjamin in der Lage, die christliche Lehre, die ihm in der Sonntagsschule zuteil wurde, kreativ zu bedenken und in diesem Zusammenhang dann auch eigenständige theologische Überlegungen anzustellen. Dabei zeigt sich, dass sein Gedanke, sich Gott als Baby vorzustellen, unkonventionell ist und spekulativ. Doch beim zweiten Blick erweist er sich als Ausdrucksform klassischer Theologie. Im angegebenen Fall lässt sich der Gedanke der Inkarnation Gottes in Jesus Christus finden, was er selbst zum Ausdruck bringt. Das Gespräch, das Ronald H. Cram schildert37, findet während einer Autofahrt statt und beginnt mit Überlegungen zum Gebet. Benjamin betet zu Gott, erinnert sich aber an einen Fall, wo Gott ihn trotz Gebets mit dem Fahrrad stürzen ließ, was die Sicherheit seines Vertrauens in Gott beeinträchtigt hat. Er hält Gott, trotz Nachfragen, für ein „Er“ und führt dies auf die Informationen der Sonntagsschule zurück. Doch der Vater gibt sich mit der konventionellen Antwort Benjamins nicht zufrieden: „Vater: Gut, lass uns annehmen, dass du dir Gott vorstellen kannst, wie du möchtest. Wie würdest du dir Gott dann vorstellen? Benjamin: Ich denke, Gott ist ein Baby. 37 Ronald H. Cram, Knowing God. Children, Play and Paradox, Religious Education, 91, Heft 1, Winter 1996, 55–73,63f, Übertragung ins Deutsche von mir.

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Vater: Ein Baby? Benjamin: Ich denke, Gott möchte alle gern überraschen. Wie Jesus im Stall. Vater: Wäre es dir angenehm, zu einem Gott zu beten, der ein Baby ist? Benjamin: Oh natürlich! Babys wissen alles. Du musst ihnen nur die richtige Frage stellen, um das, was sie wissen, herauszubekommen. […] Vater: Hast du solche Ideen schon einmal früher deinen Sonntagsschullehrern mitgeteilt? Benjamin: Oh nein! Sie würden mir nur sagen, dass es falsch ist oder so was. Im Übrigen sind sie nach dem Unterricht niemals da, um mit einem zu sprechen. Vater: Hat dich in der Kirche schon einmal einer etwas gefragt über Gott, was du über ihn denkst? Benjamin: Nein, niemals. Sie erzählen mir nur, was ich zu denken habe.“

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Landkarten des Denkens Argumentationsstrukturen beim Nachdenken über das Verhältnis zwischen göttlicher Führung und menschlicher Autonomie Gareth B. Matthews beginnt eines seiner Bücher mit einer Episode mit seiner damals vierjährigen Tochter Sarah. Beim Entflohen der Katze äußert das Mädchen Überlegungen über die Herkunft der Flöhe. Die Unterhaltung mit dem Vater und dessen Hinweise auf andere und weitere Katzen als Ursprung dieser Parasiten führt zu dem Ausspruch des Mädchens: „Es kann doch nicht unendlich so weitergehen, das einzige, was unendlich weitergehen kann, sind Zahlen!“1 Bei den meisten Eltern und wohl auch Lehrer/innen wäre das Gespräch vermutlich viel kürzer verlaufen, weil der erwachsene Gesprächspartner den Dialog abgebrochen hätte, weil er ihm sinnlos erschien. Im beschriebenen Falle ging der Dialog wohl nicht nur deshalb weiter, weil Matthews ein besonders geduldiger Vater ist, sondern deshalb, weil diesem als Philosophielehrer dazu der kosmologische Gottesbeweis einfällt mit dem Gedanken, dass der infinite Regress schließlich zur Frage nach der „Ersten Ursache“ und damit nach Gott führt.2 Ich möchte diese kleine Szene als Ausgangspunkt von Überlegungen nehmen, die es ermöglichen könnten, dass künftig mehr Lehrer/innen (und vielleicht auch Eltern) in die Lage versetzt werden können, in entsprechenden Situationen das „anspruchsvolle“ Gesprächsangebot auf Seiten der Kinder zu erkennen und dann angemessener zu antworten. Es geht dabei einmal um die strukturbildende Funktion solcher Dialoge einerseits sowie um die Gestalt entsprechender philosophischer oder theologischer Denk- und Argumentationsstrukturen andererseits.

Die Bildung von Verstehensstrukturen Wie kann die kleine Sarah herausfinden, dass sie mit ihrer Frage einem wichtigen philosophischen Thema auf der Spur ist? Nach Piaget muss das Kind eine entsprechende Struktur in seinem Denken herausbilden, damit es in der Lage sein wird, 1 Gareth B. Matthews, Die Philosophie der Kindheit. Wenn Kinder weiter denken als Erwachsene, Weinheim 1995, 7. 2 Ebd., 8.

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eine Sache wie den infiniten Regress zu verstehen. Wie kann so etwas geschehen? Ulrich Oevermann versucht dieser Frage im Anschluss an den folgenden Kinderdialog nachzugehen:3 „Zwei Geschwister im Alter von vier und sechs Jahren sitzen abends gemeinsam in der Badewanne. Der Ältere hat dem Jüngeren sein Spielzeug, eine Ente mit Rädern, weggenommen, um ihn zu ärgern. Der Jüngere verlangt das Spielzeug zurück mit den Worten: ‚Gib mir mein Rädchen wieder, das ist meins!‘ Darauf der Ältere in einer von der berechtigten Forderung des Jüngeren ablenkenden und zugleich als Person degradierenden Kommentierung: ‚Ha, ha, das ist ja gar kein Rädchen, das ist eine Ente.‘ Das lässt der Jüngere nicht auf sich sitzen und antwortet: ‚Da kann man auch Rädchen zu sagen.“

Das Gespräch ist deshalb interessant, weil der Jüngere in seinem Antwortverhalten auf eine metasprachliche Äußerung zurückgreift, die er von seiner kognitiven Entwicklung eigentlich noch gar nicht „beherrschen“ kann. Der Jüngere kannte zwar die beabsichtigte konternde Wirkung seiner Äußerung, wohl aber kaum die Regeln der Unterscheidung zwischen Meta- und Objektsprache.4 Ähnlich der Kreisreaktionen in der sensumotorischen Phase vermag das Kind jetzt offensichtlich auf der Basis seiner sprachlichen Kompetenz „versuchsweise“ oder „zufällig“ Dinge auf einem kognitiven Niveau zu formulieren, dessen Gebrauchsregeln es „eigentlich“ noch gar nicht beherrscht. Allerdings erhält das Kind in der Interaktion mit Erwachsenen dann u.U. eine Bestätigung seines Versuchs und kann in späteren Interaktionen dann zunehmend sicherer von dieser neuen Artikulationsweise auch bewusst Gebrauch machen. Im Anschluss an Piagets Arbeit zur Entstehung des Moralischen Urteils unterscheidet Oevermann zwei Modi der Interaktion: die eher „herrschaftsfreie“ in der Gleichaltrigengruppe und die „zwangsstrukturierte“ mit den Erwachsenen.5 Gerade letztere dient dazu, in sozialisierender Weise in die Regelwerke des gesellschaftlichen Lebens einzuführen und auch individuell sicher die entsprechenden Strukturen herauszubilden.

3 Ulrich Oevermann, Der Stellenwert der „Peergroup“ in Piagets Entwicklungstheorie. Ein Modell der Theorie der sozialen Konstitution der Ontogenese, in: Dieter Katzenbach (Hg.), Piaget und die Erziehungswissenschaften heute, Frankfurt a.M. u.a. 2000, 30f. 4 Ebd., 31. 5 Ebd., 39.

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Die Bedeutung für den schulischen Kontext Es gehört gewiss zu den hervorragenden Zielen schulischen Unterrichts, den Schüler/innen bei der Herausbildung von Denk-, Handlungs- und Regelstrukturen behilflich zu sein. Die Frage ist, in welcher Weise dies unterrichtlich realisiert werden kann. Es lässt sich schnell Einigkeit darüber gewinnen, dass ein solcher Unterricht bei den „großen Fragen“ der Kinder und Jugendlichen einzusetzen hat.6 Daneben gibt es gleichzeitig die Überzeugung, dass Texte und Themenstellungen der Tradition etwas zu deren Erhellung beitragen können. Auch wo das Klassengespräch versucht, der Gestalt des sokratischen Gesprächs nachzueifern, scheitert es doch häufig daran, dass ein solches eher für die dialogische Situation als für ein Gruppengespräch konzipiert ist.7 Neben diesem strukturellen Problem zeigt es sich, dass es für Lehrer/innen enorm schwierig ist, gleichzeitig der Komplexität der Schülervoten und der des Unterrichtsgegenstandes gerecht zu werden. Was wünschenswert wäre, ist eine Aufbereitung des Themas, die den Lehrer/innen für eine offene Gesprächsführung als Orientierung dienen könnte. Eine solche Hilfe hätte zur Voraussetzung, dass das Thema in seinen Facetten oder Modulen für die Unterrichtenden vorbereitend analysiert werden könnte. Wer jetzt einwendet, dies geschähe bei jeder Unterrichtspräparation auf das Thema schon immer, der sollte bedenken, dass meine Überlegungen nicht primär an der Entfaltung der Sachlogik interessiert sind, als vielmehr an der Logik der Aneignung.8 Was denken Kinder und Jugendliche über den Ursprung der Namen, über die Theodizee, über eine mögliche Deutung des Kreuzestodes Christi? Das Plädoyer dieses Beitrages geht dahin, durch empirisches Forschen das Wissen über diese Rezeption zu erweitern und dafür zu werben, dass das bereits vorhandene Wissen unterrichtlich fruchtbar gemacht wird. Ich möchte dies anhand eines unterrichtspraktischen Beispiels erläutern und anschließend grundsätzliche Überlegungen anschließen.

6 Für den Religionsunterricht hat solche ausfindig gemacht: Rainer Oberthür, Kinder und die großen Fragen. Ein Praxisbuch für den Religionsunterricht, München 1995, z.T. identisch mit den „elementaren Fragen, an denen alles zu hängen scheint“ bei Karl Ernst Nipkow, Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, Gütersloh ²1992, 377ff. 7 Gerhard Büttner, Fragen – Lenken – Zuhören. Das fragend-entwickelnde Gespräch im Religionsunterricht, in: entwurf, 1/1997, 45–48. 8 Ulrich Becker / Christoph Th. Scheilke, Aneignung und Vermittlung, Gütersloh 1995.

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„Gott als Marionettenspieler“ – ein unterrichtspraktisches Beispiel Wer sich religionsphilosophisch oder theologisch mit der Gottesthematik auseinandersetzt, für den stellen sich zwangsläufig bestimmte Fragen. Eine der grundlegendsten ist die nach dem Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Denkbar sind die beiden Extrempositionen, nach denen Gott alles menschliche Tun bewirkt oder der Mensch nach einem uranfänglichen Schöpfungsakt völlige Autonomie hat. Dazwischen finden sich dann entsprechende Kompromisspositionen. Dem nachgeordnet stellt sich dann auch die Frage der Zuschreibung für das Böse zwischen Theodizee und Anthropodizee. Zur Überraschung ihrer Lehrer/innen greifen Schüler/innen (besonders der Klassen 5 und 6) in diesem Zusammenhang gerne auf das Bild des Marionettenspielers zurück.9 Dabei fällt auf, wie vielfältig die Schüler/innen dieses Bild nutzen, um die verschiedenen inhaltlich möglichen Nuancen zu dieser Thematik auszudrücken. In dem von Schweitzer u.a. zusammengestellten Material finden sich folgende Überlegungen von Schüler/innen: – dass irgendwelche Gestalten vor Gott stehen, so dass er nicht sieht, wie er die Menschen steuert; – vielleicht, dass die Fäden abgerissen sind; – der Teufel hat eine Schere, mit der er die Menschen von Gott trennt, oder – die Fäden reißen und der Teufel fängt die Marionette auf.10 In einem eigenen Projekt stießen wir noch auf die folgenden Antworttypen: – Gott steuert uns, aber ein bisschen entscheidet man auch selbst; – Gott steuert einen manchmal auch schlecht; – der macht auch manchmal Fehler; – Gott steuert uns manchmal schlecht, damit wir selbst aus der Situation rauskommen und uns nicht immer auf ihn verlassen; – So eine Art Erziehung.11

9 Dabei sind Lehrer/innen mit diesem Bild häufig nicht sehr glücklich, weil ihnen die hier sichtbar werdenden Gottesvorstellungen „zu kindlich“ sind, weswegen sie die Chancen dieses Bildes nicht wirklich ausloten. Vgl. z.B. Friedrich Schweitzer u.a., Religionsunterricht und Entwicklungspsychologie, Gütersloh 1995, 14. 10 Ebd., 12f. 11 Freier oder unfreier Wille? Ein Unterrichtsprotokoll, in: Gerhard Büttner / Hartmut Rupp, Theologisieren mit Kindern, Stuttgart u.a. 2002, 61f.

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Es ergeben sich aus den Voten also folgende Optionen: Gott als der, der die Menschen steuert, macht auch „Fehler“ a) aus mangelnder Übersicht b) aus erzieherischen Gründen c) weil der Teufel seine Hände mit im Spiel hat. Gewappnet mit den hier vorgestellten Informationen, bereitete ein Praktikant in der Woche nach dem Schulmassaker in Erfurt in einer 6. Klasse eine Unterrichtsstunde im Rahmen der Unterrichtseinheit „Schöpfung“ vor. In der vorherigen Stunde war darüber gesprochen worden, wem wir unser Leben verdanken, einem Schöpfungsakt Gottes oder (als provozierende, bewusst unsachgemäße Alternative) der Zeugung durch unsere Eltern.12 Als Text bezogen wir uns auf Luthers Formulierung im Kleinen Katechismus, wo er zur Schöpfung ausdrücklich betont: „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen [… und] mich reichlich und täglich versorgt.“13 Damit war – auch nach der Logik theologischer Dogmatik – die „bewahrende“ Rolle Gottes (providentia) und auch das Zusammenspiel zwischen göttlichem und menschlichem Handeln (concursus) thematisiert.14 Die Studierenden hatten am Morgen vor dem Unterricht noch darüber nachgedacht, ob sie in der Religionsstunde die Ereignisse von Erfurt ansprechen sollten, doch ich hatte zum Unterricht nach Programm ermutigt, weil – so meine Begründung – die Sache dort am besten zur Sprache käme. Der Unterrichtende stellte sich mit einer knapp 1 m großen Marionette auf den Pult, skizzierte kurz das Thema und die Klasse war mit großer Begeisterung bei der Sache, so dass das Unterrichtgespräch ohne Methodenwechsel die ganze Unterrichtsstunde in Anspruch nahm. Ich referiere die wichtigsten Schülerbeiträge, wie wir sie aus den Mitschriften der anderen Praktikant/innen rekonstruieren konnten: Wie bewahrt mich Gott? Antworten: – durch meine Eltern – durch meine Familie – durch Gesundheit 12 Eine „theistische“ Antwort kann hier nur im Sinne komplementären Denkens „Sowohl-als auch“ lauten. Vgl. Fritz Oser / K. Helmut Reich, Wie Kinder und Jugendliche gegensätzliche Erklärungen miteinander vereinbaren, in: Gerhard Büttner / Veit-Jakobus Dieterich (Hg.), Die religiöse Entwicklung des Menschen, Stuttgart 2000, 216ff. 13 Luth. Kirchenamt, Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Gütersloh 1986, 542f. 14 Z.B. Heinrich Schmid, Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche, Gütersloh 121998, 120ff.

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er passt auf mich auf, auch wenn ich böse war er bewahrt mich vor Dummheiten, indem er als innere Stimme zu mir spricht durch Freunde er lässt mich an bestimmten Dingen zweifeln, Dinge überdenken

Präsentation der Marionette: Was hat das mit dem Thema zu tun? Antworten: – Gott lenkt uns, aber er lenkt nicht jede Bewegung wie der Puppenspieler – Wenn wir uns weh tun, war Gott nicht da – Wenn wir uns weh tun, war Gott schon da, aber er hat nicht eingegriffen, damit wir daraus lernen – Gott kann nicht alle Menschen gleichzeitig lenken, weil er nicht mehrere Hände hat – Gott lenkt immer gerade den, der es am nötigsten hat – Gott lenkt uns manchmal nicht, damit wir auch selbst etwas entscheiden – Wenn Krieg ist, haben die Menschen einen Fehler gemacht, denn Gott will sicher keinen Krieg – In Bezug auf den Luthertext: Gott hat uns aber doch allen Vernunft gegeben – Gott hat auch den Kai absichtlich nicht gelenkt (der sich ein Bein gebrochen hat). Denn durch Kais Fehler können wir anderen daraus lernen – Gott lenkt nicht mit den Händen, vielleicht durch Gedankenübertragung und kann dadurch auch mehrere gleichzeitig erreichen – Gott leistet auch Präventionsarbeit – Gott müsste mehrere Gehirne haben, sonst könnte er nicht mehrere Dinge gleichzeitig tun – Gott ist kein Mensch, deswegen kann er auch andere Dinge tun als wir – Gott ist bei allen – Gott ist bei allen, aber bei bestimmten ganz besonders – Gott gibt uns allen seinen Segen wie ein Tuch, dieser Segen berührt uns alle – Gott beschützt auch die, die nicht an ihn glauben – Der Gott der verschiedenen Religionen ist ein und derselbe Gott – Gott schickt vielleicht Schutzengel und behandelt nur die Härtefälle selbst – Das ganze Leben ist vorprogrammiert, aber nicht durch Gott – Kais Beinbruch war nötig, um eventuell etwas Schlimmeres zu verhindern. Gott lässt uns manchmal etwas zustoßen, damit es nicht schlimmer wird, auch wenn wir im ersten Moment denken, Gott war nicht da – Auch wenn die verschiedenen Religionen verschiedene Götter haben, ist es doch immer der gleiche Gott. Bsp.: Der eine kauft Möhren, der andere Weißkohl, aber alle kaufen beim gleichen Bauern – Drei Dinge beeinflussen uns: Gott, man selbst, andere Menschen 33

II. Kindertheologie und Kinderphilosophie

– Gott hat auch einen Widersacher: Der Teufel beeinflusst uns auch – Kai (mit Beinbruch): Gott hat mit meinem Beinbruch gar nichts zu tun – Gott lenkt uns nicht immer. Im Hinblick auf das Attentat gibt es nichts, was es zu lernen gibt Schüler/innen nach der Unterrichtsstunde: – Warum geht es dann den Menschen in der Dritten Welt so schlecht? Hilft Gott denen nicht? Ist dann Gott doch nur ein Gott der Reichen?

Versuche einer Strukturierung Thematisch werden vor allem zwei Fragen angesprochen. Einmal geht es um das Verhältnis von Gottes Lenkung und menschlicher Autonomie. Diese Frage wird dramatisiert durch das Auftreten von Misslingen (Kais Sturz mit den Inlinern), das sich dann steigert zur Frage nach dem (unbegreiflichen) Bösen in Gestalt des Geschehens in Erfurt. Solange das Misslingen als erzieherischer Akt Gottes interpretiert werden kann, funktioniert ein einfaches Beziehungsmodell Gott – Mensch, in welchem Gottes Allmacht und menschliche Autonomie in graduellen Abstufungen miteinander verbunden werden können. Mit dem Auftauchen des absolut Bösen („da kann man nichts lernen!“) kommt ein dualistischer Zug in das Modell. Jetzt stellt sich die Frage der Beziehung Gottes zu dieser Macht des Bösen. Dabei dürfte für die Schüler/innen ein moderat dualistisches Konzept am annehmbarsten sein, ein Modell, in welchem dem Bösen eine eingeschränkte Autonomie zugeschrieben wird, dessen Wirkung letztendlich jedoch nur unter der Duldung Gottes gedacht wird und dessen Niederlage am Ende vorherbestimmt ist. Ein radikal-monistisches Konzept, das „den Teufel“ in paradoxer Weise in Gott eingeschlossen denkt, dürfte zumindest für Kinder (und wohl auch Jugendliche) nur schwer nachvollziehbar sein. Welche theoretischen Rückbezüge sind an dieser Stelle möglich? Für die Frage von göttlicher Allmacht und menschlicher Autonomie bietet sich das Entwicklungsmodell zum „Religiösen Urteil“ an, wie es Fritz Oser und Paul Gmünder entwickelt haben.15 Einer Phase, in der das Kind von einer völligen Abhängigkeit von Gott ausgeht, folgt eine, in der es mit der Möglichkeit der Beeinflussbarkeit durch entsprechendes Verhalten rechnet. Im Jugendalter gewinnt die Vorstellung Raum, dass Gottes Handeln nicht unmittelbar auf menschliches Entscheiden und 15 Fritz Oser / Paul Gmünder, Der Mensch – Stufen seiner religiösen Entwicklung, Gütersloh ³1992.

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Agieren bezogen werden kann. Im Erwachsenenalter kann dann eine Vorstellung entstehen, die Gottes fürsorgliches Eingreifen gerade hinter dem autonomen Handeln des Menschen zu erkennen weiß. Die hier sichtbar werdende Struktur drückt eine spezifische Entwicklung innerhalb der Pole Autonomie und Bindung gegenüber einer religiösen Macht (nach Oser „dem Ultimaten“) aus. Oser und Gmünder gehen davon aus, dass sich theologische und philosophische Konzepte auf der Basis der hier vorgegebenen „Mutterstruktur“ entfalten.16 Aus der Sicht von Philosophie oder Theologie mag diese Aussage reduktionistisch klingen, enthalten die dort entwickelten Entwürfe doch in aller Regel einen erheblichen Überschuss über diese Strukturmuster hinaus. Dennoch können aber im Sinne der obigen Ausführungen für den konkreten Diskurs Anhaltspunkte dafür gewonnen werden, welcher Topos am ehesten den Argumentationsmustern bestimmter Altersgruppen entspricht. Ich möchte dies erläutern an der theologischen Diskussion zum freien bzw. unfreien Willen.17 Mit Erasmus von Rotterdam und Martin Luther haben zwei brillante Denker sich der oben skizzierten Fragestellung angenommen. Ihre Kontroverse findet auf dem Hintergrund der beginnenden konfessionellen Spaltung statt und trifft vermutlich auch den eigentlichen Dissens zwischen Katholiken und Protestanten. Glücklicherweise greifen beide Kontrahenten im Laufe ihrer Argumentation auf ein gleichnishaftes Bild zurück, was einem Einsatz in der Schule sehr förderlich ist. Für Erasmus kommt es darauf an zu zeigen, dass bei aller Führung durch Gott dem Menschen zumindest eine gewisse Autonomie zukommt, weil nur diese den Menschen in moralischer Hinsicht entscheidungsfähig und damit verantwortlich macht.18 Luthers Intention zielt dahin, Gottes 16 Ebd., 73. 17 Im Einzelnen: Vgl. Gerhard Büttner / Jörg Thierfelder, Mit theologischen „Klassikern“ theologisieren. Ein Unterrichtsversuch zum „freien“ bzw. „unfreien“ Willen in einer 5. Klasse, in: Büttner / Rupp (wie Anm. 11), 35ff. 18 „Vernimm ein […] Gleichnis: Ein Vater richtet sein Kind auf, das – noch nicht imstande zu gehen – hingefallen ist, so sehr es sich auch bemüht hat; er weist auf einen Apfel hin, der gegenüber liegt; das Kind wünscht sehnlichst hinzueilen; doch wegen der Schwäche seiner Glieder würde es bald wieder hinfallen, wenn der Vater nicht die Hand hinhielte und es beim Gehen stützte und lenkte. So gelangt es unter der Leitung seines Vaters zum Apfel, den der Vater ihm freundlich – gleichsam als Belohnung für sein Laufen – in die Hand gibt. Das Kind hätte sich nicht aufrichten können, wenn der Vater ihm nicht unter die Arme gegriffen hätte; es hätte den Apfel nicht gesehen, wenn der Vater nicht darauf hingewiesen hätte; es hätte nicht weitergehen können, wenn der Vater seine schwachen Schritte nicht ständig gefördert hätte, und es hätte den Apfel nicht erreichen können, wenn nicht der Vater ihm den in die Hand gegeben hätte. Was kann unter solchen Umständen das Kind als eigene Leistung in Anspruch nehmen? Trotzdem hat es einiges getan; es hat aber keinen Grund, auf seine Kraft zu pochen, da es sein ganzes Dasein dem Vater verdankt.“ Erasmus von Rotterdam, Vom freien Willen, übers. v. Otto Schumacher, Göttingen 71998, 96f.

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Gnadenhandeln zu betonen. Dies schließt letztlich eine menschliche Autonomie in Glaubensfragen aus.19 Die Virulenz der Fragestellung liegt, zumal im Gespräch unter Schüler/innen, heute gewiss nicht auf dem konfessionellen Aspekt der Fragestellung. Die beiden Texte können vielmehr die oben skizzierten Überlegungen der Schüler/innen strukturieren helfen. Betrachten wir nochmals die Oser’schen Stufen, dann fällt auf, dass Luthers Vorstellung der Oser-Stufe 1 entspricht: Gott bestimmt letztlich alles. Erasmus böte die Stufe 2, wo der Mensch in einem gewissen Austausch mit Gott handelt. Die Stufe völliger Autonomie ließe sich als eine radikalisierte Erasmus-Position verstehen. Auf der vierten Stufe käme dann wieder Luther zum Zuge, weil dort der subjektiv empfunden autonom handelnde Mensch sich gleichwohl im Heilsplan Gottes aufgehoben weiß. Die philosophisch-theologischen Argumentationen wollen also weniger im Sinne einer „Richtigkeit“ verstanden werden denn als Spiegel für die Argumentationsversuche der Schüler/innen.

Eine Fragestellung – begrenzte Antworten. Überlegungen zur Dilemmadiskussion Die obige Argumentation folgte dem Dreischritt Problemformulierung – Sichtung der Schülerantworten – Strukturierung durch den Rückgriff auf Klassiker einerseits, sozialwissenschaftliche Theorien andererseits. Gleichwohl bleibt das Procedere sehr offen, zumindest aus der Perspektive einer Lehrperson, die in diesem Sinne unterrichten möchte. Für einen planvoll durchzuführenden Unterricht könnte es hilfreich sein, nach strukturierteren Modellen zu suchen. Oser & Gmünder haben im Zuge der Erarbeitung ihrer Theorie des religiösen Urteils bewusst auf das Modell der Dilemmadiskussion zurückgegriffen, wie es vorher Lawrence Kohlberg entwickelt hatte.20 Die Dilemmastruktur einer Problementfaltung garantiert auf jeden Fall die Möglichkeit mehrerer Antworten, von denen keine für sich in Anspruch nehmen kann, „die Richtige“ zu sein.21 Die strukturgenetische Perspektive interessiert sich natürlich zu allererst für die Argumentationsniveaus. Dies 19 „So ist der menschliche Wille in die Mitte gestellt (zwischen Gott und Satan) wie ein Zugtier. Wenn Gott sich darauf gesetzt hat, will er und geht, wohin Gott will. […] Wenn Satan sich darauf gesetzt hat, will und geht er, wohin Satan will. Und es steht nicht in seiner freien Entscheidung, zu einem von beiden Reitern zu laufen oder ihn sich zu verschaffen zu suchen, sondern die Reiter selbst kämpfen miteinander, ihn zu erlangen und zu besitzen. Vgl. Martin Luther, Vom unfreien Willen, in: K. Aland (Hg.), Luther Deutsch. Bd. 3, Göttingen 1991, 196. 20 Fritz Oser / Paul Gmünder (wie Anm. 15), 111ff. 21 Fritz Oser / Wolfgang Althof, Moralische Selbstbestimmung. Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich, Stuttgart 1992.

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schließt jedoch keinesfalls aus, die Antworten auf die Dilemmageschichten unter philosophischen oder theologischem Blickwinkel zu betrachten.22 Ich möchte dies erläutern am Beispiel des von Oser & Gmünder so genannten „Hiob“-Dilemmas.23 Ein Oberrichter, wohlhabend und glücklich, verliert durch Verleumdung sein Amt. Die schwere Erkrankung der Tochter hat sein gesamtes Vermögen aufgezehrt, ohne dass sie gesund geworden wäre.

Anton Bucher hat diese Geschichte Kindern und Jugendlichen erzählt,24 Hartmut Rupp hat sie in einer 4. Klasse eingesetzt.25 Beide Studien stimmten darin überein, dass das Antwortverhalten sich erwartungsgemäß gut im Rahmen der Oser’schen Theorie verstehen ließ. Interessanterweise zeigte die Antwortpalette der Kinder auch eine große inhaltliche Übereinstimmung: „a) Unglück und Leid sind eine Strafe Gottes. ‚Vielleicht hat der Mann auch etwas gemacht, was er nicht machen sollte …‘ b) Unglück und Leid sind Herausforderungen, den Glauben unter Beweis zu stellen. ‚Er sollte zu Gott beten und ihn fragen, warum er das gemacht hat. Dann würde es Gott ihm bestimmt sagen.‘ c) Gott wollte Schlimmeres verhüten. So wie die Welt ist, ist sie doch die beste aller Welten: ‚Irgendwann würde vielleicht noch etwas Schlimmeres passieren.‘ d) Gott verdient keinen Glauben. Die Lösung von Hiobs Frau (‚Schwöre ab!‘) taucht nur als Frage auf. ‚Soll ich überhaupt noch beten?‘ e) Gott ist machtlos. ‚Oft sind auch andere schuld …‘ ‚Erreger …‘ ‚Gott kann nicht immer in die Zukunft sehen.‘ f) Gott ist gar nicht gütig. Diese Vorstellung taucht nur als Anklage auf. ‚Hat so viel Gutes getan.‘ g) Gott gibt es nicht. Diese Lösung erscheint nur in Frageform: ‚Gibt es dich überhaupt?‘“26

22 Dies erklärt auch die zunehmende Rezeption für den Ethik- und Religionsunterricht: Lothar Kuld / Bruno Schmid, Lernen aus Widersprüchen, Donauwörth 2001; vgl. Stephan Vogt, Die „Dilemma“-Methode, in: rabs 2/1999, 44ff. 23 Fritz Oser / Paul Gmünder (wie Anm. 15), 17. 24 Anton A. Bucher, Kinder und die Rechtfertigung Gottes? Ein Stück Kindertheologie, in: Schweizer Schule Heft 10/79 (1992), 7–12. 25 Gerhard Büttner / Hartmut Rupp, Theodizee als Dilemma. Möglichkeiten und Grenzen der Dilemmadiskussion als Medium kindlichen Theologisierens, in: dies. (Hg.), Theologisieren mit Kindern (wie Anm. 11), 21–34. 26 Ebd., 30f.

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Mit der Dilemmastruktur als Vorgabe gelingt es uns also, die im Unterricht am wahrscheinlichsten auftretenden Antworttypen relativ sicher vorherzusagen. Dass dabei die spezifische Fragestellung eine Rolle spielt, ließ sich dadurch zeigen, dass etwa Rainer Oberthür durch andere, nicht auf der Dilemmamethode beruhenden Unterrichtsmedien in derselben Altersstufe zum selben Thema doch spezifisch andere Antworten erhielt. 27

Schlussfolgerungen und Forschungsdesiderata Wer mit den Oser-Dilemmata unterrichtlich arbeiten möchte,28 findet zwar Auswertungshinweise für das zentrale „Paul-Dilemma“, wo ein Arzt während eines Flugzeugabsturzes, den er überlebt hat, ein Versprechen gegenüber Gott formuliert hat und es nun darum geht, ob er es halten muss bzw., ob ein Autounfall von ihm verursacht, nachdem er sein Versprechen nicht gehalten hat, als Folge seines Verhaltens anzusehen sei.29 Bei den anderen Dilemma-Vorschlägen30 wird der Benutzer letztlich auf die eigene Intuition verwiesen. Dies ist bei Osers Vorbild Lawrence Kohlberg ganz anders. Hier liegt ein umfangreiches Auswertungsmanual vor, in welchem der Benutzer im Prinzip jede Antwortmöglichkeit nachschlagen kann und dort dann die empfohlene Wertung entnehmen kann.31 Dieser forschungsmethodische Aufwand lässt sich nun aber durchaus mit Gewinn für die Ethik-, Philosophie- oder Religionsdidaktik nutzbar machen. Kohlberg erläutert die Erschließung einer moralischen Problematik im Zusammenhang seiner Dilemmakonstruktion:32 „Das Ziel des Auswertenden ist es, zur Stufenstruktur vorzudringen, also die den Reaktionen zugrundeliegende Struktur zu erkennen. Bevor Auswerter das tun können, müssen sie die Antworten in mehreren Schritten nach ihrem Inhalt klassifizieren. Zunächst muss bestimmt werden, welcher der beiden [im Dilemma] 27 Rainer Oberthür, Kinder fragen nach Leid und Gott. Lernen mit der Bibel im Religionsunterricht, München 1998. So legt Oberthür den Schüler/innen etwa die Deutung Epikurs vor: „Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es“, 120. 28 Vgl. z.B. Stephan Vogt, Die Entwicklung des religiösen Urteils. Aufgezeigt am Unterrichtsbeispiel: „Das Paul-Dilemma“, in: rabs 2/2000, 43–49. 29 Oser / Gmünder, Der Mensch – Stufen seiner religiösen Entwicklung (wie Anm. 15), 118ff. 30 Ebd., 206ff. 31 Anne Colby u.a., The Measurement of Moral Judgement, Bd. 2, Cambridge u.a., 1987. 32 Lawrence Kohlberg, Die Bedeutung und Messung des Moralurteils, in: ders., Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt a.M. 1995, 189f.

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konfligierenden Wertkategorien die Antwort zugehört. […] Der zweite Schritt der Inhaltsklassifikation zielt deshalb darauf ab, die Gründe für [… die getroffene Option] zu bestimmen. Diese Gründe bringen uns näher an die Struktur heran. [… Die sich darin artikulierenden wertbezogenen Elemente] sind aus den Bemühungen von Moralphilosophen, Typen moralischer Werte zu klassifizieren, abgeleitet.“

Konkret bedeutet dies, dass ich bei jeder Option in einem Dilemma gleichwohl eine Vielzahl von Begründungen unterscheiden kann. Sehr verkürzt argumentiert würde das bedeuten, dass bei 6 Moralstufen bei zwei Alternativoptionen mindestens 12 Argumentationsmuster unterscheidbar sind, die wiederum, wie Kohlberg vermerkt, auf moralphilosophische Überlegungen zurückgeführt werden können.33 Es ist unmittelbar einleuchtend, dass eine Strukturierung, wie sie Kohlberg für seine Moralthematik vorlegt, auch für andere philosophische Fragestellungen denkbar und wünschenswert wäre. Gerade mit Heranwachsenden ließe sich auf diese Art und Weise eine Würdigung der Schülerantworten erreichen, die nicht vorschnell nach richtig oder falsch sortieren müsste, sondern auch die hinter der Antwort liegende kognitive Struktur erschließen und damit verstehen hilft. Das oben präsentierte Antwortspektrum bietet eher ein phänomenologisches Nebeneinander als eine Struktur in der hier skizzierten Art. Von daher könnte es sinnvoll sein, die oben skizzierte Fragestellung nach Art der aus der Grammatik-Theorie bekannten logischen „Strukturbäumchen“ dazustellen.34 Damit gelänge es, das Antwortspektrum in eine logische Struktur zu bringen, die es dann auch ermöglicht, mit den Schüler/innen die jeweiligen Voraussetzungen bzw. Konsequenzen ihrer Beiträge zu klären. Das abschließende Schaubild kann in diesem Sinne verstanden werden.

33 In Bezug auf das berühmteste Kohlberg-Dilenmma von „Heinz“, der für seine todkranke Frau ein Medikament stehlen will, das ihm der Apotheker, der es erfunden hat, zu dem ihm möglichen Preis nicht verkaufen will, hat Antonius Holtmann jeweils eine Pro- und eine Contra-Antwort auf jeder der 6 Stufen zusammengestellt. Vgl. Lawrence Kohlberg, Kognitive Entwicklung und moralische Erziehung, in: Gerhard Büttner / Veit-Jakobus Dieterich (Hg.), Die religiöse Entwicklung des Menschen (wie Anm. 12), 63f. 34 Ich übernehme damit zunächst einmal nur Darstellungsformen aus der Grammatiktheorie. Orientiert habe ich mich an Angelika Linke u.a., Studienbuch Linguistik, Tübingen 42001, 85ff zur „Generativen Grammatik“. Damit ist natürlich die Frage erhoben (und keinesfalls beantwortet), ob es (im Sinne Chomskys) „Tiefenstrukturen“ unseres Denkens gibt, die es uns ermöglichen, bestimmte Fragen gerade in dieser Form einer Darstellung, wenn nicht gar Lösung zuzuführen. Von der Sache her kann man die Herausbildung einer bestimmten Zahl von Interpretamenten zur Problemartikulation auch als kommunikativen Prozess bzw. als einen Prozess der kulturellen Tradierung verstehen. Dann wären die angesprochenen Strukturen „bewährte Muster“. Von der didaktischen Absicht her geht es allerdings mehr um das Registrieren und Sammeln solcher Argumentationsfiguren als um deren letzte Begründung.

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Kindertheologie zwischen „Glaubenswissen“ und „Kinderphilosophie“

Kindertheologie zwischen „Glaubenswissen“ und „Kinderphilosophie“

Kindertheologie hat – gegenüber einer Jugendtheologie – einige entscheidende anthropologisch begründete Charakteristika. Da das Denken der Kinder durch die „konkrete Operation“ im Sinne Piagets bestimmt ist, lassen sich die Befunde über verschiedene Zeiten und Gegenden dennoch gut aufeinander beziehen, weil sie weitgehend stabil sind. Es spricht vieles dafür, dass es eine besondere Affinität des kindlichen Denkens gegenüber einer theistischen Deutung der Welt gibt, das heißt mit einem (all-)mächtigen Akteur im Hintergrund.1 Weiterhin liegen in diesem denkerischen Weltzugang analytische und existentielle Aussagen noch nah beieinander. So zeigen die Beiträge zu internationalen Netzwerktagungen, dass sich Unterscheidungen vor allem aus dem Rahmen ergeben. Die deutsche Variante eines konfessionellen schulischen Religionsunterrichts ermöglicht je nach konkreter Situation vor Ort und in der konkreten Klasse sowohl Erleben und Reflexion von „Glauben“ als auch analytisches Reden im Sinne einer Religionsphilosophie. Karl Ernst Nipkow hat hier auf die unterschiedlichen Grade eines ‚Einverständnisses im Glauben‘ hingewiesen.2 Findet ein religionskundlicher Unterricht in der Schule statt, dann macht es wiederum einen großen Unterschied, wie die Schülerschaft zusammengesetzt ist. Hier ist von großer Bedeutung, ob die Schüler/innen einen multireligiösen oder eher agnostischen Hintergrund haben. Doch in beiden Fällen zielt die Praxis hier eher auf Varianten der Kinderphilosophie. Dem stehen dann Praxisbeschreibungen aus kirchlichen Kontexten gegenüber, wo das Theologisieren oft eingebunden ist in eine liturgische Praktik. Was macht diese Beispiele vergleichbar? Welche Rolle spielt der Rahmen? Diese beiden Fragen zielen auf Unterschiedliches. Betrachtet man die politischen und gesellschaftlichen Diskussionen, dann kann man den Eindruck gewinnen, dass die institutionelle Verfasstheit eines Bildungsortes von entscheidender Bedeutung sei: kirchliche oder kommunale Trägerschaft (etwa von Kindergärten), Ethik- oder Religionsunterricht (für alle oder 1 Justin L. Barrett, Born Believers. The Science of Children’s Religious Belief, New York 2012; Deborah Keleman, Are Children ‚Intuitive Theists‘? Reasoning about Purpose and Design, in: Nature, Science 15 2004, 295–301; Jürgen Oelkers, Die Frage nach Gott. Über die natürliche Religion der Kinder, in: Vreni Merz (Hg.), Alter Gott für neue Kinder. Das traditionelle Gottesbild und die nachwachsende Generation, Freiburg/Schweiz 1994, 13–22. 2 Karl Ernst Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt, Bd. 2: Religionspädagogik im Pluralismus, Gütersloh 1998, 334ff.

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II. Kindertheologie und Kinderphilosophie

konfessionell getrennt). Dahinter steht jeweils die Erwartung, die wohl generell den Erziehungsprozess bestimmt, dass eine „Weitergabe“ der Werte und Haltungen der Elterngeneration auf die Kinder wünschenswert und möglich sei. Diese Vorstellung zeigt sich besonders in politisch aufgeladenen Zeiten und Systemen. Dabei werden oft Programme ins Spiel gebracht, die erst einmal nicht „ideologisch“ wirken – etwa „Inklusion“ oder „Heterogenität“. Doch erreichen diese Programme ihre Ziele? Dass eine bestimmte Religion als Programm zwischen Anhängern und Nicht-Anhängern umstritten ist, ist nicht weiter überraschend. Nun haben systemtheoretische Beobachter des Erziehungssystems die Frage gestellt, ob die Erwartungen der Pädagogen nicht überzogen sind. So besagt etwa die Rede vom „Technologiedefizit“, dass es im Bereich der Erziehung eher keine strikte Kausalität gibt.3 In einer Befragung von Abiturienten nach „1000 Stunden Religionsunterricht“ stellt sich ein sehr gemischtes Bild dar.4 Was die einen schätzten, lehnten andere ab. Eine ‚glaubensfeste‘ Lehrperson kann zu Wertschätzung führen, aber auch zum Gegenteil. Ich möchte deshalb im Folgenden zwei Schritte gehen: In einem ersten werde ich versuchen, anhand von dokumentierter Praxis des Theologisierens dessen Besonderheiten herauszuarbeiten. Welche Gemeinsamkeiten sind erkennbar – welche Differenzierungen müssen vorgenommen werden? In einem zweiten Schritt werde ich die angesprochenen Rahmenbedingungen nochmals genauer ins Auge fassen. Als Beobachter der Beobachter versuche ich dahinter zu kommen, in welcher Weise intentionale Rahmensetzungen das Geschehen wirklich beeinflussen.

Das Spektrum der kindertheologischen Praxen Das Projekt „Kindertheologie“ hat maßgebliche Anstöße von der Kinderphilosophie erhalten. Vor allem aus den USA kamen Versuche, mit Kindern über „Große Fragen“ zu spekulieren, aber auch methodisches Denken einzuüben. Vor allem in der erstgenannten Version ergaben und ergeben sich immer wieder Gespräche, in denen religiöse Fragestellungen, besonders die Frage nach Gott, eine Rolle spielen. Damit ist dieser Weg eingezeichnet in eine philosophische Tradition, die von der Antike bis zur Moderne reicht – Religionsphilosophie als integraler Bestandteil spekulativer Philosophie. Gareth B. Matthews, einer der Protagonisten der Kin 3 Niklas Luhmann / Karl Eberhard Schorr, Das Technologiedefizit der Erziehung und die Pädagogik, in: Niklas Luhmann / Karl Eberhard Schorr (Hg.), Technologie und Selbstreferenz, Frankfurt a.M. 1982, 11–41. 4 Peter Kliemann / Hartmut Rupp (Hg.), 1000 Stunden Religionsunterricht. Wie junge Erwachsene den Religionsunterricht erleben, Stuttgart 2000.

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Kindertheologie zwischen „Glaubenswissen“ und „Kinderphilosophie“

derphilosophie, berichtet über ein Gespräch mit seiner vierjährigen Tochter Sarah:5 Beim Entflohen der Katze, das diese beobachtet, stellt Sarah die Frage nach der Herkunft der Flöhe. Der Vater verweist auf andere Katzen, die diese wiederum bei nochmals anderen Katzen aufgeschnappt haben. Dass dies immer so weitergehen kann, veranlasst Sarah zu dem Satz: „Aber Daddy […] es kann doch nicht unendlich so weiter gehen, das einzige, was unendlich weitergehen kann, sind Zahlen!“6 Matthews erkennt in dieser Überlegung – dem infiniten Regress – eine Denkfigur, die in der Frage nach der ersten Ursache oder dem ersten Beweger einen Gottesbeweis fundiert. Hier werden zwei Dinge sichtbar. Sarah ist in einem Alter, in dem für Kinder die Kontingenzthematik aufbricht: Könnte nicht alles auch ganz anders sein? Das heißt aber auch, dass das philosophische Nachdenken der Kinder durchaus „von alleine“ zu religionsphilosophischen Kernfragen führen kann und es letztlich davon abhängt, ob Erwachsene dies erkennen und u.U. ein sprachliches Angebot machen, um eine religiöse Semantik entwickeln zu können. Gegen Ende der Kindheitsphase hat Nora K. die Möglichkeit, mit dem Philosophen Vittorio Hösle einen philosophischen Briefwechsel zu führen. Es geht dabei um die Auseinandersetzung mit philosophischen Klassikern in einem imaginären „Café der toten Philosophen“. In Bezug auf den Philosophen Hegel formuliert Nora:7 „Lieber Herr Hegel. Können Sie beten?! Denn ihrer Meinung nach ist Gott doch keine richtige Person, oder? Und zu einer Substanz kann man doch nicht reden! Vielleicht kann man sie nur sachlich beurteilen.“ Auch dieses Beispiel zeigt, dass die Auseinandersetzung mit philosophischen Topoi ihrerseits bei den Kindern Fragen aufkommen lässt, die von unmittelbarer theologischer Relevanz sind. Offenbar wohnt der Beschäftigung mit „großen Fragen“ – ganz im Sinne der Arbeit von Ludmila Muchová – eine Tendenz inne, die zwangsläufig zu Phasen des Theologisierens führt. Nach dem reflexiven Pol richten wir den Blick auf die performative Seite. Damit beschreibe ich das Phänomen, dass Kinder nicht selten ihre Argumentation bildhaft entwickeln – unter Einbeziehung entsprechender Bewegungen. Katharina Kammeyer führte mit Kindergartenkindern Gespräche zum Thema Beten. Als es um Gebetsanlässe geht, legt sich Ken demonstrativ hin, vermutlich um auf das häusliche Abendritual zu verweisen.8 Als Lars mit Playmobilfiguren eine 5 Gareth B. Matthews, Die Philosophie der Kindheit. Wenn Kinder weiter denken als Erwachsene, Weinheim 1995. 6 Ebd., 7. 7 Nora K. / Vittorio Hösle, Das Café der toten Philosophen. Ein philosophischer Briefwechsel für Kinder und Erwachsene, München 1996, 67f. 8 Katharina Kammeyer, „Lieber Gott, Amen!“ Theologische und empirische Studien zum Gebet im Horizont theologischer Gespräche mit Vorschulkindern, Stuttgart 2009, 422ff.

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Szene zum Tischgebet inszeniert, tritt er betend zur Seite und vollzieht damit das Gespielte.9 Ähnlich performt das dreieinhalbjährige Kind bei John Hull seine Überlegung zum Wohnen Gottes: „[I]ch meine, wenn du aufsteigst, hoch und hoch und hoch, an den Wolken vorbei und (es spricht mit leiser, hoher Stimme) weiter hoch und hoch und hoch, dann kommst du (es flüstert) zu einer ganz, ganz kleinen Hütte, und in dieser Hütte ist Gott.“10 Die beschriebenen Szenen wollen deutlich machen, dass bei jüngeren Kindern das Theologisieren eine Sache nicht nur des Verstandes, sondern von Leib und Seele ist. Dass solche Impulse sich auch noch bei älteren Kindern zeigen, schildert Christina Hoegen-Rohls. Als es bei Kindern der 5. Klasse darum geht, was einen Kirchenraum angenehm macht, fällt auch das Stichwort „Gesang“, worauf zwei Kinder spontan das ‚Halleluja‘ aus Händels Messias intonieren.11 Mein letztes Beispiel stammt aus einem Unterrichtsgespräch in einer 5. Klasse des Gymnasiums. Sie wurde in einem Studio der Hochschule aufgezeichnet und dreht sich um die Frage nach dem freien bzw. unfreien Willen des Menschen in Bezug auf Gott. Es geht dabei um die historische Kontroverse zwischen Erasmus von Rotterdam und Martin Luther. Doch wird dabei auch ein Bild aktiviert, das für Schüler/innen dieses Alters offenbar besonders passend erscheint, um das Verhältnis Gott – Mensch zu artikulieren: das des Marionettenspielers.12 Gerade in der Übergangsphase zwischen Kindheit und Pubertät spielt die Frage von göttlicher Führung und eigener Autonomie eine wichtige Rolle. Ich skizziere einige Schülervoten:13 „Hendrik (78): Äh, dass Gott uns steuert und als ein/also, dass jeder Mensch halt von Gott gesteuert wird. [L: Wie hast du das gemalt?] Des is/steht Gott halt oben auf ’ner Wolke und hat so en Steuerknüppel und unten steht ein Mann, und der sagt: Ich werd’ von Gott gesteuert.

9 Ebd., 427. 10 John M. Hull, Wie Kinder über Gott reden, Gütersloh 1997, 21. 11 Christina Hoegen-Rohls, „Sykimosch“. Fünftklässler diskutieren über einen Frömmigkeitsraum aus Synagoge, Kirche und Moschee, in: Anton Bucher u.a. (Hg.): „Kirchen sind ziemlich christlich“. Erlebnisse und Deutungen von Kindern. Jahrbuch für Kindertheologie, Bd. 4, Stuttgart 2005, 42. 12 Friedrich Schweitzer u.a, Religionsunterricht und Entwicklungspsychologie. Elementarisierung in der Praxis, Gütersloh 1995, 12ff; vgl. Gerhard Büttner, Landkarten des Denkens, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 25 (2003), 25, 74–81. 13 Gerhard Büttner / Jörg Thierfelder, ‚Mit theologischen „Klassikern“ theologisieren. Ein Unterrichtsversuch zum „freien bzw. unfreien Willen“ in einer 5. Klasse, in: Gerhard Büttner / Hartmut Rupp (Hg.), Theologisieren mit Kindern, Stuttgart u.a. 2002, 45.

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Doch dieses Bild von Hendrik findet Widerspruch: Elisabeth (88): Ich würd sagen, des was der Hendrik gemeint hat, ist schon was anderes. […] Weil also naja, ich mein’ die Menschen tun ja auch schon Sachen, also die, wo Gott nicht gesagt hat: Ja, tu des jetzt und ich steuer’ dich so ja, […] sondern die machen ja auch mal was, was dem Gott halt zum Beispiel jetzt nicht so gefällt, oder so. Aber trotzdem denk’ ich, ist Gott immer und überall. So irgendwie unter uns. L (89): Mhm. Gott ist immer und überall. Patrick. Patrick (90): Also ich hab’ jetzt gemalt, […] dass unten en Mensch ist, der halt auch nicht gut ist, also der schlechte Sachen gemacht hat und der Gott steuert den trotzdem, also der Gott steuert manchmal einen, manchmal einen schlecht, ja.“

Der kleine Ausschnitt lässt erkennen, wie originell die Schüler/innen die Frage diskutieren, was den Philosophiedidaktiker Petermann dazu veranlasst, die philosophische Qualität dieses Gesprächs zu betonen.14 Andererseits berichtet die unterrichtende Lehrerin, dass die Folgestunde in der heimischen Schule von einem Schüler mit der Frage begonnen wurde: „Aber, gell, Gott ist doch eigentlich lieb, oder?“15 und sich eine lebhafte Diskussion in dieser Richtung entwickelte. Ich möchte aus diesem Befund zwei Schlüsse ableiten: Erstens wird hier deutlich, dass viele Gespräche im Sinne des Theologisierens Gedankenexperimente im Sinne der Philosophie sein können – und dies in respektabler Qualität. Gleichzeitig ist damit aber häufig, wenn nicht gar immer, eine Anfrage an den eigenen Glauben (oder Nicht-Glauben) verbunden – es geht also um „Glaubenswissen“.16 Die zweite Konsequenz ergibt sich aus den beiden erwähnten Orten. Offenbar ist es von Bedeutung, an welchem Ort zu welcher Zeit ein Gespräch stattfindet. Damit nehme ich das eingangs angesprochene Thema des Rahmens nochmals neu auf.

Rahmenbedingungen des Theologisierens Kann es im Philosophie- oder Ethikunterricht einer staatlichen Schule zu demselben Gesprächsduktus kommen wie im konfessionellen Religionsunterricht oder einer kirchlichen Kindergruppe? Im Prinzip ja, und dennoch ist es nicht das Glei14 Hans-Bernhard Petermann, Wie können Kinder Theologen sein? Bemerkungen aus philosophischer Perspektive, in: Büttner / Rupp, Theologisieren mit Kindern (wie Anm. 13), 120f. 15 Dorothea von Choltitz, Kommentar zu meinem Unterricht zum freien bzw. unfreien Willen, in: Büttner / Rupp, Theologisieren mit Kindern (wie Anm. 13), 76. 16 Gerhard Büttner / Oliver Reis, Glaubenswissen – konstruktivistisch gelesen, in: Gerhard Büttner u.a. (Hg.), Religion lernen. Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik, Bd. 6, Babenhausen 2015, 9–20.

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II. Kindertheologie und Kinderphilosophie

che. Die Studien zur Rahmung sozialer Interaktion haben deutlich gemacht, dass der Kontext in vielen Situationen die Bedeutung bestimmt.17 Reizvoll sind hier die Streitfälle: Wenn einer im Theater „Feuer!“ ruft, muss man sich dann schnell ins Freie begeben oder ist das ein Teil der Inszenierung des Stückes? Warum sind Leute, die im Film böse sind, „in Wirklichkeit“ deshalb noch keine Schurken? Doch lässt sich zeigen, dass Rahmungen auch in pädagogischen Kontexten wirksam sind. Wenn etwa im Religionsunterricht ein Film gezeigt wird, schalten die meisten Schüler/innen in Haltung und Gestik in den „Freizeitmodus“ um.18 Ich möchte die Rahmungen von Gesprächssequenzen zum Theologisieren an dieser Stelle deshalb im Detail genauer bedenken. Was bedeutet die ‚konfessionelle Rahmung‘? Wir können davon ausgehen, dass die gerade praktizierte Form auf ihre Weise als ‚normal‘ empfunden wird. Erst eine „Modulation“ führt zu Irritationen. In der Diktion Klaus Kießlings könnte man sagen: „Unterschiede machen Unterschiede“.19 Wo bewusst gemischte Lerngruppen zusammengestellt werden, erfahren Lehrkräfte und Schüler/innen ihre eigene konfessionelle Prägung und können dann bewusst damit operieren. Eine bislang unbewusst gebliebene Rahmung wird so sichtbar und ermöglicht es den Lehrkräften, auf bestimmte Elemente der religiösen Traditionen zurückzugreifen. So kann man im oben zitierten Beispiel natürlich sichtbar machen, dass eine Sichtweise, die dem Menschen im Sinne von Erasmus eine beschränkte Autonomie zuweist, traditionell katholisch ist, eine, die im Sinne Luthers in Gnadenfragen dem Menschen einen freien Willen abspricht, konfessionell evangelisch ist. Im Diskurs der Kinder spielte das bei der Wahl der Argumente erst einmal keine Rolle, hätte aber als weiterer Impuls ins Spiel gebracht werden können. An der PH Karlsruhe hat man drei Religionslehrer/ innen und drei Philosophielehrkräfte gebeten, mit Schüler/innen ein Gespräch zum Thema „Alles Leben hat ein Ende“ zu führen. Wie unterschieden sich nun diese Gespräche? Nicht überraschend ist die Bezugnahme bzw. Nicht-Bezugnahme auf Gott. Darüber hinaus wurde aber auch sichtbar, dass es offenbar recht unterschiedliche Gesprächskulturen gibt. Für die Philosophiegruppen war es wichtig, im Sinne eines analytischen Vorgehens die Begriffe sauber zu klären und damit die Fragestellung zu präzisieren und zu verengen. Für die Religionsgruppen war 17 Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a.M. 31993. 18 Marion Keuchen, Einschalten des Films und Umschalten der Klasse. Filme im Religionsunterricht, in: Gerhard Büttner u.a. (Hg.), Praxis des RU. Religion lernen. Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik, Bd. 10, Babenhausen. 2019, 104–114. 19 Klaus Kießling u.a., Machen Unterschiede Unterschiede? Konfessioneller Religionsunterricht in gemischten Lerngruppen, Göttingen 2018; vgl. Friedrich Schweitzer / Albert Biesinger, Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden. Erfahrungen und Perspektiven zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht, Freiburg i.Br. 2002.

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Kindertheologie zwischen „Glaubenswissen“ und „Kinderphilosophie“

es dagegen wichtig, das Thema durch (biblische) Narrative zu bereichern. Dies führte dann zu einer Amplifikation der Fragestellung durch Einbeziehung immer neuer Perspektiven. Hier wird deutlich, wie sehr eine Fachkultur bei Lehrkräften und Schüler/innen Habitualisierungen erzeugt, die dann auch jedes neue Thema und jede neue Konstellation bestimmen. Der Blick auf Videoaufzeichnungen in Hochschulen gab bereits Hinweise, dass der Ort der Kommunikation ebenfalls eine wichtige Rolle als Rahmen einnimmt. Dies wird besonders deutlich, wenn man sich die „Christenlehre“ betrachtet, die in der DDR-Tradition in ostdeutschen Ländern (neben dem Religionsunterricht) weiterbesteht. Es ist ein Angebot an Kinder und Jugendliche, sich in der Regel wöchentlich in einem kirchlichen Raum zu treffen. Inhaltlich finden sich Elemente von Kinder- bzw. Jugendarbeit, Kindergottesdienst und Religionsunterricht. Signifikant ist jedoch, dass es offenbar einen Unterschied macht, ob sich dieselben Kinder im Schulgebäude oder im Gemeindehaus, dem Pfarrhaus oder der Kirche treffen. Offenbar ermöglicht ein solcher Andersort eine andere Kommunikation.20 Dabei zeigt ein Blick auf Fachräume für Religion, die es in Deutschland vereinzelt gibt, dass diese versuchen, den sachlich-disziplinierenden Charakter von Schulräumen dadurch zu „mildern“, dass sie durch Bilder, Wandschmuck und alternative Sitzangebote eine eher informellere Atmosphäre schaffen.21 Auch dies wirkt sich auf die Unterrichtskommunikation aus. Auf Seiten der Schüler/innen hat die Religionspädagogik diesen Rahmeneffekt natürlich längst wahrgenommen – unter dem ambivalenten Begriff des „Religionsstunden-Ichs“. Was damit gemeint ist, zeigt die folgende Szene aus einer zweiten/dritten Klasse: Eine Lehrerin zeigt das Bild einer Wasserfläche und erwartet entsprechende Assoziationen. Doch ein Schüler nennt gleich zielbewusst das Tote Meer.22 Offenbar schränkt die Tatsache, dass jetzt Religionsunterricht ist, die Aufmerksamkeit der Schüler/innen in dem Sinne ein, dass jetzt Antwortangebote aus dem Pool der bekannten Begriffe und Symbole gesucht werden. Der Religionsunterricht – der eigentlich immer an Authentizität interessiert ist – möchte von seinem Ideal her diese Selektion eigentlich vermeiden. Doch folgt der selektive Blick der Schüler/innen der Logik einer differenzierten Gesellschaft: im Religionsunterricht wird eben erwartet, dass religiös geantwortet wird – unter Benutzung der dort 20 Gerhard Büttner, Christenlehre als „Andersort“, Praxis Gemeindepädagogik 70, Heft 4 (2017), 59f. 21 Gerhard Büttner, Religions-Räume in der Schule – Versuch einer „Dichten Beschreibung“, in: Gernot Meier (Hg.), Reflexive Religionspädagogik. Impulse für die kirchliche Bildungsarbeit in Schule und Gemeinde, Stuttgart 2012, 241–250. 22 Ulrich Hemel, Das Religionsstunden-Ich. Handicap oder Chance für den Religionsunterricht, in: Religionsunterricht an Berufsbildenden Schulen 22, Heft 3 (1991), 67.

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II. Kindertheologie und Kinderphilosophie

herrschenden Begrifflichkeit. Das impliziert, dass die Schüler/innen zunehmend lernen, dass alle Fächer ihre eigene Sprache und Logik haben. In Wirtschafts­ fragen werden eben religiöse Antworten weniger geschätzt. Diese Bedeutung der jeweiligen Rahmensetzung der Fächer zu lernen, ist dann eine explizite Bildungsaufgabe der Schule. Für unsere Fragestellung heißt das, dass die Schüler/innen durchaus wissen, dass Theologisieren eben in den Religionsunterricht gehört und in anderen Fächern andere Argumentationslogiken gefordert sind.

Fazit Das Gespräch mit Kindern über die „Großen Fragen“23 ermöglicht in Gestalt spekulativer Gedankenexperimente für alle Teilnehmenden eine Einübung in Empathie: Welche Vorstellungen und Argumentationen haben andere im Vergleich zu mir? Solche Gespräche sind nicht übergriffig und können jedem zugemutet werden. Gleichzeitig enthalten sie ein Angebot, die dort auftauchenden Ideen zur Klärung meines eigenen Glaubens bzw. Nicht-Glaubens heranzuziehen. Dabei gilt es immer wieder, die Rahmenbedingungen wie Ort, Zeitpunkt und institutioneller Kontext mitzubedenken. Dies hilft, Irritationen zu vermeiden und Chancen zu erkennen.

23 Rainer Oberthür, Kinder und die großen Fragen. Ein Praxisbuch für den Religionsunterricht, München 1997.

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Woher haben die Kinder ihre Theologie?

III. Kindertheologie zwischen Entwicklungspsychologie und Theologie

Die Haltung vieler Anhänger/innen der Kindertheologie zur Entwicklungspsychologie ist zwiespältig. In der Tat scheinen viele Kinderäußerungen den Kategorien der entwicklungspsychologischen Stufentheorien zu widersprechen. Doch wird dabei deren Funktion verkannt. Ich möchte dies erläutern anhand der von Jean Piaget so genannten ‚Kreisreaktionen‘. Wenn der Säugling in seinem Bettchen strampelt, kann dadurch u.U. das Klingeln eines am Bett befestigten Glöckchens ertönen. Da das Kind das Geräusch liebt, wird es Anstrengungen unternehmen herauszufinden, wie es den Ton auslösen kann, was ihm irgendwann gelingen wird. Nach demselben Prinzip gelingt es Kindern immer wieder, Aussagen höheren Niveaus zu formulieren (z.B. metasprachlicher Art), ohne das Prinzip zu kennen und eine ähnliche Aussage wiederholen zu können. Die Argumentation auf einer höheren Stufe erfolgt also eher ‚probeweise‘. Außerdem geht man heute in der Entwicklungspsychologie davon aus, dass Entwicklung bereichsspezifisch erfolgt. Die von Kohlberg, Fowler und Oser entdeckten Stufen gelten demnach wohl nur für bestimmte Denkbereiche und sind von der Fragestellung abhängig. D.h., dass bestimmte theologische Teilbereiche ihre eigenen Stufenmodelle haben und es außerdem darauf ankommt, ob das Kind bzw. der Jugendliche Novize oder Experte ist. All dies verbietet eine schematische Anwendung der Stufentheorien. Doch das Zusammenführen von Kognitionstheorie und Theologie hat einen anderen Effekt. Die Entwicklungspsychologie macht jedem klar, dass auch theologische Glaubensaussagen je nach kognitiver Entwicklung unterschiedlich ausfallen. Da es nach dem Selbstverständnis des christlichen Glaubens keine Privilegierung theologischer Brillanz gegenüber dem Kinderglauben geben kann, ergibt sich daraus die Einsicht, dass Glaubensaussagen in pluraler Weise existieren (müssen) und das Insistieren auf einer bestimmten Formulierung sinnlos ist. Gleichzeitig bekommen dadurch auch die theologischen Aussagen der Kinder ihre besondere Dignität. Diese Grundeinsicht habe ich in den vier Aufsätzen in unterschiedlicher Weise zu artikulieren versucht.

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III. Kindertheologie zwischen Entwicklungspsychologie und Theologie

Woher haben die Kinder ihre Theologie? Bevor wir dieser Frage nachgehen können, stellt sich das grundsätzlichere Problem: Woher stammt unser Wissen zu den religiösen Vorstellungen jüngerer Kinder? Wenn diese eine diesbezügliche Äußerung machen, dann geschieht dies oft in einer für die Erwachsenen unpassenden Situation. Wenn die Erwachsenen später nachfragen, erhalten sie oft einsilbige Antworten oder diese sind durch die Frage suggeriert. Insofern ist es ein Glücksfall, dass Reinhard Kahl ein Mikrofon installieren konnte, das ein Gespräch unter Fünfjährigen aufnahm. Dass sich das Gespräch der Kinder dann noch um Gott und seine Eigenschaften drehte, war ein weiterer Glücksfall. Es ging um die Frage, was es bedeutet, wenn Gott überall ist (in der Orange?), ob Menschen in ihm „drinsein“ können, ob er Tote wieder lebendig machen kann.1 Nach dem ersten Schmunzeln stellt sich für die meisten Hörer/innen die Frage, woher denn Mascha und ihre Freunde ihr Wissen haben. Im Prinzip gibt es drei mögliche Antworten: 1. Die Kinder geben wieder, was sie von Erwachsenen gehört haben, 2. sie haben ihre Vorstellungen aus sich selbst heraus entwickelt oder 3. eine Mischung aus den beiden Positionen. In der entwicklungspsychologischen Diskussion kennt man die Diskussion der Erklärungsansätze zwischen Anlage und Umwelt (engl. nature vs. nurture). Gerade im Hinblick auf Religion ist diese Diskussion allerdings weniger akademisch als praktisch. Denn hierbei geht es letztlich um die Frage nach einer möglichen Indoktrination der Kinder. Spätestens seit Rousseaus „Émile“ gibt es immer wieder die Idee, man solle die Kinder ohne bestimmte Glaubensinhalte erziehen, dann könnten sie sich später „frei“ für das entscheiden, was am besten zu ihnen passt. Doch führt diese Haltung wohl eher dazu, dass die Kinder „religiös unmusikalisch“ werden, um ein Diktum Max Webers aufzugreifen.2 Um diese Diskussion zu versachlichen, bedarf es genauerer Beschreibungen der Prozesse, die dazu führen, dass Kinder in ihren eigenen Worten Aussagen zu Gott und anderen religiösen Fragen artikulieren können. Diesen möchte ich im Folgenden nachgehen. Ich gehe dabei von der Prämisse aus, dass es wichtig ist, die jeweilige Forscherperspektive zu bedenken, wenn Ergebnisse und Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Genese kindlicher Aussagen zu religiösen 1 Reinhard Kahl, Laufen, Sprechen, Lutschen. Mascha, Fabian, Sarah, in: Antoinette Becker / Hartmut v. Hentig (Hg.), Geschichten mit Kindern, Velber 1996, 121f. Der Wortlaut des Gesprächs findet sich im Beitrag „Die khindlen haben so feine gedancken de deo [über Gott]“ (Martin Luther) in diesem Band, S. 13–27. 2 Friedrich Schweitzer, Das Recht des Kindes auf Religion, Gütersloh 2000.

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Woher haben die Kinder ihre Theologie?

Fragen gezogen werden. Ich werde mein Thema in drei Schritten behandeln. Im ersten werde ich versuchen, Interpretationen für das obige Gespräch auf psychologischer Ebene zu formulieren. In einem zweiten Schritt werde ich Szenarien referieren und analysieren, die nochmals die Möglichkeiten zwischen Anlage und Umwelt aufnehmen und zuspitzen. In einem dritten Schritt soll nochmals an einem längeren Gespräch mit Kindergartenkindern nachgezeichnet werden, ob und gegebenenfalls wie sich religiöse Voraussetzungen aus dem Elternhaus in Gesprächsbeiträgen der Kinder niederschlagen.

Versuche, in die „black box“ zu schauen Je jünger die Kinder sind, umso mehr befinden wir uns in einer Situation, dass wir immer wieder auf kindliche Äußerungen zu religiösen Fragen stoßen. Doch ist ein solcher Kairos selten, dass Kinder spontan relevante Aussagen machen, die dann auch noch dokumentiert werden können. In den künstlich arrangierten Gesprächen ist das Risiko viel höher, dass die Kinder entweder gar nichts zu der Sache sagen wollen, die uns interessiert, oder wenn, dann wissen wir eben nicht genau, wie wir die Äußerungen der Kinder werten sollen. Es ist interessant, welche Typisierungen der Pionier dieser Forschungen, Jean Piaget, vorgenommen hat. Natürlich kann auch er nicht wissen, aus welcher Motivation und auf der Basis welchen Vorwissens das Kind seine Antwort formuliert. Er unterscheidet folgende fünf Konstellationen: – Wenn das Kind nur irgendetwas sagt, dann spricht er von „Mir-ist-es-Wurstismus“. – Versucht es ohne weiteres Nachdenken, etwas zu erfinden, spricht er von „Fabulieren“. – Ist die Antwort gewissermaßen nur die Folge der gestellten Frage, nennt er dies „suggerierte Überzeugungen“. – Führt das Nachdenken des Kindes zu einer eigenen Lösung, heißt dies „ausgelöste Überzeugung“. – Wird durch die Frage bereits vorhandenes Wissen abgerufen, spricht er von „spontaner Überzeugung“.3 Aus heutiger Sicht wird man im einen oder anderen Fall die Wertungen einzelner Antworten durch Piaget kritisch sehen. Doch ist die hier entworfene Einteilung hilfreich. 3 Jean Piaget, Das Weltbild des Kindes, Stuttgart 2015, 31ff.

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III. Kindertheologie zwischen Entwicklungspsychologie und Theologie

Bei Piaget, wie auch bei den anderen hier zu nennenden Autoren geht es letztlich darum, mittels zusätzlicher Hypothesen zu rekonstruieren, warum das Kind so und so geantwortet hat. Am mutigsten sind hierbei tiefenpsychologisch arbeitende Forscherinnen wie Ana Maria Rizzuto. Sie rekonstruiert auf der Basis der Winnicott’schen Annahmen, dass das Kind bestimmte Phantasiegestalten schafft, mit deren Hilfe es die Alltagskrisen wie die Abwesenheit von Bezugspersonen bewältigen kann. „Gott“ taucht deshalb nach Rizzuto im Kontext anderer Gestalten auf, darunter die imaginary companions (unsichtbare Begleiter).4 Alle diese Figurationen können natürlich, wie dies das einleitende Beispiel zeigt, spekulativ gestaltet werden. Letztlich ist es aber die Reaktion von Erwachsenen, die die Kinder dann erkennen lässt, wo ihre Spekulationen anschlussfähig sind an die Wirklichkeitskonstruktionen der Erwachsenen und wo diese nur als „Kinderkram“ belächelt werden. Demnach wäre die Herausbildung einer Gottesrepräsentanz nach Rizzuto zwar natürlich, ob diese ausgestaltet wird oder als belächeltes Relikt der Kindheit verschwindet, liegt dann aber an den jeweiligen Umweltbedingungen. Nun arbeitet Tiefenpsychologie auf der Basis der Rekonstruktion von unbewussten Prozessen. Natürlich gründet diese auch auf der Basis von Beobachtungen, ist aber weniger strikt empirisch ausgerichtet als die Kognitionswissenschaft. Dort fragt man neuerdings, wie es denn kommt, dass Kinder beim Heranwachsen zwar immer genauere Differenzziehungen zwischen Realität und Phantasie vornehmen können, gleichwohl aber gerade im religiösen Bereich solche imaginären Phänomene erhalten bleiben. Dies ändert dann auch die Fragestellung in dem Sinne, dass man nach dem evolutionären Vorteil einer religiösen Bildung wie der des Gottesglaubens sucht.5 Konkret führt dies zu einer Neudiskussion von Piaget’schen Konzepten wie etwa „Artifizialismus“. So konnte gezeigt werden, dass Kinder von einem planenden Handeln ausgehen, das hinter den Naturphänomenen steckt. Es geht dabei aber gerade nicht um eine Übertragung der Vorstellung menschlicher Handlungsträger. Vielmehr unterscheiden Kinder ausdrücklich menschliche von nicht-menschlichen Handlungsträgern (agents). Dies führt dann etwa Deborah Kelemen zu dem Fazit:6 „With some reliability, the findings suggest that beginning some time around the kindergarten period, children adopt a design-based teleological view of objects with increasing consistency. In the light of this work […] the proposal that children might be intuitive theists becomes increasingly viable.“ 4 Ana Maria Rizzuto, The Birth of The Living God, Chicago 1979, 190ff. 5 Steward Guthrie, Faces in the Clouds, Oxford 1993. 6 Deborah Kelemen, Are Children „Intuitive Theists“?, in: Psychological Science 15, 2004, 295–301, 299.

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Woher haben die Kinder ihre Theologie?

Tiefenpsychologische und kognitivistische Ansätze konvergieren also in der Annahme, dass Kinder eine große Disposition aufweisen, ihre Welt mit Hilfe eines nichtmenschlichen Handlungssubjekts zu beschreiben, das mehr oder weniger die Züge dessen trägt, was landläufig mit Gott in Verbindung gebracht wird. Auf der Basis dieser Grundannahmen muss nun allerdings jedes einzelne Kind sehen, wie es damit konkrete ihm begegnende Fragen lösen kann. Sind dabei Kinder, wie etwa Paul Harris betont7, kleine Metaphysiker, dann werden sie versuchen, mit ihren denkerischen Mitteln Sinn in die zunächst verwirrenden neuen Erfahrungen zu bringen. Das Gespräch der drei Kinder lässt sich als ein Versuch sehen, gemeinsam das Phänomen „Gott“ beschreibend zu begreifen. Dabei greifen sie auf Beobachtungen in ihrer Alltagswelt zurück, gewiss aber auch auf Informationen, die sie von Erwachsenen bekommen haben. Damit kommen wir zu der spannenden Frage, in welcher Weise denn die Umwelt Einfluss nimmt auf die Inhalte dieser kindlichen Kommunikation. Przemysław Jabłoński, Jan van der Lans und Chris Hermans haben in Polen und den Niederlanden untersucht, wie Kinder biblische Geschichten verstehen. Dabei konnten sie feststellen, dass der jeweilige kulturelle Rahmen sehr entscheidend für die Antworten der Kinder war: „For instance, when asked ‚What do you think about when you hear ?‘ a Polish child (boy, aged 11) said: ‚I think about Our Father who is in Heaven and who speaks like we do. But, you do not hear Him directly He speaks through the priests in the church and when the Pope speaks. God speaks also through the teacher when she gives religious classes at school.‘ At the same question a Dutch child (boy aged 11) said: ‚Actually is not God’s voice you hear, but it is that something becomes clear for you, that you realise something, that you learn something from what you see and from what has happened. I do not think you hear this voice but you rather feel it more or less. Or that you think or dream about something.‘“8

Der polnische Junge kann die Aussage, dass Gott zu uns spricht, im Modus einer katholischen Interpretationskultur formulieren. Die Mittlerfunktion der kirchlichen Amtsträger ist hier anerkannt und kann deshalb auch zur Deutung einer theologischen Aussage benutzt werden. In Piagets Diktion begegnen wir hier einer „spontanen Überzeugung“. Der niederländische Junge kann auf eine anerkannte 7 Paul L. Harris, On Not Falling Down to Earth: Children's Metaphysical Questions, in: Karl S. Rosengren / Carl N. Johmdon / Paul L. Harris (Hg.), Imagining the Impossible. Metaphysical, Scientivic, and Religious Thinking in Children, Cambridge/UK 2000, 157.178. 8 Przemysław Jabłoński / Jan van der Lans / Chris Hermans, Children’s interpretation of biblical narratives, in: N.G. Holm u.a., Archiv für Religionspsychologie, Bd. 22, Göttingen 1997, 28–47, 41.

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III. Kindertheologie zwischen Entwicklungspsychologie und Theologie

Interpretationsgemeinschaft nicht mehr zurückgreifen. Er ist gezwungen, eine eigene, individuelle Deutung zu generieren. Somit wäre seine Aussage nach Piaget eine „ausgelöste Überzeugung“. Vielleicht ist aber auch dieser Vorgang im niederländischen Kontext bereits wieder konventionell, so dass dann auch hier die erste Piaget’sche Kategorie zuträfe. Wir sehen an diesen Beispielen, dass man nicht einfach von einer „Umwelt“ des heranwachsenden Kindes sprechen kann, sondern dass sich eine solche ganz unterschiedlich darstellen kann und so dem eigenen Nachdenken eine je unterschiedliche Bedeutung zukommt.

Unterschiedliche Formen der „Begegnung“ mit Gott Wir können die bisherigen Überlegungen nochmals neu akzentuieren, wenn wir einen „theologischen“ Beobachterstandpunkt einnehmen. Mit der geänderten Fragestellung kommen dann neue Dimensionen ins Spiel. Wie und wodurch können wir Gott erkennen? Kann uns das vernünftige Spekulieren weiterhelfen, die mystische Erfahrung in der eigenen Seele? Oder bedarf es des Wortes, wie es sich in der Heiligen Schrift niedergeschlagen hat? Wir können die Perspektive nochmals verändern und fragen: Wie und wo offenbart sich uns Gott? Auch hier sind mehrere Antworten möglich. Die Welt als Schöpfung lässt sich gewiss als Manifestation Gottes lesen. Doch bedarf es für dieses Lesen nicht des Wissens um den Gott der Bibel? Ich kann an dieser Stelle diese kontrovers diskutierten Positionen nicht weiter ausführen, zumal diese z.T. quer stehen zu empirischen Beobachtungen, wie sie oben referiert wurden. Immerhin konvergiert eine eher vorsichtige Argumentation im Hinblick auf die Möglichkeit, „Glauben“ zu lehren9, mit Sichtweisen der konstruktivistischen Pädagogik10 und der Systemtheorie.11 Beide Ansätze gehen davon aus, dass es nur möglich ist, durch entsprechende Lernumwelten das Bewusstsein (der Kinder) zu „irritieren“, so dass dann im „psychischen System“ autopoietisch etwas Neues wie z.B. Glauben entstehen kann. Diesen autopoietischen Prozess kann ich als Glaubender dann Gott bzw. dem Heiligen Geist zuschreiben. Gleichwohl wird man auf einer pragmatischen Ebene davon ausgehen können, dass Erwachsene und Kinder, 9 Ingrid Schoberth, Glauben-Lernen. Grundlegung einer katechetischen Theologie, Stuttgart 1998. 10 Hans Mendl (Hg.), Konstruktivistische Religionspädagogik. Ein Arbeitsbuch, Münster 2005; Gerhard Büttner (Hg.), Lernwege im Religionsunterricht. Konstruktivistische Perspektiven, Stuttgart 2006. 11 Dieter Lenzen, Lösen die Begriffe Selbstorganisation, Autopoiesis und Emergenz den Bildungsbegriff ab? Niklas Luhmann zum 70. Geburtstag, in: Zeitschrift für Pädagogik 43 (1997), 949–968.

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wenn sie miteinander von Gott sprechen, mit ihrem Kommunikationsangebot bei ihrem Gegenüber Gehör finden möchten. Dabei spielt es dann keine Rolle, ob der Gesprächsimpuls eher religionsphilosophisch oder eher theologisch gemeint ist. Nach dieser Zwischenreflexion scheint es mir sinnvoll zu sein, drei Aspekte der Begegnung des Kindes mit Gott nochmals genauer zu beleuchten: 1. die numinos getönte Begegnung eines Kindes mit dem Göttlichen, 2. die Belehrung des Kindes als Einführung in eine religiöse Sprache und 3. das Ringen um Verständnis im gemeinsamen Diskurs. Ich werde zu jedem der drei Punkte einen biblischen Bezugspunkt nennen und einen aus der kindlichen Lebenswelt.

Gott spricht zu Kindern 1. Sam 3,3–9 erzählt uns die Geschichte von dem Knaben Samuel, der beim Priester Eli Dienst tut: Und Samuel hatte sich gelegt im Tempel des HERRN, wo die Lade Gottes war. Und der HERR rief Samuel. Er aber antwortete: Siehe, hier bin ich!, und lief zu Eli und sprach: Siehe, hier bin ich! Du hast mich gerufen. Er aber sprach: Ich habe nicht gerufen; geh wieder hin und lege dich schlafen. Und er ging hin und legte sich schlafen. Da merkte Eli, dass der HERR den Knaben rief. Und Eli sprach zu Samuel: Geh wieder hin und lege dich schlafen; und wenn du gerufen wirst, so sprich: Rede, HERR, denn dein Knecht hört. Samuel ging hin und legte sich an seinen Ort.

Die Geschichte macht uns auf die zu wenig beachtete Tatsache aufmerksam, dass Kinder explizit religiöse Erfahrungen machen. Die biblische Perikope zeigt uns, dass es schon fast zur Sache dazu gehört, dass auch erfahrene Experten, wie in diesem Falle der Priester Eli, geneigt sind, das zu übersehen. Dies ist umso fataler, als hier auch deutlich wird, dass Kinder mit einem solchen Erlebnis überfordert sind, wenn sie keine Gelegenheit haben, mit einem vertrauten Erwachsenen darüber zu reden. Wie häufig solche numinosen Erfahrungen sind, zeigen nicht zuletzt die Studien von Edward Robinson12 und Rebecca Nye.13 Deren dramatischen Charakter zeigt der Bericht von Inger Hermann14: 12 Edward Robinson, The Original Vision, Oxford 1977. 13 David Hay / Rebecca Nye, The Spirit of the Child, London 1998, 92ff. 14 Inger Hermann, „Halt’s Maul, jetzt kommt der Segen …“ Kinder auf der Schattenseite des Lebens fragen nach Gott, Stuttgart 1999, 128.

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„‚Nun, Irene, was ist denn passiert?‘ ‚Er hat mich umgeben.‘ Es klingt ganz einfach, froh und still zugleich. ‚Umgeben? Wer?‘ ‚Nun, ER. ›Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.‹‘ ‚Du meinst unseren Psalm. Aber ich verstehe noch immer nicht …‘ ‚Der Gott hat mich umgeben. – Das war so. Die Mama und der neue Papa haben sich geschlagen. Und Sachen rumgeschmissen. Ich hate Angst und bin in mein Bett, unter die Decke. Ich hab sie immer noch gehört. Die Mama hat so geschrien. Ich hab gedacht, er macht sie tot. Aber ich konnte doch nichts machen …‘ Sie bricht ab, starrt vor sich hin. ‚Und dann?‘ ‚Dann waren sie irgendwann still. Aber ich konnte nicht einschlafen. Ich habe auch gefroren, dabei hatte ich meine Kleider noch an. Aber mir war kalt. Und Angst. Dann bin ich trotzdem eingeschlafen. Aber nur kurz. Und dann …‘, sie lächelt, ‚dann, auf einmal, dann hat ER mich umgeben.‘ ‚Du hast Gott gespürt?‘ Sie nickt. ‚Es war ganz arg hell und ich brauchte keine Angst haben. Vielleicht hat ER es gesagt – ich weiß nicht genau. Aber die Angst war einfach weg. Und dann hat die Helle aufgehört. Aber immer noch warm. Und ich bin wieder eingeschlafen. Gott hat mich umgeben. Glaubst du das auch?‘ Sie ist ganz gewiss, aber schaut mich fragend an. ‚Ja, Irene, das glaube ich auch.‘ Wir sind beide still.“

Zweifellos berichtet das Mädchen von einer intensiven religiösen Erfahrung, die der des biblischen Samuel um nichts nachsteht. Dabei wird deutlich, dass sie diesen starken Eindruck deshalb benennen und damit auch begreifen kann, weil ihm aus dem Religionsunterricht Verse aus dem 139 Psalm bekannt sind, die gewissermaßen den interpretatorischen Rahmen dieses Ereignisses bilden. Auch in den von Rebecca Nye15 referierten Beispielen gewinnt man den Eindruck, dass es den interviewten Grundschulkindern leichter fällt ihre spirituelle Erfahrung zu artikulieren, wenn ihnen wenigstens rudimentäre Reste religiöser (i.d. Regel christlicher) Begrifflichkeit zur Verfügung stehen. Dies wendet unseren Blick hin zum Modus der Vermittlung.

15 David Hay / Rebecca Nye, The Spirit of the Child, London 1998, 92ff.

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Gelernte Tradition Die hebräische Bibel berichtet uns unmittelbar im Anschluss an die Verkündigung der Gebote auf dem Sinai den Hinweis auf deren Weitergabe in der Familie (Dtn 6,20ff): Wenn dich nun dein Sohn morgen fragen wird: Was sind das für Vermahnungen, Gebote und Rechte, die euch der HERR, unser Gott, geboten hat?, so sollst du deinem Sohn sagen: Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten, und der HERR führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand; und der HERR tat große und furchtbare Zeichen und Wunder an Ägypten und am Pharao und an seinem ganzen Hause vor unsern Augen und führte uns von dort weg, um uns hineinzubringen und uns das Land zu geben, wie er unsern Vätern geschworen hatte. Und der HERR hat uns geboten, nach all diesen Rechten zu tun, dass wir den HERRN, unsern Gott, fürchten, auf dass es uns wohlgehe allezeit und er uns am Leben erhalte, so wie es heute ist.

Der Text zeigt zweierlei. Er schildert uns exemplarisch eine Szene der Belehrung. Dabei ist das zu lernende Credo offenbar ein feststehender Text, der auswendig zu lernen ist. Andererseits beginnt die Passage mit dem Hinweis „Wenn Dein Kind dich fragt“. Dies mag ein Stilmittel sein, um eine katechismusartige Belehrungssituation zu charakterisieren. Trotzdem suggeriert der Einleitungssatz, dass die Bereitschaft zu einem solchen Dialog auf Seiten des Kindes vorhanden sein muss. Die christliche Tradition hat von den jüdischen Mustern der Belehrung gelernt. Die besonders seit der Reformationszeit entwickelten Katechismen sind dafür ein guter Beleg. Nun ist dieses Auswendiglernen in den letzten 100 Jahren zunehmend in Verruf geraten. Thomas Mann beginnt seinen berühmten Roman „Die Buddenbrooks“ mit einer Szene, in der die kleine Toni Passagen des Luther’schen Katechismus herunterleiert und der Konsul Buddenbrook sich darüber lustig macht. Das Katechismuswissen wird als etwas in Diktion und Inhalt nicht Zeitgemäßes angesehen, das zudem von den Kindern bloß auswendig gelernt würde und nicht wirklich verstanden. Doch eine solche kritische Sicht versteht wohl nicht die Mechanismen der Aneignung. Neuere Studien machen deutlich, dass Kinder fremden und schwierigen Texten, z.B. der Bibel, durchaus Sinn abgewinnnen können, wenngleich sich dieser nicht unbedingt mit den Deutungen der Erwachsenen in allen Punkten decken muss.16 Wie sehr ein auswendig zu lernender Text seinerseits 16 Klaus Wegenast / Philipp Wegenast, Biblische Geschichten dürfen auch „unrichtig“ verstanden werden, in: Desmond Bell u.a. (Hg.), Menschen suchen – Zugänge finden. In honour to Christine Reents, Wuppertal 1999, 246–263.

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wieder anregen kann zu eigenen Überlegungen, können wir einer Kindheitserinnerung von Bella Chagall entnehmen.17 Die jüdische Sederfeier lässt sich auch als eine katechetische Inszenierung lesen. Das jüngste Kind stellt die Fragen, die dann Anlass werden zu einer erinnernden Erzählung vom Exodus aus Ägypten. „‚Vom frühen Morgen an lerne ich die ›vier Fragen‹. Als Jüngste bin ich es, die sie dem Vater stellen muss.‘ ‚Ach, jedes Jahr machst du dieselben Fehler!‘ sagt mein Bruder gereizt. Es ärgert ihn, dass er mich die ‚vier Fragen‘ abhören muss. ‚Und warum sind es jedes Jahr dieselben Fragen?‘ In meinem Kopf schwirren nicht vier, sondern vierzig Fragen, die ich Vater stellen möchte. Aber versuch einmal, Vater auszufragen! ‚Du Dummerchen, warum fragst du in einem fort?‘ wirft man mir das ganze Jahr vor. Jetzt ist Vater nicht zu Hause, also kann ich fragen. ‚Papa, warum wirst du am Seder auf einmal ein König? Warum ist das am zweiten Feiertag schon vorbei? Warum sitzt am Seder nicht der Prophet Elias neben dir? Er ist doch sicher auch ein König, sein Becher ist ja der größte und schönste? Warum bleibt sein Becher unberührt und mitten auf dem Tisch? Warum kommt er nicht, wenn wir die sieben Plagen hersagen? Warum isst er nicht mit uns und warum gehen wir erst nach dem Abendessen ihm die Tür öffnen und ihn rufen? Warum verspricht er uns: ›Nächstes Jahr in Jerusalem‹?‘ Jedes Jahr dasselbe Versprechen, und er selbst versteckt sich im Dunkel der Nacht! Warum? Warum?‘ ‚Warum bleibst du denn immer wieder stecken, du Schlafmütze?‘ ruft mein Bruder. ‚Hört jetzt zu, hier ist dein Vers, wiederhole ihn!‘“

Wenn man Bella Chagalls Kindheitserinnerung trauen darf, dann bekommen wir hier Einsicht in die Art, wie ein Mädchen mit dem Text, den es auswendig lernen soll, umgeht. Es bildet einen Kranz von Assoziationen um die Worte und das Ereignis herum, denen seine Konzentration gilt. Aus der Sicht des Kindes erscheint hier eine neue, reizvolle und rätselhafte Welt. Und das Vortragen selbst, gerade weil es auch mit vorheriger Anstrengung verbunden ist, dürfte für die Kinder in der Regel ein eindrückliches positives Ereignis darstellen. Vom Reflektieren und Phantasieren des Kindes über den neuen religiösen Inhalt führt nun – dies deutet ja auch Bella Chagall an – der Weg zu neuen Fragen. Diese zeigen die Notwendigkeit des Gesprächs. 17 Bella Chagall, Brennende Lichter, Hamburg 1992, 191.

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Kindliches Theologisieren Obwohl es nicht immer sinnvoll und möglich ist, Jesus als Vorbild zu nehmen, so berichtet uns doch der Evangelist Lukas am Ende seiner Kindheitsgeschichte Jesu vom Besuch seiner Familie bei den Pessachfeierlichkeiten im Tempel von Jerusalem. Beim Heimweg nach Nazareth wird Jesu Fehlen von seiner Familie bemerkt. Schließlich findet ihn die Familie (Lk 2,46f): Und es begab sich nach drei Tagen, da fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten.

Die kleine Sequenz zeigt uns Jesus beim Zuhören, Fragen und Antworten. Er nimmt also eigenständig am theologischen Diskurs der Schriftgelehrten teil. Natürlich will der Text auch die Besonderheit Jesu herausstreichen. Gleichwohl scheint mir an keiner Stelle durchzuscheinen, dass ein solcher theologischer Diskurs im Kindesalter ein Privileg Jesu sein solle, zumal der erwachsene Jesus ja die Aussagen der Kinder (Mt 21,15f) ebenfalls positiv bewertet. Dabei wird heutiges Theologisieren von Kindern in aller Regel ebenfalls Ausdruck von „Schriftgelehrtheit“ zumindest in dem Sinne sein, dass deren theologisches Wissen in aller Regel Bibelwissen ist. Wie so etwas aussehen kann, möchte ich an zwei Beispielen zeigen. Das erste entstammt einer zweiten Klasse. Man spürt, dass diese Kinder geübt sind im Diskutieren. Gleichwohl ist der Gesprächsausschnitt eine Sternstunde: Gregor: Dass er immer noch bei uns ist, nur dass wir ihn nicht sehen. Und dass Jesus so ähnlich ist wie Gott. Dass er eigentlich fast überall ist. L: Ist Jesus nicht nur ein Mensch? Gregor: Halb Mensch, halb nicht, das weiß man nicht so sehr, denn Jesus ist eigentlich Gottes Sohn. Valentin: Gott ist kein Tier, kein Mensch, keine Pflanze. L: Wir reden über Jesus. Valentin: Das ist der Sohn Gottes und deshalb kann er eigentlich fast alles sein. L: Aber war Jesus nicht einfach ein Mensch? Valentin: Halb Mensch, Er ist so gelaufen und hat so gegessen wie ein Mensch, aber im Herz drinnen ist er kein Mensch. Sebastian: Irgendwie Gottes Sohn nicht richtig. Er ist ja eigentlich ein normaler Mensch, der was Besonderes kann. Philipp: Aber die meisten sagen halt zu ihm ‚Gottes Sohn‘. Man weiß es nicht so direkt. Er ist bestimmt Gottes Sohn, das weiß man schon. Aber der fällt nicht einfach so vom Himmel.“

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Die Passage zeigt, mit welcher Intensität und mit welchem Engagement diese Kinder um die rechte Christologie ringen. Der Theologe fühlt sich an die christologischen Streitigkeiten des vierten Jahrhunderts erinnert, wenn etwa Gregor von Nyssa über die Situation in der Stadt berichtet, wo die Händler über „Gezeugt“ und „Ungezeugt“ gestritten haben sollen und man im Bad der Frage nachging, ob der Sohn sein Sein aus dem Nichts habe. Doch es geht bei dieser Frage nicht nur um das legitime Streben der Zweitklässler nach intellektuellem Verstehen. Die oben schon zitierten „Problemkinder“ erfahren in ganz anderer Weise durch die Auseinandersetzung mit einem theologischen Text aus der Bibel eine hilfreiche Deutung ihrer Situation. Die Klassenkameradinnen haben Julia als Nutte beschimpft, weil sie offenbar mit mehreren Jungen sexuellen Kontakt hatte. In dieser Situation greift die Lehrerin nach einer ersten Beruhigung zur Bibel:18 „Im Regal stehen die dicken roten Bibeln. Ich teile sie aus. ‚Was, jetzt in der Bibel lesen?‘ Sie spüren genau wie ich, dass das gar nicht passen will. ‚Das haben wir doch noch nie getan!‘ ‚Weiß ich. Darum tun wir’s jetzt.‘ Ich muss suchen, bis ich sie finde, diese Geschichte, die unserer Geschichte so ähnlich ist – bei Johannes, im 8. Kapitel. Die Gesetzestreuen schleppen sie herein, die Sünderin, mit einem fremden Mann hat sie geschlafen, dafür soll sie gesteinigt werden. Warum verurteilt dieser Jesus sie nicht? Und was sagt er? Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. ‚Heißt das, es ist ihm egal, wie man’s treibt? Ehebruch und so?‘ ‚Nein. Es heißt, dass wir mit Steinen und mit Fluchen niemanden davon abbringen, Liebe zu suchen.‘ ‚Und warum gehen dann alle weg?‘ ‚Was denkst du?‘ ‚Vielleicht trauen sie sich nicht mehr, weil sie wissen, dass sie heimlich auch schon Scheiß gebaut haben.‘ Sabine denkt angestrengt nach. ‚Scheiß bauen, ich meine Sünde und so, hat denn das mit Liebe zu tun?‘ ‚Oft ja. Mit Liebe, die wir suchen, weil wir sie nicht genug haben.‘ Ein bisschen erschöpft sind wir jetzt alle. Ich lasse sie etwas früher nach Hause. Im Hinausgehen höre ich Sabine fragen: ‚Julia, wir gehen heute ins Inselbad. Willst du mitkommen?‘“ 18 Inger Hermann, „Halt’s Maul, jetzt kommt der Segen …“ (wie Anm. 13), 47.

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Woher haben die Kinder ihre Theologie?

Die beiden sehr unterschiedlichen Gespräche zu biblischen Themen zeigen, wie sehr natürlich der Kontext dafür bestimmend ist, ob ein Gespräch mehr intellektuell und spekulativ ist oder mehr existenziell. Beides sind aber legitime Modi der Auseinandersetzung mit den Vorgaben der religiösen Tradition.

Die Kommunikation als Ort der Generierung theologischen Wissens Ich habe im letzten Abschnitt idealtypisch drei Quellen theologischen Wissens dargestellt: die Intuition, die Instruktion und die Kommunikation. Wir können davon ausgehen, dass es von der condition humaine her eine Disposition gibt, bestimmte Impulse äußerer oder innerer Natur „religiös“ zu deuten. Soll ein solcher Eindruck aber nicht vage bleiben, bedarf er der Versprachlichung. Bereits mit dem Erlernen der Muttersprache sind dabei bereits Konnotationen mit den einzelnen Begriffen verbunden, die dem Kind dazu verhelfen, bestimmte Phänomene benennend einzuordnen. Damit ist automatisch ein kultureller Kontext hergestellt und es sind Anfänge einer entsprechenden Semantik gegeben. Diese kann nun durch weitere Instruktionen und Informationen gepflegt werden, so dass dann – der Diktion von Gabriel Moran19 folgend – Religion im Sinne einer „second language“ gelernt werden kann. Auf der Basis dieser „religious literacy“ können dann Kinder komplexere eigene Theorien entwickeln, wie das Beispiel der Zweitklässler zur Christologie zeigt. Dabei verlaufen die individuellen Bildungsprozesse nicht linear, sondern manchmal sehr sprunghaft. Für das Kindergartenalter ist es nach James Fowler geradezu typisch, dass die Argumentationsketten sehr kurz und oft assoziativ miteinander verkettet sind.20 Ich möchte diese Beobachtungen noch etwas präzisieren auf der Basis einer zusammen mit Katharina Kammeyer unternommenen Studie. Wir wollten wissen, wie Kindergartenkinder das Thema Kontingenz aufnehmen und ob sie es mit der Gottesfrage verbinden. Wir zeigten den Kindern drei Bilder: Im ersten Bild freuen sich zwei Kinder über ihre Meerschweinchen. Im zweiten Bild sind die Tierchen offensichtlich krank und die beiden Kinder beten. Im dritten Bild ist eines der Kinder froh, weil sein Meerschweinchen gesund geworden ist, und das andere trauert um sein totes Tier. An dem Gruppengespräch mit Frau Kammeyer nahmen 5 Kinder zwischen 5 und 6 Jahren teil. Die beiden Mädchen äußerten sich so gut wie nicht, so dass wir uns auf die Argumentation 19 Gabriel Moran, Religious Education as a Second Language, Birmingham/AL 1998. 20 James Fowler, Stages of Faith. The Development and the Quest of Meaning, San Francisco 1981.

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der drei Jungen konzentrieren können. Ich werde mich in meiner Analyse auf die Argumentation von Michael und Aljoscha konzentrieren, also den Gesamtverlauf hier nicht referieren und andere Sprecher nur zu Wort kommen lassen, wenn dies für den Duktus notwendig ist. Betrachten wir zuerst Michael. Er verfügt offensichtlich über einen religiösen Hintergrund. So moniert er den Gebetsgestus der beiden Kinder und zeigt, wie es nach seiner Meinung „richtig“ ist. Auf die Frage der Interviewerin meint er: MICHAEL: Er hört es nicht, aber er sieht es. Der liebe Gott sieht alles. […] Er macht das auch. Aber nur der liebe Gott weiß, was einen im Leben noch erwartet. Das weiß nur der liebe Gott. INTERVIEWERIN: Sicher. Menschen können nicht alles wissen. MICHAEL: Oder vielleicht Jesus oder der Weihnachtsmann oder Osterhase. […] MICHAEL: Aber vielleicht wissen es ja auch die Götter. Oder die Mumien. Nämlich ich fahr nach Ägypten. I: Du warst mal in Ägypten? MICHAEL: Ich fahr jetzt da hin. Zwei Wochen bleib ich da. I: Ach so, ja. Aber hat das was mit dem Beten zu tun? Mumien? […]. MICHAEL: Die Mumien waren doch mal früher Götter.

Michael bietet einerseits sprachlich sehr elaborierte Aussagen zu Gott, bringt dann aber eine Assoziationskette von Jesus bis hin zum Osterhasen. Angesichts einer bevorstehenden Ägyptenfahrt hat er wohl einiges über die dortige antike Kultur erfahren und verknüpft das nun mit den ursprünglichen Aussagen über Gott. Wenn man so will, dann könnte man sagen, dass Michael in das für einen Fünfjährigen reiche Repertoire an Wissen über Figurationen von „Transzendenz“ greift, um für sich und die anderen das „Funktionieren“ von Gebeten verständlich zu machen. Bei der Zuspitzung der Gebetsfrage auf die Meerschweinchen beginnt Michael wieder mit einer vergleichsweise „orthodoxen“ Antwort, zeigt dann seine Kompetenz in der Frage der Auferstehung Jesu, um dann seine Aussagen doch wieder durch assoziative Weiterüberlegungen ein Stück weit zu relativieren. MICHAEL: Ich meine, der liebe Gott, der macht das so, der macht die Krankheit weg. Darf ich mal was sagen: Bei meinem Geburtstag, da haben wir mal Luftballons starten lassen mit Telefonnummer und der Adresse. Und wenn dann jemand einen auffängt, dann kann man uns das schreiben. Aber luftgefüllte Luftballons, das geht nicht. Wir haben die mit Gas gefüllt.

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[… Ein Kind meint, Gott könne nichts hören, Gott sei ja gestorben.] MICHAEL: Der liebe Gott ist gestorben. I: Ja, Jesus ist gestorben am Kreuz. KEVIN: Ja, aber Jesus ist ja auch Gott. I: Genau. MICHAEL: Nee, das stimmt nicht. I: Und später ist er wieder lebendig geworden, der ist ja nicht tot geblieben. Das Wunder von Ostern. MICHAEL: Ja, er ist von den Toten auferstanden. Aber das hat der liebe Gott gemacht. Der liebe Gott ist nämlich nicht Jesus. […] MICHAEL: Gott ist ja unsichtbar. [Im weiteren Verlauf der Geschichte geht es dann um das unterschiedliche Geschick der beiden Meerschweinchen.] MICHAEL: Ich glaube, das Meerschweinchen steht wieder von den Toten auf. […] MICHAEL: Früher in Ägypten da glaubten die Leute, es gibt nach dem Tod noch ein Leben. Darum haben die auf die Wand immer Speisen draufgemeißelt.

Wieder fällt das präzise Wissen Michaels auf. Er unterscheidet Jesus und Gott, er weiß um die Auferstehung. Interessanterweise überträgt er dann wieder sein Wissen, einerseits im Hinblick auf die Auferstehungshoffnung für das Meerschweinchen, andererseits, indem er gedankliche Anschlüsse zu den Nachtoderwartungen im alten Ägypten herstellt. Interessant ist Michaels Argumentation, als es um die eigentliche Kontingenzthematik geht. Einerseits meint er, der Tod des einen und die Gesundung des anderen Meerschweinchens sei Zufall. Als die Interviewerin fragt, ob das doch etwas mit Gott zu tun haben könnte, kommt er zu interessanten Überlegungen. MICHAEL: Aber wieso musste dann das andere sterben? […] KEVIN: Das Beten ist nicht gegangen. […] Ja, ich glaub’, er hat’s gezaubert und konnte von oben so sehen und hat auf das Mädchen gezaubert, nicht auf den Jungen. […] MICHAEL: Da war (nämlich) ’ne Wolke dazwischen. […]. MICHAEL: Ich weiß was über Feuer. Man darf nicht einfach so eine Tür aufmachen. (Man muss da erstens mal überlegen.) Wenn man die einfach so aufmacht, dann kommt eine riesige Explosion. Nämlich ein Feuer braucht sehr viel Sauerstoff.

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Michael kommt, was den Misserfolg des Gebets angeht, plötzlich zu einer „physikalischen“ Lösung: eine Wolke hat die Kommunikation verhindert. Dies erklärt am ehesten, warum er nach einer Weile mit der – sachlich deplatzierten – Idee mit dem Feuer kommt. Wenn wir die Beobachtungen zusammenfassen, dann fällt uns auf, dass Michael wohl von zuhause her ein präzises Wissen über christliche Religion, aber auch über das alte Ägypten und Grundlagen der Physik hat. Die Hypothese, dass sich Michaels religiöses Wissen nun auch in einer „orthodoxen“ Argumentation niederschlagen müsste, stimmt nun aber offensichtlich nicht. Da er auch in anderen Wissensbereichen kompetent ist, versucht er immer wieder, eigenständige Deutungen zu entwickeln, die z.T. in erheblicher Spannung zu den theologisch „korrekten“ Aussagen stehen. Aljoscha ist in mancher Hinsicht sein Gegenteil. Erst trägt er kompetent seine Vermutungen über den Tod der Meerschweinchen vor, dann erklärt er, warum er vom Beten nichts hält. ALJOSCHA: Haben verschimmelte Sachen gegessen. I: Hm, ja, kann passieren. ALJOSCHA: Oder vom Durchfall. I: Hm. ALJOSCHA: Beim Meerschweinchen ist es schlimmer als beim Menschen, viel schlimmer. […] I: Ja, und was kann man sagen, wenn die so beten. Glaubt ihr, dass Gott das dann hört? ALJOSCHA: Nein. MICHAEL: Er sieht es. ALJOSCHA: Nein, er hört es nicht. […] ALJOSCHA: Der hört das nicht, weil er zu weit weg ist. Das kann ich Ihnen mal beim Flugzeug zeigen. Wenn das Flugzeug so startet, dann wird es ja immer kleiner, weil es auch weiter weg ist. Und die werden ganz klein, und sie sind eigentlich riesig groß. I: Man sieht sie bloß nicht mehr genau, weil sie schon so weit weg sind. Und meinst du, Gott ist auch so weit weg? Oder warum vergleichst du das mit dem Flugzeug? ALJOSCHA: Dass der viel zu weit weg ist, sonst müssten wir ja schreien, damit der das hört oder ein Flugzeug mit Fenstern machen, die man öffnen kann. I: Ja und meinst du, das Ergebnis ist dann: Gott kann das einfach nicht hören, oder gibt es noch einen anderen Weg, wie das gehen könnte mit dem Beten? Ich meine, viele Menschen machen das ja. Die sagen ja: „Lieber Gott, die Meerschweinchen

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sind krank geworden, bitte hilf uns doch und mach was Gutes. Amen.“ Warum machen die Menschen das denn? ALJOSCHA: Weil die denken, dass das dann geht. I: Meinst du, Gott kriegt das überhaupt nicht mit? ALJOSCHA schüttelt den Kopf. I: Man könnte ja auch sagen: Gott fühlt das irgendwie. ALJOSCHA: Wie kann der das denn fühlen?

Wir sehen hier, wie stringent Aljoscha seine skeptische Position durchhält und sich von den Fragen der Interviewerin kein bisschen in seiner Einstellung irritieren lässt. Im Gespräch mit Michael äußert er dann, Gott sei ja gestorben, wie er denn dann hören wolle. Als er dann darauf hingewiesen wird, er verwechsle Gott und Jesus, beharrt er aber auf seiner Aussage. Der Gesprächsgang zum Kontingenzproblem beginnt wieder mit Aljoschas Aussagen zu Realien, findet dann aber ein interessantes Ende. I: Ja. Ich wollte noch mal fragen, was jetzt das Mädchen denkt auf dem Bild. Der Tierarzt hat doch eigentlich gesagt: Ja, also, das ist ’ne sehr schwere Krankheit; stirbt wahrscheinlich das Meerschweinchen. Und trotzdem ist es wieder gesund geworden. […]. ALJOSCHA: Zufall. […] ALJOSCHA: Müssen die noch ein anderes kaufen. Weil ich hab’ gehört, Meerschweinchen müssen mit anderen zusammen sein. [… Kevin bringt als Verursacher des Bösen den Teufel ins Spiel.] ALJOSCHA: Oder es gibt zwei Gotts, einer ist böse und einer ist nicht böse und einer hat gezaubert, dass das andere [Meerschweinchen] noch lebt, und der andere hat gezaubert, dass das andere stirbt.

Ausgerechnet Aljoscha, der sich während des gesamten Gesprächs geweigert hat, religiöse Deutungen gelten zu lassen, bringt dann zum Schluss des Gesprächs ein Interpretament, das von erheblichem theologisch-religionsphilosophischem Nachdenken zeugt. Die durch die Geschichte mit den Meerschweinchen angesprochene Theodizeethematik wird von ihm als solche erkannt. Er liefert die Deutung zweier antagonistischer Gottesgestalten und damit die dualistische Version des Problems. Die monistische Alternative, beide Kräfte in den einen Gott zu verlegen, ist gedanklich eher noch anspruchsvoller und von einem Kind seines Alters kaum zu erwarten. Die von Aljoscha gebrachte Überlegung ist für ein Kindergartenkind eine erstaunliche Leistung. 65

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Für unsere Fragestellung führt die Beobachtung der beiden Kinder zu der begründeten Annahme, dass das Vorwissen der Kinder natürlich von großer Bedeutung ist, wenn ihnen neue Fragestellungen (in unserem Fall religiöser Art) begegnen. Doch zeigen die Antworten der Kinder, dass dies keine bloße Weiterführung des Bekannten impliziert. Die neue Herausforderung bringt sie vielmehr dazu, auf der Basis ihres Wissens neue Gedanken auszuprobieren. Das kann, wie in unserem Beispiel, dazu führen, dass sich die Argumentation am Ende Positionen nähert, die in einem mehr oder weniger großen Spannungsverhältnis zur Ausgangsposition stehen. Im theologischen Diskurs entsteht ganz offensichtlich Neues.

Fazit Woher haben die Kinder ihre Theologie? Man muss zur Beantwortung der Frage offensichtlich mehrere Faktoren berücksichtigen. Dass Kinder ihre Welt religiös deuten können und sie dazu tendieren, dies zu tun, liegt offensichtlich in der menschlichen Grundausstattung. Allerdings bedarf es auch hier der Ernährung und Förderung. Doch ist die Erwartung oder Befürchtung, alles, was an Kinder herangetragen wird, schlüge sich eins zu eins in deren Wissen und Vorstellungen nieder, falsch. Was die erwachsene Umwelt den Kindern liefert, sind Bauklötze, mit denen sie spielen können und dies auch gerne tun. Gerade die letzten beiden Beispiele haben gezeigt, wie kreativ Kinder mit ihrem Vorwissen und mit den neuen ihnen begegnenden Impulsen umgehen. So gesehen kann man die Frage wohl so beantworten: Die Kinder haben ihre Theologie von den Erwachsenen und machen daraus ihre eigene.

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Kindertheologie – beobachtet. Dekonstruktive Ansichten

Kindertheologie – beobachtet. Dekonstruktive Ansichten

Zwei „klassische“ Beispiele Jean Piaget zitiert in seiner Untersuchung zum Weltbild des Kindes folgenden Hinweis eines Kollegen:1 „,Papa, gibt es Gott?‘ fragt ein neunjähriges Mädchen. Der Vater antwortet, dass er nicht ganz sicher sei, worauf das Mädchen entgegnet: ‚Es muss ihn doch geben, denn er hat einen Namen.‘“

Piaget ordnet diese Aussage ein in ein entwicklungspsychologisches Konzept. In diesem stellt er heraus, dass die Kinder eine spezifische Weise zu denken auszeichnet. Diese benennt er mit Begrifflichkeiten, die er Nachbarwissenschaften entnimmt, so die Vorstellung vom Animismus der Ethnologie2, den für unseren Fall zugeschriebenen Realismus der Namen der Philosophie(geschichte).3 Piaget erreicht mit dieser Begriffszuordnung dreierlei: er bestimmt die Logik kindlichen Denkens und Sprechens als nachvollziehbar, wenngleich unterschieden von der der Erwachsenen; er benennt diese Logik mit Begrifflichkeiten, die aus früheren oder anderen kulturellen Zusammenhängen entnommen sind; er stellt diese kindlichen Logiken zunächst einmal dar als anders, aber insoweit defizitär, als sie dem Standard naturwissenschaftlich geprägten erwachsenen Denkens nicht entsprechen. Diese Beobachtungsperspektive ergibt sich für einen Entwicklungspsychologen gleichsam naturwüchsig, weil er sich immer im Modus des Vergleichs 1 Jean Piaget, Das Weltbild des Kindes, München 41994, 72. 2 Ebd., 157. 3 Ebd., 43: „Der Realismus […] besteht darin, dass man nicht weiß, dass es ein Ich gibt, und deshalb die eigene Betrachtungsweise für unmittelbar objektiv und absolut hält.“ In diesem Sinne wird davon ausgegangen, dass die Wirklichkeit in einem ontologischen Sinne genau so ist, wie sie wahrgenommen wird. Das bedeutet anders herum, dass sie nicht durch Wahrnehmung und Sinndeutung eines Subjekts verändert oder gar konstruiert vorgestellt wird. Es gibt eine Eins zu eins- Repräsentation der Wirklichkeit im Wahrnehmungssubjekt. Von einer realistischen Weltauffassung ausgehend können dann Begriffe und Zusammenhänge der Sprache als Abbildung bzw. Wesensaussage von Dingen der Wirklichkeit angesehen werden. Weil der Tisch „tischig“ ist, heißt er „Tisch“. Die Affinität zu bestimmten ontologischen Aspekten des mittelalterlichen „Realismus“ in dessen Auseinandersetzung mit dem „Nominalismus“ scheint mir einleuchtend.

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verschiedener ‚Aggregatzustände‘ bewegt: jüngere Kinder mit älteren, Kinder mit Erwachsenen.4 Der bekannte Kinderphilosoph Gareth B. Matthews berichtet eine Episode mit seiner vierjährigen Tochter Sarah beim Einpudern der Katze mit Flohpuder:5 „Von der obersten Treppenstufe beobachtete Sarah das einfache Ritual mit großem Interesse. ‚Daddy‘ fragte sie nach einer Weile, ‚wie hat Fluffy die Flöhe bekommen?‘ ‚Nun’, antwortete ich arglos, ‚sie wird wohl mit einer anderen Katze gespielt haben, von der sie dann auf Fluffy gehüpft sind‘. Sarah überlegte: ‚Und wie hat diese Katze die Flöhe gekriegt?’ ‚Ach so, wahrscheinlich wird sie mit noch einer anderen Katze gespielt haben‘, gab ich lässig als Antwort, ‚von der dann die Flöhe auf die Katze gehüpft sind, mit der Fluffy später gespielt hat.‘ Sarah schwieg für eine Weile. ‚Aber Daddy‘ sagte sie darauf ernst, ‚es kann doch nicht unendlich weiter so gehen, das einzige, was so weiter gehen kann, sind Zahlen!‘“

Wie beobachtet nun Matthews diese Szene? Ihm fallen als Philosophen analoge Argumentationsmuster aus der philosophischen Tradition ein. Im beschriebenen Fall ist es die Argumentationsfigur des infiniten Regresses. Dieser infinite Regress mit der Frage nach einer „ersten Ursache“, einem „ersten Beweger“ ist die zentrale Argumentationsform der Gottesbeweise des Thomas von Aquin in der Nachfolge von Aristoteles.6 Hätte er das Piagetsche Beispiel zitiert, wäre ihm gewiss die Nähe der Argumentation zu Anselm von Canterburys Überlegung aufgefallen, der seinen ontologischen Gottesbeweis auf den Gedanken gründet, wonach ein Wesen, gegenüber dem nichts Größeres gedacht werden könne, auch eine Existenz haben müsse. Wollte man die Beobachterperspektive des Philosophen nennen, dann wäre es die der Unterscheidung „affin zur philosophischen Argumentation/nicht affin zur philosophischen Argumentation“. Insofern ist es nur konsequent, wenn er Piaget vorwirft, dieser verkenne die philosophische Qualität von Kinderaussagen.7 4 An dieser Stelle gibt es eine natürliche Affinität zwischen Entwicklungspsychologie und dem Unterscheidungscode des Erziehungssystems „besser erzogen/schlechter erzogen“, bei dem der Erzieher im Zeitverlauf Vergleiche über den Erziehungsfortschritt anstellt. Zu dieser Präzisierung der Luhmannschen Begrifflichkeit vgl. Gerhard Büttner / Veit Jakobus Dieterich, Religion als Unterricht, Göttingen 2004. 5 Gareth B. Matthews, Die Philosophie der Kindheit. Wenn Kinder weiter denken als Erwachsene, Weinheim/Berlin 1995, 7. 6 Ebd., 8. 7 Ebd., 53ff.

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Die Frage ist allerdings, ob Matthews nicht seinerseits die andere Beobachterperspektive Piagets verkennt, zumal er ihm die philosophische Perspektive bezüglich einer anderen Publikation ausdrücklich zugesteht.8 Will man die Beobachtungen der beiden Autoren weiter qualifizieren, dann wird man sagen, dass der Blick Piagets epistemologisch eher auf die Form gerichtet ist, hingegen Matthews Perspektive eher religionsphilosophisch-ontologisch auf Inhalte zielt.

Beobachtungen erster und zweiter Ordnung Was wir eben gemacht haben, ist die Beobachtung von Beobachtungen. Dieses Verfahren ermöglicht es uns, wissenschaftliche Kontroversen nicht primär als unterschiedliche Meinungen wahrzunehmen, sondern die impliziten Voraussetzungen der Differenzziehungen offen zu legen. In gleicher Weise soll auch mein weiteres Vorgehen dekonstruktiv sein. Niklas Luhmann sieht in dieser Bezugnahme auf den Beobachter zweiter Ordnung das Grundelement von Dekonstruktion:9 „Die Dekonstruktion macht darauf aufmerksam, dass Differenzen lediglich Unterscheidungen darstellen, die ihren Gebrauchswert ändern, wenn wir sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in unterschiedlichen Kontexten verwenden. […] Wer (d.h. welches System) verwendet den Unterschied als Rahmen (oder Schema) für Beobachtungen? Wer also ist der Beobachter? Was investiert dieser Beobachter in die Unterscheidung, und was setzt er aufs Spiel, wenn er an ihr festhält? […] Das Stereotyp der Unterscheidung führt zu der Annahme, dass all jene Systeme dieselbe Sache beobachten, während die Beobachtung dieser Beobachter zeigt, dass das keineswegs der Fall ist. Jedes System operiert vielmehr innerhalb seines eigenen Netzwerkes und hat seine eigene Vergangenheit und seine eigene Zukunft.“

Was leistet nun diese Zugriffsweise für unser Thema? Es ist bereits bei dem obigen Beispiel leicht erkennbar, dass es sich hier um eine Hierarchie der Beobachtungen handelt. Piaget beobachtet die Beobachtung eines Vaters, Matthews die Beobachtung seiner Tochter. Ich selbst beobachte die Beobachtungen der oben genannten. Mit dem Stichwort der Dekonstruktion wird mit Recht suggeriert, dass es wenig sinnvoll ist, einer der Beobachtungen einen exklusiven Wahrheitsstatus zu verlei 8 Ebd., 193, wo er auf Piagets Schrift „Children’s philosophies“ in: Carl Murchison (Hg.), A Handbook of Child Psychology, Worcester Mass. 1931, 377–391 verweist, in der ausdrücklich die Verwandtschaft kindlichen Denkens zu dem der Vorsokratiker betont wird. 9 Niklas Luhmann, Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung, in: ders., Aufsätze und Reden, Stuttgart 1991, 263f.

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hen. Es hat vielmehr einen aufklärerischen Charakter klarzustellen, in welchem Horizont eine Aussage getroffen wird. In dieser Absicht werde ich im Folgenden einige Überlegungen zum Theologisieren mit Kindern meinerseits beobachten.

Kindertheologie im Rahmen Performativen Religionsunterrichts Petra Freudenberger-Lötz hat in dieser Zeitschrift einen Einblick in die von ihr organisierte Forschungswerkstatt zur Kindertheologie gegeben.10 Sie gibt Beobachtungen aus einer 3. Grundschulklasse wieder, wobei nicht klar wird, ob sie selbst oder eine Studierende diese Stunde gehalten hat. Die Schüler/innen hatten in der vorherigen Stunde verschiedene Fragen zu Gott gestellt. Diese nimmt die Lehrerin auf in der Leitfrage „Gibt es Gott wirklich?“. Die Kinder erzählen Geschichten der Erfahrung mit Gott, aber auch solche mit Enttäuschungen. Es wird deutlich, dass ein Beweis im szientistischen Sinne nicht möglich ist, sondern Glauben eine Erfahrung des Vertrauens darstellt, wie sie z.B. im Gebet gemacht werden kann. Dies führt zu Hinweisen, in welcher Weise dies geschehen kann.

Auf diese Stelle nehmen nun Christian Grethlein und Christhard Lück explizit Bezug. Sie konzedieren diesem Unterricht, dass er alle drei Elemente der Kindertheologie enthalte, Theologie der Kinder, Theologisieren mit Kindern und Theologie für Kinder.11 Doch sehen die Autoren in dem gewählten Unterrichtsbeispiel eine Engführung:12 „Bei einem solchen gesprächsorientierten Ansatz ist die Gefahr einer verbal-kognitiven Engführung des Unterrichts allerdings nicht ganz von der Hand zu weisen. […] Das Theologisieren mit Kindern ist […] nicht auf verbale, argumentativ-begriffliche Zugänge zu beschränken. Vielmehr sind auch meditativ-spirituelle, kreativ-gestalterische, musikalische, tänzerische oder spielerische Äußerungsformen der Kinder mit einzubeziehen.“

10 Petra-Freudenberger-Lötz, Einblicke in die Forschungswerkstatt „Theologische Gespräche mit Kindern“, in: Theo-Web, Zeitschrift für Religionspädagogik, 3. Jg. 2004, Heft 2, 76–95. 11 Christian Grethlein / Christhard Lück, Religion in der Grundschule. Ein Kompendium, Göttingen 2006, 55. 12 Ebd., 56.

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Interessant an dieser Beobachtung ist die Kombination eines breiten Repertoires von Unterrichtsmethoden mit der Vorgehensweise in einer Schulstunde. Zunächst kann man fragen, ob bei Petra Freudenberger-Lötz’ Paraphrase der Stunde nicht liturgische Einleitungsrituale schlichtweg unterschlagen wurden. Zum anderen referiert sie ihre Stunde aus einem Forschungskontext heraus. Wir werden im Folgenden sehen, dass gerade dies eine besondere Blickrichtung auf die Kindertheologie impliziert. Liest man das Buch von Grethlein und Lück als Ganzes, dann wird allerdings klar, dass es sich hier um eine andere Fragestellung handelt. Es geht um ein mögliches Verhältnis einer spezifischen Variante des Performativen Religionsunterrichts zum Konzept der Kindertheologie. Diese Diskussion steht in der Tat an. Dabei sind nach meinem Dafürhalten mehrere Klärungen vonnöten. – Den Autoren geht es um das übergeordnete Unterrichtziel „als Christ leben können“.13 Dies materialisiert sich zentral in den Formen des Betens und des Gesegnet-Werdens.14 Da die Schule zentral auf argumentative verbale Interaktionsformen zielt, bedeutet das, dass die hier angesprochenen performativen Handlungen auch in einem reflexiven Zusammenhang zur Sprache kommen müssen. Dies wird zwangsläufig zu Formen des Theologisierens mit Kindern führen.15 – Die Autoren verweisen zu Recht darauf, dass gerade in der Grundschule performative Aktionsformen durchaus üblich sind. Die manchmal artifiziell wirkenden Überlegungen zum „Probehandeln“ bei älteren Schüler/innen können weitgehend entfallen, weil die „Ganzheitlichkeit“ des Unterrichts in aller Regel performatives und argumentatives Vorgehen verbindet. – Grethlein und Lück gehen wie die meisten Vertreter/innen des Performativen Religionsunterrichts davon aus, dass der Religionsunterricht in konfessionellen Religionsgruppen stattfindet. Dies ist aber nicht überall der Normalfall. Zieht man die von Nipkow präzisierend eingezogene Unterscheidung eines gegebenen bzw. nicht gegebenen Einverständnisses16 heran, dann zeigt sich, dass der Ansatz von Grethlein und Lück nicht überall „passt“. – Es scheint mir deshalb wichtig, dass das Theologisieren mit Kindern nicht nur im – von mir durchaus gewünschten – Fall eines Unterrichts mit „gegebenem 13 Ebd., 120. 14 Ebd., 122f. 15 So zeigt etwa Katharina Kammeyer, Ist Beten nur ein frommer Wunsch? in: Anton A. Bucher u.a. (Hg.), „Vielleicht hat Gott uns Kindern den Verstand gegeben.“ Ergebnisse und Perspektiven der Kindertheologie, Jahrbuch für Kindertheologie, Bd. 5, Stuttgart 2006, 111–123, dass gerade das Gespräch über das Beten höchst fruchtbar ist für das kindliche Nachdenken über Gott. 16 Karl Ernst Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt, Bd. 2, Gütersloh 1998, 223ff.

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Einverständnis“ funktioniert. Gerade seine reflexiv-argumentative Struktur macht das Theologisieren mit Kindern auch attraktiv in einem Kontext mit „nicht gegebenem Einverständnis“. Hier müsste sich dann das Probehandeln eher im Bereich von Gedankenexperimenten bewegen als in religiösen Formen.17 Als Fazit kann man festhalten, dass es konzeptionell gewiss keinen grundsätzlichen Gegensatz zwischen Kindertheologie und Performativem Religionsunterricht gibt. Beide Varianten greifen auf explizite Formen der christlichen Tradition zurück und stehen in einem gewissen Gegensatz zu einem Problemorientierten RU, der sich eher an den Unterscheidungen des Moralsystems (erwünscht / unerwünscht) als an der des Religionssystems (Immanenz / Transzendenz) orientiert, und einem RU, der sich phänomenologisch an „Religion“ ausrichtet.18 Vermutlich könnten in Bezug auf konkrete Unterrichtsstunden – je nach Beobachter – Vertreter kindertheologischer wie performativer Orientierung jeweils zu ihnen passende Merkmale erkennen. Dieser induktive Weg scheint für Klärungsprozesse hilfreich.19

Die Unterscheidung der Theologie von, mit und für Kinder Wer sich mit Kindertheologie beschäftigt, stößt fast immer auf die Unterscheidung einer Theologie der Kinder, eines Theologisierens mit Kindern und schließlich einer Theologie für Kinder. Betrachtet man diese Unterscheidung genauer, dann stellt man fest, dass sich diese Unterscheidungen aus den unterschiedlichen Sichtweisen verschiedener Bezugssysteme ergeben. Es erscheint mir sinnvoll, diese Differenzen hinsichtlich ihrer Voraussetzungen noch genauer zu beleuchten.

17 Zur Unterscheidung vgl. Hanna Roose, Performativer Religionsunterricht zwischen Performance und Performativität, in: Loccumer Pelikan, 2006, Heft 3, 110–115; zur unterrichtlichen Bedeutung von Gedankenexperimenten vgl. Helmut Engels, „Nehmen wir an …“ Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, Weinheim/Basel 2004. 18 Gerhard Büttner / Veit-Jakobus Dieterich, Religion als Unterricht. Ein Kompendium, Göttingen 2004. 19 In dieser Richtung verfährt Friedhelm Kraft, Theologisieren im Religionsunterricht und performativer Religionsunterricht – zwei didaktische Ansätze bzw. Leitbilder für den Religionsunterricht im Widerstreit? in: Anton A. Bucher u.a. (Hg.), „Man kann Gott alles erzählen, auch kleine Geheimnisse.“ Kinder erfahren und gestalten Spiritualität, Jahrbuch für Kindertheologie, Bd. 6, Stuttgart 2007, 111–120.

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Die Theologie der Kinder Beachtet man den bisherigen Diskurs zum Thema, dann gerät diese Fragestellung von zwei Richtungen her in den Blick. Hat man einen weiten Theologiebegriff wie Bayer und Härle20, dann kann man jede „religiöse Kommunikation“ als Form von Theologie identifizieren. Das Vorgehen entspricht in etwa dem des oben zitierten Philosophen Matthews. Der theologische Experte ist in der Lage, die impliziten „Theologumena“ im lebensweltlichen Diskurs zu identifizieren und kann diese auch in den Gesprächen der Kinder und in denen mit Erwachsenen finden. Systematischer wird dieser Suchprozess im Kontext eher wissenssoziologischer Forschung betrieben. Seitdem die entwicklungspsychologische Forschung die Gegenstandsbezogenheit der Entwicklungsprozesse betont, gewinnt das Interesse an Inhalten größere Bedeutung.21 Im Hinblick auf die Stufentheorien etwa von Fowler und Oser bedeutet das, dass ihre Aussagen möglicherweise viel enger beschränkt sind auf den untersuchten Bereich (z.B. Kontingenz bei Oser) als dies die Autoren angenommen haben. Damit sind generalisierte Aussagen zu einer bestimmten Urteilsstufe zumindest problematisch, zumindest solange, bis eigene Untersuchungen hierzu vorliegen. Was Friedrich Schweitzer u.a. in ihrem Buch zu Elementarisierung und Entwicklungspsychologie22 angeregt hatten, nämlich zu allen Unterrichtsthemen die vorliegenden empirischen Studien zu beachten, gerät nun zum Programm kindertheologischer Forschung. So liegen inzwischen etwa zur kindlichen Rezeption vieler Bibeltexte, darunter gerade auch solcher, die als schwierig gelten, genauere Studien vor. So gesehen lassen sich die vielen kleineren und größeren Forschungen in diesem Bereich als Versuch begreifen, immer mehr Flecken auf der Wissenslandkarte mit konkreten Erkenntnissen „einzufärben“. Wenn man bedenkt, dass dieser Prozess eher unkoordiniert und fast ohne finanzielle Forschungsunterstützung abläuft, dann sind die Ergebnisse durchaus beachtenswert. Doch muss an dieser Stelle etwas zur Methode der Datengewinnung gesagt werden. Viele ausgewertete Gespräche fanden in relativ alltagsnahen, pragmatisch 20 Oswald Bayer / Friedrich Schweitzer, „Jeder Mensch ist Theologe“ – also auch Kinder? Interview mit Oswald Bayer, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie, 2005, 3–11; Wilfried Härle, Was haben Kinder in der Theologie verloren? In: Anton A. Bucher u.a. (Hg.), „Zeit ist immer da.“ Kinder erleben Hoch-Zeiten und Fest-Tage, Jahrbuch für Kindertheologie, Bd. 3, Stuttgart 2004, 11–24. 21 Grundlegend Lawrence A. Hirschfeld / Susan A. Gelman, Mapping the Mind, Cambridge/ UMA 1994. 22 Friedrich Schweitzer u.a., Religionspädagogik und Entwicklungspsychologie, Gütersloh 1995.

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ausgewählten Kontexten statt. Repräsentativität ist dabei sowieso nicht möglich, doch oft werden dabei auch die elementarsten Standards qualitativer Forschung unterschritten. Dies ist forschungsstrategisch unbefriedigend. Man kann diese Ergebnisse allerdings auch in einem virtuellen Prozess der Aktionsforschung interpretieren. Liest eine Erzieherin ein Gesprächsprotokoll zu einem bestimmten Thema, dann interessieren sie zunächst weniger die dort beachteten oder missachteten Gütekriterien. Sie wird fragen, wieweit die dort gefundenen Argumentationsmuster „passend“ für ihre Gruppe und ihre Fragestellung sind. Die Ergebnisse erfahren ihre „Validierung“ im Gebrauch und regen im glücklichsten Fall wieder zu neuen Fragestellungen an. Problematischer als die Qualität der einen oder anderen Untersuchung ist deshalb wohl eher die Frage der Zugänglichkeit der einzelnen Ergebnisse. Der nächste Diskussionspunkt knüpft nochmals an die Beobachtungen von Grethlein und Lück an. Diese kritisieren bekanntlich die kognitive Engführung der beschriebenen Unterrichtsstunde. Viele Untersuchungen zur Theologie der Kinder sind in Unterrichtsstunden gewonnen worden. Diese Stunden folgen einerseits der Logik von Unterricht, fokussieren andererseits in Thema und Methode eine Unterrichtsform, die dann auch zu auswertbaren – in der Regel verbalen – Ergebnissen führt. Da diese Stunden aber nie nur „Forschung“ sind, sondern immer auch Unterricht, produzieren sie gleichsam automatisch auch eine Qualifizierung der Teilnehmenden in Kindertheologie.23 In der Regel handelt es sich um Einzelstunden, die zwar im Unterricht so möglich sind, aber gewiss nicht als alleinige Form oder auf Dauer. Insofern dieses Genre in vielen Publikationen vorgestellt wird, dürfte hier ein falscher Eindruck geweckt werden. Ich selbst halte es für äußerst wünschenswert, dass es gelingt, „Mindmaps“ zu den wichtigsten Themen der Theologie (im Kontext kindlicher Rezeption und Verarbeitung) zu erstellen. Dabei sind gewiss viele Methoden vor allem der qualitativen Sozialforschung hilfreich.24 23 Vgl. ähnliche beiläufige Lernprozesse in Moshe M. Blatt / Lawrence Kohlberg, The Effects of Classroom Moral Discussion upon Children’s Level of Moral Judgement, in: Gerhard Büttner / Veit Jakobus Dieterich, Die religiöse Entwicklung des Menschen, Stuttgart 2000; Fritz Oser, Wieviel Religion braucht der Mensch?, Gütersloh ²1990. 24 Zur Orientierung vgl. Mirjam Zimmermann, Methoden der Kindertheologie, in: Theo-Web, Zeitschrift für Religionspädagogik, 5. Jg., 2006, Heft 1, 99–125. Mein eigener Ansatz entspricht am ehesten meinen Überlegungen in: Gerhard Büttner, „Experimental Teaching“ zur Christologie. Kategorisierung als Forschungsmethode, in: Dietlind Fischer / Volker Elsenbast / Albrecht Schöll (Hg.), Religionsunterricht erforschen, Münster 2003, 172–187. Ich halte das dortige Vorgehen für anschlussfähig an Überlegungen von Ralf Bohnsack, Rekonstruktive Sozialforschung, Opladen/Farmington Hills 62007.

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Theologie mit Kindern Betrachten wir nochmals die kritische Sicht von Grethlein und Lück. Wir können ihre Anmerkung nicht nur „konzeptuell“ lesen, sondern auch als unterrichtspraktischen Hinweis in dem Sinne, dass man beim besten Willen den Religionsunterricht nicht dauerhaft so argumentativ-kognitiv gestalten kann. Um es in konstruktivistischer Diktion zu sagen, zur gemeinsamen Konstruktion muss die Instruktion hinzutreten. Weiterhin bedarf es in der Tat auch anderer als der hier gezeigten Unterrichtsmethoden. Zwar haben wir inzwischen Hinweise, wie ein solch „theologisierender“ Unterricht aussehen könnte, doch wie er auf Dauer zu organisieren wäre und wie er mit Lehrplänen und Unterrichtszielen kompatibel sein kann, ist bislang wenig erörtert worden. Hier hilft uns nun Petra Freudenberger-Lötz’ Arbeit über ihre Forschungswerkstatt zum Theologisieren mit Kindern weiter. Sie dokumentiert nicht nur explizit die Lernprozesse der Lehramtskandidat/innen im Hinblick auf deren Kompetenz zum Theologisieren, sondern sie lässt gleichzeitig auch erkennen, wie sich ein theologisierender Unterricht über zwei Jahre gestaltet. Ich möchte drei Aspekte festhalten: – Es wird auf die Lektüre des Mk-Evangeliums als Ganzschrift in der 3. Klasse verwiesen.25 Von daher ist den Kindern auch die Existenz paralleler Überlieferungen im Bereich der Evangelien geläufig. – Das Unterrichtsbeispiel zur Erarbeitung des Gleichnisses vom verlorenen Schaf zeigt eine Palette von Unterrichtsmethoden, deren Fokus darauf liegt, die Lernprozesse der einzelnen Schüler/innen möglichst transparent zu halten und die steuernden Impulse danach auszurichten. – Wo sich aus dem Unterricht neue Fragestellungen ergeben, wird dies zum Anlass für ein neues Lernarrangement. Dies lässt sich gut zeigen anhand einer Unterrichtsreihe zur Frage der Naturen Christi, die sich als Konsequenz offener Fragen zur Person Jesu und seinem Verhältnis zu Gott ergaben. Explizite Überlegungen zum Gebet machen deutlich, dass in diesem Unterrichtssetting auch die von Grethlein und Lück angemahnten performativen Elemente durchaus möglich sind. Aus den verschiedensten Publikationen wird zudem deutlich, dass das Programm des Theologisierens mit Kindern kompatibel ist mit zahlreichen Methoden vom Bibliolog26 bis hin zur Kirchenpädagogik 27. 25 Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern. Untersuchungen zur Professionalisierung Studierender und Anstöße zu forschendem Lernen im Religionsunterricht, Stuttgart 2007. 26 Uta Pohl-Patalong, „Gott hat uns ja auch aus Ägypten geführt, da kann er uns jetzt auch nicht einfach im Stich lassen!“ Bibliolog als Weg zu kindertheologischen Entdeckungen, in: Bucher (Hg.), „Vielleicht hat Gott uns Kindern den Verstand gegeben“ (wie Anm. 15), 124–136. 27 Hartmut Rupp / Ursula Ruoff, Wie Kinder Kirchenräume wahrnehmen (können), in: Anton A.

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Als Fazit dieses Abschnitts kann man festhalten, dass es offenbar ein breites Repertoire von Unterrichtsmethoden gibt, mit denen auch über längere Passagen hinweg konstruktiv Unterricht nach dem Prinzip des Theologisierens gestaltet werden kann. Dazu kommt zudem ein Wissen über die Kompetenzen, die Lehrpersonen brauchen, um einen solchen Unterricht vorzubereiten und zu begleiten.28

Theologie für Kinder Auch die Vertreter/innen der Kindertheologie müssen und wollen das Rad nicht ein zweites Mal erfinden. Natürlich gab und gibt es Materialien zur Begleitung des religiösen Lernens von Kindern. Die Frage ist allerdings, ob diese den Anforderungen einer Kindertheologie genügen können. Meine kritische Anfrage ist begründet durch den zutiefst empirisch ausgerichteten Charakter der Kindertheologie. Das bedeutet letztlich, dass nur auf der Basis von praktischer Erfahrung letztlich entscheidbar ist, ob und wie das Lernangebot sich im Modus kindlicher Rezeption bewährt. Dies impliziert einen recht hohen Anspruch. Dies lässt sich gut zeigen anhand des Angebots, das Christoph Scheilke und Friedrich Schweitzer für verschiedene Lernbereiche des Kindergartens erarbeitet haben.29 Die Plausibilität dieses Materials ergibt sich im Einzelnen immer wieder aus der empirischen Überprüfung, wieweit die Vorschläge „passen“. In dem Maße, in dem die Muster theologischen Denkens von Kindern skizzierbar werden, wäre es im Prinzip auch möglich, entsprechende Materialien wie biblische Geschichten, Bilderbücher, Kinderbücher, Bilder etc. zusammenzustellen. Wie eng der Zusammenhang zwischen vorhandenem Wissen und einem adäquaten Lernarrangement ist, zeigen beide Beispiele von Petra FreudenbergerLötz: Sowohl was das Gleichnis vom verlorenen Schaf angeht,30 als auch zur Frage der Naturen Christi31 konnte sie auf empirisches Material zurückgreifen. Gerade Bucher u.a. (Hg.), „Kirchen sind ziemlich christlich.“ Erlebnisse und Deutungen von Kindern. Jahrbuch für Kindertheologie, Bd. 4, Stuttgart 2005, 132–142. 28 Neben der Arbeit von Petra Freudenberger-Lötz vgl. die Berichte über ein österreichisches Lehrgangsmodell: Anton A. Bucher, Theologisieren und Philosophieren mit Kindern, in: Bucher (Hg.), „Vielleicht hat Gott uns Kindern den Verstand gegeben“ (wie Anm. 15), 147–170 und Elisabeth E. Schwarz, Philosophieren und Theologisieren mit Kindern. Ein Akademielehrgang, ebd., 173–181. 29 Christoph Th. Scheilke / Friedrich Schweitzer, Kinder brauchen Hoffnung. Religion im Alltag des Kindergartens, Bd. 1: Mit Geheimnissen leben; Bd. 2: Das ist aber ungerecht, Bd. 3: Musst du auch sterben?, Bd. 4: Wie sieht Gott eigentlich aus?, Münster ³2006. 30 Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern (wie Anm. 25), 144ff. 31 Ebd., 188ff.

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weil sie ihr eigenes Vorgehen (nicht nur das der Kinder) als eine Art forschendes Lernen begriff, ließen sich die gegebenen Theorievoraussetzungen jeweils situationsangemessen modulieren, so dass dann durchaus neue Erkenntnisse gewonnen werden konnten. Ähnliche Erfahrungen konnte ich selbst machen. Aus den Untersuchungen von Friedrich Schweitzer u.a.32 und eigenen Untersuchungen33 wusste ich einerseits, dass das Modell, Gott als eine Art Marionettenspieler zu begreifen, für Schülerinnen der Klassen 5 und 6 offenbar sehr hilfreich ist, um ihre Beziehung zu Gott zwischen Autonomie- und Geborgenheitswünschen zu artikulieren. Dabei ergab sich aus diesen Untersuchungen ein Bündel von Interpretationsmöglichkeiten von Seiten der Schüler/innen. Ich konnte nun andererseits zeigen, dass ein Lehramtskandidat auf der Basis dieses Wissens nun einen exzellenten Unterricht im Sinne des Theologisierens mit Kindern entwickeln konnte.34 Führt man diese Überlegungen weiter, dann wird es sehr wohl möglich sein, auf der Basis des bereits vorliegenden und des noch zu gewinnenden Wissens endlich das einzulösen, was die Diskussion um Kompetenzen und Bildungsstandards verspricht.35 Denn es widerspricht der Sache selbst, wenn am grünen Tisch über mögliche Outcomes entschieden wird, ohne die Möglichkeiten der Selbstproduktion von „Theologie“ von Seiten der Schüler/innen zu kennen. Immerhin gibt es erste Versuche, mögliche Standards für den RU der Grundschule auf der Basis entsprechender „Mindmaps“ kindlichen theologischen Denkens zu entwerfen.36 Als Fazit wird man festhalten können, dass die Zuordnung einer Theologie der Kinder zu einer Theologie für Kinder sich momentan eher noch als Aufgabe zeigt denn als Feld gelungener Lösungen.

32 Schweitzer u.a., Religionspädagogik und Entwicklungspsychologie (wie Anm. 22), 12ff. 33 Gerhard Büttner / Hartmut Rupp (Hg.), Theologisieren mit Kindern, Stuttgart u.a., 2002, 53–57. 34 Gerhard Büttner, Landkarten des Denkens, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 25, 2003, 74–81. 35 Zur Kompetenzdiskussion vgl. Dietlind Fischer / Volker Elsenbast (Red.), Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung. Zur Entwicklung des evangelischen Religionsunterrichts durch Bildungsstandards für den Abschluss der Sekundarstufe I, Münster 2006; zum Zusammenhang dieser Diskussion mit Kindertheologie vgl. Hartmut Rupp, Bildungsstandards und Kindertheologie, in: Bucher (Hg.), „Vielleicht hat Gott uns Kindern den Verstand gegeben“ (wie Anm. 15), 86–94. 36 Friedhelm Kraft initiiert z.Zt. einen solchen Versuch für den Ev. Religionsunterricht der Grundschule in Niedersachsen. Zu den theoretischen Vorüberlegungen vgl. Gerhard Büttner, How Theologizing with Children can work, British Journal of Religious Education 29, 2007, 127–139.

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Schlussbemerkung Das Projekt Kindertheologie ist auch nach einem halben Jahrzehnt immer noch ein wachsendes Projekt. Systemtheoretisch gesprochen betrifft es Kommunikationsprozesse im Erziehungssystem, im Religionssystem und im Wissenschaftssystem. Die Kommunikation erfolgt in diesen Systemen jeweils gemäß eigener Unterscheidungen: es geht um besser oder schlechter erzogene Kinder in der Erziehung, um die Zuordnung von Immanenz und Transzendenz in der Religion und um Wahrheit und Unwahrheit in der Wissenschaft. Die einzelnen Kommunikationen haben keinen Durchgriff auf die anderen Systeme. Indem der Beitrag mit der Unterscheidung des Wissenschaftssystems beobachtet, beansprucht er, ein Stück „Wahrheit“ produziert zu haben. Damit möchte er das Religions- und das Erziehungssystem „irritieren“. Ob diese sich irritieren lassen, hat er – theoriegemäß – nicht in der Hand.

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Die Rolle der Tradition beim Theologisieren mit Kindern

Die Rolle der Tradition beim Theologisieren mit Kindern

Die „großen Fragen“ als Ausgangspunkt Karl Ernst Nipkow hat zahlreiche Äußerungen Jugendlicher ausgewertet und kommt dabei zu dem Fazit:1 „Es gibt nicht viele beliebige, sondern einige elementare Fragen, an deren Beantwortung alles zu hängen scheint.“ Es sind dies die Frage nach Gott, nach dem Ursprung des Bösen und des Leids, die Frage nach dem Anfang der Welt sowie die Frage nach unserem Geschick nach dem Tod.2 Diese Problemfelder finden sich alle auch unter den „großen Fragen“ der Kinder, die Rainer Oberthür gesammelt hat.3 Wer je Religionsunterricht gehalten hat, weiß, dass es diese Fragen sind, die die Schüler/innen immer wieder interessieren und die zu einem gemeinsamen Ringen um mögliche Lösungen führen. Was zeichnet diese Fragen aus? Heinz von Foerster hat auf die wichtige Unterscheidung hingewiesen: Fragen, die entscheidbar sind, sind bereits entschieden; solche die unentscheidbar sind, müssen wir selbst entscheiden.4 Nach diesem Kriterium kennzeichnet es die großen Fragen, dass sie eben unentscheidbar sind. Für einen Unterricht, der sich mit diesen Fragen auseinandersetzt, bedeutet das, dass es eine singuläre Konstellation zwischen Lehrern und Schülern gibt. Der Lehrer kennt hoffentlich die wichtigsten Theorien zur Theodizeethematik und weiß von daher, dass sie nicht wirklich „lösbar“ ist, gerade dies stellt ihn aber in einer besonderen Solidarität an die Seite seiner Schüler/innen. Wenn er ihnen über die Aporie der Fragestellung hinaus etwas Verbindlicheres mitteilen möchte, dann muss er das im Modus einer Entscheidung tun, etwa als Glaubensaussage. Eine solche kann aber auch bereits ein Kind formulieren, und die Seinige hat keinen geringeren Status als die des Lehrers. Die „großen Fragen“, die ich hier zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen gewählt habe, gehören zweifellos zu den zentralen Themen von Religionsunterricht. Es sind gleichzeitig auch die Problemfelder, die im Philosophie- oder Ethikunter

1 Karl E. Nipkow, Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, Gütersloh 21992, 377. 2 Ebd., 378. 3 Rainer Oberthür, Kinder und die großen Fragen, München 1995. 4 Heinz von Foerster, Lethologie, in: Reinhard Voß (Hg.), Die Schule neu erfinden, Neuwied/ Kriftel/Berlin 31999, 14–32, 28f.

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richt ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Die Tatsache, dass sie im Prinzip jeden betreffen, schafft auf den ersten Blick auch eine grundsätzliche erste Kompetenz für die Teilnahme an einem Gespräch darüber. Gleichwohl ist – gerade im Sinne einer konstruktivistischen Theorie im Sinne von Foersters – klar, dass eine gemeinsame Konstruktion von Sinn nicht voraussetzungslos erfolgt. D.h., dass die Gesprächsbeiträge in dem Maße an Qualität zunehmen, je mehr Vorwissen vorhanden ist. Dieses Vorwissen kann individueller Natur sein. In aller Regel fließt dabei aber Wissen ein, das kollektiv geteilt wird und meist eine längere Vorgeschichte hat. Dieses Vorwissen nenne ich Tradition. Im folgenden Beitrag möchte ich Struktur, Bedeutung und Funktion von Tradition bei den gemeinsamen Gesprächen über „Theologie“ untersuchen. Ich unterscheide a. Tradition als Wissensmatrix, b. als Element des kulturellen Gedächtnisses, c. als „fremde Welt“ gegenüber der Alltagswelt.

Tradition als Wissensmatrix In seinem Roman „L’Insoutenable Légèreté de l’être“ (1984, dt. „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“, 1986) erzählt Milan Kundera eine Kindheitserinnerung.5 In seiner von Gustav Doré illustrierten Bibel betrachtet er das Bild Gottes auf einer Wolke sitzend. Dieser Anblick erweckt bei ihm die Frage, wie es dieser menschlich gezeichnete Gott wohl mit dem Essen hielte und der damit verbundenen Frage nach der Defäkation. Sollte Gott über keine Därme verfügen, dann war für ihn die Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit infrage gestellt. Kundera erinnert in diesem Zusammenhang an Überlegungen des Gnostikers Valentinian aus dem 2. Jh., der im Hinblick auf Jesus behauptet hatte, dieser habe zwar gegessen und getrunken, aber nicht defäkiert. Diese Reminiszenz führt mitten hinein in das theologische Denken der Kinder. Sind bestimmte gedankliche Voraussetzungen gegeben, dann ergeben sich die Folgeprobleme fast zwangsläufig. Werden Gottes Sehen oder Hören oder sein Angesicht theologisch thematisiert, dann ergibt sich immer die Frage nach der Reichweite dieses Gedankens und die nach seinen Grenzen. Es gehört zu den Stärken und Schwächen kindlichen Denkens auf der Stufe des mythisch-wörtlichen Glaubens, dass es sehr komplexe und differenzierte Überlegungen zulässt, aber an die konkreten Voraussetzungen gebunden bleibt.6 Der Hinweis auf Valentinian macht deutlich, dass auch gestandene Philosophen und Theologen, sofern sie nicht im Bereich der Abstraktionen und Paradoxien verbleiben, sondern an das Bildangebot der jeweiligen Lehre Anschluss suchen, dann auch zu 5 Milan Kundera, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, Frankfurt a.M. 2019, 285f. 6 James Fowler, Stages of Faith, New York 1981.

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Formulierungen finden, die denen der Kinder recht verwandt sind. So formulierte etwa ein Zweitklässler über Jesus Christus: „Er ist gelaufen wie ein Mensch und hat gegessen wie ein Mensch, aber in seinem Herzen drinnen ist er kein Mensch.“7 Für mich ergeben sich aus dieser Beobachtung zwei Konsequenzen: Ich möchte am Beispiel des Godly Play zeigen, wie hilfreich und notwendig es für Kinder ist, auf geprägte Bilder und Argumentationen zurückgreifen zu können. In einem zweiten Schritt möchte ich verdeutlichen, dass die Kenntnis theologischer und philosophischer Denkfiguren für erwachsene Begleiter kindlicher Gespräche essenziell ist.

Die Rolle biblischer Texte und Themen für die Herausbildung eigener Vorstellungen Judith Brunner hat untersucht, wie sich das Jesusbild von Vorschulkindern herausbildet.8 Die frühesten Bilder zeigen die Jesusfigur kontextfrei bzw. eingebettet in den kindlichen Erfahrungsraum: mit Blume oder mit Skateboard. Erst mithilfe biblischer Geschichten wird es ihnen möglich, Zuordnungen zu treffen und die Jesusgestalt in einen Zusammenhang zu stellen, der die kindliche Lebenswelt übersteigt. Ich verstehe das Anliegen von Jerome Berryman so, dass die zentrale Aufgabe des Godly Play darin besteht, die Kinder in einen Raum einzuführen, der gekennzeichnet ist durch bestimmte biblische Geschichten und die dazu gehörigen plastischen Figuren einerseits, durch ein festgelegtes liturgisches Setting andererseits. Berryman zeigt anhand einer kleinen Studie auf, wie die Rezeption des Gleichnisses vom Senfkorn bei zwei Jungen vor sich geht.9 Einerseits wird in den Zeichnungen das Bildrepertoire der Geschichte in immer wieder neuer und unterschiedlicher Weise dazu benutzt, sich die Geschichte in ihren Details anzueignen, andererseits kann man auch ohne therapeutische Ambitionen erkennen, dass das Bildprogramm dem Jungen dazu dient, innere Spannungen und Konflikte zu artikulieren. Ein ähnlicher Prozess lässt sich beobachten, wenn Ingo Baldermann Kindern Psalmworte zur Verfügung stellt.10 Auch hier benutzen die Grundschulkinder Worte wie Ps 31,13 „Ich bin geworden wie ein zerbrochenes Gefäß“, um einerseits ihre Ängste zum Ausdruck zu bringen. Andererseits haben sie damit ein Stück Sprache gewonnen, die es ihnen auch in Zukunft ermöglichen kann, Gefühle 7 Gerhard Büttner, „Jesus hilft!“ Untersuchungen zur Christologie von Schülerinnen und Schülern Stuttgart 2002, 143. 8 Judith Brunner, „Der Jesus kann auch gut mit Kindern umgehen.“ Christologie der Vorschulkinder, in: G. Büttner / J. Thierfelder (Hg.), Trug Jesus Sandalen? Kinder und Jugendliche sehen Jesus Christus, Göttingen 2001, 27–71. 9 Jerome Berryman, Godly Play, Minneapolis 1995, 42ff. 10 Ingo Baldermann, Wer hört mein Weinen? Neukirchen-Vluyn 1986.

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und Stimmungen zum Ausdruck zu bringen, für die ihnen ansonsten die Sprache fehlen würde. Zwar zeigen Studien wie die von Robinson11 und Hay und Nye, dass offenbar sehr viele Kinder spirituelle Erfahrungen machen. Die Studien von Rebecca Nye machen aber deutlich, dass es ihnen leichter fällt, ihre numinosen Erlebnisse im Anschluss an noch so rudimentäres, in der Regel christliches Wissen zum Ausdruck bringen zu können.12 Die Vermittlung einer solchen theological literacy ist denn auch von Friedrich Schweitzer zu Recht als ein Recht jeden Kindes gefordert worden.13

Argumentationsmuster als Orientierung bei der Gesprächsführung Milan Kunderas Beispiel macht uns auf einen wichtigen Sachverhalt aufmerksam. Dass sich ein Kind über mögliche Toilettengänge auch göttlicher Figuren Gedanken macht, würden wir wohl eher als Kuriosität ansehen und eher seltener als Gesprächsanlass. Der Hinweis auf einen Denker der Antike macht die Überlegung des Kindes plötzlich diskussionswürdig. Wir sehen sie eingezeichnet in Vorstellungen zum Gottesbild oder in Diskussionen um die Naturen Jesu Christi. Nun werden die kindlichen Gedanken nicht dadurch gleichsam geadelt, dass berühmte Menschen sie bereits vor ihnen gedacht haben. Es gibt aber Grund zu der Annahme, dass dies ein Indikator dafür sein könnte, dass es sich hier um Fragen handelt, die – wenn man von bestimmten Prämissen ausgeht, etwa der, Gott menschlich zu denken – offenbar mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auftauchen und damit den Verdacht begründen, dass sie sich auch früher schon gestellt haben. Damit bestimmt sich unser Interesse an Argumentationsmustern früherer Theologen und Philosophen nicht aus dogmengeschichlichen Überlegungen. Wir gehen vielmehr davon aus, dass sich hier Problemaufrisse zeigen, von denen auch spätere Diskutanten immer wieder profitieren können. So konnte ich etwa zeigen, dass die Denkfigur, die Gott als Marionettenspieler sieht, der mit den Menschen „spielt“, bei Schüler/innen von 10-12 Jahren sehr anregend wahrgenommen wird. Sie können in dieser Figur alle Intentionen von Geborgenheit und Führung und Autonomie und Freiheit artikulieren, indem sie Variationen dieses Szenarios durchspielen. Das Bild ist zudem anschlussfähig an gleichnishafte Bilder von Erasmus und Luther zur Frage des freien bzw. unfreien Willens.14 11 Edward Robinson, The Original Vision, Oxford 1977. 12 David Hay / Rebecca Nye, Spirit of the Child, London 1998, 92ff. 13 Friedrich Schweitzer, Children’s right to religion and spirituality: legal, educational and practical perspectives, in: British Journal of Religious Education 27, Heft 2, 2005, 103–113. 14 Gerhard Büttner, How theologizing with children can work, in: British Journal of Religious Education 29, Heft 2, 2007, 127–139.

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Theologische Tradition als Teil des „kulturellen Gedächtnisses“ Fulbert Steffensky schildert eindrücklich, wie er als Kind in seinem katholischen Milieu allein durch das Miterleben des Gottesdienstes religiös sozialisiert wurde. Er erzählt von der Kleidung und Körpersprache der Erwachsenen, von Gerüchen und Stimmungen, die für ihn bestimmend wurden, noch bevor verbale Inhalte für ihn verständlich und nachvollziehbar wurden.15 Von daher kommt er zu der Beobachtung, Religion werde „von außen nach innen“ gelernt. Die Schriftstellerin Gabriele Wohmann macht uns in ihrer Geschichte „Müde bin ich – und wie weiter“ mit einem Paar bekannt, das irgendwann versucht, dem kleinen Dirk das Beten beizubringen.16 Hier werden alle Ambivalenzen spürbar, die ein solches Unternehmen begleiten, bis hin zu dem kleinen Jungen, dem die gefalteten Hände Anlass zu Schießübungen werden. Was ich hier deutlich machen möchte, ist das Zerbrechen einer mehr oder weniger selbstverständlichen Hintergrundfolie für religiöse Inhalte und Themen. Am deutlichsten spürbar wird dies bei der Beschäftigung mit Literatur oder Kunst, wo ein Verstehen zusammenbricht, wenn die biblischen Konnotationen nicht mehr verstanden werden können. Von daher begründen sich Universitätskurse wie Bibel für Literaturwissenschaftler, Kunsthistoriker etc. Terence Copley hat deutlich gemacht, wie schwierig es ist, etwa biblische Traditionselemente weiterzugeben.17 So berichtet er, dass von der David-Goliath-Perikope nur tradiert wird, dass ein Kleiner einen Großen besiegt, mit der impliziten Aufforderung, seinen Mut zusammenzuraffen und es David gleichzutun. Dass es hier um Gottvertrauen und Gottes erfahrenes Eingreifen geht, wird nicht mehr miterzählt. Die Geschichte wird dekontextualisiert, sowie moralisiert und verliert deutlich an anregender Komplexität. Nun sind diese beschriebenen Prozesse Teil eines gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses, den wir einerseits erleben und an dem wir gleichzeitig auch handelnd teilhaben. Auf der Ebene der Information erleben wir eine Multiplizierung der uns begegnenden Kommunikationsangebote und wir wissen gleichzeitig um die fast unerschöpfliche Zahl prinzipiell bereitstehender, aber von uns nicht genutzter Offerten. Angesichts begrenzter Zeit und Gedächtnisleistung bedeutet das den Zwang zur Auswahl. In der Zeit, in der ich fernsehe, kann ich nicht lesen. Die 15 Fulbert Steffensky, Der alltägliche Charme des Glaubens, Würzburg 42005. 16 Gabriele Wohmann, Müde bin ich – und wie weiter?, in: dies. (Hg.), Erzählen Sie mir was vom Jenseits, Mainz 1994, 88–96. 17 Terence Copley, Young People, Biblical Narrative and ‚Theologizing‘. A UK Perspective, in: Religious Education 100, Heft 3, 2005, 254–265.

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Figuren der Daily Soaps konkurrieren mit den Namen und Ereignissen des Sports, den Charts der Popmusik, verschiedenen Hobbys und schließlich auch mit Elementen der religiösen Tradition. Angesichts der Zunahme von Informationsangeboten wird die Frage des Tradierens und Vergessens dringlicher. Auf der Ebene der sozialwissenschaftlichen Reflexion drückt sich das etwa in der Erkenntnis aus, dass auch unsere Semantik nichts Selbstverständliches ist. Wie ich oben auf die potenzielle Sprachlosigkeit einzelner Kinder hingewiesen habe, so gilt dies für die Gesellschaft als Ganzes. Wenn keine Terminologie zur Benennung spiritueller oder existenzieller Erfahrungen mehr besteht oder bekannt ist, dann wird ein differenziertes Reden darüber unmöglich. Insofern ist etwa der Hinweis Niklas Luhmanns, dass jede Semantik der Pflege bedarf, keinesfalls überflüssig. Die plausibelsten Überlegungen zu diesem Thema hat für mich Jan Assmann mit dem Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“ vorgelegt. Assmann reflektiert darüber, wie Kollektive imstande sind, ein „kollektives Gedächtnis“ zu entwickeln und zu bewahren. Dabei geht es einmal um die Identität des Kollektivs, dann aber auch um die Kontinuität der Inhalte. Assmann unterscheidet vier Typen von Gedächtnis:18 „1. Das mimetische Gedächtnis. Dieser Bereich bezieht sich auf das Handeln. Handeln lernen wir durch Nachmachen. Die Verwendung von schriftlichen Handlungsanleitungen wie Gebrauchsanweisungen, Kochbüchern, Bauanleitungen ist eine verhältnismäßig späte und nie vollständig durchgreifende Entwicklung. Handeln lässt sich nie vollständig kodifizieren. Noch immer beruhen weite Teile des Alltagshandelns, von Brauch und Sitte auf mimetischen Traditionen.“ Als Zweites nennt Assmann das Gedächtnis der Dinge. Die alltäglichen Dinge, mit denen der Mensch Umgang hat und in denen er lebt, „spiegeln ihm ein Bild seiner selbst wider, erinnern ihn an sich, seine Vergangenheit, seine Vorfahren usw.“ Sprache und Kommunikation bilden als Drittes das kommunikative Gedächtnis. Sprache entsteht und entwickelt sich im kommunikativen Austausch. Als Viertes nennt Assmann das eigentliche kulturelle Gedächtnis. Hier versammeln und verbinden sich die ersten drei Typen. Für die Frage der religiösen Traditionsbildung scheinen mir vor allem die ersten beiden Aspekte wichtig. In welcher Weise werden gleichsam routinemäßig Symbole der religiösen Zugehörigkeit vermittelt? Gibt es Gegenstände, die über sich hinausweisend ein Teil kollektiven Gedächtnisses sein können? Für das Erste könnten Gebete stehen, für das Zweite Gegenstände wie etwa eine Familienbibel. 18 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, München 1999, 20ff.

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Stehen Möglichkeiten der schriftlichen Speicherung und Überlieferung nicht zur Verfügung, bedarf es anderer Techniken der Bewahrung und Weitergabe wie „poetische Form, rituelle Inszenierung und kollektive Partizipation.“19 Konkret heißt das: Was wird auswendig gelernt? Welche geprägten Situationen gibt es, an denen solche Texte gesprochen werden? Gibt es einen bestimmten Teilnehmerkreis, der bei der erinnernden Aufsage regelmäßig teilnimmt? Assmann verweist im Zuge seiner Argumentation einmal auf die Verweise im Pentateuch, wo immer wieder die Notwendigkeit betont wird, auf die mit Gott verbundene Geschichte der Rettung aus der ägyptischen Sklaverei hinzuweisen. Dabei wird bewusst der Modus der Weitergabe festgehalten: „Wenn dich nun dein Sohn morgen fragen wird: Was sind das für Vermahnungen …, so sollst du deinem Sohn sagen” (Dtn 6,20ff). Der klassische Beweisort seiner Argumentation ist in der Logik dieser Bibelstellen die Pessach-Haggada, in der jährlich jede jüdische Familie ihre Erinnerung an das Auszugsereignis inszeniert. Im Hinblick auf das Theologisieren mit Kindern ergeben sich für mich aus Assmanns Ausführungen zwei Konsequenzen. Wir sollten uns trotz postmoderner Voraussetzungen überlegen, unter welchen Bedingungen eine solche konstante Situation geschaffen werden kann, innerhalb derer Kinder bestimmte Inhalte inszenieren können bzw. an einer Inszenierung teilhaben. Hier ist das Modell des Godly Play ein eindrückliches Beispiel. In Deutschland wird unter dem Stichwort „Performativer Religionsunterricht“ darüber nachgedacht, in welcher Weise Schüler/innen Religion erfahren können, damit sie nicht über etwas reden, von dem sie eigentlich nicht wirklich etwas wissen. Als weiterer Gedanke drängt sich natürlich die Idee auf, für das Theologisieren selbst räumliche und zeitliche Randbedingungen zu schaffen, die den diskutierten Inhalten dann auch einen wiedererkennbaren Kontext schaffen. Hier geht es um Modalitäten der Schulkultur, von denen auch ein Philosophieren mit Kindern zweifellos profitieren würde. Ich will an dieser Stelle einen Perspektivenwechsel versuchen. Ich habe in einem ersten Schritt zu zeigen versucht, warum theologische Gedanken hilfreich, ja vielleicht sogar notwendig sind, wenn Kinder untereinander und im Gespräch mit Erwachsenen religiöse Erfahrungen oder Ideen artikulieren und kommunizieren wollen. In einem zweiten Schritt habe ich überlegt, wie eine solche theologische Semantik unter den Bedingungen des radikalen Pluralismus gepflegt werden kann. Ich kann den letzten Gedanken auch im Kontext eines anderen Bezugssystems denken, z.B. dem der Evolutionstheorie. Liest man diese nicht in ihrer dogmatischen aufklärerischen Version, wonach die Menschheit aus allen kindischen Irra19 Ebd., 56.

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tionalismen zugunsten rationaler Lebensdeutung gewissermaßen „herauswachse“, dann treten andere Mechanismen in den Vordergrund. Richard Dawkins erweitert dabei seine Beobachtung, nach der die „selfish genes“ letztlich den Evolutionsprozess bestimmen, durch die Einführung der memes.20 Nach Susan Blackmore sind Meme so etwas wie kleinste Bausteine des Wissens, die versuchen, sich möglichst erfolgreich durch Reduplikation zu vermehren.21 Dieses Modell ist insofern anti­ humanistisch, als es von der Autonomie dieser memes ausgeht, die im Hinblick auf Menschen nur ihre eigenen Strategien verfolgen. Obwohl, vielleicht auch weil Dawkins und Blackmore eine agnostische Haltung vertreten, beschäftigen sie sich mit dem Erfolg von memes, die religiöse Inhalte transportieren, und verlassen dabei öfter ihren wissenschaftlich neutralen Beobachterstandort. Dass man den Gedanken auch ohne die implizite Polemik weiterführen kann, zeigen etwa die differenzierten Überlegungen von Hugh S. Pyper über die Bibel als „selfish text“.22 Im Hinblick auf unseren Diskurs erweist sich das Meme-Modell insofern als fruchtbar, als es deutlich macht, dass jedes von uns inszenierte philosophische oder theologische Gespräch auf seine Weise dessen Inhalte vervielfacht und verbreitet in Konkurrenz zu anderen Memen, die ihrerseits an ihrer Verbreitung „interessiert“ sind. Alfred Treml, der eine evolutionstheoretisch fundierte Pädagogik vertritt, sieht in der schulischen Erziehung den Versuch, „durch räumliche Verengung und zeitliche Erweiterung bestimmte Selektionen wahrscheinlich zu machen“.23 Dabei geht es um die Vermehrung bestimmter Meme, wobei der Erfolg oder Misserfolg eines solchen Unternehmens möglicherweise nur sehr langfristig auszumachen sein wird. Ich möchte dies nochmals rückbinden an zwei Beispiele aus der Theologiegeschichte. Dass ein bestimmtes Verständnis der Prädestinationslehre sich im Kontext der Industrialisierung in Großbritannien als so gesellschaftlich erfolgreich erweisen würde, wie dies Max Weber paradigmatisch beschrieben hat, war vorher nicht abzusehen. Dies gilt ebenso für die Kraft Barth’scher Kritik an natürlicher Theologie, die sich eben in der Auseinandersetzung mit einer Theologie bewährt hat, die entweder von der NS-Ideologie infiziert war oder dieser hilflos gegenüberstand. Im pädagogischen Kontext bedeutet das, dass wir letztlich nicht genau wissen können, ob und in welcher Weise die von uns reduplizierten Meme „erfolgreich“ sein werden.

20 Richard Dawkins, The Selfish Gene, Oxford 2006. 21 Susan Blackmore, The Meme Machine, Oxford 1999. 22 Hugh S. Pyper, The selfish text: the Bible and miometics, in: J. Cheryl Exum / Stephen D. Moore (Hg.), Biblical Studies and Cultural Studies, Sheffield 1998, 70–90. 23 Alfred K. Treml, Evolutionäre Pädagogik, Stuttgart 2004, hier 300.

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Theologisieren und die Begegnung mit einer „fremden Welt“ Unser Ausgangspunkt waren die „großen Fragen“. Paul Harris hat gezeigt, dass schon Vorschulkinder nicht nur als „kleine Naturwissenschaftler“ durch Trial and Error die Gesetzmäßigkeiten unserer Welt herauszufinden versuchen, sondern auch als „kleine Metaphysiker“ darüber nachdenken, warum die Welt so ist, wie sie ist, und ob sie nicht auch ganz anders sein könnte.24 Es ist also durchaus sinnvoll, schon mit kleinen Kindern solche philosophischen Spekulationen zu betreiben. Im Sinne der obigen Überlegungen kommt dabei bevorzugt eine bestimmte Themenpalette zum Zuge, deren Ablaufmuster einigermaßen bekannt ist. Nun kann man den Horizont der Diskussion erweitern, wenn man neue Elemente in die Diskussion bringt. Ich kann etwa das Gespräch über das Böse anders führen, wenn ich mit Gott als Größe rechne. Eine weitere Dimension gewinnt das Gespräch, wenn ich die Möglichkeit von Sünde einräume mit verschiedenen Möglichkeiten der Vergebbarkeit etc. Bereits im Grundschulalter schaffen es die Kinder dann, sich in einem bestimmten „Haus“ von Gedanken zu bewegen und dabei vertraute Muster zu erkennen, aber auch die impliziten Aporien ausfindig zu machen (Wie kommt die „böse“ Schlange ins Paradies? Warum musste Jesus sterben, wenn Gott doch wusste, dass er auferstehen würde?). In der theologischen Diskussion unterscheidet man bekanntlich „natürliche Theologie“ von „Offenbarungstheologie“. In diesem Zusammenhang wurde darüber nachgedacht, inwieweit Kindertheologie zwangsläufig „natürliche“ Theologie sei, weil sie ihre Ergebnisse auf der Basis „philosophischer“ Einsichten und durch eigenes Nachdenken gewinnen.25 Es ist zu fragen, ob diese Unterscheidung den Sachverhalt wirklich trifft. Zum einen sind Kinder gar nicht so selten Empfänger religiöser Offenbarungen (vom kleinen Samuel 1. Sam 3 bis zu den Beispielen bei Robinson).26 Zum anderen gehört es zu den Aufgaben philosophischer oder theologischer Unterweisung, die Kinder auch in „fremde Welten“ einzuführen. Die Menschen, die in den platonischen Dialogen auftreten, sind für Kinder zunächst genauso fremd wie die Gestalten einer unbekannten Religion. Fremd meint hier nicht nur deren Nicht-Bekanntsein. Es geht vielmehr um die Kenntnis von Regeln, von Begriffen und deren Gebrauch, vielleicht um das, was Wittgenstein „Sprachspiel“ nennt. Nun ist es relativ trivial, dass neue Sachverhalte als fremd 24 Paul L. Harris, On Not Falling Down to Earth. Children’s Metaphysical Questions, in: Karl S. Rosengren / Carl N. Johnson / Paul L. Harris (Hg.), Imagining the Impossible. Magical, Scientific and Religious Thinking in Children, Cambridge/New York/Melbourne 2000, 157–178. 25 Gottfried Orth / Helmut Hanisch, Glauben entdecken – Religion lernen, Stuttgart 1998. 26 Robinson, The Original Vision (wie Anm. 11).

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erscheinen. Bleiben sie fremd, dann können wir sie nicht verstehen, um sie zu verstehen, müssen wir sie an unsere Wissensschemata assimilieren. Es geht also wohl um etwas anderes, wenn mein Dortmunder Kollege Thomas Ruster fordert, die Schüler/innen sollten die Welt der Bibel als „fremde Welt“ begreifen.27 Gemeint sind damit die Kommunikationsregeln, die in dieser fremden Welt herrschen, die es erst einmal in ihrer Fremdheit zu begreifen gilt, bevor man gleich Schlüsse für das eigene Denken zieht. Dieses othering ist zu trainieren. Was bedeutet dies für das Konzept des Theologisierens mit Kindern? So sinnvoll und wichtig es ist, dass Kinder einen emotionalen Bezug zu einer gelebten Religion entwickeln, so richtig ist es auch, deren argumentative Strukturen kennenzulernen und aktiv einzuüben. Besonders das westliche Christentum hat eine Tradition der rationalen Durchdringung des Glaubens gefördert und gepflegt, denken wir nur an Anselms berühmtes Diktum „Fides quaerens intellectum“. Von daher ist es sinnvoll und legitim, mit Kindern darüber nachzudenken, was es im Hinblick auf Gott bedeutet, einen freien bzw. keinen freien Willen zu haben, ob es für alle Menschen, auch die Bösen, eine Annahme durch Gott (vor oder nach dem Tod) geben solle und könne, ob Gott wirklich seinen Sohn hat opfern müssen zu unserem Heil usw. Solche – in der Philosophiedidaktik durchaus geläufige – Gedankenexperimente kann man sich im Hinblick auf jede Religion vorstellen. Es wird sich dabei zeigen, dass dies für die einzelnen Religionen unterschiedlich leichtfällt. Die von mir skizzierte Form des Diskurses scheint mir aber für die öffentliche Schule die angemessene Form zu sein. Es geht dabei nicht so sehr um Religionskunde oder -geschichte. Nicht ein enzyklopädisches Wissen zu diesem oder jenem Sachverhalt soll angeeignet werden. Es geht hier eher darum, die Problemlösungskapazität jedes Gedankens zu erkennen und damit aktiv operieren zu können. Im Vordergrund steht dann nicht, ob ein Gedanke von einem bestimmten Konzil, einem bestimmten Philosophen oder Theologen stammt, sondern ob er heutigen Kindern helfen kann, die Dinge zwischen Himmel und Erde, zwischen sich selbst und ihrer Umwelt besser zu verstehen. Die pädagogische Relevanz eines Themas entspringt dann der Bedeutung, die dieses Thema hat, weil es anschlussfähig an eigene Fragestellungen und Interessen ist, oder aber, weil es einfach Spaß macht, etwas „so Verrücktes“ selber zu Ende zu denken. Der „große Namen“ kann dann nur eine Zugabe sein, wie in dem Beispiel von Kundera. Allerdings wird man damit rechnen müssen, dass die interessantesten Themen im Bereich der Theologie vielleicht oft eher bei solchen Vertretern zu finden sind, die nicht im Mainstream der orthodoxen Theologiegeschichte liegen, sondern bei Autoren gerade 27 Thomas Ruster, Die Welt verstehen „gemäß der Schriften“. Religionsunterricht als Einführung in das biblische Wirklichkeitsverständnis, in: Religionsunterricht an höheren Schulen 43, 2000, 189–203.

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der frühen Heterodoxie, z.B. bei Vertretern gnostischer Überlegungen. Es geht beim Theologisieren mit solchen Gedanken ja nicht um die Frage von Heterodoxie oder Orthodoxie im Sinne einer Heilsfrage, sondern zunächst einmal um das gedankliche Durchdringen schwieriger, aber wohl nicht vermeidbarer Fragen. Im Bildungskontext pluralistischer Gesellschaften ist es legitim, Religionen nicht nur als Folklore wahrzunehmen von Weihnachten bis zum Zuckerfest, sondern auch etwas vom intellektuellen Gehalt der jeweiligen Religion zu erfahren. Nur auf der Basis solcher Voraussetzungen ist ein Dialoggedanke sinnvoll. Die intellektuelle Auseinandersetzung gerade auch mit der fremden Religion oder Weltanschauung ist substanziell für eine demokratische Gesellschaft und kann auch jedem zugemutet werden – im Gegensatz zu allen Formen der Teilnahme an performativ inszenierter Religion.

Konsequenzen Ich will an dieser Stelle nur zwei Desiderata nennen, die sich aus meinen Überlegungen ergeben. Für die christliche Tradition bräuchten wir ein Buch wie Garders „Sophies Welt“. Dies ist gewiss nicht ohne weiteres möglich. Dazu fehlt wohl auch zu sehr eine Sichtung der Traditionsstücke unter einer pädagogischen Perspektive, wie ich sie hier aufgezeigt habe. Ich bin derzeit dabei, mit Kolleg/innen eine Sammlung von solchen theologischen Stücken zu initiieren, die – entsprechend aufbereitet – die Basis für ein entsprechendes Theologisieren mit Texten und Themen der Tradition darstellen könnte.28 Wir brauchen empirische Beispiele, wie es gelingen kann, Kindern einen Einblick in fremdes Wissen zu ermöglichen, das es etwa christlichen Kindern ermöglicht, eine Fragestellung etwa auf der Basis muslimischer Voraussetzungen zu bedenken, umgekehrt natürlich auch muslimischen auf der Basis eines gesetzten christlichen Rahmens. Dasselbe gilt für Gedankenreisen in nichtreligiöse Vorstellungswelten für Glaubende und in religiöse für Nichtreligiöse. Ich bin mir an dieser Stelle über die alters- und entwicklungsgemäßen Voraussetzungen eines solchen Programms nicht ganz im Klaren. Nach den Erkenntnissen der neueren Entwicklungspsychologie dürfte das Ganze auch sehr kompetenzabhängig sein. Wer gewohnt ist, mit Bibeltexten zu arbeiten, dürfte es auch leichter haben beim Umgang mit Korantexten etc. Diese Hypothesen bedürfen der empirischen Prüfung. Nur auf einer solchen Basis wird es möglich sein, entsprechende „Lernumgebungen“ zu kreieren. 28 Dazu inzwischen Gerhard Büttner / Larissa C. Seelbach, Kinder und die großen Antworten. Generationenübergreifende Impulse für Schule und Gemeinde, Stuttgart 2019.

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Kinder – Theologie

Kinder und Theologie in einem Atemzug zu nennen, hat etwas Kühnes.1 Trotz der Etablierung des Begriffs „Kindertheologie“ mutet dieses neue Wort gleichwohl noch überraschend, ja ein bisschen provozierend an. Wir sind es gewohnt, das Wort Theologie in Verbindung mit Attributen zu lesen als Ausdruck seiner Kontextualisierung. Trotzdem ist die Verbindung zwischen Theologie auf der einen Seite, Kindern auf der anderen erklärungsbedürftig. Gewiss kennen wir die Rede vom „Kinderglauben“ in seinem schillernden Gebrauch als Vorbild des Glaubens schlechthin und als defizienter Modus in einer rationalen Erwachsenenwelt. Das Wort Theologie sah und sieht sich in besonderer Weise der Welt des bevorzugt universitären Nachdenkens und der Wissenschaft zugehörig und damit einem Kosmos, der weit entfernt von der Kinderwelt anzusiedeln ist. Trotz alledem hat sich das Konzept einer Kindertheologie oder des Theologisierens mit Kindern in einer Weise etabliert, wie das auch für die Protagonisten dieses Ansatzes kaum vorhersehbar war. Nachdem wesentliche Züge der Genese erhellt sind2 und eine grundlegende Unterscheidung3 einer Theologie der Kinder, mit Kindern und für Kinder breit akzeptiert ist, soll es nun in diesem Beitrag darum gehen, dieses Konzept mittels unterschiedlicher Untersuchungsmethoden nochmals in seiner inneren Verfasstheit und Logik und in seiner Außenwirkung genauer zu beleuchten. Ich werde dazu in einem ersten Schritt versuchen, Kindertheologie als „Diskurs“ im Sinne der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse zu begreifen und zu analysieren. In einem zweiten soll dann eine Verortung und begrifflich genauere Bestimmung im Kontext der Luhmann’schen Systemtheorie unternommen werden. Zum Schluss möchte ich dann nochmals die Unterscheidung zwischen dem Philosophieren über Religion und dem Theologisieren der Kinder thematisieren und zu neuen Klärungen durchstoßen.

1 Der Wortgebrauch „kühn“ spielt natürlich mit einer ähnlichen Formulierung in der Metapherntheorie. 2 G. Büttner / A. A. Bucher, Kindertheologie – eine Zwischenbilanz, in: ZPT 57 (2005), 35–46. 3 A. A. Bucher, Kindertheologie: Provokation? Romantizismus? Neues Paradigma? In: „Mittendrin ist Gott.“ – Kinder denken nach über Gott, Leben und Tod, Jahrbuch für Kindertheologie, Band 1, Stuttgart 2002, 9–27.

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Kindertheologie als Diskurs Die Rede von der „Kindertheologie“ hat offenbar eine große Anziehungskraft. Dies ist für einen Pionier dieses Programms zunächst einmal sehr erfreulich. Die Gefahr ist allerdings, dass dieses von unterschiedlichster Seite in Anspruch genommen werden kann und damit einerseits diffus wird, andererseits seine Intentionen und impliziten Differenzziehungen übersehen werden.4 Betrachtet man das Geschehen um den Begriff Kindertheologie genauer, dann lässt sich leicht erkennen, dass der Foucault’sche Begriff des Diskurses dieses sehr gut trifft. Dieser ist wissenssoziologischer Natur und beschreibt „den Fluss von ‚Wissen‘ bzw. ‚sozialen Wissensvorräten‘ durch die Zeit“.5 Die Diskursanalyse widmet sich nun den Texten dieses Diskurses in der Annahme, dass die individuellen Beiträger6 Teil dieses Geflechts sind:7 „Texte sind insofern niemals nur etwas Individuelles, sondern immer auch sozial und historisch rückgebunden. [… Diskursfragmente …] sind Bestandteile bzw. Fragmente von Diskurssträngen (= Abfolge von Diskursfragmenten mit gleicher Thematik), die sich auf verschiedenen Diskursebenen (= Orte, von denen aus gesprochen wird, also Wissenschaft, Politik, Medien, Alltag etc.) bewegen und in ihrer Gesamtheit den Gesamtdiskurs einer Gesellschaft ausmachen, den man sich als ein großes wucherndes diskursives Gewimmel vorstellen kann.“

4 Ein solcher Prozess lässt sich exemplarisch studieren anhand der Diskussion um die Symboldidaktik. H. Halbfas hatte den Begriff und die Sache ausdrücklich gegen den Problemorientierten Religionsunterricht positioniert (Das dritte Auge, Düsseldorf 1982, 39ff). Trotzdem haben Protagonisten dieses Ansatzes sich den Begriff „Symboldidaktik“ zu Eigen gemacht und mit ihren Inhalten gefüllt (z.B. P. Biehl, Symbole geben zu Lernen [WdL 6], Neukirchen-Vluyn 1989; J. Heumann, Symboldidaktik – Klippen und Perspektiven eines religionspädagogischen Programms, in: ders. [Hg.], Bilder, Mythen und Symbole. Ihre Bedeutung für Religionsunterricht und Jugendkultur, Oldenburg 1988, 8–34.) 5 S. Jäger, Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Münster 42004, 188. 6 Ebd., 148; „Das Individuum macht den Diskurs nicht, das Umgekehrte ist der Fall.“ Die Denkfigur einer sich selbst entwickelnden Wissensformation, die den einzelnen Autor nur quasi als „List der Vernunft“ braucht, lässt sich in der Darstellung eines Diskurses nicht ganz einlösen. Die Logik der Autorschaft im Wissenschaftsdispositiv verlangt es, einzelne Diskurspositionen immer wieder bestimmten Autoren zuzurechnen. Wir kommen hier insbesondere nicht um die Argumentation mit Autorennamen herum, da der Diskurs um die Kindertheologie noch verhältnismäßig überschaubar ist, was aus Sichtweise des sich selbst entfaltenden Wissens bedeutet, dass viele Formationselemente bisher nur durch wenige, häufig durch ein einziges Dokument belegt werden können. (Vgl. dazu M. Foucault, Was ist ein Autor? In: ders.: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 1, Frankfurt a.M. 2001, 1003–1041) 7 S. Jäger, Kritische Diskursanalyse (wie Anm. 5), 117.

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Insofern der Diskurs um die Kindertheologie nicht die ganze öffentliche Meinung durchzieht, wird man hier von einem Spezialdiskurs8 reden müssen. Wichtig wird für uns der Begriff der Diskursposition sein,9 weil davon ausgegangen wird, dass die verschiedenen Diskursteilnehmer aus spezifischen Interessen und von spezifischen Standpunkten her ihre Beiträge formulieren. Ich werde im Folgenden versuchen, auf der Basis einer sehr beschränkten Textauswahl einige Charakteristika des kindertheologischen Diskurses herauszuarbeiten. Dabei beginne ich mit einem diachronen Blick,10 um die Voraussetzungen für die Genese von „Kindertheologie“ zu klären.

Das Verhältnis zwischen Religionspädagogik und Theologie als Ausgangspunkt Der religionspädagogische Diskurs ist spätestens seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts geprägt von einer zunehmenden Distanznahme der Religionspädagogik gegenüber der Theologie. Spätestens die Schülerrebellion mit ihrer Kritik am Religionsunterricht hatte deutlich werden lassen, dass es nicht gelingen kann, in einem solchen Unterricht Theologie nur zu applizieren. Indem die Lebenswelt insbesondere der Pubertierenden und Adoleszenten in den Blick genommen wurde, wurden spezifische Modi der „Vermittlung von Glaube und Leben“ diskutiert.11 Die zunehmende sozialwissenschaftliche Kompetenz der meisten Religionspädagogen stärkte deren Selbstbewusstsein gegenüber den bloß inhaltlichen Ansprüchen einer dogmatisch argumentierenden Theologie. Klaus Wegenast hat die Diskussionslage in lange benutzten Kategorien festgehalten. Er unterscheidet ein (im Auslaufen begriffenes) Autarkiemodell, in dem die Theologie die Notwendigkeit von Didaktik leugnet, ein Dominanzmodell, das die Didaktik für seine Sache dienstbar machen will, ein Konvergenzmodell, das einen gemeinsamen Zugriff von Theologie und Didaktik auf die unterrichtliche Wirklichkeit fordert, und schließlich ein Exodusmodell, das den Religionsunterricht allein von der Logik der Schule und ihrer Didaktik her bestimmen will.12 Die Diktion macht bereits deutlich, dass die hier skizzierten Diskurspositionen sehr wohl auch machtgestützt sind, was bereits die Begrifflichkeit (Dominanz, Exodus) zum Ausdruck bringt. In der Linie des 8 Ebd., 159. 9 Ebd., 164. 10 Ebd., 169 zur Zeitdimension von Diskursen. 11 Z.B. H. Schmidt, Religionspädagogische Rekonstruktionen (Calwer Theologische Monographien, Reihe C, Band 3), Stuttgart 1977. 12 K. Wegenast, Orientierungsrahmen Religion, Gütersloh 1979, 54ff; ähnlich bereits H. Schröer, Humanwissenschaften und Religionspädagogik, in: EvErz 29 (1977), 150–177, hier 168ff.

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„Exodusmodells“ diskutierte die Religionspädagogik verschiedene Referenzwissenschaften und wies Ansprüche von Seiten der Theologie zurück.13 Es wird von dieser Ausgangslage her deutlich, dass ein expliziter Rekurs auf „Theologie“ im religionspädagogischen Diskurs nicht einfach möglich war.

Die Diskussionslage in den 90er Jahren Die Jahre nach der Wiedervereinigung waren in der Religionspädagogik geprägt von drei großen Themen:14 Es ging angesichts der besonderen religiösen Situation in den neuen Ländern in grundsätzlichen Diskussionen um die Gestalt des Religionsunterrichts und um die Auslegung von Art 7,3 GG. Das zweite Generalthema war angesichts einer immer größeren Zahl von Anhänger/innen nichtchristlicher Religionen das interreligiöse Gespräch. Dazu kam noch ein zunehmendes Interesse an religiösen Spuren in der Alltagswelt. Alle diese Trends stärkten eine Tendenz hin zu einem religionsbasierten Unterricht, der eher die universellen anthropologischen Voraussetzungen thematisieren und verstärken wollte als die spezifischen Glaubensmodi verschiedener Religionen und Konfessionen. Wer in einem solchen Kontext die Dignität theologischer Begrifflichkeit stark machen wollte, hätte riskiert, mit dem Label „Evangelische Unterweisung“ einen deutlichen Hinweis auf die Unzeitgemäßheit dieses Unterfangens zu riskieren. Ich habe hier im Wesentlichen die Diskussion innerhalb des evangelischen Lagers skizziert. Prinzipiell wird man im katholischen Raum von ähnlichen Prozessen auszugehen haben, wenngleich hier der Trend zur „Selbstsäkularisierung“15 weniger ausgeprägt ist.

Unterstützende Trends für die Kindertheologie In dieser Konstellation gab es für ein Konzept wie Kindertheologie allerdings zwei Anknüpfungspunkte. Der erste liegt in der positiven Bewertung von reformpädagogischen Ansätzen. Eine Orientierung am Kind war programmatisch durchaus 13 Als exemplarisch kann etwa der Diskurs zwischen Gerhard Sauter und Gert Otto gelten: Vgl. G. Sauter, Zur theologischen Revision religionspädagogischer Theorien, in: EvTh 46 (1986), 127–148; G. Otto, Brauchen wir eine Revision religionspädagogischer Theorien? In: EvTh 47 (1987), 350–360. 14 Eine gute Orientierung bieten die jeweiligen kommentierten Jahresbibliografien im JRP, z.B.: H.-G. Heimbrock, Religionspädagogik 1991. Ein Literaturbericht, JRP 8 (1992), 255–275; H.F. Rupp, Religionspädagogik 1992. Ein Literaturbericht, JRP 9 (1993), 201–224; F.-H. Beyer, Religionspädagogik 1993. Ein Literaturbericht, JRP 10 (1994), 245–270; H. Noormann, Religionspädagogik 194. Ein Situations- und Literaturbericht, JRP 11 (1995), 213–246; R. Englert, Religionspädagogik 1995. Ein Situations- und Literaturbericht, JRP 12 (1996), 237–266. 15 W. Huber, Kirche in der Zeitenwende, Gütersloh 1998, 31.

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geboten. Durch die „empirische Wende“16 bedeutete dies aber auch zunehmend die Notwendigkeit, sich an den Voraussetzungen und Denkweisen realer Kinder zu orientieren. Insofern konnte „Schülerorientierung“ nicht ein abstraktes Prinzip bleiben, sondern musste die Optionen der Kinder bedenken, auch dort, wo deren Denken „frömmer“ war, als dies der Mainstream wahrzunehmen bereit war. Kindliches Denken in religiösen Themenfeldern folgt eben auch in einem säkularisierteren Kontext den Modi des „Kinderglaubens“.17 Klassische Topoi wie Himmel und Hölle18 sind Kindern von ihren Weltbildvoraussetzungen her geläufig,19 sie fragen nach dem „Wie“ einer Sache, nicht nach deren Geworden-Sein. Mit der prinzipiellen Anerkenntnis, dass Kinder spezifisch anders denken als Jugendliche und Erwachsene, musste man auch inhaltlich konzedieren, dass die Inhalte des Kinderglaubens ein legitimes Eigenrecht haben und nicht nur unter dem Aspekt erscheinen, möglichst bald durch eine „reifere“ Version ersetzt zu werden.20 Nun ist Kinderglaube keinesfalls identisch mit Theologie, aber er setzt zumindest Themen auf die Agenda, die zu deren Gegenstandsbereich gehören. Etwa zur gleichen Zeit wurde auch von Religionspädagogen 21 zumindest vereinzelt wahrgenommen, dass im Bereich Philosophie/Ethik ein Interesse für philosophische Fragen im Kontext von Kindheit und Jugend entstand.22 Nun machte aber die Lektüre der Schriften G. Matthews und H.-L. Freeses deutlich, dass die Gespräche mit den Kindern über philosophische Fragen häufig religiöse Themen implizierten. Diese Beobachtung führte nun zu zwei Schlussfolgerungen: Wenn Kinder, dort wo man ihr Nachdenken und Diskutieren fördert, zu religionsphilosophischen, z.T. sogar explizit theologischen Themen neigen, dann kann man ihnen solche etwa im Kontext des Religionsunterrichts nicht ohne weiteres vorenthalten. Wenn es den Philosophen gelingt, eine solche Gesprächskultur zu Themen von theologischer Relevanz zu etablieren, dann stellt sich die Frage einer möglichen Übertragbarkeit auch für den Bereich der Religionspädagogik. Die Provenienz aus dem Bereich der Philosophie zerstreut zugleich implizite Indoktrinationsvorwürfe, 16 Vgl. K. Wegenast, Die empirische Wende in der Religionspädagogik (1968), wieder abgedruckt in: Lern-Schritte. Vierzig Jahre Religionspädagogik 1955–1995, hg. von K. Wegenast, G. Bitter, P. Cornehl, O. Fuchs, Stuttgart 1999, 34–50. 17 R. L. Fetz, Der Kinderglaube. Seine Eigenart und seine Bedeutung für die spätere Entwicklung, in: E. Groß (Hg.), Der Kinderglaube, Donauwörth 1995, 22–35. 18 A. A. Bucher, „Wenn wir immer tiefer graben … kommt vielleicht die Hölle“, in: KatBl 114 (1989), 654–662. 19 A. A. Bucher, Das Weltbild des Kindes, in: G. Büttner / V.J. Dieterich (Hg.), Die religiöse Entwicklung des Menschen, Stuttgart 2000, 199–215. 20 Vgl. hier die Kontroverse zwischen B. Grom, Zurück zum alten Mann mit Bart? In: KatBl 114 (1989), 790–793 und A.A. Bucher, „Wenn wir immer tiefer graben …“ (wie Anm. 18). 21 Vgl. etwa R. Oberthür, Kinder und die großen Fragen, München 1995, 17. 22 Öffentlichkeitswirksam etwa in J. Gaarders Bestseller „Sophies Welt“, München 1999.

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macht sie doch deutlich, dass Kernfragen auch des christlichen Glaubens sehr wohl einer rationalen Diskussion mit Kindern zugeführt werden können.

Das „Jahrbuch für Kindertheologie“ Mitte der 90er Jahre gab es wohl an mehreren Orten Überlegungen, eine religionspädagogische Publikation ins Leben zu rufen, die ihren Schwerpunkt beim Vorschul- bzw. Grundschulalter haben sollte. Die Idee lag nahe, weil der religionspädagogische Diskurs spätestens seit den 60er Jahren meist von den Sekundarstufen ausgegangen war und dann quasi in reduzierter Form auf die Primarstufe übertragen werden sollte. Faktisch waren aber zunehmend die Innovationen wie Symboldidaktik oder Formen der freien Arbeit von der Grundschule ausgegangen und hatten ihren Weg in höhere Altersstufen gefunden. Eine neue Publikation wäre also nur das konsequente Resultat dieser Konstellation. Dem Initiator eines solchen Projektes stellte sich u.a. die Frage des Namens. Dem von mir ins Auge gefassten Titel „Kind und Glaube“23 wurde entgegengehalten, dass das Wort Glaube auch den Begriff „Unglaube“ impliziere, was angesichts der empirischen Ausrichtung des Projektes weder sinnvoll noch stimmig gewesen wäre. Den Vorschlag „Kind und Religion“ wollten wir aus den oben erläuterten Gründen aber keinesfalls. In dieser Situation schlug Anton Bucher den Titel „Jahrbuch für Kindertheologie“ vor. Das war insofern riskant, weil es gute Gründe gab und gibt, den Begriff „Kindertheologie“ zugunsten der Verbalform „theologisieren“24 oder „theologische Gespräche führen“25 eher zu vermeiden.26 Die geschilderte Episode kann verdeutlichen, inwiefern die Begriffswahl bereits einen wichtigen Schritt bei der Positionierung im Diskursfeld darstellt. Deutlich ist demnach, dass der Begriff der Kindertheologie eine Abgrenzung gegenüber den Versuchen darstellt, das religionspädagogische Diskursfeld vom Begriff der Religion oder der Religiosität her zu bestimmen. Neben dieser Abgrenzung scheint es mir hilfreich, das Ausgespanntsein dieses Begriffs genauer nachzuzeichnen. Nach den bisherigen Ausführungen ergeben sich dabei zwei Fluchtpunkte: die Kinderphilosophie auf der einen, die christliche Theologie auf der anderen Seite. Mir erscheint es sinnvoll, diese Diskurspositionen 23 M. J. Langeveld, Das Kind und der Glaube: Einige Vorfragen zu einer Religionspädagogik. Braunschweig u.a. 1964. 24 G. Büttner / H. Rupp (Hg.), Theologisieren mit Kindern, Stuttgart u.a. 2002. 25 So P. Freudenberger-Lötz, Religiöse Bildung in der neuen Schuleingangsstufe. Religionspädagogische und grundschulpädagogische Perspektiven, Stuttgart 2003, 239, Anm. 126. 26 In Anlehnung an S. Englhart, Modelle und Perspektiven der Kinderphilosophie, Heinsberg 1997.

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im Kontext des jeweils mit gemeinten Umfeldes zu bedenken. Dazu ziehe ich die Nipkow’sche Unterscheidung zwischen einem „gegebenen Einverständnis“ und einem „nicht gegebenen Einverständnis“ heran.27

Kindertheologie im Kontext der Kinderphilosophie In der Logik meiner obigen Ausführungen steht die Möglichkeit, das Projekt Kindertheologie als Spezialform der Kinderphilosophie zu betrachten. In diese Richtung geht der Beitrag von Ekkehard Martens, einem der deutschen Protagonisten des Konzepts „Kinderphilosophie“.28 Ausgehend von der Beobachtung, dass besonders in den Bildungsplänen des Vorschulbereichs Philosophieren und Theologisieren programmatisch gefordert werden, formuliert er eine Kriteriologie für solche Aktivitäten im Anschluss an die Praxis des Sokrates in den platonischen Frühdialogen.29 Mit Schweitzer30 plädiert er für ein bestimmtes Reflexionsniveau bei diesem Tun:31 „Beide, Kinderphilosophie und Kindertheologie, haben […] bei allen Unterschieden jedenfalls das eine in ihrem Anspruch gemeinsam: das Nachdenken über Erfahrungen, Behauptungen und Wahrheitsansprüche.“

Gleichwohl gründet sich diese Praxis auf ein Methodenrepertoire, das neben der Diskussion z.B. die Arbeit mit Bildern oder das Spiel kennt und schätzt.32 Martens nimmt eine gegenseitig bereichernde Perspektive von Kinderphilosophie und Kindertheologie wahr und sieht beide konvergieren im philosophischen „Nachdenken mit Kindern über Grund-Fragen unseres endlichen Daseins“:33 „Während das philosophische Nachdenken in der Philosophie zu keiner inhaltlichen Sicherheit führt, beruht es in der christlichen Religion auf einer Hoffnung im Glau27 K. E. Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt, Bd. 2: Religionspädagogik im Pluralismus, Gütersloh 1998, 223ff unterscheidet vier Varianten des gegebenen bzw. nicht gegebenen Einverständnisses, die ich hier zu zwei zusammenziehe. 28 Vgl. z.B. E. Martens, Philosophieren mit Kindern. Eine Einführung in die Philosophie, Stuttgart 1997. 29 E. Martens, Kinderphilosophie und Kindertheologie – Familienähnlichkeiten, in: „Kirchen sind ziemlich christlich“ – Erlebnisse und Deutungen von Kindern, Jahrbuch für Kindertheologie, Band 4, Stuttgart 2005, 12–28, hier 19ff. 30 F. Schweitzer, Was ist und wozu Kindertheologie? In: „Im Himmelreich ist keiner sauer“ – Kinder als Exegeten, Jahrbuch für Kindertheologie, Band 2, Stuttgart 2003, 9–18. 31 Martens, Kinderphilosophie und Kindertheologie (wie Anm. 29), 18. 32 Ebd., 20. 33 Ebd., 27.

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ben, die nicht infrage gestellt wird. Beide Formen des Nachdenkens vollziehen sich aus einer unterschiedlichen säkularen und religiösen Perspektive.“34

Martens möchte beide Perspektiven beieinander halten, aber die spezifisch christliche Perspektive weiten und andere religiöse Deutungsmuster mit heranziehen.35 Mit Martens eröffnet sich der Kindertheologie im Gefolge ihres verwandten Ansatzes eine bildungstheoretische Perspektive, wenn ihr der Status einer grundlegenden Kulturtechnik zukäme.36 Ein solches Selbstverständnis macht den Ansatz gesprächsfähig gerade in einem beginnenden europäischen Diskurs. In Großbritannien und Skandinavien geht es inzwischen ja darum, gerade den Bildungscharakter christlicher Überlieferung herauszustreichen.37 In dieser Richtung liegt auch die Anschlussfähigkeit des Theologisierens mit Kindern an die Dilemma-Diskussion, wie sie die Theorien zum Moralischen und zum Religiösen Urteil entwickelt haben.38 Anton Bucher hatte den Begriff der Kindertheologie einst im Kontext eines solchen Diskussionsprozesses von Kindern erstmals verwendet.39 In einem Bildungsdiskurs kann man für das Theologisieren mit Kindern demnach mindestens die drei Argumente einbringen, dass es dem Denken und dem rationalen Diskurs zuträglich ist, dass es zur Förderung des moralischen und religiösen Urteils führt 34 Ebd. 35 Ebd., 28. Martens’ Argumentation ist auch zu verstehen auf der Basis der spezifischen Hamburger Situation mit ihrem „Religionsunterricht für alle“. Vgl. dazu B. Brüning / K. Pahlke, Religions- und Ethik-/Philosophieunterricht in Hamburg, in: ZDPE 28 (2006), 75–76. Zur Frage der gegenseitigen Bestimmung von Theologisieren und Philosophieren mit Kindern auch H.-B. Petermann, Wie können Kinder Theologen sein? Bemerkungen aus philosophischer Perspektive, in: Büttner / Rupp (Hg.), Theologisieren mit Kindern (wie Anm. 24), 95–127, hier 109ff. 36 E. Martens, Lesen, Schreiben, Rechnen – Philosophieren als vierte Kulturtechnik. Konsequenzen aus Kants Didaktik, in: S. Dietz u.a. (Hg.), Sich im Denken orientieren. Für H. Schnädelbach, Frankfurt/M. 1996, 71–83. 37 Für England vgl. R. Homan, R., Religion and literacy: observations on religious education and the literacy strategy for secondary education in Britain, in: British Journal of Religious Education 26/1 (2004), 21–32; T. Copley, Young People, Biblical Narrative and „Theologizing“: A UK Perspective, in: Religious Education 100 (2005), 254–266. 38 Zum Moralischen Urteil vgl. L. Kohlberg, Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt/M. 1995, speziell zu biblischen Dilemmata M. M. Blatt / L. Kohlberg, The Effects of Classroom Moral Discussion upon Children’s Level of Moral Judgement, in: G. Büttner / V.-J. Dieterich (Hg.), Die religiöse Entwicklung des Menschen, Stuttgart 2000, 67–78. Zum Religiösen Urteil F. Oser / P. Gmünder, Der Mensch – Stufen seiner religiösen Entwicklung, Gütersloh 41996 und F. Oser, Wieviel Religion braucht der Mensch? Gütersloh 1988. Vgl. auch L. Kuld / B. Schmid, Lernen aus Widersprüchen. Dilemmageschichten im Religionsunterricht. Donauwörth 2001. 39 A. A. Bucher, Kinder und die Rechtfertigung Gottes? – Ein Stück Kindertheologie, in: Schweizer Schule 10 (1992), 7–12.

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und dass theologische Denkfiguren als Teil des kulturellen Gedächtnisses40 bzw. einer gepflegten Semantik41 erhalten bleiben. Es verwundert nun nicht, dass eine Profilierung des Diskurses in dieser Richtung entsprechende Kritik auf den Plan ruft. So monieren Christian Grethlein und Christhard Lück in einem solchen Ansatz die Gefahr einer rationalistischen und somit nicht kindgemäßen Engführung und erhoffen sich von der Begegnung mit einem Gegenstand religiöser Praxis eher theologische Einsichten.42 Ob die Vermutungen zur Methode zutreffen, mag man nach Martens Hinweisen eher bezweifeln, berechtigterweise kann man aber von einer explizit religionspädagogischen oder einer christlich-theologischen Diskursposition her Kindertheologie anders bewerten.

Kindertheologie im religionspädagogischen Diskurs Bewegt sich Religionsunterricht in einer Situation des „nicht gegebenen Einverständnisses“, wird er sich nicht allzu weit von Martens‘ Entwurf entfernen können. Die Verfassungskonstruktion des Grundgesetzes sieht nun von Art. 7,3 GG her eher eine Konstellation vor, in der Schüler/innen eine Wahl haben. Soweit sie also am Religionsunterricht (einer bestimmten Konfession) teilnehmen, nehmen sie deren Rekursnahme auf Glaubensaussagen zumindest implizit in Kauf. Dabei steht ein breites Repertoire von Zugängen und Methoden zur Verfügung: bibelbezogene, theologisch-begriffsorientierte oder auch solche im Anschluss an religiöse Praxis.43 Von daher gesehen ist der kindertheologische Ansatz im Prinzip anschlussfähig an unterschiedliche didaktische Präferenzen und findet dort zustimmende Auf40 J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, München 1999, 20f. 41 N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik – Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1993, 19f. 42 Ch. Grethlein / Ch. Lück, Religion in der Grundschule. Ein Kompendium, Göttingen 2006, 56. Dass sie ihre Argumentation gerade an einem Praxisbeispiel von Petra Freudenberger-Lötz festmachen wollen, ist eher ein Fauxpas. 43 Petra Freudenberger-Lötz hat im Rahmen eines Forschungsprojektes über zwei Schuljahre hinweg einerseits die Themen des Lehrplans bearbeitet, dabei aber den verschiedenen Inhalten jeweils ihre kindertheologische Potenz entlockt. Für die genannten Aspekte beispielhaft: (biblisch) Theologische Gespräche mit Kindern in der Grundschule, in: KatBl 130 (2005), 348–351; (systematisch-theologisch) Ein Kraftstrahl von Gott. Sündenvergebung – ein Thema für die Grundschule, in: entwurf 4/2004, 15–19; (religiöse Praxis) „Mich kitzelt es überall und ich fühle mich nicht verlassen“ – Beten im Religionsunterricht“, in: „Kirchen sind ziemlich christlich.“ – Erlebnisse und Deutungen von Kindern, Jahrbuch für Kindertheologie, Band 4, Stuttgart 2005, 163–167. Dasselbe könnte man im Hinblick auf die Bücher von R. Oberthür sagen: Kinder und die großen Fragen (wie Anm. 21); Kinder fragen nach Leid und Gott, München 1998; Die Seele ist eine Sonne, München 2000.

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nahme.44 Fließend ist noch die Positionierung des kindertheologischen Ansatzes gegenüber dem Projekt eines „Performativen Religionsunterrichts“.45 Ich kann an dieser Stelle keine genaueren Annahmen in Hinblick auf Verschränkungen und Distanzierungen beider Ansätze machen. Einige vorsichtige Beobachtungen sollen hier dennoch mitgeteilt werden. Soweit der Performative Religionsunterricht (unter teilweiser Wiederaufnahme von Praktiken der Ev. Unterweisung)46 Formen gelebten Glaubens im Unterricht praktiziert und darüber Gespräche organisiert (semiotisch gedeutet oder nicht), sehe ich dies als eine legitime Spielart von Theologisieren mit Kindern an. Fragwürdig sind für mich Ansätze, die sich vorwiegend auf ästhetische oder allgemeinreligiöse Deutungsmuster konzentrieren und den expliziten Bezug auf Topoi der klassischen christlichen Theologie eher meiden. Im Hinblick auf den probierenden Umgang mit liturgisch-gottesdienstlichen Formen47 wäre ich in Bezug auf Schüler/innen ohne christlichen Hintergrund eher vorsichtiger zugunsten einer Hochschätzung von Gedankenexperimenten48 , die im Prinzip allen Schüler/innen zuzumuten sind. Nun zeigt allerdings bereits diese Skizze, dass der religionspädagogische Diskurs sich wieder stärker im Rahmen klassischer Referenzen bewegt, angefangen vom Interesse an gelebtem Glauben bis hin zu einer verstärkten Wahrnehmung von Theologie.

Kindertheologie im theologischen Diskurs Es wurde bereits oben darauf verwiesen, dass (nicht zuletzt mit der Wahl des Namens) den Protagonisten der Kindertheologie daran gelegen war, den Diskurs mit der systematischen Theologie aufzunehmen. Offenbar hat sich die Gesprächssituation zwischen den klassischen Fächern der Theologie und der religionspäda44 Neben Grethlein / Lück, Religion in der Grundschule (wie Anm. 42); G. Hilger / W. H. Ritter, Religionsdidaktik Grundschule. München / Stuttgart 2006, 92ff bis hin zu der Überlegung von H. Schluß, Ein Vorschlag, Gegenstand und Grenze der Kindertheologie anhand eines systematischen Leitgedankens zu entwickeln, in: ZPT 57 (2005), 23–35, hier 23f, ob Kindertheologie nicht den Begriff der Religionspädagogik ablösen könne. 45 Als Überblick vgl. H. Schroeter-Wittke, Performance als religionspädagogische Kategorie. Prospekt einer performativen Religionspädagogik, in: Th. Klie / S. Leonhard (Hg.), Schauplatz Religion, Leipzig 2003, 47–66. 46 Vgl. G. Büttner, Praxisspuren, in: ders. (Hg.), Die Praxis der Evangelischen Unterweisung (AHRp 3), Jena 2004, 153–168. 47 Vgl. H. Roose, Performativer Religionsunterricht zwischen Performance und Performativität, in: Loccumer Pelikan, H. 3, 2006. 48 Vgl. Th. S. Kuhn. Eine Funktion für das Gedankenexperiment, in: ders., Die Entstehung des Neuen (hg. von L. Krüger), Frankfurt a.M. 1997, 327–356; H. Engels, „Nehmen wir an …“ Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, Weinheim/Basel 2004.

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gogischen Fächern generell verbessert.49 Im katholischen Raum erfolgt der theologische Rekurs meist in Richtung Karl Rahner.50 Protestantischerseits haben sich vier Systematiker explizit zum Thema geäußert, so dass es sinnvoll und möglich ist, deren Positionen hier kurz zu skizzieren. Oswald Bayer51 arbeitet mit einem sehr umfassenden Begriff von Theologie. Der Mensch, und also auch das Kind, ist mit seinem Glauben und Denken, eigentlich bereits mit seiner Existenz, in einem weiten Sinne „Theologe“. Dieses Theologe-Sein kann dann durch Reflexion noch modifiziert werden, wird aber nicht dadurch begründet. Wilfried Härle52 beginnt seine Überlegungen zur Kindertheologie ebenfalls mit anthropologischen Aussagen zum Kindsein. Da er von seinem dogmatischen Ansatz her die Laientheologie als reflektierten Glauben hochschätzt53 und in der Universitätstheologie nur einen Sonderfall sieht, fällt es ihm nicht schwer, Kinder auch explizit als „Produzenten von Theologie“54 anzusehen. Für die Erwachsenen bietet deren spezifische Art zu fragen und zu artikulieren eine immer neue Herausforderung. Gehen Bayer und Härle in ihrer Einschätzung der Kindertheologie letztlich von einer theologischen Anthropologie aus, so formulieren Ernstpeter Maurer und Rainer Anselm eher aus der Logik der Theologie heraus. Maurer55 macht deutlich, dass eine Theologie mit ihrer Reflexionskultur letztlich eine Besonderheit des westlichen Christentums ist. Diese Struktur weiß er vor allem neutestamentlich begründet. Gleichzeitig sieht er aber gerade in der Naivität des kindlichen Fragens und der ganzheitlichen Aufnahme biblischer Geschichten durch Kinder Grundmuster christlicher Existenz mit ihrem Wissen vom Geschenk des Glaubens, der gleichwohl zu pflegen ist. Wie Härle betont er die produktive Irritation, die von kindlichem Nachdenken für Er-

49 Dies zeigt nicht zuletzt ein Buch wie M. Rothgangel / E. Thaidigsmann (Hg.), Religionspädagogik als Mitte der Theologie? Religionspädagogische Disziplinen im Diskurs, Stuttgart u.a. 2005. Die Veränderung dürfte zwei Gründe haben, der von T.S. Kuhn schon geäußerte Verdacht, dass Paradigmenwechsel auch ein Generationenproblem seien, und die Tatsache, dass inzwischen die Ausbildung von Religionslehrer/innen die Hauptaufgabe auch der Theologischen Fakultäten geworden ist. 50 Bucher, Kindertheologie (wie Anm. 3), 10f; U. Kropač, „Kindertheologie“: eine neue Formel auf dem Prüfstand, in: KatBl 131 (2006), 86–92, hier 88. 51 „Jeder Mensch ist Theologe“ – also auch Kinder? Interview mit O. Bayer, in: ZPT 57 (2005), 3–11. 52 W. Härle, Was haben Kinder in der Theologie verloren? Systematisch-theologische Überlegungen zum Projekt einer Kindertheologie, in: „Zeit ist immer da“ – Wie Kinder Hoch-Zeiten und Festtage erleben. Jahrbuch für Kindertheologie, Band 3, Stuttgart 2004, 11–27. 53 W. Härle, Dogmatik, Berlin/New York ²2000. 54 Härle, Was haben Kinder in der Theologie verloren? (wie Anm. 52), 22ff. 55 E. Maurer, Theologie mit Kindern – eine christliche Spezialität? In: „Vielleicht hat Gott uns Kindern den Verstand gegeben“ – Ergebnisse und Perspektiven der Kindertheologie, in: Jahrbuch für Kindertheologie, Band 5, Stuttgart 2006, 26–37.

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wachsene ausgeht. Rainer Anselm56 geht in seiner Überlegung zur Kindertheologie von der Unterscheidung der altprotestantischen Dogmatik zwischen Theologia acroamatica und Theologia catechetica aus. Im Hinblick auf letztere gilt:57 „Das Glaubenswissen drängt zur Kommunikation und bedarf daher entsprechender Formen, in denen es kommuniziert werden kann. Diese Kommunikationsformen für das je individuelle Glaubenswissen bereitzustellen, ist Aufgabe einer zeit- und situationsgemäßen Theologia catechetica und damit auch der Kindertheologie.“

Diese Theologia catechetica bedarf aber nach Anselm als Gegenüber der Theologia acroamatica, die in ihrem Beitrag zur Kirchenleitung die Wahrheitsfrage klärt, im „Interesse des Einzelnen an intersubjektiver Vergewisserung des eigenen Glaubenswissens im Horizont der christlichen Gemeinde“58. Diese soll bewusst normativ wirken59 gerade auch gegenüber der Pluralität des Glaubenswissens, wie es nicht zuletzt auch in der Kindertheologie manifest wird.60 Die Differenzen der einzelnen Positionen ergeben sich nicht zuletzt aus dem dabei gebrauchten Theologiebegriff. Eigentlich alle Autoren ziehen mehr oder weniger ausgeprägt Differenzen zwischen verschiedenen Theologien in ihre Argumentation ein. Dabei ist zu fragen, wieweit die einzelnen Beiträge das Verhältnis der unterschiedenen „Theologien“ eher funktional ergänzend oder hierarchisch konzipieren. Bei Maurer und Anselm ist eine Lesart, die der systematischen Theologie eine Dominanzposition zuschreibt, zumindest naheliegend. Diese ergibt sich bei ihnen aus der Invisibilisierung des Beobachters. Bei Bayer und Härle werden unterschied­ liche Beobachter unterschieden: Kinder, Laien und wissenschaftliche Theologen. Alle „beobachten“ die Bibel als Wort Gottes und machen sich ihre Gedanken. Dies führt in der Regel zu Unterschieden, wenn nicht im Inhalt, dann zumindest in der Form. Bei Maurer und Anselm wird der Beobachterstatus von Kindern und Laien („Glaubenswissen“) markiert, der der wissenschaftlichen Theologie aber nicht. Das erweckt den Eindruck, als würde dort unbeeindruckt von der auch dort gegebenen Beobachter­ situation ein unmittelbarer Zugang zur „Wahrheit“ bestehen.61 56 R. Anselm, Verändert die Kindertheologie die Theologie? In: „Vielleicht hat Gott uns Kindern den Verstand gegeben.“ Ergebnisse und Perspektiven der Kindertheologie, Jahrbuch für Kindertheologie, Band 5, Stuttgart 2006, 13–25. 57 Ebd., 25. 58 Ebd., 15. 59 Ebd., 20. 60 Ebd., 24. 61 Empirisch wäre ohnehin zu fragen, ob die im Prinzip einleuchtende Lehramtfunktion der wissenschaftlichen Theologie sich in der Kirchengeschichte so nachvollziehen lässt. Genannt seien nur die Auseinandersetzung zwischen Lutherischer Orthodoxie und Pietismus oder der Kirchenkampf im Dritten Reich.

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Fazit zum Diskurs um die Kindertheologie Wir sehen den Diskurs um die Kindertheologie zentriert um die drei Pole Kinderphilosophie, Religionspädagogik und systematische Theologie. Jeder dieser Teildiskurse folgt dabei eigenen Ansprüchen und Logiken. Vermutlich wird das Projekt Kindertheologie die damit gegebene Komplexität nicht durch eine einseitige Zuordnung reduzieren können, sondern im Sinne der Systemtheorie durch den Aufbau von Eigenkomplexität in geregelte Beziehungen überführen müssen.

Kindertheologie als Programm Ich habe bereits oben Hinweise erwähnt, Kindertheologie als religionspädagogische Konzeption zu begreifen. Nun haben Peter Biehl und Martin Rothgangel dafür plädiert, statt voneinander abweichenden Konzeptionen eher von didaktischen Strukturen zu sprechen.62 Kindertheologie fiele dort mit sehr differenten anderen Ansätzen unter die „subjektorientierte Struktur“.63 Geht es eher um eine didaktische Perspektive oder eher um eine Methode? Ich möchte im Folgenden versuchen, Kindertheologie als „Programm“ zu begreifen. Ich stütze mich dabei auf systemtheoretische Überlegungen Niklas Luhmanns. Dieser unterscheidet einerseits gesellschaftliche Funktionssysteme mit je eigenem Code und Programm, andererseits unterschiedliche Sozialsysteme.64 Beginnen wir mit Ersteren. Im Fall der Kindertheologie betrifft dies das Wissenschafts- und das Erziehungssystem. Die Theologie als Wissenschaft unterscheidet Interpretationen der religiösen Unterscheidung von Transzendenz/ Immanenz in wahre und falsche. In diesem Sinne kann man die oben referierten systematisch-theologischen Beiträge dann als Disput darüber lesen, inwieweit die theologierelevanten Äußerungen von Kindern die Unterscheidung Immanenz/Transzendenz angemessen treffen und damit als Wahrheit anzusehen sind. Diese zunächst rein wissenschaftliche Kommunikation kann aber dahingehend für die religiöse Erziehung von Relevanz werden, wenn das Erziehungssystem die theologische Wahrheit als Programm implementiert, das seinen Code steuert.

62 P. Biehl / M. Rothgangel, Konzeptionen und Strukturen, in: M. Wermke u.a. (Hg.), Religion in der Sekundarstufe II. Ein Kompendium, Göttingen 2006, 183–218. 63 Ebd., 205ff. 64 Funktionssysteme sind dabei Recht, Wirtschaft, Politik, Religion, Erziehung. Sozialsysteme sind Organisationssysteme, in denen über Rollen kommuniziert wird, Interaktionssysteme, in denen eine Kommunikation unter Anwesenden stattfindet, und schließlich psychische Systeme als das, was man landläufig Personen nennt.

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Schülerzentrierung und Kindertheologie Im Erziehungssystem stellt sich dann die Frage anders. Niklas Luhmann sieht die Codeorientierung des Erziehungssystems besser/schlechter erzogen primär bezogen auf dessen Selektionsfunktion.65 Mit Veit-Jakobus Dieterich bin ich der Meinung, dass das Erziehungssystem die Unterscheidung „besser/schlechter erzogen“ nicht nur horizontal im Zuge der Selektion vornimmt, sondern auch vertikal auf der Zeitschiene, wo der einzelne Edukand jeweils unter dem Aspekt betrachtet wird, was er gelernt hat oder lernen soll.66 Im Hinblick auf die religiöse Erziehung wird der Gegenstand, auf den sich die Unterscheidung „besser/schlechter erzogen“ bezieht, durch ein Programm geregelt, im Religionsunterricht z.B. konkret durch den Lehrplan. Im Hinblick auf die Kindertheologie käme dann als Programm des Erziehungssystems die „Schülerorientierung“ dazu. Die Unterscheidung Immanenz/Transzendenz wäre also im Unterricht dergestalt zu treffen, dass insbesondere die Äußerungen der Kinder selbst der positiven Codeseite zuzuordnen wären. Ich werde im Folgenden zeigen, dass diese Koppelung nicht unproblematisch ist. Ich rekurriere dabei zunächst auf allgemeinpädagogische Aussagen. Ich wähle dazu mit Wolfgang Klafki einen Erziehungswissenschaftler, der in der Religionspädagogik als besonders anschlussfähig gilt.67 Klafki68 konkretisiert den Gedanken der Schülerorientierung an drei Stellen: in der Einbeziehung der Schüler/innen bei der Mitplanung des Unterrichts, bei der Einbettung der Unterrichtsthemen in die Lebenswelt der Kinder und schließlich in der generellen Orientierung des Unterrichts am Gedanken der Emanzipation. Interessant ist nun die Rezeption dieser Gedanken in der Religionspädagogik. Gerade der Problemorientierte Unterricht hat sich diese Gedanken zu Eigen gemacht.69 Im Hinblick auf unsere Stichworte Kinder und Theologie wäre zu fragen, ob dieser Ansatz gerade von seinem politischen Anspruch her nicht häufiger der Unterscheidung des Moralsystems „erwünscht/unerwünscht“ folgt als der des Religionssystems.70 Zudem wäre zu prüfen, ob dieses Konzept wirklich am einzelnen Schüler/an der 65 N. Luhmann, Codierung und Programmierung. Bildung und Selektion im Erziehungssystem, in: ders., Schriften zur Pädagogik (hg. von D. Lenzen), Frankfurt a.M. 2004, 23–47. 66 G. Büttner / V.-J. Dieterich, Religion als Unterricht. Ein Kompendium, Göttingen 2004, 71ff. 67 Vgl. etwa K.E. Nipkow, Elementarisierung als Kern der Unterrichtsvorbereitung, in: KatBl 111 (1986), 600–608. 68 W. Klafki, Die bildungstheoretische Didaktik, in: H. Gudjons u.a. (Hg.), Didaktische Theorien, Hamburg 61991, 10–26, hier 13ff. 69 Vgl. Biehl / Rothgangel, Konstruktionen und Strukturen (wie Anm. 62), 192ff. 70 Büttner / Dieterich, Religion als Unterricht (wie Anm. 66), 115ff; zum Emanzipationsbegriff und seiner Kompatibilität in der Religionspädagogik kritisch Schmidt, Religionspädagogische Rekonstruktionen (wie Anm. 11), 35ff.

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einzelnen Schülerin interessiert war.71 Die bei Biehl/Rothgangel72 getroffene Unterscheidung einer explizit „subjektorientierten didaktischen Struktur“ im Kontrast zum problemorientierten Ansatz vertieft den Verdacht, dass dies zumindest nur sehr eingeschränkt dort geschieht. Wechseln wir die Beobachterperspektive vom Funktionssystem hin zum Sozialsystem Schulklasse. Betrachtet man die unterrichtliche Realität vieler schülerorientierten Verfahren wie Stationenlernen, Freiarbeit etc. Häufig leiden diese unter einer gewissen Trivialisierung und einem Mangel an Diskussionskultur,73 so dass die Frage der Schülerorientierung im Kontext des Theologisierens mit Kindern nochmals separat zu stellen ist. Prüft man die unterrichtsnahen Überlegungen zu einem konstruktivistisch orientierten Religionsunterricht, dann wird dort ein explizites Interesse an den Beiträgen der einzelnen Schüler/innen sichtbar.74 Die theologische Qualität dieser Beiträge ergibt sich nicht zuletzt aus der je spezifischen Lernumgebung. Wenn von außen theologisch relevante Fragestellungen „irritieren“, dann ist zu erwarten, dass die Kommunikation mit theologisch gehaltvolleren Beiträgen reagieren wird. Kindertheologie bedeutet also auf der Ebene des Sozialsystems Schulklasse die Bereitstellung eines theologisch relevanten Lernangebots und gleichzeitig ein Interesse an den Beiträgen des einzelnen Schülers/der einzelnen Schülerin. Indem die Kommunikation dieses theologische Thema transportiert, trägt sie gleichzeitig zu dessen Tradierung bei. Als Programm bedeutet Kindertheologie, Gespräche so zu organisieren, dass sie den Ansprüchen der Theologie entsprechen können und gleichzeitig ausgerichtet sind an den Denk- und Argumentationsweisen des einzelnen Kindes. Dies impliziert die Entwicklung und Pflege einer Gesprächskultur einerseits, ein Interesse an der Bewahrung und Entfaltung theologischer Denkfiguren andererseits.

71 Wahrscheinlich ließe sich zeigen, dass der Problemorientierte Religionsunterricht zwar die Perspektive von Pubertierenden und Adoleszenten trifft und diese verallgemeinert und deshalb die der Kinder gerade verfehlt. 72 Biehl / Rothgangel, Konzeptionen und Strukturen (wie Anm. 62), 205ff. 73 Vgl. Chr. Lehmann, Freiarbeit – Vehikel für postmoderne Beliebigkeit, in: G. Büttner (Hg.), Lernwege im Religionsunterricht. Konstruktivistische Perspektiven, Stuttgart 2006, 195–206. 74 H.-P. Eggerl, „Alles bleibt anders.“ Die Folgen einer konstruktivistischen Unterrichtskultur für den Aufbau einer Religionsstunde; ders. / C. Schäble / T. van Vugt, Abschied vom Stundenziel?; J. Kraus, „Nichts Neues unter der Sonne?“ Eine Feldstudie zur konstruktivistischen Deutung von Religionsunterricht, alle in: H. Mendl (Hg.), Konstruktivistische Religionspädagogik. Ein Arbeitsbuch, Münster 2005, 51–62, 63–82, 105–119.

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Kindertheologie als „natürliche Theologie“? In einem letzten Schritt soll nochmals die Unterscheidung zwischen Kinderphilosophie und -theologie thematisiert werden. Es geht dabei in einer spezifischen Weise um den Inhalt der Kinderbeiträge. Nach einer größeren Studie zu den (kinder-) theologischen Konzepten 10–12-jähriger Kinder sehen Gottfried Orth und Helmut Hanisch „Strukturähnlichkeiten zwischen den theologischen Aussagen der Kinder zur Gottesfrage und solchen theologischen Problemen, die die wissenschaftliche Theologie in ihrer Geschichte in diesem Zusammenhang bearbeitet hat.“75 Die Autoren spezifizieren ihre Aussage im Lichte Lutherischer Dogmatik:76 „Was die Orthodoxie ‚notitia Dei naturalis acquisita‘ nannte, begegnet in den Äußerungen der Kinder weitaus mehr als die ‚notitia Dei revelata‘ , wenngleich einige Kinder gerade auch die Bedeutung der biblischen Geschichte(n) für ihren Glauben betonen.“

Ich halte diese Aussage für bedeutsam und denke, dass sie weiterer Klärungen bedarf. Zunächst ist zu beobachten, dass der Ausgangspunkt kindertheologischer Gespräche häufig die „Großen Fragen“ waren, oft kulminierend in der Theodizeefrage. Diese Konstellation erfüllt in idealer Weise von Foersters Beschreibung von unentscheidbaren Fragen, die deshalb entschieden werden müssen im Unterschied zu entscheidbaren, die bereits entschieden sind.77 Die Unentscheidbarkeit dieser Fragen stimuliert einerseits die Lust am spekulativen Nachdenken und am offenen Diskurs. Andererseits stellt sich beim genaueren Betrachten solcher Gespräche dann eine gewisse Erwartbarkeit ein. Dies ist – von der Unterrichtsdidaktik her gesehen – zunächst eher positiv zu sehen. So konnte ich etwa zeigen, dass Kinder von 10–12 Jahren höchst produktiv mit der Frage umgehen können, was es bedeuten könne, dass Gott uns Menschen wie ein 75 G. Orth / H. Hanisch, Glauben entdecken – Religion lernen. Was Kinder glauben, Teil 2, Stuttgart 1998, 316. Die Autoren nehmen dabei Bezug auf H. Schmid, Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Dargestellt und aus den Quellen belegt. Hg. H. G. Pöhlmann, Gütersloh 121998. Interessanterweise reden R. L. Fetz / K. H. Reich / P. Valentin, Weltbildentwicklung und Schöpfungsverständnis, Stuttgart u.a. 2001, 351 von „natürlicher Philosophie“. Sie verstehen darunter eine Tendenz, „die im Kind unter günstigen Bedingungen von selbst entsteht und beim Jugendlichen Frageweisen und Denkformen hervortreibt, die sich jenen der professionellen Philosophen annähern.“ 76 Orth / Hanisch, Glauben entdecken – Religion lernen (wie Anm. 75), 317. 77 H. von Foerster, Lethologie. Eine Theorie des Erlernens und Erwissens angesichts von Unwissbarem, Unbestimmbarem und Unentscheidbarem, in: R. Voß (Hg.), Die Schule neu erfinden, Neuwied / Kriftel ³1999, 14–32, hier 29.

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Marionettenspieler führt. Dieses Bild haben Kinder selbst ins Spiel gebracht und es erwies sich in vielerlei Richtungen als höchst produktiv und anschlussfähig an Fragen wie etwa der nach dem „freien Willen“. Es zeigte sich dabei, dass es eine begrenzte Zahl von Argumentationsmustern gibt, die alle ihre Stärken und Aporien haben.78 Soweit an einer Stelle sich die Theodizeefrage stellt, kommen dann dualistische und monistische Gottesbilder als mögliche „Lösungen“ ins Spiel.79 Insofern es möglich ist, hier „Landkarten des Denkens“ zur Verfügung zu stellen, besteht die große Chance, Lehrer/innen, Pfarrer/innen, Eltern und Erzieher/innen kompetent zu unterstützen. 80 Wer etwa zwei Drittel der ihm voraussichtlich begegnenden Antworten kennt, kann dann offener und mutiger, aber auch kompetenter in Gespräche mit Kindern gehen. Trotz dieses positiven Befundes gibt es gute Gründe, über das hier zutage tretende Modell hinaus zu fragen. Es ist weniger ein Unbehagen gegenüber einer „natürlichen Theologie“ als der Eindruck eines Zurückbleibens der Fragestellung gegenüber weiteren Möglichkeiten des Nachdenkens. Bereits Orth und Hanisch verweisen darauf, dass einige der von ihnen untersuchten Kinder auch explizit auf die „notitia Dei revelata“ rekurrieren, insbesondere durch den Bezug auf bestimmte biblische Geschichten.81 Die Bezugnahme auf biblische Geschichten führt – etwa in Bezug auf das Theodizeeproblem – zu keiner Lösung, doch lässt sich zeigen, dass die Argumentation zusätzliche Facetten gewinnt.82 Ein weiterführender Aspekt ergibt sich auch durch die Rekursnahme auf die Christologie. So schlagen etwa Kinder vor, von Jesus Christus jederzeit Hilfe zu erwarten, jedoch damit zu rechnen, dass Gott-Vater ihm dazu nicht in allen Fällen die Macht gibt.83 Doch führt auch die Einbeziehung der Person Jesu in das theologische Nachdenken nicht automatisch zur Etablierung einer neuen Qualität des Gesprächs. So konnte ich zwar zeigen, dass Kinder eher von einer hohen Christologie aus denken als von einem „historischen Jesus“ her. Doch manifestiert sich dies dann in einer weitgehenden Assimilierung der Jesusgestalt an Gott, so dass die Paradoxien der Menschwerdung Gottes gerade auch im Leiden und Sterben nur schwer mitgedacht 78 G. Büttner, Landkarten des Denkens. Argumentationsstrukturen beim Nachdenken über das Verhältnis zwischen göttlicher Führung und menschlicher Autonomie, in: ZDPE 25 (2003), 74–81. 79 F. Spaeth / H. Rupp, Der Teufel und der liebe Gott, in: entwurf 3/2002, 3–5. 80 Büttner, Landkarten des Denkens (wie Anm. 78), 81 Orth / Hanisch, Glauben entdecken – Religion lernen (wie Anm. 75), 317. 82 Vgl. etwa die Überlegungen zur Perikope von „Kain und Abel“ bei M. Fricke, Schwierige Bibeltexte im Religionsunterricht (AzR 26), Göttingen 2005, 387ff. 83 G. Büttner, „Jesus hilft!“ – Untersuchungen zur Christologie von Schülerinnen und Schülern, Stuttgart 2002, 199: „Gabi [6. Klasse]: Jesus würde schon gern jedem helfen, aber […] wenn Gott das nicht unbedingt will, dass manchen geholfen wird, dann macht er’s nicht.“

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werden können.84 Verantwortlich für die Schwierigkeiten, die Christologie breit theologisch zu entfalten, sind die offensichtlichen Defizite im Hinblick auf Soteriologie und Eschatologie.85 Dies liegt vermutlich daran, dass die Umwelt nur wenig Anlässe an die kindertheologische Kommunikation heranträgt, die es notwendig machen würden, auf die aufgeworfenen Probleme zu reagieren und anspruchsvolle Antwortkonzepte auszudifferenzieren. Konkret heißt das, dass Kinder auf bedeutungsvolle Vorstellungen etwa von Sünde und Vergebung eher seltener treffen und eine Rettung vor und nach dem Tode entweder angenommen oder nicht angenommen wird – garantiert vom „lieben Gott“. Soweit solche Vorstellungen in der Kommunikation der Erwachsenen und mit ihnen den Kindern eher selten begegnen, können sie diese auch nicht oder nur rudimentär in ihre Vorstellungswelt assimilieren. Das Theologisieren der Kinder findet nicht im luftleeren Raum statt, d.h., dass es durchaus bedeutsam ist, innerhalb welcher Rahmenbedingungen deren Gespräche stattfinden. Die Einbeziehung biblischer Geschichten und besonders der Person Jesu Christi führen auf jeden Fall zu einer „reicheren“ Diskussion, wenngleich sie die Aporien etwa der Theodizee und die notwendig gegebenen Paradoxien des theologischen Gesprächs natürlich auch nicht lösen können. Doch können und müssen auch Kinder bei diesen Problemstellungen, die im Sinne von Foersters „nicht entscheidbar“ sind, auf der Basis von Wissen und Nachdenken, aber auch von Hoffnung, Glaube und Vertrauen ihre eigene Entscheidung finden. Dass diese – wie bei den Erwachsenen auch – immer nur vorläufigen Charakter haben können, versteht sich von selbst.

Gibt es einen Weg ins „religiöse Sprachspiel“ Die religionsphilosophische Literatur hat sich die Möglichkeit, einen Sachverhalt im Lichte des Glaubens neu und befriedigender beschreiben und erleben zu können, häufig als „Sprung“ in eine neue Sichtweise vorgestellt.86 Ist so etwas für den Bereich der Kindertheologie vorstellbar, wünschbar?87 Meine Ausführungen 84 Vgl. aber G. Büttner, „Halb Mensch, halb nicht, das weiß man nicht so sehr, denn Jesus ist ja eigentlich Gottes Sohn!“ Kindliche Versuche, die Paradoxien der Christologie bildhaft auszudrücken, in: J. Frey / J. Rohls / R. Zimmermann (Hg.), Metaphorik und Christologie (TBT 120), Berlin/New York 2003, 399–416, 85 Vgl. die entsprechenden kritischen Anmerkungen zu den Religions-Lehrplänen bei H.-J. Eckstein, „Die Geschichte Jesu nach den Evangelien kennen lernen“, in: H. Rupp / H. Schmidt, Lebensorientierung oder Verharmlosung? Theologische Kritik der Lehrplanentwicklung im Religionsunterricht, Stuttgart 2001, 57–71, hier 67f. 86 Vgl. dazu klassisch S. Kierkegaard, Der Begriff Angst, Stuttgart 1992, 72. 87 Wie vermint der Begriff der „Bekehrung“ ist, zeigt W. Hollenweger, Art. Bekehrung IV,

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könnten so etwas suggerieren. Die Religionspädagogik wurde in dieser Richtung herausgefordert, den Kindern die „Welt der Bibel“ als eigenen, zunächst einmal fremden Kontinent zu vermitteln und Assimilationen an die eigene Lebenswelt eher zu vermeiden.88 Dies kann als methodischer Weg im Einzelfall im Hinblick auf ein bestimmtes Projekt gewiss mit Gewinn versucht werden. Doch solche Einsichten sind immer auch spezifische Umwelt des je eigenen Nachdenkens der Kinder. „Assimilation“ ist als spezifischer Lernmodus niemals auszuschließen und dies wäre auch nicht wünschenswert. Es geht wohl viel mehr darum, das kindertheologische Gespräch mit neuen theologischen Perspektiven anzureichern. So hat etwa Mirjam Zimmermann deutlich machen können, mit welchem Gewinn Kinder mit dem Begriff der Sünde operieren können.89 Da sie von den Tatsünden zur doppelten Bestimmung der Sünde gegenüber den Mitmenschen und gegenüber Gott gedanklich voranschreiten, wird es ihnen möglich, das Prinzip der Bestrafung („Gott lässt die Leute manchmal ein bisschen zappeln“)90, aber auch das der Gnade und Vergebung zu verstehen („er nimmt den Stein vom Herzen“)91. Damit ist gegenüber dem oben skizzierten „natürlichen“ Diskurs eine Erweiterung möglich. Damit wird eine christlich fundierte Kindertheologie auf jeden Fall reicher als eine, die sich bloß im Rahmen der religionsphilosophischen Annahmen bewegt. Dass mit der Fähigkeit zur Entfaltung theologischer Denkbewegungen noch nicht automatisch existentieller Glaube verbunden sein muss, ist einsichtig und empirisch nachgewiesen,92 doch Letzteren können wir allenfalls fördern, niemals jedoch „machen“.

Praktisch-theologisch, TRE V (1993), 480ff. Zu entsprechenden Hinweisen aus psychologischer Sicht vgl. R. Oerter, Moderne Entwicklungspsychologie, Donauwörth 161976. 88 T. Ruster, Die Welt verstehen „gemäß den Schriften“, Religionsunterricht als Einführung in das biblische Wirklichkeitsverständnis, in: rhs 43 (2000), 189–203. 89 M. Zimmermann, Sünde in der Kindertheologie, in: GlLe 20 (2005), 142–152. 90 Ebd. 150 mit Verweis auf Gottes Verhalten gegenüber Kain. Vgl. auch G. Büttner / P. Freudenberger-Lötz, „Eigentlich gibt Gott Verwarnungen, dass sie sich ändern!“ Kindertheologische Überlegungen zur „Pädagogik Gottes“, in: JRP 19 (2003), 145–152. 91 Zimmermann, Sünde in der Kindertheologie (wie Anm. 89). 92 H. Hanisch / S. Hoppe-Graff, „Ganz normal und trotzdem König.“ – Jesus Christus im Religions- und Ethikunterricht, Stuttgart 2002, 205f.

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Kontingenzverarbeitung als kognitiver Kern des Religiösen bei Vorschulkindern

IV. Kindertheologie im Vorschulalter

Bei meiner Arbeit zur Christologie der Kinder (siehe Kapitel V.) stieß ich auf die Tatsache, dass die religiöse Entwicklung im Vorschulbereich nur sehr wenig erforscht ist. Dies rührt vor allem daher, dass die Erzieher/innenausbildung in Deutschland nicht akademisch ist. In den Schriften zu dieser Altersstufe dominieren deshalb meist normative Texte, u.a. auch zur Kindertheologie.1 Empirische Studien machen demgegenüber deutlich, was davon sinnvoll und realistisch ist.2 Bei meinen zusammen mit Veit-Jakobus Dietetrich unternommenen Studien zur Entwicklungspsychologie zeigt sich ein weiteres interessantes Phänomen.3 Für die Entwicklungspsychologie ist gerade das Vorschulalter von besonderem Interesse. Hier wird die Einstellung der Kinder zu allen Wissensbereichen akribisch untersucht – selbstverständlich auch der Bereich der Religion. Doch hier bedarf es einer Einschränkung. Während es im angelsächsischen Bereich auch für renommierte Wissenschaftler/innen selbstverständlich ist, gerade auch religionsrelevante Sachverhalte zu untersuchen, nimmt die deutschsprachige Forschung daran keinen Anteil. Wer also wissen will, was Kinder dieses Alters über Wunder, Tod, Bitten, Danken o.ä. denken, tut gut daran, in entsprechenden Datenbanken zu suchen. In den vier einschlägigen Beiträgen dieses Abschnittes wird nach diesem Muster vorgegangen. Ich interpretiere meine eigenen empirischen Beiträge im Lichte der entsprechenden Untersuchungen angelsächsischer Couleur. In diesem Zusammenhang scheint es mir angemessen, eine kleine Korrektur vorzunehmen. Die nachpiagetsche Psychologie geht davon aus, dass sich die Wis 1 Z.B. Christoph Th. Scheilke / Friedrich Schweitzer (Hg.), Kinder brauchen Hoffnung – Religion im Alltag des Kindergartens, Gütersloh/Lahr 1999ff mit mehreren Teilbänden. 2 Hervorzuheben sind: Katharina Kammeyer, „Lieber Gott, Amen!“ Theologische und empirische Studien zum Gebet im Horizont theologischer Gespräche mit Vorschulkindern, Stuttgart 2008; Eva Hoffmann, Interreligiöses Lernen im Kindergarten? Eine empirische Studie zum Umgang mit religiöser Vielfalt in Diskussionen mit Kindern zum Thema Tod, Münster 2010; Angela Kunze-Beiküfner, Kindertheologisch-sensitive Responsivität pädagogischer Fachkräfte in Kindertagesstätten. Eine Untersuchung zur Praxis des Theologisierens in Kindertagesstätten, Leipzig 2017; Helene Stockinger, Umgang mit religiöser Differenz im Kindergarten. Eine ethnographische Studie an Einrichtungen in katholischer und islamischer Trägerschaft in Wien, Münster/New York 2017. 3 Gerhard Büttner / Veit-Jakobus Dieterich, Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, Göttingen ²2016.

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sensentwicklung in sogenannten Domänen vollzieht, von denen Religion/Theologie eine ist. Dabei geht man von quasi angeborenen Kerndomänen aus: intuitive Physik und Psychologie sowie das Denken in Zahlen. Anfangs zählte man auch die intuitive Biologie dazu, doch hat man dies inzwischen korrigiert. Insgesamt erscheint mir diese Altersstufe die interessanteste Forschungsaufgabe für die Kindertheologie zu sein.

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„Was wissen Vorschulkinder und was sollten sie wissen?“ Wissensfelder, die sich als Vorstufen der zivilisatorischen Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen verstehen lassen, sind hier weitgehend unbestritten. Gehört religiöses Wissen in diesen Wissenspool mit hinein? Dieter Baacke verfasste sein Werk über die 0bis 5-jährigen ohne ein Stichwort „Religion“.1 Donata Elschenbroich notiert unter den wünschenswerten Fähigkeiten der Siebenjährigen immerhin die Kenntnis eines Gebets.2 Friedrich Schweitzer hält ein pädagogisches Plädoyer für „Das Recht des Kindes auf Religion“.3 Er vermeidet dabei sorgsam alles, was darauf hinweisen könnte, er arbeite hier als kirchlicher Lobbyist. Ihn interessiert Religion in diesem Buch im Sinne einer „ganzheitlichen“ Entwicklung des Kindes. Wohl wissend, dass Kinder ohne Förderung ihrer sportlichen oder musikalischen Fähigkeiten auch groß werden, dass dies aber doch letztlich verpasste Chancen sind, plädiert Schweitzer für die Einbeziehung von Religion im Sinne des Kindswohls. Nun ist Religion ein umfassendes Phänomen. Charles Glock unterscheidet fünf Dimensionen: religiöse Erfahrung, die ritualistische Dimension, die ideologische Dimension, die intellektuelle Dimension und die Dimension der Konsequenzen der religiösen Überzeugungen.4 Diese Dimensionen sind in der Praxis wohl meist eng miteinander verbunden, doch lässt sich mit K.H. Reich eine grundsätzliche Unterscheidung treffen: „Religionen haben neben einer expressiven Komponente mindestens noch eine andere, nämlich die erklärende, die den Wunsch nach Verstehen des ‚Unerklärlichen‘ zu befriedigen versucht.“5

Dieser Linie wollen wir im Folgenden nachgehen. Wir verfügen mit der Theorie des religiösen Urteils von Oser und Gmünder über ein Instrumentarium, das sich

1 Dieter Baacke, Die 0- bis 5-Jährigen, Weinheim 1999. 2 Donata Elschenbroich, Weltwissen der Siebenjährigen, München 2002. 3 Friedrich Schweitzer, Das Recht des Kindes auf Religion, Gütersloh 2013. 4 Charles Glock, Über die Dimensionen der Religiosität, in: Joachim Matthes (Hg.), Kirche und Gesellschaft, Einführung in die Religionssoziologie II, Reinbek 1969, 150–168, 151. 5 Karl Helmut Reich, Kognitive Voraussetzungen religiöser Entwicklung, in: Brigitta Rollett / Marion Herle / Ingrid Braunschmid (Hg.), Eingebettet ins Menschsein. Beispiel Religion, 3. Bd., Aktuelle Studien zur religiösen Entwicklung, Lengerich u.a. 2005, 43–59, 44.

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dieser Frage stellt. Ich werde zu zeigen versuchen, was diese Theorie im Hinblick auf das Alter der Vorschulkinder für Aussagen zulässt. Im Kern dieser Theorie steht die Bewältigung von Kontingenzerfahrungen. Kontingenz bedeutet hier die Erfahrung, dass alles, was geschieht, prinzipiell auch anders sein könnte, und deckt sich somit zumindest teilweise mit der Vorstellung vom Zufall. Es wird zu zeigen sein, welche Rolle der Kontingenz für die Herausbildung religiöser Erklärungen überhaupt und speziell in dieser Altersstufe zukommt. Die Frage, die sich im Kontext kindlicher Wissenskonstruktion stellt, ist die nach der Verhältnisbestimmung des religiösen Wissens im Hinblick auf andere Wissensbestände. Hier gibt es begründete Überlegungen zum Zusammenhang und gegebenenfalls Zusammenwirken religiöser und moralischer Urteilsbildung.6 Darüber hinaus scheint es mir wünschenswert, den interessanteren und bislang noch kaum untersuchten Zusammenhang eines Gegenstandsbereiches „Religion“ im Kontext anderer „intuitiver Theorien“ genauer in den Blick zu nehmen. Dies wird der Schwerpunkt dieses Beitrages sein.

Die Theorie des religiösen Urteils Jean Piaget hatte in seiner Studie zum moralischen Urteil beim Kinde herausgearbeitet, dass Kinder nicht nur im Hinblick auf das Verstehen mathematischer und physikalischer Sachverhalte verschiedene, im Altersverlauf sich verändernde Schemata entwickeln, sondern dies auch tun im Hinblick auf das Erklären von moralischen Sachverhalten. Bekannt ist etwa die Tendenz jüngerer Kinder auf das Ergebnis eines Schadens zu achten (teure Tasse = großer Schaden), wohingegen ältere mehr auf die Absicht eines Tuns blicken. Auf der Basis dieser Grundüberlegungen hat Lawrence Kohlberg eine Theorie der Entwicklung des moralischen Urteils entworfen. Dies umfasst nicht nur den Kindheitsbereich, sondern geht von einer prinzipiell lebenslangen Entwicklung aus. Es lag nahe, dass Wissenschaftler sich die Frage stellten, ob es etwas Ähnliches auch für den Bereich der Religion geben könnte. So suchen denn Fritz Oser und Paul Gmünder in diesem Zusammenhang nach einer „religiösen Mutter-Struktur“7:

6 Fritz Oser / Karl Helmut Reich, Moral Judgement, Religious Judgement, Worlds View and Logical Thought. A Review of Their Relationship, in: British Journal of Religious Education 12, 1990, 94–101; 172–181. 7 Fritz Oser / Paul Gmünder, Der Mensch – Stufen seiner religiösen Entwicklung, Gütersloh ³1992, 61.

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„Eine kognitiv-religiöse Mutter-Struktur müsste […] folgende Qualität besitzen bzw. Leistung erbringen: 1. als Fundamental-Struktur einen irreduziblen Kern besitzen, der 2. als nicht mehr hintergehbares Strukturschema eine spezifisch religiös qualifizierte Wirklichkeitsbewältigung mit inhaltsübergreifender Qualität ermöglicht und 3. unter historischer Perspektive sich als aufklärungs- und säkularisierungsresistent erweist.“

Die Frage nach einer universellen, die verschiedenen Formen des religiösen Glaubens und Nichtglaubens umfassenden Struktur beantworten die Autoren positiv:8 „Wir postulieren beides: Die Tiefenstruktur religiöser Identität und die grundsätzliche Entwicklungstendenz sind universell.“ Auf der Basis dieser Erkenntnisse entwickeln die Autoren ein Entwicklungsmodell mit fünf Stufen. Gegenüber dem bekannteren Modell von Kohlberg zur moralischen Entwicklung kann angeführt werden, dass die beiden Anfangsstufen eine große Parallelität aufweisen.9 Während aber Kohlberg sein Entwicklungsmodell eigentlich erst mit dem Grundschulalter beginnen lässt, haben Oser und Gmünder gerade auch das Vorschulalter ausdrücklich mit im Blick. Ähnlich wie Kohlberg arbeiten auch die beiden Autoren mit Dilemmageschichten. Die Art von deren Beantwortung bildet dann das Beurteilungskriterium für die Stufenzuordnung. Ich möchte das Gesagte jetzt im Hinblick auf die beiden ersten Stufen des religiösen Urteils präzisieren. Erzählt wird z.B. die Geschichte eines strengen, aber gerechten Richters, dessen Tochter schwer erkrankt ist.10 Dieser Richter verliert durch Verleumdung sein Amt, die Krankheit der Tochter ruiniert sein Vermögen. Gleichwohl wird sie nicht gesund. Wie beurteilen Kinder unterschiedlichen Alters nun dieses von den Autoren so genannte „Hiob“-Dilemma? „Ein Kind von fünf oder sechs Jahren würde vielleicht sagen, dass Gott dem Richter eine Strafe schickt, dass die Menschen das tun sollen, was Gott will, dass Gott dem Richter auch wieder helfen kann, dass Gott alles auf der Welt wiedergutmachen könne und zudem bewirke, dass keine Ungerechtigkeiten entstehen, dass er die Menschen gern habe etc.11

Wir begegnen hier der sog, „Deus-ex-machina-Stufe“:12 8 Ebd., 23. 9 Fritz Oser / Karl Helmut Reich, Moral Judgement (wie Anm. 6), 172–181. 10 Fritz Oser / Paul Gmünder, Der Mensch (wie Anm. 7), 17. 11 Ebd., 17. 12 Ebd., 81.

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„Das Kind nimmt an, dass alles von externalen Kräften geleitet, geführt, gesteuert ist. […] Das Letztgültige ist aktiv, der Mensch ist reaktiv.“ Die Autoren verweisen ausdrücklich auf die Parallelerfahrungen, die das Kind im Hinblick auf seine Eltern macht, von denen aber die Erfahrungen gegenüber Gott ausdrücklich unterschieden werden. Inhaltlich fällt auf, dass diese Abhängigkeit von einer göttlichen Instanz insgesamt meist positiv wahrgenommen wird. Hier wird der von Piaget beobachtete Finalismus sichtbar. Reto Luzius Fetz hat diesen wie folgt charakterisiert13: „Alles, was ist, hat einen Sinn und letztlich einen Sinn für den Menschen. […] Diese Sinnstiftung und Sinnverbürgung zeigt sich auch in der Reduzierung jeglicher Sinnlosigkeit. Für Kinder sind Theodizeeprobleme grundsätzlich lösbar: am Ende wird alles gut.“

Die hier skizzierte Stufen-Struktur wird deutlicher, wenn wir das altersmäßig folgende Do-ut-des-Schema betrachten.14 Jetzt raten die Kinder dem Richter zu beten oder etwas Gutes zu tun, damit Gott ihm helfe. Die geschilderte Situation des Richters ist eine Prüfung. Gottes Strafe ist Folge unangemessenen Tuns, durch eine entsprechende positive Haltung wird sich die Situation wieder bessern. Das Verhalten des Menschen Gott gegenüber hat sich hier deutlich verändert zugunsten eines aktiveren Parts des Menschen. Auch diese Erfahrung macht das Kind dieses Alters in seiner Lebenswelt. Oser, Reich und Bucher machen dabei deutlich, dass diese religiösen Urteilsstufen auch bei Nichtgläubigen funktionieren, das Letztgültige tritt dann in anderer Gestalt (z.B. Mutter Natur, Schicksal) auf.15

Kontingenzverstehen als Kern des religiösen Urteils Bereits bei dem hier präsentierten „Hiob-Dilemma“ geht es um die gedankliche Bewältigung eines Schicksalsschlags. Dies gilt in ähnlicher Weise für das bei Oser und Gmünder bestimmende „Paul-Dilemma“:16 13 Reto L. Fetz, Der Kinderglaube. Seine Eigenart und seine Bedeutung für die spätere Entwicklung, in: Engelbert Groß (Hg.), Der Kinderglaube. Perspektiven aus der Forschung für die Praxis, Donauwörth 1995, 22–35, 25. 14 Fritz Oser / Paul Gmünder, Der Mensch (wie Anm. 7), 17f. 15 Fritz Oser / Karl Helmut Reich / Anton A. Bucher, Development of belief and unbelief in childhood and adolescence, in: J. Corveleyn / D. Hutsebaut (Hg.), Belief and Unbelief, Amsterdam/ Atlanta 1994, 39–62, 16 Fritz Oser / Paul Gmünder, Der Mensch (wie Anm. 7), 18ff.

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Paul, ein junger angehender Arzt, überlebt einen Flugzeugabsturz. In dieser Situation hat er Gott versprochen, im Falle des Überlebens nach Afrika zu gehen, um dort zu helfen. Doch seine Verlobte schätzt dies nicht und er erhält ein blendendes Berufsangebot in der Schweiz. Es lassen sich auf dieser Basis viele Eventualitäten durchspielen. Wieder geht es darum, wie der Mensch handeln kann und soll im Angesicht von Ereignissen, die ihm zustoßen. Oser und Gmünder sehen denn auch konsequenterweise den Kern des religiösen Urteils in der Kontingenzbewältigung.17 Doch was ist mit Kontingenz genau gemeint? Hermann Lübbe definiert Kontingenz als „Transformation des Zufalls in Handlungssinn“.18 Interessanterweise gelang es in der Neuzeit, die Kontingenz zumindest im Hinblick auf die große Zahl operatorisch weitgehend in den Griff zu bekommen – nämlich durch die Wahrscheinlichkeitstheorie.19 Doch gilt dies dann gerade nicht für den Einzelnen. Was habe ich davon, wenn ich gerade in dem einen Flugzeug sitze, welches das Restrisiko, angesichts höchster Unwahrscheinlichkeit zu verunglücken, darstellt. An dieser Stelle tritt dann nach Lübbe die Religion auf den Plan:20 „Die Religion hat ihren lebenspraktischen Ort da, wo es ganz sinnlos wäre, im Bemühen, Kontingenz in Handlungssinn zu transformieren, auf unsere mannigfachen Vermögen, Wirklichkeit handelnd zu verändern, zu rekurrieren.“

Bei diesen Lebenssituationen muss es sich „vielmehr um Lebenstatbestände handeln, die in ihrem kognitiven Gehalt vollständig trivial, lebenspraktisch fundamental und schlechterdings handlungssinntranszendent, das heißt auch durch Zurechnungsexpansion prinzipiell nicht einholbar, nicht auf die Verantwortlichkeit anderer rückbeziehbar“ sind. Vereinfacht ausgedrückt heißt das, dass die Anlässe, in denen wir Kontingenz begegnen, sehr alltäglich sind. Es sind die Erfahrnisse von Unglück, Leid und Tod. Die Mittel, die uns zur Aufklärung zur Verfügung stehen, reichen uns als Erklärung nicht: die Infektionsquellen der Krankheit, die Unachtsamkeit des Autofahrers, die schlechte Konstitution eines Erkrankten. Es geht hier nicht um die Wie-Fragen, sondern um die Warum-Fragen. Hinter diesen Fragen steht letztlich die, warum etwas ist und nicht nicht ist, warum wir sind und nicht nicht sind. Diese Fragen kann nach Lübbe nur die Religion beantworten. Er spricht 17 Ebd., 43ff. 18 Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, München ³2004. 19 Ebd., 36. 20 Ebd., 41.

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von einer „Bewältigung absoluter Kontingenz durch Anerkennung“ und erläutert dies: „Im religiösen Akt der Anerkennung unserer schlechthinnigen Abhängigkeiten […] ändert sich nicht diese, vielmehr ändern wir uns, nämlich in unserem Verhältnis zu diesen Abhängigkeiten.“21 Kontingenzverarbeitung bedeutet also, das, was nicht veränderbar ist, anzuerkennen und es in einen religiösen Interpretationsraum zu stellen. Konkret bedeutet dies, dass sich dann gegenüber Gott die neuen Handlungsmöglichkeiten des Danks, der Bitte und der Klage ergeben.22 Die oben beschriebenen Ausdrucksformen des religiösen Urteils im Sinne Osers stellen also Modi dar, in denen die Äußerungen zur Kontingenzthematik formuliert werden können. Lübbe verweist zu Recht darauf, dass der Kontingenzbegriff trotz seiner Wertschätzung in der neuzeitlichen Philosophie und Soziologie gleichwohl aus der Tradition der Metaphysik stammt.23 Unsere Frage lautet demnach, wie weit bereits Vorschulkinder an der metaphysischen Spekulation darüber, warum etwas ist, wie es ist, Anteil nehmen. Nach unseren obigen Ausführungen zum Finalismus, wäre diese metaphysische Grundfrage für die Vorschulkinder gerade nicht existent, weil diese – angesichts der Deusex-machina-Struktur – gewissermaßen überall bereit wären, Sinn und ein gutes Ende zu sehen. Doch gegen diese Überlegung stehen Beobachtungen von Paul L. Harris. Er nimmt in Anknüpfung an und in Auseinandersetzung mit Jean Piaget die heute weit vertretene Theorie vom Kleinkind als „Wissenschaftler“ auf.24 Nach Gopnik, Kuhl & Meltzoff handelt das Kleinkind wie ein Popper’scher Wissenschaftler.25 Es hat Hypothesen und prüft diese durch die Wiederholung verschiedener „Testsituationen“. Eltern, die solche repetitiven Tätigkeiten begleiten (wie das immer wieder aus dem Bett geworfene Spielzeug zur Prüfung der Fallgesetze), haben häufig eher den Eindruck, das Kind wolle – in einem psychologischen Experiment – ihre Nervenkraft testen. Doch Harris verweist darauf, dass es nicht sinnvoll ist, das Kind nur als Naturwissenschaftler anzusehen. „Mit drei oder vier Jahren haben die Kinder ein Konzept von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sie können also zwischen aktuellen und nur hypothetischen oder imaginären Ereignis21 Hermann Lübbe, Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung, in: Gerhart von Graevenitz / Odo Marquard i. Zs. m. M. Christen (Hg.), Kontingenz, München 1998, 35–47. 22 Ebd., 46. 23 Hermann Lübbe (wie Anm. 18), 151. 24 Paul L. Harris, On Not Falling Down to Earth. Children’s Metaphysical Questions, in: Karl S. Rosengren / Carl N. Johnson / Paul L. Harris (Hg.), Imagining the Impossible. Magical, Scientific and Religious Thinking in Children, Cambridge/New York/Melbourne 2000, 157–178, 160. 25 Alison Gopnik / Patricia Kuhl / Andrew Meltzoff, Forschergeist in Windeln. Wie Ihr Kind die Welt begreift, München 2001.

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sen unterscheiden“.26 So fragen sie, was in der Zeit vor ihrer Geburt war, was zur Zeit der Römer oder der Dinosaurier. Sie fragen aber auch nach der Möglichkeit, dass sie nicht das Kind dieser Eltern wären, dass sie selbst oder diese Welt nicht existierten oder auch nach dem Wesen Gottes. Sie stoßen aber auch immer wieder auf Bereiche, in denen eine empirische Prüfung unmöglich ist: auf den Bereich von Vergangenheit und Zukunft, den Bereich des Fiktionalen, die Frage nach der Ewigkeit. All diese Felder regen das Kind zu spekulativen Entwürfen an. „Durch das Fehlen empirischer Prüfmöglichkeiten werden die Kinder zu einem spezifisch anderen Modus der Informationsgewinnung und des Diskurses geführt, um Auf klärung über ihre Fragen zu erhalten.“ 27 Sie sind dann bereit, die Deutungsangebote ihrer Kultur aufzunehmen, die Antworten auf die Fragen nach Leben und Tod oder auf die Frage nach Gott geben. Konsequenterweise sind die Kinderfragen dann Versuche, die Spannungen zwischen den verschiedenen Entwürfen in eine vorläufige Ordnung zu bekommen. Dieser Prozess kann durch aktuelle Beobachtungen ausgelöst werden, durch Staunen oder die Irritation dadurch, dass Erwartungen nicht eintreffen. Bei ihren Spekulationen übertragen die Kinder die Logiken der ihnen geläufigen Welt auf die spekulativ gedachten Welten. Andererseits sind die Kinder aber auch in der Lage, den anderen Welten eine gewisse Eigenlogik zuzugestehen und Übergänge stimmig zu harmonisieren. Dies gilt z.B. für die Übergänge zwischen himmlischer und irdischer Welt durch Gottes Eingreifen oder das Aufsteigen der Verstorbenen in den Himmel. Harris sieht in der fragenden und spekulativen Tätigkeit des Kindes einen menschlichen Grundzug, der gleichzeitig den Ursprung von Metaphysik und Religion bildet.28 Fügt man diese theoretischen Vorannahmen zusammen, dann kann man wohl annehmen, dass bereits Vorschulkinder durchaus Ansätze eines Kontingenzverstehens aufweisen. Allerdings ist zu erwarten, dass dies in Richtung dessen gehen wird, was wir bei Oser und Gmünder zur Deus-ex-machina-Stufe gehört haben. Wir werden freilich dabei bedenken müssen, dass die Dilemma-Struktur des Ansatzes bestimmte Antworttypen bevorzugt hervorbringt. In einem offeneren Setting ist durchaus auch mit anderen Antworttypen zu rechnen.29

26 Paul L. Harris, On Not Falling Down to Earth (wie Anm. 24), 163. 27 Ebd., 165. 28 Ebd., 176. 29 Rainer Oberthür, Kinder fragen nach Leid und Gott, München 1998, 120ff.

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Religion im Kontext bereichsspezifischer Wissensdomänen Gegenstandsbezogene Theorien Eine wichtige Beobachtung der Entwicklungspsychologie nach Piaget besteht in der Erkenntnis, dass die Entwicklung der Denkschemata sich offenbar nicht automatisch über alle Bereiche des Wissens erstreckt. Konkret heißt das, dass eine Entwicklung in einem bestimmten Wissenssektor bezogen bleibt auf die Inhalte, um die es gerade geht. Geübte Kombinatorik im Bereiche bestimmter Spiele, wie z.B. Schach, muss demnach keinerlei Auswirkungen auf das Verstehen von Metaphern haben. Insofern ist das pauschale Reden über Entwicklungsphasen, z.B. die konkrete Operation im Sinne Piagets, insoweit zu relativieren, dass die dort angenommenen Denkstrukturen eben gerade nicht universell zu verstehen sind. Diese Konsequenz ist folgenreich für Erziehungsprozesse. Sie bedeutet dann nämlich, dass die Nichtbegegnung mit einem bestimmten Gegenstandsbereich, z.B. der Religion, nicht automatisch kompensiert werden kann durch das allgemein erworbene Wissen. Das Kind, das sich irgendwann dann im Hinblick auf die Religion „selbst entscheiden soll“, entscheidet sich dann auf dem Status des religiösen Analphabeten, selbst wenn es in anderen Wissensfeldern „fit“ ist. Es gibt nun allerdings begründete Annahmen darüber, in welcher Weise die einzelnen Wissensdomänen in ihrer Beziehung aufeinander zu verstehen sind:30 „In den letzten beiden Jahrzehnten haben zahlreiche Untersuchungen über intuitives bereichsspezifisches Wissen zu der Einschätzung geführt, dass Kinder zumindest in drei fundamentalen Bereichen über sogenannte Rahmentheorien verfügen: in den Bereichen Physik, Biologie und Psychologie. Dem kindlichen Wissen den Charakter einer Theorie zuzusprechen impliziert hierbei zweierlei: Zum einen setzen Theorien ein kohärentes Wissen in dem jeweiligen Inhaltsbereich voraus […], zum anderen muss ein kausaler Erklärungsapparat für die Phänomene innerhalb der Domäne vorhanden sein, der es den Kindern ermöglicht, Ereignisse zu erklären und auch vorherzusagen.“

Nehme ich diese Beschreibung von Claudia Mähler auf, dann müsste für unser Thema geklärt werden, inwieweit man von einer Domäne „Religion“ mit dem 30 Claudia Mähler / Susann Ahrens, Naive Biologie im kindlichen Denken. Unterscheiden Vorschulkinder zwischen biologischen und sozialen Beziehungen?, in: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie 35, 2003, 153–162, 153.

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beschriebenen Modus der Kontingenzverarbeitung sprechen kann und in welchem Verhältnis er zu den genannten Kerndomänen steht. Ich werde deshalb in einem ersten Schritt einige Anmerkungen zu diesen Kerndomänen machen. In einem zweiten Schritt werde ich skizzieren, in welcher Weise andere Gegenstandsbereiche in ihrer Beziehung zu den Kerndomänen beschrieben werden. In Kenntnis dieser Mechanismen erscheint es mir dann sinnvoll und möglich, darüber nachzudenken, in welcher Weise Religion auf diese Kerndomänen bezogen werden kann und wie dies dann konkret aussehen könnte.

Die Kerndomänen Offenbar kennen schon sehr junge Kinder das Prinzip der Schwerkraft. Dies lässt sich aus der Augenreaktion erschließen, die schwerkraftwidrige Bewegungen eines Gegenstandes auslösen. Später kommen Objektpermanenz und Kausalität dazu als Prinzipien dessen, was man als Bereich „intuitiver bzw. naiver Physik“ ansieht. Im Hinblick auf das Verständnis von Materie charakterisiert Claudia Mähler dieses intuitive Wissen folgendermaßen:31 „Obwohl […] festzustellen war, dass das kindliche Konzept von Materie von dem der Erwachsenen zunächst erheblich abweicht, haben Kinder dennoch nicht einfach falsche Überzeugungen von Materie, sondern verfügen über eine an sich konsistente, mit den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Physik nicht vergleichbare Theorie.“

Bereits Säuglinge sind in der Lage, lebendige von unbelebten Objekten zu unterscheiden. Diese Grundunterscheidung bleibt bestimmend für die Domäne „intuitive Biologie“. Dazu kommen dann Unterscheidungen im Hinblick auf Menschen, Tiere und Pflanzen, schließlich Fragen der Vererbung, Krankheit etc. Eine in sich konsistente naive Biologie entwickeln die Kinder aber wohl erst beim Übergang ins Grundschulalter.32 Beim Bereich der intuitiven Psychologie geht es um das Wissen, das Kinder über das menschliche Denken haben („theory of mind“). Es handelt sich hierbei um die „Unterscheidung zwischen Geist und Welt, zwischen Gedanken und Realität“.33 Wir beobachten intuitive Psychologie schon ab dem zweiten Lebensjahr im Zuge 31 Claudia Mähler, Naive Theorien im kindlichen Denken, in: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie 31, 1999, 53–66, 55. 32 Ebd., 58. 33 Ebd., 58.

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der „So-tun-als-ob-Spiele“, später ab etwa dem vierten Lebensjahr in der Fähigkeit, veränderte Randbedingungen jetzt auch mental erfassen zu können (in den unten noch genauer zu besprechenden False-belief-Experimenten). In der Praxis des kindlichen Denkens sind die hier entfalteten Kerndomänen allerdings oft nicht so leicht auseinanderzuhalten. Wellman, Hickling und Schult fragten etwa Kinder, warum Robin, die sich an einem Ast festhielt, um dort wie manche Tiere länger hängen zu bleiben, schließlich herunterfällt.34 Dreijährige bevorzugen hier eine psychologische, erst Vierjährige eine biologische Erklärung. Bei der breit geführten Diskussion über Wissensdomänen über die Kerndomänen hinaus wurden unterschiedliche Affiliationen dieser anderen Bereichen gegenüber den „core domains“ sichtbar.35 Im Hinblick auf eine intuitive Kosmologie müssen bestimmte Grundannahmen naiver Physik korrigierend übersprungen werden36, im Hinblick auf eine intuitive Theorie des Sozialen kommt es gerade darauf an, in Abgrenzung zur naiven Biologie zu erkennen, dass viele soziale Rollen wie Beruf, Status gerade nicht angeboren sind wie Rasse oder Geschlecht.37

Religion als Domäne im Kontext der Kerndomänen In dem Sammelband von Hirschfeld und Gelman findet sich auch ein Beitrag zum Bereich der Religion. Doch fokussiert der Ethnologe Pascal Boyer seinen Beitrag weniger entwicklungspsychologisch als vielmehr im Sinne allgemeiner Aussagen zum kognitiven Status von Religion.38 Ich werde daher an dieser Stelle eigene Überlegungen vortragen. Ich habe mich gefragt, wo es denn so etwas wie Anschluss- oder Übergangsstellen in den Kerndomänen hin zum Bereich Religion 34 H. M. Wellman / A. K. Hickling / C. A. Schult, Young Children’s Psychological, Physical and Biological Explanations, in: H. M. Wellman / K. Inagaki (Hg.), The Emergence of Core Domains of Thought. Children’s Reasoning About Physical, Psychological and Biological Phenomena, San Francisco 1997, 7–25, 11. 35 Lawrence A. Hirschfeld / S. A. Gelman (Hg.), Mapping the Mind. Domain Specificity in Cognition and Culture, Cambridge/New York/Melbourne 1994. 36 S. Vosniadou, Universal and culture-specific properties of children’s mental models of the earth, in: Lawrence A. Hirschfeld / Susan A. Gelman (Hg.), Mapping the Mind, Domain Specificity in Cognition and Culture, Cambridge/New York/Melbourne 1994, 412–430. 37 Lawrence A. Hirschfeld, Is the acquisitation of social categories based on domain-specific competence or on knowledge transfer?, in: ders./ Susan A. Gelman (Hg.), Mapping the Mind. Domain Specificity in Cognition and Culture, Cambridge/New York/Melbourne 1994, 201– 233. 38 Pascal Boyer, Cognitive constraints on cultural representations. Natural ontologies and religious ideas, in: Lawrence A. Hirschfeld / Susan A. Gelman, Mapping the Mind (wie Anm. 37), 391–411.

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gibt. Lilian Fried hat in ihrem Beitrag ein Gespräch im Kindergarten referiert, in dem Kinder einerseits ihr Wissen zum Thema Tiere, anderseits zum Thema Geografie ausbreiteten. Doch mitten in dem Gespräch über das Sterben von Tieren kam eine Reminiszenz an den Tod des Papstes und Überlegungen zu dessen Schicksal im Himmel. Wer James Fowlers Charakterisierung der Glaubensstufe von Vorschulkindern als „intuitiv-projektiv“ im Ohr hat, der wird dieses episodenhafte Springen von einem Gegenstand zum anderen geradezu als typisch für diese Altersstufe ansehen.39 Wir können von daher relativ leicht solche assoziativen Übersprünge antizipieren. Ich vermute sie z.B. bei den Übergängen von Wiezu Warum-Fragen. Dass ein Gegenstand heruntergefallen ist, verdankt sich der Schwerkraft. Warum er aber kaputt gegangen ist oder heil geblieben, das bleibt letztlich kontingent. Noch evidenter sind die Fragen im Kernbereich der Biologie, wenn es um Tod oder Leben geht. Natürlich kennen auch kindliche Biologen schon Grundzüge von Krankheit, Alterung etc., doch warum der Tod jetzt gerade diesen Menschen, dieses Tier trifft, bleibt letztlich nicht erklärbar. Die Übergänge zum Bereich intuitiver Psychologie sehe ich eher in Fragen von Wirklichkeit bzw. Nichtwirklichkeit und in diesem Zusammenhang solchen der möglichen Wirkmächtigkeit göttlicher Figuren. Gerade zu dieser Frage liegen nun Forschungsergebnisse vor. Diese möchte ich referieren, bevor ich meinen eigenen Forschungsansatz im Kontext von biologischen Fragestellungen erläutere.

Kindliche Vorstellungen von Gott im Kontext der „False-belief-Aufgaben“ Im Hinblick auf die Erforschung der „theory of mind“ haben sich die False-beliefExperimente bewährt: Kinder bekommen eine Keksdose gezeigt. Beim Öffnen müssen sie erkennen, dass bloß Steine in ihr sind. Nun fragt man die Kinder, was ihre Mutter wohl im Hinblick auf den Inhalt der Dose vermutet. Die Dreijährigen und die meisten Vierjährigen vermuten „Steine“, weil sie nicht von einer falschen Annahme ihrer Mutter ausgehen wollten. Fast alle Fünf- und Sechsjährigen antworteten jedoch richtigerweise, auch die Mütter gingen erst einmal von Keksen in der Dose aus. Fragte man jedoch nach dem Wissen Gottes über den Doseninhalt, so antworteten fast alle Kinder „Steine“, denn Gott ließe sich durch die falsche Aufschrift der Dose nicht täuschen.40 Justin L. Barrett konnte diesen Befund in 39 James Fowler, Stufen des Glaubens, Gütersloh 1991. 40 Justin L. Barrett, Do children experience God as adults do?, in: Jensine Andresen (Hg.), Religion in Mind. Cognitive Perspectives on Religious Belief, Ritual and Experience, Cambridge u. a. 2001, 173–190, 183.

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mehreren auch interkulturellen Vergleichsstudien bestätigen.41 Gott wird im Hinblick auf mögliches Wissen offenbar bereits von den Vorschulkindern deutlich von den Möglichkeiten etwa der Eltern unterschieden.

Der eigene Ansatz In Aufnahme der obigen Überlegungen schien es sinnvoll, eine Fragestellung zu entwickeln, in der der mögliche Übergang von intuitiver Physik bzw. Biologie zur religionskonstituierenden Kontingenzfrage sichtbar wird. Dabei erschien uns der Bereich des Biologischen mit der Leben-Tod-Thematik am einleuchtendsten. Katharina Kammeyer und ich kamen schließlich zu einer Bildergeschichte in drei Akten. Diese sollte den Kindergartenkindern gezeigt werden. Die Kinder sollten diese Bilder kommentieren. Im ersten Bild erhalten zwei Kinder ein Meerschweinchen und freuen sich darüber. Im zweiten Bild sind beide Tiere krank und die Kinder beten um Hilfe für ihr Tier. Im dritten Bild ist eines der Tiere tot und das Kind traurig. Das andere Tier ist wieder gesund und seine Besitzerin glücklich. Die Kinder können in diese Geschichte ihr Wissen über die Biologie dieses Tieres ausbreiten einschließlich möglicher Krankheitsgründe und Todesursachen. Spätestens durch den Gebetsgestus der Kinder wird nun allerdings eine religiöse Interpretation in die Geschichte hineingetragen. Im Sinne der Fragestellung von Lilian Fried ging es uns bei unserem Vorgehen primär darum, einmal herauszufinden, wie denn eine mögliche Wissenslandkarte in den Köpfen der Vorschulkinder aussehen könnte. Wir wollten in einem ersten explorativen Schritt solche möglichen Muster in offenen Gruppengesprächen mit Vorschulkindern erkunden. Katharina Kammeyer hat drei Gesprächsrunden organisiert. Meine beiden Gesprächsausschnitte beziehen sich auf die dritte Gruppe, in der drei Jungen für unsere Fragestellung besonders interessante Beiträge äußerten. Der erste Ausschnitt bezieht sich auf eine Sequenz ganz am Anfang des Gesprächs. Noch vor der Präsentation der Bilder sprechen die Kinder von sich aus den von uns ins Auge gefassten Themenkreis an. Hier wird anhand einer Reminiszenz von der Fahrt in den Urlaub der Tod eines Tieres verhandelt: MICHAEL: Mein/wir sind mal in Urlaub gefahren, Papa und ich. Und da hat der Papa eine Ente überfahren aus Versehen. I: Hm, das passiert manchmal aus Versehen, ja. 41 Justin L. Barrett / Frank. C. Keil, Conceptualizing a Non-natural Entity. Anthropomorphism in God Concepts, in: Cognitive Psychology 31, 1996, 219–247.

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MICHAEL: Weißt du, was ich auch nicht versteh’? Warum die Enten nicht von Papa und Mama in die Federn geh’n und dann fliegen die einfach über die Autobahn drüber. Geht doch auch! I: Ja, das wär’ viel besser gewesen, ne? KEVIN: Aber ich habe auch schon mal was gesehen. Es gibt so Klein ( ): Es gibt auch andere ( ), die so Hörner so haben, so dicke. KEVIN: ( ) MICHAEL: Horn ( ), Horn ( ) heißen die bestimmt. I: (lacht) Vielleicht, ja. Sag’ mal Michael. Ich wollt’ den Michael noch was fragen. Eigentlich wär’s doch viel besser gewesen, wenn die Ente dann wirklich geflogen wäre und nicht gelaufen wäre. MICHAEL: Ja. I: Und wieso ist das so passiert? Wieso konnte die nicht einfach fliegen? Hast du eine Idee? MICHAEL: Hm. ALJOSCHA: Ich hab’ eine. I: Er denkt noch nach. Du kannst gleich erzählen, ja, merk dir’s. Micha, hast du ’ne Idee? MICHAEL: Vielleicht/vielleicht hat das die Ente einfach nicht gewusst oder vielleicht hat das ja auch einfach nicht gegangen/gegeht. I: Gegangen, geklappt mit dem Fliegen. MICHAEL: Ja. I: Ja, kann auch sein, dass die das nicht so konnten. KEVIN: Vielleicht/vielleicht hat die Ente woanders hingeguckt und die Auto ist gekommen und kein einziges Pieps gehört und hat sie überfahren und dann hat die’s richtig gesehen und dann ist sie schon tot. Zu spät. I: Ja. Und was meinst du, Aljoscha? ALJOSCHA: Dass die /ehm/ einfach krank war. I: Ja, die war schon ein bisschen schwach, ne. Das können alles so Gründe sein, ja. Ja, manchmal denkt man sich schon: Mensch, so’n Pech, ja. Wieso hätte das jetzt nicht (schnippt) … mit’n bisschen mehr Glück hätte es doch noch klappen können, ein bisschen mehr Kraft … MICHAEL: Und außerdem … I: … aber hat nicht geklappt, so. MICHAEL: … mein Papa, der hat fast ’nen Truthahn überfahren, aber/aber der ist noch weg geflogen. I: Da hat’s geklappt. Guck mal! MICHAEL: Den haben wir zweimal gesehen. Und im Urlaub haben wir/haben wir immer Erdbeeren gekauft und dann haben wir auch was Leckeres gemacht. Nämlich Erdbeeren haben wir dann in die Schokolade reingetunkt.

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IV. Kindertheologie im Vorschulalter

I: Das schmeckt gut. Aber schau, … MICHAEL: Ja, aber mir hat das nicht so geschmeckt. I: Eine Frage: Wieso ist das so, dass das manchmal funktioniert, dass der Truthahn wegfliegen kann und bei anderen Tieren klappt das nicht? KEVIN: Weil die keine Flügel haben. I: Ja, natürlich nur bei Tieren, die auch fliegen. Die Ente hätte fliegen können, aber es hat nicht geklappt. Ist das nicht/ist das nicht ungerecht? ALJOSCHA: Ich kann/ich hab’ eine Idee. I: Sag’ mal Aljoscha. ALJOSCHA: Manche können nicht fliegen, weil /ehm/ die die Federn /ehm/ mehr abgerupft haben. I: Hm. MICHAEL: Oder/oder die Ente, die hatte/die hatte mehr/die wollte nicht wegfliegen, weil sonst ja die kleinen Enten ja auch überfahren werden. I: Du meinst, die hat/sie hat sozusagen auf die Enten noch aufgepasst, dadurch dass sie überfahren wurde. MICHAEL: Ja. Aber es ist nur die Mutter überfahren, der Vater, der lebt noch. I: Aber das ist ja sehr interessant, was ihr alles so erlebt.

Wir sehen hier das beträchtliche Wissen dieser drei Protagonisten. Wir erfahren etwas über die Bedeutung der Federn für das Fliegen. Dazu kommen Überlegungen zur Aufmerksamkeit im Verkehr, Hypothesen über eine mögliche Krankheit werden geäußert und zur Aufmerksamkeit der Entenmutter gegenüber ihren Jungen. Unterbrochen wird dieser Gesprächsgang durch Assoziationen zu Tieren mit Hörnern und zum Erlebnis, Erdbeeren in Schokolade zu tunken. Nur durch den anfänglichen Hinweis auf das Versehen des Vaters beim Überfahren der Ente kommt ein Element von Kontingenz ins Gespräch, was aber im Weiteren nicht aufgenommen wird. Dies geschieht nun ausdrücklich am Ende des Gesprächs. Nach mehreren Überlegungen der Kinder spitzt sich das Thema dann gegen Ende im Sinne unserer Fragestellung zu. Es geht jetzt um den Tod des einen Meerschweinchens: KEVIN: Ja, aber nicht das kl/arme Ding, das ist schon tot. MICHAEL: Das ist … I: Ja. Ja, aber jetzt reden wir über das andere Meerschweinchen, das von der Bettina. Das ist wieder gesund geworden. Das ist doch schön. Ist das jetzt einfach Zufall? Denkt mal nach. MICHAEL: Zufall. ALJOSCHA: Zufall.

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Kontingenzverarbeitung als kognitiver Kern des Religiösen bei Vorschulkindern

KEVIN: Aber nicht das ganz arme. Das ist tot. ALJOSCHA: Zufall. KIRA: Ich hab’ ne Katze. ALJOSCHA: Müssen die noch ein anderes kaufen. Weil ich hab’ gehört /ehm/, Meerschweinchen müssen mit anderen zusammensein. I: Ja, ich glaub, das machen die Kinder auch. Die fühlen sich wohler, wenn die (mit anderen zusammen sind). KEVIN: Ja, das passiert, wenn man ganz krank wird: Da kann man sterben auch. I: Ja, so ist das, ja. Ich wollte noch fragen … KEVIN: Rausgehen? I: Eine Frage noch: Wenn wir uns mal vorstellen, das war vielleicht … Michael, tu mal den Hörer weg. Wenn wir uns mal vorstellen, das ist vielleicht doch kein Zufall, ja? Vielleicht hat Gott noch was damit zu tun, dass es wieder gesund wird. Ich glaub’, ( ). (Aljoscha schüttelt den Kopf.) MICHAEL: Aber wieso musste dann das andere sterben? I: Hm. KEVIN: Das Beten ist nicht gegangen. Oder/das andere/aber das Mädchen hat’s / hat’s gegangen. I: Ja. ALJOSCHA: Ja, ich glaub’, er hat’s gezaubert und konnte von oben so sehen und hat auf das Mädchen gezaubert, nicht auf den Jungen. I: Hm. MICHAEL: Da war (nämlich) ’ne Wolke dazwischen. KEVIN: Dann ist das Mädchen eine Meerschweinchen geworden wieder gesund und das andere hat gestorben. I: Hm, könnte sein, ja. ALJOSCHA: Oder, oder … KEVIN: Aber wenn der Teufel da wäre, hätte der beide tot gemacht, auch die Kinder noch! I: Gott sei Dank, war Gott auch noch da, ne? Und nicht der Teufel. KEVIN: Gott ist lieber, der Teufel kann auch ganz schön böse sein. Der hat eine Gabel. (Er ahmt den Teufel grimassierend nach.) I: Na, der kann ja nichts machen, Kevin. Okay jetzt … (Kevin haut mit der „Gabel“ auf den Tisch.) … jetzt wollte Aljoscha noch was sagen. ALJOSCHA: Oder /ehm/ es gibt zwei Gotts /ehm/ einer ist böse und einer /ehm/ ist nicht böse und einer hat gezaubert, dass der /ehm/ das andere /ehm/ noch lebt und das andere hat gezaubert, dass das andere stirbt. I: Hm, das könnte man sich überlegen, ja. Ja, also die Kinder haben ja zu …

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IV. Kindertheologie im Vorschulalter

MICHAEL: Ich weiß was über Brände. I: … zu (dem) einen Gott gebetet, an den wir glauben. MICHAEL: Ich weiß was/ich weiß was über Feuer. Weil das Feuer, man darf/man darf nicht einfach so eine Tür aufmachen. (Man muss da erstens mal überlegen.) Wenn man die einfach so aufmacht, dann kommt eine riesige Explosion. Nämlich ein Feuer braucht sehr viel Sauerstoff.

Das Gespräch, das eben noch zwischen Ratschlägen zur Haltung von Meerschweinchen und der schlichten Formel vom „Zufall“ plätschert, bekommt mit Kevins Überlegungen zum Beten plötzlich eine neue, interessante Dimension. Gottes Eingreifen als Reaktion auf das Gebet wird im Modus magischen Handelns interpretiert. Gottes Handeln (sei es als Deus-ex-machina oder als Antwort auf das Gebet) wird konkret im Sinne eines Zauberakts interpretiert. Michael nimmt dieses Bild auf, verortet es jetzt aber im Sinne eines physikalisch zu erklärenden Prozesses: „Wenn Wolken dazwischen sind“, kann die Kommunikation nicht klappen. Kevin führt seine Überlegungen nun weiter – jetzt explizit im religiösen Sprachspiel. Er sieht den negativen Ausgang der Meerschweinchengeschichte jetzt veranlasst durch Gottes Gegenspieler, den Teufel. Damit unternimmt er eine differenzierende Weiterentwicklung des Gedankens einer transzendenten Handlungsfigur. Überraschend fügt Aljoscha diesem Gedanken einen weiteren zu: Es könnte zwei „Gotts“ geben, einen guten und einen bösen. Dies könnte einerseits nur eine begriffliche Modifikation des Redens vom Teufel sein. Man kann darin aber auch den Anfang eines Nachdenkens darüber sehen, wieweit dem Göttlichen beides, Gutes und Böses, zuzuschreiben ist. Systematisches Nachdenken, z. B. im Rahmen der Theologie, lässt erkennen, dass eine dualistische und eine monistische Deutung der Theodizeethematik möglich ist, dass aber beide jeweils mit Schwächen behaftet sind.42 Interessant an unserem Gesprächsausschnitt ist aber auch der Schlussbeitrag von Michael. Wir hatten oben erwähnt, dass er die gescheiterte Kommunikation des Kindes mit Gott physikalisch mit der dazwischen stehenden Wolke erklärt. Er führt – unbeschadet der Aussagen über Gott und Teufel – seinen Gedanken innerhalb der physikalischen Domäne weiter und äußert sich zu Bränden, Feuer und Sauerstoff. Obgleich von uns die Übergänge zur Domäne Biologie näher bedacht worden waren, endete unser Gespräch mit Äußerungen intuitiver Physik.

42 Frieder Späth / Hartmut Rupp, Der Teufel und der liebe Gott, in: entwurf 3/2002, 3–5.

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Kontingenzverarbeitung als kognitiver Kern des Religiösen bei Vorschulkindern

Fazit Fritz Osers Konzept des religiösen Urteils ergibt offenbar auch im Bereich der älteren Vorschulkinder signifikante Ergebnisse im Sinne seiner Theorie. Offenere Zugangsweisen machen deutlich, dass die Kontingenzthematik von Vorschulkindern zwar schon wahrgenommen wird, aber eher in assoziativen Antwortversuchen als im Sinne einer konsistenten intuitiven Theorie. Mähler und Ahrens hatten eine solche für die Biologie erst im Grundschulalter ausgemacht.43 Unsere ersten explorativen Untersuchungen weisen in dieselbe Richtung. Gleichwohl ist es sinnvoll und richtig, die Gedankenführungen gerade auch im Vorschulalter genau zu beobachten und zu untersuchen. Es dürfte kein Zufall sein, dass gerade gegen Ende des hier präsentierten Gesprächs die originellsten Antworten der Kinder kamen. Ich will damit ausdrücken, dass erwachsenes Nachfragen und die Konfrontation mit anregendem Material offenbar dazu führten, dass Kinder Fragen aufnehmen und einer Klärung zuzuführen bemüht sind. Die berühmten Warum-Fragen implizieren meist den Wunsch, das Wie der Dinge zu verstehen. Sie enthalten aber oft auch einen metaphysischen Zug im Sinne des von Harris Gesagten. Es lohnt sich also, in Kindern nicht nur kleine Naturwissenschaftler zu sehen, sondern auch kleine Metaphysiker und vielleicht sogar kleine Theologen.

43 Claudia Mähler / Susann Ahrens, Naive Biologie im kindlichen Denken (wie Anm. 30), 153– 162.

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IV. Kindertheologie im Vorschulalter

Religiöse Erziehung als Arbeit am „kulturellen Gedächtnis“ – Überlegungen zur Gebetspraxis im Kindergarten

Drei Generationen Der Rižiner Rabbi erzählte: „Als der heilige Baalschemtow einst das Leben eines todkranken Knaben, dem er zugetan war, retten wollte, hieß er ein reines Wachslicht gießen, nahm es in den Wald, heftete es an einen Baum und entzündete es. Dann sprach er einen langen Spruch: Das Licht brannte die ganze Nacht. Am Morgen war der Knabe genesen. Als mein Ahn, der große Maggid, der Schüler des heiligen Baalschemtow, eine ebensolche Heilung bewirken wollte, wusste er die geheime Spannung des Spruches nicht. Er tat, was sein Meister getan hatte, und rief dessen Namen an. Das Werk geriet. Als Rabbi Mosche Löb von Sassow, der Schülersschüler des großen Maggids, eine ebensolche Heilung bewirken wollte, sprach er: ‚Wir haben nicht mehr die Kraft, es auch nur zu tun. Aber erzählen will ich die Begebenheit, und Gott wird helfen.‘ Und das Werk geriet.“1

Diese kleine Geschichte aus der chassidischen Tradition hat mindestens zwei Pointen. Folgt man der Herrschaftssoziologie des großen Soziologen Max Weber, dann erleben wir hier so etwas wie die „Veralltäglichung“ des ursprünglichen Charismas.2 Was einst die Autorität und das Charisma eines Mannes bewirkt hat, wird überführt in Tradition. Diese speist sich noch durch die Rückerinnerung und Vergegenwärtigung des ursprünglichen Heros und seines Handelns, hat jetzt aber institutionelle Formen angenommen. Die „Tradition“ wird „legitimiert“. Gleichzeitig zeigt die kleine Geschichte aber auch, dass diese Tradition nicht selbstverständlich ist, dass ihre Bestandteile immer karger werden. Man kann sich mit Recht fragen, was denn nun aus der nächsten oder übernächsten Generation wird. „Wird noch einer die Erzählung kennen?“ „Wird sie noch gehört werden wollen?“ „Wird sie noch etwas bewirken?“

1 Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1949, 543. 2 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1. Halbband, Köln/Berlin 1964, 182f.

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Religiöse Erziehung als Arbeit am „kulturellen Gedächtnis“

Wir wissen gerade von der oben erzählten Geschichte, dass sie uns deshalb erhalten geblieben ist, weil Sammler wie Martin Buber oder Chaim Bloch3 sie aufgeschrieben haben, kurz bevor bzw. nachdem diese chassidische Welt Osteuropas ausgelöscht wurde. Gleichwohl wissen wir etwa vom Märchen-Sammeln der Brüder Grimm, dass die Verschriftlichung ursprünglich mündlicher Überlieferung ein Indiz dafür ist, dass die Selbstverständlichkeit mündlicher Überlieferung prekär geworden ist. So gesehen markiert das Aufschreiben in gewisser Weise immer auch ein Stück weit das Ende des Erzählens. In jüngster Zeit hat der Ägyptologe Jan Assmann Überlegungen zu dem hier skizzierten Vorgang unter dem Stichwort des „kulturellen Gedächtnisses“ vorgenommen. Assmann reflektiert darüber, wie Kollektive imstande sind, ein „kollektives Gedächtnis“ zu entwickeln und zu bewahren. Dabei geht es einmal um die Identität des Kollektivs, dann aber auch um die Kontinuität der Inhalte. Assmann unterscheidet vier Typen von Gedächtnis:4 „Erstens: Das mimetische Gedächtnis. Dieser Bereich bezieht sich auf das Handeln. Handeln lernen wir durch Nachmachen. Die Verwendung von schriftlichen Handlungsanleitungen wie Gebrauchsanweisungen, Kochbüchern, Bauanleitungen ist eine verhältnismäßig späte und nie vollständig durchgreifende Entwicklung. Handeln lässt sich nie vollständig kodifizieren. Noch immer beruhen weite Teile des Alltagshandelns, von Brauch und Sitte auf mimetischen Traditionen.“ Als Zweites nennt Assmann das Gedächtnis der Dinge. Die alltäglichen Dinge, mit denen der Mensch Umgang hat und in denen er lebt „spiegeln ihm ein Bild seiner selbst wider, erinnern ihn an sich, seine Vergangenheit, seine Vorfahren usw.“ Sprache und Kommunikation bilden als Drittes das kommunikative Gedächtnis. Sprache entsteht und entwickelt sich im kommunikativen Austausch. Viertens: Das eigentliche kulturelle Gedächtnis. Hier versammeln und verbinden sich die ersten drei Typen.5 3 Chaim Bloch, Chassidische Geschichten, München 1990. 4 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1999, 20. 5 Ebd., 21: „Das kulturelle Gedächtnis bildet einen Raum, in den alle drei vorgenannten Bereiche mehr oder weniger bruchlos übergehen. Wenn mimetische Routinen den Status von Riten annehmen, d. h. zusätzlich zu ihrer Zweckbedeutung noch eine Sinnbedeutung besitzen, wird der Bereich des mimetischen Handlungsgedächtnisses überschritten. Riten gehören in den Bereich des kulturellen Gedächtnisses, weil sie eine Überlieferungs- und Vergegenwärtigungsform des kulturellen Sinnes darstellen. Dasselbe gilt für Dinge, wenn sie nicht nur auf einen Zweck, sondern auf einen Sinn verweisen – Symbole, Ikonen, Repräsentationen wie etwa Denksteine, Grabmale, Tempel, Idole usw. überschreiten den Horizont des Dinggedächtnisses, weil sie den impliziten Zeit- und Identitätsindex explizit machen.“

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IV. Kindertheologie im Vorschulalter

Für die Frage der religiösen Traditionsbildung scheinen mir vor allem die ersten beiden Aspekte wichtig. In welcher Weise werden gleichsam routinemäßig Symbole der religiösen Zugehörigkeit vermittelt? Gibt es Gegenstände, die über sich hinausweisend ein Teil kollektiven Gedächtnisses sein können? Für das Erste könnten Gebete stehen, für das Zweite Gegenstände wie eine Familienbibel. Stehen Möglichkeiten der schriftlichen Speicherung und Überlieferung nicht zur Verfügung, bedarf es anderer Techniken der Bewahrung und Weitergabe wie „poetische Form, rituelle Inszenierung und kollektive Partizipation.“6 Konkret heißt das: Was wird auswendig gelernt?7 Welche geprägten Situationen gibt es, an denen solche Texte gesprochen werden? Gibt es einen bestimmten Teilnehmerkreis, der bei der erinnernden Aufsage regelmäßig teilnimmt? Assmann verweist im Zuge seiner Argumentation einmal auf die Notizen im Pentateuch, wo immer wieder die Notwendigkeit betont wird, auf die mit Gott verbundene Geschichte der Rettung aus der ägyptischen Sklaverei hinzuweisen. Dabei wird bewusst der Modus der Weitergabe festgehalten: „Wenn dein Sohn dich fragt, … dann sollst du ihm sagen!“8 Der klassische Beweisort seiner Argumentation ist in der Logik dieser Bibelstellen die Pessach-Haggada, in der jährlich jede jüdische Familie ihre Erinnerung an das Auszugsereignis inszeniert.9 Die jüdische Pessachfeier hilft mir, die Fragestellung meiner Ausführungen zu präzisieren. Ich möchte diskutieren, wie sich „die Weitergabe des Glaubens an die kommenden Generationen“10 im familialen Kontext vollzieht bzw. nicht vollzieht. In einem zweiten Schritt möchte ich bedenken, welche Konsequenzen sich daraus für die Arbeit in Kindertagesstätten ergibt, die sich in der Trägerschaft der christlichen Kirchen befinden.

Das häusliche Abendgebet als Paradigma der Glaubensweitergabe Gabriele Wohmann erzählt in unnachahmlicher Präzision die Geschichte eines Paares mit einem Kind. Durch eine Krankheitserfahrung erinnert sich Carla, die Frau, an die eigenen religiösen Kindheitserfahrungen und versucht, ihren eher 6 Ebd., 56. 7 Dabei ist zu bedenken, dass im englischen „learn by heart“ und dem französischen „apprendre par coeur“ dieses Lernen jeweils mit dem Herzen verbunden wird. 8 Assmann, Gedächtnis (wie Anm. 4) 15, verweist ausdrücklich auf Dtn 6,20ff; Ex 12,26f; Ex 13,14f; Ex 13,8. 9 Ebd., 15f, 90. 10 Die gleichnamige Synode der Diözese Rottenburg-Stuttgart 1985/86 hat meines Wissen als Erste im deutschsprachigen christlichen Raum diese Fragestellung auf ihre Tagesordnung gesetzt.

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Religiöse Erziehung als Arbeit am „kulturellen Gedächtnis“

reservierten Partner davon zu überzeugen, dass das gemeinsame Kind doch die Erfahrung eines Abendgebets machen solle. Der folgende Ausschnitt gibt die Atmosphäre dieses Gesprächs sehr anschaulich wieder:11 „Carla wiederholte, […] es sei nicht günstig für Dirk, wenn er in der Schule zum ersten Male von Gott erführe. Das Wort hört er doch täglich viele Male, Gott, wir sagens doch dauernd. Um Carla aufzuheitern, schnitt Micky eine Grimasse und machte: Ohgottohgott! Ohgottchen! Schlimm genug, schimpfte Carla ‚Du sollst den Namen deines Herrn nicht unnütz im Munde führen.‘ Sag mal, liest du zur Zeit irgendetwas in der Richtung? fragte Micky. Schlimm genug, dass wir dauernd so gedankenlos ‚Lieber Gott‘ und ‚um Gottes Willen‘ sagen und ‚Gott sei Dank‘. Carla war jetzt erst richtig erbittert. […] Er braucht zum Beispiel ein Abendgebet, rief Carla [… Micky] hinterher, übers Abendgebet könnte man alles einleiten.“

Wir können uns leicht vorstellen, dass in dieser Konstellation die praktischen Versuche mit dem Abendgebet für den kleinen Dirk sich äußerst kompliziert gestalten. Doch kann man annehmen, dass die Erfahrungen und Konflikte von Carla und Micky für viele junge Eltern nicht untypisch sind. Mit Ulrich Schwab spiegeln solche offenen, eher unentschieden wirkenden Prozesse eine aktuelle Form von individualisierter Religiosität wieder. In dieser hört allerdings die Familie auf, „wie selbstverständlich ein kirchlicher Sozialisationsagent zu sein“.12 Damit trifft wohl zunehmend nur noch für eine Minderheit das Wunschszenario zu, wie es die katholische Synode von Rottenburg-Stuttgart formuliert hat:13 „Wesentliche Elemente für eine vitale Glaubenspraxis in der Familie sind die Feier christlicher Feste, das Erzählen biblischer Geschichten, das Sprechen über den Glauben, die schrittweise Einführung der Kinder in die Mitfeier des sonntäglichen Gottesdienstes und in das Leben in der Gemeinde. Dabei kommt dem regelmäßigen gemeinsamen Gebet besondere Prägekraft zu.“ 11 Gabriele Wohmann, Müde bin ich – und wie weiter? In dies., Erzählen Sie mir was vom Jenseits. Gedichte, Erzählungen und Gedanken, Mainz 1994, 86–96, hier 90f. 12 Ulrich Schwab, Familienreligiosität. Religiöse Traditionen im Prozess der Generationen. Stuttgart u.a. 1995, 280. Dabei weist Schwab darauf hin, dass sich die religiösen Familienmuster in bürgerlichen Familien, Arbeiterfamilien und Landfamilien jeweils unterschiedlich darstellen, 274ff. 13 Bischöfliches Ordinariat Rottenburg (Hg.), Beschlüsse der Diözesansynode Rottenburg-Stuttgart 1985/86. Weitergabe des Glaubens an die kommende Generation, Ostfildern 1986, 120.

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IV. Kindertheologie im Vorschulalter

Zweifellos verfolgt diese Formulierung das Interesse, dem Kollektiv „katholische Kirche“ identitätsstiftende Modi der „kulturellen Erinnerung“ zu bewahren. Die von Schwab im Anschluss an Henning Luther bezogene Perspektive vom einzelnen religiösen Subjekt her grenzt sich demgegenüber von dieser kollektivorientierten Sichtweise gerade ab.14 Doch dürfte auch für die protestantische Theologie die Fragestellung der katholischen Synode von unverzichtbarer Dringlichkeit sein. Nimmt man dagegen den Weg der subjektiven Religiosität, dann verweist uns gerade Gabriele Wohmanns Paar auf interessante Lösungsmöglichkeiten. Carla und Micky hatten ein ausgeprägtes Zu-Bett-Geh-Ritual. Allerdings spielten dabei „Pummi, Bongo der King und Elfriede die Hauptrolle, nicht Jesus Christus oder Gott.“ Entsprechend geht dann auch Carlas Versuch mit dem Abendgebet aus:15 „Carla, am nächsten Abend auf Dirks Bettrand, war gerade bei ‚Schließe beide Äuglein zu‘, als Dirk seine gefalteten kleinen Hände auseinanderriss und dann so formte, als umklammere er eine Pistole. Peng peng! Rief er. Sein schönes freundliches und sanftes Kindergesicht war fröhlich. Dirk versuchte grimmig und schießwütig auszusehen. Jetzt nicht, sagte Carla, der es gelang, behutsam zu sprechen. Was wir jetzt machen, das ist … also wir beten.“

Die Szene zeigt zweierlei. Einmal, dass es offensichtlich gar nicht so einfach ist, in einer Lebenswelt, die in ihren bestimmenden Merkmalen wie Kindergarten, Großeltern etc. keine christliche Grundfärbung vermittelt, einfach anzufangen mit der Weitergabe von Glaubensformen und -inhalten. Zum andern scheinen vordergründig äquivalente Muster auf, z.B. bezüglich des Zu-Bett-Geh-Rituals. Wir können, psychologisch gesehen, fragen, ob das alternative, nichtreligiöse Modell es ebenfalls leisten kann, wie das Abendgebet, das die Garantie der Geborgenheit tendenziell von der konkreten Person ablöst und mit der Gottesfigur verbindet, den Trost und die Geborgenheit auch dann zu vermitteln, wenn dies die konkreten Bezugspersonen nicht vermögen.16 Betrachtet man die Szene im Hinblick auf die Genese, Existenz oder Pflege eines „kollektiven Gedächtnisses“, dann wird man nicht umhin kommen, danach zu fragen, ob es Institutionen geben kann, die diese Pflege gegebenenfalls zu organisieren in der Lage sind. 14 Schwab, Familienreligiosität (wie Anm 12), 280. 15 Wohmann, Müde (wie Anm. 11), 95. 16 Friedhelm Grünewald, Das Gebet als spezifisches Übergangsobjekt, in: Wege zum Menschen 1982, 221–228, hier 226.

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Religiöse Erziehung als Arbeit am „kulturellen Gedächtnis“

Gebetserziehung im Kindergarten Trotz der oben skizzierten Einwände ist nach Regine Schindler „das Abendgebet in vielen Familien, neben, aber sicher nach dem Feiern von Advent und Weihnachten, jenes Element der christlichen Erziehung, das noch am ehesten gepflegt wird“.17 In einer gewiss nicht repräsentativen Aktion waren Kinder gebeten worden, ihre Gebete an den Verlag zu schicken. Vor allem Kinder aus der 2. und 3. Klasse waren der Aufforderung gefolgt.18 Neben vielen kreativen Neuschöpfungen schickte eine große Zahl von Kindern die seit langem bekannten gereimten Gebete „Ich bin klein“, „Jedes Tierlein hat sein Essen“, „Müde bin ich, geh zur Ruh“ und „Lieber Gott, mach mich fromm“.19 Trotz inhaltlicher Bedenken bei der einen oder anderen Formulierung sieht die als Autorin von religiösen Kinderbüchern bekannt gewordene Regine Schindler hier aber auch exemplarische Modi der Weitergabe von „kultureller Erinnerung“:20 „Offensichtlich singen noch heute viele Eltern mit ihrem Kind ein kleines religiöses Abendlied und beten dann Texte, die sie aus ihrer eigenen Kindheit in sich tragen: meist alte gereimte Kindergebete. Kinder und Eltern stimmen damit ein in den Chor von Großeltern, Eltern und Geschwistern – Menschen, die vor ihnen immer wieder diese Gebete gebraucht haben. […] Das Überwinden von Hemmungen, das beim gemeinsamen freien Beten nötig ist, bleibt den Betenden weitgehend erspart. So ist es nicht erstaunlich, dass sich unter den eingesandten Kindergebeten ein gutes Viertel fest formulierter Texte befindet.“

Eigene erste empirische Untersuchungen in einigen Kindergärten des Ruhrgebiets zeigen allerdings, dass das Schindler’sche Bild wohl zu optimistisch ist. Wir werden sehen, dass trotz Gebetserziehung im Kindergarten aufgrund der erschließbaren häuslichen Praxis die Wirklichkeit in ihrer Mehrheit wohl eher bei Gabriele Wohmann als bei Regine Schindler zu finden ist. Ich dokumentiere im Folgenden Ausschnitte aus einer Stuhlkreisszene, die wir per Video dokumentiert und anschließend transkribiert haben:21

17 Regine Schindler, Was Kinder von Gott erwarten. Gebetstexte von Kindern und was sie uns damit sagen wollen, Lahr 1993, 7. 18 Ebd., 6. 19 Ebd., 132ff. 20 Ebd., 132. 21 Die Studie wurde vom Diakonischen Werk der EKD finanziell unterstützt. Aufnahme und Transkription unternahm dankenswerterweise Frau Katharina Kammeyer.

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IV. Kindertheologie im Vorschulalter

Im Stuhlkreis sind sechs Kinder im Alter von 5 und 6 Jahren. Kybra und Sami sind Muslime. Das Gespräch fand in den Räumen des Ev. Kindergartens statt. Zu Beginn betrachten die Kinder ein Bild, auf dem eine Mutter mit ihrem Kind betet. Nachdem, wie in allen Vergleichsgruppen, die erste Aufmerksamkeit auf die Spielzeuge gefallen ist, kommen die Kinder zum Thema „Beten“. Erz.: Fällt euch denn da was auf bei der Mutter und bei dem Kind? Alexej: Die beten. Erz.: Ganz genau, die beten. Woran hast du das denn gesehen? Alexej: Das hier, die Hände. Erz.: Was haben die mit den Händen gemacht? Kybra: Beten. So: [sie faltet die Hände] Erz.: Wie heißt das, wenn man die Hände so macht? Christian: Amen. Erz.: Das sagt man hinterher, ne? Kybra: Auf Türkisch sagen wir … Erz.: Fällt’s dir jetzt nicht ein? Kybra: Kennst du …? (Zu Sami) Erz.: Die ham die Hände gefalten, ne? Kybra: Ja, unser, unser, bei Haus, wenn meine Mutter betet, dann macht sie immer so: [streckt beide Hände mit den Handflächen nach oben vor sich und krümmt dabei die Finger.] Erz.: Die macht so, der Sami auch, macht ihr zu Hause auch so? [Sami nickt.] Christian: Ich mache so: [hält beide Hände über dem Kopf zusammen.] Alexej: Ich auch. […] Vanessa: Ich mach auch immer so. Erz.: Ahm, kann man ja auch machen, das ist ja egal, so kann man das auch machen. Kybra: So auch: [legt beide Handflächen aneinander.]

Eindeutig am kompetentesten sind die beiden muslimischen Kinder. Sie kennen die eigene Gebetshaltung und die christliche auch, offensichtlich im Gegensatz zu Christian. Von Sami kommt auch der Hinweis auf Jesus. Kybra nennt später ausdrücklich Allah als Adressaten ihrer Gebete. In der folgenden Sequenz geht es um das gemeinsame Gebet im Kindergarten. Erz.: Wenn wir morgens beim Frühstückstisch beten, was betet ihr dann? [Allgemeines Gemurmel.]

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Religiöse Erziehung als Arbeit am „kulturellen Gedächtnis“

Erz.: Genau! Vanessa, sag’ doch mal! Vanessa: Gott, wir danken dir, für das Essen, für das Trinken. Sami: Für die Häuser. Kybra: Für die Blumen. Alexej: – und die Fische. Kybra: Ich kann eins, so, so, so … [malt das Haus vom Nikolaus in die Luft]. Vanessa: Gott, wir danken dir für das Essen, für das Beten. Erz.: Und wohin geht das dann, wenn du das sagst? Christian: Im Mund. Alexej: Zu dem Gott. Erz.: Zu dem Gott. Kybra: Amen. Sami: Und zu Jesus. Erz.: Und wohin geht das dann? Alexej: Zu Jesus. Erz.: Zu Jesus? Sami: Ja, vor Gott und vor Jesus. Kybra: Zu Gott und zu Jesus. Erz.: Und wo ist das? Sami: Im Himmel. Christian: Amen sagen. [faltet die Hände vor dem Mund.] Kybra: Was hast du da gemacht? [nimmt seine Hände.] Erz.: Kennt ihr denn auch ein Gebet, was man zusammen sprechen kann? Christian nickt: Da hab ich mir bei der Haustür die Finger eingeklemmt. Dennis: Ich kenn nur en Anfang: Piep, piep, piep, wir ham uns alle lieb. Erz.: Ist das denn das Gebet? Dennis: Der Anfang … Erz.: Wir kennen doch noch eins, das wir zusammen sprechen. Alle … Sami, auch Alexej und Kybra: guten Gaben, alles wir haben, kommt das Gott von dir, wir danken dir dafür. Amen. Erz.: Genau, das ist das, was wir zusammen sprechen.

Interessant ist an dieser Stelle, was Dennis mit Beten assoziiert, vermutlich gehört der Spruch zu einer säkularen Abendliturgie wie in dem Wohmann-Beispiel. Interessanterweise antworten alle Kinder, sie beteten zuhause. Doch die konkreten Antworten weisen bei einzelnen Kindern eher auf eine Antwort hin, die der Erwartung der Erzieherin entsprechen soll, als auf eine dahinterliegende Praxis, etwa wenn Alexej erklärt, bei ihm bete zu Hause „jeder alleine“. Auch da, wo eine 135

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gemeinsame Gebetspraxis erschließbar ist wie bei Christian, spricht manches eher für eine säkulare Liturgie als für ein Abendgebet. Erz.: Christian, faltest du denn auch die Hände, wenn du mit der Mama betest? [Christian nickt.] Kybra: Wie denn? Erz.: Die Mama auch. Christian faltet die Hände: Ja, Mama betet mit mir zusammen. Erz.: Und habt ihr da ein bestimmtes Gebet, wenn ihr zusammen betet? [Christian nickt.] […] Erz.: Magst du das mal sagen? Christian: Mit der Ziege und so und Blumen und den … und mit die Stühle mit dem Tisch, Amen. [Er nickt.]

Dass die Kinder das Beten stark an formalen Dingen festmachen wie der Gebetshaltung oder dem Amen, ist auf der Basis der entsprechenden Studien zum Thema erwartbar.22 Überraschend, wenngleich offensichtlich nicht untypisch ist die religiöse Kompetenz der beiden muslimischen Kinder im Vergleich zu den vielleicht eher nicht-muslimischen als christlichen. Der Kindergarten scheint durch die gemeinsame Gebetspraxis beim Essen seinen Beitrag zur entsprechenden religiösen Unterweisung zu leisten. Doch fordert das Ergebnis zu einer intensiven Diskussion darüber heraus, ob dieser Beitrag so richtig dimensioniert ist. Damit treffen wir ins Zentrum der sog. Profildiskussion der Evangelischen wie auch Katholischen Kindergärten. Will man eine solche führen, dann muss man mindestens drei Dimensionen benennen: 1. Den Ist-Zustand, 2. Ein wünschbares Ziel und 3. Mögliche Wege, um diesem näher zu kommen. Nach meinen Stichproben in Kindergärten in Baden-Württemberg und im Ruhrgebiet kann man keinesfalls von einer bestimmenden Situation für alle Kindergärten ausgehen. Dabei ähneln sich nichtkonfessionelle und konfessionelle im Einzelfall, auch was die religiöse Erziehung angeht, oft stärker als etwa die „evangelischen“. Wenn ich die eben skizzierte Szene zum Ausgangspunkt nehme, dann deshalb, weil sie gewiss nicht unrepräsentativ für viele Kindergartensituationen in Deutschland ist. Zudem kann ich an dem konkreten Beispiel die Fragestellung prä22 Diane Long / David Elkind / Bernard Spilka, The Child’s Conception of Prayer. Journal for the Scientific Study of Religion (6) 1967, 101–109 und Rina Rosenberg, Die Entwicklung von Gebetskonzepten, in: Anton A. Bucher / K.H. Reich (Hg.), Entwicklung von Religiosität. Freiburg/CH 1989, 175–198.

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ziser formulieren.23 Demnach gewinnt man den Eindruck, dass bei den muslimischen Kindern die Weitergabe von Glaubenstradition in der Familie besser funktioniert als bei den nichtmuslimischen. Zudem dürfte die „Individualisierung“24 in den nichtmuslimischen Familien stärker ausgeprägt sein. D.h., dass bei den einzelnen Familien mit recht unterschiedlichen Ausprägungen christlicher Tradition zu rechnen ist. Aus dem Gesprächsausschnitt haben wir entnehmen können, dass der Kindergarten Gebetserziehung betreibt, die etwa dazu führt, dass die Kinder ein Gebet erinnern und die Funktion von Dankgebeten kennen.25 Die Anwesenheit der muslimischen Kinder führt hier offensichtlich dazu, das Thema „Beten“ in dieser Gruppe zu präzisieren und zu vertiefen. Die Frage nach möglichen Zielen müsste nach dem Elternrecht (Art 6 GG) zunächst einmal bei den Erwartungen der Eltern ansetzen. Warum schicken sie das Kind in einen evangelischen Kindergarten? Sind es pragmatische Gründe, wie die Nähe zur Wohnung oder der gute Ruf der Einrichtung? Oder erwarten die Eltern, dass die Kinder hier die religiöse Unterweisung erfahren, die sie selbst den Kindern nicht geben können oder wollen? Erwarten sie als Muslime, evangelische oder katholische Christ/innen eine „allgemeine“ Religiosität gewissermaßen als Propädeutik für die jeweilige konkrete konfessionelle Ausprägung?26 Oder sollte hier bewusst eine konfessionell-evangelische Sozialisation gefördert werden? Doch wird man fragen dürfen, ob bzw. wie weit es eine solche überhaupt gibt. Gerade zu den letzten Punkten liegen nun allerdings kirchlicherseits Überlegungen und Reflexionen vor, die zur Kenntnis zu nehmen sind. Die bereits oben zitierte Rottenburger Synode formuliert, noch ohne Wahrnehmung der multireligiösen Situation:27 23 Dabei gehe ich stillschweigend davon aus, dass ich die Aussagen der Kinder recht verstanden und gedeutet habe. Das ist, forschungsmethodisch gesehen, nicht unproblematisch. Einmal sind viele Aussagen, z.B. „Betet ihr zuhause“ in diesem Zusammenhang, mit Piaget gesprochen, „suggeriert“ (Jean Piaget, Das Weltbild des Kindes, Stuttgart 2015, 31ff). Zum anderen müsste man, um einigermaßen sichere Antworten zu erhalten, die Eltern oder auch die Erzieherin nochmals befragen. Außerdem wird man davon ausgehen müssen, dass die Kinderantworten in der „intuitiv-projektiven Phase“ (Fowler) nicht immer stabile Vorstellungen wiedergeben. 24 Friedrich Schweitzer, Einleitung: Ein neuer Ansatz in der religiösen Erziehung, in Ch. Th. Scheilke / ders., Kinder brauchen Hoffnung. Religion im Alltag des Kindergartens, Gütersloh /Lahr 1999, 7–18, schreibt (8): „ In fast allen Einrichtungen bringen die Kinder sehr unterschiedliche Voraussetzungen mit“ und erläutert dies ähnlich wie in unserem Beitrag. 25 Man wird dann mit einem gewissen Recht auch die Kenntnis von Bittgebeten annehmen können. 26 Frieder Harz, Was ist das Evangelische am Kindergarten in kirchlicher Trägerschaft? In M. Schreiner (Hg.), Vielfalt und Profil. Zur evangelischen Identität heute, Neukirchen-Vluyn 1999, 63–79, 75: „Die Erfahrung zeigt, dass viele muslimische Eltern ihre Kinder in einem bewusst christlichen Kindergarten besser aufgehoben wissen als dort, wo die religiöse Dimension ausgeblendet wird.“ 27 Bischöfliches Ordinariat Rottenburg, Diözesansynode (wie Anm. 13), 66.

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„Den Erzieherinnen und Erziehern in Kindergärten und Kindertagesstätten mit kirchlicher Trägerschaft kommt eine besondere katechetische Verantwortung zu. Eine vom Glauben her motivierte Erzieherin wird einen spezifischen Beitrag leisten können in der religiösen Erziehung des Kindes. […] Die religiöse Erziehung der Kinder im Kindergarten kann auch bei den der Kirche fernstehenden Eltern das Interesse an der Gemeinde wiedererwecken und fördern. Nicht selten erfahren solche Eltern über ihr Kind, dass der Glaube auch ihnen selbst eine sinnvolle Lebensgestaltung ermöglicht.“

Einen gewissen Kontrast bildet das programmatische Buch aus der evangelischen Kindergartenarbeit „Kinder brauchen Hoffnung“.28 In seiner programmatischen Einleitung formuliert Friedrich Schweitzer:29 „[Der vorliegende Ansatz] ist aus evangelischer Sicht entwickelt, zugleich auch für andere Konfessionen offen und einer multikulturellen sowie multireligiösen Situation angemessen.“ In Abgrenzung von einer primär „kirchlich“ verstandenen Religiosität formuliert er: „‚Religion im Alltag des Kindergartens‘ ist also nicht Kirchlichkeit und nicht bloß Sonntagsreligion. Sie ist Ausdruck von Lebensfragen, des Zweifels, der schwierigen, aber auch der schöneren Erfahrungen, die über die Welt des ‚Normaltages‘ mit seinen Aufgaben hinausweisen.“ Im Zusammenhang der multikulturellen und multireligiösen Situation verweist Schweitzer einmal auf die grundlegende Bedeutung der Frage nach Gott, zum anderen auf die „Gestaltungsdimension“ des Kindergartens. Zwar wehrt Schweitzer die Vermutung ab, die starke Betonung der „religiösen Dimension“ solle so verstanden werden, als sollten „Inhalte“ oder „Themen“ in den Hintergrund treten. Gleichwohl beginnt das Buch programmatisch mit der breiten Entfaltung der anthropologisch fundierten Grunddimensionen wie Raum, Zeit oder Geheimnis. Weil wir unsere Überlegungen anhand des Themas „Gebet“ entfalten wollen, soll im Folgenden auf den Beitrag von Volker Eisenbast zum Thema „Stille, Meditation, Gebet“30 hier näher eingegangen werden: Man spürt dem Beitrag ab, dass er auf Erzieher/innen zielt mit der Absicht, diese keinesfalls zu überfordern, und deshalb sehr einladend und verständnisvoll argumentiert. Wie der Titel zeigt, wird an Erfahrungen mit Stille und Meditation angeknüpft. Gemäß des skizzierten Programms wird auf die Grunderfahrung geachtet: „Dem Zeitpunkt, dem Raum und seiner Gestaltung sollte besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.“ Gefragt wird nach dem Anlass oder rechten Zeitpunkt des Betens, und schließlich wird zu bedenken gegeben, „ob (bestimm28 Scheilke / Schweitzer, Hoffnung (wie Anm. 24). 29 Schweitzer, Einleitung (wie Anm. 24), 7ff. 30 Volker Elsenbast, Stille, Meditation, Gebet, in Scheilke / Schweitzer, Hoffnung (wie Anm. 24), 75–85.

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te?) Erzieherinnen und Erzieher mit (allen?) Kindern beten, oder ob Geistliche oder Mitarbeitende mit religionspädagogischer/katechetischer Ausbildung einbezogen werden, oder welche Rolle die Eltern und vor allen Dingen die Kinder übernehmen.“31 Erst ganz zum Schluss kommt der inhaltliche Vorschlag: „Es wäre schön, wenn die Kinder ein wichtiges Gebet ihrer Religion – im Alltag oder bei besonderen Gelegenheiten – kennen lernen könnten.“32 Vergleicht man die katholische mit der evangelischen Argumentation, dann wird man Sprecher und Adressaten mit in den Blick nehmen müssen. Deutlich ist, dass die evangelische Argumentation, was Friedrich Schweitzer herausstreicht33, religiöse Erziehung als Bildungsauftrag sieht. Sie blickt dabei primär auf die einzelnen Subjekte in diesem Bildungsprozess, d.h. vorrangig die Kinder. Daneben gilt die Aufmerksamkeit den Erzieher/innen. Die von uns angesprochene Thematik eines „kulturellen Gedächtnisses“ wird nicht aufgenommen. Die Inhalte religiöser Erziehung konzentrieren sich auf die Gottesfrage, wobei insgesamt eher „universalistisch“ argumentiert wird als „differentistisch“. Die katholische Argumentation verfolgt mit ihrer Betonung der Familie und dem Bezug zur Kirchengemeinde zweifellos eine Strategie der Arbeit am kulturellen Gedächtnis. Zu fragen ist dort, ob sie den pluralistischen Kontext in seiner ganzen Radikalität zur Kenntnis nimmt. Bevor ich die oben skizzierten Fragen nach Ziel und Weg weiterverfolgen kann, scheint es mir an dieser Stelle angeraten, einen Blick auf die Praxis eines jüdischen Kindergartens in Deutschland zu werfen. Die Zeitschrift TPS platzierte ihn interessanterweise in ein Themenheft zum interreligiösen Dialog.34 Eine wichtige Voraussetzung des hier beschriebenen jüdischen Kindergartens Frankfurt ist, dass die Eltern der Kinder „ob religiös oder nicht – meist großen Wert auf eine jüdische Erziehung der Kinder [legen. …] Viele Eltern können selbst kaum noch Religion vermitteln, [kommen] auch als Fragende, wollen Erklärungen zu Ritualen und religiöser Kultur.“ Der Kindergarten achtet darauf, dass die religiösen Gebote eingehalten werden. Dabei setzt die orthodoxe Minderheit den Maßstab, weil die Minoritätensituation in Deutschland es nicht zulässt, dass jede jüdische Glaubensrichtung ihren eigenen Kindergarten hat.35 Über die konkreten Beiträge zur religiösen Erziehung berichtet Inge Pape:36 31 Ebd., 83f. 32 Ebd., 85. 33 Friedrich Schweitzer, Nachdenken, in: Scheilke / Schweitzer (wie Anm. 24), 137–166, hier 139ff. 34 Inge Pape, Interreligiös, interkulturell, liberal, orthodox. Zu Besuch im jüdischen Kindergarten in Frankfurt a.M. Theorie und Praxis der Sozialpädagogik 5/97, 282–284. 35 Ebd. 36 Ebd.

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„Vor dem Essen sprechen Kinder die Beracha (Segenssprüche) über die verschiedenen Speisen, die Jungen bedecken dabei ihren Kopf mit der Kippa. […] Die Feiertage – immerhin zwölf an der Zahl – gehen auch im jüdischen Kindergarten durch den Magen. Bestimmte Speisen sind den Festtagen zugeordnet, werden mit den Kindern und manchmal mit den Eltern hergestellt und erzeugen den intellektuellen Wiedererkennungswert für die Kinder. Freitags begeht man miteinander den Beginn des Schabbaths.“ Zusammen mit den Kindern wird jede Feier besonders gestaltet durch eine Geschichte, ein Lied, ein Puppenspiel. „Die Kinder bringen eine Blume mit, der Sabbathtisch wird gedeckt mit zwei Mohnzöpfen, dem Traubensaft und dem festlichen Leuchter. Die Kinder zünden die Kerzen an und sprechen die Segenssprüche.“

Auch wenn es nicht ganz legitim ist, die Auswirkungen Frankfurter Erziehungspraktiken in US-amerikanischen Studien zu suchen, so ist es doch interessant zu sehen, was David Heller in einer Studie über das Gottesverständnis von Kindern als typisch für seine jüdischen Probanden herausarbeitete:37 Charakteristisch ist der Geschichtsbezug. Der fünfjährige Harold formuliert das so: „Gott ist Teil unserer Geschichte, der Geschichte des jüdischen Volkes.“38 Dabei schlagen viele Kinder Brücken von der biblischen Zeit bis heute, wenn auf die Herkunft von Aaron verwiesen wird; dies drückt sich aber noch aus in generellen Verweisen auf die länger zurückreichende Familiengeschichte.39 Von besonderer Bedeutung ist die Tendenz der jüdischen Kinder, ihren Gott in bewusster Unterscheidung zum Gott der Nichtjuden zu sehen. Dies unterschied die jüdische Stichprobe von Protestanten, Katholiken und Hindus.40 Eine wichtige Rolle spielt für die jüdischen Kinder das Leidensmotiv. Heller sieht sie als „Nachfahren des biblischen Hiob.“41 So lässt etwa der sechsjährige Keith beim Rollenspiel mit Figürchen Gott weinen, wenn ein Junge stirbt.42 37 David Heller, The Children’s God, Chicago/London 1986. 38 Ebd., 19, Übersetzung von mir. 39 Ebd., 20f, wobei Heller in diesem Zusammenhang auch auf die Auswirkung des Holocaust Bezug nimmt, was die Erinnerungskultur zweifellos noch bestärkt hat. 40 Ebd., 21f. Resümierend 22: „[T]he Jewish children indicate a pervasive sense of ‚us‘ and ‚them‘ in their responses. ‚Us‘ serves to represent the Jewish world‚ ‚them‘ refers the Christian world. The children seem to hyperalert to their minority status and even seem to exaggerate religious differences. This appears particularly true to for females, who according to Jewish law carry a special importance as bearers of future Jewish children and as gatekeepers of Jewish ritualistic practices.“ 41 Ebd., 23. 42 Ebd.

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Zwischenresümee Wir haben Äußerungsformen unterschiedlicher Couleur zur Frage der religiösen Erziehung im Kindergarten nebeneinandergestellt. Auf den ersten Blick könnte man annehmen, dass die katholische Bemühung, die Kindergartenarbeit im Kontext der parochialen Arbeit zu definieren, eine gewisse Nähe zum Programm des beschriebenen jüdischen Kindergartens hat. Dem gegenüber stände der stärker auf kulturelles und religiöses Miteinander ausgerichtete evangelische Ansatz. Nach meiner wenn auch begrenzten Erfahrung unterscheidet sich allerdings die Praxis der katholischen Kindergärten, was die religiöse Erziehung angeht, kaum von der in den evangelischen. Regionale und lokale Besonderheiten sind unterm Strich gesehen bedeutender. Interessant ist die Struktur evangelischer Argumentation. Sie entwirft ihr Programm von den Bildungsinteressen her. Von einem universalistischen Standpunkt her wird bedacht, was für alle Kinder prinzipiell wünschenswert sein könnte. Doch führt dieser Weg dahin, dass dabei immer eher „das Allgemeine“ in den Blick kommt, etwa bei Schweitzer „die Gottesfrage“.43 Ich möchte demgegenüber drei Anfragen formulieren: einmal gesellschaftlichpolitisch, dann von der Frage der religiösen Inhalte her und schließlich von der Entwicklungspsychologie ausgehend. Auf allgemeiner Ebene könnte man fragen, ob die im Kontext bildungstheoretischer Argumentation vorgetragenen Überlegungen nicht doch implizit ein bestimmtes religiöses Programm vertreten, was z.B. im Falle bestimmter muslimischer Positionen nicht greift und dann zu universalistisch vertretenen Ansprüchen gegenüber solchen, als nichtkompatibel angesehenen Positionen führt.44 Nicht zuletzt der universalistisch formulierte Herrschaftsanspruch des aufklärerischen Denkens provozierte ja die postmoderne Kritik mit ihrer Betonung der Differenz.45 43 Schweitzer, Einleitung (wie Anm. 24), 11. 44 So finden sich etwa bei Karl Ernst Nipkow, Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung. Gütersloh ²1992, 160ff Hinweise der Konvergenz von Glaubensentwicklung und Bildung. Es ist klar, dass religiöse Entwürfe, die dem universalistischen Konzept der höheren Stufen nicht entsprechen wollen oder können, dann zwangsläufig als defizitär erscheinen müssen. Von daher die kritischen Hinweise bei Gabriel Moran, Alternative Bilder der Entwicklung. Zur religiösen Lebensgeschichte des Individuums, in: G. Büttner / V.J. Dieterich (Hg.), Die religiöse Entwicklung des Menschen, Stuttgart 2000, 159–174. 45 Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Berlin 51997, 139ff. Welsch formuliert pointiert: „Die Postmoderne plädiert auf Grund ihrer Erfahrungen des Rechts des Verschiedenen und auf Grund ihrer Einsicht in den Mechanismus seiner Verkennung – offensiv für Vielheit und tritt allen alten und neuen Hegemonie-Anmaßungen entschieden entgegen. […] Daher ergreift sie für das Viele Partei und wendet sich gegen das Einzige, tritt Monopolen entgegen und decouvriert Übergriffe.“

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Die durchaus wichtige Frage heißt dann: „Wer organisiert die Pluralität der Vielen? Sind es die Institutionen in kirchlicher Trägerschaft? Das kann durchaus sein. Zu bedenken ist allerdings, ob es nicht Züge des Kuriosen annimmt, wenn etwa in Hamburg die zunehmend selbst in eine Minoritätensituation geratende Evangelische Kirche es sich anmaßt, unter ihrem Dach den Religionsunterricht der verschiedenen Religionen zu organisieren.46 Eine Kirche, der es immer schwerer fällt, ihre eigene Tradition zu vermitteln, wird zur Moderatorin der Religionen. Dieses Beispiel sollten sich die evangelischen Kindergärten wohl eher nicht zum Vorbild nehmen. Für die Diskussion auf der Inhaltsebene kann ich an einige Beobachtungen bei den jüdischen Kindern anknüpfen. Es fiel auf, mit welcher Selbstverständlichkeit sie „ihren Gott“ vom „Gott der Christen“ unterschieden. Ihre Äußerungen stehen quer zur selbstverständlichen Praxis des gemeinsamen Gebets verschieden religiöser Kinder im Kindergarten und erst recht zu einer Theologie der Religionen. Der katholische systematische Theologe Thomas Ruster macht sich immerhin dafür stark, dass eine biblische Theologie in der Tradition des Judentums auf die Unterscheidung zwischen „Gott“ und „Götze(n)“ nicht verzichten könne.47 Ruster zitiert dabei den jüdischen Gelehrten Leibowitz mit den Worten „Gott ohne Tora ist immer ein Götze“.48 Dieser Satz kann evangelischerseits so nicht einfach wiederholt werden. Was allerdings in unserem Zusammenhang ins Auge springt, ist der mit dem Stichwort Tora gesetzte Hinweis auf Konkretion. Die Kinder im jüdischen Kindergarten lernen das Leben nach der Tora. Sie erfahren, was man tun soll (z.B. Kippa beim Gebet) und was sie lassen sollen (z.B. bestimmte Speisen). Der Glaube hat etwas Sichtbares, was den Glaubenden unterscheidbar macht vom Nicht-Glaubenden. Diese Aussage gilt übrigens genauso für muslimische Kinder. Glauben ist dort offensichtlich nicht nur eine spirituelle individuelle Angelegenheit, sondern etwas, was man konkret einübt. Nicht umsonst „lernt“ der Jude seine Tora. Schaut man auf die christliche Praxis, dann kann man feststellen, dass es im katholischen Raum noch eher solche unterscheidenden Merkmale gab (Bekreuzigen, freitags kein Fleisch), dass aber diese eher im Verschwinden begriffen sind. Protestantische Merkmale waren einmal die besondere Bibelkenntnis, etwa ausgedrückt in vielen auswendig gelernten Versen und die Kenntnis von Chorälen als faktische Laiendogmatik. Teilweise kam dazu die Tageslosung der Herrenhuter Brüdergemeine. Gerade die Tradition der auswendig gelernten Texte gilt heute weitenteils als problematisches Erbe („Wie früher im Konfirmandenunterricht!“). Im Zuge des 46 Die Katholiken haben sich hier bewusst nicht beteiligt und auf ihre kirchlichen Schulen zurückgezogen. 47 Thomas Ruster, Der verwechselbare Gott. Theologie nach der Entflechtung von Christentum und Religion. Freiburg i.Br. 2000, 166ff. 48 Ebd., 177.

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grundsätzlichen Rückgangs von Memorierstoff49 hat man jetzt weitgehend einen Zustand erreicht, in dem sich ein evangelischer Christ faktisch in nichts mehr von einem Nicht-Christen unterscheidet. Diese Situation hat Konsequenzen in entwicklungspsychologischer Sicht. In ihrer amerikanischen Studie zitieren Long u.a. als Beispiel für das Gebetsverständnis die fast sechsjährige Nancy:50 „Was ist ein Gebet? ‚Ein Gebet handelt von Gott, Häschen, Hunden und Feen und Rehen, vom Weihnachtsmann, Truthähnen und Fasanen und Jesus und Maria und Marias kleinem Baby.‘“

Neben einem unsicheren Wissen, dass Gebete mit Gott zu tun haben, erwähnen die Kinder dieses Alters auswendig gelernte Gebetspassagen wie „Müde bin ich, geh zur Ruh“. In egozentrischer Weise gehen die befragten Kinder davon aus, dass „alle Jungen und Mädchen in der Welt wirklich beten“.51 Sehen wir bereits hier, dass in der Perspektive der Kinder es möglicherweise gerade die konkreten Dinge wie der Gebetstext oder das Amen sind, die das Kennzeichen des Betens sind, so wird diese Einsicht durch eine israelische Studie noch gestärkt. So schreibt Rina Rosenberg über Grundschulkinder der Klassen 1–3:52 „Wie wir beten, das ist in ihren [= der Kinder] Köpfen sehr bedeutsam, pragmatische Elemente sind es nicht weniger, speziell religiöse: ‚Wenn er eine Kopfbedeckung und ein Gewand mit Fransen trägt, wird das Gebet erhört, wenn nicht, und selbst wenn er alles Mögliche sagt – dann nicht.‘ Die Ideen der jüngsten Kindergartenkinder dauern offensichtlich fort: ‚Wenn er guckt, während er sagt, dann wird sein Gebet nicht erhört.‘ Oder: ‚Wenn er keine gute Stimme hat, wird G-tt ihn nicht so gut hören können und wird ER nicht wissen, was ER bringen soll.‘ Spezifische religiöse Gewohnheiten bezüglich des Wie des Betens sind wichtig; so dürfe man sich, während bestimmte Gebete gesprochen werden, nicht bewegen.“

Beide empirischen Studien lassen zweifelsfrei erkennen, dass religiöses Lernen sich zunächst an konkreten Merkmalen festmacht. Deren Fehlen macht offensichtlich sowohl die intentionale Vermittlung schwieriger als auch das von Assmann angesprochene Weitergeben durch Zuschauen und Partizipation. 49 Bei dem man die Einsicht der englischen und französischen Sprache missachtet, dass Auswendiglernen „mit dem Herzen“ geschieht (vgl. Anm. 7). 50 Long / Elkind / Spilka, Child’s (wie Anm. 22), 104 (Übersetzung von mir). 51 Ebd., 104f. 52 Rosenberg, Entwicklung (wie Anm. 22), 190.

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IV. Kindertheologie im Vorschulalter

Der oben angesprochene Mangel an konkreter konfessionsspezifischer Religiosität bezieht sich nicht allein auf die Gebetspraktiken, sondern setzt sich beim wichtigen zweiten Feld der Konstitution eines „kulturellen Gedächtnisses“, beim Feiern der Feste, fort. Frieder Harz sieht den eigentlichen Festinhalt häufig durch Geschäftigkeit überdeckt. Dies gilt für Weihnachten, noch mehr aber für Ostern. Für Pfingsten schließlich sieht er nur Ratlosigkeit.53

Konsequenzen Es dürfte klar geworden sein, dass es um die Pflege des evangelischen kulturellen Gedächtnisses nicht zum Besten steht. Die familiäre Weitervermittlung wird im Zuge der Individualisierung schwierig. Evangelische Kindergärten stehen vor dem Problem, dass die Inhalte, die als spezifisch evangelisch gelten, einmal weniger konkret sind als bei anderen Religionen und Konfessionen. Am ehesten funktioniert die Weitergabe biblischer Geschichten.54 Zu fragen ist, ob nicht Elemente der Differenz stärker auch pädagogisch geltend gemacht werden sollten. Aus der eigenen Schulanfängerzeit erinnere ich mich daran, wie interessant es war zu sehen, wie die Katholiken die Hände falteten und wie die Evangelischen. Es gab immer wieder Versuche, es in der Weise der anderen zu probieren. Es war auf jeden Fall ein hilfreiches Mittel der Vergewisserung des Eigenen.55 Friedrich Schweitzer hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die Details der Wahrnehmung religiöser Verschiedenheit an vielen Punkten noch ungeklärt sind.56 Doch wird auch eine bessere Kenntnis dieser Mechanismen uns dann nicht weiterhelfen können, wenn wir uns des eigenen Selbst nicht mehr bewusst sind und auch kein Interesse daran haben, es dadurch im „kulturellen Gedächtnis“ zu etablieren, indem wir es an unsere Kinder weitergeben.

53 Harz, Evangelische (wie Anm, 26), 77f. 54 Harz, Evangelische (wie Anm. 26), 69: „Seit je her wird das ‚Evangelische‘ bzw. ‚Christliche‘ des Kindergartens am Erzählen biblischer Geschichten festgemacht.“ 55 Der Versuch, in einem Seminar mit Studierenden das „Evangelische“ zu definieren, führte fast durchweg zur Nennung von Differenzpunkten gegenüber den Katholiken. Ohne diese Abgrenzung scheint es auch für erwachsene Theologiestudierende kaum möglich, das Eigene zu benennen. 56 Schweitzer, Nachdenken (wie Anm. 33), 155.

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Das Jesuskind zwischen Christkind und Weihnachtsmann

Das Jesuskind zwischen Christkind und Weihnachtsmann – Untersuchungen zur Genese der Weihnachtsgestalten bei Vorschulkindern

Einleitende Überlegungen „Der Himmel ist ein Ort, an dem du so viel Pizza essen kannst, wie du willst und trotzdem kein Bauchweh bekommst.“1 Äußerungen wie diese haben David und Elizabeth Heller von Kindern zwischen 5 und 11 Jahren gesammelt, um uns Einblick zu gewähren in die bunte Welt kindlicher religiöser Vorstellungen. „Durch die Glaubensvorstellung des Kindes und mit Hilfe seiner Einbildungskraft werden Engel, verstorbene Berühmtheiten und Urgroßeltern lebendig, um mit einer überraschenden Munterkeit und einer großen Leidenschaft mit unserer Welt in Verbindung zu treten.“2 Diese Notiz der beiden Autoren will uns darauf vorbereiten, was wir antreffen werden, wenn wir den Kosmos der kindlichen religiösen Vorstellungswelt betreten. Wir finden dort ein reiches Angebot von unterschiedlichsten Gestalten und zwar in einer Anordnung und Kombination, die sich meist durchaus unterscheidet von unseren Erwachsenenvorstellungen. Eigentlich erst in allerjüngster Zeit hat sich die deutschsprachige Religionspädagogik dieser Fragestellung angenommen, zumal für den Bereich der Vorschulkinder, dem meine besondere Aufmerksamkeit gilt. Dabei sind zwei Fragestellungen bedeutsam: 1. Wie haben wir uns die Herausbildung der ersten religiösen Vorstellungen der Kinder vorzustellen? Welche biologisch-natürlichen Bedingungen für eine Rezeption kann man annehmen? Auf welche Weise gestaltet sich die Aufnahme von entsprechenden Impulsen durch die Außenwelt (Eltern, Fernsehen)? 2. Wie bilden die Kinder die einzelnen religiösen Gestalten? Wie verarbeiten sie die an sie herangetragenen Informationen? Wie lernen sie die einzelnen Figuren zu unterscheiden und zu gewichten? Ich werde im ersten Schritt grundsätzlich die Genese religiöser Figurationen beim Kind bedenken. Dabei spielt die Gottesthematik naturgemäß die herausra 1 David Heller / Elizabeth Heller, Angels must get their wings by helping little angels like me, New York 1995 [Übersetzung jeweils von Gerhard Büttner]. 2 Ebd., IX.

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gende Rolle. Ich werde meine Detailüberlegungen im zweiten Teil dann aber auf die bislang weniger beachteten Gestalten des Weihnachtskreises lenken: Engel, Nikolaus, Christkind bzw. Jesuskind. Interessiert hat mich hier besonders die Frage, wie Kinder mit der doppelten Besetzung von Weihnachten durch „mythische“ Figuren wie dem Weihnachtsmann und dem meist weiblich gedachten Christkind einerseits und dem Jesuskind in der Krippe andererseits umgehen.

Ein Modell zur Genese religiöser Gestalten Wie das folgende Schaubild zeigt, gehe ich von vier Faktoren aus, die maßgeblich sind für die Erklärung religiöser Vorstellungen beim Kind. Auf Seiten der genetischen Voraussetzungen sehe ich einmal Winnicotts Theorie der „Übergangsobjekte bzw. -phänomene“ in ihrer Weiterführung durch Ana-Maria Rizzuto. Daneben stehen die Beobachtungen zu den sog. „unsichtbaren Begleitern“. Ich werde versuchen, diese beiden Theorieansätze aufeinander zu beziehen. Auf der Seite prägender Eindrücke sehe ich einmal die gründlich untersuchte Theorie vom Einfluss der Elternimagines und daneben die Versuche, die Wirkung der Medien auch in dieser Fragestellung geltend zu machen. Ich gehe dabei davon aus, dass sich biologisch in der menschlichen Psyche die Muster herausbilden, die als „Übergangsobjekte“ oder „unsichtbare Begleiter“ prinzipiell für eine religiöse „Füllung“ zur Verfügung stehen. In der Begegnung mit den konkreten Elternimagines bzw. den Figurationen der Medienwelt wird dann das einzelne Kind jeweils die ersten eigenen religiösen Vorstellungen herausbilden. Biologisch-genetische Dimension Gottesrepräsentanz (Rizzuto) Übergangsphänomene (Winnicott)

Elternimagines

Unsichtbare Begleiter

Figuren aus der Medienwelt Gesellschaftlich induzierte Dimension

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Das Jesuskind zwischen Christkind und Weihnachtsmann

Die Bildung von Übergangsobjekten Martin Lenz-Johanns schildert die erste Zeit seiner Tochter Pia. Wegen der sommerlichen Hitze wird das Kind mit einem alten Seiden-Sari zugedeckt. Manchmal wird auch der Schweiß damit von seinem Gesicht gewischt. „Mit der Zeit wurde es [für Pia] zur Gewohnheit, neben dem Fingerchen, welches zum Lutschen in den Mund gesteckt wurde, auch einen Zipfel dieses Stoffes zu ergreifen und damit über ihr Gesicht zu streichen. „Später bekommt dieses Stückchen Seidentuch für Pia eine feste Funktion als „Schmusetuch“: „Obwohl der Stoff immer unansehnlicher und schmutziger wurde und unter dem ständigen Gezupfe und Streicheln zunehmend zerfiel, ertrotzte sich Pia seine tröstende Gegenwart als ‚Erinnerungsstück‘ an die Mutter. Schließlich wurde dieser Stoff zerschnitten und wo er aufgrund der Benutzung zerfiel, wurde er durch Knoten neuerlich zusammengefasst. Pia, die auch aggressiv mit diesem Schmusetuch umging, standen bisweilen geradezu besenähnliche Gebilde zur Verfügung, mit denen sie sich über ihr drittes Lebensjahr hinaus beim Einschlafen unaufhörlich über das Gesicht strich. Das Händchen mit dem Tuch war vor dem Einschlafen in ständiger Bewegung. Mit diesen Bewegungen schien Pia auch die Empfindungen und Wahrnehmungen im Umgang mit der Mutter wieder wachrufen und stimulieren zu wollen. Die Frage, welches innere Bild Pia hierdurch in ihrer Vorstellung erzeugte, lässt sich allerdings nur schwer beantworten. Mit etwa 16 Monaten akzeptierte sie schließlich auch andere ausgediente, rote Seidentücher. Eines ihrer ersten Worte bezeichnete diese Gebilde mit dem Begriff ‚Heia‘. Diese Wortschöpfung war von ‚Heia-Heia‘ für Einschlafen abgeleitet.“3 Der sorgfältig beobachtende Vater hat in diesem Fall sehr schön die Grundlagen von Winnicotts Theorie des Übergangsobjektes beschrieben. Aus dem vorgefundenen Material, in diesem Fall dem Stück Stoff, schafft sich das Kind selbst einen Gegenstand, der offensichtlich dazu dienen kann, für Erfahrungen zu stehen, die ansonsten mit der realen Mutter oder dem Vater gemacht werden. Winnicott erläutert dies insbesondere in der Weise, dass das Übergangsobjekt für die mütterliche Brust stehe.4 Winnicott benutzt in diesem Fall zur Darstellung dieser rudimentären Symbolbildung den Begriff der Illusion, um zu zeigen, dass es sich bei diesem Übergangsobjekt um einen „intermediären Erfahrungsbereich“ handelt, der äußere und innere Realität miteinander verbindet.5 Diesen reserviert Winnicott ausdrück 3 Martin Lenz-Johanns, Infantile Trostspender als kulturelle Ausgangsbasis?, in: Kunst + Unterricht 132, 1989, 42–50. 4 Donald Woods Winnicott, Übergangsobjekte und Übergangsphänomene, in: ders., Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart 1974, 10–36. 5 Ebd., 24.

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lich der Religion und der Kunst und hält ihn für prinzipiell auch bei Erwachsenen für unverzichtbar.6 Man darf sich als Theologe in diesem Fall nicht am Begriff der Illusion stören, umfasst er doch in diesem Zusammenhang alle geistigen Konstrukte, die über die bloß materielle Realität hinausgehen. Die kleine Geschichte über Pia zeigt nun aber, dass es nicht bei einer Festlegung auf das konkrete Objekt „Seidenstoff“ bleibt, sondern dass dieser sich ausweitet in diesem Fall auf das gesamte Zu-Bett-Geh-Ritual.7 Es erscheint also durchaus konsequent, wenn Friedhelm Grünewald die Entstehung eines Gebetskonzeptes beim Kinde im Zusammenhang dieses Geschehens sieht: „So ist anfänglich die faktische Präsenz mindestens einer bedeutsamen Bezugsperson z.B. während des Einschlafrituals unerlässlich. Sofern solche Übergangsphasen durch Gebete überbrückt werden, ist der Gebetsakt die hochsensible Weise des Kindes, sich seiner Bezugspersonen zu vergewissern, sie werden ins Gebet genommen. Die Bedeutung der Bezugspersonen für das Gebet, ihre gefühlstiefe Erfassung im Gebet, ihre religiöse Einstellung, die sie im Gebet weitergeben, dies alles weist eine Rückfrage nach der kindlichen Gebetsübung als geradezu notwendig bei der Erfassung der allgemeinen und religiösen Sozialisation aus.“8

Die „Unsichtbaren Begleiter“ Manches spricht dafür, dass das Geschehen um Übergangsobjekte und -phänomene eine Fortsetzung findet im Auftauchen sog. „Unsichtbarer Begleiter“. Man versteht darunter von den Kindern imaginierte Personen, denen gegenüber sie sich verhalten, als wären sie real.9 Der in diesem Zusammenhang häufig genannte Humberto Nagera zitiert im Hinblick auf die Auftretenshäufigkeit unterschiedliche Angaben von 13% der Kinder bis fast 100%.10 Er unterscheidet auch – von seinem psychiatrischen Hintergrund her nachvollziehbar – ein gleichsam normales Auf-

6 Ebd., 23. 7 Ebd., 15, „[Das Übergangsobjekt] verliert im Laufe der Zeit Bedeutung, weil die Übergangsphänomene unschärfer werden und sich über den gesamten intermediären Bereich zwischen ‚innerer psychischer Realität‘ und ‚äußerer Welt, die von zwei Menschen gemeinsam wahrgenommen wird‘, ausbreiten – d.h. über den gesamten kulturellen Bereich.“ 8 Friedhelm Grünewald, Das Gebet als spezifisches Übergangsobjekt, in: Wege zum Menschen 34 1982, 221–228. 9 Der mir bekannte jüngste Überblick zur Thematik findet sich in Robert D. Friedberg, Allegorical Lives. Children and their Imaginary Companions, in: Child Study Journal 25 1995, 1–21. 10 Humberto Nagera, The imaginary companion. Its significance for ego development and conflict solution, in: The Psychoanalytic Study of the Child 24, 1969, 165–196.

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Das Jesuskind zwischen Christkind und Weihnachtsmann

treten in der Vorschulzeit von einem eher neurotischen in der späten Kindheit.11 In einer neueren Studie gehen Taylor, Cartwright und Carlson davon aus, dass ungefähr zwei Drittel aller Vorschulkinder einen „unsichtbaren Begleiter“ haben.12 In ihren Interviews mit den Kindern fanden sie heraus, dass es eine breite Spannweite bezüglich des Charakters der „Begleiter“ gab. Unter den zwölf Angaben waren „drei nichtmenschliche Gestalten (ein Geist, ein Vogel und ein Hund) und zwei Spielsachen (ein Stoffhund und eine Puppe). […] Sechs der zwölf Kinder mussten einen unsichtbaren Begleiter unter zwei oder sogar mehreren auswählen.“ Drei Kinder hatten jeweils ein Paar (Tippy und Tompy usw.).13 Die Aufmerksamkeit, die dieses Phänomen inzwischen auch in einer breiteren Öffentlichkeit gefunden hat, dokumentiert die Tatsache, dass der bekannte Kinderbuchautor Paul Maar die Thematik in der Geschichte „Grummel“ literarisch aufnimmt:14 Anne wünscht sich ein Meerschweinchen, was ihr aber von den Eltern verwehrt wird. Dafür hat Anne dann ein unsichtbares Tier, das zunehmend ihren und den Alltag der Familie mitbestimmt. Als Annes Vater von Grummel, dem unsichtbaren Meerschweinchen genug hat, bringt er selbst einen unsichtbaren Begleiter mit ins Spiel, was absichtsvoll zu Komplikationen mit Annes Grummel führt. Schließlich lässt Anne die beiden unsichtbaren Gefährten, wenn auch unter Tränen, Abschied nehmen.

Die Untersuchungen von Susan Harter und Christine Chao15 haben bei ihrer Studie mit 40 Vorschulkindern aus Denver eine auch für unsere Fragestellung wichtige Differenzierung zutage gebracht. Die Autorinnen ließen die Kinder jeweils die Fähigkeiten ihrer imaginären Begleiter mit den je eigenen vergleichen und kamen dabei zu dem Ergebnis, dass in der Regel Jungen solche Begleiter wählen, die ihnen deutlich überlegen sind, Mädchen suchen dagegen unterlegene Begleiter, die ihrer Hilfe bedürfen.16 Typisch für ein Mädchen ist demnach das vorgestellte Katzentier Kitty, das weder Puzzles zusammensetzen kann wie das Mädchen, noch Freunde hat, im Gegensatz zu ihrer „Besitzerin“. Wenn Kitty Hilfe braucht, weil sie bei einem Spiel herunterfällt oder nachts Angst hat, dann steht das Mädchen ihrem imaginierten kleinen Begleiter bei.17 11 Ebd., 194. 12 Marjorie Taylor / Bridget S. Cartwright / Stephanie M. Calson, A Developmental Investigation of Children’s Imaginary Companions, in: Developmental Psychology 25, 1993, 276–285. 13 Ebd., 278, [Übersetzung von Gerhard Büttner]. 14 Paul Maar, Grummel, in: Anne will ein Zwilling werden, München 41998, 97–115. 15 Susan Harter / Christine Chao, The Role of Competence in Children’s Creation of Imaginary Friends, in: Merrill-Palmer Quarterly 38, 1992, 350–363. 16 Ebd., 357ff. 17 Ebd., 358.

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Der Junge hat „Christian, den Monsterzauberer“ als seinen Begleiter. Er ist größer und stärker als sein „Besitzer“, kann unheimlich weit springen und bei Bedarf die höchsten Stelzen der Welt aus seinem Fuß ausfahren. Und Angst kennt Christian natürlich auch nicht.18 Harter und Chao sehen diesen geschlechtsspezifischen Charakter der Begleiter auch in typischen Zeichnungen ausgedrückt:

Harter/Chao 359

Rizzutos Versuch einer Interpretation im Hinblick auf die Gottesbildthematik Die Amerikanerin Ana-Maria Rizzuto hat versucht, auf der Basis der hier beschriebenen Phänomene eine Erklärung zur Genese der Gottesvorstellung beim Kinde zu formulieren.19 Sie sieht im Anschluss an Winnicotts Modell in dem „intermediären Erfahrungsbereich“ zwischen den Repräsentanten des Selbst und denen der Objektwelt ein Feld, in dem sich zunächst Vorläufer der Gottesrepräsentanz konstellieren, die sich dann zur „Gottesrepräsentanz“ in der kindlichen Seele weiterentwickeln.20 Diese betrifft dabei die „erfahrungsorientierte Gottes18 Ebd., 359. 19 Ana-Maria Rizzuto, The Birth of the Living God. A Psychoanalytical Study, Chicago 1979. 20 Vgl. dazu das Schaubild ebd., 178.

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vorstellung“, nicht die „begriffliche“. „Nach Rizzuto entscheidet allein die erfahrungsorientierte Gottesvorstellung über Glauben und Nicht-Glauben, da eine begriffliche Vorstellung von Gott keine Evidenzerfahrung hervorrufen kann. […] Rizzutos Interesse ist demzufolge ein vorwiegend archäologisches: Sie versucht hinter die von der kirchlichen Lehre geprägte Frömmigkeit zurückzugehen und die von Primärprozessen geformte Gottesvorstellung zu eruieren.“21 Diese mangels Sprachfähigkeit der Kinder eher erschlossenen Prozesse werden manifest, wenn die Kinder verbal die Welt ihrer Phantasiefiguren beschreibend artikulieren können. Die erste Gottesvorstellung tritt also zeitgleich und parallel mit den oben beschriebenen Phantasiefiguren auf.22 Unsere Fragestellung geht dabei über Rizzuto und deren Nachfolger hinaus, als uns hier gerade nicht die Gottesvorstellung allein interessiert, sondern die Begleitgestalten, die zumindest in der christlichen Tradition unverzichtbar sind, weil sie in der biblischen Überlieferung auftauchen. Das wäre in erster Linie Jesus, dann aber auch Gestalten wie z.B. Engel. In der Tradition des Kirchenjahres haben sich dann daran noch andere mythische Figuren angeschlossen. Der von Rizzuto geschilderte Prozess der bedeutungsmäßigen Sonderstellung der Gottesgestalt wird also in unserem Falle einerseits zu erweitern, andererseits zu präzisieren sein. Die Kinder erfahren nicht nur, dass Gott eine Sonderstellung innerhalb der „Phantasiefiguren“ einnimmt, sondern auch andere Gestalten. Sie erfahren aber gerade bei den Weihnachts- und Osterfiguren auch eine eigenartige Vermischung zwischen Gestalten der biblischen Tradition und solchen der Folklore.

Inhaltliche Prägungen der religiösen Figuren Nimmt man die Gottesvorstellung als zentralen Ausgangspunkt der hier zu beschreibenden Prozesse, dann liegt es auf der Hand, danach zu fragen, in welcher Weise die Erfahrungen mit den Eltern Einfluss nehmen auf die konkrete Gestalt dieser religiösen Figuren. Die kontrovers geführte Diskussion über die Bedeutung der Elternimagines fand einen vorläufigen Abschluss durch die große, internati-

21 So zusammenfassend Constanze Thierfelder, Gottes-Repräsentanz. Kritische Interpretation des religionspsychologischen Ansatzes von Ana-Maria Rizzuto, Stuttgart u.a. 1998, 47. 22 Constanze Thierfelder fasst Rizzuto zu dieser Thematik so zusammen: „Während andere Phantasiefiguren, die für das Kind große Bedeutung haben, von den Erwachsenen belächelt werden, wird dem Kind deutlich, dass die Figur Gott auch in der Welt der Erwachsenen eine besondere Rolle inne hat, ihr Häuser und Kunstwerke geweiht sind und viele Erwachsene dieses Wesen als real und bedeutsam ansehen.“ (Ebd., 53)

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IV. Kindertheologie im Vorschulalter

onal durchgeführte Studie von Vergote und Tamayo.23 Friedrich Schweitzer resümiert die Hauptaussage dieser Studie dahingehend, dass von einem „Zusammenwirken mütterlicher und väterlicher Elemente“ auszugehen sei und dass speziell das Gottesbild „so gut wie immer Aspekte beider Elternbilder in sich aufgenommen habe“.24 Heinz Streib hat mittels der Analyse eines gemalten Gottesbildes eines Kindergartenkindes darauf aufmerksam gemacht, dass auch und gerade dort, wo ein Kind durchaus klassisch den Grundfragen der Gottesvorstellung wie Unsichtbarkeit, Allgegenwart etc. nachgeht, Elemente der Medienwelt mit ins Spiel kommen. So entwirft das angesprochene Mädchen ihre Gottesdarstellung in Anlehnung an das bekannte Fernseh-Sandmännchen und gibt der Gottesfigur große „Mickey-Maus-Ohren“, weil der ja die „Alarm-Signale“ von der Erde aufnehmen muss.25 Diese Beobachtung gibt uns einen Hinweis darauf, in welch „flüssiger“ Weise die Vorstellungsfragmente bei den Kindern bereit liegen, um dann in entsprechender Weise aktualisiert und verwendet zu werden. Petra Wieler zitiert aus dem Material von Rogge ein Beispiel aus einem Kindergartenspiel:26 Kinder haben eine „gruselige“ Höhle en miniature fertiggestellt und sprechen darüber, erst wie die darin verborgenen Playmobil-Figuren, dann, wie sie selbst gegebenenfalls da wieder herauskommen könnten. „Jens: ‚Ich hätte He-Man mitgenommen, der hätte mir geholfen.‘ Jörg: ‚Brauchst du nicht, im Berg gibt’s Geister. Die helfen einem, ich mein‘, die helfen Kindern.‘ Niko: ‚Quatsch, da hilft nur ein Sprechfunkgerät.‘ Jörg: ‚Funktioniert aber nicht im Berg, hä, hä‘. Jens: ‚Hilft eben doch nur He-Man.‘ Peter: ‚Oder mein Zauberstab, den ich zu Weihnachten bekommen hab’. Da kann man alles mit machen.‘“

Es bedarf keiner großen Phantasie, um sich vorzustellen, dass unter anderen Voraussetzungen neben He-Man und dem Zauberstab im Zweifelsfall auch eine religi23 Antoine Vergote / Alvaro Tamayo (Hg.), The Parental Figures and the Representation of God. A Psychological and Cross-Cultural Study, Paris/New York 1981. 24 Friedrich Schweitzer, Elternbilder – Gottesbilder. Wandel der Elternrollen und die Entwicklung des Gottesbildes im Kindesalter, in: Katechetische Blätter 119, 1994, 91–95. 25 Heinz Streib, Gottesbilder fallen nicht vom Himmel. Kindliche Malprozesse als Gestaltung von Religion, in: Dietlind Fischer / Albrecht Schöll (Hg.), Religiöse Vorstellungen bilden. Erkundungen zur Religion von Kindern über Bilder, Münster 2000, 129–141. 26 Petra Wieler, Fernseherlebnisse und andere ‚Geschichten‘, in: Siegfried Hoppe-Graff / Rolf Oerter (Hg.), Spielen und Fernsehen. Über die Zusammenhänge von Spiel und Medien in der Welt des Kindes, Weinheim/München 2000, 205–228.

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öse Figur hätte auftreten können wie etwa in dem Bericht Rudolf Englerts, der über seinen eigenen vierjährigen Sohn berichtet, dass der in seinem Kinderspiel Jesus neben Bauer, Förster, Soldaten und Wildschweinen auftreten lässt.27 „In den von ihm immer wieder entworfenen dramatischen Szenarien hatte der gute Jesus (den die bösen Soldaten zwar ‚tot gemacht‘ hatten, der nichtsdestoweniger aber sehr gegenwärtig war) zum Beispiel dafür zu sorgen, dass der Förster (dem guten Bauern zu Hilfe eilend) die bösen Wildschweine zur Strecke brachte, (die für Felix geradezu die Inkarnationen des Bösen und Unheimlichen waren).“

Ein wichtiges Merkmal dieser Beschreibung ist die unbefangene Art, in der dieses Kind die Jesusfigur in eine ihm aus Anschauung oder Erzählung geläufige Kinderwelt integriert.28 Nach einer entsprechenden Untersuchung von Judith Brunner ist dies für jüngere Kindergartenkinder durchaus typisch. Soweit den Kindern biblische Geschichten erzählt werden, wird es ihnen dann gegen Ende der Vorschulzeit immer besser möglich, die Jesusfigur in diesen Geschichtsrahmen zu integrieren.29

Der Weihnachtsmann und seine Umgebung – bisherige Befunde Nach dem bisher Gesagten lässt sich leicht nachvollziehen, dass die Weihnachtsfiguren – zumindest im christlichen Kontext – nicht so leicht zu interpretieren sein werden. Denn sie werden in der kindlichen Sozialisation gleichsam doppelt entfaltet, einmal in Brauchtum und Kommerz als Weihnachtsmann, dann in der christlichen Tradition im Zusammenhang mit der Geburt des Jesus-Kindes. Die Thematik wird in Deutschland noch verkompliziert durch die Doppelbedeutung des Wortes „Christkind“ als engelhaftes Wesen, das die Geschenke bringt und als Name des Neugeborenen in Bethlehem. In einem ersten Schritt sollen hier die Befunde referiert werden, die in den USA besonders von Norman M. Prentice zusammengetragen wurden. Dabei ist 27 Rudolf Englert, Stationen der Jesus-Begegnung, in: Diakonia 23, 1992, 37–43. 28 John M. Hull, Wie Kinder über Gott reden, Gütersloh 1997, 39 schildert, in welchem Kosmos bei seinem 5 ¾-jährigen Kind die religiösen Figuren verortet sind: „Ich hab’ vier unsichtbare Freunde. […] Maria, Jesus, Gott und den heiligen Geist.“ 29 Judith Brunner, „Der Jesus kann auch gut mit Kindern umgehen.“ – Christologie der Vorschulkinder, in: Gerhard Büttner / Jörg Thierfelder (Hg.), Trug Jesus Sandalen? Kinder und Jugendliche sehen Jesus Christus, Göttingen 2001, 27–71.

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zu beachten, dass diese Untersuchungen bestimmt sind von der Frage, wie sich die Figur des „Santa Claus“ letztendlich als Fiktion auflöst und was das für die Kinder bedeutet. Unsere Fragestellung interessiert sich dagegen gerade dafür, wie sich die religiösen Figuren zwar auf der Basis der unsichtbaren Begleiter entwickeln, sich dann aber – gewiss nach einigen Metamorphosen – auch als bedeutsam im späteren Leben erweisen können. In einer ersten Studie wird „Santa Claus“ in Zusammenhang mit verwandten Figuren wie dem Osterhasen und der Zahnfee gestellt.30 Die beschriebenen Gestalten erscheinen im Kontext der „unsichtbaren Begleiter“. Die Kinder verhalten sich zu „Santa Claus“ nach Aussagen ihrer Eltern und mit deren Unterstützung wie zu den oben beschriebenen kindlichen Phantasiefiguren, d.h. z.B. dass sie für sie in der Weihnachtszeit Essen und Trinken oder selbst gemalte Bilder hinterlegen.31 Der Glaube an den Weihnachtsmann nimmt vom vierten zum sechsten Lebensjahr von 85% auf 65% leicht ab und erhält dann mit sieben Jahren einen entscheidenden Knick auf 25% mit acht Jahren. Die Werte zum Osterhasen liegen leicht darunter, folgen aber derselben Bewegung im Gegensatz zur Zahnfee, wo der „Glaube“ zur Einschulungszeit ansteigt, weil hier die Zeit des Zahnwechsels ist.32 Signifikant war die Einstellung der Kinder mit einer ermutigenden bzw. kritischen Haltung der Eltern verbunden, d.h. dass bei einer Ablehnung der Eltern gegenüber dem Weihnachtsmann auch die Einstellung des Kindes diesem gegenüber kritischer war.33 In einer zweiten Studie konnte ebenfalls der deutliche Anstieg des Nicht-mehr-anden-Weihnachtsmann-Glaubens um das siebte Lebensjahr herum bestätigt werden.34 Die gleichzeitig gemessenen Werte „kognitives Entwicklungsniveau“ und „Fantasieneigung“ ergaben für die Gesamtpopulation keine signifikante Entsprechung mit dem Weihnachtsmann-Glauben.35 Möglicherweise wirkt der elterliche Einfluss hier stärker als die angegebenen Größen.36 In der jüngsten Untersuchung wird der Frage nachgegangen, die besorgte Eltern wohl immer wieder umgetrieben hat, was denn die Entdeckung, dass es den

30 Norman M. Prentice / Martin Manosevitz / Laura Hubbs, Imaginary Figures of Early Childhood. Santa Claus, Easter Bunny, and the Tooth Fairy, in: American Journal of Orthopsychiatry 41978, 618–628. 31 Ebd., 624. 32 Ebd., 622. 33 Ebd., 625. 34 Norman M. Prentice / Linda Schmechel / Martin Manosevitz, Childrens’s Belief in Santa Claus. A Developemental Study in Fantasy and Causality, in: Journal of the American Academy of Child Psychiatry 18, 1979, 658–667. 35 Ebd., 662. 36 Ebd., 666.

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Weihnachtsmann nicht wirklich „gibt“, bei den Kindern bewirkt.37 Als Ergebnisse wurden festgehalten: Über die Hälfte der Kinder hatten selber das Geheimnis um den Weihnachtsmann gelüftet, ein Drittel erfuhr es von den Eltern. Meist ging die Erkenntnis peu à peu vonstatten.38 Das interessanteste Resultat besteht wohl darin, dass die Kinder die Entdeckung des Weihnachtsmann-Mythos meist nur mit geringer Enttäuschung, häufig mit freudiger Überraschung erlebten.39 Dagegen reagierten die Eltern eher traurig auf die Entdeckung ihrer Kinder.40 Die Arbeiten von Prentice und seinen Mitarbeiter/innen lässt die Konturen des Phänomens „Weihnachtsmann“ erkennen, wie es sich im US-amerikanischen Milieu darstellt. Sie geben Hinweise auf mögliche Forschungsstrategien. Für unsere Fragestellung müssen wir jedoch entscheidende Einschnitte machen. Einmal entspricht der US-Mythos nicht der hiesigen Folklore. Die Frage einer möglichen Affinität dieses Mythos zu christlichen Traditionen wurde bislang wohl nur von jüdischen Autoren diskutiert.41 Die für uns grundlegende Frage der Differenz zwischen spezifischen „Kindermythen“ und solchen, die auch von Erwachsenen als zentrale Glaubensinhalte tradiert werden, wurde bislang an keiner Stelle aufgenommen.

Fünf Kinder zum Thema „Christkind“ In der Vorweihnachtszeit wurden mehrere Kindergärten besucht. In Stuhlkreisgesprächen und in Gesprächen über entsprechende, von den Kindern gemalte Bilder bekamen wir ein Bild davon, wie sich die Weihnachtsereignisse in den Köpfen der Kinder gestalten. Ich wähle aus dem mir vorliegenden empirischen Material42 zwei Sequenzen aus einem katholischen nordbadischen Kindergarten aus.43 Die fünf Kinder im Vorschulalter waren von einer besonderen Auskunftsfreudigkeit, 37 Carl J. Anderson / Norman M. Prentice, Encounter with Reality. Children’s Reaction on Discovering the Santa Claus Myth, in: Child Psychiatry and Human Development 25, 1994, 67–84. 38 Ebd., 73f. 39 Ebd., 79. Doch antworteten sie auf die Frage, wie es wohl anderen Kindern dabei ergangen sein mag, skeptischer: „56% indicated an emotionally distress response, 42% a mixture of positive and negative responses and only two percent a solely positive response.“ 40 Ebd., 80. 41 Hinweise siehe ebd., 82. 42 Dies wurde von Frau Judith Brunner per Tonband oder Video dokumentiert und transkribiert. Dankenswerterweise wurde das Projekt vom Diakonischen Werk der EKD finanziell unterstützt. 43 Der religiöse Hintergrund der Kinder ist über das Interview hinaus nicht erhebbar. Im Kindergarten findet religiöse Unterweisung statt. Dies ist auch aus den Äußerungen zum Nikolaus erschließbar.

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so dass es sinnvoll erschien, an die erste Stuhlkreissequenz 14 Tage später noch ein Gespräch mit jeweils zwei Kindern anzuschließen. Das Gespräch beginnt mit dem Aussehen des Christkindes: E(rzieherin): Wer von euch hat schon mal das Christkind gesehen? Vera: Ich hab’s in der Zeitung gesehen. E: Und du Nick. Dann lassen wir mal kurz den Nick erzählen. Wo hast du’s gesehen? Nick: Einmal habe ich in der Nacht aus dem Fenster geguckt, dann habe ich irgendwas Glitzerndes fliegen sehen. E: Des ist geflogen und hat geglitzert? Nick: Mhm. E: Oh. Und was war in der Zeitung drinnen? Vera: Des war eigentlich da auf diesem Markt da, da war so eine Frau, die hatte so eine so ganz große Krone auf. Die war so hoch und dann hat sie ein ganz schönes Kleid an. E: Ja. War des schwarz? Vera: Was? E: Des Kleid, des schöne, oder rot oder wie war das? Vera: Des war weiß mit Gold. E: Weiß mit Gold. Mh. Vera: So sieht ja auch das Engelchen aus, des hat gar kein schwarzes oder rotes Kleid an: Des hat entweder ein goldenes Kleid an oder ein weißes. E: Ja, seid ihr euch da alle ganz sicher? Ki: Ja. Vera: Und die hat ne ganz große Krone aufgehabt. So hoch war die und die war auch gold[en] und die hat Flügelchen gehabt. E: Wie so ne Krone gemacht oder war’s so en Stern? Ich hab’s ja nicht/ Vera: Ne Krone. E: Ne Krone und auf was für einem Markt war des? Vera: Des war auf so einem, also vielleicht war da schon jemand von euch, aber ich weiß jetzt nimmer Weihnachtsmarkt.

Die Herkunft der Vorstellungen der Kinder ist in diesem Falle leicht auszumachen. Nach einer Gesprächssequenz über das verschlossene Weihnachtszimmer erzählt Vera von ihrem nächtlichen Versuch, das Christkind zu sehen: E: Du nimmst immer die kleine Schwester mit? Und ihr schleicht zusammen. Vera: Ja. Und wir schauen uns immer an, ob das Christkind da war. Und ma/ als ich noch drei war und meine Schwester war zwei, da sind wir auch mal/da haben wir da/da

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war aber schon Weihnachten, da war ich aber noch nicht im Kindergarten, da haben wir wirklich mal in des Christkind gesehen, des hatte auch solche Schleier vor’m Gesicht.

Die Frage nach der „Wohnung“ des Christkinds führt zu weiteren Konkretionen: B(eobachterin): Darf ich euch auch noch was fragen? Wo wohnt denn das Christkind? Kinder: Im Himmel. Vera: Und wenn der Himmel rot ist, dann backt das Christkind Plätzchen. Oder rosa, dann backt das Christkind auch Plätzchen. Ja, für die Kinder, Plätzchen backt des dann. E: Ich weiß nicht. Valerie: Normalerweise backen die Eltern Plätzchen, aber des Christkind lebt im Himmel. Und des kommt immer runter ( ). Vera: Und dann holt sie die Wunschzettel natürlich. Valerie: Und manch / und wenn’s schon richtig Weihnachten ist, dann bringt es auch sogar auch die Geschenke den Weihnachtsbaum. Letztes mal Weihnachten war, da war wir bei ( ) da wollt ich vor Aufregung in die Stube rein, da durften wir aber nicht, der Opa musste nämlich mit dem Christengelchen noch was besprechen, welches mein Gesch/ welche meine Geschenke und welches Erwachsenengeschenke sind. Da wollten wir rein da haben wir so versucht, die Tür aufzumachen, dann kam’s soweit, dass die Mama und der Papa die Tür zuhalten mussten, dann kam’s noch weiter, dass sie die Tür zuschließen mussten. B: Und das Christkind, ist das klein oder groß? Kinder: Groß. K: So groß ungefähr wie ich. B: So groß wie du? K: Aber bloß noch en Stückchen größer, so. E: So groß wie ich? K: Ja, so groß wie du. E: Oder so wie du, stell dich mal neben mich. ((Kind stellt sich neben die E)) Vera (?): So groß wie du, weil das Christkind ist ja nicht so klein, sonst könnt’s ja nicht den Sack mit den Geschenken tragen.

Die Frage nach der Bedeutung von Weihnachten bringt die unterschiedlichen Weihnachtsfiguren ins Gespräch: B: Noch kurz eine allerletzte Frage. […] Was feiern wir denn an Weihnachten? Ist da was passiert?

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K: Nein. Nick: Doch. Doch, da ist was passiert, da wurde Jesus geboren. Valerie: Jesus Christus. Der ist/ der jetzt im Himmel wohnt und des […] en Christkind ist und der bringt dann immer die Geschenke. E: Wer bringt die Geschenke? Valerie (?): Des Christkind. B: Und wer ist das Christkind? Valerie: Der Jesus. Vera: Nee. Valerie: Doch. Vera: Des Christkind ist die Maria. Nämlich der Jesus kann doch kein Christkind sein des Christkind ist ja immer ne Frau. Und der Jesus ist der Mann. E: Und der Jesus, das ist ja des Baby. In der Krippe, ne. Des Weihnachten zur Welt kommt. Und die Mama von dem Baby ist K: Die Maria. E: Und der Papa? K: Der Jesus. K: Der Josef. Nick: Und der Nikolaus legt auch Geschenke unter den Tannenbaum. Vera: Nur in den Stiefel. Nick: (Nicht nur unter den Stiefel) auch unter den Tannenbaum.

Valerie und Vera streiten sich darüber, ob Jesus mit dem weiblich gedachten Christkind identisch sein kann. Nicht zufällig bringt Nick an dieser Stelle den Nikolaus ins Spiel. Im Nachgespräch werden die Aussagen der Kinder dann noch weiter vertieft und differenziert. Während Valerie das Wohnen des Christkinds im Himmel spezifiziert, zeigt uns Nick, wie er einen „Beweis“ für die Existenz des Christkindes gefunden hat.44 B: Wo wohnt denn das Christkind? Valerie und Nick: Im Himmel. Valerie: Des hat en Himmelhaus. Nick: Aus Luft. Valerie: Aus Luft, aus Wolken so ne Wolkentür, Wolkenfenster ( ), des Haus ist so neben, wo se drin wohnen außenrum die Wand so aus Wolke und des Dach, der Schornstein, wenn sie überhaupt einen haben; alles aus Wolke. 44 Hier wird natürlich auch der Weg sichtbar, der dann zum Beweis der Nichtexistenz führt. Auf diese Weise werden dann wohl auch die von Prentice genannten Entdeckungen gemacht.

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B: So sieht des aus Nick? Meinst du auch? Und habt ihr des Christkind schon mal gesehen? Valerie: Nein. Nick: Doch. B: Nick, erzähl mal, wie sah en das aus? Wo hast/ oder wo hast du’s gesehen? Nick: Also, da war ich ku/ also einmal a/abends letztes Jahr als es Heilig Abend war guck, da hab ich des nur (erkannt, aber ich hab’s zwar nicht gesehen), aber ich hab erkannt, dass es da war, weißt du wieso? Guck, meine Mama hat das Fenster zugemacht, dann haben wir oben Eisenbahn mit allen gespielt guck und auf einmal hab ich gesagt: Komm wir gehen mal runter. Mal sehen, ob das Kind schon/Christkind uns schon was geholt hat/gegeben hat. Und dann waren wir runtergegangen und da war das Fenster offen und Geschenke unter dem Tannenbaum und des kann nur bedeuten, dass das Christkind da war, weil des des Fenster aufgemacht hat. […] Valerie: Ich hab das Christkind noch nie gesehen. Aber mein Papa hat/weiß wie des Christkind/wie des Christkind (rein)kommt, des nämlich so, da muss gar nicht en Fester oder ne Tür aufmachen, des kann einfach so rein ( ) durch die Fenster durch kann des einfach hat der Papa gesagt.

Nach einem Gespräch zur Geburt Jesu kommt nochmals die Frage zum Zusammenhang von Jesus und dem Christkind. Valerie konstruiert dann, nicht zuletzt aufgrund ihrer Kenntnis der Kinderbibel, das stimmige Konzept, dass das Krippenkind zum „Christengelchen“ wird, das ans Kreuz geschlagen wurde und jetzt die Geschenke bringt. Im Sinne der oben zitierten Befunde von Judith Brunner zeigt sich auch hier, dass die Kenntnis von biblischen Geschichten dazu verhilft, die Einzelphänomene zu ordnen. B: Ah ja und jetzt habt ihr mir vom Jesuskind erzählt und vom Christkind. Gehören die irgendwie zusammen? Valerie und Nick: Ja. B: Haben die was miteinander zu tun? Valerie: Ja, weil der halt weil des /weil des /des von den/ von dem Jesus Christus der wurde ja dann das Christengelchen. Der wird’s Christengelchen. Der wird dann groß und wird und wird dann das Christengelchen. Nick: Und außerdem der andere, der Vater von diesem, der Josef, ja also Josef, der ist dann der Vater vom Christkind. Valerie: Ja, aber/ wer wurde denn dann ans Kreuz gemacht? B: Wer war das?

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Valerie: Wenn des Je/wenn des Jesus Christuskind dann zum Christengelchen geworden ist, wurde dann des ans Kreuz gemacht. Vielleicht. Nick: Drangenagelt. Valerie: Vielleicht der Vater. Nick: Drangenagelt. Valerie: ( )Vielleicht der Vater. B: Der Vater von wem? Valerie: Von Jesus Christus B: Meinst du wurde ans Kreuz genagelt? Valerie: Ich weiß des nicht, wen der Jesus / Nick: Ich glaube, da wurde gar niemand aufgehängt. Valerie: Doch, doch des hab ich in meiner Kinderbibel. Doch ich kann ja die Kinderbibel ( ) B: Aber Valerie, du hast mir jetzt erzählt, vom Christengelchen und vom Christkind. Ist das das Gl/meinst du damit das Gleiche? Oder sind das Verschiedene? Valerie: Das Gleiche. Nick: Das Gleiche. B: Und du meinst auch, dass das Kind, das Jesuskind und das Christengelchen, dass das Jesuskind zu einem Christengelchen wird? Valerie: Ja. B: Und ist das Christengelchen denn ähm klein oder groß? Valerie: Groß. So groß wie du. B: So groß wie ich. Valerie: Sonst kann’s ja nicht den ganzen großen Geschenksack tragen.

Von daher kann Valerie auch sicher unterscheiden zwischen einem historischen Nikolaus45, dem als Engelchen realen Christkind und einem nicht-existenten Weihnachtsmann. B: Ah ja. Und dann gibt’s ja noch den Nikolaus und den Weihnachtsmann. Valerie: Den Nikolaus gab’s mal wirklich. In Wirklichkeit. B: Ach ja. Meist du auch Nick? Valerie: Den Weihnachtsmann den gibt’s nie nur en Engelchen. Den Weihnachtsmann gibt’s nicht. Nur en Engelchen. B: Nur das Christengelchen? Valerie: Mhm. 45 Der, wie das Kreisgespräch ergab, als historische Gestalt im Kindergarten behandelt worden war.

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Nick: Ja, weil der Weihnachtsmann gestor/gestorben ist. Valerie: Den gab’s gar nicht mal. [Nick: Doch.] Nur den Nikolaus gab’s. Nick: Ja, den Nikolaus gab’s und der ist dann gestorben auch. Valerie: Aber der der Nikolaus hat aber nichts mit Weihnachtsmann zu tun. B: Aber hat der Nikolaus was mit dem Christkind zu tun? Valerie: Nein. Nick: Doch. B: Nick, was haben die zwei zusammen? Was haben die gemeinsam? Nick: Dass die zwei die Geschenke den Kindern geben. Valerie: Die bringen beide Geschenke. Die bringen zwar beide, aber trotzdem gehören/gehören se immer noch nicht zusammen. Nick: Doch. Valerie: Die bringen zwar Süßigkeiten, aber keine Geschenke zum Spielen. B: Wer bringt das nicht? Valerie: Der Nikolaus kommt kein/bringt/bringt keine Geschenke/Geschenke zum Spielen ( ). Nick: Doch natürlich. B: Dir schon? Nick: Ja. Valerie: Dann meint er zwar den Weihnachtsmann.

Im Gespräch mit Vera, Juliane und Theresa findet sich eine andere Lösung. Hier wird das Christkind eher mit einem Engel identifiziert, der bei der Geburtsgeschichte Jesu eine Rolle gespielt hat. B: Ist an Weihnachten was Besonderes passiert? Juliane: Der Jesus ist geboren. B: Juliane. Mhm. Und, ich mein, ja und wo ist denn der Jesus geboren? Vera: In Bethlehem im Stall. Juliane: In Bethlehem in der Krippe. In der Krippe. B: Also, dass heißt, das Jesuskind war ein kleines Kinder: Baby. B: Also, wissen wir jetzt schon vom Jesuskind und vom Christkind. Gehören die irgendwie zusammen die zwei? K: Ja. Vera: Weil des Jesuskind vom Gott des Kind ja ist und Gott hat ja auch das Christkind mit seinem Sohn zusammen bestimmt, dass des den Kindern / früher hat des Christkind nur den armen Kindern was gebracht. B: Wann früher?

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K: Nee, der Nikolaus. Vera: Ja, der Sankt Nikolaus und das Christkind / Des Christkind gab’s ja noch nicht als als Jesuskind geboren wurde, und dass dieses /dieser Stern mit dem Schweif hinten dran guck, da wohnen die Christkinder drauf und die Weihnachtsmänner auf diesen Schweifen auf diesen Sternen die des Schweif ( ). B: Und was meinst du Juliane? Das Jesuskind und das Christkind gehören die irgendwie zusammen? Juliane: Ja. B: Erst die Juliane jetzt. Juliane: Weil des Christkind auch (noch bei der) Krippe war. B: Das Christkind war, Entschuldigung, ich hab dich nicht verstanden. Juliane: Weil das Christkind auch über der Krippe war. B: Über der Krippe? K: Ja. Nee, in der Krippe. B: In der Krippe. Waren da zwei? K: Weiß ich nicht. Vera: Die Maria B: Die Theresa schüttelt den Kopf. Theresa: Da war nur eins drin. B: Und wie gehören dann das Jesuskind und das Christkind zusammen? K: Ja, weil des eigentlich so ist, weil die Maria der Gott hat zu guck da ist ein Engel vom Himmel geflogen und hat der Maria erzählt, dass sie das Jesuskind zur Welt bringt und dann hat sie sich ja riesig gefreut weißt du, und dann wurde der Engel jetzt der erzählt hat zum Christkind. B: Ach so ist das, stimmt das Juliane? K: Bei mir über der Krippe waren also drei Engel, wo immer an Weihnachten. Das sind zwei hier an der Seite, die können da sitzen und einer (ist ganz oben) bei mir an der Krippe auf der Holzkrippe sind immer drei Engel. ( ) Ich hab immer drei Engel.

Vera setzt der von dem nicht identifizierten Kind geäußerten Überlegung die Vorstellung von der „Verwandtschaft“ der Weihnachtsfiguren entgegen, wobei der Nikolaus aufgrund der Kenntnis einer Legende eine besondere „historische“ Qualität zukommt.46 Vera: Des Christkind, des ist irgendwie mit dem Weihnachtsmann verwandt. B: Mit dem Weihnachtsmann oder mit dem Nikolaus? 46 Auch wenn der Nikolaus fälschlicherweise in Israel angesiedelt wird.

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Vera: Ja. Alle sind eigentlich verwandt, die haben bloß andere Namen, eine sagen zu dem Nikolaus Nikolaus und die andere sagen zu dem Weihnachtsmann. Aber eigentlich ist der Nikol/der Nikolaus ist der Bischof und der Weihnachtsmann der wohnt im Himmel und weil beide ja Geschenke bringen so der Weihnachtsmann bringt Süßigkeiten und manchmal auch Geschenke in den Stiefel und des Christkind bringt die Geschenke auch, und deshalb sind die so irgendwie verwandt, aber ich weiß nicht warum. Juliane: Und ich sag, weil der Nikolaus ja auch auf der Erde wohnt, und die sind glaub ich nicht verwandt. B: Wer meinst du, ist nicht verwandt? Der Nikolaus/ Juliane: Der Nikolaus mit dem Christkind. B: Weil der Nikolaus auf der Erde wohnt, hab ich das richtig verstanden? Juliane: Ja. B: Und das Christkind? Juliane: Des wohnt im Himmel. Aber der richtige Nikolaus, den gab’s früher mal. K: Ja, aber der wohnte in K: Israel.

Abschließend erzählt Vera dann nochmals von einer Begegnung mit dem Christkind. Vera: Also eigentlich habe ich das Christkind nur mal gehört, wie’s / wie’s aus dem Himmel in den runter sprach, aber sonst hab ich nie gehört: Des hat so ne ganz feine Stimme. B: Und was hat’s da gesagt, als du’s gehört hast einmal? Vera: Des hat/des war über der Kirche ja gewesen und äh wir sind wir sind fast neben der Kirche wohnen wir und dann hat des wir waren ja auch öfters bei der Kirche mal spielen und dann hat das Christkind gesagt, und dann ist der Bischof grad aus der Kirche gekommen und dann hatte/ hatte des Christkind mit ihm geredet, so wie B: Ah ja wo? Vom Himmel oder hast du’s auch gesehen? Vera: Ich hab’s / Ich hab nur sein Gesicht gesehen, weißt du und dann hat das Christkind zu dem gesagt: Gut, ich wird mich darum kümmern, dass die Kinder [bricht ab wegen Störung]-

Resümee Betrachten wir die Gesprächssequenzen im Lichte der anfänglichen Fragen, dann kommen wir zu folgenden Resultaten: Die skizzierten Prozesse der Herausbildung entsprechender Schemata zur Erfassung von religiösen Gestaltungen, darunter der Figurationen des Weihnachtskreises, wurden in meiner Untersuchung nicht greifbar, sondern müssen – erwartungsgemäß – vorausgesetzt werden. Dagegen erfahren wir einiges über die sozialen Quellen, aus denen die Kinder das Material zur 163

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konkreten Ausgestaltung ihrer Weihnachtsfiguren beziehen47. Dies sind in diesem Fall Zeitung, Weihnachtsmarkt, Kindergartenerzählungen und Kinderbibel, dazu kommt das, was die Eltern und Großeltern weitervermitteln. Interessanterweise berichten dann die Kinder noch von eigenen Erfahrungen, die sie mit den Informationen verknüpfen. So können sie für sich Beweise für oder gegen die Existenz der Weihnachtsfiguren finden. Andererseits stellt sich heraus, dass etwa die Kenntnis der Nikolauslegenden und dessen Tradition als Bischof offensichtlich rationaler wirkt als die diffusen Mythen zum Weihnachtsmann, wie sie nicht zuletzt durch die Werbung von den USA her hierzulande eindringen. Valerie macht deutlich, dass – nicht überraschend – die genauere Kenntnis der biblischen Geschichten dazu helfen kann, die Weihnachtsfiguren zu sortieren. Mit ihrem Konzept von Jesus als dem Christengelchen entfaltet sie einerseits eine beachtliche Christologie, kann aber trotzdem in der mythischen Weihnachtswelt verbleiben. Wie in anderen Gesprächssequenzen gewannen wir den Eindruck, dass bereits bei den Kindergartenkindern die Kenntnis religiöser Begrifflichkeit, insbesondere von biblischen Geschichten, es den Kindern erleichtert, sich zurechtzufinden. Weihnachten dürfte, dies zeigen auch die Gesprächsprotokolle, für die Kinder mit einer Fülle von Eindrücken verbunden sein. „Kindertheologische Kompetenz“ scheint ihnen bei der Bewältigung dieser Erfahrungen hilfreich zu sein.

47 So verweist Valerie z.B. darauf, dass sie – trotz Fernsehverbot – beim Fernsehen der Eltern aufgeschnappt hat, Jesus sei nicht im Stall, sondern in einer Höhle geboren.

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„Engel“ – zwischen biblischen Geschichten und kindlicher Phantasiewelt

„Engel“ – zwischen biblischen Geschichten und kindlicher Phantasiewelt – Empirische Einblicke in die kindlichen Konstruktionsweisen Engel spielen in der religiösen Vorstellungswelt des Vorschulkindes keine geringe Rolle. Dafür gibt es mindestens zwei Gründe. Zum einen sind Engelsgestalten mit dem biblischen Hintergrund der beiden christlichen Hochfeste Weihnachten und Ostern verbunden. Zum andern entstammt die Gestalt des Engels genau der Zwischenregion zwischen konkret Vorstellbarem und unverfügbar Transzendentem, in der Kinder (und nicht nur diese) religiöse Figuren ansiedeln. Wenn Engel also erwartbar zur religiösen Vorstellungswelt der Kindergartenkinder gehören, dann stellen sich drei Fragen: 1. Welche Eigenschaften bringen Kinder mit Engeln in Verbindung? 2. Wann kann man mit einigermaßen stabilen Vorstellungen beim einzelnen Kind rechnen? 3. Aus welchen Impulsen setzt sich das Engelsbild zusammen? Die amerikanische Sammlung von David und Elisabeth Heller gibt bereits einen Eindruck von der Fülle der sehr konkreten Vorstellungen der Kinder.1 „Ich denke, die Baby-Engel trainieren vielleicht ihre Flügel. Um ein Engel zu sein, braucht man viel Praxis (Justin 6 J.). Engel haben rosa Kleider und machen gern Musik, vielleicht spielen sie Trompete (Marie 6 J.). Wenn du Sterne am Himmel siehst, das sind dann die Engel, die über dir wachen … Wenn du eine Sternschnuppe siehst, dann kommt ein Engel gerade herunter, um zu helfen (Elizabeth 6 J.). Engel brauchen viel Ruhe. Sie brauchen einen guten Nachtschlaf wie Menschen auch (Daphne 6 J.).“ Um über diese Liste der Eigenschaften hinauszukommen und etwas genauer die Entstehung von solchen Vorstellungen studieren zu können, unternahmen wir die folgende Untersuchung in einem Pfälzer evangelischen Kindergarten.2 Die Erzieher/innen hatten in einer den Kindern offensichtlich vertrauten Weise Kasperle danach fragen lassen, was 1 David / Elizabeth Heller, Angels Must Get Their Wings By Helping Little Angels Like Me. Children’s Ideas of God, Heaven and Angles, New York 1995, 31ff (Übersetzung von mir). 2 Ich danke dem Team des Kindergartens in Essingen, Frau Judith Brunner für die Video-Dokumentation und die Transkription sowie dem Diakonischen Werk der EKD für die finanzielle Unterstützung unseres Projektes.

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die Kinder über Engel wüssten. Ihre Äußerungen sollten sie dann nochmals in einem Bild festhalten, „damit der Kasper das dann dem Seppl zeigen kann!“ Dieses Verfahren ließ uns untersuchen, inwieweit das verbal zum Thema „Engel“ Geäußerte sich hernach in den Bildern wiederfand. So konnten wir herausfinden, wieweit eine Kinderantwort so stabil ist, dass eine zweite Äußerung zur selben Sache mit der vorherigen übereinstimmt. In der jüngeren Gruppe ließ sich nur in einer Zeichnung etwas von dem erahnen, was vorher erzählt worden war. Die älteren Kinder (4,8 J. u.ä.) zeigten dagegen in ihren Bildern alle deutlich identifizierbare Engelsgestalten. Nur ein unter 5 Jahre altes Kind malte ein anderes Sujet. Drei der 6-jährigen Kinder machten dagegen deutlich, dass sie in der Tat über ausgebildete Schemata verfügen, die eine weitgehende Übereinstimmung zwischen Verbaläußerung und Bild erkennen lassen. Lena (6,2) formuliert im Gespräch mit Kasperle (Handpuppe der Erzieherin): Lena: Die Engel sind in den Wolken. Ka: Ich weiß gar nichts von Engeln. Lena: Die Engel beschützen die Menschen. Ka: Oh gut, Lena. Wisst ihr was, ich habe da eine Idee. Ihr erzählt mir was von Engeln und dann kann ich später dem Seppel alles über Engel erzählen. Der wird sich sicher wundern. Lena, was weißt denn du von Engeln? Lena: Die beschützen die Leute und die geben auch Segen und Leben. Ka: Ah, die beschützen also die Leute und geben Segen und Leben. Lena: Und die wohnen in den Wolken.

Bei der Vorstellung ihres Bildes erwähnt sie das Haus, sich selbst. Zum Engel meint sie, er wohne in den Wolken und hat Sterne auf dem Kleid. Stefanie (6,3) denkt bei Engeln an Weihnachten: Stefanie: Die Engel tun auch die Geschenke runterbringen. Ka: Ach, die Engel bringen die Geschenke runter? K: An Weihnachten. Ka: Von wo bringen die die denn herunter? Stefanie: Vom Himmel. […] Die haben auch noch Sterne am Kleid.

Auch hier findet sich die Übereinstimmung von Aussage, Bild und Erläuterung, wenn sie meint, dass da der Engel eben gerade die Geschenke runterbrächte. Manuel (6,3) verbindet Engel vermutlich mit der Ostergeschichte. Er formuliert: „Der Engel, äh, hat de Gott, äh, beschützt.“

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Diese Aussage wirkt zunächst recht dunkel, klärt sich aber auf, wenn wir das Bild sehen. Offensichtlich meint der Junge Jesus Christus im Grab bzw. im Zusammenhang mit dem Auferstehungsgeschehen. Er erläutert dies so: „Der Engel ist Gottes Freund; er ist bei Gott, wo er gestorben ist. Die Freunde von Gott kommen zu dem Engel herab.“

Das Bild gibt einen plausiblen Sinn, wenn wir davon ausgehen, dass Manuel, wie viele Kinder noch der Grundschulzeit, Gott und Jesus oft verwechseln bzw. miteinander identifizieren.3 So gesehen liefert Manuel eine – aus der Erwachsenensicht – verdichtete Beschreibung des Geschehens um die Auferstehung. Die hier vorgestellten Kinder haben bei ihrer Darstellung des Engels jeweils einen Teilaspekt herausgestellt, einmal die Schutzengelfunktion, die Verknüpfung mit Weihnachten und mit der Ostergeschichte der Bibel. Es fällt uns leicht, Vermutungen über die Herkunft dieser Vorstellungen zu äußern. Es stellt sich natürlich die Frage, ob die Kinder die Engelsthematik nur an einen Topos binden oder wie sie gegebenenfalls mehrere Vorkommen von Engelsgestalten miteinander in Verbindung bringen. Um zu verdeutlichen, wie sich Kindergartenkinder ihre Engelsvorstellung im Einzelnen bilden, greife ich auf die Ergebnisse von Silke Eisele zurück.4 Dabei konzentriere ich mich auf einige Ausschnitte des Interviews mit (einem anderen) Manuel. Zwar fördert in dieser Befragung das konsequente Nachhaken gewiss auch „fabulierte“ Antworten im Sinne Piagets. Doch halte ich dies nicht für problematisch, wenn wir uns dabei klarmachen, dass Kinder selbstverständlich in vielen Gesprächen gezwungen sind, erst im Vollzug ihrer Antwort eine Sache wirklich zu formulieren. Als erstes erinnert der 6-jährige Manuel aus einem württembergischen Kindergarten an die Verkündigung des Engels an Maria5: 3 Vgl. dazu Gerhard Büttner, Janines Jesusbild oder welche Christologie haben bzw. brauchen Grundschulkinder? In: G. Büttner, / D. Petri / E. Röhm (Hg.), Wegstrecken. Beiträge zur Religionspädagogik und Zeitgeschichte. FS J. Thierfelder, Stuttgart 1998, 119ff. Zur Christologie der Vorschulkinder Judith Brunner, „Der Jesus kann auch gut mit Kindern umgehen.“ – Christologie der Vorschulkinder, in: G. Büttner / J. Thierfelder (Hg.), Trug Jesus Sandalen? Kinder und Jugendliche sehen Jesus Christus, Göttingen 2001, 27–71. 4 Silke Eisele, Engelvorstellungen bei Vorschulkindern. Entwicklungspsychologische und theologische Aspekte sowie religionspädagogische Konsequenzen für den Anfangsunterricht. Wiss. Hausarbeit PH Heidelberg, 2000 und den darauf basierenden Beitrag: dies., Engel mit Panzerfrisur und magischem Sternenpulver – die Vorstellung von Vorschulkindern, in: entwurf 2/2001, 33–35. 5 Ich habe die Aussagen ins Hochdeutsche übertragen und die Sätze grammatisch korrekt gemacht.

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„Wo erst der Jesus geboren ist, weißt du, da, wo d’ Maria genäht hat oder was das war [Erinnerung an ein im Kindergarten verwendetes Bild einer Kinderbibel], da ist der Engel gekommen und hat gesagt: ‚Maria, du wirst ein Kind bekommen und ein ganz besonderes.‘ Das hat er da gesagt.“

Manuel erzählt dann von einem zweiten Engel, der sich von dem ersten nur in einer Hinsicht unterscheidet: „Der sieht gleich aus wie der. Nur andre Frisur, weißt du? Panzerfrisur. (Alle lachen) Interviewerin: Was ist eine Panzerfrisur? Manuel: Das ist, das sieht geil aus. Wie, weißt du, wenn’s so steht [macht Handbewegung dazu] die Fransen, weißt du?“

Manuel verortet seine Engelwesen in einem Raum, der den in der Literatur berichteten Vorstellungen des mythischen Weltbildes entspricht, d.h. eine stockwerkartige Anordnung mit dem Himmel als über uns liegendes Geschoss: I1:6 Was machen die zwei da gerade? M: Fliegen und so. I2: Wo fliegt er denn hin? M: So hinauf. [Pustet in die Luft.] Und dann kommt die Decke – bumm – aus – und dann fliegt er runter. Haha. I1: Im Himmel kommt eine Decke? M: Ja. Und dann macht’s bumm da hier. [Zeigt auf den oberen Bildrand.] Die rasen da voll rauf – sieht man hier [zeigt auf die gemalten Bewegungsspuren an den Füßen] /bäng/ I1: Und wenn sie da oben anstoßen, was passiert dann? M: Dann fliegen sie runter, in die Erde wieder, haha. I1: Und was machet sie dort? M: Haha, und dann kommt der Jesus und macht so [streckt seine Hand aus, mit der Innenseite nach oben] und dann fliegen sie darauf – bäng. I1: Auf seine Hand? M: Ja.

Wir erleben hier in alterstypischer Weise eine Vermischung aus biblischem Wissen, Weltbildvorstellung und einer großen Lust am spielerischen Phantasieren. Deutlich wird Letzteres in einer Sequenz, in der Manuel erläutert, dass die Engel eigentlich Nachtwesen seien: 6 Abkürzungen für die verschiedenen interviewenden Studierenden.

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M: Also, wenn bei denen Morgen ist, ist hier gleich der ganze Tag vorbei. Die Engel verschlafen ja immer, weißt du? Die schlafen tagsüber, bei denen ist am Tag nachts. Wie Zitronenfalter oder Nachtfalter oder so. / Wie in Amerika, wenn bei uns Nacht ist, ist bei denen Tag. I1: So ist das bei den Engeln auch? Dann treffen wir die Engel ja gar nicht, wenn die immer schlafen, wenn wir wach sind? M: Wenn sich die Erde dreht, und dann fliegen wir auf die Decke hinauf und dann hauen wir eine Beule drauf und wieder ( ). I2: Ich kann mir das nicht vorstellen: Die kennen sich dann gar nicht die Menschen und die Engel, oder? M: Doch. I1: Aber wenn die immer schlafen, wenn wir auf sind? M: / Die sterben, weil nämlich das Sonnenlicht, des brennt denen in den Augen und dann fallet sie runter und sterben. I1: Dann kommen sie zu uns, wenn es Nacht ist? M: Mhm [Ja], und wenn Nacht und Nacht ist, oder Tag und Tag ist, dann sterben sie auch.

Die abschließenden Äußerungen sind für ein Kindergartenkind von erstaunlicher Ausführlichkeit. Seine Formulierungen entbehren dabei auch nicht einer inneren Logik. Bei einem Gespräch mit Studierenden erhielt ich dann auch den deutenden Hinweis auf die Fernseh- und Buchgeschichte „Der kleine Vampir“7. Wir können an dieser Stelle also nachvollziehen, wie ein Kind aus recht unterschiedlichen Vorstellungen selbständig durch assoziative Brücken Zusammenhänge herstellt und dann in der Lage ist, einen vorher weniger geläufigen Inhalt wie „Engel“ zu füllen. Ich möchte abschließend auf einige Theorien verweisen, die die hier skizzierten Beispiele etwas genauer deuten können. Der Psychoanalytiker Winnicott8 hat, vereinfacht gesagt, die Vermutung ausgesprochen, dass bereits Säuglinge sich Gegenstände wie den Bettzipfel oder den Teddybär auswählen, die dann die abwesende Mutter vertreten können. Diese von Winnicott als „Übergangsobjekte“ bezeichneten Figurationen werden von der kindlichen Phantasie weitergesponnen und stehen dann für das Kind als Partner zur Verfügung. Die Literatur hat dabei vor allem auf zwei Aspekte aufmerksam gemacht. Einmal bilden viele Kinder sog. „unsichtbare Begleiter“9 aus, die dann in ihrem Spiel oder z.B. am häuslichen Tisch wie Personen behandelt werden. Das Zweite 7 Angela Sommer-Bodenburg, Der kleine Vampir, Reinbek 1998. 8 D. W. Winnicott, Übergangsobjekte und Übergangsphänomene, in: ders., Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart 1974, 10–36. 9 Eine Darstellung des Phänomens findet sich sehr schön in dem Kinderbuch „Grummel“ von Paul Maar, in: Anne will ein Zwilling werden, München 41998, 97–115.

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ist die von Ana-Maria Rizzuto10 so genannte Gottes-Repräsentanz. D.h., dass Gott für das Kind vermutlich erst einmal auf einer Stufe mit dem Sandmännchen, seinem Teddybär und dem imaginierten Bruder „Betta“ auf einer Stufe gedacht wird. Erst die Wertschätzung der Eltern bzw. Erzieher/innen lässt dann im Kind die Erfahrung reifen, dass Gestalten wie Gott, Jesus oder auch Engel etwas Besonderes darstellen, mächtiger als die mächtigen Eltern und von diesen selbst mit Respekt behandelt. Judith Brunner11 hat in ihrer Untersuchung nachweisen können, dass die Jesusfigur bei jüngeren Kindergartenkindern zunächst meist im Kontext der Kinder dargestellt wurde: auf der Wiese, mit dem Roller etc. Erst die älteren Kinder konnten dann, mit Hilfe der Geschichten, die sie von Jesus gehört hatten, Jesus in einen Kontext stellen, wie ihn die Geschichten angeboten hatten: mit seinen Jüngern, heilend, sich Kindern zuwendend oder am Kreuz oder in der Krippe. Wir verstehen jetzt, wie die Kinder die Engelsfigur für sich profilieren. Sie nehmen Motive aus dem Gehörten auf und versuchen so, für sich die neue Figur „Engel“ verständlich zu machen. Biblische Geschichten konkurrieren dabei unmittelbar mit Gestalten des Kinderfernsehens.

10 Rizzutos Konzept findet sich auf Deutsch sehr ausführlich in: Constanze Thierfelder, GottesRepräsentanz. Kritische Interpretation des religionspsychologischen Ansatzes von Ana-Maria Rizzuto, Stuttgart u.a. 1998. 11 Judith Brunner, Christologie der Vorschulkinder (wie Anm. 3).

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„Halb Mensch, halb nicht, das weiß man nicht so sehr

V. Christologie

Die Christologie war in den Nachkriegsjahrzehnten das Paradestück der Evangelischen Theologie. Mit der Unterscheidung zwischen Historischem Jesus und geglaubtem Kerygmatischen Christus hatte man eine fruchtbare Denkfigur etabliert. Doch deren Transfer in die Praktische Theologie und die Religionspädagogik erwies sich als nicht unproblematisch. So konnte ich in einer größeren Studie zeigen, dass die Jesusvorstellungen besonders der Kinder diesem Konstrukt krass widersprechen.1 Kinder vertreten eher eine ‚hohe Christologie‘, die Jesus nahe bei Gott situiert. In der Folge kam es zu einer ganzen Reihe kinder- bzw. jugendtheologischer Studien zur Christologie, so dass man heute sagen kann, dass dies wohl der am besten erforschte Bereich der Kindertheologie ist.2 Der erste Aufsatz dieses Kapitels präsentiert in konzentrierter Form die Resultate meiner Monografie zu diesem Thema. Im dritten Kapitel wurde auf die bedeutende Rolle der Entwicklungspsychologie für die Kindertheologie verwiesen. In der Kognitionspsychologie geht man inzwischen davon aus, dass Entwicklung domänenspezifisch verläuft, d.h. im Hinblick auf die Christologie, dass es eine bestimmte Anzahl von Vorstellungen geben kann, etwa um die Beziehung der historischen Gestalt ‚Jesus‘ zu Gott auszudrücken.3 Mit dem Zuwachs an geistiger Kompetenz und an Wissen in diesem Bereich können dann komplexere Modelle entwickelt werden. Nach dieser Vorstellung liegen die Christologien der Kinder und die der Theologie auf einer als Kontinuum gedachten Entwicklungslinie. Diesen Gedanken entfaltet der zweite Aufsatz.

1 Gerhard Büttner, „Jesus hilft!“ Untersuchungen zur Christologie von Schülerinnen und Schülern, Stuttgart 2002. 2 Sabine Benz, Wer ist Jesus – was denkst du? Christologische Wissens- und Kompetenzentwicklung in den ersten beiden Grundschuljahren – eine qualitative Längsschnittstudie, Göttingen 2015; Christian Butt, Kindertheologische Untersuchungen zu Auferstehungsvorstellungen von Grundschülerinnen und Grundschülern, Göttingen 2009; Tobias Ziegler, Jesus als „unnahbarer Übermensch“ oder „bester Freund“? Elementare Zugänge zur Christologie als Herausforderung für Religionspädagogik und Theologie, Neukirchen-Vluyn 2006. 3 Gerhard Büttner / Veit-Jakobus Dieterich, Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, Göttingen ²2016.

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Innerhalb der derzeitigen Diskussion zur Christologie kommt der Frage der Bedeutung des Opfertodes Jesu eine besondere Rolle zu.4 Ich habe in drei kleinen Studien versucht, der Bedeutung dieser Frage im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern nachzugehen. Einer der drei Beiträge ist hier abgedruckt.5

4 Michaela Albrecht, Für uns gestorben. Die Heilsbedeutung des Kreuzestodes Jesu Christi aus der Sicht Jugendlicher, Göttingen 2007; Mirjam Zimmermann, Kindertheologie als theologische Kompetenz von Kindern. Grundlagen, Methoden und Ziel kindertheologischer Forschung am Beispiel der Deutung des Todes Jesu, Neukirchen-Vluyn 2010. 5 Anke Blümm / Gerhard Büttner, „… es ist Gott vielleicht nicht leicht gefallen, seinen einzigen Sohn zu opfern.“ Wie Schüler/innen der Klassen 4–8 den Tod Jesu sehen, in: entwurf 1/1998, 35–37; Gerhard Büttner, „Experimental Teaching“ zur Christologie. Kategorisierung als Forschungsmethode, in: Dietlind Fischer / Volker Elsenbast / Albrecht Schöll (Hg.), Religionsunterricht erforschen. Beiträge zur empirischen Erkundung von religionsunterrichtlicher Praxis, Münster 2003, 172–187.

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„Halb Mensch, halb nicht, das weiß man nicht so sehr, denn Jesus ist ja eigentlich Gottes Sohn!“ – Kindliche Versuche, die Paradoxien der Christologie bildhaft auszudrücken Der Kontext der Untersuchung Dass Jesus sich Kindern in besonderer Weise zugewandt hat, ist einer der gut bezeugten Aussagen der synoptischen Evangelien.1 Der Frage, wie heutige Kinder Jesus sehen, hat man sich erst in jüngster Zeit wirklich gestellt.2 Bei den empirischen Studien zum Gleichnis3- bzw. Wunderverständnis4 der Kinder wurde dabei bewusst Anschluss gesucht an die rezeptionsästhetische Diskussion. Von der Fragestellung her bot sich eine Koppelung von Rezeptionstheorie und entwicklungspsychologischen Einsichten an. Die kognitivistische Psychologie in der Tradition Jean Piagets beschreibt bestimmte Denkschemata, in die die wahrgenommenen Gegenstände assimiliert werden. Diese Schemata verändern sich zwar auch unter dem Einfluss neuer Erfahrungen, zeigen jedoch eine gewisse zeitliche Stabilität. Von daher ist es möglich, bestimmte Erkenntnismodi altersspezifisch zu erwarten. Markant ist vor allem die Unterscheidung zwischen einer Phase konkreter Operation von einer solchen formalen Denkens. Verkürzt gesagt, ist erstere typisch vor allem für das Kind der Grundschulzeit. Die Fähigkeit zur formalen Operation entspricht in etwa dem, was man landläufig mit abstraktem Denken meint, sie tritt im Allgemeinen erst mit der Pubertät auf und ist abhängig von Intelligenz und Bildungsgrad. Mit dieser Unterscheidung lässt sich auch bestimmen, in welcher Weise im Folgenden von Kindern und 1 Vgl. Peter Müller, In der Mitte der Gemeinde. Kinder im Neuen Testament, Neukirchen-Vluyn 1992. 2 In umfassenderen Untersuchungen zu religiösen Vorstellungen z.B. Ronald Goldman, Religious Thinking from Childhood to Adolescence, London 41968, 156ff; Ursula Arnold u.a., Was Kinder glauben. 24 Gespräche über Gott und die Welt, Stuttgart 1997; spezifisch auf Jesus Christus Gerhard Büttner / Jörg Thierfelder (Hg.), Trug Jesus Sandalen? Kinder und Jugendliche sehen Jesus Christus, Göttingen 2001; Gerhard Büttner, Jesus hilft! Untersuchungen zur Christologie von Schülerinnen und Schülern, Stuttgart 2002. 3 Anton A. Bucher, Gleichnisse verstehen lernen. Strukturgenetische Untersuchungen zur Rezeption synoptischer Parabeln, Praktische Theologie im Dialog 5, Freiburg/CH 1990. 4 Heike Bee-Schroedter, Neutestamentliche Wundergeschichten im Spiegel vergangener und gegenwärtiger Rezeption, Stuttgarter Biblische Beiträge 39, Stuttgart 1998.

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deren Christologie die Rede sein wird. Reto Luzius Fetz unterscheidet zwischen der Fähigkeit zur „Objektreflexion“ bei Kindern und zur „Mittelreflexion“ der Adoleszenten und schließlich der Erwachsenen.5 Dabei wird davon ausgegangen, dass mit den entsprechenden Reflexionsniveaus jeweils auch spezifische „Ontologien“ verbunden sind. „Dieses Instrumentarium spricht dem Kind und dem Jugendlichen genuin philosophische Erkenntnisleistungen zu, wenn auch nicht in ausgearbeiteter Form.“6 Wenn ich in diesem Beitrag die Christologie der Kinder ins Auge fasse, dann heißt das, dass mich die theologischen Reflexions- und Konstruktionsleistungen interessieren, wie sie auf der Basis der konkreten Operation bzw. der Objektreflexion möglich sind. Hier treffe ich mich mit den Überlegungen, die im Zusammenhang der Möglichkeit einer „Kinderphilosophie“ entwickelt wurden.7 In dieser Linie verfolge ich deshalb auch in erster Linie die kognitiv-logischen Hervorbringungen der Kinder im Sinne einer Kindertheologie.8 In der religionspädagogischen Diskussion bedeutet diese Zuordnung, in der Tradition Piagets die Eigenart von Kindern anzuerkennen und positiv zu würdigen. Die spezifische Differenz kindlichen Denkens und Glaubens gegenüber Erwachsenen wird demnach nicht als Defizit interpretiert, sondern als Chance gewürdigt. Diese Vorentscheidung hat dann auch Konsequenzen im Hinblick auf das Metaphern- und Bildverstehen der Kinder. So hatte besonders Hubertus Halbfas auf der Basis der metaphernorientierten Gleichnistheorie für einen Einsatz von Gleichnissen in der Grundschule plädiert.9 Dagegen konstatierten die empirischen Studien von Bucher und Hermans deutliche Verständnisschwierigkeiten bei Grundschulkindern im Hinblick auf Gleichnisse und Metaphern.10 In dieser Tradition hat Christina Kalloch11 auf der Basis der Piaget’schen Stufenunterscheidungen eine 5 Reto Luzius Fetz, Der Kinderglaube. Seine Eigenart und seine Bedeutung für die spätere Entwicklung, in: Engelbert Groß (Hg.), Der Kinderglaube. Perspektiven aus der Forschung für die Praxis, Donauwörth 1995, 22. 6 Reto Luzius Fetz / Karl H. Reich / Peter Valentin, Weltbildentwicklung und Schöpfungsverständnis. Eine strukturgenetische Untersuchung bei Kindern und Jugendlichen, Stuttgart u.a. 2001, 140. 7 Zum Überblick Stephan Englhart, Modelle und Perspektiven der Kinderphilosophie, Heinsberg 1997 und Ekkehart Martens, Philosophieren mit Kindern. Eine Einführung in die Philosophie, Stuttgart 1999. 8 Gerhard Büttner / Hartmut Rupp (Hg.), Theologisieren mit Kindern, Stuttgart u.a. 2002. 9 Hubertus Halbfas, Religionsunterricht in der Grundschule. Lehrerhandbuch 3, Düsseldorf/ Zürich 1985, 542ff. 10 Anton A. Bucher, Gleichnisse verstehen lernen (wie Anm. 3) und Chris Herman, Wie werdet ihr die Gleichnisse verstehen? Empirisch-theologische Forschung zur Gleichnisdidaktik, Theologie und Empirie 12, Kampen/NL / Weinheim 1990. Hermans referiert die Literatur zur Entwicklung des Metaphernverstehens. 11 Christina Kalloch, Bilddidaktische Perspektiven für den Religionsunterricht in der Grund-

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kritische Anfrage an das Bildprogramm vieler Grundschulbücher vorgelegt, wobei sie die Tendenzen zur Nichtgegenständlichkeit und Symbolik beim Bildprogramm als altersunangemessen deutet.12 Mein eigenes Vorgehen knüpft an die skizzierten Erkenntnisvoraussetzungen im Sinne Piagets an. Allerdings geht es mir darum, die Leistungsfähigkeit des kindlichen Denkens auf der Ebene der Objektreflexion voll auszuloten. In Bezug auf das Gleichnisverstehen heißt das z.B., es muss darüber nachgedacht werden, bei welchen Gleichnissen die Konstruktionsprinzipien und der angesprochene Inhalt einen kindlichen Zugang erleichtern, bei welchem sie ihn erschweren dürften. So ist der erzählerische Ablauf im „Gleichnis vom verlorenen Schaf“ Kindern unmittelbar einleuchtend. Viele Kinder kennen die Situation, einmal, z.B. beim Einkaufen, ihren Eltern „verloren gegangen“ zu sein. Von daher ist es sinnvoll und möglich, dann auch andere biblische Geschichten von „verlorenen“ Personen ins Spiel zu bringen, etwa Bartimäus oder Zachäus. Wenn die Kinder die beiden Geschichten nebeneinander stellen, dann fallen ihnen Gemeinsamkeiten auf. Auf diese Art und Weise können dann auch Grundschulkinder etwas von der „gleichnishaften“ Natur dieser Jesuserzählung nachvollziehen.13 Beim konkreten Procedere werden sich dabei sehr unterschiedliche, in der Regel aber interessante Interpretationen ergeben. Diese gehen allerdings häufig über die – von Piaget her zu erwartende – bloße Reproduktion der Geschichte als Geschichte hinaus.14 Unsere empirischen Befunde zum Gleichnisverstehen der Kinder lassen sich gut erklären im Zusammenhang der jüngeren Theorieentwicklung in Absetzung und Weiterführung im Hinblick auf Piaget. Die oben auch von mir eingeführten Vorstellungen von bestimmten Denkniveaus gehen letztlich davon aus, dass sich dieses Vermögen über alle Wissensbereiche hin erstreckt. Neuere Untersuchungen stützen nun allerdings eine Differen-

schule, Hildesheimer Beiträge zu den Erziehungs- und Sozialwissenschaften 37, Hildesheim 1997. Sie bezieht sich theoretisch v. a. auf Michael J. Parsons, How we understand art. A cognitive developmental account of aesthetic experience, Cambridge/UK u.a. 1987. 12 Anton A. Bucher, „Das Bild gefällt mir: Da ist ein Hund drauf.“ Die Entwicklung und Veränderung von Bildwahrnehmung und Bildpräferenz in Kindheit und Jugend, in: Dietlind Fischer / Albrecht Schöll (Hg.), Religiöse Vorstellungen bilden, Münster 2000, 207–231 konnte zumindest eine deutliche Präferenz der Kinder in dieser Richtung ausmachen. 13 Ich will damit betonen, was auch in der Piaget-Kritik herausgearbeitet wurde, dass die Fragestellung bzw. die Präsentation eines Problems nicht unwesentlich ist für das erhaltene Ergebnis. 14 Peter Müller u.a., Die Gleichnisse Jesu, Stuttgart 2002, 104ff; bereits früher Marie-Rose Debot-Sevrin, An Attempt in Experimental Teaching. The Assimilation of a Parable by Normal and Maladjusted Children in the 6–8 Age Group, in: André Godin (Hg.), From Cry to Word, Brüssel 1968, 135–158.

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zierung im Sinne einer Bereichsspezifität.15 Konkret bedeutet dies, dass es für das jeweilige Denkniveau nicht unwichtig ist, wie viel materielle Kenntnis von diesem Gegenstandsbereich vorhanden ist. So konnte etwa Judith Brunner zeigen, dass Vorschulkinder, die die Jesusfigur zunächst in ihrem Kontext bildlich darstellen (mit Blume oder Skateboard) mit zunehmender Kenntnis entsprechender biblischer Geschichten dann auch reichhaltigere und differenziertere Bilder malen konnten.16 Dies führt im weiteren Verlauf dann auch zu dem Vermögen, durch intertextuelle Verknüpfungen verschiedener Perikopen eigenständige theologische Überlegungen zu formulieren.17 Das bedeutet, dass die Fähigkeit zu komplexeren Verständnisformen offensichtlich nicht nur vom Entwicklungsniveau abhängt, sondern auch vom Kenntnisstand in dem entsprechenden Bereich, sei es die agrarische Welt Palästinas zur Zeit Jesu in Bezug auf die Gleichnisse oder verschiedene Auftretensweisen Jesu im Hinblick auf die Christologie. Soweit es uns gelingt, an dieser Stelle die Genese theologischer Vorstellungen gleichsam im „status nascendi“ zu verfolgen, eröffnet dies natürlich die Frage nach Strukturen, die einem solchen Prozess zugrunde liegen könnten. So ließen sich etwa Verknüpfungsregeln für das Verständnis der christlichen Hochfeste ausmachen. Mit deren Hilfe können dann Kinder die unterschiedlichen Informationen zu Weihnachten und Ostern, die sie aus Folklore und Werbung einerseits, der biblischen Tradition andererseits, erhalten, sinnhaft für sich verknüpfen.18 In Bezug auf ältere Kinder und Erwachsene scheint es mir sinnvoll, nach spezifischen Logiken zu suchen, die sich bei der Bewältigung bestimmter Fragestellungen bewährt ha15 Zum Überblick vgl. Claudia Mähler, Naive Theorien im kindlichen Denken, in: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie 31, 1999, 53–66; Kurt Reusser, Denkstrukturen und Wissenserwerb in der Ontogenese, in: Friedhart Klix / Hans Spada (Hg.), Enzyklopädie der Psychologie. Serie II: Kognition, Bd. 6: Wissen, Göttingen u.a. 1998, 115–166; Lawrence Hirschfeld / Susan A. Gelman (Hg.), Mapping the Mind. Domain Specificy in Cognition and Culture, Cambridge 1994. Darin zur ‚domain specificy‘ von Religion: Pascal Boyer, Cognitive constraints on cultural representations: Natural ontologies and religious ideas, 391–411. 16 Judith Brunner, „Der Jesus kann gut mit Kindern umgehen. Christologie der Vorschulkinder, in: Gerhard Büttner / Jörg Thierfelder (Hg.), Trug Jesus Sandalen?, Göttingen 2001, 27–71. 17 Gerhard Büttner / Oliver Reis, Wie werden Kinder zu (biblischen) Theologen oder wie entsteht ein kohärentes Bibelwissen? In: Religionspädagogische Beiträge 47, 2001, 43–54. 18 In der Regel geschieht dies durch temporale Verknüpfungen nach der Art: Wenn das Christkind kommt, hat Jesus Geburtstag.“ Vgl. Gerhard Büttner, Das Jesuskind zwischen Christkind und Weihnachtsmann – Untersuchungen zur Genese der Weihnachtsfiguren bei Vorschulkindern, in: Anton A. Bucher u.a. (Hg.), „Mittendrin ist Gott.“ – Kinder denken nach über Gott, Leben und Tod, Jahrbuch für Kindertheologie 1, Stuttgart 2001, 28–41 und Gerhard Büttner / Ina Mähringer, „Wo der Osterhase gekommen ist, ist Jesus wieder auferstanden vom Grab.“ Osterkonzepte von Kindergartenkindern, in: Anton A. Bucher u.a. (Hg.), „Im Himmelreich ist keiner sauer.“ – Kinder als Exegeten, Jahrbuch für Kindertheologie 2, Stuttgart 2003.

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ben. Hier scheint mir eine Orientierung an den Befunden zur Dilemma-Diskussion hilfreich. Lawrence Kohlberg und Fritz Oser hatten zur Ermittlung von Stufen des moralischen bzw. religiösen Urteils Antwortmöglichkeiten auf Dilemmasituationen gesammelt und mit deren Hilfe Argumentationsstrukturen rekonstruiert. Dabei ließ sich zeigen, dass jedes Dilemma letztlich eine begrenzte Anzahl von Antwortmöglichkeiten hervorbringt.19 Überträgt man diese Einsicht, dann führt sie zu der Annahme, dass auch für theologische Fragestellungen vermutlich immer nur eine begrenzte Anzahl von Lösungsmöglichkeiten existiert. Ich bin geneigt, in Bezug auf diese strukturellen Grundlagen mit Oser und Gmünder ausdrücklich von „Tiefenstrukturen“ zu sprechen.20 Dabei können sich diese Strukturen vermutlich in dreifacher Weise manifestieren. Hatte bereits Gerhard Sauter einen Entdeckungs- und einen Begründungszusammenhang unterschieden,21 so spricht vieles dafür, zusätzlich einen spezifischen Rezeptionszusammenhang in Rechnung zu stellen. Letzterer manifestiert sich in den verschiedenen Deutungsversuchen etwa der Kinder, der Laien, letztlich auch der Theologen selbst. Allerdings sind diese insgesamt gesehen weniger willkürlich und beliebig, als dies manchmal auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn auch die theologischen Interpretationen der Kinder folgen, dies ist zumindest meine Annahme auf der Basis – allerdings begrenzter – empirischer Einblicke, durchaus einer nachvollziehbaren Logik.22 Interessanterweise lassen sich die meisten der so beobachteten Argumentationsmuster durchaus anschließen an solche, die im Laufe der Kirchen-, besser Dogmengeschichte auch schon gebraucht worden sind. Dies gilt auch und gerade für die Formulierungen zur Christologie. Allerdings greifen diese Logiken ihrerseits zurück auf bestimmte Erfahrungszusammenhänge, z.B. für die Christologie auf den der Familie im Zusammenhang mit der Vater-Sohn-Metapher. Damit sind die dort gesetzten logischen, aber auch konnotativ mitgesetzten Spielregeln zunächst einmal akzeptiert. Dies gilt umso mehr, als besonders Kinder dann diesen konkreten Erfahrungshintergrund bei ihrem theologischen Nachdenken voll ausspielen.23 Allerdings bleiben auch sie letztlich nicht an diesem Bild kleben, sondern treiben 19 Die man dann im Falle Kohlbergs in einem dicken Manual nachlesen kann: Anne Colby u.a., The Measurement of Moral Judgement, Bd. 2, Cambridge u.a. 1987. 20 Fritz Oser / Paul Gmünder, Der Mensch – Stufen seiner religiösen Entwicklung, ³1992, 43. 21 Zur Begrifflichkeit vgl. Gerhard Sauter, Wissenschaftstheoretische Kritik der Theologie, München 1973, 90ff. 22 Ich habe dies versucht zu zeigen im Hinblick auf die Kontroverse um den freien bzw. unfreien Willen; vgl. Gerhard Büttner / Jörg Thierfelder, Mit theologischen „Klassikern“ theologisieren. Ein Unterrichtsversuch zum „freien“ bzw. „unfreien“ Willen in einer 5. Klasse, in: Gerhard Büttner / Hartmut Rupp (Hg.), Theologisieren mit Kindern, Stuttgart u.a. 2002, 35–51. 23 Gott ist dann der „Vater“, der ein Stockwerk höher „im Himmel“ wohnt und ganz bestimmte Erwartungen an den „Sohn“ hat.

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es – insbesondere wenn nachgefragt wird – über sich hinaus.24 Damit nähert sich der hier beschriebene Prozess den Überlegungen von Lakoff und Johnson an, die ja ihrerseits in der Tradition Chomskys quasi von Tiefenstrukturen unserer Sprachwelt ausgehen, die sich in den impliziten normativen Vorgaben der Sprachbilder ausdrücken.25 Insoweit ist dieser Ansatz der Metapherntheorie recht nahe bei den von mir entfalteten strukturalistischen Vorannahmen in Hinblick auf die Theologieproduktion (nicht nur) der Kinder.

Die Fragestellung In bis heute gültiger Weise haben die Konzilsväter von Chalzedon formuliert, dass Jesus Christus „zugleich wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch“ sei. Und zur Erläuterung haben sie hinzugefügt, dass wir Christus bekennen „in zwei Naturen unvermischt, unverwandelt, ungetrennt [und] ungesondert“.26 Schon zur Abfassungszeit äußerten gleichwohl einzelne Bischöfe Zweifel an dieser paradoxen Formulierung, „weil einfache Gläubige an dieser Zweinaturenformel Anstoß nehmen [würden]“. Deshalb sei diese neue Lehrformel auch „als Grundlage der Taufkatechese […] ungeeignet“.27 Mit diesem Rückblick ins 5. Jahrhundert möchte ich auf ein Problem der Theologie aufmerksam machen. Es gehört zu den immer wieder geforderten Leistungen systematisch-theologischen Nachdenkens, den Zeugnissen der biblischen Überlieferung in Auseinandersetzung und Zusammenspiel mit den Fragestellungen der Zeitgenossen eine prägnante Form zu geben. Dies sollte dann, dies gilt besonders für die Bekenntnisformulierungen, Klärungen und Grenzziehungen ermöglichen. Doch ist der Preis, der für diese Konzentrations- und Abstraktionsleistung zu entrichten ist, nicht gering. Dies wird deutlich bei der Gegenüberstellung der oben genannten Formulierungen mit einer beliebigen Stelle aus den Evangelien. Zweifellos lassen sich „die zwei Naturen Jesu Christi“ an vielen neutestamentlichen Stellen festmachen, allerdings selten in der Prägnanz einer dogmatischen Formulierung. Auf der anderen Seite wird es, wie bereits die zitierten Bischöfe meinten, schwierig, 24 Dies zeigen sehr schön die Gespräche in: John M. Hull, Wie Kinder über Gott reden, Gütersloh 1997. 25 George Lakoff / Mark Johnson, Leben in Metaphern, Heidelberg ²2000. 26 Übersetzung zit. nach Adolf Martin Ritter (Hg.), Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Bd. 1: Alte Kirche, Neukirchen-Vluyn 61994, 221. 27 Helmut Reich, Kann Denken in Komplementarität die religiöse Entwicklung im Erwachsenenalter fördern? Überlegungen am Beispiel der Lehrformel von Chalkedon und weiterer theologischer ‚Paradoxe‘, in: Michael Böhnke u.a. (Hg.), Erwachsen im Glauben. Beiträge zum Verhältnis von Entwicklungspsychologie und religiöser Erwachsenenbildung, Stuttgart u.a. 1992, 127–155, 141.

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das Gemeinte im Glauben von Nichttheologen, Kindern zumal, wiederzufinden. Wir können davon ausgehen, dass deren Glaubensvorstellungen zwangsläufig auf eine größere Konkretheit und damit auch Bildhaftigkeit angewiesen sind. Meine Frage lautet deshalb: Wieweit ist es möglich, mit bildhaften Mitteln Paradoxien im Bereich der Christologie darzustellen? Ich skizziere dazu in einem ersten Schritt Überlegungen zum sog. komplementären Denken und versuche, die Grenzen dieses Ansatzes aufzuzeigen. Im Anschluss daran stelle ich alternative Hypothesen zu möglichen „Logiken“ der Darstellung von Paradoxien vor. Danach werde ich eine Gesprächssequenz von Schüler/innen einer 2. Klasse präsentieren und versuchen, einige der dort entwickelten christologischen Deutungsmuster zu bestimmen.

Das Konzept des „komplementären Denkens“ und seine Grenzen Der frühere Physiker Karl Helmut Reich vermutet, dass die gedankliche Erfassung z.B. der christologischen Paradoxien ein bestimmtes Denkvermögen erfordert. Er nennt dieses „komplementäres Denken“. Ein solches wäre dazu in der Lage, solche Phänomene gedanklich zu erfassen, wie sie etwa das aus der Physik bekannte Phänomen bildet, nach dem Licht sowohl als Welle als auch als Teilchen nachgewiesen werden kann. Reich sieht in dieser besonderen Ausprägung der formalen Denkstufe im Sinne Piagets die Voraussetzung dafür, komplexe Phänomene auch in der Theologie zu begreifen. Sein besonderes Interesse gilt der doppelten Konnotierung des Weltanfangs als „Schöpfung“ und „Urknall“. Dazu kommt dann der Versuch, auch die christologische Paradoxie mit Hilfe des „komplementären Denkens“ gedanklich fassbar zu machen. So konnte er bei einer nicht-repräsentativen Befragung von Menschen mit überdurchschnittlicher Bildung bei fast der Hälfte seiner 28 Probanden ein wirkliches Verstehen der oben zitierten Chalzedon-Formel ausmachen. So äußerte etwa die fast 18-jährige Brigitte:28 „Bei diesen Wörtern [den vier Adverbien unvermischt und unverwandelt, ungeteilt und ungeschieden] ist mir als erstes der Widerspruch aufgefallen. Es ist gerade gegenteilig. Aber das ist trotzdem nicht so abwegig, wenn man es in Beziehung zu Jesus Christus, Mensch und Gott bringt.“

Doch die Erkenntnis, dass einige Menschen in der Lage sind, diese Paradoxien zu verstehen, führt nur bedingt weiter bei der Frage, wie diese Aussagen anderen 28 Ebd., 143.

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Menschen, vor allem auch Kindern, zugänglich sein könnten. Oser und Reich stellten sich deshalb die Frage, ob es Vorstufen dieses „komplementären Denkens“ gäbe. Sie befragten Kinder und Jugendliche zu einer, nach ihrer Meinung ähnlich gelagerten, aber anschaulicheren Problematik, nämlich ob die Leistung eines qualifizierten Klavierspielers vom Talent oder von der Übung abhänge. Dabei votierten die Kinder von der einseitigen Betonung eines Merkmals bis dann zur notwendigen Verknüpfung beider.29 Ich stelle das so entworfene Entwicklungsmodell der beiden Autoren vor und versuche gleichzeitig mit darzustellen, was dies für unsere Christologiethematik bedeuten könne.30 Niveau I

A und B werden jeweils für sich alleine betrachtet. Je nach Kenntnis und Sozialisation wird meist A oder B gewählt, gelegentlich beide, jedoch ohne Begründung

Jesus wird entweder als „berühmter“ Mensch gesehen oder als göttliches Wesen („Gottes Sohn“).

Niveau II

Die Möglichkeit, dass A und B beide gelten können, wird in Betracht gezogen.

Es gibt Geschichten, da ist Jesus eher Mensch und solche, da ist er mehr Gott.

Niveau III

A und B werden beide als notwendig erkannt.

Beide Seiten von Jesus gehören zusammen und werden z.B. durch die Auferstehung miteinander verknüpft.

Niveau IV

A und B werden als zusammengehörig verstanden und die Beziehung zwischen beiden wird geklärt.

Wie bei III wird erkannt, dass menschliche und göttliche Züge bei Jesus zusammengehören. Dabei wird verstanden, dass dabei zwei an sich nicht überbrückbare Dimensionen (Mensch und Gott) notwendigerweise zusammenfallen.

Das hier skizzierte Modell sieht plausibel aus, hat aber beim Versuch der praktischen Verifizierung bislang so nicht funktioniert. Ein Unterrichtsbericht von Reich selbst lässt erkennen, dass bei der Frage nach Jesus Christus bei Jugendlichen die Frage nach der Relevanz Jesu Christi bedeutender ist als die von ihm verfolgte 29 Fritz Oser / K. Helmut Reich, Wie Kinder und Jugendliche gegensätzliche Erklärungen miteinander vereinbaren, in: Gerhard Büttner / Veit-Jakobus Dieterich (Hg.), Die religiöse Entwicklung des Menschen, Stuttgart 2000, 216–223. 30 Ebd., 220.

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Fragestellung.31 Katja Leistenschneider konnte in einer kleinen empirischen Studie mit Realschüler/innen immerhin einige Einsichten gewinnen, warum das Komplementaritätsmodell nicht so einfach auf die christologische Thematik anwendbar ist. Wenn nämlich jüngere Kinder in ihrer Mehrheit Gott anthropomorph denken, dann steht die Christusgestalt in keinem diametralen Gegensatz dazu.32 Mir scheint es an dieser Stelle angemessen, das enge Schema des „Denkens in Komplementarität“ hier zu verlassen und andere Ansätze zur Aufhellung christologischer Konzeptionen besonders auch bei Kindern heranzuziehen.

Alternative Theorieansätze Ich möchte einige Beobachtungen vortragen, die der amerikanische Religionswissenschaftler J. L. Barrett in seiner unveröffentlichten Dissertation mitgeteilt hat.33 Barrett begann damit, seine Probanden zu fragen, „Wie ist Gott?“ Eine häufige Antwort lautete: „Er kann vielen Dingen zur gleichen Zeit seine Aufmerksamkeit schenken im Gegensatz zu Menschen, die erst auf eine Sache achten und dann auf die andere.“ Danach las Barrett den Leuten Geschichten vor, in denen dieses Muster zur Geltung kommt. So rettet Gott in einer dieser Geschichten das Leben eines Mannes und zur selben Zeit hilft er einer Frau, ihre verloren gegangene Geldbörse zu finden. Diese Geschichte sollten die Leute nach einer Weile wieder erzählen. Erstaunlicherweise erzählten viele der Probanden, dass Gott erst der einen Person geholfen habe und dann der anderen. Das Resultat lautet also dahin, dass Menschen einerseits ausdrücklich behaupten, es sei ein besonderes Wesensmerkmal Gottes, „zwei Dinge der oben genannten Art gleichzeitig zu tun“, andererseits dann, wenn man sie um eine konkrete Ausführung bittet, die Sache so darstellen, dass Gott sie nacheinander tut. Dieses Ergebnis fand sich bei Gläubigen und Nichtgläubigen, in Indien wie in den USA. 31 So mein Fazit aus den eher collageartigen Einblicken, die zur Thematik (im Gegensatz zum breit referierten und auch vom Unterricht nachvollziehbareren Thema Schöpfungsglaube – wissenschaftliche Erklärung) referiert werden; vgl. K. Helmut Reich / Anke Schröder, Komplementäres Denken im Religionsunterricht. Ein Werkstattbericht über ein Unterrichtsprojekt zum Thema „Schöpfung“ und „Jesus Christus“, Freiburg/CH / Loccum 1995, 30ff, hier 47. 32 Katja Leistenschneider, Schülermeinungen zu Jesus. Eine Untersuchung zu Schüleraufsätzen und unterrichtliche Konsequenzen in Bezug auf die Wunderthematik. Wiss. Hausarbeit f. die Erste Staatsprüfung Lehramt RS, Pädagogische Hochschule Heidelberg 1998, 24. 33 Justin L. Barrett, Anthropomorphism, intentional agents, and conceptualizing God, Unveröffentl. Ph.D. Dissertation, Cornell University, Ithaca N.Y. 1996, zitiert in Pascal Boyer, Religion explained The Evolutionary Origins of Religious Thought, New York 2001, 88.

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Ich lese diese Notiz so, dass die ungleich leichter als etwa die Chalzedon-Formel zu fassende Abstraktion der Ubiquität Gottes für den Hausgebrauch dadurch fassbarer gemacht wird, dass sie sequenzialisiert wird. Das Paradox, dass niemand (außer Gott!) an zwei Stellen zur gleichen Zeit sein kann, wird in ein Nacheinander überführt und ihm damit sein paradoxer Charakter genommen. Genau diesen aber hatte man als Gottesprädikation gebraucht. Für die Christologie böte sich demnach immer die Möglichkeit, Christi Naturen in einem Nacheinander zu ordnen. Vermutlich lässt sich dies in den Evangelien so finden, z.B. in der Gestalt Jesu vor bzw. nach seiner Auferstehung. Aber auch innerhalb einzelner Perikopen finden sich solche Sequenzialisierungen. Ich denke hier etwa an die Perikope Joh 11, wo Jesu Weinen (V. 35) und die von ihm initiierte Erweckung des Lazarus (V. 39ff) nacheinander geschildert werden, obgleich sie in ihrer Gleichzeitigkeit sehr gut die Paradoxie der beiden Naturen Jesu zum Ausdruck bringen. Betrachten wir genauer, wie das Mittel der Zeit hier eingesetzt wird, dann sehen wir, dass die zeitliche Zuordnung ein Mittel der Verortung ist. Damit wird der Blick gerichtet auf die zweite bedeutende Zuordnungsdimension, den Raum. Der Philosoph Ernst Cassirer hat die Bedeutung der Richtungsfunktion im Feld mythischen Denkens ausdrücklich untersucht und kommt zu dem Fazit:34 „Die Anschauung des Raumes erwies sich insofern als Grundmoment des mythischen Denkens, als diese sich von der Tendenz beherrscht zeigte, alle Unterschiede, die es setzt und ergreift, in räumliche Unterschiede zu verwandeln und sie sich in dieser Form unmittelbar zu vergegenwärtigen.“

Diese Erkenntnis dürfte auch für die Darstellung christologischer Aussagen nicht unwichtig sein. Wenn wir nämlich davon ausgehen, dass die Vorstellungen etwa zu den zwei Naturen Christi eher selten in logisch-taxonomischen Zuordnungen erfolgt, sondern eher im Modus mythischer Sprache artikuliert wird, dann dürfte dem Mittel der räumlichen Verortung eine nicht geringe Rolle zufallen. Ich denke hier in erster Linie an die Oben-unten-Dichotomie, die sich besonders zur Markierung des „Himmlischen“, „Göttlichen“ im oberen Bildraum eignet, was sich biblisch z.B. in der Gestaltung der Himmelfahrtsperikope ausdrückt (Lk 24,50ff; Apg 1,9ff). Cassirer entnimmt seine Beobachtungen dem Bereich der Ethnologie. In Stammesgesellschaften findet er die typischen Einteilungen der „Welt“ nach solchen Regeln der Zuordnung auf der Grundlage von Richtungsangaben wie oben/ 34 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil: Das mythische Denken, Darmstadt 91994, 116.

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unten oder nach den Himmelsrichtungen.35 Dabei zeigen Lakoff und Johnson, dass gerade die Oben-unten-Metaphorik als „Orientierungsmetapher“ auch grundlegend für heutiges Denken und Sprechen ist.36 Kognitivistische Psychologie betont die Bedeutung von räumlichen Ordnungsmustern für das Behalten von Ereignissen. So prägen sich Szenen (scene), d.h. die Anordnung von Personen und Sachen in einem Raum deutlich besser ein als ein entsprechendes Verzeichnis der dort auftauchenden Bildelemente in beliebiger Anordnung.37 Dabei weist die sog. Schema-Theorie darauf hin, dass ganzheitliche Muster wie „Szene“ oder ein bestimmtes Ablaufkonzept von Ereignissen (script) die Wahrnehmung und die Erinnerung in der Weise steuern, dass Abweichungen im realen Verlauf an die Muster dieser Schemata assimiliert werden. Von daher erklärt sich die lange, wenn nicht sogar lebenslange Anhänglichkeit an eindrückliche Erstbegegnungen z.B. in Märchenbüchern oder Kinderbibeln. Es wäre deshalb nicht überraschend, wenn sich die Darstellung der christologischen Problematik gerade auch dieser Mechanismen bedienen würde. Die Milleniumsausstellung „The Image of Christ“ der National Gallery in London enthält einen eigenen Abschnitt zur doppelten Natur Christi. Dieser enthält schwerpunktmäßig Weihnachtsbilder. Dort sehen die Autoren die Inkarnation als „armes Kind“ und die Anbetung der ganzen Welt symbolisiert durch die Magier zusammenfallen.38

Christologische Deutungsmuster von Zweitklässlern Der folgende Gesprächsauszug gibt eine Gesprächsszene wieder, in der die Protagonisten der Klasse versuchen, sich mit ihren denkerischen Mitteln der Gestalt Jesu Christi in ihren zwei Naturen zu nähern. Ausgangspunkt ist ein Bild der Malerin Relindis Agethen. Diese hat zur Darstellung der Heilung eines Taubstummen eine Collage von verschiedenen Figuren vorgenommen. Grundidee ist dabei, dass die Christusfigur zusammen mit heutigen Menschen dargestellt wird, u.a. mit einem Jungen, der sich mittels Kopf hörer „taub“ macht. Das Bild folgt damit den oben skizzierten Regeln insoweit, als es die göttliche Natur Christi „verzeitlicht“, indem es den „damaligen“ Jesus präsentisch darstellt, nämlich als auch noch heute wirkenden Zeitgenossen. Eine Klasse aus 35 Ebd., 108ff. 36 George Lakoff / Mark Johnson, Leben in Metaphern, Heidelberg 1998, 22–30. 37 Jean Matter Mandler, Stories, Scripts and Scenes. Aspects of Schema Theory, Hillsdale u.a. 1984, 87ff. 38 Gabriele Finaldi u.a., The Image of Christ, Ausstellungskatalog, London 2000, 45.

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Erst- und Zweitklässlern hatte das auch bemerkt, konnte es aber im Gegensatz zu den Kindern dieser Klasse nicht zu eigenständigen Überlegungen nutzen. Der im Folgenden präsentierte Gesprächsausschnitt wird dann anschließend analysiert.39 Ramona: Bei dem Bild hatten die noch ganz alte Kopfhörer. Ich glaube, solche hat meine Oma zuhause. L: Ihr habt vorhin gesagt: Kopfhörer, des gibt’s nur bei uns, des gibt’s noch net so lange. Und dann is trotzdem der Jesus auf dem Bild. Was meint ihr denn dazu? Was wollt’ vielleicht der Künstler da wohl sagen? Philipp. Philipp: Ich weiß net so recht. Vielleicht könnte er sagen, dass die Kopfhö / dass / dass / dass die Kopfhörer net so gut sin. Des is bestimmt irgendwann so in dem 19. Jahrhundert gemalt worden. L: Achim. Achim: Des is / des nich nur, äm / des is nich nur / der Jesus, mmm, nur früher gelebt hat, sondern des er immer noch heute bei uns is. L: Genau. Gregor. Gregor: Also halt, [L: Pssst] dass er nich äm / dass er nich / dass er immer noch bei uns is, nur wir ihn halt auch nich sehen, oder so. Und dass Jesus so / so ähnlich is wie Gott. Dass er [L: Wie meinst du des?] Na, dass er auch eigentlich, na, so fast überall ist. L: Is Jesus nich ’n Mensch nur? Gregor: Hal / hal biss / halb Mensch, hal / äh, halb nich. Des weiß ma nich so sehr, denn Jesus, mm, is ja eigentlich Gottes Sohn. Und deswegen is eins, ei / weiß man nich eins: Ob es jetzt en Mensch is, oder ob’s jetzt en Gott is. [L: Valentin. S: Oder ob’s en Tier is.] Er is halb Gott, halb Gott, [L: Halt!] halb Mensch sozusagen. So en Fabelwesen. L: Valentin. Valentin: Gott is kein / Gott is kein Mensch, kein Tier und keine Pflanze. L: Ja, wir reden ja über Jesus. [Valentin: Ja, aber der Jesus is] Was is der Jesus? [Achim: Der is Sohn Gottes] Valentin: Das is der Sohn Gottes, und deshalb kann’s eigentlich fast alles sein. L. Ja, aber is Jesus nich en Mensch, einfach? Als Mensch hat er doch gelebt, oder? Valentin: Also, äh, halb Mensch, halb Mensch. [L: Mhm. Sebastian.] Er is so/so gelaufen und hat gegessen wie en Mensch, aber / aber im Hi / im Herz drin is er kein Mensch. 39 Zu den Einzelheiten dieser Untersuchung vgl. Gerhard Büttner, Jesus hilft! (wie Anm. 2), 138–153.

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L: Sebastian. Sebastian: Irgendwie Gottes Sohn nicht (richtig) [L: Warum nich?] Weil / weil des is ja eigentlich nur en normaler Mensch, der halt was Besonderes kann. ((Gemurmel)) (Der halt was Besonderes is.) L: Philipp und dann Sofia. Philipp: Aber die sagen halt / die meisten sagen zu ihm: Gottes Sohn. Man weiß net so direkt / des is bestimmt Gottes Sohn, des weiß ma ja schon, aber [S: Der fällt doch nich vom Himmel, oder?] Der fällt auch net so einfach so vom Himmel. L: Erst die Sofia, dann der Valentin. Sofia: Äm, aber äm, der / also Jesus war schon / en Mensch war er eigentlich schon, aber der hat was an sich, was andere Menschen nich können: Nämlich, dass er Leute heilen kann und / und halt Leute retten kann. Und [L: Valentin] Dass er auch ganz viel Liebe zu den Menschen hat. Und, und auch zu den bösen Leuten, auch zu den Dieben oder wer weiß was. Die bestraft er auch nich. Un er lasst die alle auch genau so wie die anderen Menschen leben. Die sind auch was Besonderes. L: Valentin, wolltst du? Hast’s vergessen. Der Jacques zuletzt, und dann kommen wir bald zum Ende. Jacques. Jacques: Der Gott [L: Ja], der hat / wenn er / der mag / der / in seim Gottesreich, da / des is / da / der mag alle, sogar auch die Dieben, die im Gefängnis sind. Und dann, paar fragten mal, auch die Bettlern, ob die auch bei Reich Gottes kommen. Da hat der Gott „Ja“ gesagt. L: Mhm. So, Valentin. Valentin: Em, als / alle / wir sind auch Gottes Kinder, alle sind Gottes Kinder, also Gottes Sohn. L: Ein Satz, o.k.? ((Gemurmel)) Sofia: Äm, aber der äm / der Jesus, der auch / was er hatte und auch zu essen, des teilt er mit den Armen. Der lasst nich wie / wie äh auch heut des is: Manche Leute gehen an den Bettlern, die auf der Straße sind, vorbei und geben ihnen nichts, und er gibt da den Leuten und so was.

Achim entschlüsselt die Aussage des Bildes mit der Erkenntnis, dass Jesus nicht „nur früher gelebt hat, sondern immer noch heute bei uns ist“. Mit dieser Überlegung auf der Zeitachse bereitet er die beiden Argumentationsketten von Gregor und Valentin vor. Beide greifen einmal auf logisch-taxonomische Modelle zurück, indem sie Jesus bzw. Gott definitorisch zu fassen versuchen. Dann benutzen aber beide auch noch Raumvorstellungen, Gregor die Ubiquität und Valentin die Innenaußen-Dichotomie. 185

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Gregor

Valentin

Raummetapher

Ähnlich wie Gott – so fast überall

Gelaufen und gegessen wie ein Mensch – im Herz drin kein Mensch

Taxonomische Argumentation

Halb Mensch, halb nicht. Halb Gott, halb Mensch Kein Tier

Gott bzw. Gottes Sohn ist kein Mensch, kein Tier, keine Pflanze

Während Valentin quasi mit den Mitteln einer negativen Theologie sich durch Ausschluss von Möglichkeiten Gott bzw. Gottes Sohn anzunähern versucht, schafft Gregor mit seiner Halb-und-halb-Lösung eine Aussage, die man zwischen den Niveaus II und III beim komplementären Denken einordnen könnte. Mit dem Stichwort von der Ubiquität bringt Gregor eine Gottesprädikation ins Spiel, mit der er die Anwesenheit Jesu in verschiedenen Zeiten (und Räumen) erklärbar macht. Interessanterweise findet dieses Thema nochmals eine Wiederaufnahme zum Stundenende: Jacques meint, Gott sei überall, aber unsichtbar. Gregor wendet sich gegen die Vorstellung, Gott könne mitten im Kreis hier in der Klasse sitzen. Dem stimmt wohl auch Valentin zu. Philipp nimmt das auf und widerspricht ausdrücklich der Vorstellung, Gott säße mitten im Kreis, bloß weil die Klasse jetzt Religion hätte. Doch Ramona hält ihren Vorrednern entgegen, Gott könne nicht bei jedem sein, da müsste er sich ja zerteilen.

Wir sehen wie die Raummetapher des „Überall“ schwankt zwischen konkreten Vorstellungen einer Präsenz gerade hier und jetzt und dem Gedanken einer allgemeinen, nicht sichtbaren Anwesenheit Gottes bzw. Jesu Christi.

Der Sohn-Gottes-Titel Die bisherigen Ausführungen stützten die theoretischen Vorannahmen, nach denen Raum bzw. Zeit die Faktoren waren, mit deren Hilfe die Kinder versuchten, die paradoxale Struktur der Christologie darzustellen. Mit dem Sohn-Gottes-Titel kommt nun eine andere wichtige Größe ins Spiel, die ich die familiale Matrix nennen möchte. In unserem Textauszug kommt diese Dimension erst einmal nur mittelbar zur Geltung. Gregor greift im Zuge seiner „Halbe-halbe-Theorie“ auf den Sohn Gottes zurück, vom Tenor her eher, um die Göttlichkeit Jesu herauszustreichen. Er steht damit in der Tradition des Nizänums, wo dem Titel unmittelbar die 186

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Erläuterung folgt „aus dem Vater gezeugt, d.h. aus dem Wesen des Vaters, Gott von Gott“.40 Gregor und Valentin bleiben auf dieser Spur. Erst Sebastian bricht diese Interpretation mit seinem Einwand: „Irgendwie Gottes Sohn nicht richtig. Denn er ist ja eigentlich nur ein normaler Mensch, der was Besonderes kann.“ Philipp betont den konventionellen Status dieses Titels, wenn er meint: „Die meisten sagen zu ihm ‚Gottes Sohn‘“. Interessanterweise setzt dann Valentin am Ende des Gesprächsgangs einen dekonstruktiven Kontrapunkt zu seiner anfänglichen Argumentation, wenn er sagt: „Wir sind auch Gottes Kinder, alle sind Gottes Kinder, also Gottes Sohn.“ Auffällig ist die Breite der Deutungen, die die Kinder mit dem Begriff des „Sohnes Gottes“ verbinden. Sie bleiben dabei immer im Bild, thematisieren den Begriff also nicht auf der Metaebene.41 Dabei kleben sie aber überraschenderweise nicht immer an den konkreten sinnlich wahrnehmbaren Seiten des Vater-Sohn-Bildes. Wir finden ein solches Verständnis z.B. in der Vorstellung von den „beiden Vätern Jesu“, wie etwa in dem folgenden Gespräch mit einem Kindergartenkind:42 Selina: Das ist die Mutter von Jesus, die heißt Maria. Und der hat auch noch einen andern Vater, der heißt Josef, und Jesus ist der da. Willi: (Interviewer-Puppe): […] Zwei Väter hatte Jesus? […] Josef und Gott? […] Wie geht denn das? Ihr habt doch auch nur einen Papa? […] Selina: Ja. Ich hab’ aber zwei Väter […] Also erst der John ist nicht mein richtiger Papa, der ist nur mein Stiefvater. Und ich glaube, der Josef ist auch nur der Stiefvater von Jesus. Aber der ist sehr, sehr nett.

Aber auch ältere Kinder greifen noch sehr konkret auf die familiale Matrix zurück. So äußerte etwa eine Sechstklässlerin auf die Frage nach dem Grund von Jesu Passion:43 „Da Jesus Gottes Sohn war, und Gott im Himmel lebte, wollte er wahrscheinlich, dass Jesus in den Himmel kam und ihm half, die Welt in Ordnung zu halten.“

40 Zit. nach der Übersetzung in Adolf M. Ritter, Kirchen- und Theologiegeschichte, NeukirchenVluyn 1991, 136. 41 Vgl. die obigen Ausführungen zur Objekt- bzw. Mittelreflexion bei Fetz, Kinderglaube (wie Anm. 55), bes. 26. 42 Ina Mähringer in einer Studie zu den Ostervorstellungen von Kindergartenkindern. 43 Anke Blümm / Gerhard Büttner, „… es ist Gott vielleicht nicht leicht gefallen, seinen einzigen Sohn zu opfern.“ Wie Schüler/innen der Klassen 4 bis 8 den Tod Jesu sehen, in: entwurf 1/1998, 35–37, hier 35.

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Verglichen mit diesen beiden Beispielen schimmert im Gebrauch der Zweitklässler durchaus etwas von der metaphorischen Qualität des Titels durch.

Der Komparativ als Ausdrucksmittel Abschließend soll noch auf einen anderen Mechanismus der Zuordnung verwiesen werden. Sebastian hatte in seiner Definition von der Besonderheit Jesu gesprochen. Diese Qualifizierung nimmt auch Sofia auf, wenn sie davon spricht, Jesus hätte etwas an sich „was andere Menschen nicht können“. Damit kommt eine weitere Möglichkeit ins Spiel, die paradoxale Struktur der beiden Naturen „einfacher“ zum Ausdruck zu bringen. Jesus ist zwar Mensch, aber dessen Menschsein ist geprägt durch viele Komparative. Dadurch ergibt sich dann als Resultat eine Verschiebung hin zum anderen Pol, nämlich seiner göttlichen Natur. Bereits Goldman hatte in seiner 1964er Studie hierzu treffende Formulierungen gefunden etwa beim 12-jährigen Rodney über Heilungen: „Jesus could do it in a minute. Doctors take month. He also worked on Sabbath day.“44 Zusammenfassend können wir also feststellen, dass über die aus der Theorie ableitbaren Mechanismen der Verräumlichung oder Verzeitlichung als Modi „mythischen“ Denkens den Kindern noch der Gebrauch familialer Muster und der Einsatz von Komparativen zur Verfügung stand, um die paradoxalen Züge der Christologie zum Ausdruck zu bringen. Dabei konnten die konkreten Argumentationsmuster der Kinder die Leistungsfähigkeit dieser Denkweisen aufzeigen.

Die theologischen Interpretationen der Kinder zwischen Begrifflichkeit und Metaphorik Mit der Chalzedon-Formel haben meine Überlegungen ihren Ausgangspunkt auf der Seite der Begriffsbildung genommen. Das Nachdenken der hier zitierten Kinder führte in seiner bildhaften Weise zwangsläufig in den Bereich metaphorischen Redens. Es hängt vom jeweiligen Metaphernverständnis ab, ob man in den Formulierungen der Kinder literalistische Vorstellungen sieht, die sich an konkreten Bildern wie dem der Vater-Sohn-Beziehung festmachen, ohne dass die Kinder jedoch den metaphorischen Charakter ihrer Rede erfassen können.45 Ich frage jedoch – in 44 Ronald Goldman, Religious Thinking from Childhood to Adolescence, London 1968, 159. 45 Dies ist etwa der Tenor von Anton Buchers Kritik an der Halbfas’schen Version der Symboldidaktik; vgl. Anton A. Bucher, Symbol – Symbolbildung – Symbolerziehung. Studien zur praktischen Theologie 36, St. Ottilien 1990, 329–384.

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Übereinstimmung mit der neueren Metapherntheorie –, wie Kinder mit bildhafter Rede selbst operieren. Dabei spricht vieles dafür, dass die bildhafte Rede der Kinder zwar zunächst ganz konkret gemeint ist. Doch gleichzeitig enthält diese Redeweise offensichtlich auch bereits keimhaft Züge eines „übertragenen“ Gebrauchs. Dies mag den Eindruck verstärken, dass bei den Kindern exemplarisch bildhafte und begriffliche Züge ineinander fallen, gerade da, wo beide Züge argumentative Funktionen übernehmen.46 Damit wird die – etwa von Philipp Stoellger47 – vermutete Diastase zwischen verengender Begriffsbildung und öffnender Metapher zumindest vom „Theologisieren“ der Kinder her faktisch unterlaufen. Deren Formulierungen versuchen – ihrem eigenen Verständnis nach –, Begriffsarbeit zu sein. Sie können freilich im Gegensatz zu Erwachsenen nur in dieser Form argumentieren. Die Wahl zwischen mehr abstrakt begrifflichem oder mehr metaphorischem Reden besteht für sie eben noch nicht. Einer allein begriffsfixierten Theologie mag dies als Defizit erscheinen, im Kontext des obigen Beispiels wie auch den neueren Metapherntheorien erscheint es sinnvoller, von einer Kompetenz zu sprechen. Folgt man, wie ich dies tue, einem Konzept des „Theologisierens mit Kindern“, dann verändert sich das Interesse bezüglich der Leistungsfähigkeit bildhafter theologischer Aussagen. Es geht nicht in erster Linie um deren theologische „Korrektheit“ im Sinne einer Orthodoxie. Viel wichtiger ist es festzuhalten, was Kinder eines bestimmten kognitiven Entwicklungsniveaus an „Lösungsmöglichkeiten“ für ein bestimmtes theologisches Problem hervorzubringen imstande sind. Dabei werden wir in der Regel auf eine ganze Reihe von Denkversuchen der oben skizzierten Art stoßen, die gerade in ihrer spezifischen Durchdringung von begrifflicher und bildhafter Redeweise anschlussfähig an die Entwürfe der Theologiegeschichte sind, sofern sie erwachsene Interpreten finden, die dazu in der Lage sind, solche Zuordnungen zu vollziehen.48 Interessanterweise findet sich jedoch beim genaueren Betrachten der Deutungsversuche der Kinder nur eine begrenzte Zahl 46 Ich denke, diese Überlegung lässt sich stützen durch die Untersuchungen von Claudia Mähler zum so genannten Animismus. In der Tradition Piagets bezeichnet man mit diesem Begriff die Gepflogenheit der Kinder, künstliche Objekte zu behandeln, als seien sie lebend. Dieser Zug findet sich natürlich auch noch bei Erwachsenen, sofern sie davon reden, „ihr Computer ‚spinne‘ gerade“. Claudia Mähler konnte zeigen, dass Kinder in einer analytisch orientierten Situation durchaus in der Lage waren, zwischen „toten“ und „belebten“ Objekten zu unterscheiden. In anderen Situationen griffen sie gleichwohl auf „animistische“ Redeformen zurück. Die Autorin schließt daraus, dass animistische Rede demnach kein Defizit sei, sondern eher eine Kompetenz, gleichsam eine Frühform metaphorischen Redens. Vgl. Claudia Mähler, Weiß die Sonne, dass sie scheint?, Münster/New York 1995. 47 Philipp Stoellger, ‚Jesus ist Christus‘. Zur symbolischen Form der Christusmetapher und einigen Folgen für die systematische Theologie, in: Jörg Frey / Jan Rohls / Ruben Zimmermann (Hg.), Metaphorik und Christologie, Berlin/New York 2003, 319–342, bes. 329f. 48 Insofern ist Stoellgers Rekurs auf die nichtchalzedonensischen Christologien stringent.

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von Interpretamenten. D.h., dass deren Kenntnis es ermöglicht, in einem offenen Diskurs einen großen Teil der Argumentationsmuster zu identifizieren, entweder als eine Figur der Tradition oder zumindest als eine solche, die sich offenbar im Kontext kindlichen Nachdenkens bewährt hat.49 Dies dürfte die Voraussetzung dafür sein, dass ein Gesprächsleiter in einer solchen Diskussion den Überblick behält. Mit dem Verweis auf den theologischen Diskurs mit Kindern – und damit paradigmatisch für „Laien“ – habe ich einen konkreten, empirisch verifizierbaren „Sitz im Leben“ für meine Funktionsbestimmung theologischer Bildrede bzw. hier konkret der metaphorischen Christologie gegeben. In ihrer Konkretion wird diese Christologie der Kinder stets vorläufig und offen bleiben und kann die begriffliche Festlegung der Tradition, etwa des apostolischen Credos, immer nur als regulative Idee für sich in Anspruch nehmen. Gleichwohl bleiben auch die christologischen Bilder der Kinder in den Rahmen traditioneller Denk- und Bildformen eingezeichnet. Denn es lässt sich zeigen, dass die Herausbildung theologischer Sprachbilder und Metaphern im Endeffekt doch nicht ins Unendliche weitergeführt wird, sondern bei einer begrenzten Anzahl von Deutungsmustern verbleibt. So wird auch bei der metaphorischen Christologie der Kinder das prinzipielle Wechselspiel zwischen theologischer Traditions- und situativer Innovationsmetaphorik bestätigt.50 Im Hinblick auf die Bemühungen um eine metaphorische Christologie spricht von daher viel dafür, diese nicht kontextfrei zu führen und auf empirische Validierungen im sozialen Raum nicht zu verzichten.

49 Vgl. dazu Gerhard Büttner, Landkarten des Denkens. Argumentationsstrukturen beim Nachdenken über das Verhältnis zwischen göttlicher Führung und menschlicher Autonomie, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 25, 2003, 74–81. 50 Vgl. dazu etwa Markus Buntfuß, Tradition und Innovation. Die Funktion der Metapher in der theologischen Theoriesprache, in: Frey / Rohls / Zimmermann (wie Anm. 47), 227: „Metaphern erinnern, um Neues zu sagen, und sie erneuern, um Altes zu bewahren.“

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Christologie als Wissensdomäne

Christologie als Wissensdomäne – theologische und didaktische Konsequenzen im Hinblick auf aufbauendes Lernen

Wer die Evangelien aufmerksam liest, stößt immer wieder auf Stellen, in denen es darum geht, wer denn Jesus ist. Dies gilt für Johannes den Täufer (Lk 7,18ff), Jesus selbst (Mk 8,17par) und die Emmausjünger (Lk 24,19ff). Damit stoßen wir bereits in der erzählten Zeit auf die Fragen, die in der Briefliteratur des NT (Phil 2,5ff; Hebr) und im Gesamtentwurf der Evangelien immer wieder gestellt und (vorläufig) beantwortet werden. Ein solches streitbares Nachdenken ist nicht verwunderlich, geben die Texte doch ganz unterschiedliche Signale: Mal ist Jesus todtraurig oder er weint, dann wieder kann er Tote erwecken und wird „verklärt“. Wie soll man das zusammenbringen? In den Jahren des frühen Christentums hat man – mit Hilfe platonischer Philosophie – komplexe Deutungsformeln gefunden, wie sie sich im apostolischen und nizänischen Glaubensbekenntnis finden und – nicht zuletzt – in der bis heute gültigen Formel von Chalzedon „wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch … in zwei Naturen unvermischt, unverändert, ungeteilt und ungetrennt“. Doch die Entwicklung ging immer weiter. Anselm von Canterbury fand mit seiner Satisfaktionstheorie eine lange Zeit bestimmende Deutung des Kreuzestodes Jesu, und „Balthasar Meisner veröffentlichte 1624 in Wittenberg eine ‚Christologia Sacra‘“1, die den Begriff bleibend in der Theologie etablierte. Doch die Entwicklung der Christologie setzte sich in der theologischen Diskussion bis heute fort. Die fortlaufenden Bemühungen, hinter den Evangelien einen „historischen Jesus“ zu finden, beeinflussten den systematisch-theologischen Diskurs, obgleich er die Konstruktion der „Naturen“ nicht wirklich betrifft. Den Versuchen, Jesus Christus auf nichtbiblischer Basis zu konstruieren, trat die Barmer Erklärung entgegen und seit einiger Zeit wird – angesichts der generellen Zweifel am Sühnegedanken – die seit Anselm geltende Deutung des Kreuzestodes zunehmend in Frage gestellt. Diese Skizze ist allzu knapp, zeigt aber auf, dass die theologische Diskussion zur Christologie vor einem weiten Horizont aufgespannt ist, die durch Beiträge aus der neutestamentlichen Wissenschaft und der Systematischen Theologie immer neu befeuert wird. Mich interessiert daran, wie versucht wird, die Fülle der Diskursbeiträge zu ordnen und darzustellen. Dafür werfe ich einen ersten Blick auf die wachsende 1 Hermann Dembowski, Einführung in die Christologie, Darmstadt 1976, 9.

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Anzahl der Einführungen. Diese tragen der Tatsache Rechnung, dass die große Zahl derer, die Theologie studieren, Christologie nur als einen – u.U. kleinen – Baustein in ihrem Fächerkanon bearbeiten können oder wollen. Wie werden in dieser Gattung die Akzente gesetzt? Dies interessiert mich auch deshalb, weil sich dann die Frage stellt, ob und wie denn dann solcherart gewonnene christologische Einsichten bei der Konstruktion von Unterrichtseinheiten (und auch Predigten) in neuer Weise Gestalt annehmen. Dies ist umso mehr von Interesse, weil inzwischen eine Fülle von Studien darüber vorliegen, wie Kinder und Jugendliche verschiedener Altersstufen sich dem Thema Jesus Christus annähern und was sie dazu wissen. Dieses Feld des Wissens werde ich dann einer ausführlichen Untersuchung unterziehen. Spannend wird dann sein, in welcher Weise das christologische Wissensfeld der Schüler/innen angeschlossen ist an den theologischen Diskurs der Wissenschaft. Der von mir dazu eingeführte Begriff der „Wissensdomäne“ legt es nahe, beide Wissensfelder unter einer gemeinsamen Perspektive zu betrachten. Falls sich in dieser Wissensdomäne bestimmte Strukturen zeigen, könnte dies dann einen Beitrag zu der Frage leisten, ob es sinnvolle Reihenfolgen geben könnte, in denen das christologische Wissen zu präsentieren bzw. zu bearbeiten sei.

„Einführung in die Christologie“ Betrachtet man die von mir ausgewählten Einführungen, so bieten alle in unterschiedlicher Gewichtung und Reihenfolge den aktuellen Diskurs und einen Blick auf die biblischen und dogmatischen Bezüge. Bestimmend ist ein gewisser apologetischer Grundzug. Wie kann man – nach den massiven Infragestellungen etwa durch den jüdisch-christlichen Dialog2 oder die Anfragen des Feminismus3 – die christologischen Denkfiguren der Tradition überhaupt noch in Gebrauch nehmen? Eine wichtige Rolle spielt die Selbstreferenz der Theologie. Indem sie über Christologie nachdenkt, präsentiert sie alle methodisch reflektierten Anfragen, die zwangsläufig die Formulierungen der Bekenntnisse in Bedrängnis bringen und – was nun auch nicht weiter überraschend ist – bietet Denkfiguren, die es auch dem „modernen Menschen“ ermöglichen, diesem Jesus Christus für den eigenen Glauben etwas abzugewinnen.4 Interessanterweise argumentiert von den analysierten 2 Helmut Hoping, Einführung in die Christologie, Darmstadt 32014, 37ff, 47ff; Bernhard Nitsche, Christologie, Paderborn 2012, 61ff. 3 Bernhard Nitsche, Christologie (wie Anm. 2), 171ff; Ralf K. Wüstenberg, Christologie. Wie man heute theologisch von Jesus sprechen kann, Gütersloh 2009, 110ff. 4 Ralf K. Wüstenberg, Christologie (wie Anm. 3), 38ff; Hermann Dembowski, Einführung in die Christologie (wie Anm. 1), 37ff.

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Entwürfen nur Bernhard Nitsche ganz elementar, wenn er etwa durchspielt, was es jeweils bedeutet, wenn ich Jesus als Mensch, als Gott oder beides zugleich denke.5 Dies ist deshalb wichtig, weil etwa die von Ralf Wüstenberg aufgenommenen Fragen eher solche der „gebildeten Verächter der Religion“ sind als solche von Kindern und Jugendlichen.6

Christologie im Lichte der Religionspädagogik Die (evangelische) Theologie stand in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts stark unter dem Eindruck der Neutestamentlichen Theologie. Insofern war es nicht verwunderlich, dass auch die Religionspädagogik von dieser Entwicklung zu profitieren hoffte. So versuchte man zunehmend über einen als biblizistisch empfundenen Zugriff im Sinne einer „biblischen Geschichte“ hinauszukommen. Doch erscheinen uns heute viele Versuche eher als kurios. So versuchte man die Erkenntnis des „Messiasgeheimnisses“ bei Mk so umzusetzen, dass man bei der Vermittlung von Wundergeschichten Jesu explizit darauf hinwies, dass man daraus keine Schlüsse über Jesu Messianität ziehen dürfe, weil dies erst aufgrund des Passionsgeschehens möglich sei. Man liebäugelte mit der Idee, man müsse – in Analogie zum Entmythologisierungsprogramm – die Jesusgeschichten entkerygmatisieren (um „das Kerygma“ dann später explizit nachzuliefern). Andere empfahlen, den vermuteten Weg der Jünger vom historischen Jesus zum kerygmatischen Christus (nach der Auferstehung) zur Vorlage für das Unterrichtsarrangement der JesusEinheiten zu nehmen.7 Versuche dieser Art hörten schlagartig in dem Moment auf, in dem in zahlreichen empirischen Studien die Rezeption der christologisch relevanten Themen bei Kindern und Jugendlichen breit erforscht ist. Auf der Grundlage dieser Beobachtungen lässt sich ein umfassendes und differenziertes Bild christologischen Wissens erheben.8 Dieses ist von eigenen Strukturen und Logiken 5 Bernhard Nitsche, Christologie (wie Anm. 2), 24ff. 6 Z.B. Ralf K. Wüstenberg, Christologie (wie Anm. 3), 38: „Christologie in einer Welt des Fortschritts und der historischen Wissenschaft“. 7 Zu diesen Ansätzen Gerhard Büttner, Jesus hilft! Untersuchungen zur Christologie von Schülerinnen und Schülern, Stuttgart 2002, 27ff. 8 Als Monographien liegen vor: Gerhard Büttner, Jesus hilft! (wie Anm. 7), S. 27ff; Helmut Hanisch / Siegfried Hoppe-Graff, Ganz normal und trotzdem König. Jesus Christus im Religions- und Ethikunterricht, Stuttgart 2002; Sabine Benz, Wer ist Jesus – was denkst du? Christologische Wissens- und Kompetenzentwicklung in den ersten beiden Grundschuljahren – eine qualitative Längsschnittstudie, Arbeiten zur Religionspädagogik 56, Göttingen 2015; Christian Butt, Kindertheologische Untersuchungen zu Auferstehungsvorstellungen von Grundschülerinnen und Grundschülern, Arbeiten zur Religionspädagogik 41, Göttingen 2009; Mirjam Zimmermann, Kindertheologie als theologische Kompetenz von Kindern. Grund­

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bestimmt und steht – nicht überraschend – in einer spezifischen Beziehung zu den oben angesprochenen christologischen Aussagen der theologischen Tradition. Die empirischen Studien sind in ihrer altersspezifischen Zuspitzung zwangsläufig auch entwicklungspsychologisch perspektiviert. Damit kommt eine ganz andere Sichtweise zum Tragen als in der Systematischen Theologie. Denn eine entwicklungspsychologische Sichtweise enthüllt zwangsläufig die Konstruktivität jeder Aussage, weil diese sich voraussichtlich mit dem Heranwachsen modifizieren wird. Eine solche Sichtweise ist einer dogmatisch argumentierenden Perspektive erst einmal fremd, weil sie ihre Referenzen nur innerhalb theologischer Positionen sucht. Mein Vorschlag geht nun dahin, das christologische Wissen demgegenüber einmal gemäß der Logik einer Kognitionstheorie zu perspektivieren.

Wissen im kognitionspsychologischen Blick Wenn man Schulklassen von 1 bis 9 jeweils dieselbe Geschichte vorlegt, eine fiktive (aber der Sturmstillungsgeschichte verwandte) Situation am See Genezareth und die Frage, wie Jesus sich dabei verhalten würde, kann man erkennen, dass sich ein deutlicher Trend im Deuteverhalten mit der Altersentwicklung ausmachen lässt.9 Ich habe die Interpretamente der Schüler/innen nach zwei Richtungen analysiert. Es ließ sich zeigen, dass die Werkzeuge der kognitivistischen Entwicklungspsychologie dabei hilfreich waren. So manifestierten sich etwa in den Wundervorstellungen der Schüler/innen verschiedene Varianten des von Jean Piaget sog. „Artifizialismus“. Viele Aussagen forderten aber auch direkt eine theologische Deutung: etwa die Annahme, Jesus würde gerne immer helfen, würde aber dazu nicht immer von Gott ermächtigt. Als Fazit meiner Arbeit versuchte ich damals so etwas wie eine Entwicklungspsychologie der Christologiethematik.10 Dabei war mir der größere theoretische Rahmen dessen, was ich tat, noch nicht ganz geläufig. Diesen Schritt möchte ich im Folgenden nachvollziehen. lagen, Methodik und Ziel kindertheologischer Forschung am Beispiel der Deutung des Todes Jesu, Neukirchen-Vluyn 2010; Annike Reiß, „Man soll etwas glauben, was man nie gesehen hat.“ – Theologische Gespräche mit Jugendlichen zur Wunderthematik, Beiträge zur Kinderund Jugendtheologie 33, Kassel 2015; Tobias Ziegler, Jesus als „unnahbarer Übermensch“ oder „bester Freund“? Elementare Zugänge Jugendlicher zur Christologie als Herausforderung für Religionspädagogik und Theologie, Neukirchen-Vluyn 2006; Michaela Albrecht, Für uns gestorben. Die Heilsbedeutung des Kreuzestodes Jesu Christi aus der Sicht Jugendlicher, Arbeiten zur Religionspädagogik 33, Göttingen 2007; Friedhelm Kraft / Hanna Roose, Von Jesus Christus reden im Religionsunterricht. Christologie als Abenteuer entdecken, Göttingen, 2011. 9 Gerhard Büttner, Jesus hilft! (wie Anm. 7), 27ff. 10 Ebd., 266ff.

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Jean Piaget war von der Einsicht ausgegangen, dass es kognitive Stufen gäbe, die das jeweilige Denken auf einer bestimmten Entwicklungsstufe bestimmten. Der grundlegende Neuansatz in der Entwicklungspsychologie geht inzwischen aber davon aus, dass es keine automatische Entwicklung über alle Wissensbereiche hinweg gibt. Konkret heißt das, dass ein Fortschritt des Denkens in einem Bereich wie Mathematik oder Musik sich nicht zwangsläufig auf das kognitive Niveau in Biologie oder Religion auswirkt. Von daher geht man inzwischen von einer gegenstandsbezogenen Entwicklung aus – in sog. Wissensdomänen. Grundannahme in der Psychologie ist die Vorstellung von drei mehr oder weniger nativistischen Grunddomänen (core domains): Physik, Psychologie und die Welt der Zahlen. Von diesen lassen sich dann andere Domänen ableiten bzw. unterscheiden, darunter auch ein Gegenstandsbereich Religion.11 Das Hauptinteresse der Forschung ist auf die frühen Jahre der Kindheit gerichtet und die dort auszumachenden „naiven“ oder „intuitiven“ Theorien. Dabei stellt sich natürlich immer auch die Frage, ob diese intuitiven Theorien letztlich anschlussfähig sind an spätere wissenschaftliche oder zumindest wissenschaftsaffine oder ob diese solchen eher im Wege stehen und es daher eines „Paradigmenwechsels“ bedarf. Ich werde kurz referieren, was das für die Domäne Physik heißt und dann der Frage nachgehen, was das für eine Domäne Religion / Theologie bzw. Christologie bedeuten könnte. Bereits kurz nach der Geburt verfügt ein Säugling über ein Konzept von „Schwerkraft“ im Sinne einer naiven Physik. Durch die Kontrolle der Augenbewegungen kann man erkennen, dass ein nach oben fallender Gegenstand bei dem Kind Irritation auslöst. Macht das Kind später Erfahrungen mit einem springenden Ball, dann wendet es zumindest praktisch sein Wissen über Schwerkraft an. Wenn ihm später in der Schule Galileis Experimente begegnen, dann lässt sich – zumindest theoretisch – eine Kontinuität und Weiterentwicklung des „Prinzips Schwerkraft“ annehmen. Die intuitive Vorstellung, dass es warme Gegenstände wie Wolle und kalte wie Steine gäbe, wird dagegen im Physikunterricht versucht zu tilgen, um einem wissenschaftsangemessenen Konzept von „Energie“ Raum zu schaffen.

Grundzüge einer Domäne Religion / Theologie Im Vergleich zu den core domains ist der Gegenstandsbereich Religion / Theologie vergleichsweise wenig beforscht. D.h., dass meine Skizze eine Synthese unter11 So findet sich in dem Schlüsselwerk Lawrence A. Hirschfeld / Susan A. Gelman (Hg.), Mapping the Mind. Domain Specifity in Cognition and Culture, Cambridge/UK u.a. 1994; auch ein Beitrag von Pascal Boyer, Cognitive Constraints on Cultural Representations. Natural Ontologies and Religious Ideas, 391–411.

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schiedlicher Studien in diesem Bereich darstellt.12 Ich gehe dabei aus von der Konstruktion „Kausalität“.13 Jean Piaget beobachtet bereits in der sensumotorischen Phase der ersten beiden Lebensjahre sog. „Kreisreaktionen“. Er sieht, dass es den Kindern zunehmend gelingt, zufällig geschehende Ereignisse in selbst verursachte zu überführen: Das Kind bemerkt, dass das Glöckchen an seinem Bett als Folge einer zunächst unbeabsichtigten Bewegung seinerseits einen Ton von sich gibt. Allmählich lernt es, welche Strampelbewegung am besten dazu geeignet ist, den erwünschten Ton zu produzieren.14 Dahinter steckt nun zweifellos ein Konzept von Kausalität. Forscher sehen nun in vielen Tätigkeiten des Kleinkindes Versuche, Hypothesen wie Schwerkraft oder Kausalität experimentell zu überprüfen: z.B. durch das Herabwerfen von Gegenständen oder das Umwerfen von Bauklotztürmen.15 Wenn das Kind sprechen kann, entwickelt es – in der Piaget’schen Diktion – ein Konzept des „Artifizialismus“.16 Analog zu dem, was es z.B. bei den Handwerkern sieht, geht es davon aus, dass alle Dinge „gemacht“ sind. Neuerdings spricht man hier von „agents“, d.h. willentlich handelnden Subjekten als Ursache von Geschehnissen.17 Dabei tritt auch die Möglichkeit „übernatürlicher“ agents auf. Dies bildet nun den Kern einer Domäne Religion.18 Jacqueline Woolley spricht hier von „Magie“.19 Darunter fasst sie alle Vorstellungen, die davon ausgehen, dass ein übernatürliches Handlungssubjekt generell oder punktuell kausal bestimmte Ereignisse veranlasst. Forscher wie Pascal Boyer haben nun Präzisierungen darüber vorgenommen, in welcher Weise diese über12 Diese stammen ausnahmslos aus dem angelsächsischen Bereich. Während in den USA renommierte Kognitionspsycholog/innen wie Paul Harris oder Jacqueline Woolley sich mit Fragestellungen zum Thema Religion beschäftigen, fehlt in der deutschsprachigen Literatur jeglicher Bezug zu diesem Thema. 13 Wie stark dieses Konzept seinerseits kulturell induziert ist, zeigt Karl Kälble, Die Entwicklung der Kausalität im Kulturvergleich, Opladen/Wiesbaden 1997. 14 Jean Piaget, Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde, Stuttgart 1975, 212ff. 15 Alison Gopnik, / Patricia K. Kuhl / Andrew N. Meltzoff, Forschergeist in Windeln. Wie ihr Kind die Welt begreift, München/Zürich ²2003. 16 Jean Piaget, Das Weltbild des Kindes. Überarb. von Richard Kohler. Vollst. durchges., überarb. und erw. Neuausg., Stuttgart 2015. 17 Henry M. Wellman, Developing a Theory of Mind, in: Usha C. Goswami (Hg.), The WileyBlackwell Handbook of Childhood Cognitive Development, Chichester u.a. 2011, 258–284; Beate Sodian, Entwicklung begrifflichen Wissens: Kernwissenstheorien, in: Lieselotte Ahnert (Hg.), Theorien in der Entwicklungspsychologie, Berlin/Heidelberg 2014, 122–147, 138ff. 18 Nicola Knight u.a., Children’s attribution to beliefs to humans and God: cross-cultural evidence, in: Cognitive Science 28, 2004, 117–126. 19 Jacqueline D.Woolley, The Development of Beliefs About Direct Mental-Physical Causality in Imagination, Magic and Religion, in: Karl S. Rosengren / C.N. Johnson / Paul L. Harris (Hg.), Imagining the Impossible. Magical, Scientific, and Religious Thinking in Children, Cambridge/UK 2000, 99–129.

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natürlichen Subjekte gedacht werden können.20 Ein kognitives Optimum sieht er dann gegeben, wenn diese Gestalten sich im Wesentlichen verhalten wie Menschen – allerdings mit einzelnen spezifischen Abweichungen. So existieren in keiner Religion Gottheiten, die keinerlei Kontakt mit den Menschen haben, die nicht hören, sehen oder sprechen können. Justin Barrett hat auch festgestellt, dass bereits junge Kinder – noch in der „artifizialistischen“ Phase – unterscheiden, was sie den Eltern und was sie Gott zutrauen.21 Auf der Grundlage dieser Grundannahmen lassen sich dann auch Stufentheorien wie die von Oser / Gmünder zum „religiösen Urteil“ verstehen als unterschiedliche Versuche, die eigenen Handlungsmöglichkeiten im Gegenüber zu dieser „ultimaten Macht“ zu bestimmen.22 Dieses Konzept ist auch in der Lage, kindliche Vorstellungen zu kontingenten Ereignissen zu erklären,23 und anschlussfähig für eine Theorie der Entwicklung der Vorstellung vom Übernatürlichen über die Kindheit hinaus.24

Christologie als Wissensdomäne Es ist leicht nachvollziehbar, dass auf die skizzierte kognitive Matrix im Prinzip jede Religion „aufgesetzt“ werden kann. Mit dem Erwerb von Sprache erhält das Kind dann auch Sinnangebote, um die oben beschriebenen Erfahrungen zum Ausdruck bringen zu können. In dem uns interessierenden Fall entstammen diese der biblisch-christlichen Tradition. Deren Spezifikum besteht nun darin, dass ein wichtiger – wenn nicht gar der zentrale – Teil dieses Wissens sich um den im Neuen Testament bezeugten Jesus (Christus) dreht. Ich schränke meine Fragestellung also insoweit ein, dass ich mich nicht um die gesamte Wissensdomäne christliche Religion / Theologie kümmern werde, sondern um die Subdomäne Christologie im Kontext der westlichen Kultur.25 Interessant sind damit erst einmal zwei Zeitpunk20 Pascal Boyer, Und Mensch schuf Gott, Stuttgart 2004. 21 Justin L. Barrett, Do Children Experience God as Adults Do?, in: Jensine Andresen (Hg.), Religion in Mind. Cognitive Perspectives in Religious Belief, Ritual, and Experience, Cambridge/ UK 2001, 173–190. 22 Fritz Oser / Paul Gmünder, Der Mensch – Stufen seiner religiösen Entwicklung. Ein strukturgenetischer Ansatz, Gütersloh 41996. 23 Gerhard Büttner, Kontingenzerfahrung als kognitiver Kern des Religiösen bei Vorschulkindern, in: Lilian Fried (Hg.), Das wissbegierige Kind. Neue Perspektiven in der Früh- und Elementarpädagogik, München 2008, 152–160. Auch Zufälle können einem (über- oder allmächtigen) agent zugeordnet werden. 24 Jacqueline D. Woolley / Chelsea A. Cornelius / Walter Lacy, Developmental Changes in the Use of Supernatural Explanations for Unusual Events, in: Journal of Cognition and Culture 11, 2011, 311–337. 25 Empirisch stütze ich mich auf die Befunde im deutschsprachigen Kontext (evangelisch und katholisch), ergänzt um solche aus dem angelsächsischen Raum.

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te: 1. Die Rezeption der ersten Jesus-Geschichten und 2. die Konstruktion erster kleiner Sinneinheiten. Über Jesus kann man schlecht etwas sagen, wenn man noch nie etwas von ihm gehört hat. Die ersten Erwähnungen dieser Person führen deshalb dazu, dass die (Kindergarten-)Kinder ihn erst einmal in ihre eigene Lebenswelt assimilieren.26 In Bildern malen sie ihn mit einer Blume oder auf dem Skateboard. Erst mit der Kenntnisnahme von Jesus-Erzählungen können sie ihn auch in der biblischen Welt kontextualisieren. John Hull berichtet von seinem fast sechsjährigen Kind:27 „Kind: Ich hab’ vier unsichtbare Freunde. Vater/Mutter: Wen denn? Kind: Maria, Jesus, Gott und den Heiligen Geist. Vater/Mutter (lachend): Wer hat dir denn das gesagt? Kind: Das hat mir mein Herz gesagt. (Pause) Mein Gehirn hat mir das gesagt (lacht). Redet mein Gehirn mit mir? Sagt es hallo (Name des Kindes).“

Wir sehen, wie sich hier eine „naive Theologie“28 abzeichnet. D.h., dass die Informationen über Jesus in einer Weise kognitiv verarbeitet werden, die auf ihre Weise originell ist und auch Wertschätzung gegenüber ihrem Reflexionsgegenstand ausdrückt, wenn ein Kind etwa sagt, dass es Jesus sein Tier zeigen möchte oder als Hintergrund von Jesu Einkehr bei Zachäus die Vermutung äußert, der wolle bestimmt dessen Wohnungseinrichtung sehen. Mit dem Zuwachs an Wissen können aber bereits Vorschulkinder – auf ihrem jeweiligen Reflexionsniveau – von Novizen zu Experten werden.29 Zwar stammen die Impulse, die die Christologie 26 Judith Brunner, „Der Jesus kann auch gut mit Kindern umgehen“. Christologie der Vorschulkinder, in: Gerhard Büttner / Jörg Thierfelder (Hg.), Trug Jesus Sandalen? Kinder und Jugendliche sehen Jesus Christus, Göttingen 2001, 27–71. 27 John. M. Hull, Wie Kinder über Gott reden! Ein Ratgeber für Eltern und Erziehende, Gütersloh 1997, 39. 28 Gerhard Büttner, Naive Theologie als besondere Kompetenz der Kinder, in: KatBl 127, 2002, 286–293. 29 Als Beispiele: M. van ’t Zand / S. A. de Roos, „Ich denke, diese Kreuze auf dem Hügel sind Vogelscheuchen! Die Vorstellung kleiner Kinder von Ostern, in: Anton A. Bucher u.a. (Hg.), Mit Kindergartenkindern theologische Gespräche führen. Beiträge der Kindertheologie zur Elementarpädagogik, Jahrbuch für Kindertheologie: Sonderband Kindergarten, Stuttgart 2008, 147–160 ; Gerhard Büttner / Ina Mähringer, „Wo der Osterhase gekommen ist, ist Jesus wieder auferstanden vom Grab.“ – Osterkonzepte von Kindergartenkindern, in: Anton A. Bucher u.a. (Hg.), Mit Kindergartenkindern theologische Gespräche führen. Beiträge der Kindertheologie zur Elementarpädagogik, Jahrbuch für Kindertheologie: Sonderband Kindergarten, Stuttgart 2008, 161–169; Angela Kunze-Beiküfner, „Gott ist mehr ein Gefühl und Jesus eher ein Leben.“ – Die Entwicklung eines christologischen Konzepts am Beispiel eines Mädchens von vier bis neun Jahren; Sabine Benz, Ein Osterei vom neuen Jesus – Genese erster Weihnachts- und Os-

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dieser Kinder beeinflussen, aus einem großen Pool geteilten Wissens über Jesus Christus, der aber für das einzelne Kind in unterschiedlicher Weise präsent und relevant wird. Dies ändert sich, wenn die Kinder mit der Einschulung einem curricular verfassten Programm begegnen. Es lohnt sich, dieses genauer zu betrachten. In einem solchen Programm manifestiert sich das „kulturelle Gedächtnis“ im Hinblick auf „Jesus Christus“ in doppelter Weise. Einerseits schlagen sich hier theologische und innerkirchliche Präferenzsetzungen nieder, auf der anderen Seite gibt es eine lange Tradition dessen, was sich pädagogisch bewährt hat. D.h., dass jede Religionslehrerin der Grundschule – und sei es aus der eigenen Schulzeit – „weiß“, welche Stoffe in dieser Altersstufe „dran sind“. D.h., dass Inhalt und Struktur dieses Wissens kulturell vermittelt „vorliegen“. Von unserer Fragestellung her ergeben sich daraus zwei Fragen: 1. Wie ist dieser christologische Kanon angeschlossen bzw. eingebettet in die referierten Grundmuster naiver bzw. intuitiver Religion? 2.Wie verläuft der individuelle Aneignungsprozess jedes einzelnen Kindes in der Spannung der Übernahme kollektiv vermittelten Wissens und individueller idiosynkratischer Konstruktionen? Sabine Benz hat bei ihrer Untersuchung zum Kompetenzerwerb christologischen Wissens in den ersten beiden Grundschuljahren mit dem folgenden Schaubild auf Seite 200 gearbeitet:30 Das vorliegende Schaubild gibt zunächst einmal Auskunft darüber, was eines der befragten Kinder vor Schulbeginn an christologischem Wissen mitbrachte. Anhand vorgelegter entsprechender Bilder zu den angegebenen Themenbereichen konnte es jeweils sein Wissen präsentieren. Dasselbe Schaubild benutzte Sabine Benz dann auch am Ende ihrer Untersuchung, um die Lernfortschritte einzelner Kinder über zwei Jahre zu dokumentieren. Die gewählten Gegenstandsfelder sind – wie erwähnt – im Anschluss an curriculare Vorgaben gewählt. Betrachten wir die sechs Felder des Schaubildes, dann lassen sich drei Gruppen unterscheiden. Heilungen und Wunder schließen sich unmittelbar an die Ausführungen zur intuitiven Theorie der Religion an. Jesus ist hier die göttliche oder menschliche Gestalt, die positiv handelnd präsentiert wird. Dabei lässt sich zeigen, dass die Frage, ob Jesus „natürlich“ oder „übernatürlich“ agiert, erst allmählich im Laufe der Grundschulzeit bedeutsamer wird. So greift er nach Meinung von Zweitklässlern eben nur dann zu solchen Mitteln („sich hinzau-

terkonzepte und erster Vorstellungen von Jesus in ihrem Zusammenhang; beide in: Anton A. Bucher u.a., „In der Mitte ist ein Kreuz.“ – Kindertheologische Zugänge im Elementarbereich, Jahrbuch für Kindertheologie 9, Stuttgart 2010, 92–104 bzw. 149–164. 30 Sabine Benz, Was glaubst du – wer ist Jesus? Einblicke in die christologische Entwicklung von Grundschulkindern, Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik 6, 2015, 124–140, 127 und Sabine Benz, Wer ist Jesus – was denkst du? (wie Anm. 8).

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V. Christologie Geburt Jesu Maria im Stall / Jesus im Bauch Hüter der Schafe – Engel sagt’s Leute mit Geschenken – Engel sagt es den Leuten

Auferstehung Jesu An Ostern wacht Jesus wieder auf Frau freut sich, weil Jesus bei ihr

Erst: Sohn von Gott Dann: Sohn von Josef Engele: Jesus Glück bringen

Jesus

Passion Jesu Feier: Wein trinken/Brot essen Jesus teilt Jesus sagt: Du musst mich verraten / geht zu denen / sagt: Da ist Jesus. Jesus betet: dass Engel kommt und Leuten hilft schweres Kreuz, spitzer Kranz 3 am Kreuz (einer Jesus) stirbt, weil so feste Nägel

besonderer Mensch hilft immer allen teilt immer ist nett eher wie Gott

Heiligung Jesu Bartimäus bettelt / kann nicht sehen / ruft laut / rot / Jesus, will sehen / Jesus macht es / Bartimäus kann sehen Gelähmter runterfallen lassen / Jesus, mach, dass ich laufen kann / macht es / läuft weg Jesus kann gesund machen, weil er lieb ist weil er immer den Leuten hilft Nicht allein, mit Engel zusammen

Wunder Jesu Speisung Viele Leute / Jesus teilt Brötchen in kleine Stücke / gibt jedem / Leute sagen: Du sollst König werden Weil er so kleine Stücke geteilt hat

Jesus und Kinder Bei ihm, weil er den anderen geholfen hat Erw. Männer geben Kinder was Jesus und Jünger begleiten ihn, damit ihm nichts passiert

Sturmstillung Jesus schläft / Wacht auf, hilft uns / Jesus hilft / Schiff oben (Sturm still), weil Jesus ganz lieb ist weil Jesus den Leuten hilft keine Angst, Freunde da

bern“), wenn es die Dringlichkeit gebietet.31 Die Weihnachtsgeschichte lässt sich hier unschwer anschließen: hier handelt eben Gott an Jesus in wunderbarer Weise. Dies hat zwei Facetten. Kinder erfahren hier und an anderen Stellen, wie nah Gott und Jesus sind (u.a. ausgedrückt in dem hier familial verstandenen Sohn-Gottes-Titel). Dies zeigt sich u.a. darin, dass jüngere Kinder oft im Eifer des Gefechts Gott und Jesus verwechseln („Gott, ich mein Jesus“). Außerdem darf man kaum unterschätzen, was – jenseits der Zentralstellung des Weihnachtsfestes im allgemeinen Bewusstsein – die Tatsache bedeutet, dass hier ein Kind im Mittelpunkt des Geschehens steht.32 Hierzu passt dann 31 Gerhard Büttner, Jesus hilft! (wie Anm. 7), 138ff. 32 Dies erklärt wohl auch den Befund von Bernard Mailhot, Et Dieu se fit Enfant, LV F 16 (1961), 293–305, nach dem die meisten Kindergartenkinder seiner Stichprobe sich Jesus als Baby vorstellten. Zum Gedanken Gottes als Kind vgl. auch Ronald H. Cram, Knowing God: Children, Play, and Paradox. Religious Education, Volume 91, 1996, 55–73.

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auch die Perikope der Kindersegnung. Schwieriger wird es bei der Thematik Passion und Auferstehung. Der zutiefst menschlich leidende und sterbende Jesus fällt definitiv aus dem oben skizzierten Skript heraus. Von den Wissensdomänen her gesehen gehören Tod (und Auferstehung) in den Bereich der Biologie mit ihrer Grundunterscheidung lebendig/tot bzw. natürlich/artifiziell.33 Es ist von daher nicht überraschend, dass die Christenheit von Anfang an Versuche unternahm, dieses „Ärgernis“ und diese „Torheit“ (1. Kor 1,23) zu verstehen und mit Sinn zu versehen. Dies erklärt auch den Erfolg von Anselms Satisfaktionstheorie, die sich, nicht zuletzt durch die Choräle, als Paradigma weit durchgesetzt hat. Sie bietet über das Do-ut-des-Schema zumindest einen Anschluss dergestalt, dass der uns zugetane Jesus auch hier – leidend – für uns handelt, wenngleich unter Verzicht auf die göttliche Macht.34 Diese wird dann erst aufgeschoben in der Auferstehung wieder manifest. Das Ergebnis der empirischen Studien zeigt dann, dass dieses Deutungsmuster auch bei Kindern und Jugendlichen bekannt ist und argumentativ aufgerufen wird – auch wenn sie ihm in ihrem persönlichen Glauben keine Bedeutung zuweisen.35 Beim genaueren Hinsehen werden die Kinder damit aber in eine kollektive Deutungsunsicherheit hineinsozialisiert.36 Ein weiterer argumentativer Baustein liegt in der Linie, dass mit der Menschwerdung Gottes an Weihnachten ja implizit auch Leiden und Sterblichkeit mitgesetzt sind,37 was die Evangelien durch die Inszenierung von Jesu Gegnern ja auch gedanklich vorbereiten.38 Was in dem Benz’schen Schema auf jeden Fall fehlt, ist die Botschaft Jesu in seinen Gleich33 Kayoko Inagaki / Giyoo Hatano, Young Children’s Naive Thinking about the Biological World, New York / Brighton 2002. 34 Anke Blümm / Gerhard Büttner, „… es ist Gott vielleicht nicht leicht gefallen, seinen einzigen Sohn zu opfern.“ Wie Schüler/innen der Klassen 4 bis 8 den Tod Jesu sehen, in: entwurf 1/1998, 35–37; Gerhard Büttner / Birgit Rump, „… Gestorben für unsere Sünden.“ Unterrichtsanstöße zu einem Schlüsselthema des christlichen Glaubens, in: entwurf 1–2/2001, 76–80; Gerhard Büttner, „Erlöst durch Christi Blut?“ Die Bedeutung des Kreuzestodes Christi in der Sicht von Schüler/innen der 6. Klasse, in: Christoph Gramzow / Heide Liebold / Martin Sander-Gaiser (Hg.), Lernen wäre eine schöne Alternative. Religionsunterricht in theologischer und erziehungswissenschaftlicher Verantwortung, Leipzig 2008, 195–208. In diese Richtung argumentiert Ulrike Link-Wieczorek, Versöhnung statt Bestrafung. Ein Kommentar zur Anselm-Rezeption, in: Ökumenische Rundschau 64, 2015, 227–231. 35 Grundlegend Mirjam Zimmermann, Kindertheologie als theologische Kompetenz von Kindern (wie Anm. 8). Dies provoziert neuerdings die Frage nach dem „Glaubenswissen“: Gerhard Büttner / Oliver Reis, Glaubenswissen – konstruktivistisch gesehen, in: Gerhard Büttner u.a. (Hg.), Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik 6, Babenhausen 2015, 9–20. 36 Hanna Roose, Die Heilsbedeutung des Kreuzes. Ein schwieriges Thema in systemtheoretischer Sicht, in: Gerhard Büttner u.a. (wie Anm. 35), 51–65. 37 Obgleich die Bibel mit Henoch und Elija auch Alternativen zum Sterben kennt! 38 Gerhard Büttner / Petra Wittmann, Jesus bringt ein Opfer für uns, in: entwurf 2/2005, 28–35. Ein weiteres kollektives Schema liegt natürlich auch im Helden-Archetypus vor – mit dem entsprechenden Heldentod: C.G. Jung, Versuch einer psychologischen Deutung des Trinitätsdogmas, in: ders., GW 11, Olten ²1973, 119–218.

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nissen und der Bergpredigt. Diese folgen dann ab dem Ende der Grundschulzeit und in der Sekundarstufe. Dabei hat Ingo Baldermann deutlich gemacht, dass die Hoffnung auf das Kommen von Gottes Reich, wie es sich in den Seligsprechungen und vielen Gleichnissen niederschlägt, engstens verbunden ist mit den Erwartungen, die sich in den Wundergeschichten manifestieren.39 Himmelfahrt und Wiederkunft Christi fallen in der Regel aus den curricular definierten Wissenserwartungen heraus. Wie ist nun das Verhältnis zwischen der hier skizzierten Wissensmatrix „Christologie“ zu den individuellen Konstruktionen? Helmut Hanisch und Siegfried Hoppe-Graff äußern sich skeptisch, ob die Kinder und Jugendlichen einen wirklichen Begriff von Jesus Christus bilden, und befürchten, dass es bei idiosynkratischen Bildungen bleibt.40 Doch fragt man, woher denn diese ihr Wissen haben, dann wird man auf die signifikanten Anderen verwiesen, d.h. vertrauenswürdige Erwachsene (und Peers), von denen sie ihr Wissen empfangen haben.41 D.h. zunächst einmal, dass Kinder ihr christologisches Wissen auf der Grundlage der Informationen bilden, die sie bekommen haben. Dass sie dabei mit diesem Material eigenständige Überlegungen anstellen, ist eine besonders von der Kindertheologie gewürdigte Tatsache. Dabei sind diese Gedankenprodukte in der Regel – nicht zuletzt von den denkerischen Voraussetzungen her – meist eher orthodox.42

Die „Gestalt“ der Wissensdomäne Folgt man der Diskussion zu den Wissensdomänen in der Kognitionspsychologie, dann lässt sich ein Trend erkennen zur Konzentration auf die frühe Kindheit.43 Meine Ausführungen über das Ende der Grundschulzeit hinaus dehnen also den Begriff der Wissensdomäne und schließen ihn an Diskurse zu Semantiken der Einzelwissenschaften und die konkurrierender Wissensfelder innerhalb dieser an.44 Folgt man Veit-Jakobus Dieterich, dann findet Jugendtheologie am ehesten im

39 Ingo Baldermann, Gottes Reich – Hoffnung für Kinder. Entdeckungen mit Kindern in den Evangelien, Neukirchen-Vluyn 62012. 40 Helmut Hanisch / Siegfried Hoppe-Graff, Ganz normal und trotzdem König (wie Anm. 8). 41 Paul L. Harris, Trusting what you’re told. How children learn from others, Cambridge MA 2012. 42 Gerhard Büttner, Where Do Children Get Their Theology from?, in: Annemie Dillen / Didier Pollefeyt (Hg.), Children’s Voices. Children’s Perspectives in Ethics, Theology and Religious Education, (BETL CCXXX), Leuven 2010, 357–372. 43 Beate Sodian, Entwicklung begrifflichen Wissens (wie Anm. 17). 44 Ekkehard Felder (Hg.), Semantische Kämpfe. Macht und Sprache in den Wissenschaften, Berlin/New York 2006 (leider ohne Beitrag zur Theologie).

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Kontext des Religionsunterrichts der Sekundarstufen statt.45 Hier stoßen dann die Teilchristologien der Schüler/innen zunehmend auf Elemente des theologischen Diskurses der Wissenschaft und ihrer Semantik. Da mit dem Erreichen formaler Operation (dem abstrakten Denken) keine strukturellen denkerischen Begrenzungen mehr gegeben sind, muss das eigene theologische Konstrukt in Anlehnung an bereits existierende Deuteschemata ausgeformt werden.46 So zeigt Annike Reiß, dass es für das Wunderverständnis der Jugendlichen jetzt wichtig wird, die Unterscheidung zwischen rationalistischer, supranaturalistischer und symbolischer Deutung zu kennen, um anhand dieser Muster dann zu eigenen Zuordnungen zu kommen.47 Betrachtet man die einschlägige Literatur zum Thema „Christologie“ in der Kursstufe, dann sieht man, dass hier im Prinzip die ganze Breite der innertheologischen Diskussion zum Thema präsent ist.48 Schaut man auf diese Werke, dann stehen sie in Thematik und Argumentationsniveau ganz nahe bei den o.g. „Einführungen in die Christologie“. Will man also die Wissensdomäne Christologie insgesamt beschreiben, dann muss man sich einen nach unten sich öffnenden Fächer vorstellen.49 An der Spitze stehen die frühen Vorstellungen von einer als „agent“ handelnden Person, die dann durch die Bekanntschaft mit den einschlägigen Jesus-Geschichten Konturen erhält. Einerseits findet eine Einsozialisation in die Deutemuster der jeweiligen Kultur in Gestalt von Konfessionen und Frömmigkeitstypen statt, gleichzeitig aber auch gesteuert durch allgemeiner geltende Curricula. Bereits diese stehen unter dem Einfluss des gerade bestimmenden Zeitgeistes und seiner Moden. Diese manifestieren sich dann auch in den spezifischen Semantiken der einzelnen theologischen Teilbereiche und der 45 Veit-Jakobus Dieterich, Themen der Jugendtheologie – Spurensuche für den theologischen Dialog mit Jugendlichen, in: Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer (Hg.), Jugendtheologie. Grundlagen – Beispiele – kritische Diskussion. Neukirchen-Vluyn 2012, 45–58; ders., Theologisieren mit Jugendlichen als religionsdidaktisches Programm für die Sekundarstufe I und II, in: Anton A. Bucher u.a. (Hg.), „Was ist für dich der Sinn?“ – Kommunikation des Evangeliums mit Kindern und Jugendlichen, Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheologie 1, Stuttgart 2013, 35–49. 46 James Fowler, Stufen des Glaubens. Die Psychologie der menschlichen Entwicklung und die Suche nach Sinn, Gütersloh 2000 spricht hier von der synthetisch-konventionellen Glaubensstufe und meint damit, dass der Glaube sich jetzt zunehmend in der Anlehnung an „signifikante Andere“ entwickelt. 47 Annike Reiß, Theologische Gespräche mit Jugendlichen zur Wunderthematik (wie Anm. 8). 48 Gerhard Büttner / Hanna Roose / F. Spaeth, Jesus Christus, Stuttgart 2008; Gottfried Orth, Mach‘s wie Gott, werde Mensch. Jesus Christus heute, Göttingen 2004; Bärbel Husmann / Matthias Hülsmann, Der Glaube an Jesus Christus – Themenheft Oberstufe, Stuttgart/Leipzig 2011; Silke Hagemann / Marion Keuchen, Jesus Christus. Themenheft für den evangelischen Religionsunterricht in der Oberstufe, Göttingen 2014. 49 Gerhard Büttner / Veit-Jakobus Dieterich / Hanna Roose, Einführung in den Religionsunterricht. Eine kompetenzorientierte Didaktik, Stuttgart 2015, 65.

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diversen Schulen und Richtungen. D.h., dass das Wissensfeld (in meinem Modell) nach unten immer breiter wird, dabei aber die thematischen Felder, die bereits in der Grundschulskizze enthalten sind, als Ausgangs- und Orientierungspunkte nimmt (ergänzt um die Reich-Gottes-Thematik). Neben diese Erscheinungsformen intuitiver und wissenschaftlich inspirierter bzw. wissenschaftlicher Christologie kann man sich dann auch noch zahlreiche Varianten individueller und gruppenspezifischer Vorstellungen denken, die in der einen oder anderen Form ebenfalls im Wissensfeld präsent sind.

Theologische und didaktische Implikationen Die Theologie muss Christologie anders beobachten, als dies eine sozialwissenschaftliche Perspektive tun muss. Sie muss die Überlieferung zu Jesus Christus untersuchen, sie kann und muss paradoxe Deutungsmuster ins Spiel bringen – von Paulus über Chalzedon bis hin zu Bonhoeffers „Christen und Heiden“50. Und sie muss auch die in der Praxis Pietatis gepflegte Christologie – z.B. in der Eucharistie – reflexiv thematisieren. Eine von den Logiken der Rezeption her entwickelte Christologie als Wissensdomäne kann dem gegenüber erklären, warum bestimmte Aspekte leichter rezipierbar sind als andere und wie sehr bestimmte Präferenzen kulturell vermittelt sind. So rückt wohl nicht zufällig die Kreuzestheologie in Kontexten, in denen Christ/innen selbst leiden, stärker in den Vordergrund als in denen eines saturierten Christentums. Doch lässt sich auch auf der Detailebene zeigen, dass aus der Logik theologischer Reflexion allein sich keine sinnvolle Präzisierungen und Sequenzialisierungen der einzelnen Module einer Christologie entwickeln lassen. Dies lässt sich gut zeigen anhand einer kleinen Studie von Friedhelm Kraft und Hanna Roose. Am Ende der Grundschulzeit wurden Kindern einmal ein Bild mit Jesus am Kreuz und eins mit einem „Menschenkreuz“ mit fröhlichen Menschen gezeigt. Anhand des ersten Bildes konnten die Kinder in etwa das Wissen reproduzieren, das in dem Benz’schen Schaubild angesprochen ist. Doch „die Bedeutung des Kreuzes als Hoffnungssymbol“ erschloss sich den Schüler/ innen nicht.51 Dafür wussten sie – weit über die Lehrplanerwartungen hinaus – wichtige theologische Topoi zu Jesus Christus – speziell im Hinblick auf seine Beziehung zu Gott. 50 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW 8, München 1998, 515f. 51 Friedhelm Kraft / Hanna Roose, Von Jesus Christus reden im Religionsunterricht (wie Anm. 8), 60ff.

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Von daher empfiehlt es sich, den christologischen Wissenskomplex im Sinne einer Domänentheorie einmal nach drei Richtungen zu durchdenken: 1. Welche Aussagen kann man denn aufgrund der biblischen Geschichten machen? Es geht hier um das, was die Texte erst einmal sagen (also z.B. Bethlehem als Geburtsort, Auftreten am See Genezareth, Nazareth als Heimatstadt, Jünger, Realien wie Boote, Synagoge etc. – verbunden mit den jeweiligen Geschichten).52 2. Welche Verknüpfungen lassen sich bilden? Lässt sich aus den Wunderhandlungen etwas Gemeinsames herausfinden? Welche „menschlichen Seiten“ Jesu lassen sich festhalten, welche „göttlichen“? Warum hatte Jesus anscheinend auch Gegner? Wo greift Gott in den Jesus-Geschichten sichtbar ein? Lassen sich Verbindungen finden – oder Widersprüche53? 3. Was können wir aus den biblischen Geschichten erfahren – und was nicht? „Ist die Geschichte echt?“ lautet nach Kraft und Roose eine Schlüsselfrage.54 Hier sollte man mit den Schüler/innen darüber nachdenken, wie die Evangelien zu ihren (z.T. unterschiedlichen) Darstellungen kommen. Warum berichten sie über Dinge, die uns heute interessieren, nichts? Waren denn immer Augenzeugen dabei? Was musste man schon damals erschließen und was heute? Es geht mir darum, ein Gespür zu entwickeln, dass wir einerseits über Jesus Christus eine Menge wissen, aber Vieles dabei immer wieder erschlossen werden muss. Suggeriert die theologische Wissenschaft, wir könnten aus einer Attitüde, alles mehr oder weniger genau zu wissen, agieren, so versucht unser kritischer Blick, die Wissensvoraussetzungen, Zugangswege und vorläufigen Resultate so zu ordnen, dass daraus ein sinnvoller Lernweg entsteht, der die Erwartung ermöglicht, dass dabei ein individuelles Wissenskonzept von Jesus Christus entsteht.55

52 Es geht also erst einmal um das, was die Schüler/innen selbst erschließen können, und nicht um das, was die exegetische Forschung (im Doppelsinn!) „besser weiß“. 53 Es ist von daher spannend, etwa die Überlegungen zu den Verstehensvoraussetzungen der Chalzedon-Formel zu lesen: K. Helmut Reich, Kann Denken in Komplementarität die religiöse Entwicklung im Erwachsenenalter fördern? Überlegungen am Beispiel der Lehrformel von Chalkedon und weiterer theologischer „Paradoxe“, in: Michael Böhnke / K. Helmut Reich / Louis Ridez (Hg.), Erwachsen im Glauben. Beiträge zum Verhältnis von Entwicklungspsychologie und religiöser Erwachsenenbildung, Stuttgart u.a. 1992, 127–154. 54 Friedhelm Kraft / Hanna Roose, Von Jesus Christus reden im Religionsunterricht (wie Anm. 8), 75. 55 Gerhard Büttner, Nicht-Wissen und Nicht-wissen-Können als Schlüsselfrage beim Planen und Durchführen von Religionsstunden, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 67, 2015, 27–36.

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„Erlöst durch Christi Blut?“ Die Bedeutung des Kreuzestodes Christi in der Sicht von Schüler/innen der 6. Klasse

Die Frage 1 des Heidelberger Katechismus In meinem badischen Katechismus finden sich in guter unierter Tradition neben Teilen von Luthers kleinem Katechismus auch solche aus dem Heidelberger Katechismus. Dieser beginnt mit der berühmten Frage: „Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?“ Darauf folgt als Antwort: „Dass ich mit Leib und Seel, beide im Leben und im Sterben, nicht mein, sondern meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin, der mit seinem teuren Blut für all meine Sünden vollkömmlich bezahlet und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöset hat und also bewahret.“ Die zweite Frage hebt die Zentralität dieser Aussage hervor, wenn sie auf die Frage was man zu diesem seligen Leben und Sterben wissen müsse, antwortet: „Drei Stücke: Erstlich, wie groß meine Sünde und Elend seien. Zum anderen, wie ich von allen meinen Sünden und Elend erlöset werde. Und zum dritten, wie ich Gott für solche Erlösung soll dankbar sein.“1 Nach den Worten des Herausgebers Otto Weber findet sich in dieser ersten Frage und Antwort „bereits das Ganze des Christseins ausgesagt“.2 Eine solche Aussage über die zentrale Bedeutung von Jesu Passion für unser Leben und Sterben wird nun allerdings von heutigen Schüler/innen, und nicht nur von diesen, immer schwerer verstanden. Ilsetraud Ix berichtet von einer Befragung ihrer Schüler/innen:3 „Auffallend ist – offenbar wenig beeinflusst von Kirchenferne oder -nähe – die Unsicherheit bezüglich Passion und Tod am Kreuz. Man findet Annahmen wie die, Jesus sei von Pilatus gejagt bzw. verraten worden, und offen formuliertes Nichtwissen: ‚Warum er gekreuzigt wurde, weiß ich nicht.‘ […] Einmal wird die Aussage ‚gekreuzigt wurde er für uns‘ zurückgewiesen: verständlicherweise wird nicht eingesehen: ‚Wieso vor zweitausend Jahren wegen meiner kleinen Sünden jemand hingerichtet wurde.‘“ Wen diese Antwort überrascht, den möchte ich darauf verweisen, dass bereits vor fast 1000 Jahren der große Theologe Anselm von Canterbury seinem 1 Otto Weber, Der Heidelberger Katechismus, Gütersloh 61978 (GTB 258), 15f. 2 Otto Weber, Einleitung, in: Otto Weber (Hg.), Der Heidelberger Katechismus (wie Anm. 1). 3 Ilsetraud Ix, Jesus – reinste Pantsche oder einzige Chance?, in: Rudolf Laufen (Hg.), Gottes ewiger Sohn – Die Präexistenz Christi, Paderborn 1997, 239–258, 251.

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Gesprächspartner und Stichwortgeber Boso die folgenden Worte in den Mund legt:4 „Das ist, was sie [= die Ungläubigen] so sehr wundert, dass wir diese Befreiung [von den Sünden] ‚Erlösung‘ nennen. In welcher Haft, so sagen sie, oder in welchem Kerker oder in welcher Gewalt wurdet ihr gehalten, aus der euch Gott nicht befreien konnte, es sei denn, er erlöste euch durch so viele Mühen und schließlich durch sein Blut? Wenn wir ihnen sagen: er erlöste uns von den Sünden und von seinem Zorne und von der Hölle und von der Gewalt des Teufels, den er persönlich zu bekämpfen kam, da wir es nicht vermochten, und er erlöste uns für das Himmelreich; und weil er das alles auf diese Weise tat, zeigte er uns, wie sehr er uns liebt; so antworten sie: Wenn ihr sagt, Gott hätte all dies nicht durch einen bloßen Befehl tun können, er, von dem ihr sagt, er habe alles durch einen Befehl geschaffen, so widerstreitet ihr euch selbst, weil ihr ihn ohnmächtig macht.“ Anselm leitet dann in seiner Schrift „Cur Deus homo“ – warum Gott Mensch geworden ist – in stringenter Weise die Argumente her, die bis heute eine bestimmende Rolle spielen. Sie finden sich nicht zuletzt in den bekannten Passionsliedern wieder, die in ihrer Bedeutung als Laiendogmatik kaum überschätzt werden können. In Kurzform gibt Heinrich Ott Anselms Argumentation so wieder:5 „Das Kreuz Christi hat eine juridische Bedeutung als Sühneleistung für die Sünden der Menschheit. Zwischen Gott und den Menschen besteht eine Art Rechtsverhältnis. Nun verlangt Gottes Gerechtigkeit für die tödliche Beleidigung seiner Majestät durch die Sünde eine vollwertige Sühne. Da der sündige Mensch diese nicht leisten kann und so der ewigen Verdammnis anheimfallen müsste, leistet Gott aus Liebe die Sühne selber in Gestalt seines auf die Erde gesandten Sohnes. Gott musste Mensch werden, weil ja die Sühne für die Sünde der Menschheit von einem Menschen geleistet werden musste. Der Tod Christi ist also Strafe und Sühne für die Sünde.“ Die neuere Theologie hat immer wieder versucht, den von Paulus 1. Kor 1,23 als Ärgernis und Torheit bezeichneten Sachverhalt der Kreuzigung auch anders zu deuten als Anselm.6 Am plausibelsten ist dabei der Gestus der Solidarität im Leiden, wie er etwa im zweiten und dritten Vers von Dietrich Bonhoeffers Gedicht „Christen und Heiden“ Ausdruck findet:7 4 Anselm von Canterbury, Cur Deus homo? Warum Gott Mensch geworden ist, Darmstadt 5 1993, 19f, [Besorgt und übersetzt von F.S. Schmitt]. 5 Heinrich Ott, Die Antwort des Glaubens, Stuttgart/Berlin ³1981, 260. 6 Vgl. z.B. Heinrich Ott (wie Anm. 5). 7 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Neuausgabe, hg. von Eberhard Bethge, München 1985, 382.

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„Menschen gehen zu Gott in seiner Not, finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot, sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod. Christen stehen bei Gott in seinem Leiden. Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not, sättigt den Leib und die Seele mit seinem Brot, stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod, und vergibt ihnen beiden.“

Doch ist dieser Gedanke nur bedingt geeignet, die oben formulierten Einwände zu zerstreuen. Der zentrale Punkt des Verstehensproblems dürfte im Gedanken einer durch unsere Sünden erzeugten objektiven Schuld liegen. In seiner Dogmatik hat Winfried Härle zahlreiche Argumente gegen ein objektives Schuldverständnis, wie es bei Anselm zugrunde liegt, vorgebracht.8 In der Tat können heutige Menschen nur sehr schwer nachvollziehen, wieso die Schädigung eines Dritten anstelle des Täters, dem Opfer in irgend einer Weise Entschädigung oder Genugtuung sein könnte. Dennoch betont Härle dann auch nachdrücklich die Bedeutung und die zerstörerische Wirkung nichtgesühnter, gar verdrängter Schuld.9 Dorothee Sölle gibt ein Beispiel, das auch für heutige Zeitgenossen etwas von der Objektivität von Schuld verdeutlichen kann:10 „Als sehr junge Frau war ich zum ersten Mal in Holland und bemerkte, dass einige Leute mit mir als Deutscher nicht reden wollten, weil ihre Angehörigen von den Nazis umgebracht worden waren. Da ist mir sehr deutlich geworden, dass ich zwar nichts dazu ‚getan‘ hatte – ich war zu jung –, und trotzdem wusste ich, dass diese anderen ein Recht dazu hatten, sich umzudrehen und mit mir nicht zu sprechen, weil ich durch Sprache, Kultur und Erbe einer Gemeinschaft von Menschen angehöre, die in einem Schuldzusammenhang lebt. Das kann ich mir nicht aussuchen, es ist einfach so. Und dieses Stück Objektivität gehört zum Sündenbegriff dazu. Sünde ist zwar auch meine Entscheidung, mein freier Wille, mein Nein zu Gott. Sie ist aber auch Schicksal, in das ich hineingeboren wurde. Ich bin verwickelt durch meine Eltern, meine Lehrerinnen und Lehrer, meine Tradition.“ Diese Zwischenüberlegung kann uns zwar die Notwendigkeit einer „Erlösung“ aus Schuld plausibel machen, aber noch nicht die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu in diesem Zusammenhang. 8 Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin/New York 1995, 321ff. 9 Ebd., 424ff, doch offensichtlich ist dieser Argumentationsschritt nicht so leicht eingängig. 10 Dorothee Sölle, Gott denken. Eine Einführung in die Theologie, Stuttgart ³1990, 78.

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Erlösung in der Lebenswelt Wenn wir an einem Begriff wie „Erlösung“ interessiert sind, kommen wir nicht um einen Blick auf die jugendliche Lebenswelt herum. Hans-Günter Heimbrock referiert aus einer entsprechenden Schülerbefragung zum Stichwort die Schülerantwort: „Klar: Boy-groups“ mit der Fortsetzung „Erlösung wovon – na von der Langeweile!“11 Bei der intensiveren Betrachtung stößt er auf die kleinen Hoffnungen des Alltags, wenn er etwa das Gedicht einer Siebzehnjährigen zitiert: „Die Pausenhalle Schlechte Laune Der Alltagstrott beginnt Doch da die Freunde Das grimmige Gesicht verrinnt.“12

Doch dann kommt der Verweis auf die entsprechenden Inszenierungen der Popund Filmkultur. Offensichtlich wird „Erlösung“ wie „Abenteuer und Ekstase, Verheißung und Gericht, die Feier des Lebens und die Angst vor dem Tode, aber auch Gemeinschaft, Liebe, Intimität und Verbindlichkeit […] heute eher von der Werbung und den großen Hollywoodfilmen massenwirksam inszeniert als von den Angeboten institutionalisierter Religion“.13 Hans-Martin Gutmann weist darauf hin, dass die deutschen, besonders aber die angelsächsischen Pop- und Rocksongs voll sind von klassisch christlicher Begrifflichkeit, darunter auch der Vorstellung von „Erlösung“.14 Doch sieht Gutmann die wirkliche Inszenierung des Erlösungsgeschehens besonders ausgeprägt in der Welt des Films. Hier finden sich die Bilder, die den Hintergrund der christlichen Erlösungshoffnung ausmachen, als großes Welttheater mit der zentralen Botschaft: „Die vom Untergang bedrohte Welt wird durch das Selbstopfer des Helden gerettet“.15 Ich möchte ihnen dies demonstrieren an der Schlussszene von Terminator 2: In dem Film geht es um die Auseinandersetzung zwischen zwei menschengestalti11 Hans-Günter Heimbrock, Wer fragt denn schon nach Erlösung?“, in: Peter Biehl u.a. (Hg.), Jahrbuch der Religionspädagogik 15, Neukirchen-Vluyn 1999, 147–157, 147. 12 Ebd., 152, zit. nach St. Dorgerloh/M. Hentschel, Knockin’ on heaven’s door – mit Jugendlichen die Lebenswelt entdecken, o.O. 1998, 10. 13 Hans-Martin Gutmann, Der Herr der Heerscharen, die Prinzessin der Herzen und der König der Löwen, Gütersloh 1998, 12. 14 Ebd., 27f. 15 Ebd., 123ff.

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gen Robotern. Die Auseinandersetzung geht dabei um den Jungen John und seine Mutter, weil John in der Zukunft der Gegenspieler der sich verselbständigenden Maschinenmächte werden wird. Der „böse“ Roboter ist gerade zerstört worden, ebenfalls der Chip, der das Unglück in der Zukunft auslösen wird. Der „gute“ Roboter, Mutter und Kind haben gesiegt, als es zu der folgenden Schlussszene kommt, in der der „gute“ Roboter als Selbstopfer ins Feuer steigt. Interessant sind mindestens zwei Anspielungen auf die Christusgestalt. Der durch den Kampf stark lädierte Terminator erinnert an die in der Regel christologisch interpretierten Sätze Jes 52,14, wo daran erinnert wird, dass sich die Leute über den Gottesknecht entsetzen, „weil seine Gestalt hässlicher war als die anderer Leute und sein Aussehen anders als das der Menschenkinder“. Noch stärker empfinde ich die Inszenierung des Abschieds in Anlehnung an Joh 16,7: „Es ist gut für euch, dass ich weggehe“ bei Jesus in den Abschiedsreden, „Ich muss fortgehen!“ beim Terminator. Nach den endlosen Action-Szenen bietet der Film hier eine fast intime Szene, in der sich die Terminator-Maschine als zutiefst menschliche Figur erweist, die „ihr Leben für viele“ gibt. Diese Einsicht betonen die Religionspädagogen, die die wachsende Bedeutung solcher Produkte der Medienwelt herausstreichen. Was dort aber vielleicht zu wenig bedacht wird, ist der „Sitz im Leben“ dieser Filme. Werner H. Ritter betont deren Funktion als Freizeitbeschäftigung: „Was Menschen hier suchen, […] hat […] primär mit Entmüdung, Zerstreuung und Unterhaltung zu tun.“16 Auch wenn man die unterschwellige Nachwirkung der in diesen Filmen präsentierten Mythenelemente nicht unterschätzen sollte, so wird man doch sagen müssen, dass sie die Frage nach dem „Trost im Leben und Sterben“ nicht leisten können. Ihr ErlösungsPotential dürfte eher vorgespiegelt als real sein. Insofern mögen die von Heimbrock und Gutmann erwähnten Beispiele Antwortversuche sein auf die Frage nach „Trost im Leben“ in der ein oder anderen Weise. Sie übergehen dabei aber die im Katechismus angesprochene Verknüpfung von Erlösung und Tod. Karl Ernst Nipkow hat diese Thematik als eine der Grundfragen heutiger Jugendlicher im Hinblick auf Glauben überhaupt identifiziert und sieht „das Todesproblem [als] von allergrößter existentieller Bedeutung“ an.17 Ich möchte dies dokumentieren anhand der Fragen, die Realschüler/innen einer 10. Klasse gerne an Jesus stellen möchten. Immer wieder taucht die Frage auf: „Wie ist das Leben nach dem Tod?“ Zum Kontext sei ein kurzer Gesprächsausschnitt zitiert: 16 Werner H. Ritter, Mythos mit Thrill. Das Kino nimmt sich religiöser Erlösungs-Motive an, in: Zeitzeichen 1/2001, 53–55, 54. 17 Karl Ernst Nipkow, Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, Gütersloh ²1992, 378.

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„[Schülerin:] Man will ja immer a bissle sei Zukunft wissen. [Schüler:] Man will Sicherheit haben. [Schülerin]: Man will ja (wie auf der Erde) auch vorausplanen oder so.“18

Auffällig ist, dass die Schüler/innen auch bei anderen Themenstellungen, besonders bei der Thematik des Reiches Gottes, immer wieder vereinzelt auf die Frage des postmortalen Ergehens kommen, obwohl dies im Plan des Lehrers weder vorgesehen noch erwünscht ist. So formuliert etwa eine Gymnasiastin der 6. Klasse zur Parabel von den Arbeitern im Weinberg ihre allegorische Deutung: „In der Gottesherrschaft ist es wie in dem Weinberg, mit dem Missionieren vielleicht, dass wenn einer also […] sein ganzes Leben darauf wartet und […] da kommt kein Missionar vorbei, da kann er gar nichts dafür, dass er nicht katholisch war. Und dann vielleicht am Schluss […] von seinem Leben, kommt da vielleicht einer und bekehrt ihn, und der wird dann ein richtiger Christ, dann kommt er vielleicht genauso in den Himmel wie einer, der sein ganzes Leben Christ war.“19

Diese und andere Schülervoten möchte ich dahin deuten, dass die Frage nach der Relevanz von Jesu Kreuzestod für unsere Erlösung wahrscheinlich nur dann sinnvoll mit Schüler/innen zur Sprache kommen kann, wenn dabei die Frage unserer Zukunft nach dem Tode mit ins Spiel gebracht wird. Geschieht dies, dann verlieren die Inszenierungen der Pop-Welt zumindest insoweit an Glanz, wie sie diese Thematik nicht explizit thematisieren, wie etwa in Eric Claptons Trauergesang für seinen tödlich verunglückten Sohn „Tears in Heaven“.20

Der Kreuzestod Jesu in der Deutung von Sechstklässlern Auf der Grundlage dieser Überlegungen wollte ich den Versuch wagen, die Fragestellung direkt den Kindern einer städtischen Gymnasialklasse vorzulegen. Die Idee war dabei, der Lehrerin die Rolle einer Moderatorin zu geben, die ansonsten die eigenständige Meinungsbildung der Schüler/innen mehr begleiten als steuern sollte. Ich hatte in einer früheren schriftlichen Befragung von Schüler/innen der Klassen 4–8 bereits festgestellt, dass die Thematik zu eigenständigen, z.T. 18 Gabriele Faust-Siehl u.a., 24 Stunden Religionsunterricht, Münster 1995, 242f. 19 Ebd., 270. 20 Der Text ist abgedruckt in: Gerhard Büttner u.a., Spuren Lesen 9/10. Werkbuch, Stuttgart/ Leipzig u.a. 2000, 290.

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überraschenden Deutungsversuchen führen kann.21 Der Unterricht begann mit der folgenden Geschichte: Einige Tage vor Ostern treffen sich Isabell und Jürgen. Isabell erzählt von ihrer Oma, die in letzter Zeit abends manchmal so komische Lieder singe. „Die Melodie geht ja noch“ meint sie, „aber die Texte, total traurig.“ „Wieso singt die bei dem schönen Wetter so traurige Lieder, es ist doch bei euch niemand gestorben oder so?“ erkundigt sich Jürgen. „Nee, das hängt irgendwie mit der Passionszeit zusammen, weil doch der Jesus da gestorben ist“, versucht Isabell zu erklären. „Aber das ist doch schon so lange her!“ Jürgen kann das nicht verstehen. „Soll ich dir mal so einen Liedervers vorlesen? Noch bevor Jürgen etwas dagegen sagen kann, fängt Isabell an: „Herzliebster Jesus, was hast du verbrochen, das man ein solch scharf Urteil hat gesprochen? Was ist die Schuld, in was für Misstaten bist du geraten?“ „Hat denn der Jesus was ausgefressen? Ich denk’, der war immer zu allen Menschen so lieb und hat denen geholfen.“ Isabell ist ein bisschen sauer, weil Jürgen mitten in ihren Vortrag reingeplatzt ist. „Warte doch mal, es geht doch noch weiter!“ „Was ist doch wohl die Ursache solcher Plagen? Ach meine Sünden haben dich geschlagen; ich, mein Herr Jesu, habe dies verschuldet, was du erduldet.“ „Jetzt versteh ich gar nichts mehr. Wer ist denn dann schuld am Kreuzestod Jesu? Ist das der Liederdichter? Was ist denn das für ein fieser Typ, dass der so schwer bestraft werden sollte?“ „Meine Oma hat gemeint, der Liederdichter spräche über die Sünden aller Menschen, also auch über deine und meine.“ Doch da empört sich Jürgen. „Wegen meiner paar Sünden hätte der Jesus nicht sterben brauchen!“ Was kann Isabell antworten?

Ich stütze meine Analyse auf die erste Stundenhälfte, weil dort die konzentriertesten Argumentationen zu finden sind. Dabei wähle ich zwei Sequenzen aus, die thematisch jeweils einigermaßen geschlossen sind. Wie ein Cantus firmus zieht sich der Gedanke durch die Stunde, dass alle Menschen sündigen. Dies wird festgemacht am Beispiel der totgeschlagenen Fliege. Immer wieder beziehen sich die Schüler/innen auf dieses Beispiel. Einmal betonen 21 Anke Blümm / Gerhard Büttner, „… es ist Gott vielleicht nicht leichtgefallen, seinen einzigen Sohn zu opfern.“ Wie Schüler/innen der Klassen 4–8 den Tod Jesu sehen, in: entwurf 1/1998, 35–37.

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sie damit, dass Mensch und Tier vor Gott gleichwertig seien. Andererseits wird angeführt, dass man eine Fliege auch unwillentlich im Schlaf töten könne. Will man nicht den Kuriositätencharakter dieses Beispiels überbetonen, dann scheint dahinter eine Ahnung im Hinblick auf das Konzept der „Erbsünde“ zu stehen. In unserem kreatürlichen Verhalten kommen wir nicht darum herum zu sündigen. Dies gilt selbst für den Schlaf, in dem wir nicht Herr unserer Sinne sind. Interessanterweise stellen die Schüler/innen dieser Sünde dann einen eher strengen, strafenden Gott gegenüber. Dies zeigt sich in den Antworten auf die Frage, warum Jesus Christus für uns am Kreuz sterben musste: ?: Damit wir uns nicht mehr fürchten, weil wir ’ne Fliege getötet haben. L: Sind wir wieder bei der Fliege. Ja. Damit wir uns nicht mehr schlecht fühlen. […] Wenn ich weiß, Jesus ist für mich am Kreuz gestorben […], fühl ich mich dann nicht mehr schlecht? Hm. Ilonka. I: Ja, dann erst recht, weil der ja für mich gestorben ist. L: Ja. Soll’n wir uns dadurch schlecht fühlen? ?: Nein, […] wir sollten uns nicht schlecht fühlen, aber wir sollten das halt nicht wieder tun. Und ja, wir sollten dann halt denken, dass wir so was einfach nicht mehr machen. L: Hm. David. D: Damit wollte Gott denen, glaub’ ich, klarmachen, […] dass die das auf keinen Fall mehr machen sollen, dass der dann […] deswegen sogar seinen eigenen Sohn tötet. L: Nochmal deutlich: Wer soll was nicht machen? D: Also die Menschen sollen keine Sünden mehr begehen. Das sollen die wissen und […] als Zeichen hat er dann seinen eigenen Sohn getötet. […] L: Ja, also wir sollen uns bewusst werden, dass das nicht gut ist. Und dafür hat Gott seinen Sohn getötet? Was ist das denn für’n Gott? ?: Vielleicht hat […] Gott ja auch seinen Sohn getötet, damit wir uns so schlecht fühlen. Und damit wir […] uns […] bewusst werden, dass der allgemein wegen uns gestorben ist und dass wir dann […] keine Sünden mehr begehen. […] L: Ja, aber wenn das so ein Gott ist, warum […] lässt er dann zu, dass sein eigener Sohn gekreuzigt wird? Wenn er doch ein liebender Gott ist? Rebekka. R: Damit wir daraus lernen. L: Was sollen wir daraus lernen? […] Jana. J: Keine Sünden mehr zu machen. Keine Fliege zu töten oder keine Ameise. L: Mit der Fliege ham wir’s heute. Ja. Also, wir sollen daraus lernen, wir sollen erst mal keine Sünden begehen. Das hat er aber doch schon in den Zehn Geboten im

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Alten Testament uns gesagt. Warum musste er dafür seinen Sohn sterben lassen und dann auch noch auf so grausame Weise? Anna. A: Als Bekräftigung, also […], damit wir das richtig merken. Der meint das einfach richtig. L: Also, deutliches Zeichen. David. D: Ja, auch dann halt, ’n deutliches Zeichen und, dass er jeden tötet, der was gemacht hat. L: Aber wir haben doch gerade gesagt, der ist ein verzeihender Gott. ?: Ja, aber wir haben ja auch schon besprochen, dass er manchmal auch ein strafender Gott ist. L: Im Alten Testament, in diesem Bereich im Alten Testament. Durch Jesus hat sich da ja ’was geändert. ?: Vielleicht hat der das auch gemacht, weil die das mit den Zehn Geboten noch nicht so richtig gerafft haben, weil die das noch nicht so richtig geglaubt haben. Und dann wollte er das nochmal klar machen.

In dieser Sequenz ist eine Passage herausgekürzt, in der festgehalten wird, dass Gott uns unsere Sünden verzeiht, wenn wir sie bereuen. Aber trotz der Betonung, dass Gott uns und alle anderen Geschöpfe liebt, tritt dann doch wieder der Aspekt in den Vordergrund, dass der Kreuzestod Jesu ein mahnendes, wenn nicht sogar abschreckendes Beispiel für uns als potentielle Sünder sein solle. Im weiteren Gespräch kommt dann das Auferstehungsgeschehen zur Sprache, einmal in Bezug auf Jesus, dann auch als mögliche Hoffnungsperspektive für uns.22 Ich halte nochmals die wichtigsten Argumentationen fest: – Gott korrigiert durch die Auferstehung den fälschlicherweise veranlassten Kreuzestod. – Gott lernt etwas an dieser Sache und lehrt uns etwas. – Vielleicht soll der Tod relativiert werden. – Gott tut Jesus mit dem Tod einen Gefallen und entzieht ihn den Nachstellungen der Menschen bzw. dem Leid auf Erden. – Jesus ist das Vorbild; wenn wir ihm nacheifern, werden auch wir auferstehen. – Gott wollte die Kreuzigung Christi nicht, aber Jesus wollte es.

22 Es folgt ein Videoausschnitt aus dieser Stunde, in der das Geschehen um Kreuz und Auferstehung als Frage der Beziehung zwischen Gott und Jesus aufscheint.

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Die Dominanz des Do-ut-des-Schemas Will man einen bestimmenden Grundzug der Argumentation der Schüler/innen benennen, dann ist es die Kraft des Do-ut-des-Schemas. Fritz Oser und Paul Gmünder hatten dieses für die zweite Stufe des religiösen Urteils als charakteristisch herausgefunden. In seiner Konsequenz heißt das: Sünden müssen bestraft werden! Wenn Jesus dafür sterben muss, dann müssen wir wenigstens ein schlechtes Gewissen haben. Die Erkenntnis, dass der Kreuzestod Jesu Christi gerade dieses Strafschema aushebeln soll, dass der „fröhliche Wechsel“ (Luther) den Sünder gerecht macht, ist den Schüler/innen dieses Alters wohl kaum zugänglich.23 So bleibt der Kreuzestod Jesu Christi ein paränetisches Zeichen, möglichst ja nicht zu sündigen.24 Die zweite Sequenz verweist auf das familiale Muster als Interpretationsschema. Es sind die Beziehungen zwischen (Gott)-Vater und Sohn, die hier sichtbar werden. Gott-Vater bewahrt seinen Sohn vor Schlimmerem, oder die beiden sind nicht einer Meinung. In der erwähnten früheren Studie hatte eine Sechstklässlerin geschrieben: „Da Jesus Gottes Sohn war, und Gott im Himmel lebte, wollte er wahrscheinlich, dass Jesus in den Himmel kam und ihm half, die Welt in Ordnung zu halten.“25 Spätestens dieses Votum gibt uns einen Eindruck davon, wie konkret sich die Kinder dieses Alters das heilsgeschichtliche Geschehen vorstellen. Ich plädiere dafür, dies nicht als defizitär anzusehen, sondern als Interpretament von innertrinitarischen Beziehungen. Machen wir uns diese denkerischen Restriktionen bewusst, dann ist es auch nicht verwunderlich, dass es immer wieder Versuche gibt, durch größere Konkretion Jesu stellvertretendes Leiden plausibel zu machen. Der religionspädagogisch breit rezipierte Film „Jesus von Montreal“ erzählt von einer Schauspielertruppe, die ein Passionsspiel aufführt. Der mit seiner Rolle 23 So etwa die Erkenntnis von Christof Gestrich, Opfer in systematisch-theologischer Perspektive. Gesichtspunkte einer evangelischen Lehre vom Opfer, in: Bernd Janowski / Michael Welker (Hg.), Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte, Frankfurt a.M. 2000, 282–303, hier 294: „Gott-Vater ist hier allein der Opferherr. Menschen – ausschließlich Menschen – empfangen die Frucht dieses Opfers. Der antike Doppelsinn aber, dass zunächst und vor allem Gott beim Opfer etwas ihm Geschuldetes empfange und erst in einem abgeleiteten Sinn dann auch wieder Segen auf den menschlichen Opferherrn zurückfalle (do-ut-des), ist völlig durchbrochen.“ 24 Anke Blümm / Gerhard Büttner, Wie Schüler/innen der Klassen 4–8 den Tod Jesu sehen (wie Anm. 21) zeigen, dass das Schema neben dem Leiden Christi für unsere Sünden auch die von einzelnen Schüler/innen erwogene Möglichkeit impliziert, dass Jesus für seine Verfehlungen leidet, 36. 25 Ebd., 35.

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stark identifizierte Jesus-Darsteller stirbt durch einen Unglücksfall. Die ihm nahestehenden Mitschauspieler/innen stimmen zu, dass seine verwendungsfähigen Organe als Spende an entsprechende Kranke weitergegeben werden. Der Film enthält zahlreiche biblische Anspielungen und ist auch sonst hochsymbolisch. So gesehen ist die Organspende hier gewiss auch als Metapher anzusehen. Gleichwohl ist es interessant, in welcher Konkretheit hier das Lebensopfer Jesu darzustellen versucht wird. Von dort ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zu Marius MüllerWesternhagens Ruf: „Jesus, spende mir Blut – bevor die Sonne mich tötet! Jesus, spende mir Blut – bevor der Tag beginnt!“

Einschätzung und Konsequenzen Wenn man nach der Reichweite der Befunde fragt, wird man bedenken müssen, dass sie in mich überraschender Weise die Befunde einer früheren Untersuchung bestätigen. Aus früheren Studien zum Einsatz von Dilemmageschichten weiß ich aber auch, dass die Art der Fragestellung, z.B. der Modus des Dilemmas überhaupt, offensichtlich nicht nur unterscheidbare Antworten in Hinblick auf moralische oder religiöse Urteilsniveaus produziert, sondern auch typische Antwortmuster. Das bedeutet, dass die Antworten der Schüler/innen womöglich die Konsequenz der spezifischen Fragestellung „Warum ließ Gott Jesus leiden und sterben?“ sind. Blicken wir nochmals zurück auf die ursprüngliche Formulierung des Heidelberger Katechismus, denn dort erscheint nicht Gott, sondern Jesus Christus als der Initiator unserer Erlösung. Aus dieser Einsicht möchte ich einige Konsequenzen ziehen, aus denen ihrerseits einige abschließende Forschungshypothesen gewonnen werden sollen. Ich möchte die Rekursnahme auf Jesus Christus als Handlungssubjekt seiner Passion dabei erst entwicklungspsychologisch, dann systematischtheologisch bedenken. Betrachtet man die Ergebnisse nach der Oser’schen Theorie des religiösen Urteils, dann kann man fragen, wie die Entwicklung weitergehen kann oder soll. Nach Oser folgt auf die Stufe des „Do-ut-des“ die des sog. „Deismus“. Vordergründig geht es dabei um eine Einstellung, die das Verhalten und Ergehen der Menschen weitgehend unabhängig von Gott sieht. Für unsere Fragestellung wäre eine typische Stufe-3-Antwort: Am Tod Jesu sind die Römer und die Jerusalemer Notabeln schuld. Letzteres wäre zwar historisch korrekt, theologisch aber recht unergiebig. Unsere schriftliche Befragung deutete hier einen Weg an, der im Dienste des Autonomiegedankens der Stufe 3 einen Perspektivenwechsel von Gott-Vater weg hin zu Jesus vollzieht. Wir fanden z.B. die Äußerungen „Jesus wollte nicht 216

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mehr auf dieser Erde leben.“ Oder „Vielleicht, weil Gott die Menschen nicht mehr unter Kontrolle halten kann und die kreuzigen Jesus.“26 Die theologische Schlüsselszene wäre demnach Gethsemane mit der Bitte Jesu (Mk 14,36par): „Abba, mein Vater, alles ist dir möglich; nimm diesen Kelch von mir.“ Mit der gleichzeitigen Einwilligung „Doch nicht, was ich will, sondern, was du willst!“ Mit dieser Lokalisierung der Fragestellung wäre es den Schüler/innen vermutlich leichter möglich, die Do-ut-des-Struktur zu überwinden. Die hier formulierte Argumentation trifft sich mit systematisch-theologischen Überlegungen, wie sie etwa Sigrid Brandt formuliert. Sie sieht in Hebr 10,4–7.10 das entscheidende Interpretament für die Passion Jesu Christi. Besonders in den Versen 5–7 wird dort darauf abgehoben, dass Christus darauf verweist, dass Gott gerade keine Opfer wolle, sondern ihm „einen Leib […] bereitet“ habe, um Gottes Willen zu tun. „Diese Stelle belegt, dass sich die Rede vom Opfer Jesu (analog zu Ps 50) primär auf Jesu Einsatz seiner leiblichen Existenz bezieht, genauer: auf den Einsatz seines leiblichen Lebens, und zwar um der Realisierung des göttlichen Willens, und das bedeutet, um der Heiligung der Menschen willen.“27 Diese Interpretation ist insoweit folgenreich, als die Heilsbedeutung Jesu Christi nicht einseitig auf das Passionsgeschehen konzentriert bleibt, sondern Jesu Leben und Wirken insgesamt bedeutsamer wird, weil sich in ihm Gottes Wille manifestiert. Diese theologische Wertung trifft sich mit den Befunden, die Arnold, Hanisch und Orth bei der Befragung von Kindern vorwiegend der 5. Klasse ermittelten. Gerade der Jesus der Wundergeschichten spielt hier eine zentrale Rolle. Die herausgehobene Bedeutung der im Festkalender so akzentuierten Ereignisse um Weihnachten bzw. Karfreitag und Ostern findet man dort nicht. Insofern fiele es den Kindern dieses Alters gewiss leicht, in die weiteren Überlegungen Sigrid Brandts einzustimmen. Das Darbringen unserer Leiber im Sinne von Röm 12,1 meint demnach einen „Dienst an und in der Welt“28. Allerdings kann „das (Selbst-) Opfer christlicher Existenz […] im Extremfall ein Geopfertwerden durch gott- und menschenfeindliche Mächte zur Folge haben, muss es aber nicht.“29 In Bezug auf Jesus folgert sie daraus: „Es ist also festzuhalten, dass das christliche ‚Selbstopfer‘, ebenso wenig wie das Opfer Jesu Christi (!), auf das ‚Geopfertwerden‘ zielt oder darin seine eigentliche Bestimmung und Erfüllung hat. Gerade das Opfer Jesu 26 Anke Blümm / Gerhard Büttner, Wie Schüler/innen der Klassen 4–8 den Tod Jesu sehen (wie Anm. 21), 36. 27 Sigrid Brandt, Hat es sachlich und theologisch Sinn, von „Opfer“ zu reden?, in: Bernd Janowski / Michael Welker, Opfer (wie Anm. 23), 247–281, 269. 28 Ebd., 276. 29 Ebd.

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V. Christologie

Christi erfüllt sich nicht am Kreuz, es weicht dem Geopfertwerden um Gottes und der Menschen willen aber auch nicht aus.“30 Im Kontext des Denkens von Schüler/innen könnte dies so aufgenommen werden, dass die Bereitschaft Jesu „zu helfen“ auch im Modus der Passion erkennbar sein müsste. Im Sinne der Argumentation von Sigrid Brandt könnte dies der Fall sein, wenn die Schüler/innen in Jesu Passion einen Einsatz Jesu für uns Menschen erkennen, der sein helfendes Handeln zu Lebzeiten fortsetzt, ja dessen Konsequenz darstellt. Möglicherweise lässt sich die Erwartung des helfenden Gestus Jesu Christi dann auch auf das postmortale Ergehen übertragen. Ob dieser gedankliche Konstruktionsversuch, für den es einige Plausibilität gibt, wirklich bei Schüler/innen auffindbar sein wird, muss sich empirisch beweisen. Theologisch wird man Rechnung tragen müssen, dass sich die Umdeutung des scheiternden Todes Jesu als Heilsereignis „für uns“ seit neutestamentlicher Zeit nicht stringent und ein für alle Mal vollziehen lässt. Damals wie heute bedarf es dazu eines immer neu zu vollziehenden Konstruktionsprozesses. Die Schüler/ innen als Laientheolog/innen tragen dazu ihren Anteil bei.

30 Ebd.

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Kinder als Exeget/innen der Heiligen Schrift

VI. … andere Themen

Nach den ersten Bänden des „Jahrbuches für Kindertheologie“ wuchs bei den Herausgebern der Eindruck, dass es an der Zeit sei, möglichst viele Felder des Glaubenswissens und der Theologie auch mit dem Blick der Kinder und damit im Sinne der Kindertheologie in Augenschein zu nehmen.1 Dabei war die Absicht, möglichst viele Fachwissenschaftler/innen in dieses Projekt mit einzubeziehen. So war es denn auch für viele Exeget/innen aufschlussreich, was die Kinder an Deutungen lieferten. Dies war auch ein Weg, der Kindertheologie im Raum der Theologie ihren Platz zu verschaffen. Inzwischen konzedieren auch Skeptiker, dass es gelungen sei, die Welt der Rezeption von Theologie entscheident zu erhellen. Für mich selbst war das ein Anreiz, einmal herauszufinden, was sich – etwa bei Kindern – an Anschauung generieren lässt zu zentralen, aber wenig zugänglichen Themen wie Heiliger Geist, Trinität oder Himmel. Es erwies sich, dass auf der Spur der Kinder neue Sagbarkeiten gefunden werden könnten – auch für Erwachsene.

1 Gerhard Büttner / Martin Schreiner (Hg.), „Manche Sachen glaube ich nicht.“ – Mit Kindern das Glaubensbekenntnis erschließen, Jahrbuch für Kindertheologie, Sonderband, Stuttgart 2008; dies. (Hg.), „Man hat immer ein Stück Gott in sich.“ – Mit Kindern biblische Geschichten deuten, Bd. 1: Altes Testament, Bd. 2: Neues Testament, Jahrbuch für Kindertheologie, Sonderbände, Stuttgart 2002 u. 2006.

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VI. … andere Themen

Kinder als Exeget/innen der Heiligen Schrift Kinder machen sich ihren Reim auf die Sache (wie Erwachsene auch) Die Neutestamentler Peter Müller und Ruben Zimmermann haben sich im Zusammenhang des kindertheologischen Diskurses als Erste Gedanken darüber gemacht, wie die unbestreitbare Fähigkeit der Kinder, sich mit biblischen Texten auseinanderzusetzen, zu bewerten sei.1 Es ging dabei letztlich um den Titel „Exeget“, den Müller einem bestimmten methodischen Procedere vorbehalten möchte, wohingegen Zimmermann angesichts nachvollziehbarer eigener Erkenntnisse am Text bereit ist, auch Kinder als Exegeten anzusehen. Die Frage der Bezeichnung ergibt sich letztlich aus der Beobachterperspektive. Wenn ich den Standard und das Methodenrepertoire der Universitätstheologie als Ausgangspunkt meiner Überlegungen zur Exegese für bestimmend halte, dann geraten letztlich alle Auslegungsversuche von Lai/innen und Kindern in den Status zwar eigenständiger, aber letztlich defizitärer Zugänge. Die Religionspädagogik hat sich übrigens über Jahre hinweg genau diese Sichtweise zu eigen gemacht und versucht, den historisch-kritischen Zugang zu Bibeltexten möglichst bis in die Grundschulen hinein unterrichtlich zu verankern. Dies führte dann zu Überlegungen, dass es für einen Großteil der biblischen Texte problematisch sei, wenn Kinder sich mit ihnen beschäftigten und damit zu „falschen“, weil wörtlich genommenen Deutungen kommen (z.B. bei Wundergeschichten oder den Texten zur Weltschöpfung). Besonders die Studien von Anton Bucher zu Gleichnissen und von Heike BeeSchroeter zu Wundergeschichten machten aus entwicklungspsychologischer Perspektive klar, dass es offenbar Verstehensschemata gibt, in die hinein die Textinhalte interpretiert werden.2 So lässt sich erklären, warum Grundschüler/innen eine Wundergeschichte Jesu problemlos wörtlich verstehen, während spätere Altersstufen sie als unhistorisch ablehnen oder versuchen, eine symbolische Deutung 1 Peter Müller, „Da mussten die Leute erst nachdenken …“ Kinder als Exegeten – Kinder als Interpreten biblischer Texte, in: Anton A. Bucher u.a. (Hg.), „Im Himmelreich ist keiner sauer.“ – Kinder als Exegeten, Jahrbuch für Kindertheologie, Band 2, Stuttgart 2003, 19–30; Ruben Zimmermann, Jakobs Begegnung am Jabbok (Gen 32,23–33). Der ‚Kampf‘ der Exegeten und die Auslegungskunst der Kinder, in: ebd., 31–45. 2 Anton A. Bucher, Gleichnisse verstehen lernen. Strukturgenetische Untersuchungen zur Rezeption biblischer Parabeln, Praktische Theologie im Dialog 5, Freiburg/CH 1990; Heike BeeSchroeter, Neutestamentliche Wundergeschichten im Spiegel vergangener und gegenwärtiger Rezeption, Stuttgarter biblische Beiträge 39, Stuttgart 1998.

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Kinder als Exeget/innen der Heiligen Schrift

zu gewinnen. Lässt man nun aber diese Perspektive zu, dann drängt sich der Gedanke förmlich auf, die Bemühungen der wissenschaftlichen Exegese nicht bloß nach ihren Resultaten zu beurteilen, sondern auch sie nach dort bestimmenden Verstehensschemata einzuordnen. Schließt man sich dieser Sichtweise an, dann sind „wissenschaftliche Exege/innen“ kein „Sonderfall“ mehr, sondern eine Variante des Zugangs zu Bibeltexten. Dabei handelt es sich beim dahinter liegenden Weltbild, bei Grundannahmen des Zugangs und bei den Ergebnissen der Auslegung meist nicht um exklusive Modi der „Exegeten“, sondern diese mischen sich weitgehend mit denen der „Nicht-Exegeten“. Von daher ist die Reservierung dieses Titels auf den universitären Zugriff zumindest fragwürdig und die Vorstellung von „Kindern als Exegeten“ gut zu rechtfertigen.

Kindertheologie als „kontextuelle Theologie“ Wenn Kindern bei der Auslegung des Ich-bin-Wortes vom Brot die Konnotation „Lutscher des Lebens“ kommt3, dann mag dies zunächst befremden. Doch zeigt eine nähere Betrachtung, mit welchem Geschick sie sich dieser Metapher annehmen und für ihr eigenes Leben verstehbar machen. Es ist der Verdienst der kontextuellen Theologien (der Frauen, der Befreiung etc.), deutlich gemacht zu haben, dass die biblische Botschaft nur dort bedeutsam wird, wo sie in den konkreten Horizont der Menschen eindringen kann. Von dieser Perspektive verliert die akademische Exegese den Nimbus der Universalität und wird hingewiesen auf ihren spezifischen „Sitz im Leben“. Da nun Jesus selber die Perspektive der Kinder mehrfach in ihrer Bedeutung herausgestellt hat, wird man gut daran tun, deren Verstehen der biblischen Texte nicht geringzuschätzen. So verweisen Theologen aus gutem Grund auf die Notwendigkeit, die Perspektive der Kinder starkzumachen. In der Diskussion um das Philosophieren mit Kindern wurde immer wieder auf das „Staunen“ als besondere Qualität des kindlichen Weltzugangs verwiesen. Und wenn die Kinder in ihrer Begegnung nur dieses Staunen als Beitrag in den theologischen Diskurs einzubringen hätten, dann lohnte bereits dies, um den Stellenwert der kindlichen „Exegese“ hochzuschätzen. Kindertheologische Exegese gehört als kontextuelle Theologie in den theologischen und kirchlichen Diskurs, der ohne sie zweifellos ärmer wäre.4 Dies 3 Mirjam Zimmermann / Ruben Zimmermann, Lutscher des Lebens? Kindertheologische Zugänge zu Johannes 6, in: KatBl 132, 2007, 336–340. 4 Wilfried Härle, Was haben Kinder in der Theologie verloren? Systematisch-theologische Überlegungen zum Projekt einer Kindertheologie, in: Anton A. Bucher u.a. (Hg.), „Zeit ist immer da.“ – Kinder erleben Hoch-Zeiten und Fest-Tage, in: Anton A. Bucher, Zeit ist immer da. Kinder erleben Hoch-Zeiten und Fest-Tage, Jahrbuch für Kindertheologie 3, 2004, 11–27.

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VI. … andere Themen

ist keine Aussage allein der Haltung, sondern erweist sich im Detail als fruchtbar, wo es Kindern manchmal gelingt, wirklich originelle, auch die Erwachsenentheologie irritierende oder inspirierende Einsichten zutage zu fördern.

Rehabilitierung existenzieller Lesarten: Metaphysik statt Geschichte Grundlegend für wissenschaftliche Herangehensweisen an die Bibel ist der Vergleich. Die Entdeckung zahlreicher außerbiblischer Quellen gehörte zu den Schlüsselerfahrungen der historisch-kritischen Forschung. Auch Überlieferungsund Redaktionsgeschichte machen deutlich, dass der biblische Text (bzw. sein Inhalt) sich offenbar in verschiedenen Zeiten in einem unterschiedlichen Zustand befand. Beide Beobachtungen führen zu seiner Relativierung, nämlich dazu, dass ein bestimmter Status des Textes in Beziehung gesetzt wird zu anderen Möglichkeiten. So gesehen könnte man das exegetische Arbeiten als einen Diskurs auf der Metaebene beschreiben: Wir reden darüber, wie andere mit dem Text oder Teilen von ihm umgegangen sind. Um dem Text wieder existenzielle Bedeutung abzugewinnen, bedarf es wieder so etwas wie einer „zweiten Naivität“ (Ricoeur). Im Lichte dieser Überlegungen sind dann die kindlichen Zugänge zu bedenken. Kinder betrachten Texte auf der Objekt-Ebene und sind in der Regel nicht in der Lage zu Operationen auf der Meta-Ebene. Von daher befragen sie die Texte anders. Sie wollen wissen, „wie“ etwas ist! Von daher sind sie geborene Metaphysiker.5 Sie sind durchaus in der Lage, Spannungen innerhalb einer Perikope zu erkennen. Sie vergleichen auch Texte und prüfen kritisch, ob sich der Protagonist „bibelgemäß“ verhält. Exegeten neigen dazu, Anstößiges als sekundär wegzuinterpretieren, Kinder müssen gleichsam „immanente“ Interpretationen finden und sie tun dies auch. Von daher verwundert es nicht, dass der biblische Text dann näher bei ihnen und ihrer Lebenswelt bleibt, als dies bei den erwachsenen Exeget/innen zwangsläufig der Fall sein muss. Während die klassische Bibelexegese immer diachron angelegt war und die synchrone Perspektive erst allmählich wieder Raum gewinnt, ist der Zugang der Kinder von ihrem Denken her immer schon eher synchron.

5 Paul Harris, On Not Falling Down to Earth. Children’s Metaphysical Questions, in: Karl S. Rosengren / Carl N. Johnson / Paul L. Harris (Hg.), Imagining the Impossible. Magical, Scientific and Religious Thinking in Children, Cambridge/UK, 157–178.

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Kinder als Exeget/innen der Heiligen Schrift

Die Regelhaftigkeit des kindlichen Procedere Wir sind es gewohnt, Wissenschaft zu allererst durch ihre Methoden zu definieren. Nun lassen sich wissenschaftliche Methoden in gewisser Weise als Extensionen von Zugangsweisen der Alltagswelt deuten. Auch dort wird beobachtet, verglichen, sortiert etc., nur geschieht dies eher pragmatisch und weniger regelbewusst. Nun kann man den Gedanken in der Weise weiterführen, dass man zeigt, dass auch Wissenskonstruktionen von großer Prägnanz außerhalb des wissenschaftlichen Denkens möglich sind. So besticht etwa das Werk von Lévy-Strauss durch den Aufweis höchst komplexer Denkoperationen bei der Konstruktion der Mythenwelt etwa südamerikanischer Indianervölker. D.h., dass auch das sog. „Wilde Denken“ nicht ohne System und Regel ist.6 Geht man von dieser Prämisse aus, dann ist es legitim, auch das kindliche Operieren mit biblischen Texten nach solchen impliziten Regelhaftigkeiten zu befragen. Dabei ließ sich zeigen, dass Kinder bei ihrer Konstruktion der Christologie auf bestimmte typische Merkmale zurückgreifen wie Verwandtschaftsmodi (Vater-Sohn) oder auf Oben-unten-Metaphern oder beim Nachdenken über Dubletten im Text auf ähnliche Hypothesen stoßen wie die Bibelwissenschaft.7 Die Frage von Differenz und Gemeinsamkeit zwischen „kindlicher Methodik“ und der der Wissenschaft ist also eine Frage der Beobachterperspektive. Für konstruktivistische Wissenssoziologen sind die Gemeinsamkeiten wohl größer als die Unterschiede. Ansonsten lässt sich zeigen, dass es möglich ist, auf der Basis von Unterrichtsexperimenten, sukzessive Muster zu skizzieren, die bei der Wiederholung der Gespräche mit altersgleichen Kindern zu sehr ähnlichen Antwortmustern führen wird. Wir haben dies zeigen können im Hinblick auf das Bild von „Gott als Marionettenspieler“ mit Affinität zu der Frage nach dem freien bzw. unfreien Willen und zur Frage der Christologie, wo die Schüler/innen selbst zu der Fragestellung von Chalzedon gefunden haben.8 Zumindest für systematisch-theologische Fragestellungen lässt sich zeigen, dass die Lösungen der theologischen Tradition einen Antwortpool bilden, dem auch ein Großteil der Kinderantworten entspricht. 6 Claude Lévy-Strauss, Das wilde Denken, Frank­f urt a.M. 1973. 7 Gerhard Büttner, „Halb Mensch, halb nicht, das weiß man nicht so sehr, denn Jesus ist ja eigentlich Gottes Sohn!“ Kindliche Versuche, die Paradoxien der Christologie bildhaft auszudrücken, in: Jörg Frey /Jan Rohls / Ruben Zimmermann (Hg.), Metaphorik und Christologie. Theologische Bibliothek Töpelmann 120, Berlin 2003, 399–416; wiederabgedruckt im vorliegendem Band S. 173–190; Gerhard Büttner / Jörg Thierfelder, Handwerkszeuge kindlicher Bibeldeutung, in: Loccumer Pelikan 3/2005, 106–110. 8 Gerhard Büttner, How theologizing with children can work, in: British Journal of Religious Education 29, 2007, 127–139; Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern. Untersuchungen zur Professionalisierung Studierender und Anstöße zu forschendem Lernen im Religionsunterricht, Stuttgart 2007, 188ff.

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VI. … andere Themen

Die empirische Dimension In der neueren exegetischen Diskussion ist es durchaus üblich, rezeptionsästhetische Aspekte im Sinne der Literaturwissenschaft zu berücksichtigen. Dabei verbindet beide Wissenschaften zumindest im deutschsprachigen Raum eine große Scheu vor der Empirie. Zwar wird die Bedeutung der Rezeption eines Textes erkannt, doch eher theoretisch behandelt. Kindertheologie ist dem gegenüber eine zutiefst empiriegestützte Angelegenheit. Das bedeutet zunächst einmal, dass die Sammlung und Veröffentlichung zahlreicher Äußerungen von Kindern so etwas wie die materielle Basis der Kindertheologie darstellt. Das hat den unschätzbaren Vorteil, dass es möglich wird, implizite Annahmen über das, was Kinder können oder können sollten, anhand der vorliegenden empirischen Daten zu prüfen. So hat sich inzwischen die begründete Einsicht verbreitet, dass es sinnvoll und möglich ist, einfache Gleichnisse Jesu bereits im Grundschulalter zu behandeln, wenn dabei eine kindgemäße Unterrichtsstrategie gewählt wird.9 Selbst Daten, die unter – wissenschaftlich gesehen – fragwürdigen Bedingungen erhoben wurden, können immer wieder als Hypothesen für weitere Untersuchungen dienen. Viele Daten zur Kindertheologie sind relativ praxisnah erhoben worden. Das relativiert vielleicht ihren – wissenschaftlich gesehen – objektiven Charakter, andererseits geschieht die Datengewinnung in der Regel ja mit der Absicht, das Gesprächsmaterial gewissermaßen im selben Kontext wieder einzusetzen. Wenn ich mit Kindern im Religionsunterricht über eine Jesusgeschichte spreche, dann ist damit ein Rahmen vorgegeben, innerhalb dessen das Gespräch abläuft. Es ist dann durchaus anzunehmen, dass das Religionsstunden-Ich die Antworten „frömmer“ ausfallen lässt als in einem Gespräch in einem ganz anderen Setting. Dies enthebt die kindertheologische Forschung nicht der Notwendigkeit, sich an den üblichen sozialwissenschaftlichen Standards zu orientieren.10 Zu bedenken ist allerdings, dass wir den Diskurs im Rahmen der biblischen Exegese führen, die in diesem Feld noch nicht einmal bis zum Problembewusstsein vorgedrungen ist.

Annäherungen und Erleichterungen anhand der neueren Exegese Martin Schreiner und ich haben in einem Sammelwerk, in dem Biblische Theologen und Religionspädagogen biblische Perikopen exegesiert und ihre Auslegung 9 Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern (wie Anm. 8), 146ff. 10 Mirjam Zimmermann, Methoden der Kindertheologie. Zur Präzisierung von Forschungsdesigns im kindertheologischen Diskurs, in: Theo-Web 5, 1/2006, 99–125.

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Kinder als Exeget/innen der Heiligen Schrift

mit der von Kindern verglichen haben, darüber nachgedacht, wieso es überhaupt möglich ist, dass Kindertheologie und Exegese in einen Diskurs eintreten können.11 Wir haben dabei vier Tendenzen in der Exegese ausgemacht, die dem Unternehmen zugutekommen: – In der Bibelwissenschaft gibt es eine Tendenz zur Letztgestalt. Solange die Exegese letztlich nur an herauspräparierten Einheiten arbeitete, hatte der laienhafte Ausleger keine wirkliche Chance, seine eigenen Beobachtungen und Überlegungen ins Spiel mit den wissenschaftlich gewonnenen Auslegungen zu bringen. Dies wird beim gemeinsamen Blick auf die Letztgestalt der Texte einfacher. – Indem rezeptionstheoretische Ansätze in die Exegese Eingang finden, werden empirisch arbeitende Zugänge wie die Kindertheologie auch für die wissenschaftliche Theologie interessant. – Vereinzelt arbeiten Exegeten mit konstruktivistischen Ansätzen (Peter Lampe). Von einer solchen Prämisse her ist eine Integration des kindertheologischen Zugangs in das exegetische Setting zumindest sehr nahe liegend. – Mit der Einbeziehung dekonstruktivistischer Formen der Auslegung ist es nun fast zwingend, auch die Lesarten der Kinder als legitim gelten zu lassen. Nur unter der impliziten oder expliziten Annahme zumindest einzelner der hier genannten Aspekte ist ein Gespräch zwischen Exegese und Kindertheologie sinnvoll und möglich.

11 Gerhard Büttner / Martin Schreiner, Im Spannungsfeld exegetischer Wissenschaft und kindlicher Intuition. Mit Kindern biblische Geschichten deuten, in: dies. (Hg.), „Man hat immer ein Stück Gott in sich.“ – Mit Kindern biblische Geschichten deuten, Teil 1: Altes Testament, Jahrbuch für Kindertheologie – Sonderband, Stuttgart 2004, 7–16.

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VI. … andere Themen

Der „Heilige Geist“ in der Vorstellungswelt der Kinder

Der Weingartener Religionspädagoge Lothar Kuld sieht in der Unsichtbarkeit Gottes das zentrale theologische Problem von Kindern und Jugendlichen. Nach seiner Beobachtung – die sich mit meinen eigenen Untersuchungen decken – lässt sich eine Entwicklung erkennen, die Kuld mit dem Dreischritt „Körper – Sage – Geist“ charakterisiert: „Alle Begriffe bezeichnen Unsichtbares. In jedem Fall geht es darum, das Unsichtbare zu benennen. Aus der scheinbar anthropomorphen Vorstellung wird eine literarische, dann im Jugendalter eine psychologische.“1 Damit will er ausdrücken, dass die Unsichtbarkeit Gottes auch schon von Kindern gewusst wird, dass ihnen allerdings die denkerischen und begrifflichen Mittel fehlen, dies angemessen auszudrücken. Konkret bedeutet das, dass die angesprochenen Kinder (und Jugendlichen) für ihre spekulativen Versuche, das, was ihnen an Gott wichtig ist, auszudrücken, auf konkrete Begriffe und Bilder zurückgreifen müssen. Für die Klärung der Beziehung zwischen Gott-Vater und Jesus Christus greifen sie dabei etwa bevorzugt auf die Familienmetapher zurück. Die Beziehung zwischen „Vater“ und „Sohn“ ist ihnen geläufig und findet ja auch im biblischen Text durchaus zahlreiche Anhaltspunkte. Dabei scheint schon in neutestamentlicher Zeit das Bedürfnis bestanden zu haben, das Wirken des unsichtbaren Gottes in der „Person“ des Geistes zu artikulieren. Nicht zuletzt das Johannesevangelium (16,7) macht deutlich, dass die Abwesenheit Jesu Christi die Voraussetzung für die Anwesenheit des Heiligen Geistes (Parakleten) ist. Man kann nun aus religionspädagogischer Sicht darüber streiten, ob die Komplizierung der Gottesfrage im Sinne der Trinität eher von Nachteil oder von Vorteil ist. Mein Beitrag versteht sich als Plädoyer dafür, bereits Kindern die Personen der Trinität in ihrem narrativen biblischen Kontext zugänglich zu machen und ihnen damit „Spielmaterial“ an die Hand zu geben, mit dem sie die immer wieder neu aufbrechenden, aber nie endgültig zu beantwortenden Fragen nach Gott und seinem Wirken beantworten können. Was dies bedeuten könnte, zeigt das Beispiel des sechsjährigen John, das Rebecca Nye berichtet2: 1 Lothar Kuld, Das Entscheidende ist unsichtbar. Wie Kinder und Jugendliche Religion verstehen, München 2001, 74 2 David Hay / Rebecca Nye, The Spirit of the Child, London 1998, 101f (Übersetzung: Gerhard Büttner).

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Der „Heilige Geist“ in der Vorstellungswelt der Kinder

Er kommt aus einer volkskirchlich geprägten Familie, die zu Ostern und Weihnachten den Gottesdienst zu besuchen pflegt. Im Interview berichtet John: „Ich habe darüber nachgedacht … und eines Tages … war ich bei meiner Mutter und bat sie … mit mir in eine Kirche zu gehen. Das machten wir und ich betete …, und nach dem Gebet wusste ich, dass Gott auf meiner Seite ist. Und ich hörte ihn in meinem Geist sagen: ‚Ich bin bei dir. Jeden Schritt, den du gehst. Der Herr ist mit dir. Mögen Deine Sünden vergeben sein.“ Später beschreibt er seine Begegnung mit den Heiligen Geist: „Nun ja, einmal ging ich in der Nacht herum … und sah einen Fremden wie eine Art Bischof. Ich sagte: ‚Wer bist du?‘ Und er sagte: ‚Ich bin der Heilige Geist.‘ Ich dachte, es war der Heilige Geist.“

Diese Darstellung zeigt zweierlei: Wie Rebecca Nye und Edward Robinson3 berichten, ist es offenbar gar nicht so selten, dass Kinder religiöse oder spirituelle Erfahrungen machen. Dabei hilft es, wie Frau Nye bemerkt, auch kirchenfern erzogenen Kindern, wenn ihnen zumindest Rudimente traditioneller theologischer Begrifflichkeit zur Verfügung stehen.4

Eigene Untersuchung Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen wollte ich herausfinden, was Kindern zum Thema „Heiliger Geist“ in den Sinn kommt. Dabei gehe ich davon aus, dass sie auf solche Vorstellungen zurückgreifen, denen sie in irgend einem Zusammenhang begegnet sind. Dies können liturgische Formeln sein wie bei dem oben zitierten John, es können auch biblische Geschichten sein oder aber säkulare Zusammenhänge wie z.B. die Werbung. Aus diesen Elementen entstehen dann jeweils eigene Vorstellungen, z.T. werden diese auch erst durch die Befragung „ausgelöst“ (wie Piaget sagt). Seiler und Claar gehen davon aus, dass die von ihnen so genannten „ideosynkratischen Begriffe und Vorstellungen des einzelnen Subjektes kein Abklatsch der von der soziokulturellen Umwelt angebotenen oder aufgezwungenen Interpretationen“ sind, sondern je eigenständige Hervorbringungen, die dann im Laufe des Erwachsenwerdens sich immer mehr der „Sache“ annähern würden.5 Dabei sei dahingestellt, ob dies bei einem so schillernden Begriff wie dem „Hei 3 Edward Robinson, The Original Vision, Oxford 1977. 4 Vgl. Hay / Nye (wie Anm. 2), 111 5 Thomas Bernhard Seiler / Annette Claar, Begriffsentwicklung aus strukturgenetisch-konstruktivistischer Perspektive, in: W. Edelstein / S. Hoppe-Graff (Hg.), Die Konstruktion kognitiver Strukturen, Bern u.a. 1993, 107–125, hier 117.

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VI. … andere Themen

ligen Geist“ überhaupt möglich sein kann. Ich möchte durch die Wahrnehmung solcher ideosynkratischer Deutungsmuster der Kinder die Möglichkeit schaffen, diese im Gespräch aufzunehmen und sie damit in einen theologischen Diskurs zu verwickeln. Dies kann in privaten, familiären Kontexten ebenso geschehen wie in Religionsunterricht und Katechese. Unsere Untersuchung bestand aus 20-minütigen Interviews mit 20 Schüler/innen der 5. und 6. Klasse eines Dortmunder Gymnasiums, die mir vom Schulpraktikum her bekannt waren. In den letzten Tagen vor Ferienbeginn wurden die Interviews von zwei Mitarbeiter/innen und mir durchgeführt. Grundlage war ein Leitfaden6: In ihm wurden drei Themenfelder angesprochen: Ausgehend von einem Nolde-Bild begann das Gespräch über das biblische Pfingsten; es setzte sich fort mit der Frage nach weiteren Geist-Geschichten der Bibel und endete mit der Frage nach eigenen Vorstellungen zum Wirken des Heiligen Geistes hier und heute. Ich konzentriere meine Darstellung auf den letzten Interviewteil und werde dazu einige der elaboriertesten Beiträge hier vorstellen und daraus ein Resümee ziehen. Nicht überraschend konnten zahlreiche Schüler/innen wenig oder gar nichts Eigenständiges zum Thema sagen. Doch fanden sich bei knapp der Hälfte der Interviews zumindest Ansätze. Ich stelle die Themenfelder im Einzelnen dar.

Der Heilige Geist als „spirituelle Erfahrung“ Auch wenn die Kinder nicht gewohnt sind, mit dem Begriff „Heiliger Geist“ zu operieren, so können sie manchmal doch Situationen und Gefühle damit verbinden. I(nterviewer): Merken wir den Heiligen Geist also heute noch bei uns? Marie: In der Kirche. Wenn der so ganz nah ist. Oder bei Beerdigungen. Nadine: Ja also ’ne innere Stimme hat ja jeder eigentlich so, wenn man irgendwie mal, wenn etwas gefährlich ist und man möchte das machen und dann hat man ja manchmal ’n komisches Gefühl dann dabei und dann lässt man’s ja auch und ich denke, dass das dann so einer ist so’n Heiliger Geist so etwas ähnliches. Jonas: Vielleicht hört man dann irgendwie ’ne andere Stimme, die dann sagt, man soll’s lassen oder so? I: Und hast du den da im Bauch gespürt, oder …? Marie: Ja, im Bauch, am Kribbeln. 6 Vgl. Gerhard Büttner, Der Heilige Geist als „Gottes Gedanken“. Ein Gespräch mit Laura, Klasse 6, in: entwurf 2003, Heft 1, 40–42, hier 41

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Der „Heilige Geist“ in der Vorstellungswelt der Kinder

Hanna: Weihnachten, weil da hat man so’n tolles Gefühl. I: Dass man sich vielleicht nicht so alleine fühlt? Marie: In der Kirche, als ich Erstkommunion hatte. I: Kann man ihn körperlich spüren? Nadine: Nee! Also glaub ich nicht, nur halt die innere Stimme, aber so spüren nich’.

Dies kann durchaus auch sehr konkrete Züge tragen: I: Manche Leute erzählen, dass sie den Heiligen Geist schon mal gespürt haben. Jessica: Ja, wenn man in seinem Zimmer ist und dass dann hinter einem kühl ist, erfährt man was Kühles, dass man dann irgendwie Gänsehaut bekommt, einem irgendwie kalt wird. Eventuell könnte das damit gemeint sein oder was anderes, dass es nur so’n Luftzug war.

Der Heilige Geist als „Schutzengel“ und Helfer Für die Kinder wird der Heilige Geist am greifbarsten in seiner Funktion als jemand, der in prekären Situationen Beistand leistet oder einen vor Unglück bewahrt: I: Manche Leute erzählen, dass … sie schon mal gespürt hatten, dass der Heilige Geist ihnen irgendwie geholfen hätte oder ihnen etwas Gutes getan hätte. Kannst du dir vorstellen, was die meinen? Jessica: Also bei mir nicht, aber ich glaub an meinem Freund, also nicht mein Freund, in den ich verliebt bin, sondern aus dem Kindergarten, der hatte mal ’n ganz schlimmen Unfall in Italien, der ist mit dem Fahrrad in so’m Zaun hängen geblieben und dann ist der hingefallen und, weil der is’ so nah an den Zaun gefahren, weil ein Auto kam und im Auto saß aber ein Arzt und ich glaub’, das war irgendwie [Glück]. Weil er sich so doll wehgetan hat, sich innen drin auf die Lippe gebissen und hier auch alles blutig, weiß ich nicht, vielleicht hat der Heilige Geist das ja gemacht, dass der Autofahrer dann ’n Arzt war. Dem passieren ganz oft also und mir passieren auch viele Kleinigkeiten, aber dem passiert ganz selten was, aber wenn dem was passiert, dann große, schlimme Sachen, aber irgendwie hat er dann immer irgendwas, was ihm dabei hilft irgendwie, wieder heile zu werden oder. Und im Skiurlaub ist der auch hingefallen, hat sich hingelegt und wollte wieder aufstehen und war aber drunter in so’n Gebirge rein gerast und zum Glück hatten wir ’n Skilehrer dabei und der hat dem dann wieder rausgeholfen. Stefan: Also das war jetzt letztens, da wurde gerade der neue Busplan ausgehangen und das hatten wir morgens nicht gesehen, weil wir mussten halt uns ’n bisschen

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VI. … andere Themen

beeilen, [denn] wir dachten, der Bus käme immer noch zur gleichen Zeit, aber der kam jetzt ’ne Viertelstunde früher und dann kamen wir zur gleichen Zeit, aber da kam dann der Bus [verspätet an dem Tag] ja. Also ich denk’ mal, das war nur Glück im Unglück. I: Und du meinst, das Glück im Unglück könnte auch Heiliger Geist sein? Stefan: Denke ich schon. Anna: Ich sag jetzt mal ’n Beispiel: also meine Katze ist neulich weggelaufen, da hab ich auch gebetet, dass die halt wieder zurückkommt, da ist sie auch wieder zurückgekommen, ja. I: Und du meinst, das war wegen des Heiligen Geistes? Anna: Ja, ich glaub’ das.

Der Heilige Geist als Gottes Gedanken und Botschaft an die Welt Zwei Kinder, Fabian und Laura, haben sich in umfassenderer Weise Gedanken über den Heiligen Geist gemacht. Ihnen ist vor allem der Kommunikationsaspekt wichtig: Wie kommen Gottes Absichten auf die Welt? I: Der Geist Gottes sei über jemanden gekommen. Was bedeutet das? Fabian: Das is’ irgendwie ’n Bote von Gott oder so ähnlich. I: Ja, wie stellst du dir den Boten Gottes vor? Fabian: Ja also ganz normal als Mensch und sonst irgendwie, dass der Gott hört. Ich weiß nicht, was er möchte oder so und das dann weitergibt ans Volk. […] I: Wie erfährt denn der Prophet das, was Gott von ihm möchte? Fabian: Ja irgendwie hört er die Stimme von Gott oder wie in manchen Geschichten. I: Du meinst, der Geist Gottes könnte ja auch so was ähnliches wie die Stimme Gottes sein? Fabian: Ja! Doch so. I: Gibt es den Heiligen Geist auch heute noch? […] Fabian: Also irgendwie man weiß nicht wo. I: Also, du meinst, es gibt ihn heute noch, aber du weißt nicht wo. Wo könnte er denn sein? Fabian: Na, vielleicht schwebt er irgendwie über uns, oder … so? I: Was macht er? Fabian: Weiß ich nicht, gucken, oder? I: Hat er was mit Gott zu tun?

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Der „Heilige Geist“ in der Vorstellungswelt der Kinder

Fabian: lrgendwie eigentlich schon. Dass die [Personen] irgendwie, dass die drei zusammen gehören, dass das eins ist … I: Ja gut, das hört man, aber wie? Fabian: Vielleicht ist das ja auch irgendwie n’ Botschafter von Gott? I: Das heißt, wenn er so was ähnliches wie ein Botschafter von Gott wäre, wie würden wir denn was von ihm spüren? Fabian: Weiß nicht. So wie wir im Unterricht irgendwie gesagt haben, dass er uns irgendwie auch lenkt und so was alles. Und dass wir jetzt nicht seine Stimme hören, aber das da machen wollen oder. I: Du meinst, dort wo wir was Gescheites machen, da könnten wir annehmen, dass der Geist Gottes uns lenkt? Fabian: Ja. I: Und wenn wir Mist machen, dann lenkt er uns gerade nicht? Fabian: Doch, [das bedeutet aber], dass er nicht immer das Ganze lenkt, sondern immer nur’n bisschen.

Fabian versteht es, den auch für ihn fremden Begriff „Heiliger Geist“ mit zwei ihm bekannten Themen zu verknüpfen. Er stellt die Frage, wie es möglich sein kann, dass die Propheten als Gottes Boten dessen Absichten zu Gehör bekommen. Die zweite Verknüpfung geht zu einer Stunde, in der die Schüler/innen über das Bild von Gott als Marionettenspieler diskutiert hatten.7 Noch eigenständiger ist die Argumentation von Laura.8 I: Manchmal in der Bibel heißt es, dass der Geist Gottes über Menschen gekommen ist oder so? Laura: Früher gab ’s ja so ’was wie [I: Propheten] – ja genau, Propheten, da hatte der Heilige Geist sich bestimmt auch gedacht, sozusagen in die Köpfe, aber nicht sichtbar eben halt, sondern hat denen dann das alles erklärt, weil er konnte [sich?] nicht einfach so in Menschen verwandeln. Weil wenn er sich jetzt irgendein[en] Menschen nehmen würde, kann ja sein, dass der gar nicht an Gott glaubt! I: Doch einmal hat er einen gewählt, das war Jesus. Laura: Genau. Und Jesus war nachher dann ja der „King of Gott“ – seine rechte Hand. I: Du hast gesagt: manchmal, wenn Gottes Gedanken in die Köpfe der Leute kommen, das könnte der Heilige Geist sein. 7 Vgl. Gerhard Büttner, Landkarten des Denkens. Argumentationsstrukturen beim Nachdenken über das Verhältnis zwischen göttlicher Führung und menschlicher Autonomie, in: ZDPE 25 (2003), 74–81. 8 Ausführlicher in: Büttner, Der Heilige Geist als „Gottes Gedanken“ (wie Anm. 6).

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VI. … andere Themen

Laura: Ja. I: Damit ist natürlich die wichtige Schlussfrage, gibt’s das heute noch? Laura: Also, ob das heute noch so ist, also ich denk’ … auch noch. Also bei mir war das so, ich wollte als Erstes zum Konfirmandenunterricht gar nicht hin. Ich wollte auch nicht in die Kirche, immer nur Weihnachten, wenn’s sein musste. Dann war ich erst ’mal im Konfirmandenunterricht und dann hat’s mir so Spaß gemacht. Jetzt macht’s mir auch Spaß, in die Kirche zu gehen, wenn ich’s schaffe. Also wenn ich jetzt um zehn vor zehn aufstehe und da höre ich schon die Kirchenglocken läuten, dann mich anziehen. Da sag’ ich lieber: nee, gehst’e nächste Woche, ist besser. Und aber das war wirklich so bei mir, ich wollte überhaupt nicht in die Kirche oder überall uäääääh, wenn ich Kirche schon gehört hab’, och lass uns irgendwo anders hingehen; aber als ich dann das erste Mal im Konfirmandenunterricht war, das hat mir so viel Spaß gemacht und die Lehrerin hat auch gesagt: „Ihr dürft selber entscheiden, ob ihr konfirmiert werden wollt oder nicht.“ Das ist eure Entscheidung und nicht die eurer Eltern. Meine Eltern haben gesagt: willst du’s machen oder nicht? Da habe ich gesagt. ich versuch’s – prompt ging’s. Jetzt macht es mir so viel Spaß, ich möchte am liebsten irgendwie immer jeden Sonntag in die Kirche gehen … I. Du meinst, da kann man wirklich sagen, das ist das Wirken des Heiligen Geistes? Laura: Also, das gibt es so oft bei Konfirmanden. Manche sagen auch – manche kann man eben halt nicht ‚rumkriegen‘. Ich glaub‘, das weiß der Heilige Geist auch, weil, es gibt auch Kinder, die sagen: ja gut, ich versuch’s mal und die woll’n das einfach nicht und dann machen sie’s auch nicht. Aber bei vielen klappt das eben halt, das Überreden. I: Ja, das wirkt schon. Das heißt, ich glaub’, du kannst jetzt ziemlich genau sagen, was der Heilige Geist für dich ist und wie er mit Gott zusammenhängt? Vielleicht kannst du’s nochmal abschließend sagen? Laura: Also, ich denk mal, das sind einfach eben halt Gottes Gedanken, die also, die hat er dann zusammen praktisch getrieben und daraus wurde dann eben halt Feuer, oder Luft, aber Luft kann man ja nicht so gut zeichnen. Und die jagt dann er immer für – höhöhö – durch die Gegend und will sich dann noch mehr Anhänger suchen. Also, dass die immer mehr auf die gute Seite kommen.

Fazit Wir sehen, dass Kinder durchaus ein Gespür für außergewöhnliche Situationen und Erfahrungen haben, die man durchaus im Sinne Rebecca Nyes als „Spiritualität“ werten kann. Wir sehen, dass die Deutung dieser Situationen mit dem Begriff 232

Der „Heilige Geist“ in der Vorstellungswelt der Kinder

des Heiligen Geistes zumindest tastend von einigen Schüler/innen vollzogen wird. Die hilfreiche Zuwendung in Situationen der Gefahr schreiben Kinder in der Regel Gott oder Jesus zu, vereinzelt auch Schutzengeln. Der hier nicht näher zitierte Denis sprach vom Heiligen Geist als „Schutzengel für Getaufte“. In der Regel differenzieren die Kinder nicht genau, wer nun diese „gute Macht“ ist, die ihnen in den großen und kleinen Nöten des Alltags beisteht. Vielleicht ist der anthropomorphe Engel in der Tat besser geeignet als die Taube, die dritte Person der Trinität – neben den beiden anderen, ebenfalls anthropomorph gedachten Personen – zu symbolisieren. Am spannendsten ist zweifellos die Überlegung der Kinder, wie Gottes Gedanken in uns Menschen Raum gewinnen können. Zumal Laura deutlich zu machen versteht, dass es sich – im Sinne des Nizänischen Glaubensbekenntnisses – bei diesen um lebendig machende handelt. Wir sehen, dass Lothar Kulds Hinweis auf die Vorstellung von Gott in unseren Gedanken sich nicht erschöpft, sondern dass die Gedankenmetapher durchaus auch hilfreich sein kann für innertrinitarische Spekulationen und für die Beziehung Gottes zu den Menschen.

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VI. … andere Themen

„Zwei Personen zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Stellen können nicht ein und dieselbe Person sein, das ist unmöglich“ – Annäherungen an das Thema Trinität im Unterrichtskontext

Kommt die Trinitätsthematik im Unterricht überhaupt vor? Blicken wir in eine 8. Gymnasialklasse. Das Unterrichtsgespräch kreist um das Beten Jesu. Die Lehrerin betont, dass Jesus seinen Vater mit denselben Worten bittet, die auch wir nachsprechen können. Damit ist für Nikolas das Stichwort gegeben1: Nikolas: Sie meinen das mit der Dreifaltigkeit. Wie kann Jesus dann zu Gott beten? Als so ’ne ganz kleine Frage zwischendurch. Was soll das nach Ihrer Meinung? L: Der Nikolas spricht wieder was an, was wir auch im Unterricht gehabt haben, dass wir ja eigentlich nur einen Gott haben. Und jetzt käme es für dich ja so raus, als wäre hier irgendjemand und der betet zu irgendjemand anderem. Nikolas: Und dann müssen das ja zwei sein. Sie haben gesagt, Jesus betet zu Gott und Gott verändert was. [Ich denke, wenn] Jesus, Gott und der Heilige Geist eine Person sind, also {L: Ein Wesen, ja.} [das ist] genau das Gleiche, dann kann er ja nicht zu sich selber beten. L: Aha. Fragen wir gleich. {Nikolas: Schwachsinnig!} Ah, dann frag’ mal hier! Uli, gib mal ’ne Antwort! Uli: Also, ich wollt’ nur mal sagen, also zu der Zeit war man halt einfach ’ne gespaltene Persönlichkeit. (Lachen der Mitschüler/innen) L: Ihr sprecht ’nen ganz wichtigen Aspekt an, was wir Christen natürlich irgendwie auf die Reihe bekommen müssen, dass wir diesen einen Gott so unterschiedlich wahrnehmen können. Dass eben Bekenntnis zu Jesus Christus vorkommt, Bekenntnis zum Heiligen Geist und Bekenntnis zu Gott, und der Nikolas hat’s schon gut wahrgenommen, dass viele gesagt haben, Jesus betet zu Gott, wo man schnell nachfragen könnte: Also, gibt’s zwei Götter. Oder wie hängt das irgendwie zusammen? Ist halt auch die Frage wahrscheinlich, wer Jesus ist. Wer ist Jesus? Das hängt ja ganz eng mit der Frage zusammen: Wer ist Jesus für euch? […] 1 Die Beiträge sind sprachlich geglättet.

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„Zwei Personen zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Stellen können nicht …“

Anne: Also, jemand, der mit Gott in Verbindung steht, also eher als die anderen sozusagen. [Der Gott] weitervermitteln soll, weil das Gott selber nicht macht. L: Mehr wie so’n Sprachrohr Gottes? Weil du eben gesagt hast, dass Gott selber es nicht macht. Anne: Na ja, Sprachrohr. [Er hat] schon seine eigene Bedeutung, aber so ähnlich. […] Uli: Ja, ich denk’, der hatte ’ne gewisse Ausstrahlung, ein gewisses Charisma. L: Aha. Ausstrahlung, Charisma. Ja. Nikolas: Und was sagen Sie? L: Für mich hat er ganz viel menschliche Eigenschaften und eben die Eigenschaften, die ich halt auch Gott zuschreibe, so was Vergebendes, Liebendes, FüreinanderDaseiendes, was man natürlich auch beim Menschen entdeckt. Nikolas: Sie sagen also Gott und Jesus und der Heilige Geist sind eine Person? L: Ein Wesen. Nikolas: Und wie kann das sein, wenn Jesus zu Gott betet? In der Bibel steht, dass er am Tag seiner Kreuzigung zu Gott gebetet hat. L: Ja, weil auf verschiedene Art und Weise sich Gott selber darstellt. Das ist richtig, was ihr erkennt. Das ist immer die große Schwierigkeit. Das sind aber Personen, nicht so wie der Rainer und ich, die so gegenüberstehen, sondern sind miteinander verbunden. Die Anne hat auch das schöne Bild gebracht. Nikolas: Zwei Personen zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Stellen {L: Das kann eben nur Gott.} können nicht ein und dieselbe Person sein, das ist unmöglich. Anne: So hinterher ist er ja, also nachdem er gestorben ist, ist er mit Gott eins geworden und nicht vorher. {L: Das ist theologisch.} Vorher war er sozusagen Sprachrohr und hinterher war er eins.

Die hier geschilderte Unterrichtsequenz zeigt uns zweierlei. Zum einen, dass es offensichtlich kaum möglich ist, wenigstens die Grundzüge dessen, was christliche Theologie mit dem Thema Trinität ausdrücken will, in den Kontext von theologischen Laien hinein zu vermitteln. Denn die Qualität der anderen Beiträge macht deutlich, dass die Diskutant/innen ein Verstehensniveau repräsentieren, das auch Oberstufenschüler/innen oder Studierende nicht selbstverständlich überbieten. Auf der anderen Seite wird deutlich, dass sich das Thema Trinität offensichtlich im Kontext der Christologie stellt. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass es auch didaktisch geraten sein könnte, hier den Ausgangspunkt zu dieser schwierigen Fragestellung zu suchen.

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VI. … andere Themen

Auf der Suche nach der „Logik der Trinität“ Folgt man der Darstellung einer durchaus renommierten Zusammenfassung lutherischer Theologie zu unserer Fragestellung, dann besteht wenig Hoffnung, Argumentationen zu finden, die über die Versuche der Lehrerin hinausgehen und die erwarten lassen, dass kritische Schüler/innen wie Nikolas eine Antwort finden, die sie überzeugen kann:2 „[Mit der Trinität] ist ein Satz ausgesagt, der der Vernunft gänzlich unbegreiflich ist: die darin enthaltene Lehre gehört daher zu denjenigen, die wir ein Mysterium nennen. Von diesem Mysterium gibt uns allein die Hl. Schrift Kunde: auf sie allein gründet sich also diese Lehre. Aber auch die Hl. Schrift enthüllt uns das Geheimnis nicht, sondern gibt uns vielmehr die Lehre als ein Geheimnis: und sie ist so sehr Geheimnis, dass wir hier auf Erden nie zu ihrer völlig richtigen Anschauung und Erfassung gelangen können, und höchstens durch Anschauungen, die aus dem Kreise menschlicher Erkenntnis genommen sind, uns derselben zu nähern vermögen. […] An jeden Einzelnen aber, der der Kirche angehören will, stellt sie [= die Kirche] dann die Forderung, dass er diese in der Hl. Schrift enthaltene Offenbarung gläubig hinnehme.“

Diese Aussage enthält einen doppelten Verweis. Den Ursprung der trinitarischen Vorstellung finden wir in den verschiedenen biblischen Äußerungen. Die Sache selbst muss uns notwendigerweise Geheimnis bleiben. Diesem gegenüber geziemt sich allein die Haltung der gläubigen Annahme. In der Begrifflichkeit von Gerhard Sauter3 können wir hier davon sprechen, dass der „Entdeckungszusammenhang“ der trinitarischen Vorstellung im Zusammenhang mit der Bibel und einem bestimmten Bibelverständnis herausgestellt wird. Der „Begründungszusammenhang“, i.d.F. die Wege der Ableitungen, „die für die klassische Theologie in der griechischen Metaphysik und Anthropologie bereitstanden“4, wird hingegen in diesem Text verweigert im Hinblick auf den Gedanken des Mysteriums. Soweit wir den Kontext von Vermittlung ins Auge fassen, können wir es nicht bei dieser Antwort bewenden lassen. Die von Sauter genannten beiden Zusammenhänge der Entdeckung und der Begründung bedürfen eines dritten, nämlich des der Rezeption bzw. des Verstehens. Es gehört zu den nicht hintergehbaren Erkenntnissen der Rezeptionsforschung, dass sich Inhalte im Rahmen der jeweiligen 2 Heinrich Schmid, Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Dargestellt und aus den Quellen belegt, hg. von H.G. Pohlmann, Gütersloh 121998, 96. 3 Gerhard Sauter, Die Begründung theologischer Aussagen – wissenschaftstheoretisch gesehen, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 15, 1971, 299–308. 4 Ebd. 307.

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„Zwei Personen zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Stellen können nicht …“

Aneignung5 nicht einfach verdoppeln, sondern sich nach spezifischen Logiken neu sortieren. Der oben skizzierte Verstehensversuch von Nikolas macht deutlich, dass die ihm zur Verfügung stehenden Schemata offensichtlich nicht in der Lage waren, die Interpretationsangebote der Lehrerin aufzunehmen. Ich konzentriere mich im Folgenden darauf – trotz des zitierten Schmid’schen Einwandes – einige Grundzüge des Begründungszusammenhanges der Trinitätsvorstellung zu skizzieren. Dem allgemeinen Wesen entsprechen nach den Regeln der griechischen Metaphysik bekanntlich verschiedene, unterscheidbare Erscheinungsweisen. „Das allgemeine Wesen könnte nur ‚irgendwo‘ schweben, gäbe es nicht einen festen Grund. Und eben diese Unterlage meint ursprünglich das griechische Wort ‚hypostasis‘: ‚das Darunterstellen‘.“6 Die verschiedenen Hypostasen von Gottes Wesen lassen sich verstehen als die Erscheinungsweisen Gottes. Dies klärt die Frage „Wie können wir von einem Gott reden, der sich menschlichen Personen zuwendet und somit in vielfältiger Weise gegenwärtig wird?“7 Die Tradition hat dabei drei Erscheinungsweisen festgehalten, in denen Gott sein „Gesicht“8 zeigt: als Vater, als Sohn und als Heiliger Geist. Dies führt in der verkürzten Zusammenfassung zu dem Paradox, dass 3 gleich 1 ist. Die Frage ist, ob wir die in diesem Konzept vorgetragenen Paradoxien so zu fassen bekommen, dass es möglich wird, von dort her Brücken zu möglichen Rezeptionslogiken zu schlagen. Helmut Reich9 hat plausibel machen können, dass eine spezifische Entwicklungsstufe des Denkvermögens, nämlich das „Denken in Komplementarität“, in der Lage sein könnte, die angesprochenen Paradoxien des Trinitätsbegriffes zu fassen:10 „Unter Denken in Komplementarität versteht man eine Denkhandlung, die besonders für die Erklärung solcher komplexer ‚Sachverhalte‘ bzw. ‚Systeme‘ (= Be 5 Vgl. dazu die Überlegungen zu einer „Hermeneutik der Aneignung“ in: Ulrich Becker / Christoph Th. Scheilke (Hg.), Aneignung und Vermittlung. Beiträge zu Theorie und Praxis einer religionspädagogischen Hermeneutik. Für Klaus Goßmann zum 65. Geburtstag, Gütersloh 1995. 6 Ernstpeter Maurer, Der lebendige Gott. Texte zur Trinitätslehre, Gütersloh 1999, 27. 7 Ebd., 28. 8 Ebd., 30 „Allerdings steckt in dem Wort ‚Person‘ [vom griech. prosopon bzw. lat. persona, mit dem die Erscheinungsweisen Gottes bezeichnet wurden] auch das Gesicht.“ 9 Helmut Reich, Kann Denken in Komplementarität die religiöse Entwicklung im Erwachsenenalter fördern? Überlegungen am Beispiel der Lehrformel von Chalkedon und weiterer theologischer ‚Paradoxe’, in: Michael Böhnke / K. Helmut Reich / Louis Ridez (Hg.), Erwachsen im Glauben. Beiträge zum Verhältnis von Entwicklungspsychologie und religiöser Erwachsenenbildung, Stuttgart u.a. 1992, 127–154. 10 Ebd., 131.

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zugsobjekte, Explananda) geeignet ist, die wegen ihrer funktionalen Konsistenz begrifflich als Einheit aufgefasst werden […], für deren Verstehen aber (noch) keine vereinheitlichten, durchweg analytische Verfahren oder (Natur-)Gesetze bekannt sind oder zumindest nicht bekannt waren, als die fragliche Einheit ‚entdeckt’ wurde. […] Besonders charakteristisch ist die Existenz verschiedener Seinsweisen, die je nach Umstand mehr oder weniger in Erscheinung treten.“

Ein solches Denken lässt sich begreifen als eine besondere Ausprägungsform der formalen Operation im Sinne Piagets.11 Es setzt die Überwindung der Vorstellung „einer kruden (materiellen) Kausalität“ voraus. „Paradoxale Darstellung oder eine Charakterisierung durch ‚jein’“ ist dann „nicht nur eine temporäre Verlegenheitslösung, sondern eine adäquate Beschreibung der Realität“. Das Erlernen einer solchen Logik setzt demnach „eine gewichtige Änderung der Weltanschauung voraus“.12 In Bezug auf das Thema Trinität hat Reich eine Befragung von 28 nicht repräsentativen, überdurchschnittlich gebildeten Probanden durchgeführt. Neun Personen bestritten die Möglichkeit einer rationalen Erklärung. 11 Personen gelang mit Schwierigkeiten eine Deutung des Trinitätsdogmas. 8 Probanden konnten ohne Schwierigkeiten eine Erklärung geben. Für die zweite Gruppe steht der 17-jährige Peter:13 „Also dieses Problem ist ja wieder etwas, was der Mensch nicht fassen kann. […] Also Gott der Vater, der Schöpfer, da stellen wir uns vor, was wir fühlen für unseren Vater – auf Gott projiziert. Dann der Sohn, der ist Vermittler, er ist uns viel näher. Er hat uns erlöst. Und dann der Heilige Geist, die Weisheit, die Liebe, eigentlich das Ideal des Menschen. Das ist eigentlich fast Gott, der das aufgestückelt hat für uns. […] Je nach Problem wenden wir uns immer an eine andere ‚Person’ in Anführungszeichen [sic] Das ist einfach eine Hilfe für uns.“

Die Logik des Begründungszusammenhangs und die Logiken der Rezeption Wenn Helmut Reich zeigen kann, dass es durchaus erwachsene Menschen gibt, die imstande sind, komplizierte Theologumena wie die Lehre von der Trinität gedank11 Karl Ernst Nipkow, Religiöse Denkformen in Glaubenskrisen und kirchlichen Konflikten. Zur Bedeutung postformaler dialektisch-paradoxaler und komplementärer Denkstrukturen, in: Religionspädagogische Beiträge 21, 1988, 95–114. 12 Helmut Reich (wie Anm. 9), 139. 13 Ebd., 146.

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„Zwei Personen zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Stellen können nicht …“

lich nachzuvollziehen, dann bedeutet das, dass für einen begrenzten Personenkreis der Begründungszusammenhang dieses Gedankens weitgehend einschränkungslos sich wiederfinden lässt in deren Rezeption. Auf der anderen Seite stehen wir vor dem Problem, dass dem Großteil möglicher Rezipienten ein Verständnis von Trinität demnach verschlossen bleiben müsste. Wollen wir dies nicht einfach hinnehmen, dann bedarf es der Überlegung in Richtung auf beide hier angesprochenen Logiken. Auf der Ebene der Rezipienten sind die Denkschemata zu beachten, in die hinein die Inhalte assimiliert werden. Die Logik der Begründung ist im Hinblick auf ihre mögliche Elementarisierung hin zu untersuchen. Fritz Oser und Helmut Reich haben versucht, Denkformen zu finden, die dem komplementären Denken gleichsam vorausgehen.14 An einfachen Beispielen wie dem, ob es zum guten Klavierspieler nur des Talents oder nur der Übung bedürfe, ermittelten sie vier Stufen. Anfangs stehen die beiden Qualifikationen noch getrennt für sich als Entweder-Oder und entwickeln sich dann hin zu einem notwendigerweise aufeinander bezogenen Miteinander. Beziehen wir diese Stufenfolge auf das Thema Trinität, dann bedeutet es, dass Kinder zwar die Zusammengehörigkeit der drei „Personen“ ab einem gewissen Alter realisieren können. Die damit gesetzte Paradoxie wird dabei aber wohl ausgeblendet. Aus der Psychologie wissen wir, dass es durchaus erfolgreiche Untersuchungen zur Begriffsentwicklung gibt. D.h., dass es möglich ist, über die Kenntnis der generellen Strukturen hinaus präzise Aussagen zu einem bestimmten Gegenstandsbereich, in unserem Falle etwa der Trinität, zu machen.15 So hat Annette Claar in einer strukturell der unseren verwandten Fragestellung untersucht, wie Kinder bzw. Jugendliche die für sie zunächst getrennten Funktionen einer Bank als notwendigerweise aufeinander bezogen wahrnehmen. So verstehen etwa 10–11-jährige Kinder in ihrer Mehrheit 14 Fritz Oser / K. Helmut Reich, Wie Kinder und Jugendliche gegensätzliche Erklärungen miteinander vereinbaren, in: Gerhard Büttner / Veit-Jakobus Dieterich (Hg.), Die religiöse Entwicklung des Menschen, Stuttgart 2000, 216–225, 217f. 15 Annette Claar, Detailanalyse der Begriffskonstitution. Die Integration von Teilbegriffen am Beispiel der Bank, in: Wolfgang Edelstein / Siegfried Hoppe-Graff (Hg.), Die Konstruktion kognitiver Strukturen. Perspektiven einer konstruktivistischen Entwicklungspsychologie, Bern u.a. 1993, 156–177 schreibt (156) dazu: „Solche Studien zu einzelnen Begriffssystemen sind zunächst einmal aus einer inhaltlichen Perspektive aufschlussreich, indem sie mehr oder weniger genaue Informationen über die Vorstellungen und Annahmen liefern, die Kinder und Jugendliche von den jeweils untersuchten Sachverhalten haben. Zusammengenommen ermöglichen diese Studien einen instruktiven Einblick in das Weltbild des Kindes und in die ständigen und beträchtlichen Veränderungen, denen dieses Weltbild im Laufe der Entwicklung unterliegt. […] Darüber hinaus bietet die genaue Rekonstruktion der Entwicklung einzelner Begriffssysteme aber auch die Möglichkeit, am konkreten Beispiel der entwicklungspsychologisch zentralen Frage nachzugehen, auf welche Weise die Transformation eines früheren Begriffs in einen elaborierteren Begriff erfolgt.“

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VI. … andere Themen

noch nicht, dass Sparen, Kreditvergabe und das Einkommen der Bank(mitarbeiter) durch das Zinswesen bzw. die Zinsdifferenz in unserem Finanzsystem zwingend aufeinander bezogen sind. Dies ist aber fast allen Jugendlichen ab 15 Jahren klar.16 Für die theologische Fragestellung könnte daraus der Schluss gezogen werden, dass es auch im Bereich des trinitarischen Gedankens sinnvoll sein könnte, in einem ersten Schritt die einzelnen Personen der Trinität unterrichtlich ins Auge zu fassen. Dabei käme es dann aber darauf an, die trinitarische Perspektive so mit zu beachten, dass propädeutisch ein späterer Anschluss eher gefördert als verhindert wird. Dies beinhaltet, wie unten zu zeigen sein wird, z.B. eine entsprechende Christologie. Aus den bisherigen Studien wird man zudem die Tendenz der Kinder in Rechnung stellen müssen, familiale Muster als bestimmende Interpretationsmatrix heranzuziehen.17 Trinität könnte deshalb, sofern sie als Zusammengehörigkeit von Verschiedenen verstanden wird, durchaus im Sinne einer wie auch immer gearteten „göttlichen Familie“ erscheinen. Mangels empirischer Studien zum Rezeptionsgeschehen möchte ich im Folgenden darüber nachdenken, in welcher Weise elementarisierende „Vorformen“ zu einer elaborierten Trinitätsvorstellung gefunden werden können. Dies müsste auf der Ebene des Begründungszusammenhangs erfolgen in der Hoffnung, dass auf den vereinfachteren Niveaus das Verstehen leichter vonstattengehen könnte.

Drei Modelle zum Verständnis der Trinität Betrachtet man die Logik des Begründungszusammenhangs von Trinität und sucht dann nach immanenten Tendenzen zur Elementarisierung, dann deuten sich drei Richtungen an: die Verbildlichung, die Tendenz zur Menschengestaltigkeit und die Reduktion auf die Binität von Gott-Vater und Jesus Christus. Die erste der genannten Optionen fällt einem im wahrsten Sinne des Wortes ins Auge. Seit dem frühen Mittelalter hat sich dabei ein Bildtypus herausgebildet, auf dem neben dem gekreuzigten Christus Gott-Vater zu sehen ist und dazu die Taube als Symbol des Heiligen Geistes. 16 Ebd., 135. 17 Friedrich Schweitzer u.a., Religionspädagogik und Entwicklungspsychologie, Gütersloh 1995, 15f. In eigenen Untersuchungen konnte ich diese Tendenz auch als Interpretament des Passionsgeschehens beobachten. Anke Blümm / Gerhard Büttner, „… es ist Gott vielleicht nicht leichtgefallen, seinen einzigen Sohn zu opfern“, in: entwurf 1/98, 35–37, hier 35 und Gerhard Büttner, „Erlöst durch Christi Blut?“ Die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu in der Sicht von Schüler/innen der 6.Klasse, in: Christoph Gramzow / Heide Liebold / Martin Sander-Gaiser (Hg.), Lernen wäre eine schöne Alternative. Religionsunterricht in theologischer und erziehungswissenschaftlicher Verantwortung, Leipzig 2008, 195–208.

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„Zwei Personen zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Stellen können nicht …“

Seit dem 19. Jahrhundert hat sich hierfür im Deutschen der Begriff des „Gnadenstuhls“ etabliert.18 Der Begriff leitet sich von Luthers Übersetzung von hilasterion Hebr 4,16 her.19 Ausgangspunkt dieses Bildtypus ist das Kreuzigungsbild. „Als man am Ende des 11. Jh. in mannigfacher Weise nach bildlichen Formulierungen für das Geheimnis der Trinität suchte, […] entstand […] ein neuer Bildtyp, der die Trinität mit dem Opfertod zum Bild des Gnadenstuhls verknüpfte.“20 Wichtig ist dabei die Bedeutung des Sühneopfers Christi und der Kontext mit der Eucharistie. Für heutige Betrachter/innen könnte dies ein Hinweis darauf sein, weniger den scheinbaren statischen Charakter der Darstellung zu betonen, als vielmehr das Bild narrativ anzugehen. Wenn das Christusgeschehen als Mittelpunkt des Bildes erscheint, dann könnte deutlich werden, dass es sich bei der Trinität um das lebendige Geschehen in Gott zugunsten der Menschen handelt. Konsequenterweise hat der Maler Konrad Witz das Gnadenstuhlmotiv verknüpft mit der Begegnung von Maria und Elisabeth mit den beiden ungeborenen Kindern im Bauch. Auch hier verweist der Titel „Ratschluss der Erlösung“ darauf hin, dass im Zentrum des Trinitätskonzeptes das Christusgeschehen steht. Mit dem Bild des Gnadenstuhls gewinnen wir also eine doppelte Elementarisierung. Einmal wird das Trinitätskonzept anschaulich. Doch impliziert dies natürlich auch viele Missverständnisse bis hin zu dem Märchen „Marienkind“, in dem die Trinität hinter einer (Himmels)-Tür verschlossen ist.21 Der unerlaubte Besuch und die Berührung führen dann zu einem goldenen Finger bei dem neugierigen Kind. Einer solch handfesten Konkretisierung ist am besten dadurch zu begegnen, dass das Gnadenbild zum Erzählanlass genommen wird.22 Dann werden die abgebildeten Figuren lebendig und können so auch etwas vom dynamischen Charakter der Trinität widerspiegeln. Das zweite strukturelle Argument macht sich fest am Anthropomorphismus. Kernstück und Anlass trinitarischen Denkens bildet die Christologie, wie auch am Beispiel des Gnadenstuhls gezeigt werden konnte. Die anthropomorphe Darstellung Jesu Christi ist bereits im frühen Christentum bezeugt, und von bilderstürmerischen Episoden abgesehen, nicht problematisch. Aus den Untersuchungen zum Gottesbild ist andererseits zu entnehmen, dass auch dieses zumindest bei Kindern in der Regel menschengestaltig ist.23 Anton Bucher macht in Bezug auf 18 Gertrud Schiller, Ikonographie der christlichen Kunst, Bd. 2, Gütersloh ²1983, 133. 19 Ebd., 135. 20 Ebd., 133f. 21 Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Darmstadt 1955, KHM 3. 22 Dies ist auch der Tenor des Beitrages von Hartmut Rupp, Die Geschichte vom dreieinigen Gott. Für ReferendarInnen erzählt, in: Glaube und Lernen, 17. Jg. (2002), 81–94. 23 Anton A. Bucher, Alter Gott zu neuen Kindern? Neuer Gott von alten Kindern? Was sich 343 Kinder unter Gott vorstellen, in: Vreni Merz (Hg.), Alter Gott für neue Kinder, Freiburg/CH, 79–100, hier 83 sieht einen Rückgang der anthropomorphen Gottesbilder von 100% auf 70%;

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die Gottesdarstellungen der Kinder einige für unsere Fragestellung bedeutsame Beobachtungen:24 „Nicht wenige Gottesbilder ähneln der Gestalt Jesu, wie sie üblicherweise in Bibel­ illustrationen begegnet. 9% der Kinder zeichneten auf die Bitte, zu malen, was sie sich unter ‚Gott‘ vorstellen, sogar Jesus selber. […] Gelegentlich wurden auch ‚Gott‘ und Jesus zusammen gezeichnet. […] Auf der rechten Seite sitzt, ein rosa Gewand tragend, ‚Gott‘, die Erdkugel auf seinen Knien, ihm gegenüber und auf gleicher Höhe – d.h. nicht untergeordnet – Jesus im grünen Gewand. Ihre Gesichter schauen sich an. So gut wie gar nicht begegnet der Heilige Geist. Er scheint ein Stiefkind der religiösen Unterweisung zu sein. Jedenfalls bietet er sich nicht in dem Maße für vertraulich anthropomorphe Vorstellungen an wie ‚Gott‘. Hingegen erscheinen auf den Bildern gelegentlich Engel, allesamt mit Flügeln.“

Betrachtet man Buchers Äußerungen genauer, dann erinnert man sich an Maurers Hinweis auf das uns in den trinitarischen Personen zugewandte Gesicht Gottes. D.h., dass der Anthropomorphismus sein – wenn auch begrenztes – Recht hat und die Kinder damit etwas Richtiges zum Ausdruck bringen, wenn sie Gott-Vater und Jesus Christus in einen – menschlich interpretierten – Kommunikationszusammenhang bringen. Damit bewegen sie sich ganz gewiss auf einer „trinitarischen Spur“. Als Kernproblem erweist sich damit, wie auch Bucher vermerkt, der Heilige Geist. Hier zeigt bereits der Gnadenstuhl mit der Taube ein tiergestaltiges Symbol,25 das sich deutlich unterscheidet von der menschengestaltigen Dyade von Vater und Sohn. Da die geläufigste Symbolik zum Heiligen Geist (Atem, Windstoß, Feuer) gerade die Unsichtbarkeit Gottes hervorheben will,26 fällt es schwer, über die Taube hinausreichende Vorschläge zu machen. Die berühmte Dreifaltigkeitsikone von Andrej Rublev, die die drei göttlichen Gestalten aus Gen 18 zum Gegenstand hat, bildet drei Engelswesen ab.27 Karl Barth lässt am Ende seiner Ausführungen zur Angelogie den Gedanken aufscheinen, dass sich der Heilige Geist im Tun der Engel manifestieren könne:28 Helmut Hanisch, Die zeichnerische Entwicklung des Gottesbildes bei Kindern und Jugendlichen, Stuttgart/Leipzig 1996 berichtet (213) von einem Rückgang von über 90% bei den 7-Jährigen hin zu 20% bei den religiösen und 75% bei den nicht-religiösen 16-Jährigen. 24 Bucher (wie Anm. 23), 87. 25 Dabei Bezug nehmend auf die Taufe Jesu Mk 1,10par., wo davon die Rede ist, dass der Geist „wie eine Taube“ auf Jesus herabfuhr. 26 Jürgen Werbick, Bilder sind Wege, München 1992, 263. 27 Was durchaus als problematisch empfunden wurde und z.B. im 17. Jahrhundert zum päpstlichen Verbot dieser Darstellungsart führte; vgl. Jürgen Werbick (wie Anm. 26), 280. 28 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik III, 3 § 50–51, Zürich 1992, 605 (StA 18).

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Es stellt sich „das Problem des Geheimnisses der Gegenwart, des Redens und Tun Gottes in unserem Bereich und also im unteren Kosmos. […] Wo er das tut, da tut er es immer und überall durch den Dienst der Engel: so gewiss er es durch seinen Heiligen Geist tut und so gewiss das Werk seines Heiligen Geistes darin besteht, dass er uns zu Teilnehmern an jener Bundesgeschichte […] der Patriarchen und Propheten, der Apostel und Evangelisten macht.“

Aus dem Gesagten sollte nun nicht der Schluss gezogen werden, die problematische Taube gegen die anthropomorphen Engel auszutauschen, um damit eine menschengestaltige Trias im Sinne der Rublev’schen Ikone zu erhalten. Doch scheint mir der umgekehrte Weg legitimierbar. Sofern im entsprechenden Kontext, z.B. auf Schülerbildern, Engelsgestalten auftauchen, so ist durchaus danach zu fragen, ob in ihnen die Geist-Dimension der Trinität sichtbar werden kann. Den wahrscheinlich produktivsten Weg zum Verständnis des Heiligen Geistes in trinitarischer Perspektive weist eine Notiz Robert Schusters. Dieser hat in Bezug auf Äußerungen Jugendlicher zu Jesus Christus vermerkt, diese drückten in bekenntnishaften Formulierungen aus, dass sie von diesem eine Vergebung ihrer Schuld erwarten. Im Anschluss an Formulierungen Luthers zum dritten Glaubensartikel deutet Schuster die Statements der Schüler/innen so:29 „Was Jesus für uns getan hat, wird uns in der Gegenwart zugeteilt. Die Jugendlichen sprechen nicht ausdrücklich vom Heiligen Geist. Eigentlich ist es Jesus selbst, der für uns dasein und wirken muss.“

Demnach wäre die gesuchte menschengestaltige dritte Person der Trinität der Christus Präsens, wie er hier und heute als wirkmächtig erlebt wird. Auch diese Formulierung kann keinesfalls exklusiv gelten, kann uns aber den Anstoß geben für einen weiteren Elementarisierungsversuch, diesmal zentriert auf die Person Jesu Christi. In meinen eigenen Untersuchungen zur Christologie der Kinder und Jugendlichen bin ich auf folgende Beobachtungen gestoßen.30 Auffällig ist bei Kindern bis in die Anfangsklassen der Grundschule hinein die Tendenz, Gott und Jesus zu „verwechseln“, d.h. in Gebrauch zu „springen“ oder sich zu versprechen. Daraus 29 Robert Schuster, Jesus in schriftlichen Äußerungen Jugendlicher, in: Gerhard Büttner / Jörg Thierfelder (Hg.), Trug Jesus Sandalen? Kinder und Jugendliche sehen Jesus Christus, Göttingen 2001, 140–184, 176. 30 Gerhard Büttner, Jesus hilft! Untersuchungen zur Christologie von Schülerinnen und Schülern, Stuttgart 2002; zusammenfassend Gerhard Büttner / Jörg Thierfelder, Die Christologie der Kinder und Jugendlichen, in: dies. (wie Anm. 29), 7–26.

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lässt sich die Vermutung ableiten, dass diese „numinosen Gestalten“ für das Kind anfänglich nahe beieinander liegen und sich erst im Laufe der Grundschulzeit sicher differenzieren.31 Ein markantes Merkmal der allermeisten Schülerantworten zu einer Dilemmageschichte im Anschluss an eine Sturmszene auf dem See Genezareth war dabei das Gebet Jesu. Diese Interpretation war gewiss auf Grund der Fragestellung der Untersuchung in ihrer Anlehnung an eine Wundergeschichte nicht völlig überraschend. Für die Schüler/innen hatte das Gebet Jesu dabei mehrere Funktionen. Es konnte der eigenen Gebetspraxis nachempfunden sein oder aber, in der Tendenz eher häufiger, verstanden werden als spezifischer Kommunikationsmodus zweier göttlicher Personen. Für manche Schüler/innen ergab sich aus dieser Konstellation die glückliche Möglichkeit, schwierige Fragen auf den Begriff zu bringen, z.B.: Warum hilft Jesus oft, aber nicht immer? Für einige Schüler/innen ergab sich die Antwort daraus, dass Gott-Vater in seiner Allmacht die Möglichkeit hat, jederzeit einzugreifen und auch Jesus zu ermächtigen, dies ebenfalls zu tun. Doch er tut es eben – aus welchen Gründen auch immer – nicht in jedem Fall. Jesus Christus dagegen erscheint als der Anwalt der Menschen. Er würde „immer helfen“, wird jedoch – so die Konsequenz der Schüler/innen – dazu nicht immer ermächtigt. Auf diese Art und Weise finden schwierige Probleme wie die Theodizee oder die Thematik von Allmacht und Solidarität, Ferne und Nähe etc. eine theologisch durchaus interessante, zumindest vorläufige „Lösung“. Es ist klar, dass in einer solchen Konstellation der Kommunikation der beiden göttlichen Personen eine zentrale Rolle zukommt.32 Für die Schüler/innen dürfte sich dieses Geschehen bis weit in die Sekundarstufe hinein durchaus so konkret darstellen, wie es etwa Generationen von Malern als „sacra conversatione“ in Bilder gefasst haben.33 Erstaunlich war die Dominanz dieser Vorstellung der Kommunikation Jesu Christi mit seinem himmlischen Vater deshalb, weil zumindest in der synoptischen Tradition eigentlich nur in einer Wundergeschichte diese Thematik auftaucht, nämlich in der markinischen Sondergut-Stelle Mk 7,31–37. Vor der 31 Diese Aussagen gelten auf der Basis der Voraussetzung, dass das Kind im Laufe seines Heranwachsens die Chance hatte, in angemessener Weise den hier angesprochenen „göttlichen Personen“ zu begegnen. Helmut Hanisch verweist mit Recht darauf, dass dies nicht selbstverständlich ist. Helmut Hanisch, Kinder als Philosophen und Theologen, in: Glaube und Lernen, 1/2001, 4–16, 12f. 32 Man wird nicht ganz falsch gehen, wenn man in dieser spezifischen „göttlichen Kommunikationsweise“ eine Konkretisierung auch von Fragestellungen sieht, die dogmengeschichtlich eher in der Frage des Verhältnisses der beiden Naturen Jesu Christi zueinander abgehandelt werden (communicatio ideomatum). 33 In der Kunstgeschichte versteht man darunter Bilder, in denen die Muttergottes im Gespräch mit Heiligen dargestellt wird. Mir gefällt die in Bild und Begriff mitschwingende Atmosphäre der vertrauten, fast familialen Kommunikation. Sie entspricht wohl durchaus dem, was sich Schüler/innen in diesem Zusammenhang vorstellen.

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„Zwei Personen zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Stellen können nicht …“

Heilung des Taubstummen blickt hier (V. 34a) Jesus zum Himmel auf. In der Regel wird der von mir betonte Aspekt von den Exegeten eher weniger beachtet. So sieht etwa Theißen in der Geste des Aufschauens und Seufzens Jesu nur eins von vielen Motiven, die für Wundertäter typisch sind.34 Religionspädagogisch stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob man im Sinne Theißens den Akzent auf einen Aspekt aus dem Leben des „historischen Jesus“ setzen35 und damit die Konnotationen der Schüler/innen zu dieser Gebetskonstellation eher kritisch begleiten soll. Oder man nimmt die Chance wahr, in diesem Geschehen zwischen Jesus Christus und Gott-Vater zumindest einen Teilaspekt dessen zu erblicken, was theologisch mit dem Begriff der Trinität gemeint ist. Mir scheint dieser letztere Weg der religionspädagogisch fruchtbarere zu sein, wenn man an so etwas wie einer trinitarischen Perspektive interessiert ist. Es wird unmittelbar einleuchten, dass eine unterrichtliche Fixierung des „historischen Jesus“ jeglichen Ansatzpunkt für ein trinitarisches Denken unmöglich macht. Das hier skizzierte Szenarium mag durchaus Missverständnisse provozieren, z.B. eine zu starke Betonung von Jesu göttlicher Natur. Gleichwohl ermöglicht ein Vorgehen in dieser Richtung, dass von der zweiten Hälfte der Grundschulzeit an Vorstellungen in der Diskussion gehalten werden, die dann mit erweitertem Denkvermögen durchaus einen adäquaten Zugang zum trinitarischen Denken möglich machen können. Dabei bleibt für mich – wie oben vermerkt – vor allem die Einbeziehung des Heiligen Geistes in dieses Konstrukt ein Desiderat. Die hier angedeuteten Wege bedürfen der weiteren Bearbeitung in konzeptioneller wie auch empirischer Hinsicht.

34 Gerd Theißen, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, Gütersloh 61990, 74. 35 Im Sinne der zahlreichen Plädoyers für den „historischen Jesus“ möglichst schon in der Grundschule; als jüngste Äußerung in dieser Richtung vgl. Folkert Rickers, Art. „Jesus von Nazareth“, in: Norbert Mette / ders. (Hg.), Lexikon der Religionspädagogik, Bd. 1, Neukirchen-Vluyn 2001, Sp. 902–909.

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Mit Kindern und Jugendlichen über den Himmel sprechen

Himmel – ein alltägliches Dilemma Vor bald zehn Jahren machte die damals noch existierende Zeitung „Die Woche“ mit der Schlagzeile auf: „Gibt es das ewige Leben?“. Der Untertitel lautete „Zwei Jahrtausende hofften die Menschen auf Erlösung im Jenseits. Jetzt streiten Theologen über die ‚Existenz‘ des Himmels – der Mythos zerbricht.“1 Ich hatte damals die Zeitung aufbewahrt, weil ich es als nicht untypisch fand, dass sich eine säkulare Publikation mit der Frage nach dem „Himmel“ auseinandersetzt und dazu die Leute befragt hat, wohingegen das Thema im theologischen und religionspädagogischen Raum eher gemieden wurde.2 Etwas verkürzt gesprochen – stehen wir vor einer Ausgangssituation, in der das Thema „Himmel“ bei der Bevölkerung nach wie vor Interesse erheischt, das sich durchaus auf die Kirchen richtet, denen hier Kompetenz zugetraut wird, wohingegen diese sich eher schwer tun mit dieser Erwartung, weil ihnen die Rolle des Jenseitsexperten nicht so recht gefällt.

Wo wohnt Gott? Diese Situation zeigt sich nun besonders deutlich im Bereich der religiösen Erziehung. Für Kinder ist der Himmel zunächst einmal nicht kompliziert. Er ist oben, und sky und heaven fallen noch weitgehend zusammen. Anton A. Bucher skizziert diese Vorstellung als „archaisches Weltbild“: „Der Himmel ist […] das zweite Stockwerk des Weltganzen. Manchmal sind es die Wolken, die seinen Boden bilden, manchmal durchsichtige Schalen, manchmal aber auch […] Steine“.3 Es lässt sich leicht nachvollziehen, dass eine solche Vorstellung – Piaget würde hier von Egozentrismus sprechen – eine Übertragung der Hauserfahrung auf die größere Welt darstellt: der Keller als Unterwelt oder Hölle, das Erdgeschoss die Erde und ein Stock darüber, wo Gott, manchmal zusammen mit Jesus, manchmal zusammen mit seiner Frau, 1 Martin Berger, Gibt es das ewige Leben?, in: Die Woche Nr. 15, 1998, 1. 2 Immerhin gibt es ein Themenheft der Katechetischen Blätter 124, 1999, 222ff. 3 Anton A. Bucher, Das Weltbild des Kindes, in: Gerhard Büttner / Veit-Jakobus Dieterich (Hg.), Die religiöse Entwicklung des Menschen, Stuttgart 2000, 199–215, hier 201.

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Mit Kindern und Jugendlichen über den Himmel sprechen

wohnt.4 Solch eine Vorstellung ist anschlussfähig an biblische Erzählungen wie die von Jesu Himmelfahrt: „Die Perikope von Christi Himmelfahrt wird vom Kinde meist noch ganz realistisch dargestellt; Jesus habe sich vom Erdboden abgehoben und sei in den Himmel hinaufgeschwebt, auf dem er nun umherlaufen könne, von wo er übrigens auch auf die Erde herabblickte, nicht selten deshalb, um die Menschen zu beobachten und sie nach Verfehlungen zu bestrafen.“5 Eine Vorstellung, wie sie hier skizziert wird, stellt sich natürlich im Rahmen der religiösen Erziehung durchaus ambivalent dar. Einerseits sind vielen Eltern und Erzieher/innen solche Gedanken so fremd nicht, denn die landläufigen Vorstellungen von Himmel und Hölle, an die etwa viele Witze, aber auch die Werbebotschaften anknüpfen, bewegen sich ja durchaus auch auf diesem Niveau. Auf der anderen Seite werden solche Vorstellungen von Erwachsenen eher augenzwinkernd gebraucht, denn ihr Ungenügen angesichts des modernen Denkens ist allzu deutlich. Die – berechtigte – Hoffnung auf theologische Hilfe wird allerdings meistens enttäuscht. Es käme wohl kaum einem systematischen Theologen in den Sinn, die Gottesthematik im Kontext der Frage zu behandeln, wo denn „Gott wohnt“. Sofern ein solcher die Metapher des „Wohnens“ überhaupt gebrauchte, dann gewiss in keiner Weise, die unmittelbar anschlussfähig an kindliche Bilder wäre, wie sie oben angesprochen wurden. In einer solchen Situation ist es gewiss verdienstvoll, wenn eine renommierte Kinderbuchautorin sich an diesem Thema versucht. Regine Schindler schildert in ihrem Kinderbuch „Benjamin sucht den lieben Gott!“6, wie der kleine Benjamin, bei seinem Versuch, Gott zu sehen, immer höher steigt: auf den Baum, auf den Berg, auf die Wolken. Aber überall erhält er die Antwort, dass man Gott nicht gesehen habe, aber wisse, dass er alles gemacht hat. Schließlich landet er im Vorgarten des eigenen Hauses. Im Gespräch mit den Eltern erfährt Benjamin: „Gott wohnt nicht irgendwo da oben, weit von dir und mir. Er wohnt auch bei dir und bei mir. Bei allen Menschen! […] Er macht, dass wir uns lieb haben. Er hat uns alle lieb.“

Schindlers Argumentation ist theologisch korrekt. Doch muss man fragen, ob dieses „Leerräumen des Himmels“ kindgemäß ist. Ich möchte drei Einwände formulieren. Die erste Vermutung geht dahin, dass Frau Schindler wohl doch zu wenig die kognitive Entwicklung von Kindern und 4 Heinrich Siegenthaler, Die Entwicklung des Gottesbildes bei Kindern und Jugendlichen, in: entwurf 3/1980, 3–10; Anton A. Bucher, Alter Gott zu neuen Kindern? Neuer Gott von alten Kindern?, in: Vreni Merz (Hg.), Alter Gott für neue Kinder?, Freiburg/CH, 79–100. 5 Anton A. Bucher, Das Weltbild des Kindes (wie Anm. 3), 203. 6 Regine Schindler, Benjamin sucht den lieben Gott, Lahr 101995, 20.

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Jugendlichen bei ihrem Versuch bedacht hat. Dies gilt zweitens auch und ganz besonders für das anthropomorphe Gottesbild, bei dem sich die theologischen Denkfiguren z.T. doch sehr weit von den intuitiven kognitiven Annahmen der Menschen entfernt haben. Dies ist drittens zu bedenken im Hinblick auf die z.T. doch höchst fragwürdigen Alternativen. Die Entwicklung der Himmelsvorstellung Reto Luzius Fetz hat der Entwicklung der Himmelsymbolik eine eigene Studie gewidmet.7 Er geht aus von der universellen Oben-unten-Unterscheidung zur Codierung von Immanenz-Transzendenz. Dieser Auffassung steht das moderne Weltbild gegenüber, das im Hinblick auf die Stellung der Welt im Kosmos keine Ortsvorstellungen mehr zulässt. Die historische Entwicklung von einem „archaischen“ Weltbild hin zu einem „modernen“ sieht Fetz widergespiegelt in den individuellen Entwicklungsprozessen des einzelnen Kindes zumindest in den Kulturen der westlichen Moderne. Dabei werden drei Stufen unterschieden: „Die erste Entwicklungsstufe hebt sich von den folgenden durch das Fehlen wissenschaftlicher Weltvorstellungen ab – das Kind dieser Stufe weiß noch nichts von der Kugelgestalt der Erde. […] Erstaunlich ist […], wie lange es braucht, bis der Heranwachsende die religiöse Symbolwelt und die wissenschaftliche Weltvorstellung als unterschiedliche Bedeutungssysteme auseinanderhält. Solange deren Eigenstatus und Eigenbedeutung nicht erkannt und beide Vorstellungswelten miteinander vermengt werden, kann von einem ‚hybriden‘ Stadium gesprochen werden. Eine Abschlussstufe der Entwicklung wird dann erreicht, wenn der Heranwachsende die Eigenleistung religiöser symbolischer Erkenntnis zu erfassen und von den andersgesetzlichen Leistungen naturwissenschaftlicher Erkenntnis abzuheben vermag.“8

Demnach ist für Kinder zunächst ein Modell, in dem heaven und sky noch unproblematisch zusammenfallen, offenbar „kindgemäß“. Ja, diese zeigen sich sogar als recht findig, wenn es gilt, neue Phänomene der naturwissenschaftlich-technischen Welt in dieses Vorstellungsmodell zu integrieren. Fetz weist allerdings auf die Schwierigkeiten hin, dann im Jugendalter ein eigenständiges Himmelsbild – jetzt ohne die Stütze der intuitiven Oben-unten-Unterscheidung – zu entwickeln. Hilfreich ist es, wenn zu dieser grundlegenden Unterscheidung noch andere Konnotationen hinzutreten. „Dass Gott ‚im Himmel‘ ist, symbolisiert seine Erhaben 7 Reto Luzius Fetz, Die Entwicklung der Himmelssymbolik, in: Jahrbuch der Religionspädagogik 2, Neukirchen-Vluyn 1985, 206–214. 8 Ebd., 208.

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Mit Kindern und Jugendlichen über den Himmel sprechen

heit, Mächtigkeit, Andersheit …, die ‚Himmelfahrt‘ Christi symbolisiert seinen Eingang in ein göttliches Leben.“9 Fehlen solche assoziativen Erweiterungen der Himmelsvorstellung, dann bleibt der Bedeutungsgehalt von Himmel für die dann Heranwachsenden „sehr arm“.10 Wenn das Kind etwa ab zehn Jahren erkennt, dass die Aussage „Gott im Himmel“ nicht wortwörtlich zu verstehen ist, sondern „symbolisch“, dann kommt es eben darauf an, dass dieses „Symbol“ auch gefüllt werden kann. Dafür ist einerseits der Rückgriff auf materielle Füllungen aus der Bilderwelt der Kindheit notwendig, gleichzeitig aber auch auf die Fähigkeit, diese Bilder zu „verflüssigen“, um sie sich jetzt neu anzueignen, jetzt in ihrer metaphorischen Qualität. Plädoyer für den Anthropomorphismus Der Gedanke an einen Himmel, in dem Gott im buchstäblichen Sinne „wohnt“, ist natürlich unmittelbar verknüpft mit einem anthropomorphen Gottesbild. Die Kritik an konkreten Himmelsvorstellungen hat deshalb ihr Pendant in entsprechenden Anthropomorphismen. Helmut Hanisch hat einsichtig machen können, dass die Ablösung eines kindlichen anthropomorphen Gottesbildes durch ein stärker symbolisches in der Adoleszenzphase geschieht.11 Nun machen neuere kognitionspsychologische Studien darauf aufmerksam, dass sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen tendenziell zwei Konzeptualisierungen Gottes (bzw. des Religiösen) zu beobachten sind. Eine konkrete eher anthropomorphe Sicht koexistiert mit einer abstrakten, eher im Sinne einer „theological correctness“. Beide Sichtweisen werden eher situativ abgerufen.12 Für den Himmel bedeutet dies, dass die von Fetz angesprochene Symbolisierung des Himmels neben elaborierten Formen zum Ausdruck von Heiligkeit, Andersheit etc. nach wie vor Grunderfahrungen des Oben-Unten13 treten, aber auch Bilder etwa vom Thron Gottes oder von einem 9 Ebd., 210. 10 Ebd., 213. 11 Helmut Hanisch, Die zeichnerische Entwicklung des Gottesbildes bei Kindern und Jugend­ lichen, Stuttgart/Leipzig 1996. 12 Justin L. Barrett, Do children experience God as adults do?, in: Jensine Andresen (Hg.), Religion in Mind. Cognitive Perspectives On Religious Belief, Ritual, and Experience, Cambridge/ UK 2001, 173–190; Pascal Boyer / Sheila Walker, Intuitive Ontology and Cultural Input in the Acquisitation of Religious Concepts, in: Karl S. Rosengreen / Carl N. Johnson / Paul L. Harris (Hg.), Imagining the Impossible. Magical, Scientific and Religious Thinking in Children, Cambridge/UK 2000, 131–156; Stewart Guthrie, Why gods? A cognitive theory, in: Jensine Andresen (Hg.), Religion in Mind. Cognitive Perspectives On Religious Belief, Ritual, and Experience, Cambridge/UK 2001, 94–111. Zusammenfassend Gerhard Büttner, Religion als evolutionärer Vorteil?!, in: Katechetische Blätter 130, 2005, 14–21, 15ff. 13 George Lakoff / Mark Johnson, Leben in Metaphern, Heidelberg ²2000, zeigen 22ff, wie die Oben-unten-Polarität sich in „Orientierungsmetaphern“ niederschlägt.

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himmlischen Palast o.ä. Natürlich „passen“ Letztere nicht recht in einen theologischen Diskurs, eignen sich aber gewiss zum Gespräch mit Kindern (und wohl auch vielen Laien!). Die Problematik der Alternativen Folgt man der theologischen Linie im Sinne von Regine Schindler, dann gibt man den Himmel preis. Was dies bedeutet, kann man wiederum besonders eindrücklich auf dem Bilderbuchmarkt studieren.14 Wo der Himmel nicht mehr christlich gedeutet wird, treten Alternativdeutungen an die Stelle christlicher Interpretation. Dies lässt sich besonders eindrücklich zeigen anhand des Kinderbuches „Wolkenland“ von John Burningham.15 Benjamin stürzt bei einem Bergausflug ab und wacht im „Wolkenland“ auf. Dort trifft er die Wolkenkinder, erlebt ein Gewitter, ein Flugzeug und schließlich die Wolkenkönigin. Schließlich wacht er wieder im häuslichen Bett auf.

Die strukturelle Ähnlichkeit zu Regine Schindlers Buch ist offensichtlich. Beide Autoren bestimmen den Himmel als imaginären Raum. Doch wo Frau Schindler eine negative Theologie entfaltet, füllt Burningham den Himmel mit einem hybriden Gemisch aus meteorologischen und technischen Himmelserscheinungen und vermischt das Ganze mit Gestalten wie der Himmelkönigin und dem Mann im Mond. Doch sind letztere Figuren ohne jeglichen transzendenten Gehalt. Sie können also keinen Nukleus bilden, um den herum sich dann eine religiöse, theologisch gehaltvolle Symbolik entfalten kann. Wie so etwas vonstattengehen kann, möchte ich am Beispiel von John Hull zeigen. Er berichtet von einem Gespräch zwischen Vater und Kind. Nach einigen Wortwechseln über Vögel kommt es zu dem folgenden Dialog:16 „Kind: Vögel sterben Vater17: Menschen sterben auch.. Kind: (schweigt) Vater: Was bedeutet ‚sterben‘? 14 Gerhard Büttner, „Der Himmel fängt überall an.“ Bilderbücher zum Thema „Himmel“, in: Anton A. Bucher u.a. (Hg.), „Zeit ist immer da.“ – Kinder erleben Hoch-Zeiten und Fest-Tage, Jahrbuch für Kindertheologie 3, Stuttgart 2004, 139–144. 15 John Burningham, Wolkenland, Frankfurt/M. 1997. 16 John Hull, Wie Kinder über Gott reden. Ein Ratgeber für Eltern und Erziehende, Gütersloh 1997, 20f. 17 In der deutschen Übersetzung steht Vater/Mutter, ich belasse es bei Vater.

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Kind: Dass man zu Gott geht. Vater: Wo ist Gott? Kind: Oben im Himmel. Vater: Aber oben im Himmel sind die Wolken. Kind: (lacht) Nein, ich meine, wenn du aufsteigst, hoch und hoch und hoch, an den Wolken vorbei (es spricht mit leiser, hoher Stimme) weiter hoch und hoch und hoch, dann kommst du (es flüstert) zu einer ganz, ganz kleinen Hütte, und in dieser Hütte ist Gott.“

Offenbar spürt das Kind, dass seine Aussagen zum Wohnsitz Gottes nicht im wortwörtlichen Sinne verstanden werden können. Der symbolischen Verstehensweise kann es aber noch keinen Ausdruck verleihen. „Das Kind kann in diesen Begriffen weder denken noch reden, aber es lacht, als Vater und Mutter von den Wolken reden. Warum wohl? Weil es weiß, dass sein Vater oder seine Mutter es mit dieser Frage absichtlich missverstanden hat, gleichsam zum Spaß. Seine Reaktion besteht nun nicht darin, dass es vom konkreten zum abstrakten Denken übergeht, sondern es bedient sich eines ganz konkreten Bildes und nimmt dieses ganz wörtlich. Außerdem dramatisiert es die Situation, indem es mit immer höherer, leiserer Stimme spricht und damit andeutet, dass hier die Rede von etwas ist, das über das Gewöhnliche hinausgeht, das ein bisschen merkwürdig ist und doch zugleich sehr ernst und bedeutsam, wie ein Geheimnis, das man mit jemandem teilt.“18 Hull macht hier deutlich, dass es nicht nur um den Literalsinn der Worte geht, sondern dass das Reden vom Himmel von dem Kind als etwas Bedeutsames angesehen wird. Die gemeinsame Atmosphäre des spekulativen Gesprächs ermöglicht es dem Kind, einerseits in seiner konkreten Sprache sich zu artikulieren und gleichzeitig dabei die Grenzen zu spüren und auch zu markieren, die sich im Hinblick auf diesen transzendenten Gegenstand auftun. Das Kind erfährt so, dass es hier um mehr als um richtige Begriffe geht. Gerade dieses „Mehr“ bildet dann aber den Kern einer späteren symbolischen Definition.

Empirische Spuren Eine neuere Untersuchung zu den Himmelsvorstellungen steht noch aus.19 Hilfreich sind die Studien von Kalevi Tamminen.20 Eine 1974 in Finnland durchgeführte Studie zu dem Item „Ich glaube, dass im Himmel …“ ergab die folgenden Statements: 18 John Hull, Wie Kinder über Gott reden (wie Anm. 16), 21f. 19 Inzwischen: Helmut Hanisch, Himmelsvorstellungen von Kindern und Jugendlichen, in: Martin Ebner u.a. (Hg.), Der Himmel, Jahrbuch für Biblische Theologie 20 (2006), 359–380. 20 Kalevi Tamminen, Religiöse Entwicklung in Kindheit und Jugend. Forschungen zur Praktischen Theologie 13, Frankfurt a.M u.a. 1993.

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„Antworten, in denen der Himmel als Reich Gottes oder das ewige Leben mit der Begrifflichkeit des physikalischen Raums […] beschrieben wird, waren in den Klassen I und III am zahlreichsten, wie etwa die Antwort eines Mädchens aus der ersten Klasse: ‚Sehr geräumig, mit einem Boden aus Wolken, auf denen man aber stehen kann. Betten aus Wolken, die sich in der Oberwelt bewegen.‘“21 Die 9–14-jährigen gebrauchen häufig konkrete Raumbilder, wie sie auch aus der religiösen Tradition bekannt sind. Drittklässler denken besonders an den Ort, an dem Gott und Jesus wohnen. Auch gilt der Himmel als Ort der Toten bzw. des ewigen Lebens. „Eher abstrakt sind die Äußerungen, die den Himmel als eine gute Befindlichkeit […] bezeichnen. Sie machen in allen Klassen die größte Inhaltskategorie aus, ihre Zahl nahm aber mit anbrechendem Heranwachsendenalter noch etwas zu. Diese Antworten fallen gewissermaßen auf zwei Gruppen: In der ersten Gruppe wird der Himmel äußerlich mit positiven Attributen wie ‚schön‘, ‚sauber‘ und ‚voller Licht‘ beschrieben. In der zweiten Gruppe dagegen wird der Himmel mehr in Form innerer Gefühle charakterisiert: ‚Dort gibt es keine Trauer und keine Eile‘ (III, Mädchen).“ 22 Tamminens Fazit stützt die Thesen von Fetz: „Insgesamt gibt es bei den Antworten in großer Menge recht konkrete Schilderungen des Himmels, […] In gewissem Umfang nehmen die konkreten Formulierungen ab und werden in höheren Klassen durch abstraktere ersetzt.“23 Diese Tendenz bestätigte sich bei der Frage nach dem „Wo“ des Himmels. Konkrete Antworten wie Wolken oder Weltraum bestimmten bis zur IX. Klasse die Antworten (um 50%) und nahmen erst in Klasse XI deutlich ab. Dagegen steigen die psychischen Interpretationen (im Inneren des Menschen) stetig an.24 Tamminens Fragen zum Himmel ergaben sich – nicht überraschend – aus Untersuchungen zum Thema Tod. Dort hatte er u.a. festgestellt: „Die Inhaltskategorie Ewiges Leben, Himmel […] besteht zum einen aus Aussagen über das ewige Leben, über seine Gewissheit, und zum anderen aus Spekulationen über den Himmel, etwa darüber, wo sich der Himmel befindet, und wie man dorthin gelangt.“25 Ich möchte diesen induktiven Weg ergänzen durch einige Belege aus Unterrichtsprotokollen. Da eine explizite Thematisierung des Himmels im Religionsunterricht eher selten ist, ergaben sich die Äußerungen der Schüler/innen gewöhnlich im Kontext anderer Themen. Dabei zeigte sich, dass das Thema Himmel beim Reden über Jesu Reich-Gottes-Verkündigung offenbar – zumindest bei den Schüler/innen – eine 21 Ebd., 272. 22 Ebd., 273. 23 Ebd. 24 Ebd., 274. 25 Ebd., 269.

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Mit Kindern und Jugendlichen über den Himmel sprechen

wichtige Konnotation darstellt.26 Da dies meist nicht im Horizont der Unterrichtsvorbereitungen der Lehrer/innen lag, was natürlich auch mit der entsprechenden Vorbereitungsliteratur zusammenhängt, erwiesen sich die Äußerungen der Schüler/innen oft als Irritation. Gerade bei der Reich-Gottes-Thematik treten meist eher ethische Implikationen in den Vordergrund, wohingegen auftauchende Fragen zur eigenen postmortalen Existenz nicht ins Konzept passen. Es geht in einer 5. Realschulklasse um den Satz „Das Himmelreich gleicht einem Schatz“.27 Nach tastenden Annäherungen an die Metapher „Schatz“, beginnt plötzlich Heidrun: „,Es soll da oben ja sehr schön sein. Vielleicht ist es ja ein Schatz, den man bekommt, wenn man gestorben ist.‘ Als die Lehrerin wegen des ‚da oben‘ nachfragt, meint Heidrun: ‚Von mir aus auch unten oder neben mir, (aber) der Himmel ist für mich oben‘. Eine andere Schülerin präzisiert. ‚Für mich ist der Himmel oben. Ich stell mir vor, dass da alles aus Gold ist und es da keinen Streit gibt, weil’s da so viel Gold und Geld gibt.‘ […] Als die Lehrerin fragt, wie es den Menschen geht, die diesen ‚Schatz’ besitzen, meint plötzlich Kathrin: ‚Was ist mit den Tieren? Kommen die auch in den Himmel?‘ Als die Lehrerin die Frage zurückgibt, fährt die Schülerin fort: ‚Man sagt, Menschen kommen in den Himmel. Ich möchte, dass auch Tiere in den Himmel kommen.‘ Anja setzt dagegen: ‚Aber die gehen ja kaputt. Die verwesen ja. Mein Vogel ist auch gestorben. Darauf mehrere Schülerinnen (entrüstet): ‚Du verwest ja auch!‘ Darauf Anja ‚Aber nicht so schnell wie ein Vogel!‘ Doch Heidrun setzt ihre Ausführungen fort; ‚Meine Mutter sagt: ›Für die Tiere gibt es einen Himmel!‹ Dann kommt Susi in den Meerschweinchenhimmel.‘“28 In einer 5, Gymnasialklasse äußert die Schülerin D1/w im Zusammenhang des Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg Mt 20,1–10:29 „In der Gottesherrschaft ist es wie in dem Weinberg. Mit dem Missionieren vielleicht, dass wenn einer also […] sein ganzes Leben drauf wartet und keiner kommt / da kommt kein Missionar vorbei, da kann er gar nichts dafür, dass er nicht katholisch war. Und dann vielleicht am Schluss […] von seinem Leben, kommt da vielleicht einer und bekehrt ihn, und 26 In einem gemeinsamen Seminar hatte Isolde Karle mit Recht an dem grundlegenden Werk von Bernhard Lang / Colleen Mc Dannell, Der Himmel. Eine Kulturgeschichte des ewigen Lebens, Edition Suhrkamp 1586, Frankfurt a.M. 1990 kritisiert, dass die Autoren bei der JesusVerkündigung über den Himmel (45ff) dessen Gleichnisse nicht berücksichtigt haben. 27 Gerhard Büttner, „Meine Oma hat zu mir gesagt, dass ich für sie ein Schatz bin. Gleichnisverstehen von Kindern und Jugendlichen, in: Glaube und Lernen, 15. Jg., 1998, 152–164. 28 Ebd., 152f. 29 Gabriele Faust-Siehl u.a., 24 Stunden Religionsunterricht. Eine Tübinger Dokumentation für Forschung und Praxis, Münster 1995, 270.

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der wird dann ein richtiger Christ, dann kommt er vielleicht genauso in den Himmel wie einer, der sein ganzes Leben über Christ war.“ In einer 10. Realschulklasse dreht sich das Unterrichtsgespräch darum, was man Jesus gerne fragen möchte, wenn dies möglich wäre. „B1/w (I moin des doch so: ) warum müssen Menschen sterben, warum die dann […] überhaupt auf der Welt sind, wenn sie nachher sowieso sterbe). […] H3/m […] Wie ist das Leben nach dem Tod? […] E2/w Ah, weil man ja wirklich net weiß, wie`s danach weitergeht, und […] jeder muss ja sterbe. […] G2/m Man will ja immer a bissle sei Zukunft wisse. C2/w Man will Sicherheit haben. G2/m Man will ja (wie auf der Erde) auch vorausplanen oder so. […] B2/w Man kann sich das nicht vorstellen, einfach wegsein, irgendwie […] gar nimmer existieren, das kann man sich nicht vorstellen. D1/n (Stöhnt: ) […] Mir würd da nichts einfallen, was i den fragen könnt, weil mich da direkt gar nichts interessiert. Das Einzigste, was mich interessieren würd, ist, was nach dem Tod ist, aber sonst/“30

Betrachten wir diese drei eher zufälligen Ausschnitte aus Unterrichtsgesprächen, dann kann man sich einerseits vorstellen, wie assoziativ die Fragen nach dem Himmel, nach einer jenseitigen Existenz, nach dem ewigen Leben sich bei den Schüler/innen stellen. Zur Frage nach dem Ort des Himmels tritt mit der nach dem postmortalen Ergehen die nach der Soteriologie. Angesichts der Komplexität der Fragestellung, soweit sie Himmel und postmortale Erwartung verbindet, scheint es mir sinnvoll, an dieser Stelle zunächst eine theologische Zwischenreflexion zur Klärung einzuschieben.

Theologische Klärungen Wir hatten bislang die Äußerungen von Kindern und Jugendlichen zum Thema Himmel zur Kenntnis genommen, ohne nennenswerte Wertungen vorzunehmen. Die Themenformulierung dieses Beitrages impliziert zumindest auch die Frage, wieweit eine Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen bei diesen förder­ liche, wenn nicht gar richtige Vorstellungen erzeugen sollte. Als christliche Kommunikationsteilnehmer sind wir in diesem Fall auf unsere Tradition, besonders auf 30 Ebd., 242ff.

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die biblische, verwiesen. In ihrer wegweisenden Studie haben Lang / Mc Dannell31 gezeigt, dass es bei der Skizzierung des Himmels, insbesondere im Hinblick auf unsere postmortale Zukunft, zwei Grundtypen zu unterscheiden gilt. Die eine Linie betont das „totaliter aliter“, d.h., sie betont allein das Sein bei Gott und unterlässt es weitgehend, dieses im Detail zu charakterisieren. Himmel ist dann zu allererst Teilhabe an Gottes Herrlichkeit bzw. Teilnahme an Anbetung und Gotteslob. Die andere Linie versucht, durch verschiedene Extrapolationen gewünschter oder glücklich erfahrener Existenz mehr oder weniger präzise Erwartungen eines paradiesischen Himmels auszumalen. In dieser Hinsicht war besonders Swedenborg erfolgreich und erzeugte Bilder, die bis heute breit nachwirken. Besonders in nachexilisch entstandenen Passagen des AT finden sich Stellen, die Gott engstens mit dem Himmel verbinden, wenn nicht gar Himmel dort zum Synonym für Gott wird.32 Dem gegenüber stellt etwa der priesterliche Schöpfungsbericht den Himmel explizit zusammen mit der Erde Gott gegenüber.33 „Der Himmel, das ist der sichtbare Luftraum über der Erde; Licht und Finsternis, Wärme und Regen, Hagel, Blitz und Donner kommen vom Himmel. Diese natürlichen Kräfte vom Himmel bestimmen das Leben auf der Erde. […] Zugleich sind sie nicht in der Menschen Verfügung wie viele der kulturellen Kräfte. Sie sind nicht steuerbar und doch im strengen Sinne sinnfällig erfahrbar. Der Himmel der natürlichen Wahrnehmung ist sichtbar und doch nicht beeinflussbar. Wir haben hier einen in bestimmten Hinsichten ‚transzendenten‘ – für die Menschen in aktiver Gestaltung unbestimmbaren, unzugänglichen, unmanipulierbaren Bereich der Schöpfung vor uns.“

Augustin hatte nun freilich diesem Himmel nochmals einen Himmelshimmel zugesellt, „so nah zu Gott wie möglich und so distanziert wie notwendig. Deshalb befindet sich der Begriff in einer eigentümlichen Schwebe: Er ist ganz licht, aber nicht selber das Licht Gottes.“34 Johann Ev. Hafner entwickelt im Anschluss an diese Gedanken ein Modell, das die Unterscheidungen Erde/Himmel/Gott in der Weise zu fassen sucht, dass er die Differenz Erde/Himmel wiederum von Gott unterscheidet:35 31 Lang / McDannell, Der Himmel (wie Anm. 26). 32 Michael Welker, Schöpfung und Wirklichkeit, Neukirchener Beiträge zur Systematischen Theologie 13, Neukirchen-Vluyn 1995, 58. 33 Ebd., 59. 34 Johann Ev. Hafner, Gott ist nicht der Himmel. Die Notwendigkeit einer nichtgöttlichen Trans­ zendenz, in: Stefan Schreiber / Stefan Siemons (Hg.), Das Jenseits. Perspektiven christlicher Theologie, Darmstadt 2003, 143–175, hier 148. 35 Ebd., 172.

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VI. … andere Themen

„Der Himmel ist in diesem Schema nicht prinzipiell übergeordnet, sondern steht, wie eine simultane zweite Welt neben der irdischen. In diesem Parallelkosmos geht es ähnlich zu wie im eigenen: Auch dort wird Gott gelobt, auch dort geschieht sein Wille. Zwar gibt es Berührungspunkte zwischen beiden Welten, aber dem Zugriff von der Erde aus und mit nur irdischem Vermögen bleibt der Himmel entzogen. Er bildet den benachbarten, aber unzugänglichen Schöpfungsbereich. Insofern trifft die Bezeichnung des nicänischen Credos zu, der Himmel sei die Welt der unsichtbaren Dinge (invisibila) im Unterschied zur wahrnehmbaren Welt.“

Allerdings manifestiert sich Gott als das Gegenüber von Himmel und Erde in beiden Bereichen:36 „Der christliche Gott hat beide Welten erschaffen, keine ist Abfallprodukt der anderen, er hat sich nicht nur Engeln, sondern auch in der Geschichte offenbart; er trat in die Immanenz ein und wurde Mensch; Gottes Transzendenz besteht gerade darin, dass er sowohl im Himmel als auch auf Erden thront und sein Wille hier wie dort geschehe.“

Wir können also festhalten, dass das biblische Bild vom Himmel gekennzeichnet ist durch die Differenz zur Erde einerseits, durch die zu Gott selber andererseits. Dies lässt hinsichtlich der von Lang / McDannell skizzierten Polarität zwischen theozentrischem und anthropozentrischem Himmel Vermittlungsvorschläge zu. Wir können die biblischen Bilder und Metaphern im Hinblick auf den Himmel also durchaus benutzen, indem wir sie mit unseren eigenen Konnotationen verknüpfen. Dabei können wir die biblische Überlieferung in doppelter Weise charakterisieren. Einerseits ist sie in dem Sinne Offenbarung, dass wir allein aus ihr über Gott und seinen Himmel wissen können. Andererseits können wir aber fragen. In welcher Weise und in welcher Form sich denn dieses „weisheitliche“ Wissen konstituiert. Machen wir das Gedankenexperiment: Worauf kann der Verfasser des priesterlichen Schöpfungsberichts rekurrieren? Wir wissen, dass er sich wohl mit dem babylonischen Schöpfungsmythos Enuma Elisch auseinandersetzt. Gleichwohl bleibt die Frage bestehen, allenfalls erweitert durch die Frage, woher denn die babylonischen Weisen ihr Wissen haben. Vermutlich sind es drei Quellen: eine genaue Beobachtung der Natur, in unserem Falle des Himmels mit seinen Farben, Gestirnen, Vögeln etc.; dazu kommen Intuitionen, innere Bilder und schließlich individuelles und kollektives Nachdenken. Die moderne Wissenschaft hat im Prinzip dieselben Quellen. Sie hat nur bessere Werkzeuge: Fernrohre und Teleskope, 36 Ebd., 173.

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Mit Kindern und Jugendlichen über den Himmel sprechen

Möglichkeiten durch Flugzeuge und Raketen den Raum außerhalb der Erdkugel zu erkunden, Computer, die große Datenmengen verarbeiten können. Doch alle diese Hilfsmittel können zwar helfen, den sky zu erforschen, über den heaven können sie keine wirklichen Aussagen machen. D.h., dass auch moderne Wissenschaft im Hinblick auf den religiösen Himmel nicht entscheidend über die Aussagen der biblischen Zeit hinauskommen kann, bzw. ihre eigenen Überlegungen durchaus auf der Basis „weisheitlicher“ Reflektion und Spekulation anstellen muss, was die Theologie im Prinzip weiß und tut. Dieses weisheitliche Denken hat nun aber überraschende entwicklungspsychologische Parallelen. Bereits sehr junge Kinder sind höchst aktive Konstrukteure ihrer Welt. Sie können dabei auf Bestände „intuitiven Wissens“ zurückgreifen, das durchaus leistungsfähig ist bei der „Ordnung der Dinge“. Teilweise wird dieses Wissen dann im Laufe des Heranwachsens überführt in das moderne Wissen auf der Basis von Wissenschaft. Im Hinblick auf das Verständnis des religiösen Himmels dürfte die kindliche intuitive Konstruktionsweise sich so grundsätzlich von der weisheitlichen nicht unterscheiden. Dies gilt umso mehr, wenn wir in Rechnung stellen, dass auch das erwachsene religiöse Denken sich keineswegs immer auf der „theologisch korrekten“ symbolischen Ebene abspielt. Insofern ist Biesingers Ablehnung einer „Himmelsphysik“ und sein Plädoyer für eine auf die Existenz bezogene Interpretation nur bedingt weiterführend.37 Eine spekulative Ausgestaltung der „himmlischen Wohnungen“ kann – gerade im Gespräch zwischen Kindern und Erwachsenen – durchaus hilfreich sein. Zumal nach meinen Ausführungen Erwachsene und Kinder sich im Denken dieser Gegenstände näher stehen dürften, als sie es oft ahnen.

Der Himmel und das postmortale Ergehen Kindliche Konstruktionsversuche Wie die oben zitierten Unterrichtsausschnitte zeigen, verbindet sich zumindest bei älteren Kindern und Jugendlichen das Interesse am Himmel meist mit der Frage nach dem Ergehen nach dem Tode (offenbar nicht nur im Hinblick auf Menschen). Trotz des augenscheinlichen Endes des toten Menschen im Sarg und im Grab existiert bei einer großen Anzahl von Menschen die Hoffnung auf ein „Weiterleben im 37 Albert Biesinger, Kommt die religiöse Erziehung ohne die Vorstellungen von Himmel-HölleFegefeuer aus?, in: Albert Biesinger / Michael Kessler (Hg.), Himmel – Hölle – Fegefeuer, Tübingen 1996, 11–29.

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Himmel“. So ergab eine Befragung bei Schüler/innen im Bistum Augsburg: „Viele, immerhin 73,64% aller Befragten glauben an einen Himmel. […] Sie favorisieren religiöse Vorstellungen, in denen das Leben gut weitergeht. Wenn überhaupt an einen religiösen Ort geglaubt wird, dann ist es der Himmel.“38 Doch gerade bei jüngeren Kindern scheint die doppelte Konnotierung des Geschicks der Toten noch nicht so einfach verständlich zu sein.39 Bei mangelnder Differenzierungsmöglichkeit zwischen sky und heaven sieht Martina Plieth die Möglichkeit, dass das Kind seiner „Materialisierungstendenz“ unterliegt und „sich den Himmel ausschließlich als ‚Raum-Körper-Größe‘ vor[stellt]; Irrtümer mit schwerwiegenden Konsequenzen sind dadurch in gewisser Weise regelrecht ‚vorprogrammiert‘. „So konnte ein Fünfjähriger monatelang nicht mehr ruhig schlafen, weil ihm die Mutter nach dem Tod des geliebten Großvaters erzählt hatte, der Opa sei nun im Himmel bei den anderen Toten und dort gut aufgehoben. Der kleine Enkel dachte unentwegt an die vielen Toten und vor allen Dingen daran, dass sein Großvater ein beleibter Mann gewesen war. Wie sollte der Himmel da halten? Er würde ganz gewiss durchbrechen, und all die Toten würden, angeführt vom Großvater, herabstürzen und ihn, den kleinen Enkel, lebendig unter sich begraben. Kein Wunder, dass sich eingedenk dieser Vorstellung Schlafstörungen einstellten.“40

Doch Martina Plieths Schlussfolgerung erscheint mir zu einseitig. Das von ihr gewählte Beispiel zeigt nur, wie Kinder – in einer bestimmten seelischen Verfassung – natürlich auch von den Symbolbildern Gebrauch machen, die ihnen im Zusammenhang eines Todesfalles begegnet sind. Wie stark die Überlegungen der Kinder auch von der unbeabsichtigten Ungeschicklichkeit der Erwachsenen beeinflusst sind, zeigt das von Paul L. Harris berichtete Beispiel von Sully.41 Harris berichtet, dass sein fünfjähriger Sohn sich für religiöse Fragen zu interessieren begann und dass dabei die Todesthematik eine Rolle spielte. 38 Lothar Kuld / Ludwig Rendle / Ludwig Sauter, Tod – und was dann? Ergebnisse einer Umfrage unter Schüler/innen im Bistum Augsburg, in: Religionspädagogische Beiträge 45, 2000, 69–88, 82. 39 So schreibt Martina Plieth, Kind und Tod. Zum Umgang mit kindlichen Schreckensvorstellungen und Hoffnungsbildern, Neukirchen-Vluyn ²2002, 45: „So ist z.B. der Tod als Trennung von Leib und Seele für Kinder unter zehn Jahren kaum vorstellbar, er wird erst mit dem Übergang zur weiterführenden Schule, also bei den ca. Zehn- bis Elfjährigen, Gegenstand eigener Überlegungen und kann von daher auch als ‚Trostfaktor‘ fungieren.“ Mir scheint diese Aussage angesichts neuerer entwicklungspsychologischer Befunde allerdings etwas zu pauschal. 40 Ebd., 43. 41 Paul L. Harris, On Not Falling Down to Earth. Children’s Metaphysical Questions, in: Karl S. Rosengreen / Carl N. Johnson / Paul L. Harris (Hg.), Imagining the Impossible (wie Anm. 12), 157–178, hier 171ff.

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Mit Kindern und Jugendlichen über den Himmel sprechen

Wie konstruktiv und pfiffig Kinder in dieser Frage zu eigenen Theorien gelangen können, können wir der Schilderung des amerikanischen Religionspädagogen Ronald H. Cram entnehmen.42 Dieser berichtet von seiner Tochter Naomi, die die zweite Grundschulklasse besucht und deren Mädchen-Clique einen eigenen Song zu der Comicfigur „Pebbles“, dem kleinen Mädchen der auch in Deutschland bekannten „Familie Feuerstein“ (Family Flintstone), verfasst habe und diesen in gemeinsamen Spielen auch inszeniere. Dabei entwarfen die Mädchen für die einzelnen Lebensphasen eigene Strophen mit einem jeweils typischen Refrain. Für unser Thema ist nun interessant, wie diese Mädchen den Tod ihrer Kunstfigur gestalteten. Nach der Großmutterphase folgen vier entsprechende Strophen:43 When Pebbles was an angel, an angel, an angel, When Pebbles was an angel, she used to go like this – Shh! When Pebbles was a devil, A devil, a devil, When Pebbles was a devil, she used to go like this – Pow! When Pebbles was a skeleton, a skeleton, a skeleton, When Pebbles was a skeleton, she used to go like this – I think I just dislocated my rib bone! When Pebbles was a nothing, a nothing, a nothing, When Pebbles was a nothing, she used to go like this – (silence) 42 Ronald H. Cram, Knowing God. Children, Play, and Paradox, in: Religious Education, Volume 91, 1996, 55–73. Vgl. dazu Gerhard Büttner, Familie Feuerstein „Pebbles“. Kindliche Theorien zur weiblichen Individuation, in: Religion heute, Nr. 49, 2002, 62–64. 43 Ebd., 57.

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VI. … andere Themen

Interessant ist hier, wie diese Kinder die verschiedenen Interpretationen zum Thema Tod miteinander kombinieren und sequenzieren. Erst wird Pepples ein Engel, dann ein Teufel, daraufhin ein Skelett und schließlich ein Nichts. Die Kinder spekulieren über das Todesgeschick – und dies auf eine äußerst witzige Weise. Die von Martina Plieth so kompliziert geschilderte Koexistenz von Himmel und Grab, hier wird sie locker vollzogen. Dabei müssen wir bedenken, dass diese Mädchengruppe nicht aus einem aktuellen Ereignis heraus seine Gedanken entwickelt. Dies mindert gewiss die Betroffenheit. Andererseits kann man sich sehr gut vorstellen, als erwachsener Gesprächspartner auf der Basis dieses Liedes mit den Kindern interessante Gespräche, auch und gerade über den Himmel, zu führen. Es wäre zu klären, ob ein Nacheinander wirklich eine Lösung ist, ob die gute Pebbles wirklich Engel und Teufel auf einmal werden kann und wie nun das Vergehen des Leibes und die himmlische (oder höllische) Existenz denn zusammenpassen.

Biblische, theologische und kirchliche Referenzen Wenn wir hier der Frage nachgehen, wie das Thema „Himmel“ im Gespräch mit Kindern und Jugendlichen vorkommen sollte, dann geht es neben dem Wie natürlich auch um den Inhalt eines solchen Dialogs. Katholische Autoren wie Kuld, Rendle und Sauter stellen immerhin fest, dass das katholische Programm mit Himmel, Hölle, Fegefeuer bei den Kindern und Jugendlichen nur schwer zu vermitteln sei44, was immerhin Biesinger zu entsprechenden Überlegungen anregt, wie diese Topoi religionspädagogisch zu behandeln seien.45 Protestantischerseits war Jüngels Buch „Tod“46 mit seinem theozentrischen Minimalismus sehr wirkmächtig, gerade mit seiner Polemik gegen ein Verständnis von der „unsterblichen Seele“, was biblisch und auch von der protestantischen Tradition durchaus gedeckt ist.47 Greift man auf die biblischen Belegstellen zum Ergehen nach dem Tode zurück, dann wird man bei der Detailanalyse feststellen müssen, dass diese miteinander kaum kompatibel sind48 und auch jede für sich immer nur gleichnishaft einen bestimmten 44 Lothar Kuld / Ludwig Rendle / Ludwig Sauter, Tod – und was dann ? (wie Anm. 38), 82. 45 Biesinger, Kommt die religiöse Erziehung ohne die Vorstellungen von Himmel-Hölle-Fegefeuer aus? (wie Anm. 37). 46 Eberhard Jüngel, Tod, Themen der Theologie 8, Stuttgart ²1972. 47 Fritz Heidler, Die biblische Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. Sterben, Tod, ewiges Leben im Aspekt lutherischer Anthropologie, Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 45, Göttingen 1983. 48 Vgl. etwa den Unterschied des matthäischen und des johanneischen Konzepts. Dazu Peter Jetzler, Jenseitsmodelle und Jenseitsvorsorge. Eine Einführung, in: ders., Himmel – Hölle – Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter. Ausstellungskatalog, Zürich/Köln 1994, 13–26, hier 14.

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Mit Kindern und Jugendlichen über den Himmel sprechen

Aspekt beleuchten kann.49 Dies liegt aber auch an der aporetischen Struktur dieser Thematik überhaupt: Gehe ich etwa davon aus, im Himmel meine Lieben wieder zu treffen, dann muss ich immerhin damit rechnen, dass es Menschen geben könnte, die diesen gerade im Himmel nicht mehr begegnen möchten. D.h. auch, je konkreter ich mir den Himmel ausmale, umso mehr hat dieses Bild Anteil an den Widrigkeiten dieser Welt, wo das Positive häufig strukturell mit dem Negativen gekoppelt ist. Von daher plädiere ich insgesamt für einen mehrperspektivischen Zugang, der bewusst davon ausgeht, dass die eine Geschichte, das eine Symbol, das andere dekonstruiert. Nur so kann das Symbol Himmel seine Lebensrelevanz für uns entfalten und sinnstiftend wirken und dabei doch die strenge Transzendenz des totaliter aliter gewahrt bleiben. In diesen Kontext ordne ich auch die Frage nach Gericht und Erlösung (aller?) ein. Gerade wenn wir den Gedanken an ein Gericht, gar an eine Hölle im Sinne der biblischen Überlieferung mit ins Gespräch bringen, können wir den Gedanken einer Allversöhnung ebenfalls thematisieren.50 Wir können – und sollen – dabei auch unsere persönliche Hoffnung mit ins Gespräch einbringen. Der Vorbehalt, dass wir über Gottes Handeln nicht verfügen können, der muss allerdings bleiben.

Einige konkrete Tipps zum Abschluss Nach meinen eher kritischen Ausführungen zu Bilderbüchern am Anfang des Beitrages möchte ich doch einige herausstellen, die wichtige Prinzipien meiner Argumentation in je eigener Weise zum Ausdruck bringen. Da wäre das Büchlein zu nennen „Erzähl mir vom Himmel“.51 Sieht man einmal von der schlechten Illustration ab, dann stößt man auf ein durchdachtes Vorgehen. Das Buch beginnt mit Kinderfragen, wie: „Ist der Himmel ganz nah oder ganz weit weg?“ oder „Kann man mit dem Auto bis an die Tür des Himmels fahren?“ Die Antworten sind biblisch, vielleicht oft sogar biblizistisch, etwa: „Im Himmel ist immer Tag und nie Nacht. Gottes Liebe scheint dort wie ein Licht, noch viel heller als die Sonne“ – mit Verweis auf Offb 21,25 bzw. Offb 22,5. Am Schluss des Büchleins werden Offb 21 und 1. Kor 15 narrativ entfaltet. Wenn Erziehende mit diesem Buch arbeiten, 49 Vgl. Gerhard Büttner / Friedrich Spaeth „… und wenn du uns genommen, lass uns in’ Himmel kommen“ – Bausteine zum Thema christliche Hoffnung über den Tod hinaus, in: entwurf 1/2/2001, 59–67. 50 Vgl. Johanna Christine Janowski, Allerlösung. Annäherungen an eine entdualisierte Eschatologie, Neukirchener Beiträge zur Systematischen Theologie 23, Neukirchen-Vluyn 2000. 51 Elizabeth Liddle, Erzähl mir vom Himmel. Mit Bildern von Elena Kucharik, Marburg 2002 (ohne Paginierung).

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entfalten sie auf der Ebene von sehr konkreten Kinderfragen das Angebot zentraler biblischer Texte zum Thema Himmel. Die Frage bleibt dann noch, wie sie das Gespräch über diese Inhalte führen. Zu dieser Frage können Eltern und Erzieher/innen lernen von dem Buch „Mama, wie groß ist der Himmel?“52 Bereits auf der ersten Seite wird sein Prinzip klar: „Pip stellte gern Fragen, besonders vor dem Einschlafen. Manchmal wartete er sogar die Antworten ab. Aber am liebsten beantwortete er die Fragen gleich selbst.“ Auf diese Weise erfahren die Leser/innen immer neue Theorien des kleinen und schließlich etwas größeren Pip über den Himmel. Die Mutter gibt die Fragen Pips in der Regel an diesen zurück, so dass dieser seinen Gedanken weiterspinnen kann. Ermutigend an diesem Buch ist das Prinzip, an die Vorstellungswelt des Kindes zu appellieren und dessen Deutungen dann auch zu bestätigen bzw. durch Nachfragen zu modifizieren. Gewiss braucht das Kind auch Anregungen, z.B. durch die entsprechenden biblischen Geschichten, dann aber auch naturwissenschaftliche Informationen. Entscheidend ist aber, dass diese im Diskurs flüssig gehalten werden, damit keine Fixierungen im Sinne des von Martina Plieth referierten Beispiels entstehen. Die oben angesprochene Dualität von Grab und Himmel nimmt Dorothea MeiliLehner in ihrer kleinen Geschichte von der Seele der Großmutter auf. Sie erzählt, dass die Seele der verstorbenen Großmutter sich der irdischen Kleidung entledigt habe, weil sie diese jetzt im Himmel nicht mehr brauche:53 „,Und wo ist Großmutters Seele? Wo ist Großmutter jetzt?‘ Die Eltern antworten dem Kind nach ihrer Überzeugung: ‚Großmutter ist – so glauben wir – in einem anderen, neuen Leben. Das Leben auf der Erde ist nicht das ganze Leben. Wie es im neuen Leben aussieht, wissen wir nicht. Aber wir glauben, dass es ein Leben in Wärme und Geborgenheit, im Licht ist. Viele Menschen glauben, es ist ein Leben bei Gott.‘“

Die Geschichte lässt sich auch eher als Gesprächsanregung denn als ultimative Deutung verstehen. Hier kann sie aber für Grundschulkinder durchaus hilfreich sein. Für Jugendliche möchte ich zwei Geschichten vorschlagen: Richard VolkmannLeander erzählt die Geschichte54 von dem armen und dem reichen Mann, die 52 Imke Sönnichsen / Elizabeth Liddle, Mama, wie groß ist der Himmel?, Stuttgart/Wien 2003 (ohne Paginierung). 53 Dorothea Meili-Lehner, Mami, Isch s’Grosi jetzt im Himmel oder uf em Friedhof?, in: RL, Heft 1, 2003, 11–12, 12. 54 Richard Volkmann-Leander, Himmel und Hölle, in: Elfriede Conrad u.a. (Hg.), Erzählbuch zum Glauben 1. Das Glaubensbekenntnis, Zürich u.a./Lahr 1981, 389–393.

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Mit Kindern und Jugendlichen über den Himmel sprechen

zusammen nach ihrem Tod im Himmel ankommen. Der Reiche wählt sich ein Schloss, Geld und köstliche Speisen. Nach Jahrhunderten und Jahrtausenden erkennt er schließlich, dass er die Hölle gewählt hat, als ihm Petrus das Astloch zeigt, durch das er einen Blick in den Himmel werfen kann. Dort sieht er den Armen, der sich einen Fußschemel gewählt hatte, um Gott zu Füßen zu sitzen. Die Geschichte nimmt die Ambivalenz des anthropozentrischen Himmelbildes auf, ohne sie zu denunzieren. Sie lädt vielmehr zu einem offenen Gespräch förmlich ein. Ähnliches gilt für die Geschichte „Ein Narrenparadies“ von Isaac Bashevis Singer.55 Atzel, ein (wohl etwas depressiver) junger Mann, will sterben, um möglichst bald ins Paradies zu kommen. Als letzte Rettung rät der Arzt der Familie, nach seinem Plan zu verfahren. Atzel wird erklärt, er sei tot und er wird in ein präpariertes „Paradies“ geführt. Trotz der Wohltaten langweilt er sich und kehrt lebensfroh zurück, als man ihn über den Irrtum aufklärt. Auch diese humorvolle Geschichte spielt mit der Ambivalenz der Himmelsverheißungen angesichts des bedrohlichen Todes. Beide Geschichten eignen sich für Jugendliche, z.B. Konfirmand/innen, aber auch für Erwachsene.

55 I.B. Singer, Ein Narrenparadies, in: Hubertus und Ursula Halbfas (Hg.), Das Menschenhaus, Zürich/Stuttgart/Düsseldorf 1972, 90–94.

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VI. … andere Themen

Familienkommunikation und kindliche Gottesvorstellungen im Lichte von Kinderbüchern

1. Fragestellung Vor dreißig Jahren fand in der Diözese Rottenburg-Stuttgart eine Synode statt mit dem Thema „Weitergabe des Glaubens an die kommende Generation“.1 Offenbar war man der Ansicht, dass – angesichts des sozialen Wandels – bestimmte Selbstverständlichkeiten nicht mehr galten. Die geschlossenen konfessionellen Milieus hatten sich aufgelöst, so dass die Weitergabe der religiösen Identität von einer Generation zur nächsten zwangsläufig zum Gesprächsthema geworden war. Die Synode formulierte dazu ambitioniert:2 „Das zweite Vatikanische Konzil spricht von der Pflicht der Eltern, ‚durch Wort und Beispiel für ihre Kinder die ersten Glaubensboten zu sein‘, und nennt die Familie ‚eine Art Hauskirche‘“.

Gleichwohl folgt die Nennung der Familie erst nach den Angeboten kirchlicher Personen und Institutionen und solchen der Schule.3 Es lohnt sich zu sehen, wie der angesprochene Prozess der Glaubensweitergabe sich in empirischen Studien zeigt. Jürgen Zinnecker und Ralph Hasenberg fragen ebenfalls, „ob und wie die Weitergabe von Kultur zwischen den Generationen möglich ist, in der die kulturellen Systeme selbst Prozessen des radikalen und beschleunigten Abbaus und Umbaus unterworfen sind“. Dadurch ergibt sich die paradoxe Aufgabe, „in einer Zeit, die global auf kulturelle Diskontinuität hin ausgelegt ist, im pädagogischen Alltag und bei Heranwachsenden kulturelle Kontinuität zu erzeugen.“4 Familien 1 Bischöfliches Ordinariat Rottenburg, Beschlüsse der Diözesansynode Rottenburg-Stuttgart. Weitergabe des Glaubens an die kommende Generation, Ostfildern ³1986. 2 Ebd., 22. 3 Ebd., 115ff. Ähnliche Fragestellungen finden sich – mit der entsprechenden zeitlichen Verzögerung – in Józef Stala / Elżbieta Osewska, Anders erziehen in Polen. Der Erziehungs- und Bildungsbegriff im Kontext eines sich ständig verändernden Europas des XXI. Jahrhunderts, Tarnow 2009. 4 Jürgen Zinnecker / Ralph Hasenberg, Religiöse Eltern und religiöse Kinder. Die Übertragung von Religion auf die nachfolgende Generation in der Familie, in: Rainer K. Silbereisen / Jürgen Zinnecker (Hg.), Entwicklung im sozialen Wandel, Weinheim 1999, 445–457, hier 445.

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Familienkommunikation und kindliche Gottesvorstellungen im Lichte von Kinderbüchern

bilden demnach eine eigene „Kleinkultur“, um sich zumindest punktuell dem gesellschaftlichen Mainstream entgegenzustellen.5 Dies wird nach den Autoren dadurch gestützt, dass die Partnerwahl zwar nicht unbedingt in derselben Konfession stattfindet, gleichwohl aber häufig homogam.6 Das bedeutet, dass sich Partner doch oft auch im Sinne einer gleichartigen Affinität im Hinblick auf Religion wählen.7 Zinnecker und Hausfeld kommen nun aber gerade im Hinblick auf die Bedeutung der Erziehungsinstitutionen zu einem interessanten Resümee:8 „Wir können, blicken wir auf den historisch sich abzeichnenden Wandel religiöser Sozialisationsinstanzen, von einer ‚Verweiblichung religiöser Überlieferung‘ sprechen. Innerhalb von drei Familiengenerationen, zwischen Großeltern und heutigen Kindern, mussten sich die männlichen Autoritäten, die traditionell und qua Amt für die Weitergabe von Kirchlichkeit und Religion zuständig waren, Gemeindepriester und Lehrer vor Ort, zurückziehen. An ihre Stelle rückten in mancher Hinsicht Frauen als die neuen informellen familialen Hüterinnen des Religiösen.“

Man kann diese Aussage zwar auch so lesen, dass die Mehrzahl der Religionslehrkräfte weiblich ist und protestantischerseits gilt dies zunehmend auch für das Pfarramt, gemeint ist aber vor allem die Verschiebung der religiösen Erziehung in den Bereich der Familie. Dabei – dies wird im Folgenden weiter auszuführen sein – verändert sich sowohl der Kommunikationsstil als auch die Gestalt der Inhalte. Letztere werden in der Familie in der Regel je spezifisch ko-konstruiert und erhalten so gegenüber einer gedachten kirchlichen Orthodoxie ihre jeweiligen Nuancen und kleinen „Synkretismen“. Karl Ernst Nipkow hat deshalb zu Recht die Frage gestellt, ob die Rede von der „Weitergabe des Glaubens“ denn der Sache angemessen sei und ob die neuerliche Rede von der „Kommunikation des Glaubens“ den Sachverhalt nicht besser treffe.9 Wir werden in der Tat zu fragen 5 Ebd., 446. 6 Ebd., 454. 7 Doch zeigt eine Untersuchung zu Familien in Ostdeutschland, in denen ein Partner explizit nicht-religiös ist und der andere Kirchenmitglied, dass dies im Hinblick auf die religiöse Kindererziehung durchaus konflikthaltig sein kann oder zu Vermeidungsreaktionen führt: Heide Liebold, „In der Hinsicht lassen wir uns eigentlich ziemlich in Ruhe“. Religiöse Erziehung in christlich-konfessionslosen Familien. Ein Beitrag aus Ostdeutschland, in: Wege zum Menschen 57, 2005, 239–253. 8 Jürgen Zinnecker / Ralph Hasenberg, Religiöse Eltern und religiöse Kinder (wie Anm. 4), 456. 9 Karl Ernst Nipkow, Grundoptionen gelingender Glaubenskommunikation in lerntheoretischer und anthropologisch-theologischer Spiegelung, in: Reinhold Boschki u.a. (Hg.), Elemente einer gelingenden Glaubenskommunikation. Für Albert Biesinger, Freiburg i.Br. 2008, 44–56, hier 44. In diesem Sinne auch Christian Grethlein, „Religion“ oder „Kommunikation des Evangeliums“ als Leitbegriff für die Praktische Theologie? In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 112, 2015, 468–489.

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haben, wie wir uns die religiöse Familienkommunikation vorstellen können und was ihre Eigentümlichkeit ausmacht. Ich werde auch dies anhand sozialwissenschaftlicher Studien herauszuarbeiten versuchen. Ich werde in meinem Beitrag aber noch eine andere Quellenart heranziehen. Man kann vorwegnehmend schon einmal festhalten, dass Kinderbücher bei der Familienkommunikation gerade mit jüngeren Kindern eine Rolle spielen. Diese Bücher haben nun immer eine doppelte Bedeutung. Sie werden natürlich von den auswählenden Eltern in einer gewissen normativen Absicht ausgewählt – dies gilt besonders bei biblischen Geschichten. Andererseits versuchen diese Bücher aber auch, die Situationen zu treffen, für die sie verfasst sind. D.h., sie spiegeln damit immer auch ein Stück weit wider, welche idealtypischen Konstellation die Autor/innen vor Augen haben. Damit werden nun aber zwei Themenfelder angesprochen: Natürlich können wir erwarten, dass die Kommunikationsmodi, die das Kinderbuch präsentiert, zu denen der vorlesenden Familie „passen“, auch wenn sie nicht identisch sind. Man wird aber auch eine These nicht ganz außer Acht lassen dürfen, die Vermutungen zum Zusammenspiel von Familienstruktur und Gottesbild formuliert. D.h., dass der Blick auf die religiöse Familienkommunikation sinnvollerweise ausgedehnt wird auf die Frage, welche Vorstellungen von Gott denn hier mit formuliert werden.

Familienkommunikation und Abendritual Macht es etwas aus, in welchem Kontext Kommunikation stattfindet? Der Soziologe Niklas Luhmann geht davon aus, dass in modernen Gesellschaften eine Differenzierung in verschiedene Funktionssysteme stattfindet – mit je eigenen Kommunikationsmodi. Konkret bedeutet das, dass in den jeweiligen Funktionssystemen über je unterschiedliche Rollen kommuniziert wird. Im Wirtschaftssystem begegnen sich Käufer und Verkäufer, im Erziehungssystem Lehrerinnen und Schülerinnen. Rollenkommunikation bedeutet dabei, dass bestimmte Verhaltenserwartungen herrschen – z.B. im Hinblick auf den Inhalt der Gespräche. Hält man sich nicht an diese Erwartungen, dann wirkt das peinlich. Nun gibt es aber nach Luhmann ein Sozialsystem, in dem diese Regeln so nicht gelten – die Familie. Luhmann sieht dort „enthemmte Kommunikation“.10 Das überraschende 10 Niklas Luhmann, Sozialsystem Familie, in: ders., Soziologische Aufklärung 5, Opladen ²1995, 196–217, hier 203. Das wird in anderer Terminologie auch angesprochen in: Jozef Stala, Religious Education / Catechesis in the Family. A Basic Psychological and Church Perspective, in: Elżbieta Osewska / Jozef Stala (Hg.), Religious Education / Catechesis in the Family. A European Perspective, Warzawa 2010, 49–57, hier 50ff.

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Familienkommunikation und kindliche Gottesvorstellungen im Lichte von Kinderbüchern

Wort enthemmt bedeutet für Luhmann, dass hier „die ganze Person“ zum Thema werden kann.11 Konkret heißt das, dass auch peinliche Themen – wenngleich mit Takt und Respekt – angesprochen werden können. Dies verleiht der Familie eine Sonderstellung. In einer Zeit, in der religiöse Fragen immer mehr dem Bereich der Intimität zugerechnet werden, gewinnt damit die Familie an dieser Stelle eine besondere Bedeutung.12 Wo können Ängste, Schuld und Hoffnung thematisiert werden, wenn nicht im Schutzraum der Familie? Von daher können wir berechtigterweise annehmen, dass auch Gespräche über Glauben (und Zweifel) gerade in diesem Kontext einen besonderen Ort haben. Wir können nun über diese abstrakte Einsicht hinaus fragen, wo denn die religiöse Kommunikation in der Familie real stattfindet. Geht man davon aus, dass sich die gemeinsamen Mahlzeiten häufig auf das Wochenende verlagern und das Tischgebet eher an Bedeutung verliert, dann konzentrieren sich die Momente familiärer intimer Kommunikation auf das Gute-Nacht-Ritual. Dieses hat an Bedeutung gewonnen in dem Maße, in dem die Zahl der Kinder sich reduzierte und jedes Kind tendenziell sein eigenes Zimmer besitzt. Damit bekommt der Übergang von der familialen Gemeinschaft zum individualisierten Prozess des Einschlafens eine besondere Bedeutung. In der Regel widmet ein Elternteil, manchmal auch beide Eltern, diesem abendlichen Ereignis in größerem Maße Zeit und Aufmerksamkeit. Von daher lohnt es sich, diesen Prozess genauer zu beobachten.13 Christoph Morgenthaler hat in der deutschsprachigen Schweiz zahlreiche Eltern zu den Abendritualen mit ihren Kindern befragt und durch diese auch Videodokumentationen erstellen lassen, die einen Einblick in dieses intime Familiengeschehen geben.14 Er formuliert sein Programm so:15 „Es wird danach gefragt, ob Abendrituale Träger religiöser Inhalte werden, die mit christlichen oder anderen, inhaltlich ebenfalls umschreibbaren Formen von Religiosität in Verbindung stehen.“

Ich interessiere mich im Folgenden vor allem für die Rolle der Eltern bei den ZuBett-geh-Ritualen und dann für die konkreten Mechanismen der Ko-Konstruktion 11 Ebd., 200. 12 Gerhard Büttner, „Enthemmte Kommunikation“ als Voraussetzung für Glauben-Lernen, in: Isolde Karle (Hg.), Kirchenreform. Interdisziplinäre Perspektiven, Leipzig 2009, 237–252. 13 Aus pädagogischer Perspektive: Margret Xyländer, Die Familie als Bildungsgemeinschaft. Abendritual in rekonstruktiver Perspektive, Opladen/Berlin/Toronto 2014. 14 Christoph Morgenthaler, Abendrituale. Tradition und Innovation in jungen Familien, Stuttgart 2011. 15 Ebd., 28. Nach Christoph Morgenthaler, 121, „wird von einem weiten Begriff von Religiosität ausgegangen“.

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beim Abendgebet. Mit dem Abendritual verfolgen die Eltern wohl eine doppelte Absicht – neben der Vermittlung religiöser Inhalte durchaus den Wunsch nach dem baldigen Einschlafen der Kinder. So formuliert eine Mutter:16 „Weil die Idee vom Gebet und vom Singen und von der vorhergehenden Geschichte ist eigentlich die Idee vom ‚Von-oben-Herabschaukeln‘. Und ... dass man auch im Bett betet, und dass man dann auch im Bett bleibt. Weil es ja vor allem auch ... dass sie nachher nicht mehr aufstehen.“

Interessanterweise greifen die Eltern bei der Gestaltung des Abendrituals oft auf eigene Erfahrungen zurück. So erinnert sich eine Mutter:17 „Als junge Erwachsene kann man die Texte von allen diesen Schlafliedern nicht mehr und plötzlich, sobald man Mutter wird, fallen einem diese, wie wenn das mit den Hormonen gerade noch mitkäme, plötzlich fallen einem uralte Texte wieder ein. Und auch das Wiegenlied, das ich ihr eben schon im Bauch vorgesungen habe, das habe ich aus dem Schulsingbuch.“

Dabei spielt in vielen Familien das auf Schweizerdeutsch gesungene Lied vom Glöggli eine wichtige Rolle.18 Nach Morgenthaler scheint die „innerfamiliäre Tradition eines Abendgebets […] stabiler zu bleiben [gegenüber der Abnahme religiöser Praxis in anderen Feldern], ja seit den 1980-Jahren geradezu aufzuleben.“19

Das Abendgebet als Ko-Konstruktion Beginnen wir den Blick auf die intime Kommunikation am Kinderbett mit einer literarischen Darstellung von Gabriele Wohmann. Sie schildert, wie ein junges Paar sich über das Abendritual für den kleinen Dirk zu verständigen sucht. Bislang hatte das Abendritual sich um einige Figuren vermutlich aus einem Kinderbuch gedreht. Doch eines Tages formuliert Carla, die Mutter, den Wunsch, dass das Kind doch künftig ein Abendgebet sprechen sollte. Das Ende der trotz seiner Ernsthaftigkeit 16 Ebd., 82. 17 Ebd., 161. 18 Ebd., 146: Ich höre die kleine Glocke läuten, die läutet so nett. Der Tag ist vergangen, jetzt geh ich ins Bett, im Bett bete ich und schlafe dann ein, der liebe Gott im Himmel wird wohl bei mir sein. 19 Ebd., 173.

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witzig vorgetragenen Erzählung führt dann zu dem Versuch der Mutter, die getroffene Vereinbarung in die Praxis umzusetzen:20 „Carla am nächsten Abend auf Dirks Bettrand, war gerade bei ‚Schließe beide Äuglein zu’, als Dirk seine gefalteten kleinen Hände auseinanderriss und dann so formte, als umklammere er eine Pistole. Peng peng! rief er. Sein schönes freundliches und sanftes Kindergesicht war fröhlich. Dirk versuchte grimmig und schießwütig auszusehen. Jetzt nicht, sagte Carla, der es gelang, behutsam zu sprechen. Was wir jetzt machen, das ist … also wir beten.“

Diese literarische Episode weist auf zwei Beobachtungen hin, die sich am empirischen Material bestätigen werden. Einmal gehört es zum Wesenskern des Abendrituals, dass die äußere Form von großer Stabilität sein muss. Das heißt, dass der Sicherheit und Vertrauen spendende Charakter der abendlichen Veranstaltung nur dann gewährleistet ist, wenn dort vertraute Elemente vorkommen. Insofern – das zeigt der Wohmann-Text – ist es gar nicht so einfach, das Abendritual einfach willkürlich zu verändern – z.B. in Richtung eines größeren Anteils religiöser Elemente. Es wird aber auch sichtbar, dass – wie Nipkow moniert hatte – der Gedanke der „Weitergabe des Glaubens“ nicht so funktioniert, dass Eltern einfach einen Inhalt oder eine Form an das Kind weitergeben. So wie der kleine Dirk hier seinen Widerstand artikuliert, tun dies Kinder – wenngleich in anderer Gestalt – immer wieder. D.h., die Kinder sind aktive Mitgestalter dessen, was am Bettrand passiert. Ich möchte dies dokumentieren anhand zweier Beispiele aus der MorgenthalerStudie:21 „Abend um Abend wird in ähnlicher Weise gebetet. Ungefähr in der Mitte des Rituals steht dieses Gebet, entweder von Vater und Mutter oder auch von den Kindern initiiert. Die beiden Jungen wollen nicht mehr darauf verzichten (Bruno erzählte seiner Mutter, nachdem diese einmal das Gebet weggelassen hatte, er habe noch für sich gebetet und dem Mond den Auftrag gegeben, der Nonne in Italien gute Wünsche zu übermitteln). Es wird in der Familie zuerst ausgehandelt, wer das Gebet anleiten soll. Die Person, die bestimmt wird – meist ist es der Vater oder die Mutter – beginnt das Gebet mit einigen Dankesworten. Dann wird mit der Wendung „Bewahre Du doch …“ ein Fürbitteteil eingeleitet.“

20 Gabriele Wohmann, Müde bin ich – und wie weiter?, in: dies., Erzählen Sie mir was vom Jenseits. Gedichte, Erzählungen und Gedanken, Mainz 1994, 86–96, hier 95. 21 Christoph Morgenthaler, Abendrituale (wie Anm. 14), 43; ähnlich 90 und 203.

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Katharina Kammeyer referiert eine Szene, die zeigt, dass diese Aushandelung auch im Dissens enden kann:22 „In der Familie mit dem 6-jährigen Mädchen Mirjam nimmt ein Planungsgespräch, in dem die Mutter fragt, was sie gemeinsam beten wollen, vor dem eigentlichen Gebet viel Raum ein und prägt auch den Verlauf des Betens selbst. […] Wenn von dieser Planung inhaltlich abgewichen wird, unterbricht Mirjam den Gebetsduktus und die beiden wechseln zurück auf die Diskursebene.“

Konkret geht es dabei um die Fürbitte für eine Kindertagesstätte, die der Mutter wichtig ist, für die sich aber Mirjam nicht einsetzen möchte.23 Diese Befunde führen uns zu der Frage, wie denn nun solche Eltern-Kind-Gespräche in der religiösen Kinderliteratur gespiegelt werden. Weiterführend ist hier ein englisches Bilderbuch, dessen Text die Psychologin Elizabeth Liddle verfasst hat. Es geht dabei ebenfalls um ein Gespräch zwischen Pip und seiner Mutter im Zusammenhang des Zu-Bett-geh-Rituals.24 Wir dokumentieren und analysieren das erste Gespräch:25 „Pip stellt gern Fragen, besonders vor dem Einschlafen. Manchmal wartet er sogar die Antwort ab. Aber am liebsten beantwortet er die Fragen gleich selbst. Als Pip noch sehr klein war, fragte er seine Mutter: ‚Mama, wo ist eigentlich Gott?‘ ‚Wo denkst denn du, dass er ist, Pip?‘ ‚Im Himmel‘, sagte Pip. ‚Aber Mama, wo ist denn der Himmel?‘ Bevor sie antworten konnte, sagte Pip: ‚Ich glaube, er ist dort‘, und zeigte mit dem Finger nach oben. ‚Warum da oben?‘, fragte seine Mutter. ‚Nämlich, weil unten die Erde ist. Aber oben ist der Himmel und im Himmel ist doch Gott. Und vom Himmel kann er herunterunterschauen und sehen, ob bei uns alles in Ordnung ist.‘ ‚Gute Nacht, Pip!‘, sagte seine Mutter. ‚Schlaf gut!‘“

22 Katharina Kammeyer, „Lieber Gott, Amen!“ Theologische und empirische Studien zum Gebet im Horizont theologischer Gespräche mit Vorschulkindern, Stuttgart 2009, 314. Kammeyer bezieht sich dabei auf die bei Morgenthaler angefertigte Arbeit von Reto Bichsel-Triches, Abend-Talk mit dem Engelchef, Bern 2003. 23 Ebd., 314f. 24 Elizabeth Liddle, Pip and the Edge of Heaven. Illustrated by Lara Jones, Oxford 2002; deutsche Ausgabe illustriert von Imke Sonnichsen, Stuttgart/Wien 2003 („Mama, wie groß ist der Himmel?“). 25 Ebd.

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Die Szene ist äußerst aufschlussreich. Sie zeigt einen partizipatorischen Umgangsstil, den wir auch in den empirischen Studien fanden. Hinter der offenen Strategie der Mutter zeigen sich zwei Tendenzen. Ihre Art, die Fragen Pips an diesen zurückzugeben, verweisen einerseits auf einen sokratischen Stil, durch die Frage das Selber-Denken des Gegenübers zu forcieren. Andererseits weiß die Mutter, dass die Fragen im Sinne von Foersters „unentscheidbare Fragen“ sind. Der Clou des Buches liegt u.a. darin, dass im weiteren Voranschreiten deutlich wird, dass sich die Antworten Pips als unzureichend erweisen und weitergesponnen werden müssen. D.h., dass das Gespräch in einem offenen Raum stattfindet – die Antworten werden als vorläufig, aber gleichwohl verbindlich markiert. Man erkennt es daran, dass die Antwort mit Gott im (physikalischen) Himmel erst einmal stehen gelassen wird. Statt „Gute Nacht!“ steht im englischen Original „God bless you!“. Mit diesem Segensspruch gibt die Mutter dann eine performative Antwort, deren Relevanz und Wahrheit Pip in diesem Moment handgreiflich beim Ankuscheln an die Mutter spüren kann.

Elternbild und Gottesbild Unser Blick konzentrierte sich bis jetzt auf die Kommunikation zwischen einem oder beiden Elternteilen und dem Kind und gegebenenfalls seinem Geschwister. Nun wird aber aus der Morgenthaler-Studie auch deutlich, dass die Beziehung der Eltern sich unmittelbar auf das abendliche Ritual auswirkt. So erfährt man, dass die Trennung der Eltern bei dem Kind Irritationen auslöst, die sich auch als Störungen beim Zu-Bett-Gehen niederschlagen.26 Man kann diese Beobachtung zum Ausgangspunkt der Frage nehmen, ob sich denn das Erleben des Kindes mit seinem Eltern auch in der Art und Weise niederschlägt, wie es sich Gott vorstellt. Für die Religionspsychologie gehörte dieses Thema lange Zeit zu den bevorzugten Themen – geprägt von Projektionshypothesen, die das Gottesbild in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Vater- bzw. dem Mutterbild sehen. Dabei zeigt eine große interkulturell angelegte Studie, dass Elemente beider Elternimagines ins Gottesbild eingehen:27 „The representation of God integrates to a high degree the two paretal dimensions, and is therefore more complex than the father figure. In a certain way the represen26 Christoph Morgenthaler, Abendrituale (wie Anm. 14), 15. 27 Antoine Vergote, Overview and Theoretical Perspective, in: ders. / Alvaro Tamayo (Hg.), The Parental Figures and the Representation of God. A Psychological and Cross-Cultural Study, The Hague/Paris/New York 1981, 185–225, hier 206.

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tation of God is more maternal than paternal because it stresses more the maternal qualities than the paternal.“

Friedrich Schweitzer macht deutlich, dass diese Imagines zwar notwendig sind, ihre spezifische Ausprägung aber nicht nur von den realen Eltern abhängig ist, sondern auch geprägt ist von herrschenden Idealen und dem Einfluss spezifischer religiöser Traditionen.28 Wir wissen aus einer Studie von Simone de Roos, dass bei nichtreligiösen Eltern das Gottesbild der Erzieherinnen im Kindergarten Einfluss auf das der Kinder hat.29 Es wäre von daher interessant, einen Blick auf die Auswirkungen von sog. Patchwork-Familien für die religiöse Erziehung zu erhalten. Dabei kommt auch dort Religion wohl nur in dem Maße vor, in dem dies in der Alltagskommunikation der Partner eine Rolle spielt. Als mögliche Informationsquelle ziehe ich auch an dieser Stelle Kinderbücher heran.

Fragmentarische Wirklichkeit im Kinderbuch In ihrem Überblick über die neueren Kinderbücher in Westeuropa kommt Rita Ghesquière zu der Einsicht, dass diese inzwischen keinen kindlichen Schonraum mehr repräsentieren, sondern ein Spiegel all dessen sind, was heutigen Kindern alles zustoßen kann.30 Insofern kann uns ein Blick in solche Kinderbücher auch sensibel dafür machen, in welchem (familiären) Kontext sich für die Heranwachsenden die Gottesfrage stellt. Nun hält sich die Anzahl der Kinderbücher, die religiöse Fragen thematisieren, in Grenzen. Trotzdem ist meine Auswahl eher zufällig. Sie ist das Resultat einer Recherche zu einem Seminar zum Thema und basiert auch auf Tipps befreundeter Kolleg/innen.31 Für mich – das sei vorweggenommen – war es dann aber doch erstaunlich, wie sehr sich die Bücher ganz unterschiedlicher Autoren dann thematisch ähnelten. Ich referiere den Inhalt von vier Büchern und 28 Friedrich Schweitzer, Elternbilder – Gottesbilder. Wandlung der Elternrollen und die Entwicklung des Gottesbildes im Kindesalter, in: Katechetische Blätter 119, 1994, 91–95, hier 93f. 29 Simone A. de Roos, Der Einfluss von Eltern und Erzieherinnen auf die Gottesbilder von Kindern, in: Albert Biesinger u.a. (Hg.), Brauchen Kinder Religion? Neue Erkenntnisse – Praktische Perspektiven, Weinheim/Basel 2005, 80–94. 30 Rita Ghesquiere, Through a Glass Darkly: The Search for Meaning and the Challenges of Contemporary Children’s Literature, in: Annemie Dillen / Didier Pollefeyt (Hg.), Children’s Voices. Children’s Perspectives in Ethics, Theology and Religious Education, Leuven/Paris/ Walpole MA 2010, 397–420, hier 402f. 31 Zwei der von mir ausgewählten Bücher finden sich besprochen in Mirjam Zimmermann, Literatur für den Religionsunterricht. Kinder- und Jugendbücher für den Religionsunterricht, Göttingen 2012 (Pausewang 40ff und Thiel 88ff).

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diskutiere dann, welche Muster zum Zusammenhang von Familie und Gottesvorstellung sich hier zeigen. Die deutsche Kinderbuchautorin Gudrun Pausewang32, mit ihren internationalen Bestsellern zur Bedrohung durch Krieg und nuklearer Verseuchung, hat ein Kinderbuch zur Theodizeethematik geschrieben: „Ich geb dir noch eine Chance, Gott!“.33 Die achtjährige Nina sieht, wie vor ihren Augen eine Katzenmutter überfahren wird und ein Junges neben der sterbenden Mutter sitzt. Nina nimmt sich des Tierchens an, doch ihre alleinerziehende Mutter erklärt ihr, dass Nina die Katze nicht nach Hause bringen darf. Daraufhin irrt das kleine Mädchen mit seiner Katze durch die Großstadt. Es begegnet den verschiedensten Personen und gerät auch in Gefahren, u.a. durch einen Mann, der offenbar das Mädchen missbrauchen will. Doch am Ende der Nacht trifft es auf einen jungen Mann, den Sprayer, mit dem es sein Problem besprechen kann und der ihm mitteilt, dass seine Mutter – auch mit Katze – sehnlich auf sie wartet. In diese Handlung versponnen ist Ninas Frage nach Gott und wie er all die schlimmen Dinge zulassen kann. Ninas Gottesbild aus einer Kinderbibel mit einer anthropomorphen Gestalt wird von ihr nach der Episode mit der sterbenden Katzenmutter abgetan – wie Osterhase und Weihnachtsmann. Sie ist fasziniert von einem Spraybild, dass sie für einen „Schweinegott“ hält. Dieses Zutrauen entwickelt sich zusammen mit ihrer Fürsorge für das Katzenkind. Doch im Laufe des Tages und der Nacht wird auch dieses Bild brüchig, zumal sie auch von anderen Göttern (im Plural) hört. Doch im Gespräch mit dem Sprayer eröffnet sich ihr ein neues Bild von Gott, auch wenn dieses viele Fragen, etwa das nach der Gerechtigkeit, nicht beantwortet. Der Sprayer versucht dann ein entsprechendes Bild an eine Wand zu malen. Gleichzeitig erfährt Nina aber auch, dass der Sprayer sie auffängt, als sie von der Friedhofsmauer herunterzufallen droht, auf die sie geklettert sind. Schließlich weist der Sprayer sie zurück zu ihrer wartenden Mutter. So gesehen lässt sich noch eine dritte Ebene in der Erzählung einzeichnen – die der providentia dei. D.h., dass jenseits der Schrecknisse und Bedrohungen, die Nina begegnen, auch die Bewahrung und Fürsorge Gottes erkennbar ist.

Stellt man unsere Fragestellung in Rechnung, dann fällt auf, dass auf der familialen Ebene die Rolle des Vaters nicht besetzt ist. Sie wird – zumindest episodal 32 Zu Pausewang: Uwe Jahnke, Gudrun Pausewang. Leben und Werk, Ravensburg 2010; Susan Tebbutt, Gudrun Pausewang in Context, Frankfurt a.M. 1994. 33 Gudrun Pausewang, Ich geb dir noch eine Chance, Gott!, Ravensburg 1999.

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– eingenommen von der Gestalt des jungen Mannes mit den Spraydosen. Schon bevor das Mädchen ihn persönlich kennt, ist sie von dessen Bildern beeindruckt, die ihre Phantasie beflügeln. Nicht zufällig ist er es, der ihr dazu verhilft, ein neues Gottesbild zu finden – auch wenn sie nicht alles versteht, was der Sprayer ihr zu seinem neuen Bild erklärt. Der beiläufig erzählte Vertrauenssprung ist eine häufig gebrauchte Metapher für das Vertrauen in den väterlichen Gott der Bibel. Wir sehen, dies sei im Vorgriff schon gesagt, dass die Autorinnen der Kinderbücher gerade im Kontext nichtklassischer Familienkonstellationen männlichen Figuren im Hinblick auf Glaubensfragen einiges zutrauen. Das zweite Buch stammt von der ebenfalls bekannten Kinderbuchautorin Irma Krauß.34 Auch bei „Gott zieht um“ geht es vordergründig um die Theodizeethematik.35 Der Viertklässler Jörg und sein Bruder, der Erstklässler Märten, leben mit ihrer Mutter in einer Kleinstadt. Fast zeitgleich mit der Geburt Märtens verunglückt der Vater tödlich. Dieses Ereignis führte dazu, dass das Thema „Gott“ in der Familie tabuisiert ist. Nun stoßen die beiden Kinder durch ihre Fragen an dieses Tabu. Der kleine Märten wird durch den Bau einer Moschee neben seinem Schulweg auf die Idee gebracht, dass Gott wohl umziehe, wenn er, der nach seiner Meinung bisher in der Kirche wohnte, jetzt ein neues Haus bekommt. Jörg hingegen, der, wie er herausbekommt, früher getauft worden und mit dem auch gebetet worden ist, ringt mit der Frage nach der Existenz Gottes. Beide Kinder gehören zu den wenigen nichtmuslimischen Kindern, die statt des Religionsunterrichts den Ethikunterricht besuchen. Diesen erteilt Oliver, der als Schwangerschaftsvertretung für kürzere Zeit an der Schule der beiden Brüder unterrichtet. Jörg freundet sich mit Oliver an, mit dem er seine Fragen endlich besprechen kann. Oliver selbst ist – ähnlich wie der Sprayer bei Pausewang – ein Gottsucher und fühlt sich durch die Fragen Jörgs selbst herausgefordert. Am Ende kommt Oliver zum gemeinsamen Spielabend in die Familie der beiden Jungen. Die Mutter erkennt, dass sie durch ihre durch die Trauer bestimmte Haltung ihre Kinder blockiert, und öffnet sich der neuen Situation. Für Jörg wird die Erfahrung mit Oliver und die Veränderung in seiner Familie selbst zum Gottesbeweis. 34 Barbara Staudigl, Irma Krauß, „Durch meine Augen in ein fremdes Herz“, in: Christian Boeser / Birgit Schaufler (Hg.), Vorneweg und mittendrin. Porträts erfolgreicher Frauen, Königstein/Taunus 2006, 123–135, hier 133; Gerhard Büttner, Transzendenzsensible Beobachtungen der Wirklichkeit beobachten. Religion im Werk von Irma Krauß, in: Mirjam Zimmermann / Jana Mikola (Hg,), Doppelinterpretationen. Religion in der Kinder- und Jugendliteratur, Baltmannsweiler 2018, 115–122. 35 Irma Krauß, Gott zieht um, Würzburg 2005.

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Wieder begegnen wir hier einer unvollständigen Familie, die durch ein schlimmes Ereignis in ihrem Vertrauen zu Gott beeinträchtigt ist. Im Gegensatz zur ersten Geschichte sind hier die Rollen vertauscht: die Mutter ist durch den Tod ihres Mannes im Hinblick auf das Thema Religion blockiert. Es sind die Kinder, die durch ihr naives (Märten) oder reflektiertes (Jörg) Fragen, die Blockade der Mutter lösen können. Wieder ist es eine männliche Gestalt von außerhalb, die Nachdenken und Vertrauen in die Familie zurückbringt, wobei Oliver in dieser Geschichte wie ein Katalysator wirkt. Jörgs Evidenzerfahrung im Hinblick auf Gott macht ihm (und den Leser/innen) deutlich, dass das Reflektieren in dieser Frage, wozu ihm Oliver hilft, zwar wichtig ist, Glaube aber auf andere Weise existentiell erfahrbar wird. Einer ähnlichen Sinnsucherin wie Jörg begegnen wir in Polleke, der Heldin der Kinderbuchreihe des niederländischen Autors Guus Kuijer.36 Die Konstellation ist deutlich komplexer als in den bisher referierten Büchern. In dem von mir ausgewählten Buch der Polleke-Reihe „Wunder kann man nicht bestellen“37 ist das Mädchen zwölf Jahre alt und eines von zwei niederländischen Kindern in einer multikulturell zusammengesetzten Klasse. Sie lebt bei ihrer geschiedenen Mutter, die im Verlauf des Buches Pollekes Lehrer heiratet. Eine Kinderfreundschaft verbindet sie mit Mimun, einem marokkanischen Mitschüler. Für die religiöse Fragestellung sind von besonderer Bedeutung ihr Vater Spiek und dessen Eltern, besonders der Großvater. Man könnte Polleke in gewisser Hinsicht als fromm bezeichnen – auch wenn sie sich über ihr Gegenüber nicht ganz sicher ist. Ihr Vater Spiek und seine Partnerin sind Anhänger östlicher Religion, auch weil das Meditieren ihn von seiner Drogensucht befreit hat. Der auf dem Land lebende Opa ist dagegen ein frommer Anhänger des christlichen Glaubens. Für Polleke gewinnt diese Thematik an Bedeutung, als deutlich wird, dass der Großvater an Krebs erkrankt ist und bald sterben wird. In dieser Situation wendet sich Polleke an die Marienfigur in einer Kirche und erhofft von ihr ein Wunder – was aber letztlich ausbleibt. Doch bei ihrem Besuch beim Großvater führt dieser sie auf den Friedhof und zeigt ihr, wo er beerdigt werden wird, und übergibt seiner Enkelin einen Stuhl, auf dem sie ihn dann sitzend wird besuchen können.

Im Gegensatz zu den bisherigen Büchern wird deutlich, dass die Begegnung mit leidvollen Erfahrungen nicht automatisch zur Theodizee-Frage führen muss. Polleke ist ähnlich eine Suchende wie Jörg in der Geschichte von Irma Krauß. Sie erlebt 36 Rita Guesquiere, Jeugdliteratuur in perspectief, Leuven/Den Haag 2009, 192–194. 37 Guus Kuijer, Wunder kann man nicht bestellen, Hamburg 2004. Die niederländische Version erschien unter dem Titel „Met de wind mee naar de see“, Amsterdam 2001.

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Religion im Plural und von Vertretern, die ernsthaft an diese gebunden sind: der Muslim Mimun, der „Buddhist“ Spiek und der christliche Großvater. Sie ist aber auch selbst an diese Personen (wie auch an ihre Mutter) gebunden. So zeigt sich bei Polleke auch der Glaubenskonflikt nie in der harten radikalen Form wie in den Personen der anderen beiden Bücher. Man ist geneigt, auch dies der Familienkonstellation zuzuschreiben. Das vierte hier vorgestellte Buch fällt insofern etwas aus der Reihe, als es der literarische Erstling der Pfarrerin Christiane Thiel ist.38 Die Geschichte „Das Jahr, in dem ich 13 ½ war“39 spielt in der extrem säkularisierten Stadt Leipzig. Nach dem Tod ihres Vaters hat die Mutter der dreizehnjährigen Ich-Erzählerin Tine sich mitsamt ihrer Familie vom Glauben entfernt. Nach der Trennung der Mutter von ihrem Mann lebt diese mit ihren beiden Töchtern in Leipzig. Diese Situation wird nun dadurch gestört, dass die Mutter einen neuen Partner hat und die beiden ein Kind bekommen. Tine schätzt den neuen Vater sehr und freut sich auch über das neue Geschwister. Zur großen Irritation für die pubertierende Tine wird die Tatsache, dass der neue Stiefvater Carsten gläubig ist und gerne möchte, dass seine neue Tochter getauft wird. Für Tine ist diese Abweichung von der ihr geläufigen Normalität peinlich. Doch durch die freundlichen Impulse Carstens und vor allem die von dessen Eltern, Tines „neuen Großeltern“, nähert sich Tine im Laufe des Buches immer mehr dem christlichen Glauben an. Parallel dazu entwickelt sich eine für Tine sehr belastende Situation mit einer Freundin, die sie massiv unter Druck setzt. Zu Tines Überraschung bietet hier ein Beichtgespräch bei der Pfarrerin einen Ausweg. So finden am Ende beide Erzählstränge zusammen.

Auch dieses Buch präsentiert eine Parallelentwicklung von Prozessen in der Familie und den Glaubensvorstellungen der Protagonistin. Der neue Vater und seine Eltern werden zu Impulsgebern für die Glaubensentwicklung bei Tine.

Theologische Deutungsversuche Meine Argumentation stützt sich auf Beobachtungen in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden. Demnach ist die religiöse Kommunikation zwischen Eltern und Kindern geprägt durch das Phänomen der Individualisierung.40 38 Zu den Details Mirjam Zimmermann, Literatur für den Religionsunterricht (wie Anm. 31), 88ff. 39 Christiane Thiel, Das Jahr, in dem ich 13 ½ war, Weinheim/Basel 2007. 40 Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim, Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M., 41998.

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D.h. auch, dass diese Kommunikation, wie das Beispiel Abendritual zeigt, in einem Raum stattfindet, den jede Familie sehr individuell gestaltet und der somit auch von je eigenem Charakter ist. Das bedeutet auch, dass wir es hier mit immer neuen Aushandlungsprozessen zu tun haben. Dies gilt für die Abstimmung unter den Erwachsenen, bei denen man – gerade in Fragen der Religion – nicht unbedingt einen automatisch gegebenen Konsens voraussetzen kann. Doch auch die Kinder sind in diesem Prozess keinesfalls bloß Rezipienten, sondern aktive Ko-Konstrukteure. Ja, man wird sogar davon ausgehen können, dass Kinder das, was ihnen im Kindergarten, dem Religionsunterricht oder den kirchlichen Angeboten wie z.B. Krippenspielen begegnet, ihrerseits als eigene Anstöße in die Familienkommunikation einbringen. Insofern ist der Gedanke einer Kindertheologie als Kommunikation des Evangeliums vermutlich angemessener als der einer Weitergabe des Glaubens.41 Der Blick in die Kinderbücher macht nun aber auch darauf aufmerksam, dass Familie keineswegs ein unangefochtenes Phänomen darstellt. Auch wenn offiziell (und oft auch kirchlich) verheiratete Paare insgesamt42 noch eine Mehrheit bilden, so mindert dies nur bedingt die skizzierte Tendenz zur Individualisierung.43 Dazu kommt, das zeigen auch die hier angeführten Kinderbücher, dass auch die Erwachsenen religiös eher Suchende sind als Experten, die nur etwas weiterzugeben brauchen. Diese Situation drückt sich auf der Ebene der Inhalte dann so aus, dass auch die Glaubensinhalte ( fides quae creditur) geprägt sind von Unsicherheiten und idiosynkratischen Gestaltungen.44 Dies muss kein Nachteil sein, stellt aber die Frage nach dem Verhältnis dieser Familienreligiosität zu den Glaubensaussagen der Kirchen. Damit wird aber zwangsläufig ein ekklesiologischer Diskurs eröffnet. Herman Lombaerts und Elżbieta Osewska situieren die Familie als Hauskirche als Grund41 Gerhard Büttner, Kinder- und Jugendtheologie als „Kommunikation des Evangeliums und des Glaubens“ – Im Lichte der Kritik von Bernhard Dressler, in: Christina Kalloch / Martin Schreiner (Hg.), „Man kann es auch als Fantasie nehmen.“ – Methoden der Kindertheologie, Jahrbuch für Kindertheologie 14, Stuttgart 2015, 9–18. 42 Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 367 vom 20.10.2014: „Im Jahr 2013 waren in Deutschland 70% der insgesamt knapp 8,1 Millionen Familien mit mindestens einem minderjährigen Kind Ehepaare. Der Anteil der alleinerziehenden Mütter und Väter an allen Familien betrug 20%. Die restlichen 10% entfielen auf nichteheliche oder gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften.“ – https://www.destatis.de/DE/PresseService/ Presse/Pressemitteilungen/2014/10/PD14_367_122.html. 43 Vielleicht am treffendsten ausgedrückt in dem Buchtitel zur religiösen Situation in der Schweiz: Alfred Dubach / Roland J. Campiche (Hg.), Jede(r) ein Sonderfall? Religion in der Schweiz. Ergebnisse einer Repräsentativbefragung, Zürich 1993. 44 Dazu im Hinblick auf den Religionsunterricht Gerhard Büttner / Oliver Reis, Glaubenswissen – konstruktivistisch gelesen, in: Gerhard Büttner u.a. (Hg.), Glaubenswissen, Religion lernen. Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik 6, Babenhausen 2015, 9–20.

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VI. … andere Themen

lage eines vierstufigen Modells: von der Familie über die Parochie und die Diözese zur Weltkirche. Als Charakteristikum formulieren sie:45 „The family is the natural unit for sharing Christian living. Within the informal style, the natural love, the caring atmosphere and mutual recognition, children assimilate and integrate, as an osmosis, the religious images, stories, emotions, vocabulary and language, rituals, relationships, behavior related to sacred spaces, etc. They enter into the religious universe, which the parents set for themselves and then intend to live with their children.“

Diese Sichtweise ist theologisch korrekt. Doch wird man zwei Fragen an sie herantragen müssen. Die erste richtet sich auf die Selbstbeschreibung durch die Familien selbst. Kämen die in diesem Beitrag ins Blickfeld genommenen Familien auf die Idee, sich selbst als Form von Kirche zu verstehen? Wenn dem nicht so sein sollte – was bei der Mehrzahl zu vermuten ist –, ist dann die entsprechende Fremdbeschreibung legitim? Wie gehen wir mit der Tatsache um, dass die in dem obigen Zitat angesprochenen Charakteristika familialer Kommunikation möglicherweise nur manchmal der Realität entsprechen? Können wir auch von einer familialen Realität im Fragment Grundbausteine von Kirche erkennen? Ich selbst tendiere dazu, dort, wo eine ernsthafte Kommunikation über Gott und den Glauben stattfindet, eine ekklesiologische Dimension zu sehen, wenn einer solchen Deutung von den Beteiligten nicht explizit widersprochen wird.46 Damit neige ich zu einer eher bescheidenen Ekklesiologie in dieser Frage.

45 Herman Lombaerts / Elżbieta Osewska, Family Catechesis. Religious Education in 21st Century Europe, in: Elżbieta Osewska / Jozef Stala (Hg.), Religious Education (wie Anm. 10), 27–47, hier 28f. 46 Gerhard Büttner, Braucht Jugendtheologie eine „ekklesiologische“ Fundierung? In: VeitJakobus Dieterich (Hg.), Theologisieren mit Jugendlichen. Ein Programm für Schule und Kirche, Stuttgart 2012, 70–78.

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Erzieher/innen-Theologie

VII. Theologie von Erzieher/innen und Lehrpersonen

Zu Beginn des Interesses an Kindertheologie stellte man überrascht und erfreut fest, dass Kinder offenbar mit beachtlicher Intensität über religiöse Fragen nachdenken. Viele Erziehungspersonen zogen daraus den Schluss, dass dies gefördert werden sollte. Viele Bildungspläne formulieren dies explizit. Doch in der Praxis stellte sich heraus, dass dies gar nicht so einfach ist. Hanna Roose stellte im Gegenteil in ihren Forschungen fest, dass die existenziellen Fragen der Kinder für die Lehrkräfte keinesfalls Steilvorlagen zum Theologisieren bildeten, sondern als peinlich oder privat eher unterdrückt werden.1 Damit wird deutlich, dass das schwächste Glied beim Theologisieren mit Kindern die Theologie der Lehrpersonen ist. Ich habe dies in zwei neueren Aufsätzen aufgenommen und in einer gemeinsamen Monografie mit Oliver Reis vertieft.2 Es geht darum, dass die Lehrkräfte bei jedem Thema sich vergewissern sollten, dass es unterschiedliche Lernarten und Lösungen gibt. Diese sollten die Unterrichtenden kennen und sich selbst gegenüber diesen positionieren können. Dies gilt für die Schule und noch mehr für Kindergärten. So kann man durchaus formulieren: es gibt keine Kindertheologie ohne eine solche der Erziehungspersonen.

1 Hanna Roose, Kindertheologie und schulische Alltagspraxis. Eine Studie zum Verhältnis von kindertheologischen Normen und eingeschliffenen Routinen im Religionsunterricht, Stuttgart 2019. 2 Gerhard Büttner / Oliver Reis, Modelle als Wege des Theologisierens, Göttingen 2020.

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VII. Theologie von Erzieher/innen und Lehrpersonen

Erzieher/innen-Theologie Problembeschreibung Auf dem Heimweg vom Gottesdienst fragt der fast vierjährige Elias seine Eltern: „Geht Jesus auch nach Hause oder bleibt er in der Kirche?“ Dass wir über diese Frage nachdenken können, ist keinesfalls selbstverständlich. Wer im öffentlichen Raum erlebt, dass die meisten Kinderfragen keine oder sehr kurze Antworten erhalten, der wird es auf jeden Fall wertschätzen, dass hier eine Mutter eine Kinderfrage aufgenommen hat und sie ihr noch nach längerer Zeit präsent ist. Wir können dann wohl auch davon ausgehen, dass Elias eine Antwort auf seine Frage erhalten hat. Wir begegnen hier der Grundkonfiguration von Kindertheologie. Eine Kinderäußerung, auf die keiner reagiert, kann erst einmal keine Theologie sein. Die Ausführungen von Jerome Bruner zeigen uns, dass es für den Spracherwerb des Kindes essentiell ist, dass die Wortbildungen und der Sprachgebrauch des Kindes von einem erwachsenen Gegenüber verstanden werden und dann durch Erklärungen und Korrekturen im kollektiven Sprachgebrauch situiert werden können.1 Ähnlich verhält es sich mit den religiösen Äußerungen der Kinder. Sie müssen als solche verstanden werden, damit sie dann auch entsprechend gewürdigt werden können. Durch ihre Einordnung in eine theologische ‚Syntax‘ werden sie dann selber Teil der theologischen Sprache. Damit wird deutlich, dass der erwachsene Gesprächspartner des Kindes zwangsläufig zum Repräsentanten einer wie auch immer gearteten Theologie wird. Denn jede Reaktion gegenüber dem Kind bedeutet eine Einordnung von dessen Frage. Ich möchte dies nun im Detail zeigen. Was können die Eltern des kleinen Elias antworten? Das hängt nun sehr davon ab, wie sie selbst die Frage verstehen. Es gibt dabei – neben unangemessenen! – durchaus mehrere Antwortmöglichkeiten, die sich auf theologische Positionen rückbeziehen lassen. Ich möchte dies im Folgenden demonstrieren: Antwort

Theologischer Bezug

Weder noch! Jesus lebte vor Diese Antwort ist einerseits historisch, andererseits 2000 Jahren und ist jetzt im biblisch (vielleicht auch biblizistisch), indem sie auf Himmel bei seinem Vater. die Himmelfahrt rekurriert

1 Jerome Bruner, Wie das Kind sprechen lernt, Bern 1987.

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Erzieher/innen-Theologie

Er ist in der Kirche.

Hier kann man an Jesusbilder oder -figuren denken – vielleicht den Korpus eines Kruzifix. Wenn es sich um eine katholische Kirche handelt, wird man an die aufbewahrte Hostie im Tabernakel denken, die die Anwesenheit Jesu repräsentiert.

Er begleitet uns nach Hause.

Die Präsenz Jesu wird (evangelischerseits) nicht an einen Raum gebunden (Kirche), sondern an die Gottesdienst feiernde Gemeinde. Insofern ist es konsequent, diese Präsenz auch auf den Heimweg zu beziehen („Wo zwei oder drei …“).

Sowohl als auch!

Auch wenn jüngere Kinder dazu neigen, die Präsenz Christi exklusiv zu denken (wenn er hier ist, kann er nicht gleichzeitig anderswo sein), ist es sinnvoll, darauf zu verweisen, dass Jesus in der Kirche ‚wohnen‘ und trotzdem ‚bei uns‘ sein kann.

Keine der Antwortmöglichkeiten ist falsch. Für alle lassen sich Bezüge in der theologischen Tradition und Diskussion finden. Welche im konkreten Fall am angemessensten ist, hängt davon ab, welche Folgegespräche als sinnvoll ins Auge gefasst werden.

Ein Blick in die Praxis eines Kindergartens Angela Kunze-Beiküfner zeigt uns, dass meine Überlegungen in der Praxis des Kindergartens eine unmittelbare Entsprechung finden.2 Den Ausgangspunkt bildet die Frage: „Ist der lebendige Jesus wirklich immer noch gegenwärtig wirksam und erfahrbar?“ Frau Clemens, die Erzieherin, rekurriert bei ihrer Antwort erst einmal auf den historischen Jesus und betont, dass dieser wirklich gelebt hat. Doch das genügt den Kindern nicht. „Als Celine mit dieser Antwort nicht zufrieden war und nachfragte: ‚Das kann man gar nicht glauben, oder?‘, reagiert Frau Clemens“ irritiert. „Nachdem Hans und Jana sagen, dass Jesus nicht jedes Jahr zu Weihnachten geboren werde, erläuterte Frau Clemens später, dass Jesus an einem Weihnachten vor ‚ganz vielen Jahren‘, als die Kinder noch nicht geboren waren, auf die Welt gekommen sei. Doch die Fragen, ob Jesus wirklich leiblich den Tod überwunden habe, ob Jesus heute noch lebe und wie das zusammenpasse, dass Jesus lebt und wir ihn dennoch 2 Angela Kunze-Beiküfner, Kindertheologisch-sensitive Responsivität pädagogischer Fachkräfte in Kindertagesstätten: eine Untersuchung zur Praxis des Theologisierens in Kindertagesstätten, Leipzig 2017, 364f.

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VII. Theologie von Erzieher/innen und Lehrpersonen

nicht sehen können, diese Fragen beschäftigten nicht nur Alex. Viele Kinder hatten dazu ‚eine Idee‘. Folgende Lösungen hatten die Kinder: Jesus ist aus Luft, Jesus ist am Kreuz gestorben, Jesus ist in einem anderen Land, Jesus ist im Himmel.“ Dabei kommt es auch zu missverständlichen Vermischungen. Man kann leicht erkennen, dass ‚die Christologie‘ der Kinder – zumindest in ihrer Gesamtheit – reicher ist als das Deuteangebot der Erzieherin. Angela Kunze-Beiküfner betont deshalb: „Von Frau Clemens kamen hier kaum Hilfestellungen. Ihre Aufgabe wäre es gewesen, die Themen in den Antworten der Kinder zu erkennen, die Kategorien der Fragestellungen klären zu helfen, Strukturierungen für die Antworten der Kinder anzubieten und Vernetzungen zu schon erfolgten Impulsen, Gesprächen und Erfahrungen herzustellen.“

Die Entwicklung von Modellen Frau Clemens hätte in unserem Anfangsbeispiel vermutlich die erste Antwortvariante gewählt: Weder noch. Im Kontext einer historischen Fragestellung ist der Hinweis auf die geschichtliche Gestalt Jesu hinreichend. Doch die Frage, warum und wie dieser Jesus in der Kirche und im Gottesdienst heute noch eine Rolle spielt, lässt sich so nicht beantworten. Die Theologie fügt deshalb dem historischen Jesus einen kerygmatischen Christus hinzu. Dieses Konstrukt verbindet biblische Aussagen von Auferstehung und Himmelfahrt mit der Frage, in welcher Weise Jesus heute als präsent gedacht werden kann. Die Kinder bewegen sich mit ihren Antworten in dieser Spur. Dass die Antworten zwei bis vier sich unterscheiden, zeigt, dass die Frage der ‚Anwesenheit‘ Jesu durchaus unterschiedlich gedacht werden kann. Ich schlage vor, hier von unterschiedlichen (Denk-) Modellen zu sprechen.3 Ich gebrauche den Modellbegriff, weil ich betonen möchte, dass der Zugang zu dem hier besprochenen Thema gar nicht so einfach ist. Das Gespräch geht hier um Jesus. D.h., die für den Kindergarten so typische Zugänglichkeit des Gegenstandes ist erst einmal nicht gegeben.4 Dies gilt auch für die Erzieherin. Historische Figuren entziehen sich einem unmittelbaren Zugang. Die Überlieferung und Zeugnisse ihres Wirkens können allenfalls Plausibilität erzeugen. Das gilt in gewisser Weise auch für Bilder und plastische Darstellungen. Ein anderer Verweisort sind Praktiken, die auf diese historische Gestalt erinnernd oder verehrend Bezug nehmen. Aus diesen Hinweiszeichen kann dann eine Vorstellung generiert werden, die ich Modell nennen möchte. In unserem Beispiel betrifft das die Kinder 3 Gerhard Büttner, Theologische Modelle im Religionsunterricht, in: KatBl 142 (2017), 52–58. 4 Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt a.M. 2007.

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Erzieher/innen-Theologie

ebenso wie die Erzieherin. Diese Modelle sind erst einmal sehr fragmentarisch, müssen sie doch an sich inkompatible Aspekte zusammenbekommen. Jesus hängt als Kruzifix am Kreuz, soll aber leben und man kann ihn nicht sehen. Die biblischen Narrative geben hier ein Modell ab: Jesus lebte (in Israel), starb und fuhr nach seiner Auferstehung in den Himmel zu Gott. Doch von dort kommt er (meist unsichtbar) zu Menschen, die an ihn denken. Dies geschieht ganz besonders im Gottesdienst in der Kirche. Dort findet man oft auch Hinweiszeichen auf Jesus. Ein solches Narrativ versucht, die ansonsten z.T. widersprüchlichen Erfahrungen und Phänomene zeitlich und räumlich zu ordnen. Diese Modelle können dann, so Hans Blumenberg, so etwas wie eine Landkarte bilden, an der die Erziehungspersonen sich orientieren können. In diesem Sinne lassen sich meine vier Antwortvorschläge als Weg zu einer Modellierung verstehen.

Modelle im didaktischen Setting Es ist typisch für Lernprozesse im Kindergarten, dass systematische Instruktion eher die Ausnahme ist. Das Ideal sieht vor, dass Kinder aus der Situation heraus ihre Lernaufgabe suchen und dabei u.U. dann auf die Unterstützung der Erzieherin angewiesen sind.5 Dieses induktive Vorgehen ist allerdings äußerst anspruchsvoll. Ich muss als Erzieherin erst einmal erfassen, um was es dem Kind geht. Angesichts der Komplexität ‚ganzheitlicher‘ Prozesse muss man erst einmal wahrnehmen, in welcher Richtung das auftretende Problem bearbeitet werden soll. Dabei ergibt sich häufig die Situation, dass das Problem eine Eigenlogik hat (z.B. mit der Schubkarre einen Graben zu überqueren), gleichzeitig aber auch die Entwicklungslogik des Kindes zu beachten ist (was weiß es schon und was folgt als nächstes?). Die Erzieherin braucht hier Modellvorstellungen, wie das Problem zu verstehen ist und welche Lösungsmöglichkeiten existieren. Das Gesagte gilt so auch für theologische Themen. Dabei zeigt sich ebenfalls die Doppelstruktur. Wenn das Kind einen Jesus am Kreuz in Gestalt einer Plastik erblickt, stellen sich ihm viele Fragen. Ist der echt? Darf man den anrühren? Steht der immer da? Ich habe schon ein Bild von Jesus gesehen. Ist das derselbe? Man kann diese Fragen pragmatisch beantworten. Doch stehen dahinter schwerwiegende theologische Kontroversen: Darf man Jesus (als Gottheit) bildlich darstellen? Hatten die Bilderstürmer der Reformation recht, als sie Bilder in der Kirche verboten? Soll man das Kreuz mit oder ohne Corpus zeigen? Darf man zu der Figur beten? Es gibt für jede dieser Fragen jeweils be 5 Hans Rudolf Leu u.a., Bildungs- und Lerngeschichten. Bildungsprozesse in früher Kindheit beobachten, dokumentieren und unterstützen, Weimar/Berlin o.J.

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VII. Theologie von Erzieher/innen und Lehrpersonen

gründete Antworten – und zwar im Sinne des Ja und des Nein. Oft hängt das mit konfessionellen Traditionen zusammen: Katholiken zeigen eher Jesus am Kreuz, Protestanten das leere Kreuz als Zeichen der Auferstehung. Aber das muss nicht so sein. Wir sind heute in der Situation, dass wir die unterschiedlichen Deutemöglichkeiten ins Spiel bringen können. Brauche ich für mein Gebet ein Gegenüber, z.B. in Gestalt einer Jesusfigur? Hilft das? Lenkt das ab? Soll man zu Gott(-Vater) beten oder zu Jesus Christus? Macht das einen Unterschied? Für die Erzieher/innen bedeutet das, dass sie keine Angst haben müssen, hier etwas Falsches zu sagen. Sie sollten sich aber selbst überlegt haben, warum sie eine bestimmte Option wählen. Das heißt aber auch, dass sie sich vergewissern müssen, dass es außer ihrer eigenen Deutung noch andere gibt. Letzteres ist aus zwei Gründen wichtig: Die Beiträge der Kinder sind vielfältig. Diese Vielfalt kann ich nur erkennen, wenn ich erst einmal davon ausgehe, dass die durchaus kontrovers einzuordnenden Aussagen doch alle in der einen oder anderen Weise stimmig sein könnten. Dies führt mich zu dem Schluss, dass die Erzieher/innen zu jedem theologischen Thema mehrere Modelle brauchen. Sie sollten besonders gut das Modell bedenken, dem sie zuneigen. Hier brauchen sie Begründungen und ein Nachdenken darüber, worauf ihr Modell keine Antwort geben kann. Dazu sollte die Einsicht kommen, dass es noch andere Modelle gibt. Das schützt vor dogmatischen Übergriffen – denn es könnte ja sein, dass das andere Modell die Sache eher besser trifft. Nur auf der Grundlage der eigenen Modellreflexion wird dann vollends klar, dass auch die Kinder ihre Modelle haben und diese letztendlich affin sind zu den Modellen der Erwachsenen. Von dieser Prämisse her kann dann ein Ein- und Zuordnen der Modelle der Kinder gelingen. Ich möchte abschließend vier Modelle skizzieren, die Anschluss an die obige Diskussion nehmen. Sie nennen einerseits die Sache, geben aber auch eine theologische Referenz. Dabei sei vorausgeschickt, dass das Reden von Jesus als historischer Gestalt erst einmal keine theologische Qualität hat. Ich diskutiere vier Phänomene, in denen sich die Gegenwart Jesu Christi zeigt. Modell

Theologischer Bezug

Jesus ist in seinen Geschichten gegenwärtig: Präsenz im Wort Wundergeschichten, Gleichnisse, Weihnachten, Ostern Er ist im Gebet anwesend: Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast

Gebet: Wo zwei oder drei …

Empfindung der Nähe bei einer Jesus­ figur.

Orthodoxe Tradition. Ikonen als Fenster zum Himmel

Feier der Eucharistie

Gemeinsames Mahl mit Christus

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Die Theologie der Kinder, die Theologie der Lehrpersonen

Die Theologie der Kinder, die Theologie der Lehrpersonen

Eine Wundergeschichte als Ausgangspunkt Wir sind es gewohnt, beim Theologisieren mit Kindern zuerst auf das zu schauen, was die Kinder sagen, welche Gedanken sie im Gespräch hervorbringen. Die sich dort äußernde Theologie setzen wir gegebenenfalls ins Verhältnis zu der Theologie, der wir in Büchern begegnen. Gibt es Übereinstimmung, gibt es originelle Einfälle oder ist etwas inkorrekt? Vermutlich ist dieser Blick zu einfach, weil er die Bedeutung der Lehrerinnen und Lehrer unterschätzt. Wenn ich als Lehrperson ein Gespräch über die „Wunderbare Brotvermehrung“ initiieren möchte, dann informiere ich mich im Neuen Testament und vielleicht in einem entsprechenden Kommentar. Ich lese dort, dass sich die Geschichte fünfmal im Neuen Testament findet. Mindestens zwei Aspekte sind auffällig und von mir zu bedenken. Markus erzählt die Geschichte zweimal, einmal mit 5000 und einmal mit 4000 Gesättigten. Johannes überliefert ein Gespräch mit Jesus, der die Speisung relativiert, weil die Gesättigten ja doch wieder Hunger bekämen, und verweist auf sich selbst als „Brot des Lebens“. Wie soll ich da meine Erzählung für die Kinder konzipieren? Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten. Die wissenschaftliche Theologie befragt die Geschichte auf ihr Verhältnis zu den Elementen des eucharistischen Mahls. Die Kinder interessiert, ob die Geschichte „in echt“ so passiert ist und wie der Trick mit der Brotvermehrung gehen könnte. Die Lehrperson muss jetzt zwischen diesen Ansprüchen vermitteln. Doch hier taucht die Frage nach der „Theologie der Lehrerinnen und Lehrer“ auf: Was glaubt die Lehrperson und wie stellt sie sich das Geschehen vor? Sie konstatiert, dass ihr in dieser Frage die Kommentare wenig helfen können. Für die Lehrerinnen und Lehrer ist vielleicht eine Distinktion aus der Theologie der Wundergeschichten hilfreich. Man kann (mindestens) drei Interpretationsmöglichkeiten unterscheiden: 1. Eine supranaturale rechnet damit, dass die Wunder so passiert sind, wie sie in der Bibel stehen. Gottes Macht ermöglicht es Jesus, auch solche Dinge zu tun, die nach den Gesetzen der Naturwissenschaft eigentlich nicht möglich sind. So vermehren sich eben die vorhandenen Lebensmittel, bis es für alle reicht (und darüber hinaus!). 2. Eine rationalistische Deutung geht davon aus, dass sich hinter der Wundertat erklärbare Sachverhalte verbergen. Angeregt von Jesu Predigt sind die Leute bereit, das zu teilen, was sie dabei haben, so dass es am Ende für alle reicht. 285

VII. Theologie von Erzieher/innen- und Lehrpersonen

3. Die dritte Variante wäre eine symbolische Deutung – etwa in der Tendenz des Johannesevangeliums. Die Geschichte erzählt, dass Jesus Christus in Brot (und Wein) unsere nie ausgehende Speise darstellt. Es ist nun relativ einfach, diese Typen zu unterscheiden. In der Praxis machen alle Interpret/innen in irgendeiner Weise von ihnen Gebrauch. Manche Wunder werden von vielen Auslegern für „historisch“ gehalten, andere eher für „symbolisch“. Wie weit man ein übernatürliches Eingreifen der göttlichen Macht für möglich hält (damals? heute?), hängt vom Frömmigkeitstyp ab. An dieser Stelle lohnt es sich jetzt, die Thematik zuzuspitzen auf die Kinder- und die Lehrertheologie: Kindertheologie

Lehrertheologie

Wir wissen, dass Kinder etwa bis zum 8. Lebensjahr bereit sind, „magische“ Elemente in Abläufen zu akzeptieren. Danach wird – je nach sozialem und religiösem Umfeld – meist eher eine rationalistische Lösung gesucht oder man belässt es bei einem „irgendwie“. In der Regel finden sich Kinder mit unterschiedlichen Deutungsschemata in ein und derselben Gruppe. Dabei wird meist das Nebeneinander verschiedener Zugänge kommentarlos akzeptiert.

Für die Lehrperson ist es wichtig, sich über die eigene Deutung klar zu werden. D.h. aber auch, dass sie erwägen muss, welche andere Interpretation möglich ist und, das ist besonders wichtig, was man letztlich nicht sicher entscheiden kann. Idealerweise sollte die Lehrperson die möglichen alternativen Deutungen (der Kinder!) kennen und diese zu ihrer eigenen ins Verhältnis setzen. Wenn sie ihre eigene Deutung bringt, dann darf sie diese nicht absolut setzen, sondern sie muss diese erläutern und verdeutlichen, was das heißt im Hinblick auf die Antworten der Kinder.

Fazit und Weiterführung (Mose und Schöpfung) Was wir mit den Kindern besprechen, ist „Biblische Geschichte“. Dieses schillernde Wort suggeriert zweierlei. Die Inhalte spielen vor langer Zeit und sind damit „Historie“. Sie sind aber auch Erzählungen im Sinne von „Narrativen“. Auch hier ist anzunehmen, dass Wissenschaft, Lehrende und Kinder verschiedene Unterscheidungen treffen. Im Hinblick auf die angesprochene Jesusgeschichte wird niemand ernsthaft bezweifeln, dass Jesus in der Gegend in der Zeit um 30 n. Chr. gewirkt hat, auch dann, wenn er die Details der Wundergeschichte in Zweifel zieht. Viel dramatischer stellt sich die Frage im Hinblick auf die Fülle der alttestamentlichen Erzählungen. Abraham, Isaak, Jakob, Josef und Mose sind in einer „vorgeschichtlichen“ Epoche angesiedelt und zeigen sich von ihrer Gattung eher 286

Die Theologie der Kinder, die Theologie der Lehrpersonen

als „Sagen“ denn als historische „Berichte“. So gehören die Erzväter in eine eher geschichtslose nomadische Existenz und Mose irgendwie in die Zeit des Pharao Ramses II., ohne damit eine Historizität im strengen Sinne annehmen zu wollen. Wie gehen nun Lehrpersonen mit diesen Geschichten um? Und was denken die Kinder? Kindertheologie

Lehrertheologie

Zu Beginn der Grundschulzeit sind die Schüler/innen bereit, die Geschichten als „wahr“ im Sinne von „so geschehen“ aufzunehmen. Doch im Laufe der Grundschulzeit wird der Wunsch größer, die Geschehnisse mit dem Wirklichkeitsverständnis abzugleichen, das in der eigenen Kommunikationsgemeinschaft herrscht. In unserer säkularen Welt werden die Kinder fragen, wie das möglich gewesen sein kann mit dem Exodusereignis und ob das wirklich so vonstattengegangen ist. Doch wenn die Kinder aus einem Milieu stammen, das den biblischen Geschichten einen Sonderstatus zuschreibt, dann werden sie ihre Auffassung eher danach richten und die Episode für historisch ansehen.

Auch hier muss die Lehrperson prüfen, wie sie sich die Geschichte z.B. vom Exodus vorstellt. Sie muss dabei entscheiden, ob ihr an der Historizität der Ereignisse etwas liegt und wie sie ihre Haltung begründet. Sie muss sich klar sein, dass durch die Quellen im Pentateuch die Moseerzählungen oft parallel, aber dennoch mit Unterschieden erzählt werden. Wie entscheidet sie sich und wie begründet sie dies. Und schließlich möchten die Kinder über die erzählten Personen Dinge wissen, die uns auch die Bibel nicht mitteilt. Was mache ich dann? Wenn dies nicht bedacht wird, gerät der Unterricht schnell in dem Sinne in ein fundamentalistisches Fahrwasser, dass die Lehrperson eine, nämlich ihre Version der Geschichte für „historisch“ und damit für „wahr“ ausgibt.

Wir sehen, dass auch hier die Selbstklärung bei der Lehrperson der Schlüssel ist. Wenn sie – mit der Mainstreamtheologie – die Mosegeschichte nicht im historischen Sinne, sondern als Narrativ für „wahr“ ansieht, bleibt ihr immer noch die wichtige Aufgabe, dies Kindern zu vermitteln, die noch dazu neigen, wahr mit historisch zu verwechseln. Hier kann es sinnvoll sein, anhand der Pessach-Haggada die Virulenz und damit Wahrheit der Exodustradition im Judentum hervorzuheben. Wenn am Sederabend gesagt wird „Wir waren Knechte des Pharao …“, stimmt das denn bzw. in welchem Sinne kann dies stimmen? Eine weitere Zuspitzung der Fragestellung ergibt sich bei einem weiteren Schlüsselthema des Religionsunterrichts – der Frage nach der Schöpfung der Welt. Kinder wissen von Adam und Eva und der 7-Tage-Schöpfung; sie wissen aber auch, dass das nicht übereinstimmt mit den Dinosauriern und dem Urknall. Über letzteren wissen sie in der Regel nur, dass „man“ an den glaubt. Sie selbst denken 287

VII. Theologie von Erzieher/innen- und Lehrpersonen

eher an einen „Erdknall“ oder so etwas wie eine Art großen Luftballon. D.h., dass ihre Konkurrenzvorstellung eher noch unterkomplexer ist als die biblische Bilderwelt. Wie kann man nun biblische und naturwissenschaftliche Weltsicht zusammenbringen? Beim genaueren Hinsehen stellt sich für die Lehrenden dieselbe Frage. Man kann ein deistisches Modell vertreten, nach dem Gott am Anfang den ersten Anstoß gab und seitdem alles nach den Regeln der Naturwissenschaft abläuft. Oder man kann sagen, in den Prozessen der Naturgesetze manifestiert sich Gott. Aber was bleibt dann vom persönlich gedachten Gott? Beim genaueren Hinsehen wird klar, dass Kinder und Erwachsene unter demselben Problem leiden. Sie wissen nicht, wie sie die Vorstellungen der Naturwissenschaft und der Bibel zusammenbringen können. So kommt es zu hybriden Modellen: Elemente des Biblischen und der Naturwissenschaft werden verbunden (Raketen und Engel am Himmel) oder man ruft je nach Situation mal das eine, mal das andere Modell ab. Logisch gesehen ist das unbefriedigend. Die Frage ist aber, ob wir wirklich über diese Situation hinaus können. Es ist viel angemessener, wenn eine Lehrperson sagt, dass sie das nur bis zu einem bestimmten Punkt versteht, dass sie weiß, dass der Gott, an den sie ihre Gebete richtet, nur bedingt eingezeichnet werden kann in ein kosmologisches Szenario der Weltentstehung. Dieses Nichtwissen und Nichtwissen-Können ist eine wichtige Einsicht für Religionslehrkräfte. Auch Naturwissenschaftler „wissen“ nicht wirklich, was sich anschaulich hinter ihren Formeln im Detail versteckt. Ein Wissen um das eigene Nichtwissen ist immer einer Haltung vorzuziehen, die in ihrer Verzweiflung auf das 7-Tage-Modell zurückgreift, um die eigene Unsicherheit vor der Klasse zu kaschieren. Kindertheologie und Lehrertheologie bewegen sich beide sowohl in der Sphäre des Wissens wie der des Nichtwissens. Es ist Aufgabe der Lehrenden, diese Grenze zu bedenken und mit den Kindern auch zu thematisieren. Das Denken der Lehrenden findet in der Regel – hoffentlich – auf einem höheren Niveau statt als das der Kinder. Deshalb sollten sie deren Gedanken auch von einer Metaposition her verstehen können und angemessene Hilfen geben. Doch das Problem des Nichtwissens stellt sich beiden Gruppen, Schülerinnen uns Schülern ebenso wie Lehrerinnen und Lehrern. Religionsunterricht bewegt sich immer am Rande dessen, was man überhaupt wissen kann. Das macht ihn reizvoll, aber auch riskant.

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Nachweis der Erstveröffentlichungen

Nachweis der Erstveröffentlichungen

Die khindlen haben so feine gedanken de deo [über Gott] – (Martin Luther). Über die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Kinder-Theologie. Erstveröffentlichung in: entwurf – Religionspädagogische Mitteilungen 1/98, 21– 26. Landkarten des Denkens. Argumentationsstrukturen beim Nachdenken über das Verhältnis von göttlicher Führung und menschlicher Autonomie. Erstveröffentlichung in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 23. Jg. (2003), 74–81. Kindertheologie zwischen „Glaubenswissen“ und „Kinderphilosophie“. Erstveröffentlichung in: František Štěch / Bernd Roebben (Hg.), When East and West Meet. Contemporary Perspectives on Religious Education in Honour of Ludmila Muchová, 2019 (Trinitas), 133–145. Woher haben die Kinder ihre Theologie? Deutsche Erstveröffentlichung von: W­here do children get their theology from? In: Annemie Dillen / Didier Pollefeyt (Hg.), Children's Voices. Children’s Perspectives in Ethics, Theology and Religious Education (BETL 230), Löwen 2010 (Peeters), 357–372. Kindertheologie – beobachtet. Dekonstruktive Ansichten. Erstveröffentlichung in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 6. Jg. (2007), 2–11. Die Rolle der Tradition beim Theologisieren mit Kindern. Deutsche Erstveröffentlichung von: The Role of Tradition in Theologizing with Children, in: Gertrud Yde Iversen / Gordon Mitchell / Gaynor Pollard (Hg.), A Hovering over the face of the deep. Philosophy, theology and children, Münster 2009 (Waxmann), 185–195. Kinder – Theologie. Erstveröffentlichung in: Evangelische Theologie 67. Jg. (2007), 216–229. Kontingenzerfahrung als kognitiver Kern des Religiösen bei Vorschulkindern. Erstveröffentlichung in: Lilian Fried (Hg.), Das wissbegierige Kind. Neue Perspektiven in der Früh- und Elementarpädagogik, München 2008 (Juventa), 152–160.

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Nachweis der Erstveröffentlichungen

Religiöse Erziehung als Arbeit am „kulturellen Gedächtnis“ – Überlegungen zur Gebetspraxis im Kindergarten. Erstveröffentlichung in: Deutsches Pfarrerblatt 102. Jg. (2002), Heft 9, 438–443. Das Jesuskind zwischen Christkind und Weihnachtsmann – Untersuchungen zur Genese der Weihnachtsgestalten bei Vorschulkindern. Erstveröffentlichung in: „Mittendrin ist Gott.“ Kinder denken nach über Gott, Leben und Tod, Jahrbuch für Kindertheologie, Band 1, Stuttgart 2002 (Calwer), 28–41. „Engel“ – zwischen biblischen Geschichten und kindlicher Fantasiewelt – Empirische Einblicke in die kindlichen Konstruktionsweisen. Erstveröffentlichung in: Was + Wie 1/2002, 36–39. „Halb Mensch, halb nicht, das weiß man nicht so sehr, denn Jesus ist ja eigentlich Gottes Sohn!“ – Kindliche Versuche, die Paradoxien der Christologie bildhaft auszudrücken. Erstveröffentlichung in: Jörg Frey / Jan Rohls / Ruben Zimmermann (Hg.), Metaphorik und Christologie, Berlin / New York 2003 (de Gruyter), 399–416. Christologie als Wissensdomäne – theologische und didaktische Konsequenzen im Hinblick auf aufbauendes Lernen. Erstveröffentlichung. „Erlöst durch Christi Blut?“ Die Bedeutung des Kreuzestodes Christi in der Sicht von Schüler/innen der 6. Klasse. Erstveröffentlichung in: Christian Gramzow / Heide Liebold / Martin Sander-Gaiser (Hg.), Lernen wäre eine schöne Alternative. Religionsunterricht in theologischer und erziehungswissenschaftlicher Verantwortung. Festschrift für Helmut Hanisch zum 65. Geburtstag, Leipzig 2008 (EVA), 195–208. Kinder als Exeget/innen der Heiligen Schrift. Erstveröffentlichung in: Zeitschrift für Neues Testament, 11. Jg. (2008), Heft 21, 46–49. Der „Heilige Geist“ in der Vorstellungswelt der Kinder. Erstveröffentlichung in: Katechetische Blätter 129 (2004), 187–192. „Zwei Personen zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Stellen können nicht ein und dieselbe Person sein, das ist unmöglich.“ – Annäherungen an das Thema Trinität im Unterrichtskontext. Erstveröffentlichung in: Glaube und Lernen 17. Jg. (2002), 68–80.

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Nachweis der Erstveröffentlichungen

Mit Kindern und Jugendlichen über den Himmel sprechen. Erstveröffentlichung in: Evangelische Theologie 65 Jg. (2005), 366–381. Familienkommunikation und kindliche Gottesvorstellungen im Lichte von K­inder­ büchern. Deutsche Erstveröffentlichung von: Family communication and images of God in children's literature, in: J. Stala / J. Garmaz (Hg.), Strengthen families, Krakau 2016 (The Pontifical University of John Paul II in Krakow Press), 207–221. Erzieher/innen-Theologie. Erstveröffentlichung in: „Eigentlich sind wir alle Geschenke.“ – Religiöse Bildung im Elementarbereich, Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheologie, Band 3, herausgegeben von Christina Kalloch und Martin Schreiner, Stuttgart 2020 (Calwer), 213–217. Die Theologie der Kinder, die Theologie der Lehrpersonen. Erstveröffentlichung von: Kindertheologisch leren kijken, in: Johan Valstar / Marleen Willems / Christa Borré / Henk Kuindersma: ,God is buiten de tijd‘: Ammersfoort 2015 (Kwintessens), 133–139.

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