Jahrbuch für Kindertheologie Band 11: "Gott hat das in Auftrag gegeben": Mit Kindern über Schöpfung und Weltentstehung nachdenken 3766842226, 9783766842220


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German Pages [219] Year 2012

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Table of contents :
Inhalt
Die Kindertheologie und die Theologie
Junge Kinder als »intuitive Theoretiker ihrer gesamten Welt«? – Forschungsergebnisse zu Wissenslandkarten bei jungen Kindern
»Adam ist der mit dem Speer!« – Philosophieren mit Kindern über den Ursprung der Erde und des Lebens
»Gott hat die Welt erschaffen – aber eigentlich ist sie so entstanden …«
»Er ist ein ekelhaftes Tier. Der Wurm ist auch dreckig und glatt« –
»Gott schickte zwei Boten, sie sollten zwei Planeten aneinander prallen lassen.«
Hund – Schlange – Maus. Tiere als Zugang zur Schöpfung in kindertheologischer Perspektive
»Das sind ja so schwierige Fragen.« – Einblicke in die praktische Arbeit einer Kasseler Forschungswerkstatt
Erde, Sonne, Mond und Sterne – Kinderwissen als Ausgangspunkt philosophischer und theologischer Gespräche
»Ich glaube manchmal, dass Gott die Erde erschaffen hat. Oder dass ein Urknall die Welt gemacht hat …« – Weltbilder von Grundsch
1,2,3 …, Gott – Unendlichkeit als Sinn-Wissen im Religionsunterricht der Grundschule
»Aus der Schöpfung schöpfen.« – Ein Trickfilmprojekt im Religionsunterricht
Die Religiosität der Roma-Kinder in der Slowakei1
Bericht über die Aufführung des Singspiels »Diese Erde ist dein Garten«
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Jahrbuch für Kindertheologie Band 11: "Gott hat das in Auftrag gegeben": Mit Kindern über Schöpfung und Weltentstehung nachdenken
 3766842226, 9783766842220

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"Gott hat das in Auftrag gegeben": Mit Kindern über Schöpfung und Weltentstehung nachdenken

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Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen Herausgegeben von Anton A. Bucher, Gerhard Büttner, Veit-Jakobus Dieterich, Petra Freudenberger-Lötz, Christina Kalloch, Hildrun Keßler, Friedhelm Kraft, Bert Roebben, Martin Rothgangel, Thomas Schlag, Martin Schreiner und Elisabeth E. Schwarz

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»Gott hat das in Auftrag gegeben« Mit Kindern über Schöpfung und Weltentstehung nachdenken Jahrbuch für Kindertheologie Band 11

Herausgegeben von Christina Kalloch und Martin Schreiner

Calwer Verlag Stuttgart

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eBook (pdf): ISBN 978-3-7668-4235-0 ISBN 978-3-7668-4222-0 © 2012 by Calwer Verlag Stuttgart Alle Rechte vorbehalten Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags Umschlaggestaltung: Karin Sauerbier, Stuttgart Satz: NagelSatz, Reutlingen Druck und Verarbeitung: Beltz Druckpartner GmbH & Co. KG, Hemsbach E-mail: [email protected] Internet: www.calwer.com

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

I. Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke

Gerhard Büttner Die Kindertheologie und die Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Lilian Fried Junge Kinder als »intuitive Theoretiker ihrer gesamten Welt«? Forschungsergebnisse zu Wissenslandkarten bei jungen Kindern . . . . . . . . . . . . . .

22

Kerstin Michalik »Adam ist der mit dem Speer!« Philosophieren mit Kindern über den Ursprung der Erde und des Lebens . . . . . .

38

Christina Kalloch »Gott hat die Welt erschaffen – aber eigentlich ist sie so entstanden …«. Biblische Schöpfungsgeschichten und naturwissenschaftliche Erklärungsmodelle – ein Dilemma für Grundschulkinder? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

Corinna Hößle »Er ist ein ekelhaftes Tier. Der Wurm ist auch dreckig und glatt« – Theologisieren und experimentieren mit Kindern zum Thema Schöpfung und Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

Ulrich Kropac ´` / Christine Mohr »Gott schickte zwei Boten, sie sollten zwei Planeten aneinander prallen lassen.« Empirische Erkundungen zum Verständnis von Weltentstehung und Schöpfung bei Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

Astrid Dinter / Elisabeth Naurath / Stefan Scholz Hund – Schlange – Maus. Tiere als Zugang zur Schöpfung in kindertheologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stephanie Görk »Das sind ja so schwierige Fragen.« – Einblicke in die praktische Arbeit einer Kasseler Forschungswerkstatt . . . . . . . . . . 105

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6 II. Pädagogische Anregungen

Gerhard Büttner Erde, Sonne, Mond und Sterne. Kinderwissen als Ausgangspunkt philosophischer und theologischer Gespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Sarah-Lena Eikermann »Ich glaube manchmal, dass Gott die Erde erschaffen hat. Oder dass ein Urknall die Welt gemacht hat …« – Weltbilder von Grundschulkindern heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Carina Pitschmann 1,2,3 …, Gott – Unendlichkeit als Sinn-Wissen im Religionsunterricht der Grundschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Friederike Bergel »Aus der Schöpfung schöpfen.« – Ein Trickfilmprojekt im Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Viktória Šoltésová Die Religiosität der Romakinder in der Slowakei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Jana Simon Bericht über die Aufführung »Diese Erde ist dein Garten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

III. Buchbesprechungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

Rainer Oberthür: Das Buch der Symbole. Auf Entdeckungsreise durch die Welt der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sarah-Lena Eikermann: Weltbilder von Grundschulkindern heute. Eine empirische Studie im Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Delia Freudenreich: Spiritualität von Kindern. Was sie ausmacht und wie sie pädagogisch gefördert werden kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibi Dumon Tak: Kuckuck, Krake, Kakerlake – Das etwas andere Tierhörbuch . . . . . Dieter Stork und Matthias Nagel: Diese Erde ist dein Garten. Ein Singspiel für Kinder zum Thema Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Walter: Der Schöpfungskreis. Zur Entdeckung biblischer Geschichten – Materialpaket . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rafik Schami: »Wie sehe ich aus«, fragte Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Zoller-Morf: Selber denken macht schlau. Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Reents und Christoph Melchior: Die Geschichte der Kinderund Schulbibel. Evangelisch – katholisch – jüdisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

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Vorwort

»Kirchen betonen Notwendigkeit einer Theologie des Kindes« so lautete Ende September 2011 eine weltweit verbreitete Pressemeldung in dem Newsletter des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), dem mehr als 349 protestantische, orthodoxe, anglikanische und andere Kirchen angehören, die zusammen über 560 Millionen Christen in mehr als 110 Ländern repräsentieren. Dort heißt es weiter: »Obwohl 2,2 Milliarden der Weltbevölkerung Kinder sind, haben Kirchen sowohl im Süden als auch im Norden diese in ihrem kirchlichen Dienst bislang oft sträflich vernachlässigt. Die Anliegen und Rechte von Kindern sowie ihr Platz in der Kirche sind Themen, zu denen die Kirchen ihre Stimme gemeinsam erheben und zu Gehör bringen müssen. Im Bewusstsein dieser Notwendigkeit betont das Programm für ökumenische theologische Ausbildung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), dass eine Theologie des Kindes integraler Bestandteil von theologischer Aus- und Fortbildung sein muss. Es unterstreicht damit die Schlussfolgerungen einer Konferenz, die sich Anfang 2011 mit Bildungsprozessen und Fragen der Spiritualität von Kindern beschäftigt hat. Das Programm arbeitet mit Kirchen, Erneuerungsbewegungen und theologischen Ausbildungsinstitutionen zusammen, um auf die großen Potenziale aufmerksam zu machen, die in der christlichen Mission im Blick auf die Rolle von Kindern bestehen.

Diese Initiative für eine Theologie des Kindes beruft sich auf den eindringlichen Appell von Christus selbst, Kinder ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen: »Und er nahm ein Kind, stellte es mitten unter sie und herzte es und sprach zu ihnen: Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt nicht mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.« (Mk 9,36) Zusammen mit anderen christlichen Einrichtungen und Netzwerken aus aller Welt beschäftigte sich der ÖRK auf einer »Theologischen Konferenz über Kinder«, die im März dieses Jahres unter dem Titel »Now and Next« von Daystar University und Compassion International in Nairobi ausgerichtet wurde, mit den Entwicklungen zu einer Theologie des Kindes. (…) Pastor Dr. Dietrich Werner, Leiter des ÖRK-Programms für ökumenische theologische Ausbildung, äußerte die Hoffnung, dass die Anliegen der Bewegung für eine Theologie des Kindes in den Vorbereitungsprozess für die 10. Vollversammlung des ÖRK 2013 in Busan (Korea) einbezogen werden können. Die Theologie des Kindes, so Werner, sei von großer Bedeutung, denn »Kinder haben das Recht, von Gott zu hören. Sie haben das Recht, Christus kennen zu lernen. Kinder brauchen geistliche Ressourcen, Symbole und Geschichten, die ihnen die Möglichkeit geben, Hoffnung, Liebe und Vertrauen in ihrem Inneren Ausdruck zu

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Vorwort

geben – und das ist von zentraler Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes«. Diese Aussagen spiegeln in eindrücklicher Weise die Grundanliegen der Autorinnen und Autoren wider, die sich im Rahmen der Kindertheologiebewegung engagieren – auch in diesem elften Jahrbuch für Kindertheologie mit dem Schwerpunktthema »Mit Kindern über Schöpfung und Weltentstehung nachdenken«. Den Grundlagenteil eröffnet der Beitrag »Die Kindertheologie und die Theologie« von Gerhard Büttner, einem der äußerst verdienstvollen »Gründungsväter« der Kindertheologie. Er versteht Kindertheologie als Programm und Praktik, für die die theologische Tradition und auch die akademische Theologie einen Rahmen bilden, innerhalb dessen sich das Theologisieren mit Kindern bewegt. Eindrücklich plädiert Büttner für die Erhellung des Sachverhaltes, in welcher Weise theologische Themen in der Kommunikation mit Kindern überhaupt auftauchen und mit welchen Einfällen und Bildern sie bei Kindern konnotiert werden. Lilian Fried stellt in ihrem Beitrag junge Kinder als »intuitive Theoretiker ihrer gesamten Welt« vor. Die referierten Forschungsergebnisse zu Wissenslandkarten von jungen Kindern zeigen in beeindruckender Weise, über welche Konzepte der Welterklärung sie verfügen. Zugleich fordert die Autorin, verengte Bilder vom Kind zu überwinden und weitere Forschungen über die Koexistenz bereichsspezifischer Wissensbestände voranzubringen. Auch Kerstin Michalik wirbt dafür, besonders im Hinblick auf den Ursprung der Erde und des Lebens, von einer isolierten Betrachtungsweise im Religions-,

Sach- oder Biologieunterricht Abstand zu nehmen und mit Kindern die Möglichkeiten zum fächerübergreifenden philosophischen Gespräch zu nutzen. Denn gerade wenn die Naturwissenschaften keinen erkennbaren »Sinn des Ganzen« liefern, ist es umso notwendiger, mit Kindern nach alternativen Angeboten für Daseinsdeutungen zu fragen. Dies verdeutlicht auch der Beitrag von Christina Kalloch, der dokumentiert, wie Kinder im theologischen Gespräch zur Erkenntnis gelangen, dass Bibel und Naturwissenschaft nicht Antworten auf dieselbe Frage geben wollen. Und dass die biblischen Schöpfungsgeschichten für viele so wichtig sind, weil sie ihnen Hoffnung machen, dass die Welt in Gott geborgen ist und es für sie ein gutes Ende geben wird. Empirische Einblicke geben die Untersuchung von Ulrich Kropac`´ und Christine Mohr sowie der Werkstattbericht von Stephanie Görk. Kropac und Mohr werten eine exemplarische Studie mit Kindern eines fünften Schuljahres aus und kommen unter anderem zu dem Ergebnis, dass nicht mehr die Theodizeefrage zentrale »Einbruchstelle« für den Gottesglauben junger Menschen zu sein scheint, sondern das Problem der Vereinbarkeit von biblischem Schöpfungsglauben und naturwissenschaftlichen Weltentstehungsmodellen. Damit steht vor allem der Religionsunterricht in der Sekundarstufe vor großen Herausforderungen. Zu diesem Fazit gelangt auch Stephanie Görk in der Auswertung ihrer Arbeit in der Kasseler Lernwerkstatt. Sie resümiert, dass – gerade bei dem zu Recht geforderten mehrperspektivischen Herangehen – die Arbeit am Wahrheitsbegriff elementar sei, da nur so der Gefahr der Beliebigkeit entgangen und

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Vorwort

Schülerinnen und Schülern in religiösen Fragen Orientierung gegeben werden könne. Astrid Dinter, Elisabeth Naurath und Stefan Scholz stellen in eindringlicher Weise Tiere als Zugang zur Schöpfung aus kindertheologischer Perspektive in den Mittelpunkt ihrer Reflexionen. Die AutorInnen betonen die für Kinder in schöpfungstheologischer Hinsicht hohe Relevanz einer emotional gefassten Beziehungsebene zu Tieren und die damit verbundene Brückenfunktion, die Tiere zwischen der vorfindlichen Schöpfung und Gott einnehmen. Zugleich beschreiben Dinter, Naurath und Scholz eine mögliche Korrespondenz kindlicher religiöser Gefühle mit den Gefühlen, die Beziehungen zu Tieren auslösen können, als noch ausstehende Forschungsaufgabe. Um das Verhältnis von Kindern zu Tieren geht es auch in dem Beitrag von Corinna Hößle, die konkrete unterrichtliche Möglichkeiten aufzeigt, Zugang zu sogenannten Ekeltieren zu verschaffen. Ihr Ziel ist es, Kindern unter anderem Regenwürmer, Kellerasseln und Mehlwürmer in ihrer Einzigartigkeit als Geschöpfe Gottes bewusst zu machen, und sie dafür zu sensibilisieren, dass auch für diese Tiere der Bewahrungsauftrag biblischer Schöpfungstexte gilt. In den pädagogischen Anregungen stehen das Weltbild von Kindern, ihre Konzepte der Weltentstehung und ihr Wissen über die Welt im Zentrum. Gerhard Büttner nimmt Kinderwissen über Erde, Sonne, Mond und Sterne zum Ausgangspunkt für philosophische und theologische Gespräche. So bietet er nicht nur interessante Beispiele aus kulturellen Vergleichsstudien – er stellt zugleich fest, dass es bei kosmologischen Fragen zwar auch um das Erlernen von Fakten und

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Regeln geht, mehr aber noch um Fragen der Erkenntnismöglichkeit. So plädiert Büttner in diesem Zusammenhang dafür, schon in der Grundschule in Grundfragen des Erkennens und der Modellbildung einzuüben. Die kleine empirische Studie von Sarah-Lena Eikermann zu Vorstellungen von Grundschulkindern über die Entstehung der Erde bestätigt, dass in dieser Altersstufe das »hybride« Weltbild vorherrschend ist und das Denken von Kindern bestimmt. Sie folgert daraus, dass nur darüber informierte Lehrerinnen und Lehrer Kinder in Prozessen komplementären Denkens unterstützen und ihnen kompetente Begleiter sein können. Carina Pitschmann gewährt interessante Einblicke in das Überschneidungsfeld von Mathematik und Theologie, indem sie »Unendlichkeit« als Sinn-Wissen im Religionsunterricht vorstellt und in anschaulicher Weise Zugänge durch mathematische und ästhetische Perspektiven eröffnet. Friederike Bergel regt an, zum Thema »Schöpfung« mit Kindern Trickfilme zu produzieren. Sie gibt in ihrem Beitrag zu dieser vielversprechenden Methode sehr konkrete und hilfreiche Hinweise, die ermutigen können, sich auf ein solches Unternehmen einzulassen. Von einem Forschungsprojekt aus der Slowakei, das die religiöse Entwicklung und Erziehung von Roma-Kindern untersucht hat, berichtet Viktoria Soltesova. Im Rahmen der Buchbesprechungen geht es Katharina Kammeyer und ihrem studentischen Team um Rainer Oberthürs »Das Buch der Symbole«. Sodann finden sich unter anderem vier Werke, die das Potential zu religionsdidaktischen Klassikern haben. Sebastian Hamel rezensiert die empirische Studie »Weltbil-

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Vorwort

der von Grundschulkindern heute« von Sarah-Lena Eikermann. Noemi Bravena stellt Delia Freudenreichs »Spiritualität von Kindern« vor, Elisabeth E. Schwarz macht mit Eva Zoller-Morfs »Selber denken macht schlau« vertraut und Reiner Andreas Neuschäfer führt in »Die Geschichte der Kinder- und Schulbibel« von Christine Reents und Christoph Melchior ein. Die informativen wie persönlich akzentuierten Rezensionen machen neugierig und laden zur Begegnung mit

den Werken ein. Dies gilt auch für die weiteren Besprechungen, die sich vornehmlich auf das Hauptthema des JaBuKi 11 – »Schöpfung« – beziehen. Martin Schreiner, Anna-Christina Petermann und Hans-Jürgen Herrmann stellen originelle Bücher, Hörbücher und Materialien zum Thema vor und zeigen, wie vielfältig und kreativ sich mit Kindern zu »Schöpfung« arbeiten lässt.

Christina Kalloch und Martin Schreiner

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Gerhard Büttner Die Kindertheologie und die Theologie

1. Kindertheologie als Label, Programm und Praktik Was meinen wir, wenn wir heute über Kindertheologie sprechen? Wir gehen von einer unausgesprochenen, aber bewährten Vorstellung aus, die es offenbar nicht nötig macht, mit einem Gesprächspartner erst nach Definitionen zu suchen. Ich möchte drei Begriffe ins Spiel bringen, um zu einer ersten Charakterisierung zu kommen. Kindertheologie ist eine Marke, eine Art Label, wie wir sie in der Warenwelt kennen.1 Zwar haben Anton Bucher und Friedrich Schweitzer den Gedanken von Kindern als Theologen erstmals geäußert, doch richtig Fahrt nahm der Begriff erst mit der Gründung des Jahrbuches für Kindertheologie (JaBuKi) auf. Klar war uns damals, ein Publikationsorgan zu gründen, dessen vordringlicher Blick auf den Bereich der Elementar- und Grundschulpädagogik gerichtet sein sollte. Mein Titelvorschlag war »Kind und Glaube« als bewusste Alternative zu »Kind und Religion«. Wir wollten den Fokus auf die Manifestationen christlicher Theologie und Frömmigkeit setzen. Anton Bucher gab jedoch zu bedenken, dass »Glaube« immer auch »Unglaube« impliziere und damit eine exklusivistische Sicht einnehme. Stattdessen schlug er den Begriff der »Kindertheologie« vor. Vom Diskurs in der Philosophiedidaktik her war uns die Problematik des Begriffs klar – dort

spricht man eher vom Philosophieren mit Kindern statt von der Kinderphilosophie. Ich selbst präferiere von daher auch eher die Verbalform »Theologisieren«.2 Gleichwohl hat sich die Wortschöpfung »Kindertheologie »durchgesetzt. Man weiß, wie gesagt, was damit gemeint ist, auch wenn der eigentliche Wortsinn begrifflich unscharf erscheinen mag. Der Produktname ist bekannt und geschätzt, da erscheint es müßig im Nachhinein nach Verbesserungen zu suchen. Kindertheologie ist ein Programm. Wie sehr dies der Fall ist, kann man an dessen Eingang in zahlreiche Lehrpläne erkennen.3 Das Erziehungssystem wählt diese Programmformulierung, um anzu-

1 Zum u.U. spannungsvollen Verhältnis zwischen Titel und Sache vgl. Umberto Eco, Nachschrift zum »Namen der Rose«, München 91987, 11 f. 2 Die Kritik an dieser Begrifflichkeit bei Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer, Brauchen Jugendliche Theologie? Neukirchen-Vluyn 2011, 79 f überzeugt mich nicht. Der Gedanke eines »forschenden Lernens im Prozess« findet sich neuerdings auch in dem Neologismus »mathematisieren« in der Mathematikdidaktik. 3 Interessant ist in diesem Zusammenhang der vergleichbar große Zuspruch zum »Philosophieren« und »Theologisieren« gerade in der Elementarpädagogik, wo die Bedingungen in vielerlei Hinsicht für dieses Programm eher schwieriger sind als in der Grundschule. Vgl. Ekkehard Martens, Kinderphilosophie und Kindertheologie – Familienähnlichkeiten? In: JaBuKi 4 (2005), 12–28.

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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke

zeigen, dass es erwartet, dass »Kindertheologie« bei den Kindern zu einem Kompetenzerwerb beiträgt.4 Wer Petra Freudenberger-Lötz Berichte über die Lernwege von Studierenden beim Theologisieren nachliest, der bemerkt, dass es hier nicht bloß um eine Methode geht, sondern um eine Haltung, ja geradezu um das Einüben eines Habitus bei Schüler/innen und Lehrenden.5 Insofern ist es sinnvoll hier von einer Praktik zu sprechen. Thomas Alkemeyer definiert diese folgendermaßen:6 »Praktiken gehen nicht von einem intentionalen Subjekt aus, sondern entstehen situativ im Dazwischen von Akteuren und ihrer jeweiligen materiell-symbolischen Umgebung. […] In ihrem Vollzug bilden sich Subjekte mit einer bestimmten Körperlichkeit, einem bestimmten ›Vorrat‹ an Haltungen, Gesten und Bewegungen sowie – in Verbindung damit – einem begrenzten Horizont des Denkens, Fühlens und Handelns.«

Was damit gemeint ist, kann man sich leicht vergegenwärtigen, wenn man weiß, dass eine Gruppe von Sechstklässlern, nachdem sie ein Video mit einem theologischen Gespräch mit Grundschüler/innen gesehen hatte, diesen Gesprächsstil unmittelbar übernehmen konnte. Betrachtet man einen Großteil der Veröffentlichungen zur Kindertheologie, so handelt es sich dabei um die Dokumentation solcher Praxen des Theologisierens. Es geht nicht darum, etwas jenseits des Dokumentierten aufzudecken, sondern die Befragungen und Gespräche sind in der Regel immer auch ein Stück kindertheologische Praxis. Damit ist klar, dass das Postulat der Wissenschaftlichkeit im Hinblick auf die Kindertheologie nicht ganz unproblematisch ist.7 Die meisten Untersuchungen orientieren sich an den Standards der so-

zialwissenschaftlichen Forschung. Das ist sinnvoll und legitim. Die Ergebnisse dieser Forschung können das Projekt Kindertheologie bereichern und weiterführen. Doch ist es für die Praxis der Kindertheologie nicht entscheidend, ob die dort benutzten Daten allen Gütekriterien der Forschung genügen können. Meine kleine explorative Studie zum Verständnis des »heiligen Geistes« bei Fünft- und Sechstklässler/innen bietet in einem Gespräch auch dann Anregungen und Orientierungen, wenn die Basis der Befragung schmal ist und die Befragungsmethoden nicht immer professionell waren.8

2. Von welcher Form Theologie sollen wir ausgehen? Im Hinblick auf die Theologie ist die Fragestellung komplizierter. Ein Bezug der »Kindertheologie« auf Theologie ist naheliegend, wenngleich etwa der metaphorische Gebrauch in Begriffen wie

4 Wer im Bereich der Kindertheologie »voran geschritten« ist, gilt im Sinne der Codeunterscheidung des Erziehungssystems als »besser erzogen«. Zum Begriff vgl. Elena Esposito, Art. »Programm«, in: C. Baraldi u.a., GLU, Frankfurt a.M. ³1999, 139–141. 5 Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern, Stuttgart 2007. 6 Thomas Alkemeyer, Lernen und sein Körper. Habitusformungen und -umformungen in Bildungsprozessen, in: B. Friebertshäuser u.a. (Hg.), Reflexive Erziehungswissenschaft, Wiesbaden ²2009, 119–140, 122 f. 7 Vgl. Mirjam Zimmermann, Methoden der Kindertheologie. Zur Präzisierung von Forschungsdesigns im kindertheologischen Diskurs, Theo-Web 5 (2006) 1, 99–125. 8 Gerhard Büttner, Der heilige Geist in der Vorstellungswelt von Kindern. KatBl 129 (2004), 187–192.

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Büttner Die Kindertheologie und die Theologie

»Unternehmensphilosophie« in Beziehung zur »Philosophie« deutlich macht, dass auch dies nicht zwingend ist. Folgt man den Unterscheidungen der Systemtheorie, dann ist Kindertheologie ein Kommunikationsmodus im Erziehungssystem, »Theologie« gehört als Modus der »Wahrheitssuche« zum Wissenschaftssystem. Beide Systeme sind Umwelt für einander. D.h., dass die Kindertheologie sehr wohl die Wissenschaft in dem Sinne »irritieren« kann, dass diese Impulse aufnimmt und in ihrem System verarbeitet. Ebenfalls irritierten Ergebnisse der Theologie die Kommunikation im Erziehungssystem – neue Einsichten zur Gleichnisexegese regen etwa neue Zugangsweisen im Gespräch mit Kindern an. Doch folgen die Selbstbeschreibungen der Theologie diesem Bild von Wissenschaft? Ich möchte vier Verständnisse von Theologie hier vorstellen und zeigen, was dies für die Verhältnisbestimmung zur Kindertheologie bedeutet.9 1. Rainer Anselm definiert Theologie im Anschluss an Friedrich König und Friedrich Schleiermacher als theologia acroamatica, die im Hinblick auf Kirchenleitung die biblische Überlieferung theologisch reflektiert. Praktische Theologie und Religionspädagogik haben dem gegenüber eine dienende Funktion als theologia catechetica. Hier verortet Anselm dann auch die Kindertheologie.10 2. Martin Rothgangel dreht den Spieß um und fragt, ob nicht Theologie ihre Funktion in der Vermittlung des Evangeliums habe. Damit bekommt die Praktische Theologie und die Religionspädagogik insoweit eine Leitfunktion, als sie bestimmt, welche theologischen Erkenntnisse für Predigt und Unterricht wichtig sind. Für

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die Kindertheologie könnte das heißen, dass ihre Fragestellungen und Bedürfnisse die Exegese und die Systematische Theologie zu spezifischen Untersuchungen und Reflexionen nötigen könnte.11 3. Winfried Härle geht in seiner Dogmatik von der Kommunikation aus. Theologie findet dort statt, wo über Gott und die Welt im Lichte der biblischen Überlieferung nachgedacht und gesprochen wird.12 So entsteht ein Modell einer Laientheologie, an der im Prinzip jedermann teilnehmen kann. Die akademische Theologie erweist sich dem gegenüber als Spezialfall, der aber im Geben und Nehmen mit der Laientheologie verbunden sein muss. Es ist leicht nachvollziehbar, dass Härle von daher keine Schwierigkeiten hat, die Kindertheologie in sein Modell einzubeziehen.13

9 Vgl. meine grundsätzlicheren Überlegungen in Gerhard Büttner, Theologisieren als Grundfigur der Praktischen Theologie – Grundüberlegungen für das Theologisieren mit Jugendlichen, in: V.-J. Dieterich (Hg.), Theologisieren mit Jugendlichen. Ein Programm für Schule und Kirche, Stuttgart 2012, 51–69. 10 Rainer Anselm, Verändert die Kindertheologie die Theologie? In: JaBuKi 5 (2006), 13–25. 11 Martin Rothgangel, Systematische Theologie als Teildisziplin der Religionspädagogik? Präliminarien zum Verhältnis von Systematischer und Religionspädagogischer Theologie, in: Theo-Web 2. Jg. H. 1, 48–62; ders. / Theidigsmann, Edgar (Hg.), Religionspädagogik als Mitte der Theologie, Stuttgart 2005. 12 Winfried Härle, Dogmatik, Berlin u.a. ³2007. 13 Winfried Härle, Was haben Kinder in der Theologie verloren? Systematisch-theologische Überlegungen zum Problem einer Kindertheologie, in: JaBuKi 3 (2004), 11–27.

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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke

4. Eine weitere Perspektive stellt den Begriff der »gelebten Religion« in den Vordergrund. Es geht um die vielfachen Praxen gelebter Frömmigkeit, die für die christliche Existenz bestimmend sind.14 Dieser gelebten Religion korrespondiert dann eine gelehrte Religion als Reflexionsmodus. Letzteres ist dann identisch mit Theologie. Von daher spricht Bernhard Dressler der Kindertheologie, deren Praxis er durchaus wertschätzt, die Bezeichnung Kindertheologie ab. Es ist wenig sinnvoll, diese Ansätze gegeneinander ausspielen zu wollen. Natürlich sympathisieren die Vertreter/innen der Kindertheologie eher mit den Modellen von Rothgangel und Härle. Von einer konstruktivistischen Perspektive gesehen ist zunächst einmal Konstruktion gleich Konstruktion. Von einer solchen Sichtweise kann dann im Einzelnen gezeigt werden, dass manche kindertheologische Gespräche – gerade weil sie nicht an Traditionen gebunden sind – erfrischend alternative Deutungen zutage fördern und gewisse Borniertheiten eines professionellen Blicks offenlegen können. Das sind gewiss Ausnahmen. Doch es ist kein Zufall, dass etwa die norwegische Diskussion die Kindertheologie explizit zu der kontextuellen Theologie zuordnet. Damit ergibt sich im Prinzip dieselbe Diskussionslage wie zwischen feministischer, schwarzer usw. Theologie im Verhältnis zum akademischen Mainstream und produziert auch die ähnlichen Abwehrmechanismen. Weil Bernhard Dressler seine Argumentation sehr differenziert vorträgt, soll an dieser Stelle ausdrücklicher auf ihn eingegangen werden.15

3. Gelebte Religion oder Kindertheologie – Bernhard Dresslers Anfragen Dressler geht es um die Bestimmung der Religionspädagogik als Teil der Praktischen Theologie. Letztere sieht er als Reflexionsort (und damit als gelehrte Religion) und damit als Teil des Wissenschaftssystems im Gegenüber zur »gelebten Religion«. Diese wiederum umfasst – wenn ich das recht verstanden habe – den ganzen Bereich kirchlichen Handelns. Dressler geht es dabei um zweierlei. Er möchte der Religionspädagogik den Status wissenschaftlicher Theologie sichern und das Konzept der »gelebten Religion« in der religionspädagogischen Theorie und Praxis stark machen. Die Kindertheologie passt nun gar nicht in dieses Schema. Einmal postuliert sie durch ihren Namen, eine Variante von Theologie zu sein, und verwässert dadurch deren wissenschaftliches Profil. Zum anderen läuft das Theologisieren seines Erachtens darauf hinaus, gerade die performative, erlebnishafte Seite der Religion zu verlassen, wenn sie sich etwa der Kinderphilosophie annähert. Es geht mir hier nicht darum, die Leistungsfähigkeit des Begriffs der »Gelebten Religion« grundsätzlich in Frage zu stellen. Man muss nur sehen – was Dressler tut – in welchem Kontext wir den Begriff der Kindertheologie stark gemacht haben. Zum Ende des letzten Jahr14 Albrecht Grözinger / Georg Pfleiderer, »Gelebte Religion« als Programmbegriff systematischer und praktischer Theologie, Zürich 2002. 15 Bernhard Dressler, Religionspädagogik als Modus Praktischer Theologie. Mit einem kritischen Blick auf den Diskurs zur »Kindertheologie«, ZPT 63 (2011), 149–162.

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hunderts waren zwei Varianten von Religion in der Religionspädagogik dominant, ein extendierter Religionsbegriff im Sinne Thomas Luckmanns und die interreligiöse Perspektive,16 also gerade nicht die gelebte Religion innerhalb der christlichen Kirchen. Das Studium diverser Protokolle aus dem Philosophieren mit Kindern machte jedoch deutlich, dass dort immer wieder Fragestellungen und Überlegungen auftauchen, die zum klassischen Repertoire systematischer Theologie gehören. Wollte man diese – vielleicht religionsphilosophischen Themen – im Interesse der Kinder und des Profils des RU nicht abseits liegen lassen, dann musste man eine Praxis des Theologisierens institutionalisieren. Dressler sieht zwar die von mir genannten Tendenzen, schätzt aber die Anstrengungen zu deren Überwindung m.E. zu gering ein. Martin Laube gibt in seiner systemtheoretischen Argumentation zu bedenken, dass die Unterscheidung zwischen Religion und Theologie als deren Reflexionsgestalt nicht unproblematisch ist.17 Theologie beobachtet demnach die Religion im Sinne einer Beobachtung zweiter Ordnung. Zugleich aber agiert sie auf der Ebene des Religionssystems selbst. »Beide Bestimmungen lassen sich nicht miteinander in Einklang bringen.« Im Sinne des Konstruktivismus könnte man auch sagen, die Konstruktionen der Theologen und die der Kinder sind beides Mal Konstruktionen. Es gibt gute Gründe, die Konstruktionen der Theologen »über« die der Kinder zu stellen – wahrscheinlich geht es dabei um »Wahrheit«, gewiss aber auch um Macht. Insofern impliziert Kindertheologie an dieser Stelle eine Infragestellung stillschweigend gesetzter Hierarchien.18 Friedrich Schweitzer hat zurecht als Kriterium für

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Kindertheologie festgehalten, dass es dabei um argumentative Muster gehen müsse und nicht nur um religiös interessante Aussagen.19 Schaut man in die Praxis des Theologisierens mit Kindern, dann sieht man, dass die Grenzen zwischen gelebter (erlebter) Religion und reflektierter (gelehrter) Religion fließend sind. Gerade im Kontext des schulischen Religionsunterrichts ist zu fragen, ob diesen nicht eine spezifische Form reflektierter Religion bestimmt. Diese Form wäre anzusiedeln zwischen einer religiösen Praxis auf der einen und akademischer, gelehrter Religion auf der anderen Seite. 16 Von daher halte ich für das Selbstverständnis der Kindertheologie im Hinblick auf »Religion« den Anschluss an Luhmann für fruchtbarer – im Sinne von Isolde Karle, Die markante Physiognomie von Religion, in: W. Härle u.a. (Hg.), Systematisch praktisch (FS R. Preul), Marburg 2005, 305–314. 17 Martin Laube, Die Beobachtung »gelebter Religion« – Überlegungen zu einer theologischen Kategorie in systemtheoretischer Sicht, in: Grözinger/Pfleiderer (wie Anm. 14), 161– 189, 181. 18 So zeigen etwa Hanna Roose und Christian Butt, ›God can not allways forgive‹ – Reading Mt 18:21–35 with Children, in: G.Y. Iversen u.a. (Hg.), Hovering over the Face of the Deep, Münster 2009, 37–51, dass die Kinder die Spannung im Gleichnis vom Schalksknecht zwischen dem übermäßig großzügigen und dann überstrengen Verhalten des Königs gegenüber diesem Knecht theologisch »tiefer« reflektieren als viele Exegeten, die die theologischen Probleme durch die literarbzw. redaktionskritische Annahme einer Erweiterung der ursprünglichen Geschichte bzw. seines Textes theologisch entschärfen. Diese Linie findet sich explizit ausgeführt in der norwegischen Variante der Kindertheologie, vgl. Elisabeth Tveito Johnsen / Friedrich Schweitzer, Was ist kritische Kindertheologie? Vergleichende Perspektiven aus Norwegen und Deutschland, in: JaBuKi 10 (2011), 25–36. 19 Friedrich Schweitzer, Was ist und wozu Kindertheologie? In: JaBuKi 2 (2003), 9–18.

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Je nach Lebensalter und spezifischem Stil changiert der Unterricht zwischen diesen beiden Polen. Kinder- und Jugendtheologie wäre demnach eine legitime Variante reflektierter Religion.

4. Zwischen Kindertheologie und Elementarisierung – Friedrich Schweitzers Optionen Friedrich Schweitzer hat jüngst versucht, Kindertheologie und Elementarisierung zueinander in Beziehung zu setzen.20 Nach Schweitzer21 »kann gesagt werden, dass der Elementarisierungsansatz eine notwendige Weiterführung der Kindertheologie darstellt – und umgekehrt.« Die »Theologie der Kinder« bildet demnach einen wichtigen Erfahrungsraum, der nun allerdings intentional weitergeführt werden muss, indem die Kinder mit den entsprechenden theologischen Bildungsinhalten konfrontiert werden. Schweitzer sieht die Kindertheologie stark auf der Seite der Kinder und den Elementarisierungsansatz stärker bei der Verpflichtung zur Theologie (als Wissenschaft) und den Lernforschritten des schulischen RU mit seinen Anforderungen. Er weiß natürlich, dass sich hier im Einzelfall Spannungen ergeben,22 was aber bei erfahrenen Gesprächsleiter/innen eher als Lernchance begriffen wird.23 Kindertheologie besitzt nach Schweitzer ihr erstes Maß »darin, ob sie Antworten erlaubt, die für Kinder in ihrem Leben und Glauben hilfreich sind«.24 Dabei hält er es für sinnvoll, »zwischen einer allen Kindern möglichen und für alle Kinder potentiell wichtigen Reflexion religiöser Vorstellungen auf der einen und der existentiellen, für den eigenen Glauben maßgeblichen Bedeutung einer solchen Reflexion auf

der anderen Seite zu unterscheiden«.25 Schweitzer benennt explizit ein Themenbündel, das beide Kriterien erfüllen soll:26 »1. Wer bin ich und wer darf ich sein? – Die Frage nach mir selbst. 2. Warum musst du sterben? – Die Frage nach dem Sinn des Ganzen. 3. Wo finde ich Schutz und Geborgenheit? – Die Frage nach Gott. 4. Warum soll ich andere gerecht behandeln? – Die Frage nach dem Grund ethischen Handelns. 5. Warum glauben manche Kinder an Allah? – Die Frage nach der Religion der anderen.«

Für Schweitzer ist dieser Katalog wichtig, weil er sich explizit dagegen ausspricht, Themen aus dem klassischen Repertoire der Theologie mit Kindern zu diskutie20 Friedrich Schweitzer, Kindertheologie und Elementarisierung, Gütersloh 2011. 21 Ebd., 26. 22 Ebd., 37; vgl. auch Marcell Saß, »Maria war die Frau von Jesus«? Chancen und Grenzen kindertheologischer Zugänge, in: JaBuKi 10 (2011), 133–152. 23 Gerhard Büttner / Petra Freudenberger-Lötz, »He Vater, heil den Mann«. Die Heilung des Taubstummen (Mk 7,31–37) in der Interpretation von Siebenjährigen, in: G. Büttner / M. Schreiner (Hg.), »Man hat immer ein Stück Gott in sich«. Bd. 2: NT, JaBuKi-Sonderband, Stuttgart, 2006, 85–94. Hier nimmt die Lehrerin die sprachlich falsche Übersetzung von »Hephata« produktiv auf, weil die Kinder damit einen theologisch wichtigen Aspekt angesprochen haben. 24 Schweitzer (wie Anm. 20), 119. Dabei hält er es für sinnvoll, »zwischen religiösen Vorstellungen und einer ausdrücklichen Kindertheologie zu unterscheiden. […] Die Weiterführung [von ersteren zu letzterer] besteht allerdings nicht in einer zunehmenden Annäherung etwa an wissenschaftlich- theologische Auffassungen, sondern offenbar im Erreichen von Antworten, die für die Kinder selbst zufriedenstellend sind. 25 Ebd., 295. 26 Ebd., 49 f.

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ren, soweit diese nicht deren engerem Fragenkreis entspringen. Betrachtet man den Katalog genauer, dann könnte der Großteil der Fragestellungen auch aus dem Programm der Kinderphilosophie stammen. Will man Schweitzers Katalog theologisch verorten, dann entspricht er am ehesten dem, was katholischer und z.T. lutherischerseits als Natürliche Theologie verhandelt wird. So fehlt konsequenterweise auch jeder Hinweis auf die Christologie. Die Offenbarungstheologie wäre demnach für das Elementarisierungsprogramm reserviert, wo es ja durchaus darum geht, den Kindern auch neue Inhalte zu präsentieren, mit deren Hilfe sie Dinge komplexer verstehen können. Von daher umfasst Mirjam Zimmermanns Definition der Theologischen Kompetenz sowohl die Dimension inhaltlichen Wissens als auch die handwerkliche Seite des Besser-damit-umgehen-Könnens.27 Interessanterweise kommt Schweitzer auf die konstruktivistische Didaktik im Kontext der elementaren Lernformen zu sprechen.28 Man hat den Eindruck, dass Schweitzer hier und vermutlich auch bei der elementaren Erfahrung und den elementaren Zugängen konstruktivistisch denkt, nicht aber bei der elementaren Struktur und wohl auch nicht bei der elementaren Wahrheit.29 Bei den letzteren möchte Schweitzer dann wohl doch eher auf die legitmierte Autorität wissenschaftlicher Theologie zurückgreifen.

5. Der freie/unfreie Wille – eine Antwort auf Friedrich Schweitzer Im Gegensatz zu Friedrich Schweitzer bin ich der Ansicht, dass es sinnvoll und legitim ist, auch beim Theologisieren mit

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Kindern im Prinzip auf die ganze Breite der theologischen Tradition zurückzugreifen. So zeigen eben gerade Beispiele aus der Kinderphilosophie, dass bestimmte Gespräche nur möglich sind, weil der erwachsene Gesprächspartner einen philosophischen Deuterrahmen zur Verfügung hat. 30

Wenn Matthews Tochter angesichts von Katzenflöhen über die Frage nach deren Herkunft zur Figur des infiniten Regresses kommt, dann rührt dies nicht nur von der Gesprächsgeduld des Vaters her, sondern auch von dessen philosophischen Wissen. Er muss dem Kind weder die Begriffe mitteilen noch die Verwandtschaft mit Gottesbeweisen bei Aristoteles und Thomas von Aquin. Doch er kann auf diese Ideen zurückgreifen und Elemente davon passend einfügen.

In diesem Sinn verstehe ich ein von Hartmut Rupp und mir organisiertes Unterrichtsgespräch zum »freien und unfreien Willen«, das Friedrich Schweitzer mehrfach kritisch als inadäquat bezeichnet hat. Von daher scheint es sinnvoll, anhand dieses Beispiels unsere jeweiligen Verständnisse von Kindertheologie zu profilieren.

27 Mirjam Zimmermann, Kindertheologie als theologische Kompetenz von Kindern, Neukirchen-Vluyn 2010, 161 ff. 28 Schweitzer (wie Anm. 20), 73 ff. 29 Über die Schwierigkeit mit einem »eingeschränkten Konstruktivismus« vgl. Norbert Brieden: Radikal heißt nicht beliebig. Der Konstruktivismus im Streit um die Wahrheit, in: Gerhard Büttner / Hans Mendl / Oliver Reis / Hanna Roose (Hg.), Religion lernen. Jahrbuch für konstruktivistische Didaktik. Band 1: Lernen mit der Bibel, Hannover 2010, 165–179. 30 Gareth B. Matthews, Die Philosophie der Kindheit, Weinheim/Berlin 1995, 7.

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Friedrich Schweitzer war einst bei der Analyse von Unterrichtsstunden aufgefallen, dass das Bild von Gott als Marionettenspieler bei 11– 12-jährigen Schüler/innen auf große Reso31 nanz stieß. In ihm konnten sie kreativ die Frage von Gottes Führung und menschlicher Autonomie zum Ausdruck bringen. Eine kleine Studie von Michael Fricke kam ebenfalls zu der Frage »ob Gott der Bestimmer« 32 sei. Man kann nun mit den Schüler/innen intensiv über diese Fragen nachdenken und es ergeben sich dabei auch bestimmte Logiken. Vielleicht kommt man auch auf Antworten wie die eines Lehrers auf einer Fortbildung: »Wenn es einem gut geht, möchte man selber entscheiden, in Problemsituationen wünscht man sich Gottes Führung.« Wenn einem eine solche Antwort zu unterkomplex erscheint, kann man fragen, ob dieses Thema nicht auch schon andere Menschen früher interessiert hat. An dieser Stelle kommt dann meines Erachtens die Theologie ins Spiel. Bei diesem Thema kommen nun mindestens drei große theologische Fragestellungen zum Zuge: die Frage nach der providentia dei (Vorsehungslehre) überlegt, in welcher Weise Gottes Eingreifen in die Welt gedacht werden kann, die Prädestinationslehre bedenkt, wieweit die Erlösung jedes Menschen aus Gottes freier Entscheidung und Gnade entspringen muss, und in der Frage des freien / unfreien Willens geht es ebenfalls darum, ob bzw. in welcher Weise gegebenenfalls ein Mitwirken des Menschen an seiner Erlösung gedacht werden kann. Dass die Theodizeethematik auch damit zusammenhängt, sei ergänzend erwähnt. Nimmt man die von Thomas Schlag und Friedrich Schweitzer neuerdings vorgeschlagene Unterscheidung impliziter und persönlicher Theologie versus expliziter und dogmatischer Theologie33 zuhilfe, dann wird man fragen können, wie die Entsprechungen zwischen den Schüleräußerungen und der theologischen Tradition gefunden werden können. Natürlich kann man eine logische Struktur zu der Fragestellung entfalten, die der unterrich34 tenden Lehrkraft Orientierung bieten kann. Es ist nun aber nahe liegend, die theologische Tradition zu allererst als eine Sammlung von Problemskizzen und deren Lösung anzuse-

hen.Von daher erscheint es mir legitim zu fragen, ob solche Angebote wie die beiden kleinen Gleichnisse bei Luther und Erasmus nicht 35 einen Gesprächsanstoß geben könnten. So brachte auch Luthers Idee, dass der Mensch einem Reittier gliche, das einmal vom Teufel, das andere Mal von Gott geritten würde, die Schüler/innen zu der kreativen Erkenntnis, dass »das Pferd die meiste Zeit in der Box steht«, d.h. dramatische Kämpfe, wer denn nun reiten dürfe (Gott oder Teufel), eher selten seien. Diese Überlegung war nun durchaus mit Luthers Absicht einig. Die Schüler/innen nahmen das Bild des Gleichnisses zum Anlass, zahlreicher Erörterungen – auch im Sinne der von Schweitzer zitierten Marionettenvorstellung. Außerdem bewegten sich die Schüler/innen, in der von Dorothea von Choltitz gehaltenen Stunde36 in methodischer und sachlichen Nähe zu Fritz Osers Modell zur Entwicklung des religiösen Urteils. Im Gegensatz zu Friedrich Schweitzer waren wir – einschließlich der Lehrerin – mit dem Verlauf des Unterrichtsgesprächs sehr zufrieden. Immerhin war es möglich, dass in einer späteren Praktikumsstunde auf der Basis der bei Schweitzer zitierten Unterrichtsszenen und der Dokumentation der Stunde zum freien/ unfreien Willen ein Student eine brillante Schulstunde zu der Frage moderieren konnte,

31 Friedrich Schweitzer, Religionsunterricht und Entwicklungspsychologie, Gütersloh 1995, 12 ff. 32 Michael Fricke, »Wenn Gott der Bestimmer wäre …« – Eine Schülerinnengruppe spricht über die biblische Schöpfungserzählung, in: JaBuKi 2 (2003), 46–53. 33 Schlag/Schweitzer (wie Anm. 2), 179. 34 Gerhard Büttner, Strukturen theologischer Argumentation – Versuch einer Kartographie der Kindertheologie, in: JaBuKi 5 (2006), 56–68. 35 Gerhard Büttner / Jörg Thierfelder, Mit theologischen »Klassikern« theologisieren, in: G. Büttner / H. Rupp, Theologisieren mit Kindern, Stuttgart u.a. 2002, 53–69. 36 Dorothea von Choltitz, Kommentar zu meinem Unterricht über den freien bzw. unfreien Willen, in: Büttner/Rupp, Theologisieren mit Kindern (wie Anm. 35), 71–78.

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ob Gott den zu uns wie ein Marionettenspie37 ler handle. Damit lässt sich zeigen, dass die Sammlung der hier zitierten Beispiele einen Fundus an Wissen generiert hat, der für künftige Unterrichtsstunden zur Verfügung steht. Die hier sichtbar gewordenen Muster sind dann auch hilfreich für die oben genannten anderen Themen wie Theodizee oder Gottes 38 Vorsehung.

Es geht hier und auch bei anderen von Schweitzer monierten Beispielen nicht darum zu zeigen, was (intellektuell privilegierte) Kinder schon mit avancierter theologischer Begrifflichkeit anfangen können. Doch wie sollen Lehrer/innen reagieren, wenn Fragen zur Trinität oder zum Heiligen Geist auftauchen? Am Beispiel des Themas »Heiliger Geist« lässt sich zeigen, in welchem Vorstellungsraum Kinder das Thema konzeptualisieren.39 Davon sind zahlreiche Gedanken theologisch höchst anschlussfähig an das, was neueste theologische Studien dazu schreiben. Damit ist nun nicht gedacht, dass das Thema Heiliger Geist ein bevorzugtes Thema im RU der Grundschule werden müsste. Doch gerade wenn wir offene Gespräche initiieren wollen, dann ist es für Lehrer/innen wichtig und hilfreich, wenn sie den erwartbaren Antworthorizont kennen. Wie so etwas funktionieren kann, zeigt Petra Freudenberger-Lötz.40 In der Frage, wer denn nun mit dem »Guten Hirten« gemeint sei, Gott oder Jesus, sieht sie die Grundfrage der Christologie – die nach den beiden »Naturen« Jesu Christi. Damit weiß sie sich verwiesen auf die ChalzedonFormel bzw. deren Diskussion auf dem entsprechenden Konzil. Nun hat man als Leser der entsprechenden Unterrichtsdokumentation in der Tat den Eindruck, dass die Kenntnis dieser theologischen Denkfigur die didaktische Strukturierung

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des weiteren Unterrichts entscheidend bereichert hat. Es ging Petra Freudenberger-Lötz hier nicht um eine gewaltsame Referenz auf einen dogmengeschichtlichen Topos, sondern um die Übernahme einer leistungsfähigen theologischen Strukturierung in den didaktischen Kontext der theologischen Gespräche.

6. Mein Zuordnungsvorschlag Erwachsene – seien es Eltern, Erzieherinnen, Lehrer und Pfarrerinnen – singen und beten mit Kindern, sie erzählen ihnen biblische Geschichten und manchmal führen sie auch Gespräche über diese Inhalte. Manchmal tun Kinder auch all das, wenn sie unter sich sind. Wir sehen also, dass die theologischen Gespräche in der Regel eingebettet sind in performative und instruktive Handlungen. Nach Schweitzers Definition wird man die hier beschriebenen Gespräche dann als »Theologie« beschreiben können, wenn sie bestimmt sind durch reflexive und argumentative Sprachformen. Dabei sind die kindlichen

37 Büttner, Gerhard, Landkarten des Denkens. Argumentationsstrukturen beim Nachdenken über das Verhältnis von göttlicher Führung und menschlicher Autonomie. Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 23. Jg. (2003), 74–81. 38 Vgl. dazu das Themenheft des »entwurf« 1/2012. 39 Grundlegend dazu Julia Gerth, Der heilige Geist – Das ist mehr so ein Engel, der hilft Gott, Göttingen 2011. 40 Freudenberger-Lötz (wie Anm. 5), 188 ff. 41 Hans Bernhard Petermann, Wie können Kinder Theologen sein?, in: Büttner/Rupp (wie Anm. 35), 95–127, 103 im Rekurs auf Aristoteles.

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Beiträge häufig von Staunen41 und Originalität42 bestimmt, wovon auch die erwachsenen Gesprächspartnerinnen profitieren können. Mit Winfried Härle sehe ich hier eine Form der Laientheologie. Mit der neueren Entwicklungspsychologie möchte ich dabei – unter teilweiser Zurückstellung des Lebensalters – die Unterscheidung zwischen Novizen und Experten als relevante Größe einführen. Besonders gegen Ende der Grundschulzeit verfügen manche Kinder über ein erstaunliches Wissen z.B. über biblische Geschichten und können mit diesen durchaus kompetenter umgehen als etwa Erwachsene ohne dieses Wissen. Damit ist auch klar, dass das Theologisieren mit Kindern, sofern es systematisch betrieben wird, zu einem Zuwachs an Wissen und Argumentationsfähigkeit führen soll.43 Welche Rolle fällt in diesem Zusammenhang der »großen Theologie« zu? Ich sehe in der Fülle der theologischen Ideen zu aller erst einen Schatz an Deutungen. Theologische Denkfiguren und Dogmen sind ja nicht als l’art pour l’art entstanden, sondern weil sie schwierige Fragen lösen wollten. Wie kann Jesus Mensch und Gott sein? Woher kommt das Böse? Kann man Gottes Allmacht mit seiner Liebe zusammen denken? Warum soll man Gutes tun, wenn Gott das böse Tun vergibt? Die Chance besteht nun darin, dass wir bei unserem Nachdenken hier auf Antwortversuche stoßen, die die Theologen und die Kirche bewegt haben. Dabei sind auch die »häretischen« Antwortversuche interessant und wichtig – man wird eine »arianische« Christologie heute als einen Diskussionsbeitrag würdigen, ohne gleich an ein »Anathema!« zu denken. Rudolf Englert spricht hier von einem »nicht-traditionellen Umgang mit Tradition«.44 Und er folgert: »In gewis-

ser Weise könnte man die Frage nach dem Zueinander von überkommener, ›objektiver‹ und individueller, ›subjektiver‹ Religion geradezu die Initiationsproblematik eigenständiger religionspädagogischer Reflexion nennen.«45 Die theologische Tradition und auch die akademische Theologie bilden somit einen Rahmen innerhalb dessen das Theologisieren mit Kindern sich bewegt. Auf der anderen Seite begegnet uns diese Theologie als ein Problemlösungsansatz, der prinzipiell an denselben Themen arbeitet wie das Gespräch der Kinder und Laien. Nicht weiter thematisiert wird hier die Erkenntnis, dass sich alle diese Überlegungen innerhalb einer Semantik, i.d. Falle der christlichen, abspielen. Ob es sinnvoll und möglich ist, die Grenze dieser Semantik zu überschreiten, müsste im Detail diskutiert werden. Es ist Teil dieser Semantik, die hier angesprochenen theologischen Themen im Sinne von Foersters als »nicht entscheidbar« anzusehen, die deshalb – aber immer wieder neu – 42 Markus Schiefer Ferrari, Auf der Suche nach der verlorenen Naivität. Erwachsene begegnen Kindern als Exegeten, in: Thomas Schmeller (Hg.), Neutestamentliche Exegese im 21. Jahrhundert. Grenzüberschreitungen (FS Joachim Gnilka), Freiburg im Breisgau 2008, 278–295. 43 Durchaus im Sinne von Fritz Oser, Wieviel Religion braucht der Mensch? Gütersloh ²1990. 44 Rudolf Englert, Religionspädagogische Grundfragen, Stuttgart ²2008, 91. 45 Englert, ebd., 81. Vgl. Auch Gerhard Büttner, The Role of Tradition in Theologizing with Children, in: Iversen (wie Anm. 18), 185–195. 46 Von daher hatte sich Ernstpeter Maurer, Theologisieren mit Kindern – eine christliche Spezialität? In: JaBuKi 5 /2006), 26–37 eher skeptisch gegenüber einer jüdischen oder muslimischen Kindertheologie geäußert. Diese Skepsis teilt I.H. Yavuzcan, Kindertheologie als altersgerechtes Lernen? Ein-

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entschieden werden müssen.46 In dieser Perspektive besteht dann keine nennenswerte Hierarchie der Antworten. Der Gedanke, dass die verschiedenen Antwortversuche der Tradition, der akademischen Theologie und die der Kinder im Prinzip »auf demselben Spielfeld spielen«, hat nun unmittelbare didaktische Auswirkungen. Das Theologisieren mit Kindern ermöglicht es, Interpretamente von Kindern z.B. in einer Kreismitte zusammen mit solchen der theologischen Tradition zusammenzuführen. Mit der Klärung von Zusammengehörigkeiten und Differenzen finden zwei wichtige Lernfortschritte statt: Die Kinder erkennen den argumentativen Ort der eigenen Deutung und sie gewinnen Anschluss an die geprägte Semantik der Theologie. Die Schwierigkeit liegt in der Fähigkeit der erwachsenen Gesprächspartner/innen, solche Arrangements zu ermöglichen. Diese zeigen sich explizit bei der Ausbildung von Religionslehrer/innen. Im Sinne der theologischen Kompetenz geht es um Wissen und Argumentationsbzw. i.d. Fall um Coachingfähigkeit. Dabei zeigt es sich, dass das im Studium angeeignete theologische Wissen von den angehenden Lehrer/innen nur sehr schwer auf reale Unterrichtskommunikationen bezogen werden kann.47 Umso mehr bedarf es der Erhellung darüber, in welcher Weise theologische Themen in der Kommunikation mit Kindern über-

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haupt auftauchen und mit welchen Einfällen und Bildern sie bei letzteren konnotiert werden. Hier bieten die zahlreichen größeren und kleineren Fallgeschichten zum Theologisieren auch dann eine wichtige Anregung, wenn diese nicht allen Standards sozialwissenschaftlicher Forschung entsprechen. Wenn, wie ich anfangs formuliert habe, Kindertheologie primär ein Programm und eine Praktik ist, dann geht es zukünftig auch um die Erhellung der Mechanismen, die dort wirksam sind. Dabei wird die theologische Qualität der Argumentation gewiss keine geringe Rolle spielen.

führende Gedanken im Kontext des islamischen Religionsunterrichtes, in: B. Ucar / D. Bergmann (Hg.), Islamischer Religionsunterricht in Deutschland. Fachdidaktische Konzeptionen, Erwartungen und Ziele, Göttingen/Osnabrück 2010, 223–232. Ein jüdischer Beitrag, der eher in Richtung Kindertheologie geht Solomon Schimmel, Some Educational Uses of Classical Jewish Texts in Exploring Emotion, Conflict, and Character, in: Religious Education 92 (1997), H. 1, 24–37. 47 Caroline Kondring / Oliver Reis, »An der Uni lernst du nichts!« – Eine Lernumgebung zum Konzeptwechsel in der Lehrerbildung, in: Gerhard Büttner / Hans Mendl / Oliver Reis / Hanna Roose (Hg.), Religion lernen. Jahrbuch für konstruktivistische Didaktik, Band 3: Lernumgebungen, Hannover 2012 i.E.

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Lilian Fried Junge Kinder als »intuitive Theoretiker ihrer gesamten Welt«? – Forschungsergebnisse zu Wissenslandkarten bei jungen Kindern Kindbilder Inwieweit schon Kinder im Vorschulalter als »intuitive Theoretiker« oder »intuitive Wissenschaftler« ihrer Welt anzusehen sind, ist eine Fragestellung der frühpädagogischen Anthropologie. Diese sucht auszuloten, inwiefern der Mensch bereits in seinem frühen Kindheitsstadium ein bildungsbedürftiges und bildsames Wesen ist. Eine von vielen möglichen Antworten darauf wird generiert, indem einschlägige wissenschaftliche Befunde zu einem »Kindbild« rekonstruiert werden. Letzteres bezeichnet einen »Komplex theoretischer Vorstellungen« bzw. eine »Einheit des Wissens« über »Erscheinungen, Bedingungen, Ursachen und Ziele« der Entwicklung des Kindes.1 Es hat die Form und Funktion eines Leitbildes, vermag also frühpädagogisches Handeln zu orientieren. Wobei es in mehrfacher Hinsicht Bezugspunkte bietet. So kann es ebenso als Orientierungspunkt für die Gestaltung der frühpädagogischen Bildung dienen, wie als Richtgröße für die Professionalisierung des frühpädagogischen Personals.2 Insofern ist entscheidend, an welchem Kindbild Frühpädagog/innen ihr Handeln gerade ausrichten. Über die Jahrhunderte hinweg hat es viele unterschiedliche Kindbilder gegeben. Ältere Versionen wurzeln in philosophischen Vorstellungen, welche die Doppelnatur des Menschen betonen, indem

sie ihn gleichermaßen als Körper- wie als Geistwesen reflektieren. So schreibt z.B. Fröbel: »›Kind‹! Schon das Wort ›Kind‹ erregt den Menschen erhebend und macht ihn froh, wie der Anblick eines ›gesunden Kindes‹ ihn mit Freude und Wonne erfüllt und der Gedanke eines ›reinen Kindes‹ das Gemüt mit den schönsten Hoffnungen schwellt. Es ist dies das Gefühl der Wiedererscheinung eines Menschen in reiner Kindheit; es ist dies die Hoffnung der Wiederkehr eines neuen Frühlings der Menschheit […]; es ist dies die Ahnung einer neuen Gottesoffenbarung im Kinde und durch das Kind […] Es ist also die Verkündigung eines dreifachen und doch einigen Lebens in dem Kinde: die Wiedererscheinung eines einzelnen Menschenlebens, die Erscheinung der Menschheit im Menschen und die Erscheinung des Göttlichen in der Menschheit, wodurch das Kind in Wort, Gedanke, Anblick so erregend und erhebend auf den gemütvollen und unverdorbenen Menschen wirkt […] Wie nun aber Gott der Schöpfer und Vater der Menschen, das Leben und die 1 H. Ullrich, Das Kind als schöpferischer Ursprung. Studien zur Genese des romantischen Kindbildes und zu seiner Wirkung auf das pädagogische Denken, Bad Heilbrunn 1999, 9. 2 Vgl. S. Oehlmann, Kindbilder von pädagogischen Fachkräften. Eine Studie zu den Kindbildern von Lehrkräften und Erzieherinnen, Weinheim 2012, 56.

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Fried Junge Kinder als »intuitive Theoretiker ihrer gesamten Welt«?

Quelle alles Lebens ist; wie darum in der Schöpfung Gottes, deren Glied der Mensch und das Kind als Geschöpf ist, alles nur Leben zeigt, […] sich nur im Leben als Leben kund tun, so ist auch des Kindes gleich erste Äußerung seines Daseins nur Wirken, Leben, Tätigkeit.«3 Dieses romantische Bild »mit der Auffassung des Kindes als eines noch unschuldigen, in sich noch vollkommenen Naturwesens und als eines phantasiebegabten, schöpferischen Wesens, das noch in ursprünglicher Einheit mit sich, mit der Natur und mit Gott lebt …«4, mündet in der Forderung, die Bildung von Körper und Geist des jungen Kindes solle »bei weitem mehr leidend, nachgehend, als bestimmend, vorschreibend sein«5. Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wird dieser umfassende Kindbegriff abgelöst durch die Vorstellung vom Kind als autonomes, aktiv seine Welt eroberndes Wesen. Montessori drückt dies so aus: »Das Kind trägt nicht die verkleinerten Merkmale des Erwachsenen in sich, sondern in ihm wächst sein eigenes Leben, das seinen Sinn in sich selber hat […] das Kind allein ist der Bildner seiner Persönlichkeit. Schöpferischer Wille drängt es zur Entwicklung. Noch ist im kleinsten Kind die Zeichnung des Charakters nicht sichtbar, aber in ihm ruht, wie in der Zelle, die ganze Persönlichkeit […] Es ist wahr, dass das Kind in seiner frühen Lebensepisode gleich weichem Wachs ist, aber dieses Wachs kann nur von der sich entfaltenden Persönlichkeit selber geformt werden.«6 Gemäß diesem modernen Bild ist das Kind in der Lage, sich selbst zu entwerfen und zu konstruieren. Allerdings ist dieser Vorgang eingebunden in soziale Kontexte, welche dem Kind Muster anbieten, an denen es seine Aufbauarbeit orientiert und

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so gesellschaftliche Einflüsse zu integrieren vermag. Insofern findet die Entwicklung des Kindes im Spannungsfeld von Selbstkonstruktion und sozialer Konstruktion bzw. Ko- Konstruktion statt7. Demzufolge sollen dem jungen Kind Bildungsräume eröffnet werden, in denen es seinen Selbstaufbau – gestützt durch vorbereitete Kontexte – ungestört vollziehen kann. In jüngerer Zeit ist das moderne Kindbild – ausgelöst durch aktuelle Erkenntnisse der kognitiven Entwicklungspsychologie – weiterentwickelt worden. Nun wird das Kind nicht mehr nur als aktiver Konstrukteur seiner selbst angesehen, sondern darüber hinaus in den Status eines »intuitiven Theoretikers« bzw. »intuitiven Wissenschaftlers« seiner äußeren und inneren Welt erhoben. Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass die Entwicklung junger Kinder weniger davon abhängt, wie »intelligent« sie sind, als davon, über welches Vor-Wissen sie verfügen.8 Wobei sich dieses in klar voneinander abgegrenzten inhaltlichen Bereichen oder Domänen entwickelt, sich also in einem domänenspezifischen Wissensprofil ausprägt. Dieses umfasst in sich geschlossene, inhaltlich definierte Überzeugungssysteme – auch als »naive Theo3 Zitiert nach E. Blochmann (Hg.), Fröbels Theorie des Spiels I. Weinheim 1962, 18 f. 4 Ullrich (wie Anm. 1), 191. 5 Fröbel nach Blochmann (wie Anm. 3), 23. 6 M. Montessori, Grundlagen meiner Pädagogik, Heidelberg 61986, 14 f. 7 Oehlmann (wie Anm. 2), 56. 8 Vgl. L. Fried, Wissen als wesentliche Konstituente der Lerndisposition junger Kinder. Theorie, Empirie und pädagogische Schlussfolgerungen. Expertise im Auftrag des Deutschen Jugendinstituts, München 2005 (dji.de/ bibs/320_5488_Fried.pdf; heruntergeladen am 31.03.2012).

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rien« oder »intuitive Theorien« bezeichnet.9 Deren Aneignung wird durch Grundlagen bzw. Kernprinzipien ermöglicht und gesteuert, die zum Teil bereits angeboren sind oder sehr früh erworben werden. Wobei es im Laufe der Entwicklung zu einem »teilweise radikalen Theoriewandel, also zu einer völligen Rekonstruktion des Wissens innerhalb einzelner Inhaltsbereiche«10 kommt. Sodian zieht daraus den Schluss, dass bereits Vorschulkinder als »intuitive Theoretiker« bzw. »intuitive Wissenschaftler« gelten können, weil sich bei ihnen schon »Grundbegriffe wissenschaftlicher Rationalität im Vor- und Grundschulalter […] (nachweisen lassen L.F.) und nicht erst, wie lange mit Piaget angenommen wurde, erst im Jugendalter (im Stadium formaler Operationen) […]«11 Aber rechtfertigt der Erkenntnisstand überhaupt, schon Vorschulkinder als »intuitive Wissenschaftler« bzw. »intuitive Theoretiker« zu bezeichnen? In der Tat spricht einiges dafür, dass diese – entgegen früheren Annahmen – durchaus schon ein intuitives Wissenschaftsverständnis haben. Sodian, Thoermer und Körber konnten zum Beispiel in ihren Untersuchungen bei Grund- und Vorschulkindern Hinweise finden, dass bereits junge Kinder bei einfachen übersichtlichen Anordnungen angeben können, wie man herausfinden kann, ob etwas »evident«, also faktisch ist. Allerdings konnten sie sich nur ganz konkrete, sinnlich zugängliche Evidenzkriterien zunutze machen. Diese dienten ihnen dazu einzuschätzen, wie es um den »Realitätsstatus« einer neuen Information bzw. Wahrnehmung steht.12 Somit sind Vor- und Grundschulkinder nur bedingt fähig, ihr eigenes »Theoretisieren« bewusst zu erfassen bzw. reflektieren. Sie besitzen aber immerhin schon ein

Grundverständnis der Logik der Hypothesenprüfung und der Evidenzevaluation. Noch steht nicht abschließend fest, wie weitgehend Kinder schon in jungen Jahren über hinreichende kognitive Voraussetzungen verfügen, um »ihre Welt zu theoretisieren«. Diese Erkenntnislücke hat mehrere Gründe. Zum einen sind die Forschungsergebnisse zur Wissensaneignung junger Kinder noch anfänglich und lückenhaft. Zum anderen werden die »impliziten« bzw. »naiven« Theorien junger Kinder meist nur aus der Perspektive einer bestimmten Disziplin und dementsprechend auch nur mit Blick auf einen Entwicklungsbereich des Kindes reflektiert. Mit der Folge, dass es den – vom romantischen Kindbild noch geleisteten – umfassenden Blick auf »Natur und Geist« des Kindes nicht mehr gibt. Aber muss es zwangsläufig dabei bleiben? Sind denn die jeweils nur einen Aspekt der Gesamtentwicklung des Kindes ausleuchtenden Bilder des Kindes als »Biologe«, »Physiker«, »Psychologe« und »Philosoph/ Theologe« noch nicht klar genug, um sie 9 Vgl. C. Mähler, Naive Theorien im kindlichen Denken, in: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 31 (1999), 191–206. 10 M. Hasselhorn / C. Mähler (1998), Wissen, das auf Wissen baut: Entwicklungspsychologische Erkenntnisse zum Wissenserwerb und zum Erschließen von Wirklichkeit im Grundschulalter, in: J. Kahlert (Hg.), Wissenserwerb in der Grundschule. Perspektiven erfahren, vergleichen, gestalten, Bad Heilbrunn 1998, 73–89, hier: 74 ff. 11 B. Sodian / C. Thoermer / S. Koerber, Das Kind als Wissenschaftler – schon im Vor- und Grundschulalter? In: L. Fried (Hg.), Das wissbegierige Kind. Neue Perspektiven in der Früh- und Elementarpädagogik, Weinheim 2008, 29–36, hier: 29. 12 Ebd. 33.

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allmählich so zusammenschieben zu können, dass eine umfassende, im Sinne von domänenübergreifende »Wissenslandkarte« sichtbar wird, die ein gleichermaßen umfassendes, wie – bezüglich der einzelnen Entwicklungsbereiche – binnendifferenziertes Gesamtbild des Kindes zutage fördert? Dem soll im Weiteren nachgegangen werden.

Wissenslandkarten Die vorliegenden Forschungsergebnisse lassen sich nicht ohne weiteres zu einer Gesamtübersicht integrieren. Ein Grund dafür ist, dass zwischen »stark-definierten« und »schwach-definierten« Domänen unterschieden werden muss.13 Erstere zeichnen sich durch angeborene Kernprinzipien aus, also durch Initialwissen in Form von simplen Prinzipien, die als (Handlungs-)Strukturbeschränkungen bzw. (Lern-)Voreinstellungen wirken und dadurch rasche, aufgabenspezifische Problemlösungen ermöglichen und somit den domänenspezifischen Wissenserwerb erleichtern.14 Letztere folgen kulturimmanenten und deshalb nicht universalen, also »weicheren« (Handlungs- bzw. Lern-)Prinzipien. Bislang liegen vor allem Erkenntnisse zu »intuitiven Theorien« junger Kinder in den sogenannten »starken Domänen« vor. Als solche gelten – neben der Mathematik15 – die »naive Biologie«, die »naive Physik« und die »naive Psychologie« (»theory of mind«).16 Insofern zeugt das darauf gründende Bild vornehmlich vom Kind als »intuitivem Naturwissenschaftler«. Noch kaum ausgelotet ist demgegenüber die Wissensstrukturentwicklung junger Kinder in den sogenannten »schwachen Domänen«.17 Immerhin gibt

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es erste empirische Erkundungen der »naiven Philosophie« oder der »naiven Theologie« junger Kinder.18 Was genau machen die einschlägigen Ergebnisse der empirischen Forschung sichtbar und auf welches dahinter stehende Kindbild verweisen die Muster, wenn alle Ergebnisse zu einer Gesamtübersicht integriert werden? Dies soll im Folgenden schrittweise geprüft werden. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die versammelten Erkenntnisse mit unterschiedlichen Forschungsstrategien ermittelt wurden. So wurde in den meisten Studien zum Kind als »naivem Biologen«, »naivem Physiker« und »naivem Psychologen« mit quantitativen (zum Teil experimentellen) Methoden gearbeitet; wohingegen viele der Studien zum Kind als »naivem Philosophen« und »naivem Theologen« auf qualitativen Zugängen (zum Teil auf Einzelfallstudien) beruhen. 13 Vgl. R. Gelman, Domain specificity and variability in cognitive development. In: Child Development 71 (4/2000), 854–856, hier: 854. 14 Fried (wie Anm. 8), 11. 15 Dieser Bereich wird nicht weiter berücksichtigt, weil der Bezug zum romantischen Kindbild hergestellt werden soll, der den Blick auf die naturwissenschaftlichen Bereiche lenkt. 16 Vgl. L. Fried (Hg.), Das wissbegierige Kind. Neue Perspektiven in der Früh- und Elementarpädagogik, Weinheim 2008. 17 Insbesondere soziale Bereiche; vgl. L. Fried / G. Büttner (Hg.), Weltwissen von Kindern. Zum Forschungsstand über die Aneignung sozialen Wissens bei Krippen- und Kindergartenkindern, Weinheim 2004. 18 Vgl. z.B. G. Büttner, Kindertheologie beobachtet. Dekonstruktive Ansichten, in: TheoWeb. Zeitschrift für Religionspädagogik, 6 (1/2007), 2–11 sowie G. Büttner / A.A. Bucher, Kindertheologie – Eine Zwischenbilanz. In: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie, 57 (1/ 2005), 35–46.

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Das Kind als »intuitiver Biologe«19 Die naturwissenschaftliche Kompetenzentwicklung junger Kinder wird durch die Auseinandersetzung mit Naturphänomenen vorangetrieben. Im Verlauf dieser Prozesse eignen sie sich erstes naives, zuvorderst biologisches Wissen an. Dieses kreist um das Schlüsselkonzept »Lebewesen«. Ab etwa vier Jahren können Kinder relativ genau angeben, worin sich Lebewesen und Artefakte (Gegenstände und Naturphänomene) unterscheiden. Sie wissen z.B. schon, dass Vorgänge wie Essen, Schlafen, Atmen, Wachsen, Fortpflanzung, Vererbung usw. zu Lebewesen gehören. Allerdings beschränkt sich ihr Wissen auf Wesen bzw. Objekte, die in ihrem Erfahrungsbereich liegen. Gegen Ende der Vorschulzeit sind sie sich dann zunehmend darüber im Klaren, dass Menschen, Tiere und Pflanzen unterschiedliche Arten repräsentieren, die sich verschieden fortpflanzen bzw. entwickeln. Die Einsicht, dass nicht nur Menschen und Tiere, sondern auch Pflanzen zu den Lebewesen gehören, prägt sich allerdings erst am Ende der Vorschul- bzw. zu Beginn der Grundschulzeit aus. Davor halten Kinder nur das für lebendig, was die Fähigkeit zu autonomer Bewegung besitzt, weshalb Pflanzen für sie noch nicht zur Kategorie der Lebewesen gehören. Die Erkenntnis, dass Menschen und Tiere sich entwickeln, ist schon früh vorhanden. Zumindest vermögen Fünfjährige schon zu begreifen, dass diese sich verändern, indem sie wachsen. Aber erst Sechs- und Siebenjährige sind in der Lage zu erfassen, dass es bei Menschen und bei Tieren juvenile Formen gibt, also dass sich deshalb jüngere Menschen und Tiere unter anderem dadurch von älteren

unterscheiden, dass Kopf und Körper in einer anderen Proportion zueinander stehen. Insgesamt verweist die Forschung darauf, dass Kinder mit steigendem Alter ein immer systematischeres, umfangreicheres biologisches Wissen entfalten. Wie genau sie das machen, ist noch nicht abschließend geklärt. Es scheint aber so zu sein, dass Erfahrungen mit der Natur und Erklärungen bzw. Kommentare sowie visuelle Unterstützung durch Erwachsene eine wesentliche Rolle dabei spielen.

Das Kind als »intuitiver Physiker«20 Die Entwicklung junger Kinder erfolgt von Anfang an in Auseinandersetzung mit Objekten. Dementsprechend meint »naive Physik« das basale kindliche Wissen über Objekte, deren Beschaffenheit, den Umgang mit ihnen sowie deren Beziehung zueinander. Die mentale »Keimzelle« bzw. Kernstruktur der physikalischen Kompetenzentwicklung ist ein rudimentäres »Materiekonzept«. Was man darüber aus der Forschung weiß, erläutert Mähler wie folgt: »Obwohl […] festzustellen war, dass das kindliche Konzept von Materie von dem der Erwachsenen zunächst erheblich abweicht, haben Kinder dennoch nicht einfach falsche Über19 L. Fried / M. Hoeft / P. Isele / J. Stude, / W. Wexeler, Schlussbericht zur Wissenschaftlichen Flankierung des Verbundprojekts »TransKiGs – Stärkung der Bildungs- und Erziehungsqualität in Kindertageseinrichtungen und Grundschule – Gestaltung des Übergangs«, TU Dortmund, Fakultät 12, Lehrstuhl »Pädagogik der frühen Kindheit«, 2012. 20 Ebd.

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zeugungen von Materie, sondern verfügen über eine an sich konsistente, mit den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Physik nicht vergleichbaren Theorie.«21 Das Materiekonzept manifestiert sich zunächst auf dreierlei Weise:22 Kinder verstehen, dass physikalische Objekte unterschiedlich beschaffen sind (Eigenschaften von Materie). Sie gewinnen Einsicht in physikalisch-mechanische Kausalität (Kraft und Bewegung) und sie entwickeln Vorstellungen davon, dass Objekte unterschiedliche Aggregatzustände haben können (fest, flüssig, gasförmig). Schon Säuglinge bzw. Kleinkinder nehmen physikalische Objekte als zusammengehörige, umgrenzte und dauerhafte Ganzheiten wahr. Diese Wahrnehmungen repräsentieren sie intern in Form von Konzepten, welche den Objekten bestimmte Eigenschaften zuweisen. So erwarten Säuglinge bzw. Kleinkinder, dass sich feste Objekte auf kontinuierlichen Bahnen bewegen und Effekten wie der Schwerkraft und Trägheit unterliegen. Dabei äußern sie sogar schon ein rudimentäres Verständnis von physikalischer Kausalität, z.B. indem ihre Reaktionen bei einschlägigen Experimenten von der Erwartung zeugen, dass ein angestoßenes Objekt sich bei einer Kollision umso weiter verschiebt, je größer das stoßende Objekt ist. Kindergartenkinder können dann schon zwischen materiellen Substanzen und Immateriellem unterscheiden. Außerdem können sie bereits Objekte nach ihren Eigenschaften klassifizieren. Anfänglich orientieren sie sich dabei typischerweise nur an der Form. Gegen Ende der Kindergarten- und zu Beginn der Grundschulzeit berücksichtigen sie dann mehrere Eigenschaften gleichzeitig. So gelingt es ihnen zunehmend, die Be-

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ziehung zwischen Objekten unter synchroner Beachtung von mehreren Merkmalen, wie z.B. Oberflächenstruktur, Form, Farbe, Größe, Gewicht und Dichte zu definieren. Die Erwartungen, die sie gegenüber spezifischen Objekten entwickeln, sind dann als Reflex dieser Eigenschaftszuschreibungen anzusehen. Was die Eigenschaften von Materie betrifft, so ist mehrfach untersucht worden, wie sich die Konzepte »Größe, Gewicht und Dichte« bzw. wie sich die Einsicht in deren Verhältnis bei Kindergarten- und Grundschulkindern entwickeln. Demnach unterscheiden sich die physikalischen Vorstellungen von Fünf- bis Siebenjährigen deutlich von denen der Erwachsenen, weil viele Kinder dieses Alters noch nicht durchschauen, was genau die Größe, Dichte und das Gewicht eines Objekts ausmacht und wie diese Eigenschaften zusammenspielen. So haben sie noch Schwierigkeiten zu erfassen, dass sich Gewicht nicht aus der subjektiv fühlbaren Schwere eines Objekts ergibt, sondern eine objektive Gegebenheit darstellt. Auch ist ihnen ist noch nicht klar, dass Dichte eine Größe ist, die bei der Gewichtsschätzung von Materialien mit ins Spiel gebracht werden muss. Außerdem wissen wir, dass junge Kinder schon früh in der Lage sind, den von ihnen wahrgenommenen und repräsentierten Objekten bestimmte mechanische Eigenschaften zuzuschreiben. So berichten Krist und Kollegen,23 dass man »[…] 21 Mähler (wie Anm. 9), 55. 22 Ebd. 53. 23 H. Krist / N. Natour / S. Jäger / M. Knopf, Kognitive Entwicklung im Säuglingsalter: Vom Neo-Nativismus zu einer entwicklungsorientierten Konzeption, in: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 30 (4/998), 153–173, hier: 162.

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in zahlreichen Säuglingsexperimenten […] einen Hinweis darauf (fand), dass das Wissen über beobachtbare Objekte und die mechanischen Einschränkungen, denen die Bewegungen dieser Objekte unterliegen, einen privilegierten Bereich des Wissenserwerbs darstellen«. Bis gegen Ende der Kindergartenzeit zeigen die meisten Kinder aber noch kein entwickeltes Verständnis bzw. Wissen von Mechanik bzw. mechanisch verursachter Bewegung. Einige Untersuchungen beschäftigen sich mit der Einsicht junger Kinder in das physikalische Hebelgesetz. Dieses besagt, dass das Drehmoment, das mit Hilfe eines Hebels ausgeübt werden kann, gleich dem Produkt aus Kraft und Hebelarm ist. Um nun Aufschluss zu gewinnen, ob und wieweit sich dieses physikalische Gesetz den Kindern erschließt, führt man Untersuchungen mit Kindern unterschiedlichen Alters durch, in denen die Balkenwaage als ein Instrument zur Diagnose von unter anderem technischem Wissen über das physikalische Hebelgesetz eingesetzt wird. Dabei ergab sich, dass die meisten Fünfbis Siebenjährigen in der Lage waren, anhand der jeweiligen Anzahl der Gewichte einzuschätzen, ob die Balkenwaage sich zur rechten oder linken Seite neigt oder in Balance bleibt. Allerdings hatten sie Probleme, sobald die Distanz der Gewichte zum Drehpunkt verändert wurde. Erst Grundschulkindern gelingt es dann, beim Aufstellen von Regeln sowohl die Gewichte, als auch deren Distanz zum Drehpunkt in ihr Kalkül zu ziehen. Sie durchschauen also schon, dass eine Kraft umso effektiver ist, je weiter entfernt vom Drehpunkt sie angreift. Schließlich vermögen schon junge Kinder den geographischen Raum (Dorf, Stadt, Land, Erde, Weltraum usw.) sym-

bolisch zu repräsentieren, also mental abzubilden. Allerdings ist das diesbezügliche Wissen nur sehr fragmentarisch und von Kind zu Kind – je nach Erfahrungshorizont – ganz unterschiedlich entwickelt. Hier denke man nur daran, dass selbst ältere Kinder oder auch noch Erwachsene zum Teil diesbezügliche Erkenntnislücken haben, was sich z.B. in der Schwierigkeit äußert, Landkarten zu lesen und zu nutzen. Dreijährige verstehen bereits, dass ein Symbol für ein Ding stehen, es also mental repräsentieren kann. Ältere Kindergarten- und Grundschulkinder vermögen dann schon Landkarten zu »lesen«, d.h. sie verstehen, dass darauf eine reale Landschaft symbolisch abgebildet wird. Allerdings gelingt das den Kindern nur bei Landschaften, die ihnen vertraut sind. Und selbst dann können sie noch nicht einschätzen, ob eine Landkarte die räumlichen Proportionen einer realen Landschaft angemessen wiedergibt. Die Kartensymbole lernen sie erst im Verlauf der Grundschulzeit richtig zu deuten. So wird z.B. in Wiegand24 berichtet, dass Kindergartenkinder die roten Linien für die Straßen auf einer Landkarte so interpretierten, als stünden sie speziell für »rote Straßen«. Darüber hinaus verfügen Kindergarten- und Grundschulkinder über erste Vorstellungen zur Erde und zum Weltall. Insbesondere die »naiven Modelle«, die sich Kinder von der Gestalt der Erde machen, sind schon recht gut untersucht. Dabei wurde deutlich, dass junge Kinder ganz eigene Vorstellungen haben, wonach die Erde z.B. flach ist, einen Rand hat, von

24 P. Wiegand, Learning and teaching with maps, New York 2006.

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dem man fallen kann, innen hohl ist usw. Ob diese Vorstellungen bereits Merkmale »naiver Theorien« aufweisen, ist umstritten. Hannust und Kikas25 kamen am Ende ihrer Längsschnittstudie zu dem Schluss, dass dies nicht der Fall ist, »… although a few indications of naive mental models were found, in most cases young childrens knowledge was fragmented and accurate knowledge was often expressed alongside inaccurate/synthetic ideas. Furthermore, it was shown that children need to know scientific facts before they start taking the global perspective when describing the world and, when faced with ambiguous open questions, children often experience difficulties that can induce them to change the types of answers they provide.« Der Schwerpunkt des kindlichen Wissens über den Kosmos liegt auf den sichtbaren Tatbeständen. Kinder wissen, welche Erscheinungsweisen sich hinter den Bezeichnungen Sonnenauf- bzw. -untergang oder Mondaufgang verbergen. Auch haben sie erste Vorstellungen, warum Tag und Nacht einander abwechseln. Allerdings können sie noch nicht naturwissenschaftlich erklären, warum das so ist. Vielmehr greifen sie auf Nachfrage zu subjektiven (nicht selten animistischen26) Vorstellungen. Unsichtbare Tatbestände, wie zum Beispiel die Anziehungskräfte, welche die Gestirne zusammenhalten, können sie ebenfalls noch nicht erklären. Aber auch wenn sie noch nicht wissen, wie die Gestirns-Mechanik im Einzelnen funktioniert, so unterstellen sie doch schon, dass es diese Kräfte gibt.

Das Kind als »Naiver Psychologe«27 Aktuelle Kindbilder werden also durch die Brille der Erkenntnisse zum kind-

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lichen Wissenserwerb reflektiert, weil dieses Vor-Wissen als Basis der Kompetenzentwicklung gilt. Dabei speisen sich die Kindbilder nicht nur aus Erkenntnissen zum kindlichen Verständnis der äußeren und inneren Natur, sondern auch aus Erkenntnissen zum kindlichen Verständnis der menschlichen Psyche. Damit ist die sogenannte »theory of mind« gemeint, auch als »naive Theorie des Geistes« bzw. »Alltagspsychologie« bezeichnet. Dieses spezifische Wissen, mit dessen Hilfe Kinder sich in ihrer sozialen Welt orientieren können, wird von Gelman und Legare gekennzeichnet als: »[…] the ontological, causal beliefs we have regarding the motivations, goals, intentions, and consequences of human behavior […] humans do not think about actions in terms of overt behaviors alone (indeed, doing so would result in profound difficulties in navigating the social world), but rather in terms of unobserved (theorized) mental constructs: beliefs, desires, intentions, goals. The ability to relate the simple action sequences produced by perceptual cues to the cognitive beliefs of a perceived actor facilitates the emergence of more complex representations of intention and, in turn, the ability to reason about future behavior.«28 Die Voraussetzungen dafür entwickeln sich schon sehr früh. Säuglinge sind schon

25 T. Hannust / E. Kikas, Childrens knowledge of astronomy and its change in the course of learning, in: Early Childhood Research Quarterly, 22 (2010) 89–104, hier: 164. 26 »Toten« Dingen wird »Leben« zugesprochen. 27 S.A. Gelman / C.H. Legare, Concepts and folk theories, in: Annual Review of Anthropology, 40 (2011), 379–389 sowie Fried (wie Anm. 8). 28 Ebd., 379.

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von Geburt an auf die Gesichter und sprachlichen Äußerungen ihrer Bezugspersonen geprägt. Auch wenden sie von Geburt an Mittel an, wie z.B. Stimmeinsatz, Zeigegesten, um deren Aufmerksamkeit zu fesseln und zu dirigieren. Schon Säuglinge und Kleinkinder verfügen über ein grundlegendes Verständnis des Mentalen. So ist ihnen zum Beispiel bekannt, dass sich Menschen in unterschiedlichen mentalen Zuständen befinden können (Wünsche, Überzeugungen, Absichten, Pläne, Glauben, Wissen, Zweifeln, Phantasie, Träume usw.). Deshalb sind sie bereits zur visuellen Perspektivenübernahme fähig. So können sie schon erfassen, dass unterschiedliche Perspektiven zu unterschiedlichen Wahrnehmungen führen. Sie können auch schon erschließen, ob andere etwas wahrnehmen können oder nicht. Dabei stellen sie sogar Faktoren, wie Nähe bzw. Distanz und Sichtbarkeit in Rechnung. So können schon Zweijährige unterscheiden, ob jemand ihnen ein Spielzeug reichen möchte oder nicht bzw. reichen kann oder nicht. Auch sind sie schon früh in der Lage, Chancen zu erkennen und zu nutzen, mit Gleichaltrigen und Erwachsenen Bedeutungen zu teilen29. Alles in allem verfügen sie also schon in diesem Alter über wesentliche Voraussetzungen, um zu erfassen, dass Menschen verschiedene mentale Zustände haben können und dass sie entsprechend diesen mentalen Zuständen handeln. Allerdings gelingt es ihnen keineswegs immer, klar zwischen Mentalem und Realem zu unterscheiden. So glauben z.B. viele Dreijährige, es würde reichen, sich etwas zu wünschen, um die Realität zu verändern. Auch sind viele noch nicht in der Lage nachzuvollziehen, dass ein Gegenstand zwar aussieht wie ein Apfel,

in Wirklichkeit aber eine Kerze ist. Sie können also noch nicht sicher zwischen So-tun-als-ob und Realität trennen. Dementsprechend lassen sie in ihren Sotun-als-ob-Spielen gleichzeitig zwei Bedeutungen für ein Objekt gelten, zwischen denen sie hin und her pendeln. Zum Beispiel kann die Banane gleichzeitig Telefon und Lebensmittel bedeuten. Dabei scheint es so zu sein, dass sie zwar so-tun-als-ob, aber nicht so-denken-alsob. Sie begreifen also noch nicht den mentalen Charakter des So-tun-als-obSpiels. Im Kindergartenalter wissen sie meist schon, dass die menschliche Psyche autonom und selbstaktiv ist. Vielen ist auch klar, dass man die menschliche Psyche nicht direkt erfassen kann, sondern nur indirekt, anhand bestimmter Indikatoren zu erschließen vermag. Des weiteren können sie schon erfassen bzw. darüber sprechen, dass die menschliche Psyche unterschiedliche mentale Zustände hervorrufen kann (Träume, Absichten, Gefühle usw.). Sie können sogar schon anhand bestimmter Hinweise schlussfolgern, in welchem mentalen Zustand sich ein Mensch gerade befindet. So wissen zum Beispiel Vier- bis Fünfjährige dass jemand, der ein Problem zu bewältigen hat und einen nachdenklichen Gesichtsausdruck aufweist, vermutlich gerade über der Lösung dieses Problems brütet. Darüber hinaus haben Kindergartenkinder schon Vorstellungen, wie Wissen entsteht bzw. sich mentale Repräsentationen aufbauen und verändern. Ihnen ist klar, dass Wissen aus Wahrnehmung und Kommunikation erwächst. Sechsjährige erfassen sogar schon, dass man Wissen 29 Vgl. Fried/Büttner (wie Anm. 17).

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auch aus Wissen (z.B. schlussfolgerndes Denken), also nicht zwangsläufig nur aus Wahrnehmungen ableiten kann. Nicht zuletzt können sie schon Beziehungen zwischen verschiedenen mentalen Zuständen herstellen. So ist z.B. vielen bewusst, dass Wünsche oft in Plänen münden. Außerdem haben sie schon begriffen, dass die Welt von unterschiedlichen Menschen unterschiedlich mental repräsentiert wird. Ihnen ist auch schon klar, dass man falsche mentale Repräsentationen haben kann. So erkennen z.B. die Fünf- und Sechsjährigen schon gut, dass ein Mensch von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, wenn er von falschen Voraussetzungen (»false beliefs«) ausgeht. Dementsprechend sind sie auch in der Lage, das Verhalten von Menschen, die von falschen Voraussetzungen ausgehen, richtig vorherzusagen. So ist ihnen z.B. klar, dass ein Erwachsener, der glaubt, seine Schlüssel auf dem Tisch liegen gelassen zu haben, auch dort anfangen wird zu suchen, obwohl sie in Wahrheit an einer anderen Stelle liegen. Das zunehmende Verständnis für falsche Annahmen und daraus resultierenden unangepassten Handlungen geht mit einer immer differenzierteren visuellen Perspektiveübernahmefähigkeit einher. So können Fünf- und Sechsjährige zum Beispiel schon beschreiben, wie etwas aus einer anderen Perspektive aussieht. Gegen Ende der Vorschulzeit vermögen Kinder auch schon zu erfassen, dass sich mentale Zustände sowohl auf Imagination, als auch auf Realität beziehen können. Nicht zuletzt ist ihnen meist schon bewusst, dass Wünsche, Pläne, Absichten usw. eine Voraussetzung dafür sind, dass in der Realität tatsächlich agiert wird. Gleichzeitig ist den meisten klar, dass ein Wunsch, eine Absicht, ein Plan

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usw. allein noch keine Realität schaffen kann bzw. dass nur realistische Absichten, Pläne usw. auch wirklich eingelöst werden können. Das manifestiert sich auch darin, dass sie zwischen mechanischer und intentionaler Verursachung unterscheiden können. So durchschauen sie z.B., dass ein Vogel zum Himmel fliegt, weil er es möchte, wohingegen ein Drache nach oben steigt, weil der Wind ihn hochtreibt. Meist können sie auch schon zwischen Realität und Lüge (So-tun-als-ob) trennen. Sogar bei den Vierjährigen können schon viele angeben, welche von mehreren Aussagen wahr und welche gelogen ist. Sechsjährige können außerdem schon zwischen böswilligen und harmlosen Lügen unterscheiden. Aber sie haben noch Schwierigkeiten, zwischen Scherz, metaphorischer Äußerung, Sarkasmus, Lüge oder Betrug zu differenzieren. So sind sie z.B. unsicher, was den Charakter von »Höflichkeitslügen« betrifft. Oft ist ihnen nur schwer oder gar nicht zugänglich, dass diese dazu beitragen können, Dilemmata aufzulösen, ohne dass jemand dabei zu Schaden kommt. So erklärt es sich auch, dass Kinder dieses Alters nicht »hinterm Berg halten«, wenn es ihnen in einem gastfreundlichen Haus nicht geschmeckt hat; und zwar ungeachtet der Tatsache, dass sie damit Regeln der Höflichkeit verletzen. Nur ein kleiner Teil der Kinder hat bereits gelernt, die Wahrheit in solchen Fällen durch beschönigende sprachliche Formen abzumildern. Neben dem Wissen über mentale Zustände verfügen junge Kinder auch über Erkenntnisse zu emotionalen Zuständen. Sie entwickeln subjektive Konzepte und Schemata bzw. Skripte, mit deren Hilfe sie sich typische Merkmale und Abläufe bestimmter Emotionen merken und wieder vergegenwärtigen können. Dabei

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hilft ihnen ein zunehmend differenzierter werdendes Emotionsvokabular. Das gilt insbesondere für typische Gefühlslagen, wie Liebe, Freude, Trauer, Ärger und Angst, zum Teil auch Überraschung, also für Basis-Emotionen bzw. Emotionsprototypen. Schon Zwei- und Dreijährige verfügen über erste Emotionswörter. Sie können typische Ausdrucksformen von Emotionen bei anderen Menschen identifizieren und zum Teil auch schon benennen (z.B. Wut, Angst, Freude). Auch verstehen sie bereits, dass Emotionen innere Zustände sind, also nicht allein durch Merkmale von Situationen hervorgerufen werden. Vier- bis Sechsjährige verfügen über ein Repertoire an Emotionswörtern, mit denen sie ihre eigenen emotionalen Erfahrungen ebenso beschreiben können, wie die anderer Personen. Sie wissen, dass die emotionale Reaktion verschiedener Menschen auf ein- und dieselbe Situation differieren kann. Ihnen ist auch klar, dass sich der eigene emotionale Zustand von dem anderer Personen unterscheiden kann. Außerdem wissen sie, dass Emotionen stärker oder schwächer ausgeprägt sein können bzw. sich rasch wandeln können. Noch dazu können sie erste Erklärungen dafür vorbringen, warum es bei bestimmten Personen in spezifischen Situationen zu gewissen Emotionen kommt. Sie verfügen also über einen erheblichen Vorrat an Schemata und Skripten, die beinhalten, wie man Emotionen in bestimmten Situationen ausdrücken kann und soll. Dies hilft ihnen, vorauszusagen, wie jemand emotional reagieren wird; vorausgesetzt ihnen ist bekannt, in welchem mentalen Zustand er sich in einer gegebenen Situation befindet. Schließlich haben sie schon erste Einsicht in echte versus vorgetäuschte Emotionen.

So gelingt es den Sechsjährigen schon recht gut, die auslösenden Bedingungsfaktoren und die Intentionen des Handelnden simultan zu erwägen, um so zu einem Schluss zu kommen, wie echt der Handelnde in seinem emotionalen Ausdruck ist. Dagegen können sie mit ambivalenten Situationen nur schwer umgehen. Wenn ihnen auf der Körpersprachebene etwas anderes vermittelt wird als auf der Sprachebene, vermögen sie diesen Widerspruch nicht angemessen zu deuten; vielmehr halten sie in solchen Fällen die sprachliche Äußerung für wahr. Zum Beispiel nehmen Sechsjährige eine Person, die behauptet, glücklich zu sein, beim Wort, selbst wenn sie diese Behauptung in einer Stimmlage und Körperhaltung vorbringt, die von Traurigkeit zeugt.

Das Kind als »naiver Philosoph/ Theologe« Seit wenigen Jahren wird das Kind nicht nur als »naiver Naturwissenschaftler« oder »naiver Psychologe«, sondern auch als »naiver Philosoph« bzw. »naiver Theologe« konstruiert.30 Noch ist die diesbezügliche empirische Datendecke allerdings dünn. Laut Schluß31 weisen die »naive Philosophie« und die »naive Theologie« von 30 M. Rauterberg, Sachunterricht und Konstruktivismus – Analyse eines Verhältnisses. www. widerstreit-sachunterricht.de/Ausgabe-Nr. 8/März 2007 (heruntergeladen am 18. Februar 2012), 3. 31 H. Schluß, Ein Vorschlag, Gegenstand und Grenze der Kindertheologie anhand eines systematischen Leitgedankens zu entwickeln. In: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie, 57 (1/2005), 23–35, hier: 23.

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Vorschulkindern »zahlreiche inhaltliche Berührungspunkte« auf bzw. lassen sich »nicht einmal klar unterscheiden«. Deshalb werden einschlägige Forschungsergebnisse im Folgenden integriert. Bereits die im Zusammenhang mit der »theory of mind« berichteten Forschungsergebnisse haben deutlich gemacht, dass Vorschulkinder sehr wohl zwischen Real-Welt und Ideen-Welt – man könnte auch sagen zwischen Natur und Geist – zu unterscheiden vermögen. Was das betrifft, liegen noch mehr Hinweise vor. So können Kinder schon sehr früh zwischen materiellen (realen) und immateriellen (spirituellen) Objekten trennen; wie z.B. zwischen einem echten Keks versus einem vorgestellten, erinnerten oder geträumten Keks. Auch können sie beurteilen, ob eine Abbildung ein wahrscheinliches oder ein unwahrscheinliches bzw. unmögliches Ereignis visualisiert, wie z.B. die Darstellung einer Person, die über tiefes Wasser geht. Des Weiteren verfügen sie über Strategien, um herauszufinden, ob und wieweit eine Information oder Prognose auf Fakten beruht oder nur Fiktives transportiert. So haben u.a. Lee und Kollegen32 eruiert, dass Fünf- und Sechsjährige die Aussagen Erwachsener akzeptieren, wenn sie diese aufgrund ihrer Erfahrungen für wahrscheinlich halten, wie z.B., dass ein Mädchen ein Glas fallen gelassen hat und es dabei zerbrochen ist; dass sie deren Aussagen aber zurückweisen, wenn deren Inhalt ihren Erfahrungen entgegenstehen, wie z.B. dass ein Stuhl lebendig geworden ist.33 Grundsätzlich sind Kindergartenund Grundschulkinder also durchaus in der Lage, die »Wahrscheinlichkeit« von Aussagen bzw. Prognosen mit Hilfe ihrer Erfahrungen bzw. ihren Wissensbestän-

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den kritisch zu prüfen. Das bedeutet aber nicht, dass Fünf- bis Siebenjährige schon in der Lage sind, Hypothesen gezielt anhand evidenzbasierter (durch Fakten belegter) Erfahrungen zu prüfen. Laut Sodian und Kollegen34 ist eher von einer allmählichen »Transition in den Möglichkeiten der Kinder auszugehen, welche sich etwa zwischen ca. sechs und sieben Jahren vollzieht. Aber schon bei den Vierjährigen ist ein rudimentäres Verständnis der Hypothesen-Beweis-Relation […]« gegeben. Darüber hinaus wissen Vorschulkinder bereits, dass sich Dinge verwandeln können, also Objekttransformation möglich ist, wie z.B. dass aus Äpfeln Apfelmus entstehen kann. Dabei unterscheiden sie zwischen physikalischen und magischen Ursachen. Vier- und Fünfjährige glauben noch, dass Magie möglich ist. Im Alter von sechs Jahren verneinen das die meisten schon. Allerdings gilt das nur für vertraute realistische Situationen. In ungewöhnlichen oder fiktiven Situationen halten Sechsjährige magische Erklärungen dagegen für akzeptabel. Wenn sie etwas Immaterielles nur mit Magie erklären können, dann schreiben sie diese einer Person mit übernatürlichen Kräften, also einem Magier zu. Aber sie verwenden das Magie-Konzept nur, wenn ihnen Ereignisse begegnen, in denen die sonstigen Ursache-Wirkungsmechanismen außer Kraft gesetzt scheinen. Wenn sie Geschehnisse dieser Welt nicht erfassen können, dann entwickeln sie magi32 K. Lee / C.A. Cameron / J. Doucette / V. Talwar, Phantoms and fabrications: Young childrens detection of implausible lies, in: Child Development, 73 (6/2002), 1688–1702. 33 Vgl. Fried u.a. (wie Anm. 19). 34 Sodian / Thoermer / Koerber (wie Anm. 11)

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sche bzw. metaphysische Vorstellungen, wie die Welt noch sein könnte. Kindergartenkinder haben sich auch schon elementare moralische Kategorien angeeignet, können also schon elementare Unterscheidungen zwischen gut und böse, richtig und falsch treffen. So können sie z.B. zwischen angemessenen und unangemessenen Geheimnissen unterscheiden. Sie können auch schon erkennen, wenn moralische Standards verletzt werden, wie z.B. beim Lügen oder Stehlen. Außerdem sind sie bereits in der Lage, moralische Kategorien anzuwenden, wie z.B. sich an die Regel zu halten, dass anderen Menschen kein Schaden zugefügt werden darf. Insofern merken sie durchaus, wenn sie selbst ihnen bekannte moralische Standards nicht eingehalten haben. Es ist ihnen auch schon klar, dass es mehr oder weniger verbindliche Formen moralischer Standards gibt, wie z.B. moralische Gebote, soziale Konventionen und Erwartungen. Sechsjährigen ist bereits bekannt, dass es in unserer Gesellschaft Gesetze und Vorschriften gibt. Es ist ihnen auch klar, dass Regeln nicht in gleichem Maße verpflichtend sind wie Vorschriften, und diese wiederum nicht so verpflichtend wie Gesetze. Das Nicht-Einhalten von moralischen Standards, wie z.B. Gewalt gegen einen Freund ausüben, halten Kinder für gravierender, als das Verletzen sozialer Konventionen, wie z.B. nach dem Spielen nicht aufräumen, oder das Verletzen von Rollenvorschriften, wie z.B. als Mädchen wie ein Junge agieren. Wenn eine moralische Grenzüberschreitung stattgefunden hat, sind Kindergartenkinder dafür, diese zu bestrafen, denn sie begreifen schon, dass man das Wohlergehen und die Rechte anderer Menschen verletzt, wenn

man moralische Standards nicht einhält. Jüngere Kinder plädieren vor allem dafür, ein Kind zu bestrafen, wenn seine regelwidrige Tat einen Schaden bzw. Leid hervorgerufen haben; wohingegen sich ältere Kinder vor allem dann dafür aussprechen, ein Kind zu bestrafen, wenn es seine regelwidrige Tat mit voller Absicht ausgeführt hat. Gegen Ende der Kindergartenund zu Beginn der Grundschulzeit haben die meisten schon die Einsicht erlangt, dass sich jemand, der die Regeln moralischen Handelns verletzt hat, schlecht fühlt. Wie schwer die Schuld von jemandem wiegt, der sich unmoralisch verhalten hat, wird von den Kindern in Abwägung unterschiedlicher Aspekte entschieden. So machen sie z.B. einen Unterschied, ob eine Regelverletzung in einer Peer-Beziehung oder in einer Erwachsenen-Kind-Beziehung stattgefunden hat. In einer Peer-Beziehung unterstellen die Kinder eher, dass sich das Kind, das die Regeln verletzt hat, schlecht fühlt, ungeachtet der Tatsache, dass es für sich profitiert hat; während sie in einer hierarchischen Beziehung eher unterstellen, dass sich das Kind vornehmlich über den Vorteil freut, den ihm die Regelverletzung erbracht hat, ohne allzu sehr unter seinem Verstoß zu leiden. Was das Einhalten oder Verletzen sozialer Regeln betrifft, so geben Fünf- bis Sechsjährige an, öfter in Konflikte bzw. Streit mit Gleichaltrigen verwickelt zu sein. Sie berichten in diesem Zusammenhang von unangenehmen Empfindungen. Aber nur ein geringer Teil von ihnen kann diese Empfindungen genauer beschreiben. Sie können schon äußere Merkmale aufzählen, an denen man Aggression bzw. Gewalt erkennen kann (z.B. Schießen, Gewehr, Schreien, Weinen). Einzelne Kinder können schon einzelne

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Ursachen für Gewalt bzw. einzelne Wirkungen von Gewalt kennzeichnen. Aber sie können beides (außer mit Hilfe magischer Erklärungen) noch nicht in Beziehung setzen. Einige Fünf- bis Sechsjährige können schon erste Verbindungen zwischen Gewalterlebnissen und emotionalen Zuständen der von Gewalt Betroffenen herstellen (z.B. sich nicht mögen, sich ärgern). Aber sie haben noch Schwierigkeiten, den Anteil der Akteure von Gewalthandlungen angemessen einzuschätzen. Wenn sie selbst in Aggressionen verwickelt sind, halten sie die Konflikt- bzw. Streitpartner für egoistisch, weil diese sich nicht ihren Bedürfnissen oder Wünschen anpassen. Zwar verfügen sie bereits über ein breites Spektrum an Konfliktlösestrategien, aber sie wissen noch nicht, welche davon mehr und welche weniger geeignet sind, einer Eskalation vorzubeugen. Wenn man sie nach geeigneten Strategien fragt, so plädieren sie dafür, die eigenen Bedürfnisse zu verteidigen bzw. sich zu behaupten. Dass man Dinge auch miteinander aushandeln kann, kommt ihnen dagegen nur bedingt in den Sinn. Ältere Vorschulkinder wissen bereits, dass es Kriege gibt. Sie machen das an äußeren Merkmalen fest. So ist ihnen z.B. bekannt, dass ein Soldat im Krieg gegen Feinde kämpft. Auch können sie erklären, was z.B. ein Gewehr ist und wie bzw. wozu man es benutzt. Ihnen ist auch klar, welche Gefahren mit Kämpfen und Schießen verbunden sind. Aber sie haben oft noch Schwierigkeiten, die Ursachen oder auch nur die Auslöser von Gewalt zu erkennen. Kinder, die schon mögliche Auslöser bzw. Ursachen und mögliche Wirkungen von Gewalt kennen, vermögen beides meist noch nicht miteinander in Verbindung zu bringen. Auch ist für sie noch nicht durchschaubar, dass Gewalt-

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akte durch die Absichten der (mitteloder unmittelbar) an dem Gewaltakt beteiligten Personen hervorgerufen werden. Das erklärt sich dadurch, dass Kinder dieses Alters nur den äußeren Ablauf von Gewalt wahrnehmen. Motive, die dahinter stehen, sind ihnen nämlich noch weitgehend verschlossen. Da sich – wie Schweitzer35 betont – »Religion nicht auf Moral oder Werte reduzieren, und religiöse Erziehung […] heute nicht mehr als eine – vielleicht sogar besonders autoritäre – Form von Moralerziehung« auslegen lässt, sollen – auch in Anlehnung an Bucher36 – »junge Kinder nicht nur generell als »naive Philosophen«, sondern auch speziell als »Wesen« betrachtet werden, die »eine Theodizee entwickeln und infolgedessen auch ›Theologen‹ sind«. Tatsächlich haben sich schon Kindergartenkinder vielfältige positive theologische Grundkonzepte angeeignet, wie z.B. über Gott, Jesus, Engel, Himmel, Kosmos. So können sie z.B. anhand mehrerer Merkmale zwischen Gott und anderen »nicht-menschlichen« Wesen, wie Tieren, aber auch Engeln unterscheiden. Außerdem ist ihnen klar, dass sich Gott und Mensch in spezifischer Weise unterscheiden. Laut Barret37 schreiben Kinder gegen Ende der Vorschulzeit Gott bestimmte Eigenschaften zu, wie Allwissenheit, Allgegenwärtigkeit und Unsterb35 F. Schweitzer, Den Anfang schon verpasst? Religiöse Bildung in der Kindheit, in: Bertelsmann Stiftung (Hg.), Religion und Bildung. Orte, Medien und Experten religiöser Bildung, Gütersloh 2008, 23–28, hier: 24. 36 A.A. Bucher, Kinder und die Rechtfertigung Gottes? – Ein Stück Kindertheologie, in: Schweizer Schule, 10 (1/1992), 7–12, hier: 7. 37 J.L. Barrett, Why would anyone believe in God? Lanham 2004.

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lichkeit. Dabei sind sie sich sicher, dass diese Merkmale nur auf Gott zutreffen und nicht etwa auch auf Menschen, wie z.B. Eltern, Freunde. Gemäß Lane, Wellman und Evans38 unterscheiden allerdings erst Fünfjährige zwischen der unfehlbaren Geisteskraft Gottes und der fehlbaren Wahrnehmung des Menschen, dem z.B. existierende Dinge oder Geschehnisse entgehen können. Wissen über negative theologische Grundkonzepte, wie z.B. Satan, Hölle, satanische Rituale, ist bei Vorschulkindern demgegenüber noch wenig ausgeprägt. Viele verfügen bereits über elementare religiöse Schemata zu religiösen Festen, Feiern, Ritualen, wie z.B. Ostern, Weihnachten, Erntedank, Beten, Kreuzzeichen. So lesen z.B. Büttner und Mähringer39 an den Äußerungen von Kindergartenkindern ab, dass diese bereits »Elemente des Ostergeschehens […] in Gedächtnisschemata kodiert« haben und folgern aus ihren Analysen: »Zusammenhänge sind den Kindern zwar noch nicht per se transparent, werden von ihnen aber schon temporal neben einander gestellt. Schon im Kindergarten können Kinder also anhand einschlägiger Erfahrungen und erzählter Inhalte Schemata zur Osterthematik bilden, »die nicht isoliert voneinander stehen, sondern das Entstehen von Vernetzungen begünstigen.« Darüber hinaus sind den Kindern typische Merkmale verbreiteter religiöser Erzählungen bekannt, wie z.B. Gleichnisse, biblische Geschichten. Allerdings fassen sie das Berichtete noch wortwörtlich auf. Die moralische Botschaft hinter den Erzählungen ist ihnen dagegen noch kaum zugänglich. Vaden und Woolley stellen fest:40 Kinder im Alter von 4 bis 6 Jahren hörten

religiöse und nichtreligiöse Erzählungen und wurden gefragt, ob sie glauben, dass diese Geschichten (Charaktere und Ereignisse) real seien. Bei den Kindern zeigte sich geringer bis moderater Level des Vertrauens in die Wahrheit der Geschichte. Dabei glaubten sie bei den religiösen Erzählungen eher, dass es sich um reale Charaktere und Ereignisse handele, als bei den nicht religiösen. Dies galt bei den älteren Kindern sogar stärker als bei den jüngeren. Außerdem zeigte sich, dass Kinder, die Gott als Erklärung für die Ereignisse nutzten, stärker an deren Faktizität glaubten. Wie die Kinder die Erzählungen einschätzten hing aber auch davon ab, wie vertraut Kindern solche Erzählungen waren und wie es um die Religiosität der Familie stand. Die Autoren folgern, dass, wenn Gott in eine Geschichte eingeführt wird, die Kinder eher an die Realität der Charaktere und Ereignisse der Geschichte glauben. Nicht zuletzt kennen Vorschulkinder religiöse Rituale. Dazu gehören Beten, das Kreuz schlagen usw. Hierzu hat sich gezeigt, dass zwar gegen Ende der Vorschulzeit die Vorstellung schwindet, man könne durch Wünschen reale Veränderungen hervorrufen; dass dies aber nicht auf das Beten ausgedehnt wird. Dem schreiben die Kinder durchaus reale Wandlungspotentiale zu. Was den Vorgang des Betens selbst betrifft, so empfin-

38 Lane / Wellman / Evans (i.E.). 39 G. Büttner / I. Mähringer, »Wo der Osterhase gekommen ist, ist Jesus wieder auferstanden vom Grab« – Osterkonzepte von Kindergartenkindern, in: JaBuKi 2, 89–97, hier: 96. 40 V.C. Vaden / J.D. Woolley, Does god make it real? Childrens belief in religious stories from the Judeo-Christian Tradition, in: Child Development, 82 (2011), 1120–1135.

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den es Kinder als »unpassend« bzw. »unschicklich«, wenn damit verbundene Rituale nicht eingehalten werden. Im Vorschulalter glauben sie außerdem, dass die Gebete eher erhört werden, wenn sich der Betende an die Rituale hält. Schließlich haben Vorschulkinder auch schon vorläufige Vorstellungen vom Tod. Jüngere Kindergartenkinder bewerten den Tod als einen vorübergehenden, also wieder umkehrbaren Zustand. So äußern sie Vermutungen, dass gestorbene Personen nur schlafen oder zwischenzeitlich bewusstlos sind, aber später wieder aufwachen werden. Vier- und auch noch Fünfjährige haben Schwierigkeiten, ganz zu verstehen, dass mit dem Tod biologische und psychologische Prozesse aufhören. So ist ihnen zwar klar, dass eine Maus nach ihrem Tod nicht mehr trinken muss, dennoch halten sie es für wahrscheinlich, dass sie noch Durst hat. Sie gehen also von einer psychologischen Kontinuität über den Tod hinaus aus. Die Sechsjährigen wissen oft schon, dass der Tod endgültig ist. Sie führen ihn meist auf konkrete Ursachen zurück, gehen also davon aus, dass jemand oder etwas den Tod herbeigeführt hat. Ein Teil von ihnen glaubt dabei an magische Verursacher, wie z.B. den Sensenmann, Todesengel. Manche Sechsjährige erkennen schon komplexere Zusammenhänge. Sie vermögen bereits Verbindungen zwischen Alter, Krankheit, Unfall und Tod herzustellen.

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Vorschulkindern? Zunächst einmal, dass diese bereits eine Menge Wissen über natürliche und mentale bzw. übernatürliche Phänomene erworben haben; in manchen Aspekten vermutlich mehr, als viele Erwachsene ihnen zutrauen. Des weiteren wird deutlich, dass die bereichsspezifischen Wissensbestände nicht völlig isoliert neben einander stehen, sondern quasi koexistentiell auf geteilten Erkenntnisstrukturen aufruhen. Das zeigt sich z.B. in Bezug auf Wissen über Lebendiges / Nicht-Lebendiges / Übernatürliches oder im Hinblick auf Konzepte zu Materie / Geist / Übernatürliches. Legare und Kollegen41 folgern deshalb: »Although often conceptualized in contradictory terms, the common assumption that natural and supernatural explanations are incompatible is psychologically inaccurate. Instead, there is considerable evidence that the same individuals use both natural and supernatural explanations to interpret the very same events and that there are multiple ways in which both kinds of explanations coexist in individual minds.« Insofern ist es an der Zeit, den bereichsspezifisch eingeengten Blick auf das Kind zu überwinden und ihn auf eine bereichsumfassende Perspektive auszuweiten, sodass das gegenwärtig stark verengte Bild vom Kind als »intuitiver Fachmann« zurück- und sein Potential als »intuitiver Theoretiker seiner gesamten Welt« hervortreten kann. Damit das gelingt, bedarf es allerdings weiterer Forschungen, die der Koexistenz der bereichsspezifischen Wissensbestände eigens nachgehen.

Resümee Was ergibt nun der Blick auf die bislang erforschten »Wissenslandkarten« von

41 Legare / Evans / Rosengren / Harris (i. E.).

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Kerstin Michalik »Adam ist der mit dem Speer!« – Philosophieren mit Kindern über den Ursprung der Erde und des Lebens »Ich denke über alles nach, und ich habe auch mal darüber nachgedacht, also der erste Mensch muss ja von einem anderen Menschen … und wie kam der her?« (Nora, 7 Jahre) Wie ist die Erde, wie sind die Menschen, Pflanzen und Tiere entstanden? Diese Frage gehört zu den am häufigsten gestellten Kinderfragen. Es ist gleichzeitig eine der schwierigsten Fragen überhaupt, weil es sich hier nicht nur um eine naturwissenschaftliche oder religiöse, sondern wesentlich um eine philosophische Frage handelt, auf die es keine eindeutige Antwort geben kann. Die Frage nach dem Ursprung aller Dinge sollte daher nicht isoliert im Religionsunterricht, Sachunterricht oder Biologieunterricht thematisiert werden. Das fächerübergreifende philosophische Gespräch ist hierfür ein besonders geeignetes Medium und kann zu einer konstruktiven Umgangsweise mit dieser so schwierigen, kontroversen und für die Zukunft unseres Planeten vielleicht nicht unerheblichen Frage beitragen.

1. Fragen und Vorstellungen von Kindern zum Ursprung der Erde und der Lebewesen Was für Vorstellungen haben Kinder und Jugendliche zur Frage des Ursprungs der

Welt und der Entstehung des Menschen? Was für Fragen bewegen Grundschulkinder zu dieser Thematik? Die folgenden drei Beispiele sollen dies schlaglichtartig verdeutlichen.

»Waren Adam und Eva auch Vormenschen?« Erdgeschichte ist Thema des Projektunterrichts in einer dritten Grundschulklasse in Hamburg-Wilhelmsburg. Es geht um die Entstehung der Erde, um den Urknall, den Kreislauf der Gesteine, Fossilien und die Entwicklung der Lebewesen. Die Studentinnen zeigen den Kindern ein Schaubild, das Stufen der Entwicklung des Menschen von affenähnlichen Lebewesen über den Urmenschen bis hin zum heutigen Menschen zeigt. Bei der Betrachtung der Abbildung werden von den Kindern unter anderem spontan folgende Fragen gestellt: – Waren Adam und Eva auch Vormenschen? – Gab es Adam und Eva überhaupt? – Ab wann ist man eigentlich ein Mensch?1 1 Kerstin Michalik, Philosophieren mit Kindern als Unterrichtsprinzip und die Förderung von Wissenschaftsverständnis im Sachunterricht, in: Kerstin Michalik / Hans-Joachim Müller / Andreas Nießeler (Hg.), Philosophie als Bestandteil wissenschaftlicher Grundbildung? Möglichkeiten der Förderung

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In einem Projekt zur Steinzeit, das an einer Hamburger Grundschule durchgeführt wurde, erhalten die Kinder die Aufgabe, zu überlegen, wo Adam und Eva auf der Zeitleiste einzutragen wären. Ein Teil der Kinder kann mit dem Namen »Adam« nichts verbinden, andere ordnen Adam der Zeit vor oder nach den Dinosauriern zu oder versuchen, Adam auf den Stufen der Menschheitsentwicklung von affenähnlichen Wesen bis zum Jetztmenschen einzuordnen: »Adam ist der mit dem Speer!«, lautet das klare Ergebnis.2

»Hat Gott den Urknall gemacht?« Am Ende des Projektunterrichts zur Erdgeschichte in einer dritten Grundschulklasse, stellt ein Kind die Frage: Hat Gott den Urknall gemacht? Im Gespräch werden von den Kindern folgende Vorstellungen eingebracht: – Gott hat den Urknall verursacht. – Gott wurde durch den Urknall geschaffen. – Gott hat nach dem Urknall die Tiere erschaffen, und danach haben sie sich weiter entwickelt zu Menschen. – Zuerst gab es nur Bakterien, und die haben sich ohne Gott weiterentwickelt, die Menschen aber dann mit Gott.

»Stammt der Mensch vom Affen ab?« Schilke und Weißler haben Interviews mit Kindern geführt zur Frage: Hast du schon einmal den Satz gehört »Die Menschen stammen vom Affen ab?«. Von den 22 befragten Kindern haben 20 den Satz schon einmal gehört, nur zwei Kinder bringen religiöse Alternativen ein: Ein

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Kind erzählt von Adam und Eva, den allerersten Menschen auf der Welt, Vorfahren der Urmenschen, die »an einem Apfel gestorben sind, einem vergifteten«3. Ein Kind erwähnt die »religiöse Sage«, dass Menschen von Gott abstammen, mit dem Hinweis, daran eigentlich nicht zu glauben, weil es »von der Steinzeit und den Affen mehr Überzeugung [Belege, Beweise] gibt.«4 Die Szenen aus dem Grundschulalltag zeigen, dass die Kinder eigene Fragen und eigene Vorstellungen zur Frage des Ursprungs von Welt und Menschen haben. Charakteristisch für die Vorstellungen von Kindern im Grundschulalter scheinen drei Aspekte zu sein: • Es herrscht teilweise Unkenntnis über zentrale biblische Figuren, die entweder nicht bekannt sind oder als historische Gestalten eingeordnet werden. • In den Vorstellungen der Kinder vermischen sich häufig Elemente der Evolutionstheorie und der biblischen Schöpfungsgeschichten. Die Fragen der Kinder zeugen eindrucksvoll von dem Bedürfnis, ihr bisheriges Wissen einzuordnen, mit neuen Informationen zu verbinden, um ein in sich

des Wissenschaftsverständnisses in der Grundschule durch das Philosophieren mit Kindern, Berlin 2009, 27–42. 2 Annette Schmidt, Möglichkeiten und Grenzen Historischen Lernens in einer zweiten Klasse am Beispiel eines Steinzeitprojektes. Wissenschaftliche Hausarbeit für das Erste Staatsexamen im Fach Grundschulpädagogik, Universität Hamburg 2011, 55. 3 Karl Schilke / Birgit Weißler, Ob Menschen von Affen abstammen? Kinder antworten, in: Helmut Schreier (Hg.), Nachdenken mit Kindern. Aus der Praxis der Kinderphilosophie in der Grundschule, Bad Heilbrunn 1999, 162. 4 Ebd., 165.

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schlüssiges Bild zu entwickeln (Wo befinden sich Adam und Eva auf den Stufen der Menschheitsentwicklung?) • In der Wahrnehmung der Kinder stehen Evolutionstheorie und Schöpfungsgeschichte letztendlich in Konkurrenz zueinander und schließen sich gegenseitig aus. Gott hat die Erde erschaffen so wie es in der Bibel steht – diese bibelgläubige Position ist jedoch seltener anzutreffen. Häufiger wird die Position vertreten, dass die wissenschaftliche Welterklärung (Urknall) die richtige sei, weil es sich bei der Schöpfungsgeschichte nur um eine »Geschichte« oder »Sage« handelt, die wissenschaftliche Erklärung hingegen »echt« sei. Urknall und Evolutionstheorie werden als Tatsachen betrachtet, weil sie das Ergebnis von Wissenschaft und Forschung sind. Die Vorstellungen der Kinder zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Glauben finden sich auch in den Vorstellungen von Jugendlichen wieder. So haben verschiedene Studien gezeigt, dass eine Mehrheit der älteren Schüler und Schülerinnen der Meinung sind, dass die biblischen Schöpfungsgeschichten durch die Naturwissenschaften widerlegt seien. Auch vielen Jugendlichen ist das Verhältnis von Schöpfungsvorstellungen und naturwissenschaftlicher Theorie ungeklärt.5

2. Schöpfung oder Evolution? – Zur aktuellen öffentlichen Diskussion Bei der Entgegensetzung von Schöpfungsbericht und Evolutionstheorie, Glauben und Wissenschaft, handelt es sich um ein fundamentales Missverständnis, das allerdings auch gesellschaftliche

Diskussionsprozesse prägt. Die Frage nach dem Ursprung von Welt und Mensch hat seit jeher die Menschen beschäftigt und ist von zunehmender Aktualität und (bildungs-)politischer Brisanz. Mit dem Erscheinen von Darwins Evolutionslehre wurden bereits vor 150 Jahren heftige Kontroversen ausgelöst, weil die biologische Theorie von der Entstehung der Arten in Widerspruch zu religiösen Glaubensvorstellungen gesehen wurde. Die Debatte hat in den USA eine neue Aktualität erlangt mit Versuchen von Vertretern des ›Intelligent Design‹, alte kreationistische Vorstellungen mit einem neuen wissenschaftlichen Anspruch als gleichberechtigte Alternative zur Evolutionstheorie in das öffentliche Schulwesen und speziell den Biologieunterricht einzuschleusen.6 Auch außerhalb der USA ist die Kontroverse Evolutionslehre vs. ›Intelligent Design‹ aufgegriffen worden7 und hat

5 Vgl. Ulrich Kattmann (Hg.), Evolution und Schöpfung. Unterricht Biologie 333/08; Britta Klose, Kreationismus, Wissenschaftsgläubigkeit und Werthaltung Jugendlicher, in: Horst Bayrhuber / Astrid Faber / Reinhold Leifelder, Vorwort, in: Horst Bayrhuber / Astrid Faber / Reinhold Leifelder (Hg.), Darwin und kein Ende? Kontroversen zu Evolution und Schöpfung, Seelze 2011, 146–151, Martin Rothgangel, Kreationismus und Szientizismus: Didaktische Herausforderungen, in: Horst Bayrhuber / Astrid Faber / Reinhold Leifelder (Hg.), Darwin und kein Ende? Kontroversen zu Evolution und Schöpfung, Seelze 2011, 154–169. 6 Horst Bayrhuber / Astrid Faber / Reinhold Leifelder, Vorwort, in: Horst Bayrhuber / Astrid Faber / Reinhold Leifelder (Hg.), Darwin und kein Ende? Kontroversen zu Evolution und Schöpfung, Seelze 2011, 6. 7 Vgl. Päpstlicher als der Papst, in: ZEITWissen 1/06, 58–65; Gott gegen Darwin. Glaubenskrieg um die Evolution, in: Der Spiegel 52/05, 136–150.

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insbesondere im Darwin-Jahr 2009 eine neue Schärfe gewonnen. Inzwischen sieht sich die Schulpolitik auch in Europa und Deutschland zunehmend mit der Frage konfrontiert, religiös motivierte Erklärungsmodelle wie den Kreationismus als neben der Evolutionstheorie gleichwertige wissenschaftliche Theorie im Biologieunterricht zu behandeln.8 Kattmann hat das Diskussionsspektrum wie folgt systematisiert und unterscheidet folgende Positionen zum Verhältnis von Naturwissenschaften und Religion:9

) Religion als Naturwissenschaft: Kreationismus und Intelligent Design Grundlage aller kreationistischer Vorstellungen ist die in monotheistischen Religionen vorkommende wörtliche Auslegung der Schöpfungserzählungen, indem von der getrennten und gleichzeitigen Erschaffung der Arten durch einen Schöpfergott ausgegangen wird. Schöpfung wird hier als Gegensatz zur Evolution verstanden und als Ursache für die Entstehung und Vielfalt der Lebewesen betrachtet. Biblische Schöpfungsaussagen werden als naturwissenschaftlich zutreffende Aussagen erachtet. Eine moderne Variante ist die ›Schöpfungswissenschaft‹ oder das Konzept des ›Intelligent Design‹, nach der die komplexen Strukturen der Lebewesen nur durch intelligente Planung entstanden sein können. Vertreter des ›Intelligent Design‹ bestreiten eine religiöse Motivation (aus taktischen Gründen) und betrachten ihre Ansichten als alternative wissenschaftliche Denkweisen, die mit den religiösen Aussagen der Bibel vereinbar sind, wobei auch Elemente der Evolutionstheorie anerkannt werden.

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) Naturwissenschaft als Religion = Wissenschaftsgläubigkeit / Szientizismus In Umkehrung kreationistischer Vorstellungen werden naturwissenschaftliche Aussagen zur Evolution religiös ausgelegt im Sinne von Wissenschaftsgläubigkeit. Grundlage ist die Überzeugung, dass einzig und allein die Naturwissenschaften Antworten auf die Fragen der Welt geben können. Religiöse Überzeugungen werden als unvereinbar mit der wissenschaftlich als erwiesen geltenden evolutionären Entwicklung abgelehnt. In einem solchen ›Evolutionsglauben‹ werden die Grenzen wissenschaftlicher Aussagen nicht erkannt. So gilt auch die Existenz eines Gottes als widerlegt, solange wissenschaftlich nicht das Gegenteil bewiesen worden ist, obwohl die Frage nach Gott außerhalb naturwissenschaftlicher Methoden und Erkenntnismöglichkeiten liegt.

) Kategoriale Trennung von Naturwissenschaften und Religion als voneinander verschiedene Zugänge zur Welt In den großen Kirchen wird davon ausgegangen, dass Glaube und Wissenschaft keine Gegensätze sind, sondern verschiedene Zugänge zur Welt darstellen, die kategorial zu unterscheiden sind. Bereits antike Kirchenväter wie Augustin (354–430 n.Chr.) haben betont, dass die Bibel kein wissenschaftliches Lehrbuch ist und nicht einer wörtlichen, sondern 8 Vgl. Dittmar Graf (Hg.), Evolutionstheorie – Akzeptanz und Vermittlung im europäischen Vergleich, Berlin, Heidelberg 2011. 9 Ulrich Kattmann, Evolution und Schöpfung (wie Anm. 5). 4 f.

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metaphorischen Auslegung bedarf. Die Evolutionstheorie wird von den meisten Vertretern der Kirche in Deutschland anerkannt und nicht als ein Gegensatz zum Schöpfungsbericht interpretiert, da dieser nicht als wissenschaftliche Beschreibung der Weltentstehung zu verstehen ist. Kreationismus einerseits und Wissenschaftsgläubigkeit andererseits als Positionen, die Wissenschaft und Religion in ein Konkurrenzverhältnis und einen unvereinbaren Gegensatz setzen, beruhen beide auf einem falschen Verständnis von Wissenschaft und auch auf einem nicht angemessenem Verständnis des Sinns und Gehalts religiöser Texte wie den Schöpfungsberichten. Wissenschaft kann nichts über Glauben aussagen, das ist in den Naturwissenschaften weitgehend anerkannt. Dass Gott die Welt erschaffen hat, ist weder wissenschaftlich beweisbar noch widerlegbar, weil sich das Übernatürliche einem empirischen Zugriff entzieht. Aus der Evolutionstheorie lassen sich keine Aussagen über die Existenz oder Nichtexistenz Gottes ableiten, denn aus der Tatsache, dass die Naturwissenschaften ein bestimmtes Phänomen bisher nicht nachweisen konnten, lässt sich nicht logisch folgern, dass es dieses nicht gibt.10 Die Schöpfungsberichte treffen keine Aussagen über natürliche Vorgänge, sie sind nicht als »übernatürlich inspiriertes Naturkundebuch« zu lesen, sondern als »Anleitungen zu Entdeckungen im eigenen Leben«, als »Aufforderungen zu einer dankbaren Gestaltung menschlicher Gemeinschaft«11. Der Schöpfungsbericht ist als »metaphorische Rede«12 zu lesen. Der christliche Schöpfungsglaube ist keine Weltenstehungstheorie, sondern

wurzelt in einem bestimmten menschlichen Weltverständnis, dem »Vertrauen darauf, hier und jetzt von Gott bejaht zu sein«13.

3. Schöpfung und Evolution im Unterricht – Didaktische Probleme In der Religionsdidaktik und der Biologiedidaktik gibt es einen weitreichenden Konsens darüber, dass der bereits in den Vorstellungen von Grundschulkindern und später auch Jugendlichen deutlich werdende Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Religion eine besondere didaktische Herausforderung darstellt. Konsens besteht auch darüber, dass für einen angemessenen Umgang mit der Thematik einerseits eine fachbezogene Aufklärung über die zugrunde liegenden Sachverhalte erforderlich ist,14 andererseits ein »didaktischer Brückenschlag«15 zwischen den Fächern Religion und Bio10 Vgl. Horst Bayrhuber, Evolution und Schöpfung – eine Übersicht, in: Horst Bayrhuber / Astrid Faber / Reinhold Leifelder (Hg.), Darwin und kein Ende? Kontroversen zu Evolution und Schöpfung, Seelze 2011, 18. 11 Dirk Evers, Gott als Grund der Wirklichkeit und die Entwicklung der Lebewesen, in: Horst Bayrhuber / Astrid Faber / Reinhold Leifelder (Hg.), Darwin und kein Ende? Kontroversen zu Evolution und Schöpfung, Seelze 2011, 116. 12 Ebd., 122. 13 Richard Schröder, Schöpfung und Evolution, in: Horst Bayrhuber / Astrid Faber / Reinhold Leifelder (Hg.), Darwin und kein Ende? Kontroversen zu Evolution und Schöpfung, Seelze 2011, 87. 14 Vgl. Horst Bayrhuber (wie Anm. 10), 7; Martin Rothgangel, Kreationismus und Szientizismus (wie Anm. 5), 163 ff. 15 Britta Klose, Kreationismus, Wissenschaftsgläubigkeit und Werthaltung Jugendlicher (wie Anm. 5), 151.

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Michalik Philosophieren mit Kindern über den Ursprung der Erde und des Lebens

logie erstrebenswert ist. Hierzu gibt es noch wenig didaktische Vorbilder und entsprechend große Forschungsdesiderate,16 was nicht zuletzt daran liegt, dass die Thematik in der Regel entweder im Religions- oder im Biologieunterricht behandelt wird und nur selten Vernetzungen der Perspektiven stattfinden, weil die wenigsten Lehrer und Lehrerinnen in beiden Bereichen fachlich kompetent sind.17 Es gibt bislang wenig Modelle für eine fächerübergreifende Behandlung der Thematik, die der Komplexität des Gegenstandes angemessen wäre. Eine fächerübergreifende Beschäftigung ist jedoch unausweichlich, wenn man sich nicht damit zufrieden geben will, Kinder und Jugendliche nur darüber aufzuklären, dass es sich bei der Frage von Wissenschaft und Glauben um verschiedene Perspektiven auf Wirklichkeit handelt im Sinne einer kategorialen Trennung der Bereiche, auch wenn damit schon viel erreicht wäre. Einerseits die Schöpfungsgeschichte als religiöse Sprachform und als Ausdruck existentieller Erfahrung zu begreifen, andererseits Wissenschaft vor dem Hintergrund wissenschaftstheoretischer Überlegungen in ihrer Reichweite und ihren Grenzen zu verstehen, bildet eine wichtige Grundlage für einen differenzierten Zugang zur Problematik. Kattmann hat jedoch zu Recht darauf hingewiesen, dass eine solche kategoriale Trennung zwar zu einem friedlichen, aber beziehungslosen Nebeneinander von Naturwissenschaft und Religion führen könne, das letztendlich unbefriedigend sei. »Nach Erfassung und Anerkennung der unterschiedlichen Perspektiven [sei] daher zu prüfen, ob Naturwissenschaft und Religion sich nicht doch gegenseitig etwas zu sagen haben« im Sinn

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eines fruchtbaren Dialogs »zwischen recht verstandenen Schöpfungsaussagen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen.«18 Naturwissenschaften und Religion stellen verschiedene Zugänge zur Wirklichkeit dar, die sich im Hinblick auf die Anbahnung eines komplexen Weltund Wirklichkeitsverständnisses gegenseitig ergänzen, relativieren, bereichern und auch stärken können. Dazu bedarf es unter anderem der Entwicklung komplementären Denkens, der Fähigkeit, verschiedene Perspektiven auf einen Gegenstandsbereich aufeinander beziehen zu können, das nach neueren Forschungsbefunden gerade im Hinblick auf die Frage nach dem Ursprung unseres Daseins bei Jugendlichen besonders wenig ausgeprägt ist.19 Eine fächerübergreifende Thematisierung des Problems von Schöpfung und Evolution ist auch deshalb unausweichlich, weil in den Köpfen der Kinder und Jugendlichen die jeweils andere Perspektive – sei es bewusst oder unbewusst – immer auch präsent ist und sich auf die Verarbeitung und das Verstehen der naturwissenschaftlichen oder religiösen Sachverhalte auswirkt. Für einen Umgang mit der Thematik, in dem die verschiedenen Perspektiven aufeinander bezogen und in ihrem Eigenwert gewürdigt werden, bietet das Philosophieren mit Kindern (und Jugendlichen) vielfältige Möglichkeiten.

16 Vgl. ebd.; Martin Rothgangel, Kreationismus und Szientismus (wie Anm. 5), 168. 17 Vgl. Horst Bayrhuber (wie Anm. 10), 7 18 Ulrich Kattmann, Evolution und Schöpfung (wie Anm. 5), 5. 19 Vgl. Martin Rothgangel, Kreationismus und Szientismus (wie Anm. 5), 159.

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4. Philosophieren mit Kindern über Schöpfung und Evolution Die Frage nach dem Ursprung aller Dinge bewegt bereits Grundschulkinder in besonderem Maße, ist aber – dies ist das Ergebnis einer Untersuchung aus den späten 90er Jahren – im Sachunterricht in der Regel nicht vorgesehen, allenfalls im Rahmen des historischen Lernens zum Thema Steinzeit.20 In einem neueren didaktischen Werk zur Evolutionsbiologie findet sich jedoch ein Unterrichtsbeispiel für die Grundschule (»Kinder auf den Spuren Charles Darwins – Evolutionsbiologie im Sachunterricht«). Hier wird das Konzept der Anpassung am Beispiel des Regenwurms thematisiert, ohne dass das große Ganze der Evolutionstheorie in den Blick gerät oder gar alternative Vorstellungen, Assoziationen und Deutungen (der Kinder) thematisiert würden, obwohl angemerkt wird, dass es sich um ein komplexes Thema handelt, das an »Sinnfragen« anknüpft.21 Wenn eben solche Sinnfragen im Unterricht nicht thematisiert werden, wenn diese Dimension der Beschäftigung mit Lerngegenständen geradezu exkommuniziert wird, weil sie eine eindimensionale Unterrichtsrationalität aufhält oder stört,22 wird etwas Wesentliches verschenkt – und hier setzen die Möglichkeiten des Philosophierens mit Kindern an. Das Philosophieren mit Kindern bietet die Möglichkeit, die Thematik Schöpfung und Evolution in ihrer ganzen Komplexität schon früh aufzugreifen und Grundlagen für ein differenziertes Verständnis anzubahnen. Gerade Grundschulinder besitzen noch eine große Offenheit für unterschiedliche Welt- und Wirklichkeitsdeutungen, die später zu-

nehmend durch den Gewinn vermeintlich gesicherten Wissens abnimmt. Es gilt, eine offene Haltung zu kultivieren, Neugierde, Interesse am Weiterfragen, Nachdenken, Weiterdenken zu prägen. Es gilt, ein Bewusstsein zu entwickeln, dass es nicht auf jede Frage eine gesicherte Antwort gibt, sondern dass viele Bereiche des menschlichen Daseins sich sicherem Wissen entziehen. Die Frage nach dem Ursprung der Welt und des Menschen ist hierfür geradezu paradigmatisch.

Was zeichnet den philosophischen Zugang zur Thematik aus? Philosophische Gespräche mit Kindern zeichnen sich durch ihre Ergebnisoffenheit aus. Beim Philosophieren geht es nicht nur um fachbezogene Aufklärung über das Wesen religiöser Texte oder naturwissenschaftlicher Theorie, sondern die Frage nach dem Ursprung unseres Seins wird als eine philosophische Frage erörtert. Dabei kann deutlich werden, dass es sich um eine grundsätzlich offene

20 Vgl. Karl Schilke / Birgit Weißler (wie Anm. 3), 159. 21 Vgl. Brunhilde Marquardt-Mau / Regine Rojek, Kinder auf den Spuren Charles Darwins – Evolutionsbiologie im Sachunterricht, in: Daniel Dreesmann / Dittmar Graf / Klaudia Witte (Hg.), Evolutionsbiologie. Moderne Themen für den Unterricht, Heidelberg 2011, 49. 22 Vgl. hierzu auch Kerstin Michalik, Waren Adam und Eva Vormenschen? – Zur Bedeutung philosophischer Fragen für den Unterricht, in: Heike Lindner / Mirjam Zimmermann (Hg.), Schülerfragen im (Religions-) Unterricht. Ein notwendiger Bildungsauftrag heute? Neunkirchen-Vluyn 2011, 263–275.

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Frage handelt, auf die es keine eindeutige Antwort geben kann und vor allem nicht muss. Das Philosophieren bietet keine Lehren oder bestimmte Inhalte, es zielt auf eine Auseinandersetzung mit den Grundlagen menschlichen Denkens, Handelns und Seins, die teilweise den weltanschaulichen Überzeugungen voraus liegen.23 Im Kantischen Fragehorizont, der das philosophische Fragen systematisiert, werden Grundlagen und Reichweite menschlichen Wissens und wissenschaftlicher Erkenntnisse (Was können wir wissen?) ebenso wie weltanschauliche Inhalte (Was dürfen wir hoffen?) hinterfragt. Sie werden im Hinblick auf die damit verbundenen Implikationen für unser Handeln (Was sollen wir tun?) erörtert wie auch im Hinblick auf die Frage, wie Wissen, Hoffen und Tun mit unserem menschlichen Selbstverständnis verschränkt sind (Was ist der Mensch?). Im philosophischen Gespräch ist die Perspektive von vornherein eine andere als im Religions- oder Biologieunterricht, wo bereits eine fachliche Rahmung der Thematik vorgeben ist. Philosophieren ist per se fachübergreifend und von sich aus auf Interdisziplinarität angelegt, denn die Erörterung philosophischer Fragen ist nur jenseits der durch Schulfächer oder wissenschaftliche Disziplinen gezogenen Grenzen möglich. Philosophieren bietet damit Raum für eine vielperspektivische Bearbeitung der Thematik, in deren Rahmen komplexes Denken, das Denken in Alternativen und Ambiguitätstoleranz, die Fähigkeit, Uneindeutiges auszuhalten, angebahnt werden. Es handelt sich hier um Kompetenzen, die für das Leben in einer offenen, pluralistischen, von permanenter Veränderung gekennzeichneten Gesellschaft besonders wichtig sind.24

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In der Frage nach dem Ursprung sind die vier philosophischen Reflexionsinteressen wie folgt miteinander verknüpft:25 Der Mensch stößt auf die Schwierigkeit, über den Ursprung etwas erkennen zu können (Was kann ich wissen?), über den Zusammenhang der Ursprungsvorstellungen mit seinem Selbstverständnis (Was ist der Mensch?), auf die Bedeutung des Ursprungs für seine Lebenshoffnungen (Was darf ich hoffen?) und auf die Folgen, handelnd mit der Welt umzugehen (Was soll ich tun?). Durch die philosophische Reflexion wird sich der Mensch der Grenzen der Ansprüche, von den Ursprüngen der Wirklichkeit wissen zu können, bewusst. Er kommt nicht umhin, zu religiösen Dimensionen der Wirklichkeitserfahrung Stellung zu beziehen: »In der Frage nach dem Ursprung kann der Mensch daher Offenheit und Toleranz für die religiöse Begründung der Verantwortung des Menschen in der Welt gewinnen.«26 Philosophische Gespräche mit Kindern zur Frage des Ursprungs bieten in besonderem Maße die Möglichkeit, das im Sinne einer dialogischen Vermittlung 23 Vgl. Gisela Raupach-Strey, Das Verhältnis des Ethik / Philosophie-Unterrichts zu den religiösen und nicht-religiösen Weltanschauungen, in: Heiner Hasted u.a. (Hg.), Philosophie und Religion. Zukunft einer Fächergruppe. Rostocker Philosophische Manuskripte, Neue Folge, 4/1998, 59. 24 Vgl. Kerstin Michalik, Pluralismus als Botschaft und Ziel des Philosophierens mit Kindern, in: Dagmar Richter (Hg.), Gesellschaftliches und politisches Lernen im Sachunterricht, Bad Heilbrunn / Braunschweig 2004, 73–84. 25 Heiner Hasted (Hg.), Philosophie und Religion. Zukunft einer Fächergruppe. Rostocker Philosophische Manuskripte, Neue Folge, 4/ 1998, 136 f. 26 Ebd., 138.

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zwischen Wissenschaft und Glauben erforderliche komplementäre Denken oder auch die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel anzubahnen und zwar auf eine Art und Weise, die beide Formen des Weltzuganges in ihrer Eigenart sichtbar macht und dadurch letztendlich stärkt. Offenheit und Toleranz für verschiedene Wirklichkeitsdeutungen ist nicht nur für die zwischenmenschliche Verständigung relevant, sondern auch im Hinblick auf den Fortbestand der Menschheit. Es geht dabei im Sinne einer gleichermaßen empathischen wie reflektierten Haltung nämlich auch um die Sorge um den Erhalt unserer Legensgrundlagen auf dem Planeten Erde, um das Bemühen um die Gestaltung nachhaltiger Entwicklung, und um das Eintreten für Menschenwürde und Menschenrechte für alle Menschen. Es sind dies Bereiche, in denen sich nach Kattmann die verschiedenen Welt- und Wirklichkeitszugänge von Naturwissenschaft und Religion auf der Sinn- und Handlungsebene verbinden, indem beide, sowohl der religiöse Schöpfungsglaube als auch das naturwissenschaftliches Wissen um die Einheit des Bioplaneten Erde Motive für verantwortliches Handeln liefern, die zusammenspielen und einander verstärken können.27 In einem ähnlichen Sinne argumentiert auch Gebhard für eine »Zweisprachigkeit«, in der neben dem wissenschaftlich-objektivierenden Zugang zur Welt subjektivierende, auch religiös-metaphorische Weltbezüge, im (naturwissenschaftlichen) Unterricht nicht nur zugelassen, sondern zum Gegenstand expliziter Reflexion gemacht werden sollen. Sie sind eine unverzichtbare Grundlage für Verstehensprozesse und haben, z.B. in der für jüngere Kinder charakteristischen

Form anthropomorphisierender und animistischer Welt- und Naturdeutungen, eine eigene Funktion für den Aufbau von Beziehungen zur Außen- und Umwelt. Denn für einen verantwortlichen Umgang mit Natur sind auch und insbesondere emotionale Komponenten von Bedeutung.28 Wie philosophiert man mit Kindern zur Frage des Ursprungs und was kann dabei herauskommen? Im philosophischen Gespräch erhalten die Kinder die Gelegenheit, sich mit verschiedenen Antworten und Deutungsversuchen zur Frage des Ursprungs der Welt und der Entwicklung des Lebens auseinander zu setzen und einen eigenen begründeten Standpunkt zu finden.29 Dazu gilt es zunächst, sich eigenes Vorwissen und eigene Vorstellungen bewusst zu machen, in einer offenen Gesprächssituation, die frei ist von Bewertungen. »Wie ist die Erde, wie sind die

27 Vgl. Ulrich Kattmann, Evolution und Schöpfung (wie Anm. 5), 45. 28 Ulrich Gebhard, Symbole geben zu denken. Sprache und Verstehen im naturwissenschaftlichen Unterricht, in: Corinna Hößle / Kerstin Michalik (Hg.): Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen. Didaktische und methodische Grundlagen des Philosophierens, Hohengehren 2005, 51 ff; Ulrich Gebhard, Kind und Natur. Die Bedeutung der Natur für die psychische Entwicklung, Opladen 32009, 115 ff. 29 Zu konkreten Arbeitsvorschlägen siehe Anhang sowie Kerstin Michalik, Wie ist die Erde, wie ist der Mensch entstanden? Oder: Auf der Suche nach Antworten auf eine uralte Frage, in: Grundschule Sachunterricht 31/06, 27–29; Eva Zoller-Morf, Philosophische Reise. Unterwegs mit Kindern auf der Suche nach Lebensfreude und Sinn, Zürich 1998; Eva Zoller-Morf, Selber denken macht schlau. Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen. Anregungen für Schule und Elternhaus, Kempten 2010.

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Menschen und Tiere wohl entstanden?« könnte eine offene Eingangsfrage lauten. Die Kinder können auch Zeichnungen anfertigen, die verschiedenen Vorstellungen werden verglichen, auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede untersucht. Es wird darüber nachgedacht, woher diese Vorstellungen stammen. Aus Büchern, Filmen, Erzählungen von Familienangehörigen, aus dem Gottesdienst? In Gesprächen mit Kindern werden zumeist verschiedene Elemente der Schöpfungsgeschichte und der Evolutionstheorie genannt, die nicht selten die unterschiedlichsten Verbindungen eingehen. In einem zweiten Schritt geht es daher darum, die Vorstellungen zu klären und zu differenzieren, um dann über Besonderheiten, Reichweite und Grenzen beider Weltentstehungserklärungen nachzudenken. Dazu ist es notwendig, sowohl die Schöpfungsgeschichte noch einmal genau zu lesen, als auch Grundzüge der Evolutionstheorie anhand geeigneter Materialien zu erarbeiten.30 Schöpfungsgeschichte und Evolutionstheorie: Was sind die wesentlichen Elemente der beiden Erklärungen zum Ursprung der Dinge und der Entwicklung des Lebens? Kann man sie zusammen denken? Können Adam und Eva sich aus affenähnlichen Vorfahren entwickelt haben? Nein, das ist unlogisch – beim Versuch, Schöpfungsgeschichte und Evolutionstheorie zusammenzubringen, verwickelt sich das Denken in Widersprüche, die es durchzubuchstabieren gilt: Hierzu exemplarisch der Gedankengang von Linus, acht Jahre alt: »Die Bibel sagt, Adam und Eva waren die ersten Menschen. Und Wissenschaftlicher und so meinen aber auch manche, dass die Affen die ersten Menschen waren und sich dann weiterentwickelt haben. […]

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Das würde so zusammenpassen, dass Adam und Eva wirklich die ersten Menschen waren und dass die Affen sich zu denen entwickelt haben. Aber das wäre wiederum auch nicht wieder richtig, weil es gab viel mehr Affen, die sich weiter entwickelt haben, als nur zwei. Und die Bibel hat auch gesagt, dass Gott die Menschen erschaffen hat – nicht die Affen.«31 Widersprüchliches wird entdeckt, aber in der kindlichen schöpferischen Phantasie gibt es durchaus auch Möglichkeiten, beide Ansätze sinnvoll zu kombinieren. Denn denkbar wäre es ja, »dass Gott […] die Evolution veranlasst haben könnte und dass die Wissenschaftler jetzt nur entdeckt hätten, wie sie funktioniert.«32 Viele Kinder neigen dazu Schöpfungsgeschichte und Evolutionstheorie als konkurrierende Erklärungen für den Ursprung zu betrachten, die sich letztendlich ausschließen. Die wissenschaftliche Erklärung wird oft favorisiert mit dem Hinweis, dass diese auf Forschung beruhe und es sich um »Beweise« und nicht nur um eine »Geschichte« oder »Sage« handele. Hier kann gemeinsam darüber nachgedacht werden, was eigentlich Wissenschaft ausmacht und wie sich wissenschaftliche und glaubensförmige Aussagen unterscheiden. Das Nachdenken über das Wesen, die Reichweite und Grenzen wissenschaftlichen Wissens ist ein wichtiges Element des naturwissenschaftlichen Unterrichts bereits in der Grundschule.33 30 31 32 33

Vgl. Kerstin Michalik (wie Anm. 29). Annette Schmidt (wie Anm. 2), 56. Eva Zoller-Morf 2010 (wie Anm. 29), 115. Vgl. Kerstin Michalik, Philosophieren mit Kindern als Unterrichtsprinzip und die Förderung von Wissenschaftsverständnis im Sachunterricht, in: Kerstin Michalik / HansJoachim Müller / Andreas Nießeler (Hg.),

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Naturwissenschaftlicher Unterricht dient nach Martin Wagenschein, dem die pädagogischen Dimensionen naturwissenschaftlichen Unterrichts besonders am Herzen lagen, zuallererst dazu, dem Individuum seine Stellung in der Natur und zur Natur deutlich zu machen.34 Naturwissenschaften sind Ausdruck eines bestimmten Verhältnisses des Menschen zur Natur, sie stellen einen besonderen Zugriff auf Natur dar, und es handelt sich hier notwendig um eine einseitige, beschränkende Sicht. Wissenschaftsverständnis heißt nicht nur, Wissenschaft besser zu verstehen, ihre Leistungen zu kennen, ihre Stärken zu schätzen, sondern auch zu verstehen, was es außerhalb der Wissenschaften noch gibt. Die Entwicklung von Wissenschaftsverständnis im Medium des Philosophierens mit Kindern bedeutet mithin auch, sich sowohl der Leistungsfähigkeit als auch der Einseitigkeit und Beschränktheit des naturwissenschaftlichen Blicks, der wissenschaftlich-distanzierten Naturerklärung bewusst zu werden und über andere, z.B. ästhetisch bestimmte Zugänge nachzudenken.35 Was sieht der wissenschaftliche Blick? Was leistet er? Was entgeht diesem Blick? Was gibt es für andere Formen des Zugriffs auf Natur? Was gibt es für andere Formen der Weltinterpretation und Weltdeutung? In diesem Rahmen kann auf einer elementaren Ebene mit Kindern nachgedacht werden über die Bedeutungsvielfalt von Dingen: Feuer z.B. ist nicht nur ein chemischer Verbrennungsvorgang. Es ist auch Wärme und Licht, Geborgenheit, ein ästhetisches Ereignis, eine Bedrohung und Gefahr. Der vielperspektivische Blick auf Phänomene der Erfahrungswelt der Kinder, ist eine geeignete Vorlage, um über das Wesen der Dinge nachzuden-

ken: Ob das Ding an sich für uns erkennbar ist, wie die Dinge zu ihren Namen und Bedeutungen kommen, wie Ordnung in der Welt entsteht, ob sie an sich vorhanden ist oder erst durch uns hergestellt wird.36 Über unser Naturverhältnis zu reflektieren bedeutet auch, verschiedene Dimensionen der Naturbegegnung zu thematisieren, im Sinne des von Wilhelm Flitner (1961) geforderten sowohl wissenschaftspropädeutisch als auch anthropologisch ausgerichteten naturwissenschaftlichen Unterrichts.37 Es geht darum, deutlich zu machen, dass es neben der wissenschaftlich-distanzierten Naturerklärung, die den Menschen der Natur gegenüber stellt, auch eine leiblich-existentielle Naturerfahrung gibt. Es geht um das Nachdenken darüber, ob und inwiefern der Mensch selbst Teil der Natur ist und ob und inwiefern die Natur auch Züge des Menschlichen, des Mitkreatürlichen hat. Es geht hier um die nach Kant zentrale philosophische Frage, auf die alle philosophischen Fragen hinauslaufen, um

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Philosophie als Bestandteil wissenschaftlicher Grundbildung? Möglichkeiten der Förderung des Wissenschaftsverständnisses in der Grundschule durch das Philosophieren mit Kindern, Berlin 2009, 27–42. Martin Wagenschein, Ursprüngliches Verstehen und exaktes Denken, 2 Bde., Bd. 1, Stuttgart 1970, 307. Vgl. Kerstin Michalik / Helmut Schreier, Wie wäre es, einen Frosch zu küssen? Philosophieren mit Kindern im Grundschulunterricht, Braunschweig 2006, 80 ff. Vgl. Kerstin Michalik, Ausgangspunkte für das Philosophieren im Sachunterricht, in: Helmut Schreier (Hg.), Nachdenken mit Kindern. Aus der Praxis der Kinderphilosophie in der Grundschule, Bad Heilbrunn 1999, 125–141. Werner Kutschmann, Naturwissenschaft und Bildung. Der Streit der »Zwei Kulturen«, Stuttgart 1999, 166.

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die Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt, seinen Blick auf diese und um sein Selbstverständnis im Unterschied zum übrigen Seienden: Was ist der Mensch? Was ist Natur? Gehört der Mensch zur Natur? Was unterscheidet uns von anderen Lebewesen? Was haben wir mit ihnen gemeinsam? Ein solches Philosophieren über die Reichweite und die Grenzen von Wissenschaft stärkt einerseits die Wissenschaft, und es macht gleichzeitig bescheidener angesichts dessen, was wir wirklich »wissen«. Dabei kann deutlich werden, dass Evolutionstheorie und Schöpfungsgeschichten unterschiedliche Aussagesysteme sind und wissenschaftliche Aussagen sich von glaubensförmigen Aussagen wesentlich unterscheiden. Eine wissenschaftlich belegte Theorie ist ein in sich stimmiges Modell aus Hypothesen, Befunden und Voraussagen, das überprüft und widerlegt werden kann. Sie beruht auf Beobachtungen und Experimenten. Sie kann sich als falsch erweisen. Eine Schöpfungsgeschichte ist eine bildhafte Erzählung, die man nicht als wahr oder falsch bezeichnen kann. Sie hat eine bestimmte Aussage, sie übermittelt eine Botschaft, die gedeutet werden muss. In diesem Rahmen ist es besonders gewinnbringend, Schöpfungsgeschichten aus anderen Kulturen in den Blick zu nehmen, weil diese besonders bildhaft und ausdrucksstark sind und durch ihre Fremdheit zum Nachdenken über das, was sie vielleicht zu sagen haben, besonders anregen. Dass bereits Kindern das unterschiedliche Wesen dieser beiden unterschiedlichen Antwortformen auf die Frage des Ursprungs zugänglich ist, zeigen die Überlegungen eines Kindes auf die Frage, was wohl das Anliegen der Bibel-

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verfasser und der Wissenschaftler gewesen sein könnte, als sie die Entstehung der Erde beschrieben. »Einem der Buben fiel auf, dass die Wissenschaft nie davon sprach, ob etwas Entstandenes auch »gut« sei. Die Forscher würden wohl eher nur die Fakten liefern.«38 Beim Philosophieren geht es um das gemeinsame Ergründen des Ursprungs der Dinge, das jedoch immer nur zu vorläufigen Antworten und neuen Fragen führen kann. Es geht unter anderem um die Einsicht, dass die Frage der Entstehung unseres Daseins nicht restlos geklärt und erklärbar ist und letztendlich offen bleiben muss. Kinder haben damit in der Regel kein Problem. Ein wiederkehrendes Merkmal solcher philosophischer Gespräche ist die große Offenheit der Kinder für verschiedene Antwortmöglichkeiten und Deutungen – die Kinder haben ein großes Interesse an anderen Sichtweisen und Meinungen und finden es interessant, dass es verschiedene Möglichkeiten der Erklärung oder Deutung des Ursprungs gibt. Dies gilt sowohl für Kinder, die Gott für den Schöpfer der Welt halten als auch für Kinder, die eher der wissenschaftlichen Weltenstehungserklärung zugeneigt sind. Der Kommentar eines achtjährigen, aus einer sehr religiösen Familie stammenden Jungen, zeugt von der Bereitschaft, sich auf andere Perspektiven einzulassen:« Ich kannte nur die eine Möglichkeit, ich finde es interessant, dass es noch andere Möglichkeiten gibt.« Solche Kommentare der Kinder, in denen betont wird, dass es gut ist, auch andere Meinungen und Sichtweisen kennen gelernt zu haben, sind häufig. 38 Eva Zoller-Morf 2010 (wie Anm. 29), 115.

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Kinder im Grundschulalter haben bereits ein tieferes Verständnis dafür, dass es sich hier um eine Frage handelt, auf die es keine eindeutige Antwort gibt, weil ja, wie ein Kind es ausdrückte, »niemand dabei gewesen ist und daher genau sagen kann, wie es war.« Diese Offenheit gilt es in nachdenklichen Gesprächen auszubauen und im Sinne einer begründeten Haltung weiter zu festigen. Es geht darum, Haltungen zu kultivieren und damit das Interesse am Weiterfragen und Weiterdenken, am eigenen Denken zu entwickeln. Das ist – jenseits der konkreten Thematik – entscheidend und wichtig für zukünftiges verständigungsorientiertes und verantwortliches Handeln. Wichtig beim Philosophieren mit Kindern ist es, die Offenheit, die der philosophischen Dimension eigen ist, als Erwachsener selbst auszuhalten, sich zurückzuhalten mit eigenen Vorstellungen und Weltdeutungen. Wie schwierig dies ist, mag das folgende Beispiel aus einem aktuellen Bestseller illustrieren: »Warum gibt es alles und nicht nichts?« fragt Oskar seinen Vater ehrfürchtig nachdem er eine Multimediainstallation über die Entstehung des Universums, den Urknall, die Geschichte des Kosmos und der Erde gesehen hat.39 Nach einem Vortrag des Vaters über Schöpfungsmythen verschiedener Völker (die christliche Schöpfungsgeschichte bleibt hier interessanterweise ausgespart), resümiert dieser das Gesagte wie folgt: »Deine Frage ist noch nicht einmal irgendeine philosophische Frage. Es ist die größte und schwerste philosophische Frage überhaupt.«40 Nach einem anschließenden evolutionsbiologischen Exkurs über die Entwicklung des Menschen kommt der Philosophenvater dann aber doch zu einer »philosophischen Einsicht«, zu dem folgenden, fettgedruckten

(Merk-)Satz: »Der Mensch ist durch viele Zufälle entstanden. Und wir haben wenig Gründe zu vermuten, dass es dahinter einen Sinn gibt.«41 Genau solche »Einsichten« sollten beim Philosophieren mit Kindern nicht am Ende eines Gespräches über den Ursprung der Dinge und des Menschen stehen, sondern offene Fragen bleiben, denn auch und gerade, wenn die Naturwissenschaften in ihrem Selbstverständnis uns keine guten Gründe oder einen naturwissenschaftlich erkennbaren »Sinn« des Ganzen liefern sollten, kann es doch jenseits der Naturwissenschaften und deren Erkenntnismöglichkeiten alternative Angebote für Daseinsdeutungen und gute Gründe für eine Sinnhaftigkeit unseres Daseins geben, die ihre eigene Berechtigung haben. »Wachheit für letzte Fragen«, ist nach Hartmut von Hentig einer der Maßstäbe für Bildung. Die letzten Fragen stellen sich selbst ein, der Bildung bedarf es jedoch, um sie auszuhalten und nicht in die nächstbeste Gewissheit zu fliehen.42 Dazu kann und muss der Unterricht bereits in der Grundschule beitragen, indem auch komplexe Sinnfragen aufgegriffen und in philosophischen Gesprächen bearbeitet werden.

39 Richard David Precht, Warum gibt es alles und nicht nichts? Ein Ausflug in die Philosophie, München 2011, 21. 40 Ebd., 24. 41 Ebd., 31. 42 Hartmut von Hentig, Bildung. Ein Essay, Weinheim und Basel 2004, 92 f.

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Anhang Unterrichtsvorschläge und Anregungen für das Philosophieren mit Kindern zur Frage des Ursprungs der Erde und des Lebens Vorstellungen der Kinder von der Entstehung der Erde und des Lebens In einem ersten Schritt geht es darum, Vorwissen und Vorstellungen der Kinder zum Thema kennen zu lernen. – Wie ist die Erde, wie sind die Tiere und Menschen entstanden? Sicherlich habt ihr bereits darüber nachgedacht, wie alles, was es gibt, einmal entstanden ist. Fertigt eine Zeichnung dazu an und berichtet über eure Vorstellungen! Wo gibt es Gemeinsamkeiten? Wo gibt es Unterschiede? Woher stammt euer Wissen über die Entstehung der Erde und des Lebens? Zwischen Schöpfung und Evolution Die Schöpfungsgeschichten vieler Völker besagen, dass die Welt durch den bewussten Schöpfungsakt eines göttlichen Wesens erschaffen wurde. Nach der Evolutionstheorie entstand die Erde aus einer Urwolke aus Gas und Staub, aus der sich im Laufe eines mehrere Milliarden Jahre umfassenden Prozesses (4,5 Mrd. Jahre ist die Erde alt) das Leben auf der Erde langsam entwickelte. Die Kinder erhalten Informationen über die Entstehung der Erde und die Evolutionstheorie und lesen die christlichen Schöpfungsgeschichten. Zusätzlich können Schöpfungsgeschichten aus anderen Kulturen hinzugezogen werden. – Vergleicht die Evolutionstheorie mit den Schöpfungsgeschichten aus der Bibel. Gibt es Gemeinsamkeiten? Gibt es Unterschiede? – Welche Vorstellung vom Ursprung und von der Entwicklung der Erde und des Lebens ist wohl richtig? Begründe deine Antwort. Gibt es auf diese Frage nur eine mögliche Antwort? – Muss alles einen Anfang haben? – Machte es einen Unterschied für das Leben, welche Auffassung von der Entstehung des Lebens man für richtig hält? Was ist Wissenschaft? Grundlage sind Kenntnisse der Kinder über die Evolutionstheorie und die Kenntnis einer oder mehrerer Schöpfungsgeschichten. – Worin unterscheiden sich die Aussagen der Forscher zur Evolutionstheorie von den Aussagen der Schöpfungsgeschichten? Überlegt, wie die unterschiedlichen Aussagen wohl zustande gekommen sind! Worauf stützen sich die Aussagen der Forscher und worauf stützen sich die Aussagen der Schöpfungsgeschichten? – Welche Aussagen kann man widerlegen? Welche Aussagen können sich in Zukunft verändern? – Was könnte das Anliegen der Wissenschaftler und was das Anliegen der Verfasser der Schöpfungsgeschichten gewesen sein? Schöpfungsgeschichten aus verschiedenen Kulturen Schöpfungsmythen geben auf die Frage nach dem Ursprung der Welt verschiedene Antworten. Manche Erzählungen berichten von einem Gott als Schöpfer, manche berichten von

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mehreren Göttern, aber nicht immer ist von einer Schöpfung die Rede. In manchen Kulturen ist die Welt von selbst aus dem Nichts oder aus einem Chaos entstanden. Manchmal gibt es auch keinen Anfang, wie im Buddhismus, wo das Universum endlose Kreisläufe des Entstehens und Vergehens durchläuft. – Verschiedene Kulturen haben verschiedene Vorstellungen vom Ursprung der Welt und von der Entstehung der Lebewesen entwickelt. Lest zwei verschiedene Schöpfungsgeschichten und sucht nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden. – Macht euch auf die Suche nach Informationen über die jeweilige Kultur: Wo und wie leben die Menschen dort? – Woran liegt es, dass es so viele verschiedene Schöpfungsgeschichten gibt?

Die ersten Menschen oder: Ab wann ist ein Mensch ein Mensch? Nach der Evolutionstheorie hat sich der Mensch aus einem affenähnlichen gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Menschenaffen entwickelt. Die Wissenschaftler unterscheiden verschiedene Stufen der Menschwerdung (vom affenähnlichen Australopithecinen über den homo habilis bis zum homo sapiens). – Überlegt, ab wann dieses Wesen nicht mehr ein Tier, sondern ein Mensch war! Was macht den Menschen zum Menschen? – Was unterscheidet Menschen von anderen Lebewesen? Was können Menschen, was andere Lebewesen nicht können? Was können Tiere, was Menschen nicht können? – Überlegt, wie und warum Lebewesen nach und nach zu Menschen wurden. – Wie wird der Mensch sich in Zukunft weiterentwickeln? Zeichnet einen Menschen, der in 10.000 Jahren lebt! – Stimmst du der Aussage zu, dass der Mensch die Krönung der Schöpfung ist?

Kinderbücher zum Thema Ester Bisset / Martin Palmer: Die Regenbogenschlange. Geschichten vom Anfang der Welt und von der Kostbarkeit der Erde, Zürich 2003. Helme Heine: Die Schöpfung, Weinheim 2005.

Volker Mosbrugger: Die ungeheure Verschiedenartigkeit der Pflanzen und Tiere. Darwin für Kinder und Erwachsene, Frankfurt a.M., Leipzig 2008. Jürg Schubiger: Als die Welt noch jung war, Weinheim 1995. Jürg Schuber / Franz Hohler / Jutta Bauer: Aller Anfang, Weinheim 2008.

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Christina Kalloch »Gott hat die Welt erschaffen – aber eigentlich ist sie so entstanden …« Biblische Schöpfungsgeschichten und naturwissenschaftliche Erklärungsmodelle – ein Dilemma für Grundschulkinder?

Schöpfungspsalmen und mehr noch die biblischen Schöpfungstexte in Gen 1 und 2 bedeuten eine nicht zu unterschätzende religionsdidaktische Herausforderung. Zahlreiche Beiträge aus den JaBuKis vergangener Jahre sind lebendiger Beweis dafür. Die Überlegungen der Kinder dazu reichen erwartungsgemäß von anthropomorphen Vorstellungen eines Schöpfergottes, der »sich ein bisschen Zeit lässt« und »sich dann vielleicht noch ein bisschen ausruht«,1 über den freundlichen Geber (»Bitteschön! Das hab ich doch gerne gemacht!«)2 bis hin zum durchaus auch kritisch wahrgenommenen »Bestimmer-Gott«.3 Das Theologisieren mit Kindern zum Thema Schöpfung offenbart ein unerschöpfliches Potential an Ideen, Vorstellungen und Fragen, die die biblischen Texte aus der gegenwärtigen lebensweltlichen Perspektive von Kindern immer wieder neu bedenkenswert erscheinen lassen. Ein bisher in den JaBuKis nicht explizit angegangenes Thema ist das der Konkurrenzsituation, in die biblische Schöpfungsgeschichten fast zwangsläufig geraten, wenn sie von Kindern mit den Aussagen naturwissenschaftlicher Deutungsmodelle konfrontiert werden.4 Das Thema »Glaube – Schöpfung – Naturwissenschaft« legt es nun nahe, diesen Sachverhalt mit Kindern zu diskutieren.

1. Die Ausgangslage: »Gott hat die Welt erschaffen, aber …« Schöpfung und Evolution »schließen einander nicht aus, weil sie nicht dieselbe Frage beantworten«.5 Dieser ebenso schlichte wie wahre Satz, der besagt, dass Evolution als naturwissenschaftliche und Schöpfung als theologische Kategorie in ihrem je eigenen Deutungsanspruch nicht in Konkurrenz zueinander stehen, ist für Grundschulkinder häufig so zunächst nicht nachvollziehbar. Aufgrund ihrer kognitiven Entwicklung befinden sie sich noch auf dem Weg zu einem zunehmend formal-operatorischen Denken und der damit verbundenen Fähigkeit zur Abstraktion. Es kann daher noch nicht davon ausgegangen 1 Gerhard Büttner / Martin Schreiner (Hg.), »Man hat immer ein Stück Gott in sich«. Mit Kindern biblische Geschichten deuten, JaBuKi Sonderband, Stuttgart 2004, 17 und 26. 2 Anton A. Bucher u.a. (Hg.), »In der Mitte ist ein Kreuz«. Kindertheologische Zugänge im Elementarbereich, JaBuKi 9, Stuttgart 2010, 71. 3 Anton A. Bucher u.a. (Hg.), »Im Himmelreich ist keiner sauer«. Kinder als Exegeten, JaBuKi 2, Stuttgart 2003, 49. 4 Michael Fricke, »Wenn Gott der Bestimmer wäre …« (wie Anm. 3) 46. 5 Markus Vogt, Schöpfung und Evolution, in: Walter Kasper (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche (LThK), Bd. 9, Freiburg i.Br. 32006, 237.

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werden, dass Grundschülerinnen und Grundschüler durchgängig dazu in der Lage sind, die Perspektiven unterschiedlicher Deutungskategorien einzunehmen und diese argumentativ durchzuhalten. Diese Fähigkeit zum komplementären Denken ist aber notwendige Voraussetzung, Aussagen biblischer Schöpfungstexte und solche der Evolutionstheorie nicht als Widerspruch zu empfinden, sondern als Antworten zu gänzlich verschiedenen Gegenstandsbereichen zu begreifen.6 Gelingt komplementäres Denken, können Evolution als Ausdruck schöpferischen Seins sowie evolutive Kraft und Dynamik als im Schöpfungsakt grundgelegt begriffen werden.7

1.1 Grundzüge biblischer Schöpfungstheologie Die primäre Intention biblischer Schöpfungstexte besteht darin, die Freiheit und Souveränität des Schöpfers im Blick auf Chaos und Kosmos, Leben und Tod zu bekennen. Schöpfung kann in diesem Kontext als erschaffende Bearbeitung und Gliederung der Welt durch göttliche Energie gedeutet werden8. Schöpfungsglaube wurzelt in menschlichen Grunderfahrungen und in der geschichtlich erfahrbar gewordenen Gotteserfahrung Israels. Schöpfungstheologie erinnert somit an die Erschaffung der Welt und daran, »daß die Grundordnung der Welt verläßlich und lebensförderlich ist, weil sie von dem einen und einzigen Schöpfergott eingestiftet, geschützt und durchgesetzt wird«.9 Mensch und Welt sind damit eingebunden in einen guten und unzerstörbaren Lebenszusammenhang, für den sich Gott der Schöpfer verbürgt. Es geht im Wesentlichen um die freie Selbstbin-

dung Gottes an seine Schöpfung, um ein unwiderrufliches Ja in Liebe und Treue.10 Da diese Botschaft jedoch menschlicher Erfahrung und Erkenntniskraft von je her häufig genug zuwider zu laufen scheint, hat biblische Schöpfungstheologie ihren genuinen »Sitz im Leben« in der Frage nach der Theodizee.11 Darüber hinaus ist Schöpfungsglaube eine Option, eine mögliche Antwort auf die Frage, warum etwas ist und nicht nichts. Schöpfungsglaube impliziert einen Plan Gottes, der sich nicht auf einen einmaligen primären Schöpfungsakt, die creatio prima, reduzieren lässt, sondern sich im kontinuierlichen Schöpfungswirken, der creatio continua, verwirklicht. Der Glaube an Gott den Schöpfer trägt zudem immer auch eine ethische Dimension in sich, wenn es um die »Hinordnung der Weltwirklichkeit auf den in ihr gegenwärtigen Gott«12 geht. Der Mensch, der sich als Teil von Gottes guter Schöpfung begreift, wird im Sinne einer verantworteten Gestaltung von Welt diese zu bewahren und zu schützen suchen.

1.2 … und von den Schwierigkeiten, diese angemessen zu vergegenwärtigen Die Schöpfungstexte in Genesis 1 und 2 als narrative Entfaltung der oben skiz6 Vgl. dazu auch K. H. Reich, Religiöse und naturwissenschaftliche Weltbilder. Entwicklung einer komplementären Betrachtungsweise in der Adoleszenz, in: Unterrichtswissenschaft 15 (1987) 332–343. 7 Vgl. M. Vogt, LThK, 237. 8 Vgl. Erich Zenger, Schöpfung – biblischtheologisch, in: LThK, 218. 9 Ebd., 220. 10 Vgl. ebd., 218. 11 Vgl. E. Zenger, LThK, 219. 12 M. Vogt, LThK, 239.

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zierten elementaren Schöpfungsaussagen führen Kinder aber offensichtlich zunächst in andere Denkrichtungen. Gerade der Erzählduktus des ersten Schöpfungstextes erweckt bei ihnen häufig den Eindruck, es gehe vorrangig darum zu zeigen, wie Gott alles erschaffen hat und wie die Welt konkret entstanden ist. Nicht Fragen wie »Sind wir geborgen in der Hand Gottes, der uns seine gute Schöpfung anvertraut hat?« oder auch »Wird in diesen alten biblischen Geschichten Gott als Schöpfer für uns heute noch erfahrbar?« stehen im Fokus kindlicher Überlegungen, sondern die Frage, ob das, was in den Bibeltexten erzählt wird, so auch plausibel sei und ob sich alles genau so zugetragen haben könnte. Auch das vielfach im Grundschulreligionsunterricht noch erarbeitete antike Bild der Welt mit Erdscheibe, Grundfesten der Erde, Ur- und Himmelsozean, Himmelsgewölbe und den Schleusen des Himmels bietet nur scheinbar Erhellung. Als Denkmodell, welches hinter dem priesterschriftlichen Schöpfungstext steht, dient es möglicherweise zum besseren Verständnis der Struktur des Textes. Aber gerade weil damit das Weltbild einer vergangenen Zeit repräsentiert wird, kann seine Behandlung im Hinblick auf ein angemessenes Verständnis biblischer Schöpfungstheologie eher kontraproduktiv sein. Schnell droht die Gefahr, alles auf die kurze Formel zu bringen: »Früher haben sich die Menschen das so vorgestellt, heute wissen wir das aber besser!« Der Schritt von der Ablehnung eines vermeintlich anachronistischen Glaubens an einen Schöpfergott zum »Glauben« an den Urknall ergibt sich dann schon fast zwangsläufig.

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1.3 »Gott hat die Welt erschaffen – aber eigentlich ist sie so entstanden …« In einer ersten Gesprächsrunde mit acht Viertklässlern darüber, was sie über die Schöpfungsgeschichten aus der Bibel wüssten, war dieses Thema dann auch erst einmal sehr zügig »abgehakt«. Nachdem alle ausführlich über die Schöpfungstage und -werke, deren Reihenfolge und die Bedeutung des »Sonntags« erzählt hatten, wiesen einige bald auch auf anderes hin, was sie über »die Entstehung der Welt« und »wie das alles passiert ist« wussten. Auf die Frage, ob es denn dabei um dasselbe Thema ginge, war man sich zunächst einig: »Ja, um die Entstehung der Welt!«. Während einige Kinder darauf beharrten, richtig sei, was in der Bibel stünde, versuchten andere sie zu überzeugen: »Aber das geht doch gar nicht in sechs Tagen, das waren Millionen und Milliarden Jahre« (Alex, 10 Jahre). Der gleichaltrige Maxi konterte: »Normalerweise würde das so lange dauern, aber Gott konnte das in der kurzen Zeit schaffen, weil der ist so stark, da sind riesige Kräfte dahinter«. Erwartungsgemäß spitzte sich die Diskussion zu, wobei der vermeintliche Zeitfaktor nur einen der Streitpunkte ausmachte. Naturwissenschaftliche Deutungsmodelle sind Kategorien, in denen sich Kinder heute – unter anderem bedingt durch einen experimentell orientierten Sachunterricht, sowie speziell aufbereitete Kindersendungen und Bücher – sehr gut zurechtfinden. Die Kinder, die behaupteten, das zu glauben, was in der Bibel zu lesen sei, taten dies auch aus einer apologetischen Grundhaltung heraus – nach dem Motto »Wenn ich mich entscheiden muss, dann beziehe ich diese Position«. Sie wirkten im Gespräch aber zunehmend verun-

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sichert, während die »Urknall«-Befürworter selbstbewusst mit evolutionstheoretischen Wissensbeständen punkteten. Diese leugneten dabei interessanterweise nicht die Existenz Gottes, für die Erschaffung der Welt erklärten sie ihn aber schlicht nicht zuständig. Dennoch war nicht einfach nur eine Pattsituation spürbar (die einen behaupten dies, die anderen wissen das), sondern ein Spannungsverhältnis, das letztlich alle Beteiligten zum Weiterdenken herausforderte. Zwei der Kinder, die zuvor gesagt hatten, es sei mit der Entstehung der Welt alles so passiert, wie sie es aus der Bibel wüssten, modifizierten im Laufe des Gesprächs ihre Aussagen: »Vielleicht ist die Welt vom Urknall gekommen … und Gott hat dann die Tiere und Menschen gemacht und so …« (Noah, 10 Jahre) und Fabienne (10 Jahre): »Ja, die Menschen hat Gott gemacht, aber nicht alle Tiere, die Dinosaurier zum Beispiel nicht …«. Die »Dino- Problematik«13, die schon in anderen JaBuKi-Beiträgen dokumentiert wurde, verdeutlicht noch einmal in besonderer Weise die Schwierigkeit, mit unterschiedlichen Deutungskategorien zurechtzukommen. Fabienne weiß, dass in der Bibel nichts von der Erschaffung der Dinosaurier steht, es gelingt ihr aber noch nicht, daraus die Folgerung zu ziehen, dass es der Bibel offensichtlich nicht darum geht, genau zu berichten, was wann wie geschaffen wurde und dass die Schöpfungsgeschichte kein »Weltenstehungsprotokoll« sein, sondern eine andere Botschaft vermitteln will. Das »Verteilen« der Schöpfungswerke wird auch von Alex und Lorena schließlich als Sackgasse empfunden: »Gut, aber wer hat dann die Dinosaurier erschaffen?« (Simon). Solche Fragen riefen sofort die »Evolutionstheoretiker« auf den Plan,

die dann behaupteten »Was in der Bibel steht, stimmt ja dann nicht« (Alex). »Gott hat ja auch nicht die Menschen gemacht, die sind aus Menschenaffen geworden« (Marc). Das in zentralen Punkten wiedergegebene Gespräch lässt bereits erahnen, dass die »Bibliker« irgendwann gegenüber den »Evolutionstheoretikern« aufgeben würden – nicht, weil die anderen die besseren Argumente haben, sondern weil die, die glauben, dass Gott der Schöpfer ist, dies auch nicht adäquat zur Sprache bringen können. Möglicherweise nehmen sie in diesem Zusammenhang Widersprüche erstmalig so wahr und stehen noch ganz am Anfang ihrer Antwortversuche: »Irgendwie ist das schwierig«, »Ich weiß auch nicht …« und »Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll« waren häufige Äußerungen während des Gesprächs. Vermutlich ohne es zu diesem Zeitpunkt bereits zu wissen, brachte Luis es am Ende der Diskussion auf den Punkt: »Gott hat die Welt erschaffen, aber eigentlich ist sie so entstanden«. Manche seiner Gesprächspartner nickten, weil für sie erst einmal – zumindest scheinbar – ein Ausweg aus dem Dilemma gefunden worden war. Auf die Frage an die Gruppe, wie Luis das gemeint haben könnte bzw. warum sie dieser Aussage zustimmen könnten, gab es in dieser Phase – vielleicht auch aus Zeitgründen – keine die Kinder befriedigenden Antworten: »Gott hat alles geschaffen, aber manches ist auch von alleine entstanden« (Manuel). Ebenso die Äußerung von Fabienne, »Aber Gott kann ja nicht alles gemacht 13 Vgl. dazu den Beitrag von Michael Fricke, »Wenn Gott der Bestimmer wäre …«. Eine Schülerinnengruppe spricht über die biblische Schöpfungserzählung, in: JaBuKi 2 (wie Anm. 3), 48.

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haben, wenn die Menschen von den Affen gekommen sind.« Vor dem so entstandenen Problemhorizont erschien es sinnvoll, das theologische Gespräch über Schöpfung und Weltentstehung mit den Kindern weiterzuführen und den Impuls von Luis aufzugreifen.

2. Annäherungen an ein schwieriges Thema Eine Woche später trafen sich dieses Mal Luis, Jannis, Maxi, Jonah, Lorena und Veronika zu einer neuen Gesprächsrunde zum Thema »Schöpfung und Weltentstehung«. Um das für die anderen Kinder sich zuvor herausgebildete Dilemma als Einstieg zu nutzen und zugleich die Situation zuzuspitzen, wurden ein Schöpfungsbild aus einem Religionsbuch und die Illustration eines Sachbuches zum Thema »Weltentstehung« als Impuls vorgegeben.14 Nach spontanen Äußerungen, die sinngemäß gleich lauteten (»Da ist einmal wie die Welt entstanden ist und dann ist da ein Bild vom Paradies«), identifizierte Lorena die mögliche Herkunft der Bilder: »Das eine ist aus der Kinderbibel oder vielleicht auch aus dem Relibuch, das andere ist vom »Was-ist-wasBuch«, das hatten wir schon mal in so einer Bücherkiste.« Andere nickten bekräftigend und erzählten, was sie über beide Medien wussten. Anschließend wurden die Kinder gebeten, sich zu überlegen, um welche große Frage es heute in dem Gespräch wohl gehen könnte. Jonah preschte vor: »Um die Frage, wie die Welt entstanden ist und was richtig ist. Also ich glaube das mit dem Urknall […]. Ich bin nämlich nicht so ein Gott-Fan […]«. Diese Vorlage von Jonah machte

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die anderen erst einmal sprachlos. Erst auf die Nachfrage, ob die anderen das auch so sehen würden und Jonah somit für alle geantwortet hätte, entwickelte sich das folgende Gespräch:

) Erste Sequenz LORENA: »Darüber habe ich mir auch schon mal Gedanken gemacht, also was richtig ist, aber ich weiß das nicht so genau […]«. JANNIS: »Vielleicht ist ja beides richtig?« JONAH: »Nee!« LEHRERIN: »Versucht doch einmal, Jannis Vorschlag, beides könnte richtig sein, zu begründen.« LUIS: »Gott hat alles gemacht, aber irgendwie ist es auch so entstanden […] so wie man auf diesem Bild hier mit dem Urknall sieht […]« MAXI: »Alles ist so entstanden, also alle Planeten, aber die Welt, die hat Gott gemacht, weil nur hier gibt es Leben, Menschen, Tiere, Pflanzen und so […]« JONAH: »Vielleicht gibt es auch noch auf anderen Planeten Leben […]« LUIS: »Dann hat Gott eben noch mehr Welten geschaffen.« JONAH: »Die ganzen Planeten, also unser Sonnensystem ist durch den Urknall entstanden, da waren riesige Kometen, die sind eingeschlagen und haben alles zerstört, es war heiß wie beim Vulkan […]« VERONIKA: »Aber wie sollen denn da Menschen leben?« LORENA: »Das hat vielleicht Gott dann gemacht […]?« MAXI: »Vielleicht […], also ich glaube, Gott hat da einen riesigen Brocken geschickt […]«

14 Zum ersten aus »Spuren lesen«, einem Religionsbuch für das 3./4. Schuljahr (Diesterweg / Calwer, Braunschweig und Stuttgart, 2011), 12. Die Illustration zur Evolution entstammt aus: Sabine Stauber, Unsere Erde. Was ist was Junior, Tessloff Verlag Nürnberg 2008, 4 f.

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VERONIKA: »Wie?« MAXI: »Na ja […] aus dem das dann alles entstanden ist.« LUIS: »Nein, Gott hat das beauftragt, ich meine […] er hat den Auftrag gegeben, dass alles so passiert […] mit dem Urknall […]. und den Planeten […] und so.« LORENA: »Ja, das glaube ich auch […] dass Gott das mit dem Urknall gemacht hat.« MAXI: »Aber da brauchte der Hilfe, also Gott […] es ging ja nicht nur um die Erde, sondern um alles, die Planeten und so […]« JANNIS: »Gott hat alles allein gemacht, […] dafür ist er ja Gott!« MAXI: »Nee, er hatte ja Engel […] und die hat er dann beauftragt […] und so ist dann alles geworden […]«. JONAH: »Ich glaube das aber nicht, also dass Gott das so gemacht hat […] die Welt ist durch eine riesige Explosion entstanden.« LUIS: »Aber Gott hat das in Auftrag gegeben mit dem Urknall und so […] er hatte einen Plan, was passieren soll […] also auch das mit Adam und Eva – aber da ist es ja abgerutscht, weil die ja nicht gemacht haben, was sie sollten […] und später musste Gott noch eine Planänderung machen […] das mit Noah und der Arche […]«

Die Kinder hatten sich auf die beiden visualisierten Deutungsmodelle als neuen Ausgangspunkt für ihre Überlegungen eingelassen, doch während einige von ihnen wie Luis, Lorena und in Grundzügen auch Maxi einen komplementären Deutungsansatz versuchten, beharrte Jonah auf einem »Entweder-oder« und Veronika äußerte sich nicht zu der Problematik. Daher sollte dieses Thema noch einmal aufgegriffen werden: ) Zweite Sequenz LEHRERIN: »Gehen wir noch einmal davon aus, dass beide Bilder – das aus dem Schulbuch und das aus dem Was-ist-was-Buch –

etwas Richtiges zeigen. Und dass die Geschichten, die hinter den Bildern stecken etwas Richtiges und auch Wahres sagen. Wie bringen wir das dann zusammen?« JONAH: »Das kann man nicht zusammenbringen […].« LUIS: »Doch, dass Gott den Auftrag gegeben hat […]« VERONIKA: »Ich glaube, was in der Bibel steht, weil das ist viel schöner, die sind alle so nett […] ich meine, wie die Menschen mit den Tieren leben. Also ich stell mir vor, wenn ich im Paradies leben würde, dann könnte ich die Tiere verstehen […] (lacht etwas verlegen) … und mit ihnen sprechen […] die waren alle glücklich und friedlich.« JONAH: »Das geht aber nicht […] und das war auch nicht so […] das ist ja wie ein Märchen.« LEHRERIN: »Jonah sagt, dass die Naturwissenschaft uns erklären kann, wie die Welt entstanden ist. Was denkt ihr, wollten die Leute, die die Geschichten in der Bibel aufgeschrieben haben, den Menschen mit diesen Erzählungen – wie zum Beispiel mit der von der Erschaffung der Welt – sagen?« VERONIKA: »Dass es im Paradies schön ist.« MAXI: »Dass alles von Gott kommt […] und dass es gut ist.« LUIS: »Gott hatte schon einen guten Plan, aber die Menschen müssen mitmachen.« JONAH: »Die Bibel stellt Regeln auf, da wird gesagt, was man machen soll und was nicht und wie man sich verhält […] also da gibt es Gebote in der Bibel – das wollten die sagen […] die […] die Bibel geschrieben haben.« JANNIS: »Und Adam und Eva hat er dann rausgeschmissen, em […] ich meine […] weggeschickt […], weil die ja nicht gemacht haben, was sie sollten […] also nicht gehorcht haben […]« LORENA: »Die sollten bestimmt erst mal selbständig werden, die mussten dann ja alles selber machen und so […]« LUIS: »Vielleicht war das ja auch Gottes Plan […]«

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3. Schöpfungsgeschichte versus Evolutionstheorie? In der zweiten Gesprächsrunde zeigten sich – in dieser Form unerwartet – neue Perspektiven. Die Vorstellung, dass hinter einem evolutiven Weltentstehungsmodell die Schöpferkraft Gottes stehen kann, erwies sich für einige Kinder durchaus als zugänglich. Auffällig sind dabei einerseits die besonders bei Maxi noch vorhandenen Tendenzen zu einem anthropomorphen und artifizialistischen Gottesbild, wenn er davon spricht, Gott habe »riesige Brocken geschickt«, aus denen dann alles entstanden sei. In seiner Vorstellung braucht Gott angesichts der Erschaffung eines ganzen Universums Unterstützung. Unsere Erde hätte er nach Maxis Vorstellung wohl noch allein »geschafft«, die riesigen Dimensionen der Erschaffung des Universums erfordern nach seinem Verständnis jedoch die Hilfe der Engel. Am weitesten kann sich Luis auf ein evolutives Entstehungskonstrukt als Schöpfungstat Gottes einlassen. Dabei hilft ihm die Vorstellung vom Plan Gottes, der sämtliches Geschehen umfasst. »Plan Gottes« impliziert für ihn nicht nur, dass sowohl die Entstehung der Welt als auch ihr Fortgang von Gott initiiert und begleitet sind. Der »Sinn des Ganzen« kommt für Luis von Gott, damit ist für ihn verbürgt, dass es nach Gottes gutem Plan weitergeht. Die Menschen müssen aber »mitmachen«, was bei Adam und Eva offensichtlich nicht funktioniert hat (»da ist es abgerutscht«). Luis stellt sich Gott als allmächtigen Schöpfer vor, der Maßnahmen ergreifen muss, um seine Schöpfung immer wieder auf den rechten Weg zu bringen.

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Veronika und Jonah, sich in ihren Überzeugungen gegenüberstehend (nur was in der Bibel steht ist richtig – nur was die Evolutionstheorie sagt ist richtig), brachten damit je eigene Verständnisse zum Ausdruck, die Beachtung verdienen. Der biblische Schöpfungstext sagt Veronika über die Weltentstehung hinaus etwas für sie sehr Bedeutsames: Gottes Schöpfung findet bei ihm Geborgenheit und Schutz. Das Paradies nimmt sie als Vision einer neuen Welt wahr, in der sie gern leben möchte, weil in ihr Gott so präsent, sein Heil so nahe ist, dass ein friedliches und glückliches Miteinander möglich wird. Jonah, der sich schon zu Beginn des Gesprächs geoutet hatte, kein »GottFan« zu sein, tut sich entsprechend schwer, den biblischen Texten eine Bedeutung abringen zu können. Es gelingt ihm aber, die Perspektive derer einzunehmen, die an Gott glauben und er versucht aus ihrer Sicht, die Aussagen der Bibel zu reflektieren. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive ist es nicht ungewöhnlich, dass er die Bedeutung der Bibel zunächst an ihren Regeln und Geboten festmacht und die biblischen Schriften als normative Größe für die ansieht, die an Gott glauben können. So lässt Jonahs scheinbar defizitäre Antwort (– in der Bibel geht es um Regeln und Gebote –) schon Ansätze zu komplementärem Denken und Perspektivenwechsel erkennen, auch wenn dieses nicht in der Vereinbarkeit von Evolution und Schöpfungsglauben zum Ausdruck kommt. Bemerkenswert ist, dass Jonah biblische Schöpfungstexte nicht als schlicht falsch ablehnt, sondern ihnen Relevanz für andere (»Gott-Fans«) zuspricht. Möglicherweise spaltet er auch für sich selbst bestimmte Zuständigkeiten auf: Für Weltenstehungstheorien ist die Naturwissen-

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schaft zuständig, die Autorität der Bibel beschränkt sich zwar »nur« auf den Bereich der Regeln und Gebote, dieser erweist sich letztlich aber als existentiell, da er nach Antworten auf die Frage nach einem gelingendem Leben und Zusammenleben sucht.

4. Religionspädagogische Konsequenzen Das theologische Gespräch mit Viertklässlern zum Thema »Schöpfung und Naturwissenschaft« erwies sich in mehrfacher Hinsicht als sehr aufschlussreich. So bewegten sich die Schüleräußerungen zunächst auf einer wenig reflektierten Ebene: Im Kontext von Religionsunterricht hat die Entstehung von Welt etwas mit Gott zu tun. Selbst für Jonah, der diesem Unterricht oftmals kritisch gegenübersteht, ergab sich daraus kein Problem – er hatte ja schon die für ihn richtige Antwort gefunden. Bei ihm war im Gespräch zu ergründen, inwieweit sein Bibelkonzept entwicklungsfähig sein könnte; bei den anderen galt es, sie herausfinden zu lassen, ob sich das ihre als tragfähig erweisen würde. Als es um die biblischen Schöpfungserzählungen ging, hatten alle Kinder die Struktur des priesterschriftlichen Textes vor Augen, nicht selten angereichert mit Aussagen der zweiten sogenannten jahwistischen Schöpfungsgeschichte. Der erste Schöpfungstext lockt (offenbar nicht nur Kinder) schnell auf die falsche Fährte. Indem die Priesterschrift ein ebenfalls einer gewissen Entwicklungslogik unterworfenes Weltbild vor Augen führt, gerät dieses für Kinder einerseits nicht zwangsläufig in Konkurrenz zu einem naturwissenschaftlichen Deutungsmodell. Wie

andere Beiträge in diesem Band zeigen, sind bei Kindern im Grundschulalter Patchwork-Vorstellungen und »hybride« Weltbilder weit verbreitet. Während sie sich möglicherweise zu Fragen der Weltentstehung beider Modelle »bedienen«, ohne dass es in diesem Alter schon zu Spannungen kommen muss, sehen sie sich aber andererseits angesichts der expliziten Thematisierung in eine entweder-oderPosition gedrängt. Dennoch entwickeln sie im theologischen Gespräch auch individuelle Lösungen, mit dem Konflikt, der für sie zunächst als kognitives Dilemma empfunden wird, umzugehen. Dass Gott hinter allem stehen könnte, brachten sowohl Maxi (»Gott hat riesige Brocken geschickt«) als auch Luis zum Ausdruck (»Gott hat das in Auftrag gegeben«). Beide Aussagen repräsentieren die Spannweite der Deutungen der Kinder, indem sie auf die Aspekte von Wort- und Tatschöpfung verweisen. Während für Maxi Gott als »Macher« in einem sehr handwerklich gedachten Sinn in Erscheinung tritt, hat sich bei Luis bereits die Vorstellung vom Plan Gottes herausgebildet. Dieser umfasst nicht nur Gottes Schöpfungsinitiative vom Anfang, sondern den gesamten Gang der Geschichte bis zur Vollendung. Indem Luis weitere Texte der Urgeschichte sehr präsent sind, kann er den Plan Gottes »weiterverfolgen« und die biblischen Schöpfungsgeschichten in diesen Zusammenhang stellen. Veronika fand ihre Lösung auf einem ganz anderen Weg, indem sie sich für die Bibel »entschied«. Auch sie verfügt über Grundzüge evolutionstheoretischer Vorstellungen, der Bibel misst sie im Zusammenhang der Entstehung der Welt aber mehr Bedeutung bei, weil sie ihr in exis-

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tentiell betreffender Weise weiterhilft. Nicht unwesentlich erscheint in diesem Kontext auch, dass in der Gesprächsrunde auf eine Bibelillustration zum vollendeten Schöpfungswerk (Adam und Eva im Paradies) zurückgegriffen wurde. Damit wurde die Frage, ob der Mensch und die gesamte Schöpfung in Gott geborgen sind, stärker ins Bewusstsein gerückt. Veronikas Feststellung bringt deutlich zum Ausdruck, dass ihr die »Urknalltheorie«, die sagt, wie alles entstanden sein könnte, keine Hoffnungsperspektive zu vermitteln vermag. Auch wenn sie scheinbar die Schöpfungstexte in einem sehr wörtlichen Sinne für wahr hält, erfasst sie doch deren zentrale Botschaft: Die Welt kommt von Gott, sie ist gut und die Schöpfungsgeschichten erzählen davon, wie es sein könnte, selbst ganz in Gottes Nähe zu leben. Die Gedanken von Jonah zeigen, dass auch Kinder, die der Vorstellung eines Schöpfergottes skeptisch oder gar ablehnend gegenüberstehen, Zugang zu biblischen Schöpfungstexten finden können. Indem sie – wie Jonah – die Bedeutung der Texte für andere erkennen können, ereignet sich ein elementares Verstehen biblischer Überlieferung: Diese Texte sprechen zu Menschen, die an Gott glauben wie Veronika – für sie ist die Geschichte wichtig, weil sie ihr etwas verheißt, das sich nicht in Regeln und Geboten erschöpft. Die Idee vom Plan Gottes bietet einen entscheidenden Ansatzpunkt, an dieser Stelle mit den Kindern weiter zu theologisieren. Für Luis macht Gottes Plan vieles plausibel und er kann seinem Verständnis entsprechend formulieren: »Gott hat die Welt geschaffen, aber eigentlich ist sie so entstanden«. Im Gespräch wurde spürbar, dass der Gedanke von

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Gottes Plan auch den anderen Kindern – zumindest partiell – beim Verstehen der Schöpfungsgeschichte weiterhalf: Es entspricht Gottes Plan, dass sich alles so ereignet – aber auch: Die Menschen sind frei zu handeln und darauf reagierend nimmt Gott »eine Planänderung« vor. Obwohl die Menschen das Paradies verlassen müssen, um endlich »selbständig« zu werden, entspricht auch dieses Gottes Plan. Hier eröffnet sich ein neuer Problemhorizont, der das Thema »Schöpfergott« wesentlich berührt und zugleich verdeutlicht, wie komplex der Glaube an Gott den Schöpfer ist und welche Implikationen damit gegeben sind. Denn hier schließt sich die spannende Frage an, wie Kinder es deuten, an Gott den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, zu glauben und inwieweit dies die Willensfreiheit des Menschen berührt, wenn Gott als »Bestimmer« mit uneingeschränkten Machtbefugnissen gilt. Die Rede vom allmächtigen Schöpfer einer guten Schöpfung verweist darüber hinaus auf die Theodizee-Problematik, auf die potentiell jedes Theologisieren über Gott den Schöpfer hinauslaufen kann. Ein entscheidender Impuls für theologische Gespräche mit Kindern ergibt sich wohl vor allem dadurch, zu fragen, welches Bild biblische Schöpfungsgeschichten von der Welt und ihrer Beziehung zu Gott entwerfen. Dann erspüren Kinder so wie Veronika, dass diese Geschichten in erster Linie Zusage sein wollen: Die Welt verdankt sich nicht nur Gott, sie ist auch nicht gottverlassen, selbst wenn aller Anschein dagegen zu sprechen scheint. Der Glaube an Gott als Schöpfer bedeutet Hoffnung auf Vollendung und trifft damit den Kern biblischer Schöpfungstheologie.

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Corinna Hößle »Er ist ein ekelhaftes Tier. Der Wurm ist auch dreckig und glatt« – Theologisieren und experimentieren mit Kindern zum Thema Schöpfung und Verantwortung

Das Thema Schöpfung und Verantwortung soll bezogen werden auf den naturwissenschaftlichen Sachverhalt der Ekeltiere. So steht die Frage im Vordergrund, ob Ekeltiere auch in den Verantwortungsbereich des Menschen fallen und als Teil der Schöpfung angesehen werden können. Über das Experimentieren mit Ekeltieren soll ein Zugang zu diesen besonderen Lebewesen gewählt werden, der einen anderen Blick auf Gottes vielfältige Schöpfung ermöglicht und die Nachdenklichkeit der Kinder anregen kann.

Ekeltiere Die im Zentrum der Lernsequenz stehenden Tiere weisen alle eine zentrale Gemeinsamkeit auf: Sie gelten im Alltagsdenken der Menschen als Ekeltiere. Woher kommt diese Einstellung des Menschen zu diesen Tieren? Beobachtungen an kleinen Kindern lassen zunächst den Eindruck entstehen, dass sie noch keinen oder nur sehr wenig Ekel vor Tieren haben. Auch typische Ekeltiere wie Spinne, Maus oder Wurm lösen nur selten panische Reaktionen aus, wie man sie von älteren Kindern und vor allem Erwachsenen kennt. Watson gelangte deshalb zu dem Ergebnis, dass Ekel vor allem ein Produkt falscher Erziehung ist.1 Andere Autoren gehen von einem angeborenen Schutzmechanismus aus, der

sich zum Ende des ersten Lebensjahres entwickelt. Ekel kann demnach analog zur Angst als ein biologischer Schutzreflex angesehen werden, durch den eine Distanz zu Faulem, Schmutzigem, Schmierigem und damit auch zu Krankheitserregendem und Gefährlichem hergestellt wird.2 Immerhin ist es auffällig, dass Tiere, die als schmutzig, klebrig und schleimig gelten, in der Tat oft als eklig empfunden werden, ebenso Tiere, die als Krankheitsüberträger angesehen werden und es auch sind (Läuse, Flöhe, Ratten). Es wird angenommen, dass der Urgegenstand des Ekels der Erscheinungskreis der Fäulnis ist. Oft wird Ekel auch empfunden, wenn ein kleines Tier in besonderer Häufigkeit auftaucht, wie z.B. das Wimmeln von Käfern, Maden, Ameisen. Dieses Phänomen wird auch als Sehekel bezeichnet, der dort einsetzt, wo das Tier in Massen auftritt. Schanz führte eine Befragung bei 236 Kindern durch, um mehr über die Einstellung von Kindern zu Ekeltieren zu erfahren.3 Seine Ergebnisse zeigen, dass 1 Vgl. John B. Watson, Behaviorism, London 1925. 2 Vgl. Ulrich Gebhard, Kind und Natur. Die Bedeutung der Natur für die psychische Entwicklung, Wiesbaden 32009. 3 Vgl. Erhard Schanz, Zum Problem kindlicher Abneigung gegenüber Tieren – ein Beitrag zur Psychologie des Biologieunterrichts, in: Der Biologieunterricht 8 (1972) 43 ff.

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Mädchen insgesamt mehr Tiere angeben, gegenüber denen sie Ekel empfinden. Interessant ist, dass die Anzahl der Mädchen, die Ekel empfinden, mit zunehmendem Alter ansteigt. Stadtkinder nennen zudem mehr Tiere, vor denen sie sich ekeln als Landkinder, was vermutlich auf mangelnden Umgang mit Tieren im Allgemeinen zurückzuführen ist. Wendel führte eine weitere Untersuchung zum Thema Ekel bei Kindern durch.4 Typische Ekeltiere sind laut Wendel die folgenden: Schlange, Spinne, Ratte, Wurm, Krokodil, Maus. Als Grund für das Ekelgefühl werden in Einzelgesprächen immer wieder die Spinnenbeine genannt, »weil sie hässlich, haarig und entsetzlich lang sind« (Wendel, 15). Wendel führte eine erneute Befragung nach Durchführung einer Unterrichtseinheit zum Thema Spinnen durch und konnte feststellen, dass die Abneigungsgefühle deutlich reduziert waren. Dieser Effekt bezieht sich nicht nur auf Spinnen, sondern ist offenbar auf andere Ekeltiere übertragbar, wie die jüngst durchgeführte Untersuchung von Retzlaff-Fürst zum Thema Schnecken deutlich macht.5 Eine sehr deutliche Geschlechtsspezifik ergibt sich beim Widerwillen, einen Regenwurm anzufassen. Dieses Ekelgefühl ist bei Mädchen (64 % aus der Stadt und 53 % auf dem Land) deutlich höher als bei Jungen (7 % aus der Stadt und 5 % auf dem Land). Begründet wurde der Ekel mit folgenden Worten: »Weil der schmierig ist und rutschig. Er rutscht einem aus der Hand. Und die Hände werden klebrig.« (Mädchen 11 Jahre) »Ich habe Abscheu vor den Würmern. Sie sind auch glitschig, und manche sind so dick. Es ekelt mich an.« (Mädchen 12 Jahre) »Weil der Regenwurm dünn und kalt ist. Weil er in die Erde kriecht.« (Mädchen 11 Jahre)

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Als Ekel erregende Körpermerkmale werden die folgenden von Gahl genannt6: • viele lange Beine • nasse, glitschige Haut • kalte Haut • Stacheln • Panzer • glatte Haut Wie kann ein pädagogischer Umgang mit Ekel erfolgen? Es käme, so betont Gebhard,7 darauf an, den Ekel aushaltbar zu machen. Dazu gehört die Erkenntnis, dass der Ekel nicht ausrottbar ist, sondern zu den Bedingungen der menschlichen Existenz gehört, die nicht abgebaut oder durch Desensibilisierung aberzogen werden können bzw. müssen. Das ist wohl, so Gebhard, der wichtigste pädagogische Grundsatz im Umgang mit Ekel. Das pädagogische Ziel sollte vielmehr sein, das Ekelgefühl in eine Form zu bringen, die aushaltbar ist. Eine solche pädagogische Haltung wird nicht den Ekel beseitigen, jedoch Bedingungen dafür schaffen, dass die Begegnungen mit Ekeltieren nicht zu hysterischen und aggressiven Ausbrüchen gegenüber den Objekten des Ekels führen. Nicht Verbannung aus dem Unterricht kann das Motto sein, sondern allmähliche Gewöhnung an Ekeltiere sollte Leitmotiv sein. Dass der Gewöhnungs-

4 Vgl. Werner Wendel, Abneigung gegen Spinnen – Unterrichtsversuche zum Abbauen von Antipathien bei Schülern eines 7. Schuljahres, in: Der Biologieunterricht 16 (1980) 4–35. 5 Vgl. Carolin Retzlaff-Fürst, Das lebende Tier im Schülerurteil, Kováč 2008. 6 Vgl. Hartmut Gahl, Über die Formenkenntnis des Primarschülers und seine Einstellung zum Tier, in: Erwin Schwartz, Entdeckendes Lernen im Lernbereich Biologie Arbeitskreis Grundschule, Frankfurt a.M. 1973. 7 Gebhard, Kind und Natur (wie Anm. 2).

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effekt wichtig ist, zeigen z.B. die Befunde von Wenzel und Schanz, nach denen Landkinder weniger Ekelgefühle gegenüber Tieren haben als Stadtkinder. Aufklärung kann ein zweites Motto sein, dem Ekelgefühl von Kindern zu begegnen. Wird Kindern die Struktur und Funktion der Ekel erregenden Phänomene erläutert, kann eine Sinnhaftigkeit dahinter erkannt und geduldet werden. Eine weitere wichtige pädagogische Komponente liegt in der Reflektion der persönlichen Einstellung zu Ekeltieren. Kindern sollte im Unterricht Raum gegeben werden, ihre Ekelgefühle frei äußern zu können und auf Verständnis der Lehrperson zu stoßen. Mit der eigenen Abneigung umzugehen und diese auch erlebbar und nachvollziehbar zu machen, kann Kindern mehr helfen als Vermeidung und defensive Abwehr. Auf der Basis eines solchermaßen geplanten Umgangs mit Ekeltieren haben dann Lernprozesse, die auf Gewöhnung, Aufklärung und Verständnis zielen, eine Chance, Ekelgefühle aushaltbar zu machen und einen verantwortungsvollen Umgang mit Ekeltieren zu ermöglichen.

werden. Dabei greift der Experimentator direkt in die Natur ein. Experimente dienen so der Veranschaulichung und dem Erfahren von Naturphänomenen und schulen gleichzeitig das Wissenschaftsverständnis sowie experimentelle Fertigkeiten, wie das Umgehen mit Pinzetten, Petrischalen, Reagenzgläsern. Das Experimentieren kann im Rahmen des forschend-entwickelnden Unterrichtsverfahrens durchgeführt werden.8 Es handelt sich hierbei um eine didaktisch konzipierte Strategie, Unterrichtsziele zu problematisieren, im Unterrichtsprozess Probleme zu erkennen und deren Lösung mit schulmöglichen Methoden und vorhandenen Voraussetzungen anzustreben. »Die Kinder durchlaufen dadurch einen Erkenntnisprozess.«9 Dieser erfährt eine gegliederte Struktur in Denkstufen und Denkphasen. Diese Struktur erlaubt insbesondere dem Anfänger jederzeit den Stand des Unterrichtsfortgangs zu erkennen und handelnd zu beeinflussen. Durch die Struktur werden zum einen die Überschaubarkeit des Unterrichts und das Orientierungsvermögen im Unterricht verbessert und zum anderen werden wichtige Prinzipien des Erkenntnisweges vermittelt.

Experimentieren Als wesentliche Erkenntnismethode des naturwissenschaftlichen Unterrichts wird das Experiment angesehen. Es wird definiert als eine Frage an die Natur oder als Fortführung von Beobachtungen unter künstlich veränderten Bedingungen. Beim Experimentieren werden jedoch nicht nur Fragen formuliert, sondern auch begründete Vermutungen über Ursache-Wirkungs-Beziehungen geäußert, die anschließend durch systematische Variation und Kontrolle von Variablen überprüft

Die zeitliche Folge der Denkstufen lehnt sich an Schmidkunz / Lindemann10 (ebd.) an und wurde für die Grundschule überarbeitet: 1. Problemgewinnung 2. Vermutungen formulieren 8 Vgl. Heinz Schmidtkunz / Helmut Lindemann, Das forschend-entwickelnde Unterrichtsverfahren. Problemlösen im naturwissenschaftlichen Unterricht, Hohenwarsleben 62003. 9 Ebd., 21. 10 Wie Anm. 8.

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3. Gedankenexperimente entwickeln und bewerten 4. Durchführung des Experiments 5. Sammeln der Ergebnisse 6. Interpretation der Ergebnisse und Überprüfen der eigenen Vermutungen Die Bedeutung der einzelnen Denkstufen soll nun beschrieben und anhand eines Beispiels aus dem Forschertagebuch, das in der Lernsequenz eingesetzt wird, verdeutlicht werden (Können Regenwürmer schmecken?).

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dazu bereits vorhandene Kenntnisse auf das Problem anwenden und Vermutungen hinsichtlich der Lösung des Problems äußern. So kann in Bezug auf die Frage, ob Regenwürmer schmecken können, die Vermutung geäußert werden, dass Regenwürmer nicht schmecken. Dies könnte mit dem Fehlen eines sichtbaren Mundes begründet werden. Auch wäre es denkbar, dass die gegenteilige Vermutung geäußert wird mit der Begründung, dass man den Mund nur nicht sehen kann, weil er hinter einer Tasche oder Haut liegt.

1. Problemgewinnung: Diese erste Denkstufe dient dazu, ein Problem im Bewusstsein der Kinder entstehen zu lassen, es klar zu erkennen und zu formulieren. Die Phase wird in Problemgrund und Problemerfassung unterteilt. So steht im Forschertagebuch zum Thema Regenwürmer zunächst die Frage im Vordergrund, ob Regenwürmer schmecken können. Als Einstieg in dieses Thema wird die Geschichte vom Geschmackskönig vorgelesen. Damit wird ein Problemgrund gelegt, der die Basis für die Herausarbeitung des Problems legt. Am Ende der Geschichte sollen die Kinder die zentrale Forscherfrage herausarbeiten, ob Regenwürmer tatsächlich schmecken können, und damit die Problemerfassung herausheben.

2. Vermutungen formulieren Nachdem das Problem genau beschrieben wurde, wird es nun darauf ankommen, das Problem mit den bereits bekannten Voraussetzungen und Vorkenntnisse abzugleichen. Die Kinder müssen

3. Gedankenexperimente entwickeln und bewerten Die Kinder werden in diesem Schritt aufgefordert, Experimente gedanklich zu entwickeln, die zur Lösung des Problems beitragen können. Neben dem eingebrachten Vorwissen sind Elemente der Intuition, Spontaneität und Kreativität an dieser Stelle von Bedeutung. Abschließend entscheiden sich die Kinder begründet für ein Experiment, das aus ihrer Sicht am besten zur Klärung der Forscherfrage geeignet erscheint. So könnten Kinder an dieser Stelle vorschlagen, Regenwürmern unterschiedliche Nahrungsmittel anzubieten und zu beobachten, ob diese verzehrt bzw. verweigert werden. Ein alternatives Experiment könnte darin bestehen, Regenwürmer unter dem Binokular hinsichtlich eines Mundes näher zu betrachten.

4. Durchführen des Experiments Nach sorgfältiger Vorbereitung, die die Organisation und Bereitstellung der

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Materialien beinhaltet, kann die Durchführung des Experiments erfolgen. Vorab sollte geklärt werden, in welcher Sozialform und zeitlichem Rahmen gearbeitet werden soll und welche Sicherheitsmaßnahmen, insbesondere im verantwortungsvollen Umgang mit lebenden Tieren, zu beachten sind. Auch das Anlegen einer Zeichnung zum Aufbau des Experiments kann vor dem eigentlichen Experimentieren besprochen werden. Diese Klarheit ist Voraussetzung für einen disziplinierten Ablauf der nun folgenden Experimentierphase. Im Bezug auf das Thema Regenwürmer steht nun die Durchführung des ersten Experiments im Vordergrund.

5. Sammeln der Ergebnisse Parallel oder im Anschluss an die Experimentierphase stehen die Kinder nun vor der Aufgabe, die gesammelten Beobachtungen bzw. notierten Werte im Rahmen eines kurzen Ergebnisprotokolls zu notieren. Dabei ist darauf zu achten, dass die Kinder an dieser Stelle keine Interpretation der Ergebnisse vornehmen, die z.B. in folgenden Äußerungen bestehen könnten: »Senf hat dem Regenwurm gar nicht gut geschmeckt, das mag er überhaupt nicht«. Eine wissenschaftliche Beobachtung wird nüchtern beschrieben: »Der Regenwurm hat sich gewunden, als er mit verdünntem Senf berührt wurde. Der Regenwurm hat keine besondere Reaktion gezeigt, als er mit verdünntem Zucker berührt wurde.« Kinder lernen in dieser Phase, nüchterne deskriptive Beobachtungen von emotional gefärbten Wertungen und Interpretationen zu trennen, was einer wichtigen wissenschaftlichen Arbeitsweise entspricht.

6. Diskussion der Ergebnisse und Überprüfen der eigenen Vermutungen Ein Abschluss des Experimentierens liegt in der Präsentation und Diskussion der gemeinsamen Ergebnisse sowie in der Veri- bzw. Falsifizierung der Ausgangsvermutungen. Stellt sich heraus, dass das Problem nicht anhand des beschrittenen Experiments gelöst werden konnte, so spricht man von einer Falsifikation (negative Problemlösung – Falsifizierungsexperiment). In diesem Fall geht man bis zu drittens zurück und überdenkt die Eignung des Experiments. Durch eine positive Problemlösung wird die oben aufgestellte Vermutung bestätigt. Auch nicht eindeutige Ergebnisse werden in dieser Phase zur Diskussion gestellt und das Experiment hinsichtlich seiner Tragweite und Aussagekraft hinterfragt. Nun kann es z.B. der Fall sein, dass sich fünf Regenwürmer tatsächlich bei Berührung mit Senf gewunden haben, während ein Regenwurm keine Reaktion gezeigt hat. An dieser Stelle ist es wichtig, mit Kindern über die Aussagekraft des Experiments in ein Gespräch zu kommen, um das Wissenschaftsverständnis zu fördern. So sollte deutlich werden, dass Fehlerquellen beim Experimentieren eine wichtige Rolle spielen. Der Regenwurm befindet sich nicht in seinem natürlichen Lebensraum und könnte dadurch irritiert sein, er könnte tatsächlich ein anderes Geschmacksempfinden haben als die Mehrheit der Regenwürmer (Ausnahmen bestätigen die Regel), was auch altersbedingt sein kann. Wichtig ist an diesem Punkt auch, darauf aufmerksam zu machen, dass eine Vielzahl an Experimenten dieser Art nötig ist, um eine allgemeingültige, wissenschaftliche Aussage hinsichtlich des Geschmacksverhaltens von Regenwürmern zu treffen.

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Dazu reichen fünf parallel geschaltete Experimente nicht aus.

Lernchancen Die Kinder erhalten im Rahmen der vorgestellten Lernsequenz folgende Lernchancen: ) Lernchance 1: Wir lernen Gott als Schöpfer kennen • Sich der Vielfalt und Schönheit der Natur bewusst werden • das eigene Verständnis über die Herkunft natürlicher Dinge zum Ausdruck bringen und in Beziehung setzen zu anderen Vorstellungen • Nachdenken über den Begriff »Schöpfung Gottes« • Gott als Schöpfer kennen lernen

) Lernchance 2: Wir denken nach über Gottes Schöpfung, Ekel und Schönheit • Das eigene Verständnis über den Akt der Schöpfung zum Ausdruck bringen • Zentrale Aussagen des biblischen Schöpfungsberichtes kennen lernen und in Beziehung setzen zu den eigenen Vorstellungen • Bilder o.ä. entwickeln und präsentieren, die den biblischen Schöpfungsbericht in Teilen ausdrucksvoll widerspiegeln • Den alttestamentlichen Schöpfungsbericht als Glaubenszeugnis und nicht als naturwissenschaftlichen Tatsachenbericht lesen und interpretieren lernen • Ausgewählte Dinge aus der Natur den Bereichen Schöpfung, Ekel, Schönheit begründet zuordnen

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) Lernchance 3: Wir sind Naturforscher und entdecken die Schöpfung • Die Positionen von Marie und Anton erkennen, nachvollziehen und Stellung dazu beziehen • Nachdenken über die Bedeutung der Lebewesen auf dieser Welt (exemplarisch Regenwurm und Mensch) Explizite Förderung folgender naturwissenschaftlicher Kompetenzen: • Verantwortungsvoller Umgang mit lebenden Tieren • Selbstständige Arbeit mit dem Forschertagebuch • Verstehen der Forscherfrage • Aufstellen eigener Vermutungen • Entwickeln von Gedankenexperimenten • Durchführen des Experiments und Schulung manueller Fertigkeiten • Sammeln und Protokollieren von Ergebnissen • Interpretieren der Ergebnisse und Überprüfen der eigenen Vermutung • Beantwortung der Forscherfrage • Reflektion des Experiments hinsichtlich seiner Aussagekraft und wissenschaftlicher Tragweite • Gottes vielfältige und einzigartige Schöpfung beim Erforschen der Tiere kennen lernen • Reflektion der eigenen Vorstellungen zu den untersuchten Ekeltieren und In-Beziehung-Setzung zu Gottes Schöpfung • Erkennen, dass Ekeltiere Merkmale und Fähigkeiten aufweisen, die über die menschlichen Fähigkeiten hinausgehen • Im Rollenspiel unterschiedliche Perspektiven in ihrer Argumentation kennen lernen und Toleranz ihnen gegenüber entwickeln

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) Lernchance 4: Wir tragen Verantwortung für die Schöpfung • Den biblischen Schöpfungsauftrag lesen und eigene Gedanken zum Ausdruck bringen • Nachdenken über die Begriffe Herrschaft, Untertan, Verantwortung • Einen Vergleich zwischen Schöpfungsauftrag und Umgang mit der Schöpfung vollziehen • Die besondere Stellung des Menschen in der Schöpfung erkennen • Ideen entwickeln, wie ein verantwortungsvoller Umgang mit der Schöpfung aussehen kann • In einem Gedankenexperiment über die Schöpfung nachdenken

Beschreibung eines möglichen Unterrichtsverlaufes ) Lernchance 1: Wir erkennen Gott als Schöpfer Der Einstieg in das Thema Schöpfung und Natur erfolgt über einen stummen Impuls. Dazu wird auf einem Tisch, um den sich die Kinder versammeln, eine Decke ausgebreitet, auf der sich Dinge befinden, die aus der Schöpfung Gottes hervorgegangen sind. Dies können z.B. folgende Objekte sein: eine große, beeindruckende Muschel; eine schöne Blume; ein ansprechendes Stopfpräparat von einem Vogel oder Eichhörnchen; eine große Frucht; ein schöner Stein. Die Kinder können sich nun frei zu diesen Objekten äußern und ihre spontanen Assoziationen einbringen. Dabei kann der letzte Urlaub zur Sprache kommen oder die Blumen, die man im Garten gepflanzt hat.

An die Präsentation dieser Dinge knüpft der Lehrer mit der Frage an, woher diese schönen Dinge stammen. Den Kindern kann an dieser Stelle Raum gegeben werden, ihre eigenen Ideen von der Entstehung natürlicher Dinge zu äußern und Bezug aufeinander zu nehmen. Das Philosophieren und Theologisieren zum Thema »Entstehung der Welt« wird an diesem Punkt eröffnet. Dabei wird von den Kindern unter anderem auch die Vorstellung geäußert werden, dass Gott diese Dinge erschaffen hat. Dieses Bild wird aufgegriffen und vertieft. Durch gezieltes Nachfragen sollen die Kinder angeregt werden, diese Idee näher zu beschreiben. Dabei sollten folgende Fragen im Vordergrund stehen: Was ist für dich die Schöpfung Gottes? Was gehört für dich zur Schöpfung Gottes dazu? Was könnte für andere Menschen zur Schöpfung Gottes dazu gehören? Was ist das Besondere an der Schöpfung Gottes? Warum loben wir Gottes Schöpfung in Liedern und Texten? Als Hilfe wird ein Tafelbild erstellt, auf dem ein Concept Map entsteht (siehe Abb. 1), das die Ideen der Kinder zum Thema Schöpfung festhält. Alternativ dazu können Kinder selbstständig in Vierergruppen eine Gedankensonne erstellen, die sie anschließend reihum vorstellen (M 1)

) Lernchance 2: Wir denken nach über Gottes Schöpfung, Ekel und Schönheit Nachdem nun darüber theologisiert wurde, dass Gott die Dinge dieser Welt erschaffen hat, wird nun die Frage nach dem Wie aufgegriffen. Unter der konkreten Fragestellung, wie nun Gott diese Dinge erschaffen haben könnte, wird die

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Himmel

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Blumen

Menschen

Schöpfung Gottes

Tiere

Mein Hamster

Feuer

Berge

Omas Hund

Steine

Täler

Sand

Abb. 1: Concept Map zum Thema »Schöpfung Gottes«

folgende Phase eingeleitet. In einem Gesprächskreis können dazu Gedanken und Ideen ausgetauscht werden. Anschließend werden die Kinder aufgefordert, die auf den Tischen ausgeteilten laminierten Kärtchen (Text- und Bildkarten aus M 2 und 3), auf denen die einzelnen Schritte des biblischen Schöpfungsberichtes verkürzt zusammengefasst sind, in die richtige Reihenfolge zu bringen und das entsprechende Bild zuzuordnen. Dazu empfiehlt es sich, die ausgewählten Bilder in Einzelbilder zu zerschneiden. Eine schönere, wenn auch zeitaufwendigere Alternativ dazu wäre, die Kinder Bilder von den einzelnen Schöpfungstagen malen zu lassen, in denen ihr Ausdruck und ihre Vorstellungen zum Vorschein kommen. Es bietet sich an, die sieben Tage auf Kindergruppen zu verteilen, so dass die Bil-

der anschließend zu einer Reihe bzw. zu einem Fries zusammengeführt und mit den dazugehörigen Texten versehen und in einem Galeriegang gemeinsam besprochen werden können. Steht ausreichend Zeit und Raum für Kreativität zur Verfügung, so können Kindergruppen in Kartondeckeln, auf selbstgebauten Sperrholztabletts oder auf ausgelegten Decken Motive der einzelnen Schöpfungstage bzw. der Schöpfung insgesamt mit vielfältigen Naturmaterialien (Holz, Stöcke, Früchte, Bast, Blätter, Ton etc.) selbst gestalten. Zusätzlich zum biblischen Schöpfungsbericht kann der babylonische Schöpfungsmythos aus dem Enuma Elis gelesen, interpretiert und nachgestaltet werden. Im Anschluss an diese Arbeitsphase folgt eine kritische Reflektion der bib-

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lischen Schöpfungsberichte (falls beide gelesen wurden). Dabei steht die Frage nach dem Verständnis des Schöpfungsberichtes im Vordergrund. Die Kinder werden an dieser Stelle die Frage nach der Glaubwürdigkeit des Textes aufwerfen. Aus dem Sachunterricht, dem Elternhaus und den Medien sind ihnen naturwissenschaftliche Bilder der Weltentstehung nicht fremd. An dieser Stelle wird herausgestellt, dass der siebentägige Schöpfungsvorgang nicht im Widerspruch zu den Erkenntnissen der Naturwissenschaften steht, da es sich hierbei nicht um eine Schilderung naturwissenschaftlicher Fakten handelt, sondern um einen Mythos. Der Schöpfungsmythos wird als spezifisches Zeugnis eines umfassenden gläubigen Denkens dargestellt, der die Glaubensweise zu damaligen Zeiten widerspiegelt.11 Die Grundaussage des Schöpfungsberichtes ist daher nicht »WIE« ist die Welt entstanden, sondern »DASS« Gott der Schöpfer ist. Alles, was auf der Erde zu finden ist, kommt von Gott und sollte wertgeschätzt werden. Insofern können die von den Kindern im Gesprächskreis entwickelten Schöpfungsgedanken in eine Linie zum biblischen Schöpfungsbericht gestellt werden. Nach Abschluss dieser Phase werden die Kinder mit Dingen aus der lebendigen Natur konfrontiert, die sie zum Nachdenken und Staunen über Gottes einmalige und vielseitige Schöpfung anregen und den Umgang mit Ekeltieren bereits vorbereiten sollen. So werden auf den Tischen der Kinder laminierte Bilder von beeindruckenden Ergebnissen aus der Schöpfung wie z.B. Elefant, Strauß, Protea, Kinder, Sonnenaufgang ausgelegt und von so genannten Ekeltieren wie Regenwurm, Kellerassel und Käfer (M 4). Die Kinder sollen nun aus der bunten

Mischung begründet jeweils zwei Bilder auswählen, die ihrer Vorstellung nach in Verbindung mit Gottes Schöpfung stehen. Im anschließenden Gesprächskreis haben die Kinder nun die Möglichkeit, ihre Wahl zu begründen. Es wird erwartet, dass die Bilder der Ekeltiere nur von sehr wenigen Kindern in einen Zusammenhang mit Gottes Schöpfung gestellt werden, da sie nicht unseren ästhetischen Vorstellungen entsprechen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Kinder konkret erläutern, warum sie einige Tiere mit der Schöpfung Gottes verbinden und andere wiederum nicht. In einem zweiten Schritt sollen die Kinder erklären, warum sie die ausgewählten Tiere ekelig finden und diese nicht in die Schöpfung Gottes einbeziehen. Ekeltiere haben klassische Merkmale wie z.B. lange dünne Beine, die für uns wenig nachvollziehbare Bewegungen durchführen, sind glitschig und feucht, sind auf Müll anzutreffen oder in feuchten, dunklen Kellern, haben kein erkennbares Gesicht und einhergehend keine Mimik. Biologisch betrachtet ist es nachvollziehbar, dass wir uns vor solchen Tieren ekeln, da wir damit gleichzeitig einen Schutz vor dem Fremden und Unerwarteten aufbauen. Die Bewegungen sind nicht kalkulierbar, die Schleimschicht könnte Bakterien enthalten, in dunklen Kellern könnte Gefahr lauern. Nach dieser eingehenden Thematisierung des Ekels wird übergeleitet zum gegensätzlichen Begriff der Schönheit. Die Kinder sollen beschreiben, was für sie schön ist und was Schönheit be-

11 Claus Westermann, Wie die Naturwissenschaft fragt – was die Bibel antwortet, Stuttgart 1989.

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deutet. Dazu bringen sie Dinge oder Erinnerungen mit in den Unterricht, die sie als schön bewerten. Es soll an dieser Stelle deutlich werden, dass Schönheit ein sehr subjektiver Begriff ist, den jeder Mensch mit anderen Dingen und auch Erlebnissen verbindet. Ein möglicher Abschluss dieser Phase könnte die Feststellung sein, dass die Kinder die Ekeltiere zwar nicht schön finden, da sie glitschig sind oder lange Beine haben, aber dass es durchaus Menschen geben kann, die diese Tiere faszinierend und schön finden. Um ein abschließendes Urteil über diese eher befremdliche Seite der Schöpfung zu erlauben, sollen die Kinder diese Ekeltiere in den nächsten Stunden besser kennen lernen.

) Lernchance 3: Wir sind Naturforscher und entdecken die Schöpfung Als Einstieg in die nun folgende Phase wird die Geschichte von Anton und Marie vorgelesen (M 5). Im Anschluss daran können folgende philosophische Fragen aufgegriffen und diskutiert werden: Warum findet Anton den Regenwurm ekelig? Warum will er auf den Regenwurm treten? Warum will Marie ihn davon abhalten? Was würdest du Anton antworten? Darf man Regenwürmer töten? Haben Regenwürmer eine Bedeutung in dieser Welt? Welche Bedeutung haben wir in der Welt? Um Ekeltiere wie Regenwürmer, Kellerasseln und Mehlwürmer besser kennen und vor allem schätzen zu lernen, sollen die Kinder nun zu Naturforschern werden und das Besondere und das Faszinierende der Ekeltiere kennen lernen. Dazu werden im Klassenraum drei Stationen zu

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den klassischen Ekeltieren Kellerassel, Regenwurm und Mehlwurm eingerichtet (M 6), die die Kinder durchlaufen sollen. Es lohnt sich, die Mehlwürmer für diese Versuchsreihe frühzeitig zu besorgen (mind. 3 Wochen vorher), so dass am Ende alle drei Entwicklungsstadien sichtbar sind. Mehlwürmer sind einfach zu halten und benötigen lediglich Haferflocken als Nahrungsgrundlage. Für diese Form des Stationen-Lernens erhalten die Kinder ein Forschertagebuch, das ihnen hilft, die geplanten Experimente selbstständig durchzuführen, die Ergebnisse zu notieren und die Ausgangsfragen zu beantworten. Es empfiehlt sich, die Klasse in drei Gruppen einzuteilen und auf die drei thematischen Stationen zu verteilen, die dann im Rotationsverfahren durchlaufen werden. Bevor die Arbeit an den Stationen beginnt, sollte die Lehrkraft die Arbeit mit dem Forschertagebuch erläutern. Die Arbeit an den Stationen umfasst den vorsichtigen und verantwortungsvollen Umgang mit lebendigen Tieren. Um Kinder darauf vorzubereiten, sollte vorab gemeinsam ein Katalog an Verhaltensregeln im Umgang mit lebendigen Tieren erstellt und als Poster an die Wand gehängt werden. Unter der Frage »Was wollen wir im Umgang mit den lebendigen Tieren bedenken« kann diese Arbeitsphase angeleitet werden. An den Stationen sollen die jeweiligen Seiten des Forschertagebuchs bearbeitet werden. Dabei werden zwei zentrale inhaltliche Bereiche erarbeitet. Zum einen soll eine exakte Bleistiftzeichnung vom jeweiligen Tier angefertigt und zum anderen sollen die Sinne der Tiere erkundet werden. Zum letztgenannten Punkt wird ein fünf-schrittiges Verfahren empfohlen, das aus dem Formulieren der Forscher-

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frage, dem Äußern eigener Vermutungen, dem Planen und Durchführen des Versuches sowie der Überprüfung der eigenen Vermutung besteht. Damit wird eine klassische naturwissenschaftliche Arbeitsweise vermittelt, die gezielt Raum für das Formulieren eigener Vermutungen und Versuchsvarianten lässt, um das eigenständige Denken und Lernen der Kinder anzuregen und einen Weg einzuschlagen, der wegführt vom lehrerzentrierten, geführten Experimentieren. Neben der Vermittlung naturwissenschaftlicher Kompetenzen liegt der Schwerpunkt an dieser Stelle des Unterrichts in der Erforschung von Ekeltieren unter der Prämisse, die Vielfalt der Schöpfung Gottes selbstständig zu entdecken, die sich in der Einzigartigkeit dieser Tiere widerspiegelt. Die Kinder sollen nicht nur im verantwortungsvollen Umgang mit diesen Tieren gefördert werden, sondern gleichzeitig entdecken, dass Ekeltiere durchaus interessante Körpermerkmale und Körperfunktionen aufweisen, die mit den menschlichen vergleichbar sind und z.T. sogar über diese hinausgehen. So verfügen alle drei Ekeltierarten über einfache Sinnesorgane, die es ihnen ermöglichen, die Welt wahrzunehmen und sich in dieser zu orientieren. Die Kinder erkennen, dass die Sinnesorgane nicht nur im Gesicht sitzen, sondern auch über den ganzen Körper verteilt sein können (Regenwurm) und den Tieren helfen, sich vor Licht (Regenwurm, Mehlwurm) oder Trockenheit (Kellerassel) zu schützen und die richtige Nahrung auszuwählen. Ekeltiere wie der Mehlkäfer können sogar Eigenschaften aufweisen, über die der Mensch nicht verfügt. So durchläuft der Mehlwurm drei Entwicklungsstadien, vom Ei bis zum Mehlkäfer, während der Mensch sich nur hinsichtlich seiner

Größe und Ausdifferenziertheit der Organe im Laufe des Lebens weiterentwickelt. Nachdem die Kinder alle drei Tierarten kennen gelernt haben, werden die Ergebnisse gemeinsam verglichen. Dazu stellt jeweils eine der drei Gruppen die Ergebnisse zu einer Tierart vor, so dass insgesamt nicht mehr als drei Präsentationen erfolgen, die durch die Aussagen der anderen Kinder ergänzt werden können. Am Ende dieser Phase werden die Kinder gefragt, was sich in ihrer Vorstellung und Einstellung bezüglich dieser Tiere geändert hat und welche Eigenschaften dieser Tiere faszinierend sein könnten. Eine Hausaufgabe könnte darin bestehen, das Gespräch von Anton und Marie noch einmal aufzugreifen und die Kinder aufzufordern, einen Brief an Anton zu schreiben, in dem sie Stellung nehmen zu seiner Position. Eine andere Möglichkeit, diese Phase zu beenden, besteht in einem kurzen Rollenspiel, in dem die Szene und das Gespräch zwischen Anton und Marie noch einmal thematisch aufgegriffen werden. Die Kinder erhalten die Möglichkeit, diese Szene noch einmal neu zu spielen und ihre eigenen Beiträge dazu zu verfassen. So könnte man zunächst das Rollenspiel nach dem Kommentar von Anton enden lassen und die Kinder auffordern, individuelle Antwortmöglichkeiten zu entwickeln und kurz vorzutragen. Das Rollenspiel könnte unter der Leitfrage stehen: »Was hättest du Anton geantwortet« bzw. »Wie könnte man auf Antons Kommentar auch antworten?«

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) Lernchance 4: Wir tragen Verantwortung für die Schöpfung Die Kinder werden in Vierergruppen aufgefordert, sich um Platzdecken zu sammeln, die auf den Tischen ausgeteilt liegen. Auf den Blättern sind bereits vorab die entsprechenden Felder eingezeichnet worden (M 7). An der Tafel wird ein Plakat aufgehängt, auf dem der Schöpfungsauftrag steht, der vom Lehrer als Impuls laut und langsam vorgelesen wird (M 8). In Abhängigkeit von der Gruppe kann hier die kindgerechtere Textausgabe aus der Kinderbibel12 oder die Originalausgabe aus der Lutherbibel gewählt werden. Die zweite Textstelle stellt aufgrund ihrer Formulierung eine größere Provokation dar, die sicherlich zu einer spannenden Diskussion führt. Die Kinder sollen ihre Gedanken zum Schöpfungsauftrag in jeweils ein Kästchen des Platzdeckchens hineinschreiben. Dazu haben sie drei Minuten Zeit. Im Anschluss werden die Einzelergebnisse in der jeweiligen Gruppe besprochen. Nun einigt sich die Gruppe auf ein Gemeinschaftsergebnis und setzt dieses in das zentrale mittlere Feld. Dazu sind wiederum 5 Minuten Zeit vorgesehen. Abschließend werden die Ergebnisse (nur aus dem Mittelfeld) kurz dem Plenum präsentiert. Nicht genannte Begriffe wie Untertan und Herrschaft sollten im Anschluss gemeinsam reflektiert werden. Als zusätzliche Interpretationshilfe kann die zweite Textstelle aus Gen 2,15 herangezogen werden (M 8). Dabei können folgende theologische Leitfragen im Vordergrund stehen: Was ist ein Untertan? Woher kennt ihr den Begriff? Gibt es vergleichbare Begriffe (unterwerfen, unterlegen etc.)? Was ist gemeint mit der Aussage »Machet euch die Erde untertan? Was ist ein Herr-

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scher? Gibt es ähnliche Begriffe für das Wort Herrscher (König)? Welche Ziele verfolgt ein König? Wann geht es dem König in seinem Reich gut? Was passiert, wenn das Volk des Königs schlecht behandelt wird? Was ist damit gemeint, dass der Mensch über die Tiere herrschen soll? Vergleicht die Rolle des Menschen und der Tiere mit der Rolle des Königs und seinem Volk. Wie sollte ein König sein Volk behandeln? Wie sollte der Mensch die Tiere behandeln? Warum gibt Gott diesen Auftrag an den Menschen? Welche Ziele verfolgt Gott?« An dieser Stelle sollte deutlich werden, dass mit dem Beherrschen der Erde und der Tiere auf »keinen Fall etwas wie Ausbeutung gemeint sein kann.«13 Als Herr seines Reiches ist der König stets für sein Reich und das Wohlergehen seines Volkes verantwortlich. Der Mensch würde »das Amt der Herrschaft über die Erde darin geradezu verfehlen, das die Kräfte der Erde ausbeutet zum Schaden des Ackerlandes, zum Schaden der Pflanzen und der Tiere, zum Schaden der Flüsse und der Meere.«14 Der Gesprächskreis widmet sich nun der Frage, wie die Menschen diesen Auftrag verstehen und in ihrem Leben berücksichtigen. Die Kinder werden aufgefordert an ihre Plätze zurückzukehren und in Partnerarbeit Beispiele aus ihrem Leben zu beschreiben, die eine Missachtung dieses Gebotes deutlich machen. Die kurzen Beschreibungen sollen auf rote Kärtchen notiert werden und anschließend auf

12 Z.B. Irmgard Weth, Die Neukirchener Kinderbibel, Neukirchen-Vluyn 81994. 13 Westermann, Wie die Naturwissenschaft fragt (wie Anm. 11), 81. 14 Ebd., 82.

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einer Stellwand vorgestellt und geclustert werden. Titel des Clusters sollte sein: Wie gehen wir mit Gottes Schöpfung um? Beispiele könnten sein: Verschmutzung von Flüssen und Meeren, Überfischung von Meeren, Käfighaltung von Nutztieren, Ausrotten bedrohter Tier- und Pflanzenarten, anthropogener Klimawandel. In einem zweiten Schritt sollen die Kinder nun gemeinsam auf grünen Karten ihre Ideen zum verantwortungsvollen Umgang mit der Schöpfung notieren. Dabei können folgende Aussagen zum Ausdruck kommen: keine geschützten Tierarten wie Elefanten und Wale mehr jagen, keine Wälder im Übermaß abholzen, weniger Auto fahren, Naturschutz und -pflege betreiben, Müll vermeiden, Fair-Trade Produkte kaufen, das Klima schützen etc. Die Kärtchen werden neben die roten Kärtchen geheftet. Eine neue Überschrift wird über die erste Überschrift gehängt: Wir übernehmen Verantwortung für Gottes Schöpfung. An der Tafel wird nun eine Gedankensonne zum Begriff Verantwortung geheftet und die Kinder können Beispiele aus ihrem Leben nennen, die zeigen, dass auch sie Verantwortung übernehmen. Dabei kann man verantwortlich sein für ein Haustier, für das Aufräumen des Zimmers, für die Hausaufgaben etc. Die

Lehrkraft notiert die genannten Beispiele und schließt mit dem Satz: Gott überlässt uns seine Welt, damit wir verantwortungsvoll mit ihr umgehen und sie bewahren. Eine mögliche Hausaufgabe oder Stillarbeit kann an dieser Stelle darin bestehen, dass die Kinder ein Gedankenexperiment vollziehen zu dem Motto: Was wäre, wenn … Stell dir vor, Gott betrachtet seine Schöpfung und schaut, ob wir seinen Schöpfungsauftrag ernst genommen haben. Was würde ihm wohl gut gefallen und was würde ihm weniger gefallen? Die Kinder können dazu ein Bild malen, auf dem zum Ausdruck kommt, in welchen Bereichen ein verantwortungsloser Umgang mit der Schöpfung stattfindet bzw. in welchen Bereichen die Schöpfung geschätzt und geachtet wird. Alternativ können Kinder Beispiele aus der Tageszeitung sammeln, die diese Bereiche repräsentieren. Als Abschluss der Unterrichtseinheit kann von den Kindern ein Elfchen zum Begriff Verantwortung oder Schöpfung geschrieben werden (Bsp. siehe M 9) oder aber das Lied »Er hält die ganze Welt in seiner Hand« oder »Gottes Liebe ist wie die Sonne« gesungen und gemeinsam reflektiert werden (M 10).

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Ulrich Kropac`´ / Christine Mohr »Gott schickte zwei Boten, sie sollten zwei Planeten aneinander prallen lassen.« Empirische Erkundungen zum Verständnis von Weltentstehung und Schöpfung bei Kindern

In der »Ouvertüre« zum ersten Band des 2002 begründeten Jahrbuchs für Kindertheologie beschreibt Anton A. Bucher einige »Bausteine« des kindertheologischen Ansatzes: Kinder als Produzenten von Gottesbildern, als Ausleger biblischer Texte, als Interpreten von Kontingenz – und als Schöpfungstheologen und Kosmologen.1 Der letztgenannte Baustein verspricht besondere Spannung: Immerhin wachsen Kinder heute in einer Welt auf, in der sie fortlaufend auf technische Errungenschaften im Großen wie im Kleinen stoßen, und sie begegnen, insbesondere medial vermittelt, einem naturwissenschaftlich geprägten Weltbild. Damit haben religiöse Vorstellungen bzw. der Gedanke eines Schöpfergottes von vornherein keinen leichten Stand, ganz abgesehen davon, dass sich das christliche Bekenntnis zum Schöpfergott aufgrund seiner theologischen bzw. metaphysischen Implikationen nicht ohne Weiteres erschließt. Wie stellen sich Kinder angesichts dieser lebensweltlichen Bedingungen die Entstehung der Welt vor? Dieser großen Frage versuchten wir uns durch eine kleine qualitative Studie2 zu nähern – gedacht als Exemplum und angelegt als mögliche Vorstudie für weitere qualitative oder quantitative Untersuchungen. Dazu hatten sich Schülerinnen und Schüler einer fünften Klasse des WillibaldGymnasiums Eichstätt, die den katholi-

schen Religionsunterricht besuchten, als Probandinnen und Probanden zur Verfügung gestellt. Im Folgenden gehen wir zunächst auf einige entwicklungspsychologische Befunde zur Entwicklung des Weltbildes und des Schöpfungsverständnisses bei Kindern und Jugendlichen ein (1). Wir geben dann Auskunft über das Design und die Realisierung unserer Studie »Wie stellen sich Kinder die Entstehung der Welt vor« (2) und erläutern den bei der Auswertung der Daten zugrunde gelegten Theorieansatz, die Grounded Theory (3). In zwei Abschnitten stellen wir verschiedene Resultate unserer Untersuchung vor: Kategorien zur Klassifizierung der unterschiedlichen Vorstellungen der Kinder über den Ursprung der Welt (4) sowie weiterführende Einsichten, die wir aus Querschnittsanalysen gewinnen konnten (5). Wir nehmen dann nochmals

1 Vgl. Anton A. Bucher, Kindertheologie: Provokation? Romantizismus? Neues Paradigma?, in: JaBuKi 1 (2002), 9–27, 16–21. 2 Diese bildet den Schwerpunkt der BA-Arbeit »Zwischen biblischem Schöpfungsglauben und naturwissenschaftlicher Welterklärung. Wie stellen sich Kinder die Entstehung der Welt vor?« von Christine Mohr, die im Rahmen des von Ulrich Kropac`´ und Klaus König geleiteten BA-/MA-Kollegs »Religion – Religiosität – Religionspädagogik« an der Katholischen Universität Ingolstadt-Eichstätt entstanden ist.

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den anfangs ausgelegten entwicklungspsychologischen Faden auf, indem wir auf der Basis der uns vorliegenden Texte nach der Reichweite anerkannter Untersuchungen zur Weltbildentwicklung und zum Schöpfungsverständnis bei jungen Menschen fragen (6). Mit einer Zusammenfassung und einem Ausblick beschließen wir unsere Überlegungen zu Kindern als Kosmologen und Schöpfungstheologen (7).

1. Weltbildentwicklung und Schöpfungsverständnis bei Kindern und Jugendlichen: entwicklungspsychologische Gesichtspunkte Das Lebensalter der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an unserer Studie betrug zwischen zehn und zwölf Jahren. Die Schülerinnen und Schüler befanden sich damit am Ende der Kindheit und an der Schwelle zum Jugendalter. Im Blick auf die Entwicklung des Weltbildes und des Schöpfungsverständnisses sind daher beide Phasen kurz zu reflektieren.3

1.1 Unreflektiertes artifizialistisches Schöpfungsverständnis im Kindesalter Typisch für Kinder im Alter von fünf bis ca. dreizehn Jahren, die in einem religiös geprägten Umfeld aufgewachsen sind, ist die Vorstellung, dass die Welt von Gott im Sinne eines fabrikatorischen Tuns geschaffen wurde.4 Wie ein Handwerker Artefakte herstellt, so hat Gott die Welt mitsamt den Lebewesen gemacht. Diese Sicht wird als unreflektiertes artifizialistisches Schöpfungsverständnis bezeichnet. Es impliziert eine einheitliche und kohärente Wirklichkeitsauffassung. Eine dif-

ferenzierte Analyse lässt drei Entwicklungsstadien erkennen: – Im Entstehungsstadium umfasst die Schöpfertätigkeit Gottes sowohl den Bereich der Natur als auch den Bereich der Artefakte; – im Hauptstadium begrenzen Kinder den Schaffensbereich Gottes auf die Natur. Die Artefakte werden nun als Produkte menschlichen Tuns angesehen; – das Auflösungsstadium ist durch ein Eindringen naturwissenschaftlicher Modelle der Welt- und Lebensentstehung gekennzeichnet. In dem Maße, in dem Kinder mit naturwissenschaftlichen Theorien bekannt gemacht werden, schränken sie die Schöpfermacht Gottes ein. Mit der Kenntnis der Urknalltheorie wird die Entstehung des Universums dem göttlichen Wirkungsbereich entzogen; dieser bleibt nur mehr auf das Lebendige beschränkt. Lernen Kinder die Evolutionstheorie kennen, ist für sie das schöpferische Wirken Gottes auch für den Bereich des Lebendigen nicht mehr denknotwendig. Etwa im Alter von zehn bis dreizehn Jahren bildet sich bei ihnen die Vorstellung von einer Welt, in der sich alles »von selbst« entwickelt hat.

3 Vgl. hierzu die grundlegende Studie: Reto L. Fetz / Karl H. Reich / Peter Valentin, Weltbildentwicklung und Schöpfungsverständnis. Eine strukturgenetische Untersuchung bei Kindern und Jugendlichen, Stuttgart u.a. 2001; ferner: Ulrich Kropac`´, Naturwissenschaft und Theologie – eine spannungsreiche Beziehung im Horizont religiöser Bildung, in: rhs 47 (2004) 101–114, 103 f. 4 Vgl. Fetz/Reich/Valentin, Weltbildentwicklung und Schöpfungsverständnis (wie Anm. 3), 167–182.

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Diese drei Stadien innerhalb des unreflektierten artifizialistischen Schöpfungsverständnisses beschreiben zum einen eine zeitliche Abfolge. Sie stellen zum anderen die Momente einer mit innerer Folgerichtigkeit verlaufenden Entwicklung des kindlichen Verständnisses von der Entstehung der Welt dar.

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Entscheidend für den Übergang von einem unreflektierten zu einem reflektierten Welt- und Gottesbild bei Heranwachsenden ist die Ausbildung der Fähigkeit, die Mittel des Denkens zum Gegenstand des Denkens selbst zu machen.

2. Design und Durchführung der Studie

1.2 Reflektiertes Weltbild im Jugendalter Kennzeichnend für die Weltbildentwicklung bei Jugendlichen ist ihr radikaler Bruch mit dem kindlichen Weltbild. Lässt sich die Entwicklung des kindlichen Weltverstehens als ein verhältnismäßig kohärenter und stetiger Vorgang beschreiben, vollzieht sich der Übergang zum Weltbild von Heranwachsenden als ein tiefgreifender Transformationsprozess. Zwei Elemente seien genannt:5 – Übergang von der Objekt- zur Mittelreflexion: Das Erkenntnisinteresse Heranwachsender gilt nicht mehr nur bestimmten Gegenständen, sondern auch – darin liegt der entscheidende Fortschritt – den eigenen denkerischen Mitteln, mit deren Hilfe jene bislang wahrgenommen und beurteilt wurden; – naturalistisches Weltbild: Im Übergang vom Kindes- zum Jugendalter wird das unreflektierte artifizialistische Schöpfungsverständnis abgeworfen und durch ein naturalistisches Weltbild ersetzt. Das Prädikat »naturalistisch« drückt dabei zum einen die durchgehende Prägung dieses Weltbildes durch naturwissenschaftliche Theorien aus. Es ist zum anderen eine begriffliche Verdichtung der Auffassung, dass die Welt eine eigenständige, sich selbst organisierende Wirklichkeit ist.

Die Frage nach der Entstehung der Welt zählt zu den großen Fragen der Menschheit. Nicht weniger ist sie eine große Frage individuellen Menschseins. Bereits im Alter von vier Jahren fangen Kinder an, nach dem Ursprung der Welt zu fragen. Ihre Suche nach Antworten vollzieht sich in einem aktiven Prozess. Wenn ein Kind die Frage nach dem Anfang der Welt beispielsweise seinen Eltern stellt, hat es sich bereits vorher mit ihr beschäftigt. »Von daher ist das Aufkommen der Frage als Teil eines Beobachtungs- und Reflexionsprozesses zu verstehen, der lange vor dem Zeitpunkt der Fragestellung begonnen hat und zu diesem Zeitpunkt bereits erste, vorläufige Ergebnisse erzielt hat.«6 Die Frage nach der Entstehung der Welt kann wissenschaftstheoretisch in zwei unterschiedlichen Horizonten reflektiert werden, dem religiösen und dem naturwissenschaftlichen. Wie Kinder sich die-

5 Vgl. dazu ausführlicher ebd., 247–273. 6 Regina Radlbeck-Ossmann, »Wie hat Gott das eigentlich genau gemacht, als er die Welt erschaffen hat?« Kinder fragen nach dem Anfang der Welt. In: Hanspeter Heinz / Manfred Negele / Manfred Riegger (Hg.), Im Anfang war der Urknall!? Kosmologie und Weltentstehung. Naturwissenschaft und Theologie im Gespräch, Regensburg 2005, 184–201, 186.

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sem Problem nähern, sollte exemplarisch in einer fünften Klasse des WillibaldGymnasiums Eichstätt exploriert werden.7 Sie zählte zum Erhebungszeitpunkt (Juni 2011) 24 Schülerinnen und Schüler im Alter von zehn bis zwölf Jahren, davon sechzehn Jungen und acht Mädchen, die den katholischen Religionsunterricht besuchten. Durch die Wahl einer entwicklungspsychologischen Schwellensituation sollte mit Absicht eine Situation aufgenommen werden, in der Kinder in besonderer Weise herausgefordert sind, religiöse Vorstellungen und naturwissenschaftliche Wissensbestände im eigenen Weltbild zu koordinieren. Dem gleichen Ziel diente die Wahl einer gymnasialen Klasse; es wurde nämlich angenommen, dass solche Schülerinnen und Schüler mehr Gelegenheit hatten als Kinder anderer Bildungsschichten, naturwissenschaftliches Wissen zu rezipieren, was für sie die Frage nach der Vereinbarkeit naturwissenschaftlicher Sachverhalte und religiöser Vorstellungen verschärft.

2.1 Vorbereitungen Die Studie wurde bewusst nicht im Religionsunterricht, sondern in einer Deutschstunde durchgeführt, um einen neutralen Rahmen zu schaffen und möglichst der Gefahr zu entgehen, dass die Schülerinnen und Schüler Lerninhalte aus dem Fach Religion wiedergeben, von denen sie meinen, der Lehrer wolle diese hören, anstatt ihre eigenen Vorstellungen zu formulieren. Während der Erhebung war außer den Schülerinnen und Schülern nur die Forschende (Christine Mohr) anwesend. Auf diese Weise sollten zum einen Irritationen der Befragten aufgrund der Präsenz anderer Personen ver-

mieden werden, zum anderen sollte das Arrangement so beschaffen sein, dass nicht der Eindruck von Leistungsdruck und Kontrolle entsteht. Außerdem fand die Untersuchung in einem großen Raum statt, in dem sich die Kinder großzügig verteilen konnten. Die Schülerinnen und Schüler konnten so in Ruhe ihren eigenen Gedanken nachgehen; außerdem bestand keine Gefahr, dass Gedanken des Banknachbarn übernommen würden. Zu Beginn der Unterrichtsstunde stellte sich die Forschende kurz vor. Dabei ging sie auf ihre Person ein und gab einen kurzen Überblick über ihren Lebenslauf. Sie beschrieb dann ihr Anliegen, eine Untersuchung über die Vorstellungen von Kindern über die Entstehung der Welt durchzuführen: »Ich denke schon seit Längerem darüber nach, wie sich wohl Kinder die Entstehung der Welt vorstellen. Aus diesem Grund bin ich heute bei euch und benötige eure Hilfe. Wenn ihr mir eure Gedanken sagt bzw. aufschreibt, kann ich etwas Neues herausfinden. Es ist wichtig, dass jeder seine eigenen Gedanken niederschreibt – jeder für sich. Ihr könnt dabei nichts falsch machen, denn bei dieser Fragestellung gibt es kein Richtig oder Falsch! Bitte hört mir jetzt genau zu, was ich heute mit euch vorhabe und was ihr tun müsst, um mir zu helfen!«

Um den Schülerinnen und Schülern zu signalisieren, dass in den nächsten 45 Minuten der Fokus nicht auf der Erbringung von benoteten Leistungen, sondern auf der Formulierung eigener Vorstellungen

7 Verschiedene Anregungen zur Vorbereitung und Durchführung der Studie verdanken sich folgendem wichtigen Buch: Eva M. Stögbauer, Die Frage nach Gott und dem Leid bei Jugendlichen wahrnehmen. Eine qualitativempirische Spurensuche, Bad Heilbrunn 2011.

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liegen sollte, wurde folgender Impuls gegeben: »Packt eure Bücher und Hefte in die Schultasche, lehnt euch ganz entspannt zurück, macht es euch bequem und lasst euren Gedanken freien Lauf.«

Die Einstimmungsphase diente dazu, die Innenkonzentration der Schülerinnen und Schüler zu stärken und ihre Bereitschaft zu freier Assoziation zu erhöhen.

2.2 Clustering Der nächste Schritt bestand darin, ein Cluster zu erstellen. Diese Methode stellt ein nichtlineares Verfahren des Brainstormings dar, das von Gabriele L. Rico entwickelt wurde. Es soll vielfältigen Ideen, Vorstellungen, Erinnerungen, Einfällen Raum geben und einen zwanglosen Schreibprozess anstoßen. Das Verfahren wurde den Schülerinnen und Schülern zunächst anhand eines neutralen Beispiels (»Was bedeutet für dich Urlaub?«) nahe gebracht.

2.3 Impulsfrage Im Anschluss daran wurde der eigentliche Impuls gegeben. Dieser lautete:

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zehn Minuten Zeit nehmen. Jedes Kind erhielt ein farbiges DIN A3-Blatt – erneut ein unaufdringlicher Hinweis, dass sich diese Stunde vom gewöhnlichen Schulalltag unterscheidet.

2.4 Textproduktion Nach Fertigstellung des Clusters galt es, daraus einen Text zu generieren: »Du sollst nun deine Gedanken, die du beim Clustering gesammelt hast, zu einem Text ausformulieren! Versuche dich zu konzentrieren und baue möglichst viele Elemente deines Clusters in den Text ein!«

Diese Phase erstreckte sich ebenfalls über etwa zehn Minuten. Für Schülerinnen und Schüler, die früher fertig waren, lag interessanter Lesestoff bereit, damit die noch arbeitenden Kinder nicht gestört würden. Am Ende der Stunde wurden die Schülerinnen und Schüler gebeten, ihr Geschlecht und ihr Alter auf das DIN A3-Papier zu schreiben. Die Rolle der Forschenden beschränkte sich darauf, Anweisungen zu geben. Ohne die befragten Schülerinnen und Schüler zu beeinflussen, informierte sie lediglich über die jeweils anstehenden Arbeitsschritte.

»Was meinst du, wie ist die Welt entstanden?«

Diese Formulierung wurde aus folgenden Gründen gewählt: Der erste Teil der Frage spricht jedes Kind persönlich an; die Wie-Frage wirkt neutral, sie lenkt die Gedanken weder in eine religiöse noch in eine naturwissenschaftliche Richtung; außerdem bietet sie gute Assoziationsmöglichkeiten. Die Schülerinnen und Schüler konnten sich für das Erstellen des Clusters ca.

3. Theoretisches Gerüst der Datenauswertung: die Grounded Theory Die Auswertung des erhobenen Datenmaterials erfolgte mit Hilfe der Grounded Theory. Weil sie die entscheidende theoretische Bezugsgröße unserer Studie darstellt, soll dieses qualitative Verfahren in zwei Abschnitten kurz umrissen werden.

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3.1 Grundzüge der Grounded Theory Die Grounded Theory geht auf Arbeiten der beiden US-amerikanischen Soziologen Anselm L. Strauss und Barney G. Glaser in den 1960er Jahren zurück.8 Sie ist »eine qualitative Forschungsmethode bzw. Methodologie, die eine systematische Reihe von Verfahren benutzt, um eine induktiv abgeleitete, gegenstandsverankerte Theorie über ein Phänomen zu entwickeln. Die Forschungsergebnisse konstituieren eine theoretische Darstellung der untersuchten Wirklichkeit, anstatt aus einer Anhäufung von Zahlen oder einer Gruppe locker verbundener Themen zu bestehen. […] Das Ziel der Grounded Theory ist das Erstellen einer Theorie, die dem untersuchten Gegenstandsbereich gerecht wird und ihn erhellt.«9

Die Grounded Theory zielt also nicht nur darauf, einen Einzelfall der sozialen Wirklichkeit zu erhellen, sondern auch auf theoretische Erkenntnis. Sie trägt dazu bei, eine Theorie aufzustellen oder bestehende Theorien zu erweitern bzw. einzuschränken. Strauss und Glaser verfolgten die Intention, den Gegensatz zwischen Theorie und empirischer Wissenschaft durch die Grounded Theory zu überwinden. Die Grounded Theory wird heute in vielen Bereichen angewandt. Fand sie ursprünglich vor allem in der soziologischen Forschung Anklang, wird sie mittlerweile auch in Disziplinen wie Pädagogik und Psychologie eingesetzt. Besonders geeignet ist die Grounded Theory für Untersuchungen, die sich mit einer engen begrenzten Fragestellung beschäftigen. Sie erlaubt »eine Gleichzeitigkeit von Datensammlung und -analyse sowie die prinzipielle Offenheit gegenüber dem Datenmaterial«10. Ein weiterer Vorteil

der Grounded Theory ist die Flexibilität, die der Forschende dem Datenmaterial entgegenbringen darf bzw. muss. Das Besondere an der Grounded Theory ist, dass sie während des Forschungsprozesses eine Theorie entstehen lässt. Immer wieder werden Vergleiche zwischen den Konzepten, die erarbeitet werden, und den vorliegenden empirischen Daten angestellt. Daraus muss der Forschende sogenannte Kategorien erstellen. Bei dieser Vorgehensweise ist es wichtig, dass auf der Basis einzelner und vergleichender Beobachtungen Hypothesen formuliert werden, die ständiger Reflexion und gegebenenfalls, wenn sich diese Vermutungen nicht bestätigen, Veränderungen unterliegen. Dazu ist ein kritischer und reflektierender Blick des Forschers auf die gewonnenen Ergebnisse nötig, das heißt, er muss seine Behauptungen und Vorannahmen permanent prüfen und kritisch hinterfragen. Jedes Interpretationsergebnis ist als vorläufig anzusehen und darf keinen Anspruch auf Letztgültigkeit oder sogar Wahrheit erheben. Das bedeutet, dass die Hypothesen ständig verändert werden, was man als Fluidität bezeichnet.

8 Vgl. hierzu ebd., 146–150; Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern. Untersuchungen zur Professionalisierung Studierender und Anstöße zu forschendem Lernen im Religionsunterricht, Stuttgart 2007, 100–102. 9 Anselm L. Strauss / Juliet Corbin, Grounded Theory. Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Weinheim 1996, 8 f. 10 Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern (wie Anm. 8), 100.

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3.2 Dreischrittiges Kodierverfahren Die Auswertung von Daten erfolgt bei der Grounded Theory durch ein Kodierverfahren, das sich in drei Schritte gliedern lässt. Man unterscheidet zwischen offenem, axialem und selektivem Kodieren:11 (1) Offenes Kodieren Das offene Kodieren soll zu einer Konzeptualisierung und schließlich zu einer Bildung von Kategorien führen. Dazu wird jeder Text in einzelne Sinneinheiten untergliedert. Jede Einheit wird mit einer hochgestellten Zahl markiert. In einer Fußnote hält der Forscher seine Interpretation der Äußerungen fest. Daraus werden Konzepte entwickelt. Diese Konzepte sollen durch Vergleiche bezüglich der Gemeinsamkeiten, aber auch besonders bezüglich der Unterschiede zu Kategorien verarbeitet werden, die dann benannt und nach spezifischen Merkmalen geordnet werden. Der Forschende kann bei diesem Vorgang entweder eine eigene Bezeichnung für die Kategorien wählen oder einen bekannten wissenschaftlichen Oberbegriff verwenden oder auf einen geeigneten Begriff aus dem Datenmaterial zurückgreifen. (2) Axiales Kodieren In dieser Phase werden die Daten miteinander verbunden und in Beziehung gesetzt, indem sogenannte Min-MaxVergleiche angestellt werden. Das bedeutet, dass vor allem die Texte, die sich nur sehr wenig oder aber sehr stark voneinander unterscheiden, nebeneinander gestellt und miteinander verglichen werden. Auf diese Weise können Zusammenhänge und Unterschiede zwischen den vorher erarbeiteten Kategorien herausgestellt

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werden. Dadurch wird es möglich, Hypothesen zu formulieren und Annahmen zu stützen bzw. zu widerlegen. Bei dieser Phase des Kodierens stellt der Forscher eine Vergleichsmatrix auf. Dabei werden sogenannte formale Ordnungs- oder Oberkategorien gebildet und diese wiederum in Subkategorien aufgeteilt. (3) Selektives Kodieren Die letzte Phase des Kodierens stellt das selektive Kodieren dar. Hier werden die herausgearbeiteten Kategorien zu einer Grounded Theory zusammengefügt. Der Forschende eröffnet nun in Form einer zusammenfassenden Theorie die Hauptlinien seines Forschungsbereiches. Anschließend versucht er eine Hauptkategorie, die sogenannte Schlüsselkategorie (»core category«), herauszubilden, die den Kern der Forschungsfrage trifft. Manchmal lässt sich dies nicht auf eine einzige Kategorie beschränken. In diesem Fall ist es auch möglich, mehrere Oberkategorien in die Theorie mit einzuschließen. Die drei Kodierphasen müssen nicht in der dargestellten Reihenfolge durchlaufen werden. In der Praxis wird der Forschende während des triadischen Kodierverfahrens oft zwischen den verschiedenen Kodierphasen hin- und herpendeln. Während des Auswertungsprozesses entstehen Memos, »in denen [vom Forschenden] die Kodierungen der Einzeltexte und ihre empirischen Indikatoren festgehalten (Kode-Notiz), zusammen11 Vgl. Stögbauer, Die Frage nach Gott und dem Leid bei Jugendlichen wahrnehmen (wie Anm. 7), 150–189; Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern (wie Anm. 8), 103–105.

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fassende Schlussfolgerungen gezogen (theoretische Notiz), überraschende Entdeckungen dokumentiert, Schwierigkeiten und Probleme notiert (reflexive Notiz) sowie weiterführende Analyseschritte angedacht (Planungs-Notiz)«12 werden. Die Memos helfen dabei, einzelne Kategorien herauszuarbeiten.

4. Kategoriensystem der Studie und Beispieltexte Die über einen Impuls angestoßene offene Form der schriftlichen Befragung erbrachte 24 ganz unterschiedliche Texte, die mit Hilfe der Grounded Theory ausgewertet wurden. Wir stellen zunächst die im Kodierungsprozess (»axiales Kodieren«) herausgearbeiteten Ober- und Unterkategorien vor und präsentieren dann einige Beispieltexte.

4.1 Formale Ober- und Unterkategorien Bei der Textanalyse kristallisierten sich drei Hauptkategorien heraus: das »Schöpfergott-Modell«, das »Patchwork-Modell« und das »Kosmologische Modell«. Diese ließen sich durch Unterkategorien weiter auffächern. (1) »Schöpfergott-Modell« Die Kategorie spiegelt den Glauben an einen Schöpfergott wider. Zu ihr zählen lediglich drei der 24 Texte. Die Oberkategorie zerfällt in zwei Subkategorien: 1. »Alleinige Schöpfungstätigkeit Gottes«: Die erste Schöpfungserzählung in Gen 1,1–2,4a wird wörtlich verstanden (oder wiedergegeben?), nämlich als Bericht, wie Gott die Welt in sieben Tagen erschaffen habe.

2. »Schöpfungstätigkeit Gottes und Eigenaktivität von Natur und Mensch«: Gott ist Schöpfer der Welt; diese entwickelt sich dann selbstständig weiter und wird durch den Menschen gestaltet. (2) »Patchwork-Modell« Diese Kategorie versammelt Welterklärungen, die sowohl naturwissenschaftliche als auch biblische Elemente beinhalten und diese miteinander vermischen; daher die Bezeichnung »PatchworkModell«. Acht von 24 Schülerinnen und Schülern sind ihr zuzuordnen. In dieser Rubrik finden sich teilweise sehr originelle und eigenwillige Konstrukte. Folgende drei Subkategorien wurden ermittelt: 1. »Gott als Auslöser des Urknalls«: Ursache für die Entstehung der Welt ist der Urknall, den Gott ausgelöst hat (dabei werden teilweise Urknall und Evolution miteinander verbunden). 2. »Gott als Auslöser des Urknalls und Schöpfer der Welt«: Gott ist sowohl Auslöser des Urknalls als auch Schöpfer der Welt. 3. »Naturwissenschaftliche Erklärung der Weltentstehung und Schöpfertätigkeit Gottes«: Der Ursprung der Welt wird naturwissenschaftlich erklärt, und zwar ohne Urknalltheorie; gleichzeitig tritt Gott als Schöpfer auf. (3) »Kosmologisches Modell« Die dritte Gruppe, der etwas mehr als die Hälfte der Texte – genauer: 13 von 24 – angehört, bietet ausschließlich auf die

12 Stögbauer, Die Frage nach Gott und dem Leid bei Jugendlichen wahrnehmen (wie Anm. 7), 193.

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Übersicht: Kategorien, Subkategorien, Anzahl der jeweiligen Texte Formale Ordnungskategorie Subkategorien Schöpfergott-Modell Alleinige Schöpfungstätigkeit Gottes 3 1 Schöpfungstätigkeit Gottes und Eigenaktivität von Natur und Mensch 2 Patchwork-Modell 8

Gott als Auslöser des Urknalls 2 Gott als Auslöser des Urknalls und Schöpfer der Welt 2 Naturwissenschaftliche Erklärung der Weltentstehung und Schöpfertätigkeit Gottes 4

Kosmologisches Modell 13

Naturwissenschaftliche Erklärung der Weltentstehung 9 Naturwissenschaftliche Erklärung der Weltentstehung und Distanz zu Gott 4

Naturwissenschaften zurückzuführende Erklärungen der Weltentstehung. Sie wird als »Kosmologisches Modell« bezeichnet. Es lassen sich zwei Subkategorien ausmachen: 1. »Naturwissenschaftliche Erklärung der Weltentstehung«: Die Entstehung der Welt wird in naturwissenschaftlichen Kategorien geschildert, wobei teils die Urknalltheorie, teils die Evolutionstheorie, teils beide herangezogen werden. 2. »Naturwissenschaftliche Erklärung der Weltentstehung und Distanz zu Gott«: Eine rein naturwissenschaftliche Welterklärung wird mit Aussagen über Gott verbunden, in denen der Gottesglaube allerdings nur mehr als Zitat erscheint, in Auflösung begriffen ist oder zurückgewiesen wird.

4.2 Beispieltexte Im Folgenden wird je ein Text aus den drei Hauptkategorien vorgestellt.13 Sie werden dann miteinander verglichen, um Gemeinsamkeiten und Differenzen zu verdeutlichen. (1) Kategorie »Schöpfergott-Modell«; Subkategorie: »Alleinige Schöpfungstätigkeit Gottes« »Gott hat am ersten Tag die Welt erschaffen. Am zweiten Tag schuf er die Menschen und die Tiere. Am dritten Tag schuf er das Wasser und die Pflanzen. Am vierten schuf er die Berge. Am

13 Alle im Weiteren zitierten Texte werden im Original, d.h. einschließlich orthographischer und stilistischer Fehler, wiedergegeben.

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fünften Tag schuf er die Luft. Am sechsten schuf er das Land und am siebten Tag betrachtete er sein Meisterwerk.«

Ausgangspunkt für die Kosmogonie des elfjährigen Jungen ist die erste biblische Schöpfungserzählung. Darauf verweist unmittelbar das Sieben-Tage-Schema. Diese Tagzählungsformel bringt er in eine eigene Reihenfolge und integriert dabei neue Schöpfungswerke wie Berge und Luft. Besonders hervorgehoben wird die alleinige Schöpfermacht Gottes, ausgedrückt durch die sechsfache Wiederholung des Wortes »schaffen«. Gott wird folglich als aktiver und mächtiger Schöpfer gezeichnet, der sowohl die unbelebte als auch die belebte Natur erschafft. Die Schöpfung wird mit dem von dem Jungen selbst gewählten Begriff »Meisterwerk« bezeichnet. Falls er in diesem Text tatsächlich seine persönliche Meinung (und nicht auswendig Gelerntes!) wiedergibt, befindet er sich im Entstehungsstadium des unreflektierten Schöpfungsverständnisses. Sein Glaube ist »mythisch-wortgetreu«, was der zweiten Stufe des von James W. Fowler aufgestellten Stufenmodells zur Glaubensentwicklung entspricht. (2) Kategorie »Patchwork-Modell«; Subkategorie »Gott als Auslöser des Urknalls und Schöpfer der Welt« »Gott ließ einen Planeten explodieren. Das war ein lauter Knall, der Urknall. Das Grundgerüst ist der Erdkern der von Feuer / Lava umringt ist. Danach schuff Gott die Elemente.«

Der zwölfjährige Schüler verknüpft naturwissenschaftliche mit theologischen Aussagen, genauer gesagt: Er verbindet die Urknalltheorie mit dem schöpferischen Wirken Gottes. Für ihn stellt der

Urknall den Anfang der Welt dar. Diesen löste Gott aus, indem er einen Planeten explodieren ließ. Nach der Beschreibung des Urzustandes der Erde mit einem heißen Erdkern wechselt er auf die theologische Ebene, indem er die Entstehung der Elemente der Schöpfermacht Gottes zuschreibt, ohne in diesem Übergang ein Problem zu sehen. Der Junge scheint Naturwissenschaft und Schöpfung als Größen aufzufassen, die sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern zusammenzudenken sind. (3) Kategorie »Kosmologisches Modell«; Subkategorie »Naturwissenschaftliche Erklärung der Weltentstehung« »Die Erde entstand durch den Urknall. Aus Bakterien wurden schließlich erste Tiere bis nach Jahrmillionen wir Menschen uns aus dem Affen entwickelten. Die Erde veränderte sich bis heute und wird irgendwann auch wieder anders aussehen. Wir Menschen holzen den Urwald ab, wodurch wir einige Tierarten bedrohen und ausrotten. Es gibt, gab und wird verschiedene Zeiten geben, wie z.B. die Steinzeit mit Mammuts. Diese sind ausgerottet worden.«

Dieser Text erklärt die Entstehung der Welt ausschließlich naturwissenschaftlich. Die Existenz der Erde ist nach Meinung der Autorin auf den Urknall zurückzuführen. Es schließt sich die Evolutionstheorie an, die sehr vereinfacht dargestellt ist. Das Mädchen beschreibt das Aufkommen des ersten Lebens bis zur Entwicklung des Menschen. Dass der Evolutionsprozess bis heute andauert, erwähnt die elfjährige Schülerin als einzige in ihrer Klasse. Ihr ist bewusst, dass es immer Arten geben wird, die vom Aussterben bedroht sind, ohne dass sie Gründe wie Veränderung der Umweltbedingungen, Naturkatastrophen oder Verdrängung schwächerer durch stärkere

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Arten nennt. Sie macht aber darauf aufmerksam, dass der Mensch für die Bedrohung und Ausrottung mancher Arten verantwortlich ist. Damit greift sie ein aktuelles Thema auf. Insgesamt ist erkennbar, dass das Mädchen ein beträchtliches Wissen über den Evolutionsprozess besitzt.

Gruppen; diese beziehen sich auf die naturwissenschaftlichen Kenntnisse der Schülerinnen und Schüler, ihre Äußerungen zum biblischen Schöpfungsglauben und Spannungen zwischen einer naturwissenschaftlichen Welterklärung und dem Glauben an einen Schöpfergott.

(4) Vergleich Während der Autor des ersten Textes einen an der biblischen Schöpfungsgeschichte orientierten Glauben zeigt (nochmals: vorausgesetzt, der Text gibt tatsächlich seine Überzeugung wieder!), ist beim Verfasser des zweites Textes ein anderer Denkansatz zu beobachten: Er ist bereits in Kontakt mit der Urknalltheorie gekommen. Den Urknall stellt er als von Gott geplant und ausgelöst dar, ebenso beschreibt er die Elemente als Schöpfungswerk Gottes. Es ist ihm möglich, die Schöpfungsvorstellung und naturwissenschaftliche Erkenntnisse bruchlos zusammenzufügen. Der Junge, der den ersten Text verfasst hat, geht dagegen von einer Welt aus, die einzig und allein Gott ins Leben gerufen und gestaltet hat, sozusagen von einer Creatio ex nihilo. Im Vergleich zu diesen beiden Texten fehlt Gott beim dritten Text ganz. Die Schülerin verfügt über gute naturwissenschaftliche Kenntnisse, und sie geht von einer Entstehung der Welt ohne Zutun Gottes aus. Wie es scheint, hat sich das Mädchen bereits vom Kinderglauben gelöst.

5.1 Beobachtungen zu den naturwissenschaftlichen Kenntnissen

5. Weitere Ergebnisse der Studie Die vorliegenden Texte wurden einer Querschnittsanalyse unterzogen, die verschiedene Einsichten lieferte (»selektives Kodieren«). Wir unterteilen sie in drei

Bei der untersuchten Schülergruppe spielten naturwissenschaftliche Kenntnisse eine große Rolle. Dieser Befund lässt sich näher wie folgt aufschlüsseln: (1) Dominanz des kosmologischen Modells Bei der Auswertung der 24 Texte fiel auf, dass etwas mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler ausschließlich mit naturwissenschaftlichen Kategorien auf die Frage nach der Entstehung der Welt geantwortet hatte. Darunter ist wiederum eine Verknüpfung von Urknall- und Evolutionstheorie das bevorzugte Modell. Wie ist die Dominanz eines rein naturwissenschaftlichen Ansatzes zu erklären? Ein Grund wird wohl in der nachlassenden direkten religiösen Erziehung durch das Elternhaus liegen. Gewichtiger noch dürfte ein anderes Phänomen sein: die mediale Präsenz naturwissenschaftlicher Themen, allen voran in Form von Wissensdokumentationen, die Schülerinnen und Schülern durch das Fernsehen zugänglich sind. Schließlich ist zu bedenken, dass der Lehrplan für bayerische Gymnasien die Behandlung der Schöpfungsthematik und der beiden Schöpfungserzählungen des Alten Testaments erst für die achte Jahrgangsstufe vorsieht.

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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke

(2) Hoher Bekanntheitsgrad der Urknallund der Evolutionstheorie Mit der ersten Beobachtung hängt die zweite eng zusammen. Bei der Befragung gingen 13 von 24 Kindern explizit auf die Urknalltheorie ein. Allerdings lassen sich hier unterschiedliche Auffassungen feststellen: So verstehen manche Schülerinnen und Schüler den Urknall wörtlich – als handele es sich hierbei um einen lauten bzw. »großen Knall«. Andere denken an einen »Planetencrash«. Etwa die Hälfte der Befragten spielt auf die Evolution an. Meist ist diese nur angedeutet mit Begriffen wie »Entwicklung«, »Vermehrung« oder »Veränderung«. In manchen Texten wird stärker auf die Evolutionstheorie zurückgegriffen, etwa wenn von einem Schüler vermerkt wird, dass sich der Mensch aus dem Affen entwickelt habe. Teilweise werden Urknall- und Evolutionstheorie miteinander verknüpft, wobei beachtliche Detailkenntnisse zum Vorschein kommen. Ein Beispiel: »Vor sehr langer Zeit gab es einen riesigen Knall mitten im Nichts. Diesen Knall nannte man Urknall. Durch eine Mischung von Quark, Neutronen … entstand ein Planet. Auf diesem Planeten gab es nichts als Lava und Vulkane. Als die Vulkane aufhörten Lava zu spucken, verhärtete die Lava. und ein Steiniger Planet entstand. Eiskometen stürzten auf die Erde und schmolzen. So entstanden die Ozeane. Daraus entstanden die ersten Lebewesen (wegen den Bakterien). Diese Lebewesen gingen an Land und entwickelten sich bis zum Menschen.«

Der Text stammt von einem elfjährigen Jungen. In ihm mischt sich bemerkenswertes physikalisches Wissen etwa hinsichtlich der Elementarteilchen mit individuellen Vorstellungen. So scheint der Schüler den Urknall wörtlich zu verstehen: als »riesigen Knall«. Ebenso bie-

tet er für die Entstehung der Ozeane eine eigenwillige Theorie auf. Der Text spricht ausschließlich naturwissenschaftlich – Gott wird bei der Entstehung und Entwicklung der Welt und des Lebens keine Bedeutung beigemessen.

5.2 Beobachtungen zum biblischen Schöpfungsglauben Lediglich in einem einzigen Text wird die Frage nach der Entstehung der Welt unmittelbar mit der ersten biblischen Schöpfungserzählung beantwortet. Ansonsten finden sich aber zahlreiche Texte, in die biblische Vorstellungen eingewoben sind. (1) Sieben-Tage-Schema Die Tagzählungsformel mit sechs Tagen und einem Ruhetag, die auf die erste Schöpfungsgeschichte verweist, tritt mehrfach auf, sowohl in Texten der ersten Ordnungskategorie »Schöpfergott-Modell« als auch der zweiten, des »Patchwork-Modells«. In vier der 24 Texte ist explizit von der Erschaffung der Welt in sieben Tagen die Rede. In zwei weiteren Texten wird das Schema genannt, ohne dass darauf näher eingegangen würde. So spricht ein elfjähriges Mädchen von »5–7 Tagen«, was ebenfalls auf die Erschaffung der Welt durch Gott in sieben Tagen hinweist. Bei einer weiteren Schülerin tritt zwar das Sieben-Tage-Schema im Cluster auf, es kommt jedoch im ausformulierten Text nicht zur Sprache. Ein Viertel der Kinder greift also das Sieben-TageSchema auf. Bei der Nennung der sieben Tage, in denen die Welt erschaffen worden sein soll, spiegelt sich meist die erste Schöpfungsgeschichte wider. Welche Gründe

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gibt es für diese Präferenz? Aufgrund der Schematisierung in der ersten Schöpfungserzählung dürfte es leichter sein, sich an diese als an die zweite zu erinnern. Ein weiterer Grund könnte sein, dass sich die erste Schöpfungsgeschichte besser mit naturwissenschaftlichen Vorstellungen vereinbaren lässt. Denn wie der Mensch gemäß Gen 1,1–27 am sechsten Tag als letztes Schöpfungswerk erschaffen wird, so bildet er auch in den Naturwissenschaften das bisher letzte Glied der Evolution nach Pflanzen und Tieren. Teilweise werden in den Texten aber auch die Schöpfungswerke der ersten und der zweiten Schöpfungserzählung miteinander vermischt. (2) Gott als Ursache und Auslöser des Urknalls Soweit den Kindern naturwissenschaftliche Erkenntnisse zur Weltentstehung bekannt sind, führen sie diese, durchaus verquickt mit eigenen Gedanken, an. Dort aber, wo ihre Kenntnisse aufhören oder die Naturwissenschaften selbst an Grenzen stoßen, ziehen Schülerinnen und Schüler Gott als Erklärung heran. Dies fällt bei der Frage nach dem »Woher« des Urknalls besonders ins Auge. In der Kategorie »Patchwork-Modell« fungiert Gott als Auslöser des Urknalls. Ein zwölfjähriger Junge stellt sich die Entstehung der Welt folgendermaßen vor: »Gott ließ einen Planeten explodieren. Das war ein lauter Knall, der Urknall.« Ein anderer Schüler schreibt: »Gott hat den Urknall und damit das Weltall geschaffen. Danach hat er die Erde und alle Lebewesen geschaffen.«

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(3) Entstehung und Entwicklung der Welt durch planvolles Handeln oder durch Zufall? Bei den Texten der Kategorie »Schöpfergott-Modell« ist die Tendenz erkennbar, Schöpfung als Geschehen zu deuten, in dem ein göttlicher Heilsplan waltet. Die Zielgerichtetheit des Erschaffens der Welt durch Gott wird klar herausgestellt. In der Gruppe »Patchwork-Modell« vermischen die Kinder Zielgerichtetheit der Welt und Zufall in der Welt, wie sie es auch mit naturwissenschaftlichen und theologischen Aussagen über den Anfang der Welt machen. Innerhalb dieser Kategorie ist zum einen zu erkennen, dass Gott die Welt durch den Urknall ins Leben ruft und ihr Zielgerichtetheit verleiht, sie dann aber dem Zufall überlässt. Die Welt entwickelt sich durch den Evolutionsprozess selbst weiter. Zum anderen lässt sich auch die umgekehrte Reihenfolge feststellen: Die Welt ist einem zehnjährigen Jungen zufolge aus zufälligen Gegebenheiten entstanden, danach schafft Gott Meere, Natur, Tiere und Menschen. In der rein naturwissenschaftlichen Kategorie des »Kosmologischen Modells« vollziehen sich Entstehung und Entwicklung der Welt lediglich aus dem Zufall unterworfenen Umständen. Von einem bestimmten Ziel ist hier keine Rede. Ein Schüler betont sogar, dass sie »mit Glück und Pech« sowie »ohne Ziel auf Vollendung« entstanden sei und spricht so der Welt Zielgerichtetheit explizit ab.

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5.3 Spannungen zwischen naturwissenschaftlicher Welterklärung und Gottesglauben In der Kategorie »Kosmologisches Modell« fällt auf, dass vier Schüler die Weltentstehung naturwissenschaftlich begründen, sich dann aber auf Gott beziehen. Dies geschieht in verschiedener Weise: Der Gottesglaube wird nur mehr zitiert, ist im Auflösungsstadium begriffen oder wird sogar zurückgewiesen. Diese Äußerungen wurden zu der Subkategorie »Naturwissenschaftliche Erklärung der Weltentstehung und Distanz zu Gott« zusammengefasst. Bei ihnen wird deutlich, dass die Schülerinnen und Schüler ihren Kinderglauben nicht (mehr) mit naturwissenschaftlichen Erklärungen in Einklang bringen können. Sie befinden sich offenbar in einem Stadium, in dem sich ein naturalistisches Weltbild ausprägt hat. Vermutlich haben sie den Übergang von der Objekt- zur Mittelreflexion bereits durchlaufen, so dass sie in der Lage sind, ein reflektiertes Wirklichkeits- und Schöpfungsverständnis zu vertreten. Im Folgenden wird exemplarisch auf einen Text näher eingegangen. »Die Welt ist mit dem Urknall und mit der Hilfe der Sonne und Planeten (und anderen Sterne) entstanden. Geformt wurde sie von Pflanzen, Menschen und Tieren, sowie mit katastrofen, Krieg, unverstand und mit vielen Opfern. Aber auch mit Glück und Pech und den Tugenden Klugheit und Mut sowie: Fortschritt und Veränderung. Und sie wurde nicht auf die Tiere angepasst, sondern die Tiere passten sich selbst an. Die Welt wurde ohne ein Blick auf das mögliche Ende geschaffen und ohne Ziel auf Vollendung.«

Der elfjährige Schüler geht mit einem ganz anderen Ansatz an die Fragestellung »Was meinst du, wie ist die Welt entstan-

den?« heran als seine Mitschüler. Der Junge erwähnt zuerst den Urknall, durch den die Welt entstanden sei. Dann geht er dazu über, die Entwicklung des Lebens auf der Welt zu schildern. Er zählt Faktoren auf, die auf die Gestaltwerdung der Welt Einfluss genommen haben, wobei er die negativen vor den positiven aufführt. Aufhorchen lassen die beiden letzten Sätze, in denen drei Negationen auftauchen: Der Junge stellt – erste Negation – fest, dass sich die Tiere selbst an die Natur anpassten, nicht umgekehrt. Damit spielt er möglicherweise auf Darwins Grundsatz »Survival of the Fittest« an. Er breitet aber nicht nur Fachwissen über die Entstehung der Welt aus, sondern setzt gewissermaßen auch eine philosophische Brille auf, durch die er die Welt betrachtet. Ihn treiben Fragen nach dem Sinn und dem Ziel der Welt um. Damit befindet er sich auf einem höheren Reflexionsniveau als seine Klassenkameradinnen und -kameraden. Er macht deutlich – zweite Negation –, dass es kein definiertes Woraufhin des Weltprozesses (»ohne ein Blick auf das mögliche Ende geschaffen«) gibt. Dieser Gedanke wird verstärkt – dritte Negation –, indem die Vorstellung von Zielgerichtetheit bzw. Vollendung zurückgewiesen wird (»ohne Ziel auf Vollendung«). Vor allem in diesem Satz klingt eine Absage an den Gottesglauben durch. Durch das Wort »geschaffen« ist der Kinderglaube zwar noch in Umrissen erkennbar, ebenso durch das Nomen »Blick«, das eine Person voraussetzt, die vorausschauend handelt, doch wird er – wie hier deutlich zu erkennen ist – durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse überschrieben und abgelöst.

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6. Ergebnisse der Studie im Horizont entwicklungspsychologischer Erkenntnisse Zur Analyse der Texte aus entwicklungspsychologischer Perspektive legten wir die strukturgenetischen Untersuchungen von Reto L. Fetz, Karl H. Reich und Peter Valentin zugrunde.14 Wie weit tragen diese? Unsere Studie zeigt, dass sich die meisten Texte der Kinder einem der drei Stadien des unreflektierten Schöpfungsverständnisses zwanglos zuordnen lassen. Einige Texte aber sperrten sich gegen diese Kategorisierung. Ein Beispiel: »Ein großer Lavaball, zwar nicht so groß wie unsere Sonne, aber auch groß, kühlte, nachdem Gott es regnen ließ ab und erstarrte. Mit Hügeln und Mulden kamen nach dem nächsten Regen die Meere zum vorschein. Danach erschaffte er die Natur und dazu Tiere. Da es auf der Erde dunkel war, erschaffte er die Sonne, die Licht und wärme spendete. Da es nur Tiere gab, erschaffte er Menschen und Häuser in denen sie leben können.«

Der Text wurde in die Kategorie »Patchwork-Modell« unter die Subkategorie »Naturwissenschaftliche Erklärung der Weltentstehung und Schöpfertätigkeit Gottes« eingereiht. Der zehnjährige Autor gibt zunächst eine naturwissenschaftliche Erklärung, bei der ein »großer Lavaball« als gegeben vorausgesetzt wird. Er schränkt die Größe dieses Lavaballs ein, indem er ihn mit der Sonne, die größer sei, vergleicht. Gott kommt erst bei der Abkühlung des Himmelskörpers ins Spiel: Er habe die Meere durch Regen entstehen lassen. Außerdem habe er die Natur, Tiere, die Sonne, schließlich den Menschen und sogar Häuser geschaffen. Diese Äußerungen belegen das artifizialistische Denken des Kindes. Doch ist unklar, in welchem Stadium es sich befindet.

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Denn einerseits vertritt der Junge den für die Entstehungsphase typischen Artefakteglauben. Dazu kommt ein kindlicher Finalismus, erkennbar durch den Relativsatz »in denen sie leben können«. Gott schafft also Häuser, damit der Mensch eine Behausung hat. Andererseits aber glaubt der Befragte an die Entstehung der Welt ohne Zutun Gottes, was auf das Auflösungsstadium deutet. Der Text lässt sich also keinem der drei Stadien passgenau zuweisen. Dies ist auch bei folgendem Text zu konstatieren: »Ich stelle mir dass so vor: Gott hat den Urknall und damit das Weltall geschaffen. Danach hat er die Erde und alle Lebewesen geschaffen.«

Obwohl der elfjährige Junge von der Urknalltheorie gehört hat, grenzt er Gottes Wirkungsbereich nicht ein. Im Gegenteil: Alles – Urknall, Weltall, Erde, sämtliche Lebewesen – sei von Gott geschaffen. Dass Kinder die Schöpfermacht Gottes beschränken, sobald sie die Urknalltheorie kennen – wie es Fetz, Reich und Valentin behaupten – trifft also nicht immer zu. Andere Texte stützen diesen Befund.

7. Zusammenfassung und Ausblick

7.1 Kinder: eher Kosmologen als Schöpfungstheologen Die Studie zeugt insgesamt von einem enormen Interesse der Kinder am Thema »Wie ist die Welt entstanden?«. Sie lässt erkennen, dass sich Schülerinnen und Schüler gerne Gedanken über den Anfang der Welt machen und dies in eigen14 Vgl. Abschnitt 1 dieses Artikels.

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ständiger Weise tun. Einerseits verwenden sie angeeignetes Fachwissen, andererseits ergänzen sie dieses an Stellen, wo es ihnen notwendig erscheint, durch eigene Erklärungen, so dass ganz unterschiedliche und zum Teil sehr individuelle kosmogonische Konzepte entstehen. Mit vollem Recht können Kinder daher als Kosmologen angesprochen werden: Sie wollen wissen, wie die Welt entstanden ist, begeben sich auf die Suche nach Antworten und gelangen zu eigenen Weltbildkonstrukten. Drei Ergebnisse unserer Studie sollen abschließend festgehalten werden: 1. Kosmogonien, die naturwissenschaftlich fundiert sind, stellten sich in unserer Studie als dominant heraus. Die Schülerinnen und Schüler verarbeiteten zahlreiche naturwissenschaftliche Wissensbestände, die teilweise en détail ausgebreitet wurden. Etliche Befragte befanden sich offenbar bereits in der Übergangsphase zum Jugendalter: Bei ihnen wurde der Kinderglaube abgelegt und durch ein naturalistisches Weltbild ersetzt. Die Welt erscheint dann als eigenständig und selbstorganisierend.15 Bei einigen Schülern, allen voran Autoren der Texte, die sich innerhalb der Gruppe des »Kosmologischen Modells« in ein kritisches Verhältnis zum Gottesgedanken setzten, zeichnete sich ein hoch entwickeltes Reflexionsniveau ab. 2. Ein Drittel der Schülerinnen und Schüler der untersuchten Klasse dachte naturwissenschaftliche und schöpfungstheologische Aspekte zusammen: jede und jeder auf individuelle Art und Weise. Vergleicht man dies mit Modellen einer Verhältnisbestimmung von Naturwissenschaft und

Theologie, liegt hier eine Art Integrationsmodell vor. 3. Etwas weniger als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler brachte den Glauben an einen Schöpfergott ins Spiel. Dessen ungeachtet tauchten jedoch immer wieder Spuren des christlichen Glaubens und der christlichen Schöpfungslehre auf. Der biblischchristliche Schöpfungsglaube wird also nicht obsolet, gerät aber in einen gewissen Dispersionszustand. Wir kommen daher zu dem Ergebnis, dass das Attribut »Schöpfungstheologen«, das Anton A. Bucher Kindern zuschreibt, nicht im gleichen Maße zutrifft wie die Bezeichnung »Kosmologen«.

7.2 Kinder als Kosmologen und Schöpfungstheologen: der Religionsunterricht als Chance Galt lange Zeit die Theodizeefrage als zentrale »Einbruchstelle« für den Gottesglauben junger Menschen, scheint dies heute das Problem der Vereinbarkeit von biblischem Schöpfungsglauben und naturwissenschaftlichen Weltentstehungsmodellen (Urknall- und Evolutionstheorie) zu sein.16 Dass beides komplementär zueinander gedacht werden kann, ist eine gedankliche Operation, zu der Kinder noch nicht in der Lage sind, wie entwicklungspsychologische Studien klar zeigen. Wie kann dann der Religionsunterricht auf die Situation reagieren, dass Kinder

15 Vgl. Fetz/Reich/Valentin, Weltbildentwicklung und Schöpfungsverständnis (wie Anm. 3), 256. 16 Vgl. Hans Mendl, Wie laut war eigentlich der Urknall?, in: KatBl 113 (2008) 316–319, 319.

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bereits früh mit kosmologischen Theorien in Berührung kommen? 1. Im Religionsunterricht der Grundschule müssen von Anfang an sowohl die Schöpfungserzählungen der Hl. Schrift als auch elementare naturwissenschaftliche Informationen einen Platz haben. Dabei muss das Zueinander beider Größen noch nicht geklärt werden. 2. Kinder entwickeln eigene Strategien, naturwissenschaftliche und religiöse Aspekte zu koordinieren (vgl. die Kategorien »Schöpfergott-Modell«, »Patchwork-Modell« und »Kosmologisches Modell« in unserer Studie). Sie können z.B. alternativ, parallel, integrativ usw. gedacht werden – in einer sehr individuellen Weise, die nicht von außen gesteuert werden kann. Der Religionsunterricht gewährt einen geschützten Raum, wo Kinder sich ihrer Vorstellungen über die Weltentstehung bewusst werden dürfen, ohne dass diese sogleich bewertet oder vorschnell korrigiert werden. 3. Es ist Aufgabe des Religionsunterrichts in der Grundschule, das Staunen – nach Platon nicht weniger als der Anfang aller Philosophie! – zu kultivieren. Auch andere Grundhaltungen wie Sensibilität für das Schöne, Dankbarkeit, achtsamer Umgang mit der Welt sind einzuüben. Damit kann ein Verständnis für unterschiedliche Modi des Weltzugangs und Weltumgangs (Kognition, Ästhetik, Emotion, Handlung) vorbereitet werden. 4. Ebenso gilt es, eine Kultur des (philosophischen) Fragens zu initiieren und zu pflegen. Kinder können so eine Sensibilität dafür entwickeln, dass es

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unterschiedliche Fragetypen – WieFragen, Warum-Fragen – gibt, die mit unterschiedlichen Fächern (Sachunterricht, Religionsunterricht) korrelieren. 5. Die Forderung von Hubertus Halbfas nach einer frühzeitig einsetzenden konsequenten Arbeit am Sprach- und Symbolverständnis ist ungeachtet der heute deutlicher erkennbaren Grenzen dieser Bemühungen nicht obsolet. 6. Im Religionsunterricht der Grundschule können gelegentlich Vorstufen komplementären Denkens angebahnt werden, etwa durch die Erarbeitung der Unterschiede zwischen physikalischer und erlebter Zeit. Die entscheidende Aufgabenstellung hat der Religionsunterricht allerdings im Jugendalter zu gewärtigen. Entwicklungspsychologisch ist in dieser Phase die Fähigkeit zur Reflexion auf die denkerischen Mittel und zum komplementären Denken in Anschlag zu bringen. Dies trägt dem Problemfeld »Schöpfung oder Evolution?« bzw. »Schöpfung und Evolution?« eine neue Dynamik ein. Insgesamt gilt: Sollte die Frage nach der Weltentstehung tatsächlich der »Testfall für die Plausibilität des Glaubens«17 und damit zentrale »Einbruchstelle« für den Gottesglauben sein, wofür viel spricht, steht der Religionsunterricht sowohl in der Primar- als auch – und vor allem! – in der Sekundarstufe vor großen Herausforderungen, die bislang zu wenig wahr- und angenommen werden.

17 Ebd.

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Astrid Dinter / Elisabeth Naurath / Stefan Scholz Hund – Schlange – Maus. Tiere als Zugang zur Schöpfung in kindertheologischer Perspektive

Am Silvesterabend ziehen wir gemeinsam im Rückblick auf das vergangene Jahr etwas Bilanz. Ich frage meine Tochter (10 Jahre), was für sie das schönste Erlebnis im vergangenen Jahr war. »Als wir Ronja bekommen haben«, antwortet sie ohne große Überlegungen und meint damit, dass ihr langgehegter Wunsch nach einem Hund in Erfüllung ging. Doch dann fügt sie hinzu: »Das war bisher das Schönste in meinem ganzen Leben!«

Hund. Schlange. Maus: Drei Tiere, die für ganz unterschiedliche Mensch-Tier-Verhältnisse stehen können. Hunde sind (!) beliebt, treu und gutmütig. Als Haustiere werden sie nicht nur von Kindern verwöhnt oder ersehnt. Schlangen können da kaum mithalten, sind (!) hinterlistig, unheimlich und fremd. Nur merkwürdige Outsider und Provokateure nähern sich solchen Exoten. Und Mäuse sind (!) schrill, übertragen gefährliche Keime und vermehren sich bedrohlich schnell. Wenn sich Kinder eine Maus als Haustier wünschen, kann dies schnell ebenso zu Problemen im Familienrat führen, als wenn sie ein Pferd oder eine Kuh haben wollten. – Natürlich handelt es sich bei den Aussagen mit dem angefügten Ausrufezeichen nicht um einfache Zustandsbeschreibungen, sondern vielmehr um klischeehafte Zuschreibungen, die mit

Gegenstatements nicht nur aus dem Kindermund leicht unterlaufen werden können. Was nämlich Tiere sind, lässt sich nur schwer allgemein aussagen. Viel besser lässt sich klären, was »Tiere für jemanden« sind. Die Konstruktion von Weltbeziehungen und Weltdeutungen spielt also im Mensch-Tier-Verhältnis eine ganz hervorgehobene Rolle. Schöpfungspädagogische Lernprozesse können dies produktiv aufnehmen und die jeweils eigene und individuelle Wahrnehmung von Kindern im Blick auf Tiere ernst nehmen, fördern und dialogfähig machen. – Wie bestimmen Kinder selbst ihr Verhältnis zu Tieren? – Welche Beziehung besteht für Kinder zwischen Gott und den Tieren? – Und hat Gott nach Meinung von Kindern für jedes Tier im Himmel einen Platz bestimmt? In diesem Beitrag werden wir Erfahrungen, Wünsche und Einstellungen von Kindern zu Tieren als Zugang zu Schöpfungsfragen zum Thema machen. Wir beginnen einführend mit Streiflichtern zur tierethischen Diskussion (1), stellen anschließend eine empirische Erhebung via Fragebogen und Bildanalyse vor, die die Auseinandersetzung von Kindern mit Tieren im Blick auf Schöpfungsthemen beleuchtet (2) und formulieren darauf aufbauend Thesen in kindertheologischer

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Dinter / Naurath / Scholz Tiere als Zugang zur Schöpfung in kindertheologischer Perspektive

Perspektive, die die dreistellige Beziehung Gott – Mensch – Tier schöpfungspädagogisch umspielen (3).1

1. Animal Trouble in Kultur, Religion und Pädagogik Das Verhältnis zwischen Mensch und Tier ist komplex, verworren und widersprüchlich. Als ›Animal Trouble‹2 kann die Dynamik dieser Beziehung mit ihren vielen Facetten, Überlagerungen und Neuaufbrüchen problematisiert und bearbeitet werden. Wir skizzieren hier nur einige wenige Aspekte aus Kultur, Religion und Pädagogik.

Kultur: Die drei Tiere in der Überschrift können nicht nur wie oben selektierend in geliebte, unangenehme oder gehasste Tiere eingeteilt werden, sie sind auch in den nüchternen Kreis der Nahrungskette eingebunden, jedenfalls zum Teil. Die Schlange frisst die Maus, der Hund frisst andere Tiere (wenngleich meistens nur in verarbeiteter Form).3 Aber auch wir Menschen umgeben uns nicht nur mit »Pets«, also mit tierischen Kameraden zum Kuscheln, zum Spielen und zur Geselligkeit. Als natürliche Allesfresser oder kultivierte Fleischgenießer nehmen ebenso wir tierische Produkte in uns auf. So gibt es neben geliebten und weniger geliebten Tieren lebensmittelliefernde und nicht-lebensmittelliefernde Tiere, darüber hinaus noch weitere Nutztiere zur Erprobung von Medikamenten und Kosmetika oder als Lieferanten für Kleidung und Ersatzorgane.4 – Auch diese Einteilungen können selbstredend mit einem Ausrufezeichen versehen werden, sind kollektiv vorgegeben und werden individuell bejaht oder abgelehnt. Wie nun

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zum Beispiel der Hund, die Schlange und die Maus zugeordnet werden, ist vor allem eine Frage von Kultur, sicher auch von Nützlichkeit. Die Einteilung könnte in Mitteleuropa anders erfolgen als in Lateinamerika oder China. Zum Animal Trouble, also zur Irritation im Umgang mit Tieren, kommt es spätestens dann, wenn sich solche Einteilungen überschneiden, etwa ein Tier/eine Tierart gleichzeitig als Familienmitglied und Winterstiefel in Be-

1 Die Mitgeschöpflichkeit der Tiere entfaltet Alexandra Grund als »dreistellige Beziehung […] zwischen den Menschen, den Tieren und Gott, der beider Schöpfer ist«; Dies., Mitgeschöpflichkeit, in: rhs 2001 (44), 332–338, 332. Siehe umfassend Gotthard Fuchs / Guido Knörzer (Hg.), Tier, Gott, Mensch. Beschädigte Beziehungen, Frankfurt a.M. u.a. 1998. 2 Animal Trouble ist hier in bewusster Anspielung auf den englischsprachigen Originaltitel von Judith Butlers wirkmächtigem Buch ›Das Unbehagen der Geschlechter‹ (Dies., Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York u.a. 1990) gewählt. Wie Gender Trouble fixierte und überkommene Geschlechterkonstrukte problematisiert und verflüssigt, kann Animal Trouble konventionelle Mensch-Tier-Verhältnisse kreativ aufbrechen. Zum Zusammenhang von Frauenemanzipation und Tierbefreiung siehe Ulrich Seidel, Gott – Mensch – Tier. Gott im Tier – das Tier im Menschen – Mensch und Tiere, in: Deutsches Pfarrerblatt 2004/4, 181–185, 182. 3 Zur Natürlichkeit von Fressen und Gefressen-werden siehe die Reflexion zum Schöpfungsbild Meister Bertrams bei Rita Burrichter, Tiere segnen – auch bissige!, in: KatBl 2005 (130), 187–190. 4 Vgl. Heike Baranzke, Sind alle Tiere gleich? Vom reduktionistischen Antispeziesismus zur selbstreflexiven Verantwortungsethik, in: Johann S. Ach / Martina Stephany (Hg.), Die Frage nach dem Tier. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Mensch-Tier-Verhältnis, Berlin 2009, 17–31.

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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke

tracht kommen kann5 oder Attribute, die zuerst nur auf Personen bezogen sind, wie z.B. Menschenrechte, auch (bestimmten) Tieren zugesprochen werden.6 Gerade eine kindertheologisch orientierte Schöpfungspädagogik kann starre und überkommene Einteilungen aufbrechen helfen und Tiere insgesamt als Teil und Zugang zur Schöpfung verstehen lernen. Kinder sollen ihre eigene Wahrnehmung finden dürfen, anstatt in gesellschaftlich und kulturell vorgegebene Denkschemata nur integriert zu werden.

Religion: Der christlich-jüdischen Tradition wird zumindest ein ambivalentes Verhältnis zur nichtmenschlichen Kreatur bescheinigt.7 Zwar sind Tiere gemeinsam mit dem Menschen Schöpfung Gottes, zugleich wird nur der Mensch als Ebenbild Gottes (nach Gen 1,26 f) gesehen. Ob Tiere erlösungsfähig sind, interessiert die biblischen Texte kaum.8 Der Anthropozentrismus, also die Vorstellung des Menschen als Mittelpunkt und Maß aller Dinge, ist hier sicherlich mitangelegt und entspricht antiken popularphilosophischen Vorstellungen.9 Doch auch im Christentum kam es zum Animal Trouble. Spätestens seit dem ökologischen Diskurs ab den 80er Jahren des vergangen Jahrhunderts setzte eine kritische Aufarbeitung und Relecture des christlichen Mensch-Tier-Verhältnisses ein, die bis heute anhält.10 Dabei konnte bisweilen der Eindruck entstehen, Kirche und Theologie erwiesen sich in Sachen Tierschutz nicht offensiv als Reformkräfte, sondern reagierten vor allem auf anderswo geführte Diskurse und Errungenschaften.11 Nun wurden die eigenen schöpfungsfreundlichen Traditionen neu ans Licht gebracht, hier besonders Franz von Assisi.12 Ganz grundsätzlich wurde das Tier somit als »Mitgeschöpf«

und Schöpfungsgenosse wahrnehmbar und die Verhältnisse zwischen Gott,

5 Siehe hierzu beispielsweise die Vorstellung des Hundes als Speisetier und des Schweines als Heimtier: Erhard Oeser, Hund und Mensch. Die Geschichte einer Beziehung, Darmstadt 2004, Kapitel 7: Der Hund als Medizin und Nahrung, 143–151 und Jane Croft, Minischweine. Eine Liebeserklärung, München 2011. 6 Zur Diskussion siehe Dieter Birnbacher, Haben Tiere Rechte?, in: Johann. S. Ach / Martina Stephany (Hg.), Die Frage nach dem Tier. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Mensch-Tier-Verhältnis, Berlin 2009, 47–64. 7 Klassisch geworden ist die Radikalkritik von Carl Améry, Das Ende der Vorsehung: Die gnadenlosen Folgen des Christentums, Reinbek b. Hamburg 1972. 8 Eine der wenigen Ausnahmen stellt womöglich Röm 8,19–22 dar. Auf die Gefahren eines vermeintlichen Ökobiblizismus, der unreflektiert nach tiergerechten Passagen in der Bibel sucht, weist Alexandra Grund hin, Dies., Mitgeschöpflichkeit, in: rhs 2001 (44), 332–338, 332. 9 Vgl. die Diskussion zur Anthropozentrik bei Bernhard Irrgang, Am Ende der Anthropozentrik? Wie lassen sich unsere Verpflichtungen gegenüber der Natur begründen? In: Gotthard Fuchs / Guido Knörzer (Hg.), Tier, Gott, Mensch. Beschädigte Beziehungen, Frankfurt a.M. u.a. 1998, 13–32. 10 Am Anthropozentrismus hat auch die theologiegeschichtlich ganz grundsätzlich theozentrische Ausrichtung nichts geändert. Unterschiedliche theologisch orientierte Modelle des Mensch-Tier-Verhältnis von Anthropozentrismus über Pathozentrismus bis hin zu Biozentrismus sind zusammengestellt und diskutiert bei Helena Röcklinsberg, Das seufzende Schwein. Zur Theorie und Praxis in deutschen Modellen zur Tierethik, Erlangen 2001. 11 Vgl. Ulrich Seidel, Gott – Mensch – Tier. Gott im Tier – das Tier im Menschen – Mensch und Tiere, in: Deutsches Pfarrerblatt 2004/4, 181–185, 181. 12 Siehe einführend Anton Rotzetter, Die Freigelassenen. Franz von Assisi und die Tiere, Fribourg (CH), 2011.

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Dinter / Naurath / Scholz Tiere als Zugang zur Schöpfung in kindertheologischer Perspektive

Mensch und Tier neu akzentuiert.13 Diese Irritation und Neujustierung konnte sich vor allem auch kritisch gegenüber dem neuzeitlichen Verständnis des Tieres als Ware, Produktionseinheit oder Automaten behaupten, wie es prototypisch bei René Descartes begründet ist.14 Tierethik ist heute als theologische Bereichsethik zumindest eingeführt.15 Dabei ist es freilich auch weiterhin Gegenstand theologisch-ethischer Diskussion, ob und wie stark Tiere für die menschliche Nutzung ausgebeutet werden dürfen. Eine kindertheologische Perspektivierung kann der tierethischen Diskussion insgesamt wertvolle Impulse liefern: »Kommen auch Tiere in den Himmel? Was machen dort die Raubtiere? Und sind wir dort dann alle Vegetarier«16 sind ebenso einfache wie komplexe Fragestellungen für weiterführende Auseinandersetzungen mit schöpfungstheologischen Themen.

Pädagogik: Längst werden Tiere nicht mehr nur als starre Lernobjekte gesehen, die in Bezug auf Physiognomie, Lebensraum, Nahrungsaufnahme und Fortpflanzung kognitiv erfasst werden sollen. Auch hier kann ein Animal Trouble wahrgenommen werden, konkret: eine Komplexitätssteigerung im Verständnis, im Einsatz und in der Intention des Umgangs mit Tieren. So werden Tiere heute nicht nur als Lerninhalt, sondern ebenso als Lernmedium und dialogische Lernpartner vorgestellt. Ansätze der tiergestützten Pädagogik und tiergestützten Therapie weisen am deutlichsten in diese Richtung.17 Der Umgang mit Tieren kann vor allem soziale Kompetenzen stärken, aber auch für Umweltthemen sensibilisieren.18 Die Religionspädagogik knüpft hier bereits an, indem Erfahrungen von Kindern mit Tieren in geeigne-

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ten Lernprozessen bewusst integriert werden. Erlebnispädagogische Ansätze können Tiererfahrungen ermöglichen, wo sie (noch) nicht vorhanden sind.19

13 Zur Sicht des Tieres als Mitgeschöpf siehe Alexandra Grund, Mitgeschöpflichkeit und Witja Neitzel, Tiere als Mitgeschöpfe. Eine pädagogische Herausforderung, Frankfurt a.M. 2003. 14 René Descartes, Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs, Stuttgart 1982 (orig. 1637). Zur Gleichsetzung von Tieren und Maschinen ebd., 39–56, besonders 52 f. 15 Walter Lesch, Tierethik in einem schöpfungstheologischen Kontext, in: Gotthard Fuchs / Guido Knörzer (Hg.), Tier, Gott, Mensch. Beschädigte Beziehungen, Frankfurt a.M. u.a. 1998, 67–89. Siehe weiter Ansätze einer TierTheologie bei Michael Blanke / Guido Knörzer, Auf dem Weg zu einer Theologie für die Tiere, in: Gotthard Fuchs / Guido Knörzer (Hg.), Tier, Gott, Mensch. Beschädigte Beziehungen, Frankfurt a.M. u.a. 1998, 177–189. 16 Vgl. hierzu exemplarisch Regina RadlbeckOssmann, Eine kleine Eschatologie der Tiere, in: KatBl 2005 (130), 187–190 und Rita Burrichter, Tiere segnen – auch bissige!, in: KatBl 2005 (130), 187–190. 17 »Tiergestützte Aktivitäten beinhalten all die positiven Effekte zur Steigerung der Lebensqualität von Menschen, die sich allein durch die Anwesenheit eines Tieres entfalten« während in der »tiergestützten Therapie […] das speziell geschulte Tier nach genauen Plänen gezielt innerhalb einer Therapie eingesetzt« wird, Jasmin Wagner, Hunde in der tiergestützten Pädagogik, Erlangen 2007, 9. Siehe vertiefend zur tiergestützten Pädagogik und Therapie Witja Neitzel, Tiere als Mitgeschöpfe. Eine pädagogische Herausforderung, Frankfurt a.M. 2003, 109–163 und 165–190. 18 Soziale Kompetenzen sind vor allem Verantwortung, Mitgefühl, Solidarität etc., vgl. Witja Neitzel, Tiere als Mitgeschöpfe. Eine pädagogische Herausforderung, Frankfurt a.M. 2003, 113. 19 Vgl. die Schilderung einer Begegnung mit Kindern bei einem Schäfer und seiner Herde bei Dominik Blum, Die Herde, die den Hirten führt?!, in: KatBl 2005 (130), 196–199.

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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke

Zwei Linien der Einbindung von Tieren lassen sich in der Religionspädagogik unterscheiden: Zum einen liegt der Fokus auf dem Umgang mit Gefühlen, die Kinder im Blick auf Tiere zum Ausdruck bringen. Das Thema Freundschaft lässt sich beispielsweise mit Hilfe kindlicher Äußerungen zu ihren Haustieren bearbeiten, ebenso kann eine Auseinandersetzung mit Tod und Sterben anhand der Verlusterfahrung von gestorbenen Haustieren ermöglicht werden.20 Die andere Linie thematisiert den vielschichtigen Themenbereich von Gewalt gegenüber Tieren. Hier werden Themen wie Fleischkonsum und seine Folgen, Artenschutz, Tierversuche etc. bearbeitet.21 Tiere und die Erfahrung mit ihnen helfen »neue Welten« zu eröffnen22, dies vor allem, wenn Kinder ihre eigenen Wahrnehmungen, Fragestellungen und Deutungen auch artikulieren und damit verarbeiten dürfen. Eine kindertheologische Schöpfungspädagogik setzt hier an. Um kindliche Vorstellungen und Wünsche zu (Haus)Tieren zu sichten, soll im Folgenden eine empirische Erhebung im Grundschulbereich vorgestellt werden. Hierbei wurden auch – neben differenzierten Bildanalysen – schöpfungstheologische Einstellungen und Deutungen abgefragt.

2. Empirische Analyse als ›Fragebogen-gestützte Untersuchung‹

2.1 Der Fragebogen Der Fragebogen versucht zunächst die persönlichen Basisdaten der Kinder zu erheben. Auch die Gender-Dimension wurde in den Blick genommen. Diese

zeigt sich bei der Auswertung weniger in den geschlossenen Fragen als in der Gestaltung der bildlichen Elemente. Dann wurden Fragen zur Thematik »Haustier« gestellt. Die Gestaltung der Bilder eines Haustiers und der dazugehörige Satz sollen den geschlossenen Fragerahmen öffnen und erweitertes Datenmaterial liefern. Die daran anschließenden geschlossenen Fragen geben einen Einblick in den erweiterten Rahmen des ›Schöpfungsglaubens‹ der Kinder. Die Antwortmöglichkeiten deuten komplexere Formen möglicher Schöpfungsvorstellungen an (»Gott und sie ist entstanden«) bzw. verweisen auf die Zusammenhänge der Evolutionstheorie (»Ist selbst entstanden«). Die Themen »Welt«, »Tiere«, »Mensch« werden einzeln abgefragt, um zu kontrollieren, ob sich ein festes Überzeugungsbild bei den Kindern abzeichnet, das die ausgewerteten Ergebnisse dokumentieren. Die Frage nach einem kindlichen Wunsch für die Tiere legt tierethische Dimensionen offen.

2.2 Ergebnisse Der quantitative Teil der Untersuchung wurde in sechs bayrischen Grundschulen durchgeführt. Von 127 Schüler/innen waren 65 weiblich und 62 männlich. 110

20 Siehe allgemein Martina Blasberg-Kuhnke, »Auf den Hund gekommen«? Mensch-TierBeziehungen und Pastoral, in: Diakonia 2005 (36), 153–157, 157 und speziell Hans-Werner Kulinna, Wenn ein Tier stirbt, in: KatBl 2005, (130), 191–195. 21 Siehe exemplarisch Ekkehard Starke, Gewalt gegen Tiere. Zugänge zu einem alltäglichen Phänomen, in: JRP 2003 (19), 164–169. 22 Martina Blasberg-Kuhnke, »Auf den Hund gekommen«? (wie Anm. 20), 156.

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Fragebogen: Kreuze bitte an und fülle aus! Ich bin ein

2 Mädchen

2 Junge

Wer hat die Tiere geschaffen?

2 Gott

Ich besuche die Klasse: … Ich bin

2 evangelisch

Alter:

...... Jahre

2 katholisch

Hast Du ein Haustier? 2 Ja

2 sonstige

2 Ist selbst entstanden

2 Gott und sie sind selbst entstanden 2 Ich weiß nicht 2 Sonstige: …

2 Nein

Wenn ja, welches? …

Wer hat den Mensch erschaffen?

Wenn nein, wünscht Du Dir ein Haustier? 2 Ja 2 Nein

2 Gott

Wenn ja, welches? …

2 Gott und er ist selbst entstanden

Warum gefällt Dir besonders diese Art von Haustier?

2 Sonstige: …

2 Ist selbst entstanden 2 Ich weiß nicht

Male das Haustier, das Du hast oder das Du Dir wünscht: Wenn Du einen Wunsch für die Tiere frei hättest, was würdest Du Dir wünschen? …

Schreibe einen Satz dazu:

Wer hat die Welt geschaffen?

2 Gott

2 Ist selbst entstanden

2 Gott und sie ist entstanden

2 Ich weiß nicht

2 Sonstige: …

Schüler/innen sind evangelisch (88 %). 35 Schüler/innen sind 8 Jahre alt, 65 Schüler/innen 9 Jahre alt und 24 Schüler/innen 10 Jahre alt. Von 127 Schüler/innen haben 82 ein Haustier (65 %). 36 Schüler/innen haben eine Katze (z.B. »weil sie mich mag« [Junge, 9 Jahre]), 27 einen Hasen (z.B. Kaninchen: »weil es so süß und wuschelig ist« [Junge, 9 Jahre]), 24 einen Hund (z.B. »weil man mit ihm spielen kann und gasi gehen« [Mädchen, 9 Jahre]), 15 Fische (z.B. »im Aquarium sehen sie cool aus« [Junge, 9 Jahre]) und 9 Schüler/innen besitzen einen Vogel.

Auch Wüstenrennmaus, Hamster (z.B. »weil sie süß sind« [Junge, 9 Jahre]), Igel, Hirsche, Hühner, Meerschweinchen (»weil sie schön flauschig sind und weil sie süß sind« [Mädchen, 9 Jahre]), Schildkröten, Frettchen, Geckos (z.B. »Gecko gefallen mir weil sie mich nach einer zeit mögen« [Junge, 9 Jahre]), Pferde (z.B. »weil Ponys meine Lieblingstiere sind« [Mädchen, 9 Jahre]), Schlangen (z.B. »sie sind lustig« [Junge, 9 Jahre]), Salzkrebse (z.B. »Die Salzkrebse kann man ganz lange aufbewahren« [Mädchen, 10 Jahre]), Kühe (z.B. »weil wir selbst Kühe

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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke

hatten« [Mädchen, 9 Jahre]) und Tauben werden genannt. 74 Schüler/innen wünschen sich ein Haustier (5 Kinder wollen kein Haustier). Dabei werden wiederum Hund, Katze, Hamster, Hase und Meerschweinchen favorisiert.

Eine Analyse der gemalten Bilder des eigenen oder des Wunsch-Haustiers innerhalb der Fragebögen dokumentiert die bereits aufgeführten Tiere. Bei den schriftlichen Begleitsätzen wird deutlich, wie wichtig die Tiere für die Kinder sind. So schreibt ein Mädchen, dass sie mit ihrem Kater sehr zufrieden ist (8 Jahre), ein Junge meint, dass man Kaninchen genauso behandeln muss wie Menschen, weil sie Lebewesen sind (9 Jahre), und ein Mädchen schreibt, dass ihr Vogel zwar laut ist, aber trotzdem zu ihrem Leben gehört (8 Jahre). Ein Mädchen verweist darauf, dass ein ausgebildeter Hund vielen Menschen helfen kann (9 Jahre). Ein Junge wünscht sich einen Hund, der ihn

liebt und einen Papagei, der mit ihm spricht (9 Jahre), ein anderer mag seinen Hund zum Kuscheln und weil er ihn tröstet, wenn er traurig ist (9 Jahre). Geht es um die Begründung für die Präferenz eines bestimmten Haustiers, so steht die Attribuierung »süß« ganz vorne (»Es ist so weich und nidlig« [Mädchen, 8 Jahre]; »Es ist süß« [Mädchen, 8 Jahre]). Auch dass man mit Tieren spielen kann (»Man kann mit ihm spielen« [Mädchen, 9 Jahre]) und schmusen bzw. kuscheln ist für die Kinder besonders wichtig (»Man kann mit ihnen schmusen und Kunststücke beibringen« [Mädchen, 9 Jahre]). Haustiere werden als »klug« (»mag sie weil sie sehr schlau sind« [Mädchen, 9 Jahre]; »weil sie sehr glug sind« [Junge, 9 Jahre]) angesehen und können helfen (»Wenn man den Hund ausbildet kann er vielen Menschen helfen« [Mädchen,

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9 Jahre]). Aber auch tierethische Dimensionen werden wichtig. So hat ein Kind ein Haustier, weil dieses sonst gestorben wäre (Junge, 9 Jahre). Geht es konkret darum, wer die Welt bzw. die Tiere und die Menschen erschaffen hat, dann antwortet eine klare Mehrheit der Kinder mit »Gott« (Welt 86 [68 %], Tiere 95 [75 %], Menschen 98 [77 %]). Der Gedanke der Schöpfung der Welt durch Gott ist bei den Kindern fest verankert. Die anderen Dimensionen (komplexeres Schöpfungsverständnis; Evolution) sind zu vernachlässigen. Die Frage nach einem Wunsch für die Tiere lässt bei den Kindern klare tierethische Dimensionen erkennen: Die Tiere sollen nicht geschlachtet (»Das Kein Tier geschlachtet wird« [Mädchen, 9 Jahre]) bzw. getötet werden (»Das nimand ohne grund Tiere tötet« [Mädchen, 8 Jahre], nicht bejagt werden (»Das alle Tiere nicht so viel gejagt werden und nicht mehr so viel gegessen werden« [Mädchen, 9 Jahre]; »Das die Jäger nich die Tiere jagen« [Mädchen, 10 Jahre]) und nicht aussterben (»Das die Tiere nicht mer vom Aussterben bedrot sind« [Junge, 9 Jahre]; »Das die Eisberen nicht mer fon austerben bedrot sind« [Mädchen, 8 Jahre]). Sie sollen nicht gequält (»Das Tiere nicht mehr gequält, gejagt und getötet werden« [Mädchen, 10 Jahre]) und in Gefahr gebracht werden (»Dass alle Tierarten nie wieder gefährdet werden« [Junge, 10 Jahre]). Ihr Lebensraum soll geschützt werden (»Der Schungel soll nicht abgeholzt werden« [Mädchen, 9 Jahre]; »Mehr Tierschutz durch mehr Lebensraum!« [Junge, 10 Jahre]). Die Kinder wünschen den Tieren Freiheit (»Das sie immer frei sind« [Mädchen, 9 Jahre]) und Unsterblichkeit (»Das sie

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für immer leben« [Junge, 9 Jahre]). Die Kinder wollen die Tiere verstehen (»Das Ich gednken lesen könnte dann weiß ich was sie wollen« [Mädchen, 9 Jahre]; »Das die Tiere sprechen könnten dann könnten wir sie verstehen und sie konnten sagen was sie wollen« [Mädchen, 9 Jahre]).

2.3 Bildanalyse Die analysierten Bilder zum Thema »Schöpfung« stammen aus zwei 2. Klassen (16 Schüler/innen / 17 Schüler/innen) in einer bayrischen Großstadt, zu deren Einzugsbereich auch soziale Brennpunkte gehören. Die Bilder wurden im Unterricht gemalt. Dabei wurden von der Lehrperson zu Beginn der Stunde drei Impulse gesetzt: Malt 1. ein Bild zur Schöpfung; 2. Alles, was Gott geschaffen hat; 3. Was draußen ist. Die Impulse 2 und 3 sollten als Hilfestellung dienen, da

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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke

ein Verständnis des Malimpulses den Schüler/innen zunächst schwer fiel. Folgende Grundmotive tauchen innerhalb der Bilder auf: Häuser, die Weltkugel (die von Händen einer Person [z.B. Jesus] gehalten wird23), eine Landschaft mit Regenbogen, Menschen, Wasser und Land sowie verschiedene Tiere.24 Ein Bild zeigt Feuer und Blitze, die die friedliche Landschaft und die Menschen bedrohen. An Tieren werden Elefant und Giraffe abgebildet, aber auch Haustiere wie ein Hase. Wasser- und Landtiere – wie Kamele, Löwen und Fische – werden ebenfalls dargestellt.25

3. ›Tiere als Zugang zur Schöpfung‹? – Kindertheologische Perspektiven Nicht nur die quantitative Erhebung der Fragebogen-Untersuchung, sondern auch Gespräche mit Kindern zeigen ein signifikantes Ergebnis: Fast alle Kinder haben eine grundsätzlich positive Einstellung zu Tieren (so sagen beispielsweise von 44 Kindern, die kein Haustier haben, nur 4 Kinder – also weniger als ein Zehntel –, dass sie sich auch keines wünschen) und messen der Bedeutung von (Haus)Tieren in ihrem Leben einen hohen Stellenwert zu. Diesen Eindruck bestätigt auch eine

repräsentative Jugendstudie von 200226, wonach Haustiere von nicht wenigen Kindern »zu vollwertigen Mitgliedern ihrer Familie zählen«27 und direkt hinter den Eltern auf gleicher Höhe mit Großeltern und Geschwistern genannt werden. Auch Anton Bucher zeigt in seiner Studie, dass (Haus)Tiere zu den größten Glücks-, aber auch Unglückserfahrungen, im Falle des Todes eines Haustieres, bei Kindern gerechnet werden können.28 Da auch in der Retrospektive bei Erwachsenen die größten Glücksgefühle in der Kindheit in enger Verbindung zu Interaktionen mit Tieren gesehen werden29, ist Bucher in seinem Urteil unbedingt zuzustimmen, dass die Marginalisierung der Bedeutung von (Haus)Tieren im Kindheitsdiskurs

23 Auch das Motiv einer Krippe mit Weltkugel taucht auf. Relevant dafür kann sein, dass die Malaktion in der Weihnachtszeit durchgeführt wurde. 24 Die abgebildeten Zeichnungen der Kinder sind exemplarisch und zeigen nicht das gesamte Motivcluster auf. 25 Ein weiteres Experiment, bei dem Kinder Tiere zur Krippe stellen und kommentieren sollten, blieb von den Ergebnissen her uneindeutig und wurde deshalb nicht weiter ausgewertet. 26 Vgl. Jürgen Zinnecker / Imbke Behnken / Sabine Maschke / Ludwig Stecher, null zoff & voll busy. Die erste Jugendgeneration des Neuen Jahrhunderts, Opladen 2003. Haustiere zählen hier zu den häufig genannten liebsten Freizeitbeschäftigungen der Kinder (insbesondere der Mädchen), wobei deren Bedeutung in der Pubertät (mit 13 bis 14 Jahren) rapide abnimmt (ebd., 33). 27 Ebd., 32. 28 Vgl. Anton A. Bucher, Was Kinder glücklich macht. Historische, psychologische und empirische Annäherungen an Kindheitsglück, Weinheim/München 2001, 106 ff. 29 So betont eine 40-jährige Frau: »Mit unseren Katzenkindern zu schmusen, war das höchste Glück.« (Ebd., 201)

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nicht zu rechtfertigen sei.30 Kindertheologische Forschungen stellen demnach evidente Zugangsmöglichkeiten dar, um Desiderate des kindlichen Umgangs mit der Natur, vor allem mit Tieren und – theologisch gesprochen – schöpfungstheologischen Perspektiven in den Blick zu nehmen. Doch wie sind die Voraussetzungen? Da sich die sozialen Bedingungen der kindlichen Lebenswelt dahingehend verändert haben, weniger in ländlichen und damit natur- bzw. tiernahen als vielmehr in (groß)städtischen, durch die Gefahren des Straßenverkehrs nach innen verlagerten Kontexten aufzuwachsen (›Kinderzimmer-Kindheit‹), dürften am ehesten entwicklungspsychologische Faktoren für die gefühlte (d.h. in den Gefühlen der Kinder geäußerte) Tiernähe sprechen. Sieht man entwicklungsgeschichtliche Verbindungslinien zwischen der Phylogenese (Entwicklung der Menschheit) und der Ontogenese (Entwicklung des einzelnen Menschen), so scheinen Kinder in emotionaler Hinsicht noch auf ursprünglichere Art mit der Natur bzw. Tier(gattung)en verbunden – auch wenn sie dies nicht selten in Ermangelung ›echter‹ Tiere mit ihren Kuscheltieren ausleben.31 Insbesondere Ansätze gegenwärtiger tiergestützter Pädagogik greifen diese Impulse auf, indem sie bestimmte Charakteristika der Tierbegegnung bzw. des kindlichen Umgangs mit Tieren zur Förderung von Bildungsprozessen nutzen: Das Kriterium ›Kuschelfaktor für die Seele‹ zeigt, dass weniger die sprachliche als die körpersprachliche Kommunikation der Begegnung Tier-Mensch im Vordergrund steht. So tendieren die meisten Kinderäußerungen zu der Begründung, dass Tiere deshalb gefallen,

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»weil es (das Tier, E.N.) so klein und flauschig ist.« (Mädchen, 8 Jahre) bzw. »weil man mit ihnen kuscheln kann« (Mädchen, 8 Jahre). Der Körperkontakt (Streicheln, Schmusen und Kuscheln mit Haustieren) beruhigt, entspannt und vermittelt den Kindern eine Nähe, die an die frühkindliche Phase nonverbaler Kommunikation erinnert. Selbst Tieren, denen man zunächst keinen hohen ›Kuschelfaktor‹ zurechnen würde (wie Amphibien, Reptilien oder Insekten) erfreuen sich großer Beliebtheit bei Kindern, die beispielsweise in einer gymnasialen ›Vivarium-AG‹ so ausgelebt wird, dass Sechstklässler (Jungen wie Mädchen) es genießen, (ungiftige, aber lebendige) Schlangen um den Arm und Gespensterschrecken auf dem Kopf zu tragen. So schreibt ein 9-jähriger Junge auf die Frage, welches 30 Dass in dem grundlegenden Lehrbuch der Entwicklungspsychologie von Rolf Oerter / Leo Montada (vgl. Dies. [Hg.], Entwicklungspsychologie, Basel 62008) die Bedeutung von (Kuschel- bzw. Haus-)Tieren für die kindliche Entwicklung nicht reflektiert wird, bleibt m.E. unverständlich. Ebenso zeigt beispielsweise das Handbuch der Kindheitsforschung (vgl. Manfred Markefka / Bernhard Nauck [Hg.], Handbuch der Kindheitsforschung. Berlin 1993) hier eine Wahrnehmungslücke. 31 Wie aus der so genannten Bindungsforschung bekannt ist, kompensieren Kinder die Frustrationen durch Trennungserfahrungen von den engsten Bezugspersonen (meist der Mutter) durch Gegenstände, die als Übergangsobjekte fungieren. Insbesondere Kuscheltiere haben hier im frühkindlichen Bereich (aber auch lange darüber hinaus) die Funktion, den Zwischenraum als empfundene Beziehungsleere zu füllen und Loslösungsprozesse zu erleichtern. Übergangs- aber auch Krisenmomente (wie der Übergang vom Wach- in die Schlafphase, Schmerz- und Trauersituationen etc.) werden erleichtert durch die unbedingte Nähe und Verfügbarkeit dieser Ersatzobjekte, denen durchaus eine psychohygienische Funktion zuzumessen ist.

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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke

Haustier er sich wünsche: »Schlange sie sind so lustig!« So scheint ein entscheidender Faktor darin zu liegen, dass Tieren aus der Perspektive von Kindern ein Wert zugeschrieben wird, der herkömmlichen funktionalen Kriterien von Nützlichkeit entgegen steht. Im Vordergrund steht vielmehr schlicht die körperliche Nähe des Tieres, die den eigenen Bedürfnisses nach Beziehung mittels Körperkontakt entspricht. In der Präsenz des Tieres, das ganz im gegenwärtigen Moment lebt und reagiert, scheint ein Verbindungselement zu liegen, das dem kindlichen Lebensgefühl nahe kommt: Das unbedingte Dasein, das Zur-Verfügung-Stehen, das Zeit-Haben sind in gewisser Weise Glücksfaktoren angesichts postmoderner Zeitrhythmen, die im Stundenplan der Kinder nicht selten Stress bedeuten. Das Haustier hat keine Termine, ist nicht unterwegs (wie beispielweise berufstätige Eltern), fordert keine leistungsorientierten Signale, ist zum Spielen aufgelegt und kann in der Interaktion auch schon von Kindern gelenkt werden. Damit ist ein weiterer zentraler Punkt beschrieben, der die Attraktivität von Tieren für die Kinder beschreibt: Während Kindern oftmals das ›Noch-NichtKönnen‹ im Sinne eines (›dazu bist du noch zu klein …‹) vor Augen steht und sie damit in eine passive und in gewisser Weise defizitbestimmte Rolle bringt, erleben sie im Kontakt mit Tieren eher die aktive Seite, die sie in ihrer Selbsttätigkeit bzw. -wirksamkeit bestärkt. Hier können die Kinder weitgehend selbst entscheiden, ob, wann und wie sie sich mit einem Tier beschäftigen, mittels Futter locken, und gegebenenfalls das Tier auch führen: »Am wichtigsten ist, dass mich mein Hund als Rudel-Führer anerkennt und

macht, was ich will!«, meint eine Zehnjährige und drückt damit selbstbewusst ihre positive Erfahrung von Selbstwirksamkeit aus. Schöpfungstheologisch ist diese Dimension in der Mensch-Tier-Beziehung von fundamentaler Bedeutung: Im Zusammenleben mit Haustieren sind die Herrschaftsverhältnisse im Grunde klar geregelt und heben Kinder auf eine gefühlt höhere Stufe, die nahezu unabhängig von ihrem Alter Ausdruck ihres Menschseins und damit des ›Über-denTieren-Stehens‹ ist. Dies impliziert selbstverständlich nicht nur die Macht-, sondern auch die Verantwortungsfrage – ein Zusammenhang, der in den Fragebögen aus der Sicht der Kinder sehr deutlich zur Sprache kommt. Kinder wollen verantwortlich für die Tiere sorgen (»am schönsten ist es, die Tiere zu füttern und zu merken, wie ihnen das Essen Spaß macht!«32), und setzen alles daran, dass es den Tieren gut geht. Hierbei korrespondiert die fürsorgliche mit der empathischen Rolle: Kinder zeigen einen hohen Faktor mitfühlenden Verhaltens mit Tieren, die Not leiden und bringen sehr deutlich zum Ausdruck, wie wichtig es ihnen ist, dass Tiere nicht leiden, gequält oder gar getötet werden. Auffallend häufig betonen die Kinder bei ihrem Wunsch für die Tiere eine Einstellung, die man durchaus als (in emotionaler Hinsicht) tief verankerte ›Ehrfurcht vor dem Leben‹ bezeichnen kann: »das sie am Leben bleibe weill sie tun mir genauso leid wie meine Tauben ich kann nämlich nicht zu32 So ein Mädchen (10 Jahre), das – seit sie einen Hund hat – mit großer Begeisterung (für sich und ihren Hund) in der Küche nach selbsterfundenem Rezept Hundeplätzchen als besonderes Leckerli aus Äpfeln, Mehl, Eiern und einer Dose Hundefutter backt.

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kuken beim schlachten« (Mädchen, 9 Jahre). Nicht selten verbindet sich diese Einstellung bei den Kindern damit, dass sie beziehungsorientiert im Fragebogen antworten. Sie wollen verstehen, was die Tiere eigentlich wollen und brauchen und meinen im Blick auf ihren Wunsch für die Tiere: »das ich gedanken lesen könnte dann weiß ich was sie wollen.« (Mädchen 9 Jahre). Dies bestätigt die von Anna-Katharina Szagun auf der Basis ihrer Rostocker Langzeitstudie33 und anhand illustrierter Einzelfallgeschichten34 behauptete Tiernähe der Kinder, die in Analogie von frühzeitlichen Tier- und Göttergestalten ein Indiz für junge wie auch alte Menschen sei: »Kinder (und Alte) scheinen die Wesensverwandtschaft zum Tier oft sensibler zu erfassen als Menschen in der Phase der beruflichen

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Einbindung in die Leistungsgesellschaft.«35 Andererseits kommt jedoch auch genau die Realisierung des Gegenteils in den kindlichen Äußerungen zum Ausdruck, die eben bedauern, dass sie die Sprache der Tiere nicht sprechen und demgemäß in ihrer Sehnsucht nach Ver33 Anna-Katharina Szagun, Dem Sprachlosen Sprache verleihen: Rostocker Langzeitstudie zu Gottesverständnis und Gottesbeziehung von Kindern, die in mehrheitlich konfessionslosem Kontext aufwachsen, 2 Bde, Jena 2006/2008. 34 Anna-Katharina Szagun, »Mein Vogel ist der einzige, dem ich alles anvertrauen kann.« Zur Präsenz des Göttlichen in Tiergestalt im Erleben der Kinder, in: Arbeitsgemeinschaft der evangelischen Religionslehrerinnen an Allgemeinbildenden Höheren Schulen in Österreich (Hg.), Kindertheologie – Bildungskompetenz, Wien / Berlin 2006, 39–62. 35 Ebd., 62.

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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke

stehen sehr deutlich an bewusst wahrgenommene Grenzen stoßen. Zusammenfassende Thesen, die via kindertheologischer Perspektive auf Forschungsdesiderate im (entwicklungs)psychologischen bzw. (religions)pädagogischen Diskurs hinweisen: 1. Kinder betonen die hohe Bedeutung von Tieren und Haustieren für ihr Leben und zeigen eine auffallende Sympathie, Interesse bzw. Nähe zu außermenschlichen Lebewesen: Wie relevant der Faktor ›Tier‹ für die emotionale und soziale Entwicklung der Kinder ist, bleibt forschungswissenschaftlich noch weitgehend unbeachtet. 2. In schöpfungstheologischer Hinsicht zeigt sich eine hohe Relevanz der emotional gefassten Beziehungsebene, die vorrangig auf körperliche Dimensionen (Körperkontakt, Kuscheln etc.) gerichtet ist. Bezieht man ein, dass die Herkunft der Tiere bei den meisten Kinderäußerungen im Schöpfungshandeln Gottes verortet wird, so kann doch eine gewisse Brückenfunktion der Tiere zwischen vorfindlicher Schöpfung (die Welt und die Naturphänomene) und Gott nicht außer Betracht bleiben. 3. Dem biblischen Schöpfungsauftrag (Gen 1,28) entsprechen kindliche Sichtweisen auf beeindruckende Art und Weise, da die Kinder sich um das Wohl der Tiere sorgen und Interaktionen als quasi ›Stärkere oder Herr-

schende‹ eher vermeiden.36 ›Macht‹ (im Sinne von Machbarkeit als Selbstwirksamkeit) und ›Herrschaft‹ (im Sinne von Unterdrückung) scheinen hier deutlich unterschieden zu sein, so dass die Kinder in ihren Äußerungen ihre gefühlte Verantwortung für die Tiere als care-Struktur des Sorgens um die Tiere, aber auch als Schutzfunktion (der Bewahrung vor Leiden) deutlich wahrzunehmen versuchen. 4. Inwiefern kindliche religiöse Gefühle mit den Gefühlen der Beziehungen zu Tieren (oder zur Schöpfung) korrespondieren, bleibt eine interessante Forschungsaufgabe, die angesichts der hohen Relevanz von (Haus)Tieren für die meisten Kinder als zukunftsweisend sowohl für die Kindheitsforschung als auch für die Religionspädagogik – und hier insbesondere für eine schöpfungstheologisch begründete umweltethische Bildung – mittels qualitativer Forschungsinstrumente anzugehen ist.

36 Natürlich eilt den Kindern auch der Ruf voraus, besonders brutal im Umgang mit Tieren sein zu können (wie etwa auch die Experimentierfreude, Ameisen die Beine auszureißen, etc.). Wie diese vereinzelten Verhaltensweisen im Kontext der offensichtlichen und mehrheitlich zum Ausdruck gebrachten Empathiefähigkeit mit Tieren stehen, müsste anhand der Vorbedingungen beispielsweise als Thema in die Forschungen zur kindlichen Entwicklung von Mitgefühl aufgenommen werden.

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Stephanie Görk »Das sind ja so schwierige Fragen.« – Einblicke in die praktische Arbeit einer Kasseler Forschungswerkstatt

Erstaunliche und oft überraschende Gedankengänge und Fragen kennzeichnen die Gespräche im Religionsunterricht. »Glauben Sie eigentlich wirklich an die Wunder Jesu?«, erkundigt sich ein Achtklässler und fordert Studierende zu einer Stellungnahme auf. Ein anderer wirft ein: »Man kann ja nicht ein ganzes Buch voller Märchen schreiben und dann eine Religion daraus gründen!« In den Kasseler Forschungswerkstätten »Theologische Gespräche mit Kindern und Jugendlichen« werden bewusst herausfordernde Themen gewählt. Offene Fragestellungen zur Kinder- und Jugendtheologie werden bearbeitet und die individuelle Kompetenzentwicklung von Studierenden gefördert. Ziel ist die Vernetzung von Theorie und Praxis, Basis ein Wechselspiel von Theorie und Empirie.1 Ich möchte Sie in diesem Beitrag einladen eine Gruppe Studierender der Forschungswerkstatt »Schöpfung mehrperspektivisch verstehen lernen in Klasse 5« vom Sommersemester 2011 bei der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung ihrer Unterrichtsprojekte zu begleiten.

1. Etappe: Einarbeitung und Standortbestimmung Zunächst machen die Studierenden sich in einer intensiven Einarbeitungsphase

mit den theoretischen Grundlagen vertraut. Sie erarbeiten praxisnah Grundzüge des Theologisierens mit Kindern und Jugendlichen, Elemente konstruktivistischer Unterrichtsplanung sowie für das Forschungsvorhaben relevante Aspekte religionspädagogischer Studien. Neben fachdidaktischen Gesichtspunkten rückt die Fachwissenschaft in den Blick.2 In dieser Auseinandersetzung lernen die Studierenden verschiedene theologische Disziplinen wie Systematik und Religionspädagogik produktiv aufeinander zu 1 Die Forschungswerkstätten finden in verschiedenen Klassenstufen mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten statt. Auf der Homepage des Fachgebietes Religionspädagogik am Institut für Evangelische Theologie der Universität Kassel finden sich weiterführende Informationen zum Kasseler Professionalisierungskonzept. http://www.uni-kassel.de/fb02/institute/evangelische-theologie/fachgebiete/religionspaedagogik/theologische-gespraeche.html 2 Einführende Arbeitsmaterialien sind: Werner H. Ritter, Art. Schöpfung/Leben, in: Rainer Lachmann u.a. (Hg.), Theologie für Lehrerinnen und Lehrer, Bd. 1: Theologische Schlüsselbegriffe, Göttingen 22004, 320–336; Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern und Jugendlichen führen. Herausforderungen und Chancen, in: Entwurf 2/2008, 39–43; Hans Mendl, Konstruktivistische Religionspädagogik. Ein Arbeitsbuch, Münster 2005; Ulrich Kropac`´, Naturwissenschaft und Theologie: eine spannungsreiche Beziehung im Horizont religiöser Bildung, in: Religionsunterricht an höheren Schulen 47/2004, 102–114.

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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke

beziehen und entwickeln einen eigenen Standpunkt. Als besonders wichtig erweisen sich für uns die Erkenntnisse aus der religionspädagogischen Forschung. Dem Verhältnis von naturwissenschaftlichen und religiösen Aussagen kommt bei der religiösen Entwicklung im Jugendalter besondere Bedeutung zu.3 Als zentrales Thema wird in diesem Zusammenhang von Heranwachsenden die Frage nach der Entstehung von Welt und Leben und ein damit verbundener kognitiver Konflikt zwischen naturwissenschaftlichen und religiösen Vorstellungen angeführt. Die Argumentation Jugendlicher legt vielfach nahe, dass die Naturwissenschaft als Zugang zu einer uneingeschränkten Wahrheit verstanden wird.4 Fetz, Reich und Valentin beobachten in ihrer Längsschnittstudie zur Weltbildentwicklung für den Übergang vom Kindes- zum Jugendalter den Bruch mit einem unreflektierten artifizialistischen Schöpfungsverständnis und die Entwicklung eines durch naturwissenschaftliche Theorien geprägten Weltbildes. Eine Verabsolutierung desselbigen mit späterer Relativierung oder eben auch Stagnation kann erfolgen. Hinsichtlich der Verabsolutierung leiten sie ab, dass dem Religionsunterricht sowie dem Philosophieren mit Kindern erstmals eine Korrekturfunktion zukommt. »Es gilt der Verkümmerung eines Denkens entgegenzusteuern, das in routinemäßige Antworten abgleitet und das dem Kind so gemäße Staunen und Fragen zu verlieren droht. Diese Situation ist die Folgelast einer einseitig forcierten Denkentwicklung, welche nur noch das mathematisch-naturwissenschaftliche Denken als »logische« Rationalitätsform kennt und favorisiert.«5 Nur selten beobachten sie die Entwicklung von einem ausdifferen-

zierten Weltbild. Den entscheidenden Unterschied im Übergang vom kindlichen zum jugendlichen Denken sehen sie in der Entwicklung von der Objektzur Mittelreflexion. Kinder reflektieren auf einer gegenständlich vorgestellten

3 Vgl. z.B. Hans Mendl, Wie laut war eigentlich der Urknall?, in: KatBl 5/2008, 316–319; Matthias Bahr, Jenseits der »ersten Naivität«, in: Ebd., 333–337. Bisher wurde der Theodizeefrage besondere Bedeutung beigemessen. Durch die empirische Studie von Ritter u.a. wurde diese Auffassung in mancher Hinsicht verändert. In der Studie wurde deutlich, dass die Schüler/innen differenziert mit der Theodizee Problematik umgingen und sie somit nicht für alle Jugendlichen von zentraler Bedeutung ist; vgl. Werner H. Ritter u.a., Leid und Gott – Aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen, Göttingen 2006. Weitere Beiträge weisen auf eine Verschiebung sowie Kontextgebundenheit der Relevanz der Einbruchsstellen hin; vgl. Karina Möller, Oberstufenschülerinnen und -schüler reflektieren ihr Gottesbild, in: Petra Freudenberger-Lötz / Ulrich Riegel, »Mir würde das auch gefallen, wenn er mir helfen würde«. Baustelle Gottesbild im Kindes- und Jugendalter, JaBuKi Sonderband, Stuttgart 2011, 212 f sowie Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern und Jugendlichen. Konzeptionelle Grundlegung und empirische Befunde, in: Ebd., 18. 4 Es lassen sich bei Jugendlichen der Sekundarstufe I und II drei grundlegende Muster des Verhältnisses von Theologie und Naturwissenschaft vorfinden: »Naturwissenschaft widerlegt Gott« (dominierende Kategorie), »Naturwissenschaft und Glaubenskonflikt« und ferner »Vermittlungsstrategien«. Bei letztgenannter wird Gott zumeist eine »Lückenbüßerfunktion« zuerkannt, eine echte Vermittlung lässt sich selten beobachten; vgl. Martin Rothgangel, Naturwissenschaft und Theologie. Wissenschaftstheoretische Gesichtspunkte im Horizont religionspädagogischer Überlegungen, Göttingen 1999, 66–73. 5 Reto Luzius Fetz u.a., Weltbildentwicklung und Schöpfungsverständnis. Eine strukturgenetische Untersuchung bei Kindern und Jugendlichen, Stuttgart u.a. 2001, 359.

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Welt. Mit Entwicklung des formal-operatorischen Denkens kann der Wirklichkeit zunehmend in einer hypothetisch – deduktiven Haltung begegnet werden. Die eigenen Denkkategorien und Vorstellungen, die denkerischen Mittel, können hinterfragt werden. Dieser Übergang ist wesentlich für die Wirklichkeitsauffassung, vollzieht sich jedoch bereichsspezifisch. Problematisch ist im Jugendalter, dass die biblischen Schöpfungsgeschichten, im Gegensatz etwa zu Gedichten im Deutschunterricht, häufig noch wörtlich verstanden werden. Das Problem wird auf einer Objektebene behandelt, auf der wörtlich verstandener Bibelglaube als inkompatibel mit einem naturwissenschaftlichen Weltenstehungsprozess erscheinen muss. Der Heranwachsende ist kaum in der Lage von sich aus mittelreflektierendes Denken zu entwickeln. Hier kann durch die Förderung von komplementärem Denken6 und mehrperspektivischer Wahrnehmung geholfen werden.7 Die Schwierigkeit von Religionsunterricht im Jugendalter besteht demnach hauptsächlich darin, Heranwachsende mit einem überwiegend einseitig naturwissenschaftlich geprägten Weltbild für einen religiösen Wirklichkeitszugang zu öffnen. Zu diesem Ergebnis kommen auch die Studierenden. Sie erkennen, dass die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft ein Schlüsselproblem des Religionsunterrichts ist. Beim Thema Schöpfung stellt sich unmittelbar die Frage nach einer Vermittlung von naturwissenschaftlichen und theologischen Ansichten. Diese steht in enger Beziehung zum Prozess der individuellen Weltbildentwicklung und Reflexionsfähigkeit. Es handelt sich um fortschreitende Prozesse, also um dynamische Entwicklungen, an denen sich eine

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schöpfungsorientierte Didaktik auszurichten hat.8 Insgesamt ist die Entwicklung eines vielseitigen, transformationsfähigen und tragfähigen Schöpfungsbegriffes biographiebegleitend anzuregen und ein vielschichtiges spannungsreiches Gottesbild zu ermöglichen. Auch wenn komplementäres Denken und eine systematische Mittelreflexion erst ab der Oberstufe ein umfassendes Entwicklungsstadium erreichen können, müssen sie doch kontinuierlich und frühzeitig angebahnt und gefördert werden. Heranwachsenden sollten Erfahrungs- und Reflexionsräume hinsichtlich einer facettenreichen Wirklichkeit geschaffen werden.9 Spätestens mit Eintritt 6 Komplementäres Denken, auch relations- und kontextbezogene Logik genannt, ist eine spezifische gedankliche Koordinationsleistung zwischen verschiedenen Theorien, welches scheinbar diskrepante Aussagen synthetisch vereinen kann. Dies wird als notwendige Voraussetzung für eine Integration von religiösen und naturwissenschaftlichen Vorstellungen gesehen. In einem umfassenden Sinne kann es in der Regel erst in einem höheren Jugendalter erreicht werden und setzt systematisches mittelreflektierendes Denken voraus. Die Entwicklung vollzieht sich etappenweise und kann stagnieren; vgl. Karl Helmut Reich, Es ist nicht logisch, aber doch wahr! in: KatBl 128/2003, 8–13 sowie Veit-Jakobus Dieterich, Schöpfung und Natur im Religionsunterricht, in: Entwurf 4/2008, 12–15. 7 Vgl. Reto Luzius Fetz (wie Anm. 5), 341–362. 8 Vgl. Guido Hunze, Die Entdeckung der Welt als Schöpfung. Religiöses Lernen in naturwissenschaftlich geprägten Lebenswelten, Stuttgart 2007, 258 f. 9 So verstehe ich auch Guido Hunze, wenn er unter dem Aspekt einer lebensweltlichen Orientierung eine erfahrungsbasierte Thematisierung disparater Wirklichkeit fordert; vgl. ebd., 252–253. Auch aus anderen Kreisen wird die Forderung nach Mehrperspektivität laut. Der Erziehungswissenschaftler und Bildungsforscher Jürgen Baumert fordert im Kontext der PISA-Debatte Mehrperspektivität im

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in die Sekundarstufe I, bestenfalls schon in der Primarstufe, ist eine mehrperspektivische Wahrnehmung über verschiedene Zugangsweisen anzuregen. Damit werden Angebote zur Ausdifferenzierung des Weltbildes geschaffen.10 In der fünften Klasse befinden sich die Schüler/innen überwiegend im hybriden Stadium der Weltbildentwicklung. In diesem stehen naturwissenschaftliche und religiöse Erklärungsmodelle größtenteils noch problemlos nebeneinander. Sie werden oft fantasievoll vermischt oder zeitlich hintereinandergeschaltet. Einige Kinder sind noch auf konkrete Anschauungen angewiesen, während von anderen schon abstrakte Probleme bearbeitet werden können. Ein Auflösungsstadium des unreflektierten artifizialistischen Schöpfungsverständnisses ist charakteristisch. Uns scheint, als verdiene gerade diese Phase besondere Aufmerksamkeit.

• Wie gehen unsere Schüler/innen mit mehrperspektivischen Impulsen um? • Wie können religiöse und naturwissenschaftliche Weltdeutung zueinander in Beziehung gesetzt werden? Insgesamt stehen sechs Doppelstunden zur Verfügung. Die sechs Studierenden unterrichten jeweils zu zweit eine Schülergruppe von acht Kindern. So werden sie schneller vertraut mit den Schüler/innen und können stärker auf deren Interessen und Erfahrungen eingehen. Außerdem können die Studierenden ihre eigenen Impulse gezielter setzen und deren Wirkung leichter verfolgen als im Klassenunterricht. Die Unterrichtsstunden werden mit einem Audiogerät aufgezeichnet. Dies bietet den Studierenden die Möglichkeit einer fundierten Reflexion sowie eines prozessorientierten Arbeitens.

2. Etappe: Praxisphase Wir setzen unter Berücksichtigung der entwicklungspsychologischen Faktoren thematische Schwerpunkte und differenzieren die Forschungsfragen aus. Didaktische Überlegungen zur unterrichtlichen Umsetzung unter Einbezug ausgewählter Materialien11 schließen sich an. Den Studierenden wird bewusst, dass Schöpfung ein elementares biblisches Themenfeld und nicht auf den Konflikt Glaube – Naturwissenschaft zu beschränken ist. Trotz allem stellt dieser Konflikt offensichtlich die größte Herausforderung dar.12 Für die Praxisphase werden folgende Fragen formuliert: • Welche Zugänge und Fragen haben unsere Fünftklässler zum Thema Schöpfung?

Sinne einer ganzheitlichen Bildung. Er spricht sich nachdrücklich für eine Kompetenzentwicklung Heranwachsender zu einem sachgemäßen Umgang mit unterschiedlichen Modi der Weltbegegnung aus. Vgl. Jürgen Baumert, Deutschland im internationalen Bildungsvergleich, in: Nelson Killius u.a. (Hg.), Die Zukunft der Bildung, Frankfurt a.M. 2002, 106 ff. 10 Zur Umsetzung in der Grundschule siehe: Grundschule 6/2012: Kinder fragen nach der Wahrheit – Deutungen von Wirklichkeit im Religionsunterricht. 11 Vgl. z.B. Sabine Benz / Frieder Spaeth, Hat Gott den Urknall gemacht? Mit Grundschüler/innen über Gottes Schöpfung nachdenken, in: Entwurf 4/2008,16–21 sowie Gerhard Büttner / Veit-Jakobus Dieterich, Spuren Lesen 1. Religionsbuch für die 5./6. Klasse, Stuttgart 2007. 12 Vgl. Petra Freudenberger-Lötz, Schöpfung, in: Gerhard Büttner u.a. (Hg.), Handbuch »Theologisieren mit Kindern«, Stuttgart 2013 (i.E.).

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Die Studierenden wählen einen gemeinsamen Einstieg im Klassenverband um eine Ausgangsbasis zu schaffen, die eine vertiefte Weiterarbeit in den Kleingruppen ermöglicht. In der letzten Doppelstunde werden die Gruppen und ihre Ergebnisse zusammengeführt und ein Abschluss gestaltet. Die Unterrichtseinheit(en) sind als Weg anzusehen. Von einem gemeinsamen Startpunkt aus werden drei unterschiedliche Wege mit verschiedenen thematischen Weggabelungen eingeschlagen, welche die Schüler/innen im Zielareal wieder zusammenführen.

Zunächst interessiert uns, wo die Schüler/innen stehen und welche Fragen sie haben. Der Klasse wird der Ablauf der nächsten Wochen erklärt. Betont wird, dass wir gemeinsam mit ihnen forschen möchten und daran interessiert sind, was jeder Einzelne über das Thema denkt. Sie sind als Experten ihrer eigenen Fragen und Ansichten gefordert. Die Schüler/innen überlegen, wie Forscher vorgehen und sammeln Ideen. Sie erkennen, dass sie zunächst überlegen müssen, was sie schon zu dem Thema wissen. Es folgt eine Kartenabfrage zum Thema »Schöpfung«, wobei sich der Begriff zunächst als Hindernis erweist. Um die individuelle Fragehaltung anzubahnen, können die Schüler/innen aus einer Angebotspalette von verschiedenen Bildern auf Plakaten zum Themenfeld13 jenes auswählen, welches sie am meisten anspricht. Davor bleiben sie stehen und tauschen sich aus. Sie wählen die Plakate aus unterschiedlichen

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Gründen. Bei der Mehrzahl stehen ästhetische Motive im Vordergrund, auch wenn diese inhaltlich teilweise unglaubwürdig erscheinen wie bei dieser Schülerin: »Ich finde die Bilder einfach schön, aber eigentlich glaube ich gar nicht an Adam und Eva.« Andere Kinder wählen die Plakate, weil sich bei ihnen bereits beim ersten Betrachten Fragen stellen oder sie Elemente wiedererkennen. Als Bezugspunkte werden neben dem Religionsunterricht insbesondere TV-Sendungen wie Galileo genannt. In allen Gruppen wird intensiv diskutiert. Die Fragestellungen der Kinder lassen sich bündeln. Es sind Fragen nach • dem Grund, Erhalt und Sinn von Welt und Leben: »Warum hat Gott die Welt erschaffen?« / »Warum entwickelt sich die Erde weiter?« / »Warum hat Gott uns erschaffen?« • konkret biblischen Bezügen: »Wer sind eigentlich Adam und Eva?« • der Art und Weise der Erschaffung: »Wie ist die Natur entstanden? Hat Gott sie erfunden?« • einer Verhältnisbestimmung von Schöpfungshandeln Gottes und naturwissenschaftlichen Erklärungen: »Hat Gott den Urknall gemacht?« • dem Wahrheitsanspruch verschiedener Deutungen von Wirklichkeit: »Gab es wirklich Adam und Eva? Oder was ist wahr? Wer war vor uns da? Die Einen sagen wir stammen von Adam und Eva ab, die Anderen sagen von Affen.«

13 Die Studierenden wählten Naturaufnahmen, Bilder von Universum und Urknall, ein Bild zur Umweltzerstörung, das bekannte Bild »Schöpfung« von Sieger Köder sowie eine Darstellung der Sieben-Tage-Ordnung von Gen 1,1–2,4a.

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Ein Schüler resümiert: »Das sind ja so schwierige Fragen« und begründet: »weil niemand, noch nicht einmal die Wissenschaftler haben eine Ahnung davon.« Ausgehend von der ersten Stunde im Klassenverband ergeben sich für die drei Kleingruppen unterschiedliche Anknüpfungspunkte. Ich skizziere den jeweiligen Unterrichtsverlauf und wesentliche Beobachtungen. Am Ende werden diese gebündelt.14

2.1 Gruppe 1: »Warum bin ich auf der Welt?« Der Vergleich von Schöpfungsglaube und naturwissenschaftlichen Theorien wird von den Studierenden spielerisch mittels zweier Stabpuppen, Gelb und Rosa, eingebracht. Sie fragen sich, wer sie sind und woher sie kommen und diskutieren über ihren Ursprung. Für Gelb ist ihre Existenz ein natürliches Zufallsprodukt. Rosa vertritt die Meinung, sie seien durch einen Hersteller geschaffen worden.15 Die Schüler/innen nehmen durch bewusst gesetzte Pausen an der Geschichte teil. Die Fragestellungen der Puppen verstärken ihre eigenen Fragen nach Herkunft und Sinn ihrer Existenz und werden auf ihre Lebenssituation übertragen. Eine Studentin resümiert: »Insgesamt wurde eine offene, neugierige, spekulative und kreative Auseinandersetzung mit dem Thema gefördert.« Die Kinder sind in dieser Phase offen für neue Gedanken und nehmen verschiedene Blickwinkel ein. Auf einem Arbeitsblatt werden die Positionen der Stabpuppen sowie die eigene Meinung zu der Frage »Warum bin ich auf der Welt?« notiert. In der Stundenreflexion weisen sie darauf hin, dass ihnen die Stunde gefallen hat, weil »wir unsere

Meinung auch sagen durften und unsere Kritiken.« Ein Mädchen ergänzt: »Also ich fand die Stunde cool, weil ich habe mich manchmal auch gefragt, wo wir herkommen, aber meine Mama wusste das nicht.« Dies bestätigt die Aktualität der Fragestellungen in der Lerngruppe. Die Stunde nimmt eine Schlüsselstellung ein. Die Studierenden stehen vor verschiedenen Weggabelungen und Herausforderungen. Die Kinder bringen ein schlagwortartiges »Weltwissen«16 mit. Ihr biblisches sowie naturwissenschaftliches Wissen ist rudimentär, es besteht Klärungsbedarf. Die Kinder haben von »irgendwie aufeinander treffenden Planeten« gehört, von einem »komischen Knall« und »irgendwie hat sich dann Leben entwickelt.« Ein Mädchen betont: »Ich habe selber keine Ahnung vom Urknall. Ich glaube nicht daran.« Hinsichtlich des christlichen Schöpfungsglaubens wird von einem »giftigen Apfel und diesem Staub und der Schlange« geredet. Aber auch die Erzählung von der »Er-

14 Die Gruppenkonstellationen der Plakate werden für die Arbeit in den Kleingruppen übernommen. In der Darstellung wie auch der Analyse werden die mündlichen und schriftlichen Reflexionen der Studierenden mit einbezogen. 15 Vgl. Karolin Heid, Gelb und Rosa. Eine kleine philosophische Geschichte über die große Frage der Schöpfung, in: Grundschule Religion 11/2005, 15–17. 16 Michael Fricke, »Schwierige« Bibeltexte im Religionsunterricht. Theoretische und empirische Elemente einer alttestamentlichen Bibeldidaktik für die Primarstufe, Arbeiten zur Religionspädagogik Bd. 26, Göttingen 2005, 383. Guido Hunze verweist unter Rückgriff auf Martin Rothgangel darauf, dass kein fundiertes sondern gerade ein begrenztes naturwissenschaftliches Alltagswissen zu Widerständen führt; vgl.: Guido Hunze (wie Anm. 8), 259.

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schaffung der Welt in sieben Tagen« ist in Ansätzen bekannt. Die Formulierungen weisen auf ein unreflektiertes wört-

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liches Verständnis der Geschichten hin. Fünf Positionen kristallisieren sich in dieser Stunde heraus:

1) Der Glaube an Adam und Eva wird zugunsten naturwissenschaftlicher Theorien von sich gewiesen. Gott wird eine Beschützer-Funktion zugewiesen (S1).

»Eigentlich glaube ich gar nicht an Adam und Eva, weil ich glaube auch nicht an diesen giftigen Apfel und diese Schlange und es ist ja Mist, dass es zwei Menschen gab und dann immer mehr. Ich glaube, dass alle vom Affen abstammen.« Sie ergänzt: »Vielleicht hat Gott ja einfach beim Urknall zugeschaut und vielleicht beschützt er uns ja einfach.«

2) Der Glaube an Adam und Eva wird von sich gewiesen. Gott wird als Grund der eigenen Existenz angesehen (S2).

»Ich glaube eigentlich gar nicht an Adam und Eva.« Auf dem Arbeitsblatt wird formuliert: »Ich lebe, weil Gott mich gemacht hat und ich glaube, dass Gott der Erste war.«

3) Der Glaube an den Urknall wird von sich gewiesen. Die Welt und menschliches Leben sind durch Gottes Liebe entstanden (S3/S4).

»Ich glaube nicht an den Urknall, weil das gar nicht geht. Ich glaube Gott hat die Welt und die Menschen erschaffen, weil er uns lieb hat.« Beide Schüler/innen argumentieren ähnlich.

4) Die Geschichte von Adam und Eva sowie der Urknall erscheinen unglaubwürdig. Gott ist Grund der eigenen Existenz (S5/S6/S7).

»Also, ich glaube nicht an den Urknall, weil das ist einfach Schwachsinn und an Adam und Eva glaube ich auch nicht.« Sie erläutern, Gott sei dennoch für ihre Existenz verantwortlich, nur die Geschichte sei unglaubwürdig. Eine Schülerin (S7) versucht probehalber ihre naturwissenschaftlichen Kenntnisse mit dem Schöpfungshandeln Gottes zu verbinden. Gottes Existenz könne durch den Urknall hervorgebracht worden sein. Dann habe er alles erschaffen und aus den Affen hätten sich die Menschen entwickeln können. Aber eigentlich glaube sie nicht an den Urknall.

Beides ist möglich (S8).

»Eigentlich kann es ja beides sein, weil man weiß ja nicht, wie es früher passiert ist«, lautet die unsicher formulierte Meinung einer Schülerin.

Die Überlegungen der Kinder münden mehrheitlich in einem alternativistischen Denken. Dies könnte mit dem Bedürfnis nach einer eindeutigen Antwort einhergehen oder mit einem gewohnten Denken in Alternativen. Mehrheitlich wird die Erzählung von Adam und Eva von den Kindern abgelehnt. Dies resultiert je-

doch nicht in einer Zurückweisung ihres Gottesglaubens. Im Gespräch werden verschiedene Begründungsversuche von den Kindern eingebracht. »Ich glaube eher daran, dass Gott uns geschaffen hat, weil er uns lieb hat«, sagt eine Schülerin und spricht damit den Gemeinschaftswillen Gottes sowie eine anthropologische

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Perspektive an. Nachdrücklich wird von einem anderen Schüler17 die Bedeutung der Liebe Gottes hervorgehoben: »Ich lebe, weil es Gott so wollte. Er wollte, dass genau mein Aussehen und meine Persönlichkeit auf der Welt sind.« Der Mensch als geliebtes Geschöpf Gottes, Schöpfung als relatio sowie die imago dei bieten sich hier als Anknüpfungspunkte an. Mit Nachdruck betont der Schüler: »Gott durch den Urknall? Ich finde das alles Schwachsinn, weil ich finde, dass Gott dieses ganze Universum, ja alles, selber gemacht hat.« Zuvor überrascht er die Studierenden mit der zunächst befremdlichen Aussage: »Ich will in den Himmel.« Die naturwissenschaftliche Erklärung scheint für ihn Zusagen des Glaubens in Frage zu stellen, hier vermutlich die eschatologische Perspektive des Schöpfungsglaubens und damit die Heilsgewissheit. Insgesamt lassen die Kinder ein kausales Denken erkennen. Alles was da ist, muss doch einen ursächlichen Grund haben. Wenn die beiden Stabpuppen von einem Hersteller gemacht worden sind, wer hat dann den Hersteller gemacht, fragen sie sich. Bereits in der ersten Stunde im Plenum stellten sie die Wahrheitsfrage, die im Grunde eine Glaubensfrage nach der Wirklichkeit und Treue Gottes ist. Sie scheinen mehrheitlich einen korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff verinnerlicht zu haben und fragen, was ist wirklich, im Sinne von historisch richtig, geschehen. Diese Schülerin bedauert, dass es »früher noch keine Filme gab, sonst könnten wir das ja alles so sehen.« Die sinnliche Wahrnehmung spielt eine wichtige Rolle. Eine Arbeit am Wahrheitsbegriff mit der Sensibilisierung dafür, dass dieser mehr als nur Übereinstimmung von Aussagen oder Sach-

verhalten mit der »Wirklichkeit« meint, ist angebracht.18 Zudem werden die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen angezweifelt. Insbesondere ein Kind betont mehrmals, dass wir die Fragen nach dem »Wie?«, »Warum?« und »Woher?« von Welt und Leben eigentlich gar nicht beantworten können. Eine Unterscheidung von entscheidbaren und unentscheidbaren Fragen19 wäre sicherlich hilfreich gewesen. Die Schüler/innen lieferten hierfür einen Anknüpfungspunkt, indem sie anführten, man könne den Hersteller der Puppen fragen, wie und warum die beiden Stabpuppen gemacht wurden. »Leider haben wir das Potential dieser beiden Fragehaltungen in dem Moment

17 Dies ist der einzig männliche Schüler in der Kleingruppe. 18 Wahrheit ist ein vielschichtiges Wort. Alle Begriffsbestimmungen haben deshalb nicht zu Definitionen, sondern zu Kurzfassungen von philosophischen und theologischen Theorien über wahres Sein und wahre Erkenntnis geführt. Die Wahrheit einer biblischen Geschichte hängt nicht von deren tatsächlichem Geschehen ab, sondern wie sie menschliche Wirklichkeit aus dem Glauben heraus deutet und ob sich dies für den Einzelnen als tragfähig erweist; vgl. Peter Müller, Gegenwärtige Perspektiven, in: Anita Müller-Friese u.a. (Hg.), Verstehen lernen. Ein Arbeitsbuch zur Hermeneutik, Stuttgart 2005, 42–78. 19 Entscheidbare Fragen sind eindeutig beantwortbar und intersubjektiv überprüfbar. Unentscheidbare Fragen lassen sich nicht eindeutig beantworten. Es gibt verschiedene Positionen und Meinungen, die innerhalb eines Bezugsrahmens ausgehandelt und diskutiert werden können. Letztlich müssen sie sich für den Einzelnen als tragfähig erweisen; vgl. Heinz von Foerster, Eine Theorie des Erlernens und Erwissens angesichts von Unwissbarem, Unbestimmbaren und Unentscheidbarem, in: Reinhard Voß (Hg.), Die Schule neu erfinden. Systemisch-konstruktivistische Annäherungen an Schule und Pädagogik, Neuwied / Kriftel 2002, 14–32.

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nicht erkannt«, reflektiert eine Studentin in ihrer Abschlussarbeit.

Der gewählte Weg Die Studierenden können aufgrund der zeitlichen Begrenzung nicht alle Aspekte beachten. Sie wollen im Fortgang der Einheit einer einseitigen Sachkenntnis entgegenwirken, aber auch die Wahrheitsfrage tangieren. Die Kinder sollen überlegen, wie ein Chemiker, ein Allergiker und eine Verliebte eine Rose beschreiben würden und wer letztlich im Recht sei. Sie kommen zu dem Schluss: »Eigentlich haben alle recht, weil sie sehen alle die Rose aus ihrer Meinung. Der Mann findet sie blöd, weil er allergisch gegen sie ist und der Typ da, der Chemiker, der will damit forschen und die Frau findet sie schön, weil es ein Liebesbeweis ist.« Der Transfer des Rosen-Beispiels hinsichtlich der Weltentstehung fällt den Kindern zunächst nicht leicht und erfordert mehrere Impulse. In Form einer Gruppenarbeit werden Genesis 1 und 2, ein Indianermythos und die naturwissenschaftliche Sichtweise anhand von Text- und Bildmaterialien erarbeitet und auf Plakaten präsentiert. Die Schüler/innen sind mit Eifer dabei. Es entsteht eine rege Diskussion darüber, wer und ob überhaupt jemand recht hat. Insbesondere zwei Kinder betonen, die Wissenschaftler würden es selbst nicht genau wissen, da sie nicht bei der Entstehung dabei waren. Es sei nur eine Schätzung, da sie erst seit Kurzem die technischen Geräte hätten, um wirklich etwas untersuchen zu können. Hier reicht ihr abstraktes Vorstellungsvermögen noch nicht aus. Die Annahme, mit Hilfe von Technologie könne etwas vor so langer

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Zeit Geschehenes erforscht werden, erscheint ihnen unmöglich. Die Lerngruppe wird gefragt, ob die kennengelernten Zugänge die gleiche Frage beantworten wollen. Sie sind sich einig und bejahen dies. Sie spiegeln die Frage aber an die Studentin zurück und erkundigen sich nach ihrer persönlichen Haltung: »Wollen Sie nicht noch sagen woran Sie glauben?« Ihr Impuls, dass die naturwissenschaftliche Erklärung, wie die Welt entstanden ist, für sie nicht beantwortet, warum sie entstanden ist und welchen Sinn ihr eigenes Leben hat, ihr hier die biblischen Geschichten aber eine Antwortmöglichkeit bieten, greifen die Schüler/innen leider nicht auf. Ein Textauszug von Rainer Oberthür wird ihnen präsentiert. »Wir stehen ratlos wie am Anfang und fragen: Woher kam der Urknall? Warum gibt es eine Welt? Hier bleibt mir nur eine Antwort, die ich nicht beweisen, aber aus tiefer Überzeugung glauben kann: Am Anfang gab es nichts. Am Anfang war nur Gott. (…) Aus dem Nichts ließ Gott etwas Wunderbares werden. (…) Das hat lange gedauert, mit unserer Uhr gemessen Milliarden von Jahren. Die Bibel erzählt in einem wunderschönen Gedicht von einem Anfang in sieben Tagen, sie erzählt von der Schöpfung Gottes. Und ich glaube: Auch dich und mich gibt es, weil Gott es will, weil Gott ja sagt zu jedem Menschen auf seiner und unserer Welt (…).«20 Es fällt den Kindern nicht schwer die Grundposition des Autors herauszuarbeiten. Sie entwickeln im Anschluss Ideen, wie die verschiede20 Rainer Oberthür, Woher kommen wir? Woher kommt die Welt?, in: Albert Biesinger / Helga Kohler-Spiegel, Gibts Gott? Die großen Themen der Religion. Kinder fragen – Forscherinnen und Forscher antworten, München 32008, 16.

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nen Sichtweisen zueinander stehen könnten und setzen ihre Vorstellung vom Ursprung kreativ um. Es zeigen sich für das hybride Stadium typische Lösungen im Sinne einer Hintereinanderschaltung oder kreativen Vermischung, aber auch andere Ansichten werden vertreten.

sprochen hatte und die Liebe Gottes betonte. Das Lernarrangement scheint zu einer Entschärfung beigetragen zu haben. ) Abbildung 2: »Gott erschafft den Urknall!!! 2 Planeten treffen aufeinander und dann entsteht die Welt.« (S1) Das

) Abbildung 1: »Gott und der Keks« (S3) »Ich glaube, dass Gott das Universum erschaffen hat, es aber dann den Urknall

Mädchen, das zuvor Gott eine Beschützer-Funktion zugewiesen hatte, verbindet nun in ihrem Bild den Urknall mit Gottes Handeln. Im Gespräch vor dem Malen überlegt sie: »Also irgendwie glaube ich ja schon, dass Gott die Welt erschaffen hat. Aber ich glaube das mit Adam und Eva und den sieben Tagen nicht.« Auch hier zeigen sich eine Öffnung und ein Überdenken der anfänglichen Position. ) Abbildung 3: »Indianer und Gott« (S5)

gab, der die Welt erschaffen hat. Also die Welt war schon da als Planet und Gott hat dann darauf die Sachen in sieben Tagen erschaffen.« Dies äußert der Schüler, der sich vorher vehement gegen eine Verbindung von Gott und Urknall ausge-

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Diese Schülerin verknüpft in ihrem Bild den kennengelernten Indianermythos mit dem Handeln Gottes. Zuvor formulierte sie hypothetisch, der Urknall könne von selbst entstanden sein und Gott habe dann nur die Lebewesen erschaffen. Sie resümiert: »Indianer und Gott, das kann ich mir vorstellen, aber die Wissenschaft ist irgendwie komisch für mich.« ) Abbildung 4: »Gott und die Welt. Gottes Hände erschaffen die Welt.« (S4)

»Gott hat die Menschen lieb und deshalb alles erschaffen«, lautet die zentrale Aussage. Eine andere Schülerin malt ein ähnliches Bild mit der gleichen Begründung (S2). Die zentrale Ausgangsposition dieser Schülerinnen war der Glaube an Gott als Grund der Existenz von Welt und Leben. ) Abbildung 5: »Alles ist möglich« (S7)

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Die Schülerin, der sowohl naturwissenschaftliche Erklärungen als auch die Geschichte von Adam und Eva unglaubwürdig erschienen, ist nur der Meinung alles sei möglich (S7). In ihrer Darstellung malt sie Adam und Eva und den Baum der Erkenntnis. Zwei Schülerinnen waren an diesem Tag leider krank. Die Kinder formulieren abschließend ihr individuelles Forschungsergebnis. Eine Schülerin schreibt: »Ich habe gelernt, dass alle Menschen einen anderen Glauben haben. Es gibt viele verschiedene Meinungen.« Diese Aussage spiegelt das Meinungsbild der Gruppe wieder. Die Kinder erkennen und respektieren verschiedene Ansichten als solche und können sie in ihrem Denkhorizont abwägen. Deutlich wird aber die Gefahr der Beliebigkeit. Das eine kann wahr sein, das andere aber auch. Die verschiedenen Ebenen und Wirklichkeitszugänge sind noch miteinander vermischt. Entscheidbare und unentscheidbare Fragen stehen noch ungeklärt nebeneinander. Problematisch ist, dass die Kinder mit dem Fazit herausgehen: Die Theorie vom Urknall in Verbindung mit der Evolutionstheorie, die Schöpfungsgeschichten und der Indianermythos wollen alle das Gleiche erklären. Wer nun Recht hat, weiß keiner. Genau das kann aber später dazu führen, dass Glaube und Naturwissenschaft auf einer Ebene abgewogen werden und in Konflikt miteinander geraten.

2.2 Gruppe 2: »Woher kommt die Welt?« An die Schüleraussage aus der gemeinsamen Einstiegsstunde: »Ja, da kann man sich drüber streiten, weil die Wissenschaftler sagen, es ist der Urknall selbst

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gewesen und die Theologen sagen, es war Gott!«, knüpfen die Studierenden dieser Kleingruppe in ihrer Planung an. Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Position und der der Mitschüler/innen steht zunächst im Mittelpunkt. In dem Buch »Sofies Welt« erhält das Mädchen Sofie seltsame Briefe mit Fragen. »Woher kommt die Welt? Nein, das wußte sie wirklich nicht. Sofie wußte natürlich, daß die Welt nur ein kleiner Planet im riesigen Weltraum war. Aber woher kam der Weltraum?«21 Die Studierenden führen in die Geschichte ein und lassen die Kinder an Sofies Gedanken teilhaben. Auch sie erhalten persönliche Briefe mit der Frage: »Hat Gott die Welt und das Weltall gemacht oder ist alles durch Zufall entstanden?« und werden herausgefordert eine individuelle Antwort zu gestalten. Zwei Kinder entscheiden sich für den Zufall, zwei unterscheiden zwischen der Entstehung von Welt und Universum, drei sind für Gott und ein Kind ist der Ansicht, beides sei falsch. Die Begründungen sind unterschiedlich. 1) Welt und Weltall sind durch Zufall entstanden (S9/S10). Ein Junge (S9) begründet seine Wahl mit der zeitlichen Existenz Gottes: »Ich glaube, alles ist durch Zufall entstanden, weil Gott da noch gar nicht gelebt hat.« Die Unsicherheit ob der Frage nach dem Ursprung Gottes führt bei einem anderen Schüler (S10) zu der Meinung: »Kein Plan! Ich glaube das war ein Zufall. Gott kann sich ja nicht selber zur Welt bringen?!« 2) Gott hat die Welt und das Weltall erschaffen (S11/S12/S13) Bei dieser Schülerin (S11) resultiert die Frage nach dem Ursprung Gottes in ei-

ner mit vielen Fragen verbundenen Entscheidung für Gott. »Hat Gott sich selber erschaffen? Oder hat die Erde sich erschaffen? Wer war wohl als erstes da? Ich denke mal Gott, aber wo hat Gott als erstes gelebt?« Unsicher in ihrer Aussage erscheint auch dieses Mädchen (S12): »Ich

Briefauszug (S12)

würde mal sagen, dass Gott die Welt und das Weltall erschaffen hat. Warum ich das denke? Keine Ahnung!« Sie verdeutlicht ihre Vorstellung vom Ursprung mithilfe einer Zeichnung. Ein anthropomorph vorgestellter Gott erschafft mit seinen Händen die Welt inmitten eines geozentrisch gedachten Weltraumes. Die Darstellung wirkt wiederum bestimmt und keinesfalls unsicher. »Darüber gibt es verschiedene Meinungen. Ich glaube, dass Gott die Welt und das Weltall erschaffen hat. Aber andere glauben, dass plötzlich auf der Erde Leben war. Und ich glaube, dass er die

21 Jostein Gaarder, Sofies Welt, München 1993, 13 f.

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Welt in 7 Tagen geschaffen hat, auch wenn es sich unwahrscheinlich anhört«, antwortet diese Schülerin (S13). Sie berücksichtigt bei ihrer Entscheidung verschiedene Positionen. Ihre Einschränkung deutet darauf hin, dass sie um die Anzweiflung der Perspektive weiß. 3) Gottes Handeln wird auf die Entstehung der Erde beschränkt (S14/S15). Die Kinder, die zwischen der Entstehung des Universums durch den Urknall und der Welt durch Gott unterscheiden, beschränken beide Gottes Handeln auf die Erde. »Gott hat die Erde erfunden aber das Weltall ist durch den Urknall passiert«, wird argumentiert und von diesem Schüler mit einem Bild unterlegt (S15). Im oberen Teil ist der Urknall dargestellt, im unteren unser Sonnensystem, welches den Weltraum darstellen soll. Das Wissen um die einzelnen Planeten überrascht.

Briefauszug (S15)

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4) Beides ist falsch (S16) Ein Schüler argumentiert, beide Annahmen seien falsch. »Nein, beides ist falsch. Alles hat mit einem kleinen heißen Punkt angefangen«, beginnt er seinen Brief. Er erklärt auf zwei eng beschriebenen Seiten detailliert, wie das Universum durch den Urknall entstanden ist. Ein Zusammenhang zwischen Zufall und Urknall wird nicht hergestellt. Mit Ausnahme der erstaunlichen naturwissenschaftlichen Kenntnisse eines Schülers treffen wir auch in dieser Lerngruppe auf ein schlagwortartiges Alltagswissen. Insgesamt lässt sich auch hier ein ursächliches Denken erkennen. Im Gegensatz zu Gruppe 1 bezieht sich nur eine Schülerin auf eine biblische Schöpfungserzählung, Genesis 1. Meines Erachtens treten die Bedeutung der Gottesvorstellungen der Kinder und damit verbundene Fragestellungen stärker hervor. Keine rationalistischen, sondern aus der eigenen Lebenserfahrung stammende Argumente rufen diese hervor. Nachdem zur ersten Schöpfungserzählungen ein Bodenbild gestaltet wurde, regen die Studierenden das mehrperspektivische Denken an. Durch Gegenüberstellung einer von Dalis berühmten zerfließenden Uhren und einer gewöhnlichen Zeichnung einer Wanduhr rückt der Unterschied zwischen individuellem Zeitempfinden und der physikalisch messbaren Zeit in den Blick.22 Die Kinder

22 Die Idee mit den Uhren ist übernommen von Karl Helmut Reich; vgl. Karl Helmut Reich, Schnellere Einsicht und geringerer Lernwiderstand der SchülerInnen, in: Gerhard Büttner / Veit-Jakobus Dieterich (Hg.), Die religiöse Entwicklung des Menschen. Ein Grundkurs, Stuttgart 2000, 226–235.

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überlegen, warum die Uhr des Künstlers wohl so aussieht, indem sie auf ihre eigenen Zeiterfahrungen zurückgreifen. »Vielleicht, dass man die Zeit vergessen kann, wie gestern bei meinem Geburtstag«, wird vermutet. Es folgen Beispiele für ähnliche Situationen. Die Schüler/innen fänden es schön, wenn das »Langweilige immer nur ganz kurz dauern würde, und das Schöne länger geht.« »Eigentlich ist beides gleichlang«, wirft ein Junge ein. Der Impuls wird aufgegriffen: »Eigentlich, aber das Zeitgefühl ist anders. Wie bei einem Fach, was ich gar nicht mag.« Die Kinder werden gefragt was wäre, wenn ein Uhrmacher sagen würde, dass die Uhr des Künstlers falsch und seine Bauzeichnung richtig sei. Neben dem Argument, man solle einem Künstler seinen freien Lauf lassen, erklären die Kinder, dass der Künstler eine andere Absicht als der Uhrmacher habe. Einmal gehe es um das Zeitempfinden und einmal um Baupläne für eine Uhr, welche die »Echtzeit« misst. Ein Mädchen begründet: »Beide haben recht. Der Uhrmacher hat mit der Wirklichkeit recht und so eine Uhr (Dali) würde keiner kaufen. Der Künstler, weil er kein Bild nach irgendwelchen Regeln malt.« Erläuternd ergänzt ein Schüler: »Ich finde auch, dass beide recht haben. Die guten Sachen auf Dalis Uhr sind auf der oberen Hälfte, weil die schneller vorbei gehen und die unteren sind das Langweilige, weil die sich länger hinziehen.« Von diesem Punkt aus findet ein Transfer auf die Gegenstände Bibel und Mikroskop statt. Die Kinder sollen überlegen, was wohl eher Dalis Uhr und was einer Arbeitsunterlage des Uhrmachers entsprechen und wofür die Gegenstände stehen könnten. Schnell kommen sie zu dem Schluss: Die Bibel steht für die Religion, das

Mikroskop für die Naturwissenschaft. Der Text von Rainer Oberthür »Woher kommen wir? Woher kommt die Welt?«23 berücksichtigt beide Perspektiven und bereitet in anschaulicher Weise naturwissenschaftliches Wissen zu Urknall und Evolution auf. Er wird abschnittsweise gelesen. Einzelne Aussagen werden von den Schüler/innen auf Karteikarten geschrieben und den Gegenständen Bibel und Mikroskop zugeordnet. Dies gelingt problemlos, auch wenn manche Begriffe, wie Atom, nach einer Klärung verlangen.24 Gegen Ende der Einheit positionieren sich die Schüler/innen anhand dreier Statements und erhalten die Möglichkeit ihre Briefe vom Anfang zu überarbeiten. • I »Die Welt und das Leben sind nur aus Zufall entstanden. Da steckt kein Gott dahinter. Ich habe Gott nicht gesehen, selbst Astronauten im Weltall haben ihn nicht gesehen.« • II »Eigentlich haben doch Wissenschaftler und auch Theologen irgendwie recht, es kann doch beides sein. Der Urknall und auch Gott.« • III »Es muss einen Gott geben, sonst würden wir Menschen nicht nach Gott 23 Die Studierenden steigen mit dem Abschnitt »Woher kommt die Welt?« ein; vgl. Rainer Oberthür (wie Anm. 20), 13–17. 24 Die Idee mit der Zuordnung von Bibel und Mikroskop ist angelehnt an: Patricia Hübner / Julia Schaffrath, Woher kommt die Welt? – Schöpfung in der Grundschule, in: KatBl 5/2008, 338–343. Im Nachhinein würden wir hinsichtlich der Textlänge Kürzungen vornehmen und schwierige Begriffe ausklammern, da sie sich für das Grundverständnis als eher hinderlich erwiesen. Weiterhin konnten die Kinder sich die ungeheure Dimension der Zeitabstände von vielen Milliarden Jahren seit dem Urknall bis heute schwer vorstellen. Es bietet sich an, mit einem proportionalen Zeitstrahl und Bildern zu arbeiten.

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Die Entstehung von Welt und Universum wird getrennt (S14: Trennung / S10: Zufall).

»Weil ich an den Urknall und auch an Gott glaube. Der Urknall hat das Universum erschaffen. Und Gott hat alles Leben, Wasser, Tag und Nacht und die Luft auf der Erde geschaffen.« Diese Begründung begegnete uns schon zuvor, wird nun aber auch von einem Schüler vertreten, der zunächst für den Zufall plädierte (S10).

Gott ist Urheber des Urknalls (S13: Gott).

Das Mädchen, welches bereits verschiedene Positionen berücksichtigte, verbindet nun die beiden Perspektiven. Sie schreibt: »Ich kann es mir so vorstellen, dass Gott den Urknall erschaffen hat, der explodiert ist und Gott dann die Erde geschaffen hat.«

Beide haben recht (S15: Trennung / S16: beides ist falsch).

Zwei Kinder argumentieren aus einem Gerechtigkeitsgedanken heraus: »Ich habe das genommen, weil ich es gerecht finde, dass beide recht haben. Nicht nur Wissenschaftler, auch Theologen haben recht. Das finde ich gut«, erklärt ein Schüler (S15).

fragen. Billionen von Zufällen zwischen Urknall und meinem Leben – das kann ich mir nicht vorstellen.«25 Sieben der acht Kinder wählen Option II. Eine Schülerin entscheidet sich für die Dritte (S12). Sie hatte ihre Meinung im Konjunktiv formuliert. In der Begründung ihrer jetzigen Wahl schreibt sie: »Ich habe diese Aussage genommen, weil ich an Gott glaube«, kann dies aber nicht näher ausführen. Zwei Schüler/innen wählen Statement II ebenfalls undifferenziert. »Ich habe es genommen, weil es kann ja wirklich beides sein«, schreibt dieses Mädchen. Sie hatte sich zuvor ob vieler Fragen für Gott entschieden (S11). Ein anderer Schüler gibt an: »Warum? Weiß ich nicht.« Er erklärte zuvor es sei Zufall, da Gott bei der Entstehung des Universums noch nicht gelebt hätte (S9). Die Begründungen der anderen Kinder gehen in drei Richtungen. Bei gleichen Positionen argumentieren sie sehr ähnlich. Jeweils in Klammern stehen ihre vorherigen Standpunkte.

Was zeigt sich? Zunächst ist die alternativistische Formulierung der Fragestellung der Briefe zu bedenken. Diese suggeriert von Beginn an eine notwendige Entweder-Oder-Entscheidung. Besser wäre es eine offene Frage zu wählen, um die Gedanken der Kinder nicht zu lenken. Erkennbar wird die Bedeutung der Gottesvorstellungen der Kinder bei ihrer Antwortsuche. Die Frage nach dem Ursprung Gottes sowie der Beschaffenheit seiner Existenz sind zentral. Als eine neue Argumentationsstruktur taucht das Gerechtigkeitsempfinden auf. Inhaltliche Argumente, die in der Textarbeit mithilfe der Zuordnung Bibel und Mikroskop diskutiert wurden, greifen die Schüler/innen zur Begründung kaum auf. Es wird verstärkt eine Auseinandersetzung mit den Meinungen der Mitschüler/innen sichtbar.

25 Statement I und III wurde übernommen, ob einer Verbindungsmöglichkeit jedoch Statement II ergänzt; vgl. ebd., 12.

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2.3 Gruppe 3: »Bewahrung der Schöpfung – was liegt in meiner Macht?« Dieses Unterrichtsbeispiel wird eindringlich zeigen, wie je nach Lerngruppe unterschiedliche Wege einzuschlagen sind und der Aufbau eines vernetzten Grundlagenwissens bei Schüler/innen wie auch Studierenden anzuregen ist. Im Gespräch vor den Plakaten in der ersten Doppelstunde wird neben der Frage nach der Erschaffung von den Kindern besonders betont, dass die Natur so schön und ein Geschenk sei, vielleicht sogar ein Geschenk Gottes. Daran knüpfen die Studierenden in Form eines Wahrnehmungsspazierganges an. Die Kinder sammeln »persönliche Schätze der Natur« und drücken ihre Verwunderung und ihr Staunen darüber aus. Die Erfahrung des eigenen Staunens soll als Anknüpfungspunkt für die biblische Perspektive dienen und in Form der verarbeiteten Glaubenserfahrungen von Psalm 8 einen Bogen schlagen. Von dort aus sollen die anfänglichen Fragestellungen der Lerngruppe aufgenommen werden. Zunächst tritt die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung im Gespräch über die gesammelten Schätze hervor. Der Geruch, die Form oder die Farbe und das Gefühl, etwa von Gras, was »sich so schön anfühlt beim Barfußlaufen« werden benannt und mit Bedeutungen für das eigene Leben verbunden. Die Kinder haben auch Müllfetzen gesammelt. Immer wieder betonen sie die Umweltverschmutzung. Der Müll, die Abgase, leere Tüten und zerrissenes Papier missfallen ihnen. Sie reflektieren ihr Verhalten: »Bei mir gibt es auch manchmal solche Tage, wo ich dann einfach keine Lust habe zum Müll zu laufen und das wegzuwerfen. (…)

Aber am besten wäre, wenn man das erst mal in die Tasche steckt und dann kann man das ja zu Hause wegwerfen.« Am Rande taucht die Vorstellung von »Mutter Natur« auf. »Sie ist irgendwie stärker. Sie macht zum Beispiel Orkane oder Fluten und das ist nichts dagegen, dass wir Menschen nur Müll wegwerfen«, relativiert eine Schülerin die Handlungen des Menschen. Bei einer ausführlichen Betrachtung und Interpretation des Bildes »Schöpfung« von Sieger Köder tauchen wiederum die anfänglichen Fragen der Schüler/innen nach der Entstehung der Welt auf. Gleichfalls geht es um die Gottesvorstellungen der Kinder. Ein Kind betont hinsichtlich der Bedeutung der Hände: »Vielleicht, dass Gott auf uns aufpasst (…) und dass er nicht nur bei einem ist, sondern bei allen.« Es entsteht eine Diskussion um die Fürsorge Gottes. Auch über die Aufgabe der Menschen wird nachgedacht. Verschiedene Fragestellungen überlagern sich. Die Relevanz im Denken der Kinder entscheidet letztlich den Fortgang des Unterrichtes. Der Umgang mit der Mitwelt sowie die Grenzen der eigenen Verantwortlichkeit bilden den neuen Schwerpunkt.26 Die Lerngruppe ist sich schnell einig, dass Gen 1,28 der Auftrag an den Menschen ist, verantwortungsvoll und fürsorglich mit der Mitwelt umzugehen und 26 Anregungen, wie der Schöpfungsauftrag im Spannungsfeld von Lob, Klage und ethischer Verantwortung zu sehen ist, finden sich in einem Beitrag von Hanna Roose; vgl. Hanna Roose, »Schöpfung« in der Klasse 4. Ein Praxisbericht aus dem Fachpraktikum, in: Gerhard Büttner u.a. (Hg.), Religion lernen. Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik, Bd. 1 Lernen mit der Bibel, Hannover 2010, 109–124.

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sie nicht auszubeuten. Es werden verschiedene Fotographien von Umweltverschmutzung, Naturkatastrophen und unversehrter Natur betrachtet und geclustert. Sortiert wird nach: »Das liegt in meiner Macht« und »Das liegt nicht in meiner Macht« und ein Faltblatt ausgestaltet. Im Gespräch werden spannende und herausfordernde Gedanken geäußert. Die Themen Tod und Sterben bezüglich Naturkatastrophen werden zum Anlass, um auf Mutter Natur sauer zu sein, »weil das unnötig ist, dass Mutter Natur das macht.« Als Erklärung entgegnet ein Schüler: »Sie macht das, weil sie sauer auf uns ist wegen unserer Verschmutzung, das ist Strafe.« Die Kinder fragen: »Wer ist mächtiger? Mutter Natur oder Gott? Warum beschützt Gott uns nicht?« Sie spekulieren, ob Gott und Mutter Natur einer Meinung sind und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. »Manche sagen alles was passiert, will Gott so«, wird eingeräumt. Immer wieder wird betont: »Aber wir sind nicht dran schuld!« In diesem Gespräch zeigt sich, wie nachhaltig die zu Beginn der Einheit noch am

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Rande wahrgenommene Äußerung ist. Die Vorstellung einer personifizierten Natur und deren ungeklärte Relation zu Gott werden zur Problemstelle. Die Theodizee-Frage klingt an, gewinnt im weiteren, hier nicht mehr skizzierten, Gesprächsverlauf aber nicht mehr an Brisanz. Um das Symbolverständnis der Kinder anzuregen, wird ein Bild mit einem Herzen ausgelegt. Aussagen wie »Du bist in meinem Herzen« oder »Ich habe mein Herz verschenkt« ergänzen das Lernarrangement. Die Kinder kommen relativ schnell zu dem Schluss: das Herz steht für die Liebe. Jetzt ist die Frage, ob »Mutter Natur« auch für etwas stehen kann. Diese Übertragung fällt ihnen sehr schwer und wird nur bedingt eingelöst. Hilfreich ist der Rückbezug auf das Zitat einer Schülerin: »Aber ihr tut ja so, als ob Mutter Natur ein lebendiger Mensch sei.« Der Gedanke, dass eine Mutter eine Person ist und die Natur nicht, weil sie keine körperlichen Eigenschaften wie Hände hat, entsteht. Die symbolische Übertragung kann nicht geleistet werden.

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»Das ist ganz schön schwer«, seufzen die Kinder. »Vielleicht war es ja Gott, der die Natur gemacht hat und dann hat man die Natur »Mutter Natur« genannt«, wirft ein Mädchen ein. Der Gedanke kann nicht weitergeführt werden und lässt wiederum die Frage nach der Entstehung aufflammen. Neben der Beobachtung der Verschiebung und Überlagerung von Fragestellungen wird in dieser Kleingruppe zweierlei deutlich und bestätigt aktuelle Forderungen und Ansätze der Religionspädagogik. Der religionspädagogische Blick hat sich insbesondere auch auf die Entfaltung und Anregung von Symbolverständnis als wesentlichen Modus religiöser Sprachform zu richten. Was hier eindrücklich an einem nichtchristlichen Symbol zur Herausforderung wird, spiegelt sich in anderen Schülergruppen im wörtlichen Verständnis der Schöpfungsgeschichten, etwa bei der Erschaffung Evas aus der Rippe, wieder. Bedenklich erscheint uns im Nachhinein der vertiefende Einstieg über eine intensive Naturerfahrung, da dieser eine Gleichsetzung von Natur mit Schöpfung nahe legt.27

3. Etappe: Rückblick und Auswertung Rückgebunden an die formulierten Ausgangsfragen werten wir die praxisorientierte Phase nach Abschluss der Unterrichtseinheiten in den Nachbereitungssitzungen an der Universität gemeinsam aus. Viele unserer Erfahrungen und Beobachtungen sind aus anderen, in diesem Artikel bereits zitierten Studien und Beiträgen, überwiegend bekannt. Unsere Welt und insbesondere Alltagswelt ist naturwissenschaftlich-technisch geprägt.

Das fordert den Religionsunterricht heraus, insofern er in diesem Kontext seine genuine Zugangsweise zu entfalten hat. Es gilt neben einer kausal – analytischen Denkform Räume und Möglichkeiten zu schaffen, um eine Kompetenz für religiöse Sprach- und Denkformen zu entwickeln. Gleichzeitig hat der Religionsunterricht sich dabei an dem schlagwortartigen Alltagswissen seiner Subjekte, deren Weltbild und Verstehensstrukturen zu orientieren.28 Wie die skizzierten Unterrichtsprozesse zeigen, ist das in der Praxis kein leichtes Unterfangen. Die biblischen Schöpfungserzählungen öffnen ob ihrer Mehrschichtigkeit »einen ganzen Kosmos von Fragen, Themen und Problemen«29. Einige von ihnen werden in unserem Projekt sichtbar, andere nicht. Während sich bei Michael Fricke Kinder im Gespräch über Genesis 1 und 2 etwa die Frage nach der Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen angesichts der Wirkmacht Gottes stellen, taucht dieser Aspekt weder bei einem analog zu Fricke angelegten Gespräch von Veit-Jakobus Dieterich mit Viertklässlern noch in unserem Projekt auf.30 Das verweist nochmals darauf, wie vielschichtig das Thema und wie wichtig der individuelle Zugang und die Fragehaltung der Kinder sind. Als ein wichtiger und überall präsenter Themenkomplex zeigt sich die Verhältnisbe-

27 Vgl. hierzu Guido Hunze (wie Anm. 8), 251. 28 Vgl. z.B. Michael Fricke (wie Anm. 16), 383. 29 Veit-Jakobus Dieterich, »… und dann ruht er sich vielleicht noch mal ein bisschen aus …« – Wie Kinder biblische Schöpfungsgeschichten (Gen 1 und 2) auslegen, in: Gerhard Büttner / Martin Schreiner (Hg.), »Man hat immer ein Stück Gott in sich.« Mit Kindern biblische Geschichten deuten. Teil 1: Altes Testament, JaBuKi Sonderband, Stuttgart 2004, 27. 30 Vgl. ebd.

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stimmung von naturwissenschaftlichen und religiösen Aussagen zur »Weltentstehung«. Bevor naturwissenschaftliche Aspekte von vornherein in den Blick geraten, bietet es sich an eine Lernumgebung zu gestalten, die eine Ausschärfung der religiösen Dimension ermöglicht. So steht zumindest das volle Spektrum der Schöpfungstheologie zur Verfügung und wird unter Umständen nicht von vornherein auf den Entstehungsaspekt fokussiert oder gar beschränkt.31 Bei unseren Schüler/innen war das Verhältnis von Glaube und Naturwissenschaft größtenteils noch unbestimmt, aber keineswegs unkritisch oder ohne Zweifel.32 Der Natur wurde teilweise eine Eigendynamik eingeräumt. Zu Beginn haben die Schüler/innen mehrheitlich ein Denken in Alternativen erkennen lassen. Einige Kinder zogen von Anfang an, ob unterschiedlicher Begründungsansätze, eine Verknüpfung von naturwissenschaftlichen Sichtweisen und dem Handeln Gottes in Betracht. Die skizzierten Entwicklungsprozesse der Kinder lassen diesbezüglich eine steigende Tendenz erkennen. Hier – wie auch bei Stellungnahme für nur eine Sichtweise – waren die Positionierungen bei vielen Kindern begründeter als zuvor. Ferner veränderten sich neben den Positionen auch einige Argumentationsansätze. Obgleich die Kinder sich in den Arbeitsphasen intensiv mit Argumenten und inhaltlichen Aspekten von naturwissenschaftlichen und biblischen Sichtweisen beschäftigten und diskutierten, bezogen sie diese in ihren Stellungnahmen kaum mit ein. Vielmehr erfolgte ihre Positionierung in Rezeption und Abgrenzung zu den Meinungen der Mitschüler/innen. In allen Gruppen zeigte sich die Bedeutung der Gottesvorstellungen der

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Kinder. Eine Arbeit über diese scheint sich anzubieten. Insbesondere eine emotionale Zugangsweise kann hier ermöglicht werden. Theologische Anknüpfungspunkte waren demnach auch insbesondere auf der Beziehungsebene von Mensch, Gott und Mitwelt zu finden. Der Gemeinschaftswille Gottes, die Gottebenbildlichkeit des Menschen und sein damit verbundener Hüteauftrag sowie die Frage nach der Allmacht Gottes verbunden mit der Theodizeefrage sind in unserem Rahmen zu nennen. Die Frage, wie eine religiöse und eine naturwissenschaftliche Weltdeutung zueinander in Beziehung gesetzt werden können, setzt zunächst voraus, dass überhaupt Zugangsweisen erkannt und Perspektivwechsel ermöglicht werden. Eines unserer Ziele war daher herauszufinden, wie die Kinder überhaupt mit mehrperspektivischen Impulsen umgehen. Sie haben durchaus verschiedene Meinungen und Positionen erkennen können. In Entscheidungssituationen fiel es ihnen wiederum schwer diese Zugangsweisen auseinanderzuhalten. Angesichts des hybriden Stadiums verwundert uns das nicht. Obwohl die Kinder im Unterricht mehrmals betonen, dass beide oder alle Sichtweisen, etwa hinsichtlich des Rosenbeispiels, stimmen könnten, zeigt die schriftliche Abschlussreflexion des Unterrichtsprojektes ein anderes Bild. In der Rubrik »Darüber mache ich mir noch Gedanken …« taucht vermehrt die Aus-

31 In diesem Kontext kritisiert Guido Hunze insbesondere den Aufbau mancher Schulbücher; vgl. Guido Hunze (wie Anm. 8), 263. 32 Aufgrund der Verschiebung des Schwerpunktes in Gruppe 3 beziehe ich mich im folgenden Abschnitt auf die Beobachtungen aus den Gruppen 1 und 2.

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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke

sage »Ich möchte wissen, wie das mit der Entstehung nun wirklich war« auf. Auch das verwundert uns nicht. Ein mehrperspektivischer Impuls bewirkt keine Veränderung gewohnter Denkstrukturen. Hierzu bedarf es neben einer frühzeitigen auch einer kontinuierlichen Förderung von Mehrperspektivität. Meines Erachtens zu betonen ist, dass die Kinder verschiedene Sichtweisen erkennen. Hier liegen ein Potential und eine Herausforderung für die Unterrichtspraxis. Fruchtbar war es die individuellen Zugänge innerhalb der Gruppe aufzuzeigen und in Dialog miteinander zu bringen. Dadurch wurde sichtbar, dass die eigene Deutung eine neben Anderen ist. Eine Unterscheidung von unentscheidbaren und entscheidbaren Fragen kann der Gefahr der Beliebigkeit von Meinungen begegnen und den Stellenwert von Argumenten und begründeten Standpunkten zugänglich machen. Beim mehrperspektivischen Herangehen erscheint uns weiterhin eine Arbeit am Wahrheitsbegriff elementar. Was bedeutet Wahrheit? Worin liegt die Wahrheit biblischer Geschichten? Irritationen und Zweifel an diesen bieten Möglichkeiten, um ihr Potential eben als Geschichten zu nutzen. Hier sind im Sinne einer Mehrperspektivität auch verschiedene sinnliche Zugangsweisen zu ermöglichen. Unsere Schüler/innen scheinen einen korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff verinnerlicht zu haben. Bei Veit-Jakobus Dieterich zeigt sich in dem bereits erwähnten Gespräch mit Viertklässlern, dass diese in Lebensfragen eine konsensuale Wahrheitstheorie bevorzugen. Unterschiedliche Meinungen werden eingebracht und im Diskurs zu einem Konsens geführt. Hinsichtlich religiöser Fragen scheint dies mit Schwierigkeiten verbun-

den zu sein. Womöglich ist das Bedürfnis nach Vergewisserung und Orientierung ein Grund dafür.33 »Das sind ja so schwierige Fragen«, betonte ein Schüler zu Beginn der Einheit. Sie sind schwierig, weil sie den Einzelnen herausfordern eine eigene tragfähige Antwort zu finden. Der Suchprozess nach diesen ist daher gerade immer wieder neu anzustoßen, zu fördern und zu begleiten. Das Ringen der Kinder nach Erklärungen und Ideen zeigt dies und verweist auf den Prozesscharakter. Viele Kinder betonen, die Arbeit in der Forschungswerkstatt habe ihnen Freude bereitet. Die eigene Meinung äußern zu können war ihnen wichtig. Sie fanden es spannend zu sehen, zu welch unterschiedlichen Ergebnissen sie kamen und hätten gerne mit den Studierenden weitergearbeitet.

4. Etappe: Ausblick34 »Liebe Eltern, das Projekt, welches im Religionsunterricht der Klasse Ihrer Tochter / Ihres Sohnes in der Klassenstufe 5 stattfand, möchten wir im aktuellen Halbjahr der Klasse 6 weiterführen. Wir haben in der letzten Projektphase in dieser Klasse so spannende Erfahrungen machen und Ergebnisse sammeln können, dass wir jetzt gerne daran anknüpfen und mit den Schüler/innen vertiefend weiterarbeiten möchten. Im Mittelpunkt wird die Frage stehen, wie sich ihr Den-

33 Vgl. Veit-Jakobus Dieterich (wie Anm. 29), 23 ff sowie 28 f. 34 Auszug aus dem Elternbrief der Forschungswerkstatt »Was ist wahr? Theologische Gespräche mit Sechstklässlern führen« vom Sommersemester 2012.

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ken, ihre Fragen und Ansichten weiterentwickelt haben und wir im Unterricht angemessen darauf reagieren können. Die Unterrichtsgespräche werden wieder aufgezeichnet und nach dem Unterricht von den Studierenden ausgewertet. Sie dienen ihrer Reflexion und Unterrichtsplanung. In anonymisierter Form können die Ergebnisse im Rahmen von Publikationen, wie bei dem Aufsatz »Das sind

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ja so schwierige Fragen«35, genutzt werden. Ich bitte Sie, den Aufzeichnungen zuzustimmen. Bei Rückfragen können Sie sich gerne an mich wenden. Mit freundlichen Grüßen Stephanie Görk

35 Vgl. den vorliegenden Beitrag.

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Gerhard Büttner Erde, Sonne, Mond und Sterne – Kinderwissen als Ausgangspunkt philosophischer und theologischer Gespräche Vor bald 40 Jahren fand sich in der ersten Ausgabe der Religionsbuchreihe Kursbuch Religion 5/6 ein Bild mit drei Männern. Der erste sagte: »Euer Schöpfungsbericht ist Käse. Die moderne Wissenschaft hat erkannt, dass …«. Sein Gegenüber gab zur Kenntnis: »Ich glaube, dass die Bibel Recht hat. Und darin steht, dass …«. Und zwischen den beiden stellt ein Dritter lakonisch fest: »Dieser Streit ist überholt, denn …«. Dazu sollen die Schüler/innen dann ein Rollenspiel machen.1 Die Intention ist klar. Das eigentliche Ziel liegt darin, dass am Ende möglichst viele Kinder die Position des Dritten übernehmen. Doch wer heute mit Kindern das Thema anschneidet, hat in der Regel nicht den Eindruck, dass es 1. so einfach ist und dass wir 2. einen Schritt weiter gekommen seien. Meine Hypothese geht dahin, dass ich vermute, dass die Fragestellung nicht wirklich das Denken der Kinder trifft. So stellt sich z.B. heraus, dass der Rekurs auf die Wissenschaft völlig inhaltsleer ist und fast magische Züge trägt. Konkret gesprochen heißt das, dass man sich einmal vergewissern sollte, was Kinder – unabhängig von aller Religion – denn überhaupt wissen (können) über die Erde und den Kosmos. Hierzu gibt es eine Reihe instruktiver Untersuchungen, die es dann überhaupt erst ermöglichen zu fragen, was denn auf dem jeweiligen Stand des Wissens eine adäquate Antwort der Theologie sein könnte.

Anschließend werden einige empirische Ergebnisse zur neutral gestellten Frage, wie das mit der Welt angefangen habe, vorgestellt. Dabei stehen in der Regel »wissenschaftliche« Erklärungen und »religiöse« Deutungen gegenüber, ohne dass man sich über deren Status verständigen kann. Es geht dabei für die Kinder in beiden Fällen nicht ums Wissen, sondern wem man glauben kann. Dies ist nicht verwunderlich, denn die elementarste Frage wird in der Regel nicht gestellt: Was kann man selber sehen? Wie kann man über das bloße unmittelbare Wahrnehmen hinaus kommen? Wie glaubwürdig sind diese Informanten?

Was sagt die Didaktik der Naturwissenschaften? Betrachtet man Forschungen zum Verständnis der Kinder über die Himmelskörper, dann sieht man, wie elementar dort die Fragen sind. Gleichzeitig wird bedacht, welche unterschiedlichen Faktoren zum Wissen beitragen. Ich möchte dies verdeutlichen anhand der Studie von Brian L. Jones, Patrick P. Lynch und Carole Resink zum Verständnis von Drittund Sechstklässler/innen im Hinblick auf

1 Kursbuch Religion 5/6. Erarbeitet von Christiane Busch u.a., Stuttgart / Frankfurt a.M. 1976, 196.

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Pädagogische Anregungen

Erde, Sonne und Mond.2 Sie sind sich bewusst, dass diese Fragestellung in einem Spannungsfeld religiöser und wissenschaftlicher Traditionen steht.3 Dazu kommt, dass hier beobachtbare Phänomene verbunden sind mit nicht sichtbaren, die sich nur über Modelle erschließen lassen. Von daher konzentriert sich diese Studie auf ganz basale Fragen: Wie ist es mit der Gestalt, der Größe und dem Verhältnis der drei Himmelskörper zu einander. Befragt wurden 32 australische Kinder der 3. und 6. Klasse.4 Im Hinblick auf das Verhältnis der drei Himmelskörper ergab sich eine Hierarchie der Entwicklung: Auf der ersten Stufe wird die Erde im Mittelpunkt zwischen Sonne und Mond gesehen, die sich beim Auf- bzw. Untergehen jeweils entfernen bzw. wieder annähern. Auf der zweiten Stufe ändert sich die Vorstellung dahingehend, dass sich die Erde dreht und dadurch der Wechsel von Sonne und Mond zustande kommt. Im dritten – ebenfalls geozentrischen Modell – drehen sich Sonne und Mond auf einer Bahn um die Erde. Im vierten – erstmals heliozentrischen Modell – drehen sich Erde und Mond auf derselben Umlaufbahn um die Sonne. Die fünfte Stufe entspricht dann der Annahme, dass die Erde einen Umlauf um die Sonne beschreibt und der Mond einen um die Erde. Die Autoren verweisen dabei auf die Einsicht, dass lediglich die erste Version

»magisch« sei. Die letzten vier sind logisch und können im Prinzip Phänomene wie Tag und Nacht erklären.5 Der »Lernfortschritt« kann also nur durch die Aufnahme nicht beobachtbaren »Fremdwissens« erfolgen. In der Studie lautete das Verhältnis geozentrisch – heliozentrisch 12:4 bei den Drittklässlern und 6:10 bei den Sechstklässlern. D.h., dass noch ein Drittel der letzteren die Erde im Mittelpunkt des Kosmos sieht.6 Im Hinblick auf die Gestalt der Himmelskörper wurden den Probanden zweidimensionale Modelle, (dreidimensionale) nicht-kugelförmige und schließlich kugelförmige angeboten. Die Mehrzahl der Drittklässler/innen (9:7) wählt inkorrekte Modelle, doch auch bei den Sechstklässler/innen kennen nicht alle die Kugelform (2:14). Im Hinblick auf das Wissen in Bezug auf die Größe der Himmelskörper geben die Autoren zu bedenken, dass es nicht so einfach sei, etwa aus der Beobachtung hierzu Schlüsse zu ziehen, weil wahrgenommene Größe ja immer abhängig ist von der Entfernung.7 Wieder finden sie

2 Brian L. Jones / Patrick P. Lynch / Carole Resink, Childrens conception of the earth, sun and moon, International Journal of Science Education Bd. 9 Nr. 1 (1987), 43–53. 3 Ebd., 43. 4 Ein wesentlich differenzierteres Bild, das allerdings denselben Entwicklungsverlauf bietet, zeigt die Studie von E. J. Blown / T. G. K. Bryce, Knowledge Restructuring in the Development of Childrens Cosmologies, International Journal of Science Education Bd. 28 Nr. 12.6 (2006), 1411–1462.1424 f. Diese zeigt die Vielgestaltigkeit der kindlichen »Theorien« in der Beschäftigung mit diesen Fragen. 5 Jones u.a. (wie Anm. 2), 48. 6 Ebd., 49. 7 Ebd., 44.

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Büttner Kinderwissen als Ausgangspunkt philosophischer und theologischer Gespräche

eine Hierarchie des Wissens: von der Vorstellung, alle seien gleich, zur Annahme unterschiedlicher Größe aber in falscher Reihenfolge zur Annahme zwei gleicher und einer unterschiedlichen Größe und schließlich zur korrekten Differenz von Mond, Erde und Sonne. In dieser Frage gibt es nur eine geringe Entwicklung zwischen den Klassenstufen (von 13:3 zu 11:5). In dieser Frage wirkte sich als einziger das Geschlecht aus. Nur ein Mädchen konnte die Aufgabe korrekt lösen.8 Nimmt man die hier präsentierten Ergebnisse, dann wird deutlich, dass die im Schulbuch anvisierten Sechstklässler/innen keine wirkliche Chance haben, auch nur halbwegs kompetent Stellung zu nehmen. Es erscheint deshalb sinnvoll, die Fragestellung zu ändern: Gibt es denn auf den in den Untersuchungen sichtbar werdenden Denkniveaus überhaupt die Möglichkeit, sinnvoll theologische Denkfiguren einzubringen? Vor 30 Jahren begann der israelische Forscher Joseph Nussbaum in ähnlicher Weise wie die zitierten Australier eine Verstehens- Hierarchie zu entwerfen. Diese wird hier skizziert werden und dann nach Anschlussfähigkeiten gefragt werden. Auch hier zeigt sich, dass die Studien inzwischen differenziert worden sind. Blown und Bryce zeigen auf der Grundlage nach-piagetianischer Theorien eine stärker individuelle Entwicklung des einzelnen Kindes.9 Dennoch soll uns das einfachere Modell von Nussbaum hier als Ausgangspunkt dienen, weil es verdeutlichen kann, wo die Problemfelder einer dialogischen Sichtweise von Seiten der Religion liegen können. Auf der Basis einer früheren Studie10 skizziert er eine Sequenz von fünf Entwicklungsschritten im Verständnis der

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Erde als »kosmischer Körper«.11 Diese werden nach Nussbaum in dieser Reihenfolge durchlaufen und können in ihrer Entwicklung durch entsprechende Informationen stimuliert werden.12 Nussbaums Entwicklungslogik wird auf S. 130 durch die Tabelle vorgestellt.13 Dabei soll bedacht werden, welche Anschlussfähigkeiten auf jeder der dort skizzierten Stufen sich ergeben könnten.

Wie bauen Kinder aus welchen Bausteinen ihre Welt? Will man mit Kindern ein Gespräch über die Frage nach der Entstehung der Welt und ihrer Beschaffenheit führen, dann ist es wichtig zu wissen, aus welchen Bausteinen sie ihre je individuellen Sichtweisen zusammenbauen. Blown und Bryce haben ihre Einsichten wie folgt beschrieben:14

8 Ebd., 50. 9 Blown/Bryce (wie Anm. 4). 10 Joseph Nussbaum / Joseph D. Novak, An Assessment of Childrens Concepts of the Earth Utilizing Structured Interviews, Science Education Vol. 60 Nr. 4 (1976), 535–550. 11 Joseph Nussbaum, Childrens Conception of the Earth as a Cosmic Body: A Cross Age Study, Science Education Bd. 63 Nr. 1 (1979), 83–93. 12 Joseph Nussbaum / Niva Sharoni-Dagan, Changes in Second Grade Childrens Preconceptions about the Earth as a Cosmic Body Resulting from a Short Series auf AudioTutorial Lessons, Science Education Bd. 67 Nr. 1 (1981), 99–114. 13 Nussbaum (wie Anm. 11), 83 f. 14 Blown / Bryce (wie Anm. 4), 1413 (Übers. G.B.).

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Pädagogische Anregungen

Schaubild nach Nussbaum

Erklärung

Religiöse Anschlussfähigkeit

Die Erde ist flach und darüber der Himmel als nächstes Stockwerk.15 Dieses Modell lässt sich unmittelbar aus der Anschauung herleiten.

Beide Weltbilder sind hochaffin zum biblischen Weltbild. Die Unterscheidung zwischen Erde und Himmel ist einleuchtend, Sky und Heaven fallen noch weitgehend zusammen, zumal in dem Stockwerkmodell. Das Weltkugelmodell irritiert die ursprüngliche Vorstellung wenig, kann aber als Gesprächsanlass genutzt werden.

In dieses Modell wird nun die Information eingetragen, die Erde sei »rund«. Das Stockwerkmodell wird »hybride« aufgeladen. Da das Modell inkonsistent ist, können keine wirklichen Schlussfolgerungen daraus abgeleitet werden. Auf dieser Stufe wird anerkannt, dass »der Himmel« im Prinzip sich um die runde Erde herum erstreckt. Trotzdem bleibt das Obenunten-Schema in bisheriger Weise in Geltung. Damit ist dann auch nur der obere Teil der Kugel bewohnbar, weil man sonst »herunterfallen« würde. Jetzt wird verstanden, dass es auf der Erde kein »oben« und »unten« geben kann, dass alle Menschen auf dem Globus ihr »Unten« direkt unter ihren Füßen haben. Dennoch gelingt es nicht, dies zu generalisieren. Auf die Frage was mit einem Stein passiert, der durch ein imaginäres Loch durch die Erdkugel fallen würde, lassen ihn die Kinder durchfallen und nicht am Erdmittelpunkt verharren. Jetzt ist auch verstanden, dass die Schwerkraft zum Erdmittelpunkt hin wirkt. Dies gilt für alle Orte auf der Erde und auch für den imaginären Stein.

Es ist deutlich, dass das Verständnis der Schwerkraft hier eine zentrale Rolle spielt. Für die Kinder manifestiert sich dies in der Erfahrung, dass alle Dinge »auf dem Boden festgehalten werden« bzw. »nach unten fallen«. Man kann ihnen erläuternd vermitteln, dass auch die Luft, die wir atmen (Atmosphäre) von dieser Kraft »festgehalten wird«. Die Entdecker der Schwerkraft Kepler und Newton sahen in der Schwertkraft einen Ausdruck der klugen Planung Gottes.16 Diese »Physikotheologie« wäre auch für Grundschulkinder ein geeigneter – entwicklungsangemessener – Schritt beim Verstehen der »Schöpfung«. Er könnte den üblichen ästhetischen Zugang ergänzen, der das Schöpferlob an das Betrachten »schöner Dinge« (vom Mikro- bis zum Makrobereich) bindet.17

15 Vgl. Anton A. Bucher, Das Weltbild des Kindes, in: G. Büttner / V.-J. Dieterich (Hg.), Die Religiöse Entwicklung des Menschen, Stuttgart 2000, 199–215. 16 Vgl. Jürgen Hübner, Die Theologie Johannes Keplers zwischen Orthodoxie und Naturwissenschaft, Tübingen 1975 und Klaus-Diethardt Buchholz, Isaac Newton als Theologe, Witten 1965. 17 Z.B. Hubertus Halbfas, Religionsunterricht in der Grundschule, Bd. 3, Düsseldorf / Zürich 1985, 129 ff.

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Büttner Kinderwissen als Ausgangspunkt philosophischer und theologischer Gespräche

Die Theorie der Wissenschaftler geht von der Hypothese aus, dass die frühen Konzepte (seien sie initiiert oder intuitiv) der Kinder über die Erde auf ein Kategoriensystem gegründet sind, das Kinder benutzen, um Sinn zu generieren über physikalische Gegenstände auf dem Weg rudimentärer Vorannahmen und Voraussetzungen, die auf Erfahrung gründen; im Hinblick auf die Gestalt der Erde gehen Kinder z.B. von einem Erdboden aus, der Stabilität garantiert, weil er im Allgemeinen fest ist und flach – und sie identifizieren den Erdboden mit dem Ort, auf dem Menschen leben. Solche Erfahrung führt zu dem Flachheitsschema oder zur Vorannahme in dem Sinne, dass die größten physikalischen Objekte, die die Kinder kennen, flach sind. Ähnlich verhält es sich mit der Erdbewegung und der Schwerkraft: Dinge, die nicht festgehalten oder unterstützt werden, fallen runter, was zum Unterstützungsschema führt oder entsprechenden Vorannahmen bezogen sowohl auf die Aufwärts-abwärts-Bewegung, die mit dem Ballspielen assoziiert wird, als auch mit anderen Gegenständen unter dem Einfluss der Schwerkraft. Diese intuitiven Muster oder Vorannahmen steuern auch neue Erkenntnisse über die Welt, so dass sie z.B., wenn man ihnen erzählt, die Welt sei »rund«, sich vorstellen, sie sei »rund« und flach oder scheibenförmig. Oder ähnlich wenn sie »lernen«, die Erde sei ein kugelförmiger Planet im Weltraum, so stellen sie sich möglicherweise vor, die Erde sei wie ein halbierter Ball und die Menschen leben auf der »flachen« Seite des Hohlraums. So schaffen sie einen neuen Rahmen bzw. ein synthetisches Modell. Die Bedeutung solcher alternativen oder synthetischen Kosmologien liegt nicht nur darin, dass sie zeigen, wie Kinder versuchen, einen Sinn in den verschiedenen mit einander widerstreitenden Theorien über die Welt zu finden, sie weisen in einigen Fällen auch mit Nachdruck darauf hin, dass sich die frühen intuitiven Konzepte nur schwer modifizieren lassen und zu fest verwurzelten Modellen für die kindliche Weltsicht werden können.

Das Fazit dieser Aussage liegt in der Erkenntnis, dass Kinder zwar gemäß der

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Forschung bekannter Muster, aber jeweils höchst individuell ihre Vorstellung von der Welt modellieren. Es zeigt sich also, dass die etwa bei Bucher im Anschluss an Piaget eingebrachte Vorstellung von den »hybriden« Weltbildern, in denen kosmologisches Wissen sich etwa mit religiösem mischt, im Einzelfall sich jeweils recht kompliziert darstellt.

Der Griff nach den Sternen!? Nach den bisherigen Ausführungen ist klar, dass das Verstehen der Prozesse zwischen Erde, Sonne und Mond eine vergleichsweise schwierige Materie darstellt. Insofern lässt sich leicht nachvollziehen, dass jeder Schritt über dieses System hinaus die Dinge noch einmal erheblich verkompliziert. Hat ein Kind im Sinne von Jones u.a. die Kreisbahnen von Erde und Mond korrekt verstanden, dann lassen sich die weiteren Planeten leicht in dieses Modell integrieren. Besonders die Venus ist als Abend- bzw. Morgenstern auch vergleichsweise leicht am Himmel auszumachen und somit können Anschauung und Modell relativ einfach zusammengeführt werden. Für die sog. Fixsterne außerhalb unseres Sonnensystems gelten dann ganz andere Regeln. Die hier auftretenden Entfernungen sind von einer Größe, die unsere Vorstellungswelt weit überschreiten. Die Entfernungen von Erde, Mond und Sonne kann man auf dem Schulhof nachstellen, bei den Galaxien wird das faktisch unmöglich. Schon die Einsicht, dass das Licht, das unsere Netzhaut trifft, seinen Ursprung in einer Zeit hat, die für uns »längst vergangen« ist – d.h. im Extremfall, dass das was wir sehen, längst nicht mehr existiert. Man kann dann zwar

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Pädagogische Anregungen

erklären, dass sich das Weltall offensichtlich ausdehnt und dass »man« das anhand der »kosmischen Hintergrundstrahlung«, gewissermaßen Ausläufer des ursprünglichen »Urknalls«, messen kann. Doch entziehen sich diese Phänomene der unmittelbaren Beobachtung. D.h., dass Informationen über diese Phänomene nach dem oben beschriebenen Schema integriert werden in bereits bestehende Denkmuster. Das führt dazu, dass etwa die Rede vom »Urknall« verknüpft wird mit Vorstellungen von großer Schlichtheit – etwa platzenden Luftballons. Für Theologen bedeutet das bisher Gesagte, dass wir uns klar machen müssen, auf welche Vorannahmen alle Informationen bei den Kindern treffen. Vor allem K.H. Reich hat zwar den Gedanken stark gemacht, dass bereits Schüler/innen Ansätze komplementären Denkens erlernen können18, doch ist dies keinesfalls ein Selbstläufer, sondern erfordert eine kleinschrittige Förderung.

Wie hat alles angefangen – erste empirische Einsichten Sabrina Mülle hat in einer kleinen Studie19 anhand von Bildern und Interviews bei Viertklässler/innen herauszufinden versucht, wie diese sich den Anfang der Welt vorstellen. Neben der Unterscheidung zwischen göttlicher Schöpfung und Selbstentstehung stellte sie die Frage nach einem möglichen Vorher. So erhielt sie Antworten, die sie prinzipiell in einer der vier Kategorien einordnen konnte (siehe Tabelle S. 133).20 Bereits der Malauftrag lässt die Schüler/innen entscheiden, ob sie eine reli-

giöse oder eine naturwissenschaftliche Deutung als Ausgangspunkt nehmen:21 »Zu dieser Auswertung liegen […] 20 Bilder aus einer vierten Klasse vor, wobei sich sieben Bilder auf die naturwissenschaftliche Entstehung der Welt beziehen. Diese sieben Bilder zeigen eine explodierende Erde oder die Erde im Weltraum, die sich durch mehrere Sterne zusammenfügt. Zwei dieser Bilder zeigen die Entstehung der Erde mit Vulkanausbrüchen und Lavaströmen. Nur auf einem Bild ist die Entstehung des Weltraums zu sehen, der sich aus vielen kleinen Kästchen, die ich als Sterne deuten würde, zu einem Gebilde zusammenfindet. Auf den anderen 13 Bildern wird Gott als der Ursprung der Welt und der Erde gesehen. Gott wird auf zwölf Bildern ganz anthropomorph dargestellt. Auf einem ist ein Frühlingsbild zu sehen, über dem steht: Das hier hat Gott erschaffen. Diese Zeichnung lässt vermuten, dass das Kind sich Gott nicht als einen anthropomorphen Gott vorstellen kann.«

Wir sehen hier, dass die Kinder sich für eines der Paradigmen entscheiden. Die Interviews versucht Frau Mülle vier Kategorien zuzuordnen:22

18 Fritz Oser / K. Helmut Reich, Wie Kinder und Jugendliche gegensätzliche Erklärungen miteinander vereinbaren, in: Büttner / Dieterich (wie Anm. 15), 216–225, K. Helmut Reich / Anke Schröder, Komplementäres Denken im Religionsunterricht. Ein Werkstattbericht über unser Unterrichtsprojekt, Loccum 1995. 19 Sabrina Mülle, Vorstellungen über die Entstehung der Welt bei Grundschulkindern – Empirische Befunde und religionspädagogische Konsequenzen, Wiss. Hausarbeit (Masch. Man.) Dortmund 2004. 20 Ebd., 98. 21 Ebd., 107. 22 Ebd., 110 ff.

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Die Welt

Ist von Gott geschaffen

Ist nicht von Gott geschaffen

Hat einen Anfang

Kombination 1

Kombination 3

Hat keinen Anfang

Kombination 4

Kombination 2

»Fünf Kinder entscheiden sich für die erste Kombination, nach der die Welt durch Gott geschaffen wurde und deshalb einen Anfang hat. Die anderen 4 Kinder entscheiden sich auch für die erste Kombination, doch fängt für sie die Schöpfungstätigkeit Gottes erst mit dem Ausgestaltungsprozess der Erde an. Diese Überlegungen werde ich unter der dritten Hypothese genauer aufzeigen. Bastian, Robert, Kevin, Ysabel und Jens sprechen von einem Anfang der Welt durch Gott und zeigten auch durch ihre weiteren Äußerungen, dass sie an Gott glauben. Was vor diesem Anfang war, artikulieren die Kinder sehr unterschiedlich. Bastian behauptet z.B. dass es das Weltall schon davor gab und begründet dies damit, dass es ja fast gar nichts ist. Den Anfang der Welt sehen die Kinder in dem Machen der Erdkugel von Gott. Diese Formulierung zeigt, dass die Kinder an einen Anfang der Welt glauben, weil Gott sie gemacht hat. Jens beschreibt diese Vorstellung sehr anschaulich: J: Ich glaub der hat ne Kugel gemacht und darauf dann Erde draufgemacht und die Steine und so. Bastian spricht von einer wilden Welt und Robert stellt sich eine trockene Welt vor. Diese Welt, diese Erdkugel auf der es noch nichts gibt, wird von Gott kultiviert. Die Kinder stellen sich meistens vor, dass Gott Wasser gemacht hat und die Erde, den Boden auf der Erdkugel. Die Pflanzen und die Tiere hat er danach geschaffen. Die meisten sprechen auch von den Menschen, die Gott aber erst später erschaffen hat. Kevin zeigt eine gute Übersicht über die Vorstellungen, die auch die anderen Kinder haben. I: Was denn? Also wie ist das denn alles entstanden. Was gabs denn vielleicht zu aller allererst?

K: Das Gott das Land und das Wasser geschaffen hat. I: Das Land und das Wasser? K: Mmh. I: Und was hat er dann gemacht? K: Die Tiere. I: Mmh. K: Und die Menschen dann. Zum Schluss. Diese Abfolge beschreiben die meisten Kinder, wobei Kevin die Pflanzen an dieser Stelle vergessen hat. [… Die Kinder sprechen] von einer Erschaffung des Weltalls oder der Gestirne von Gott. Die Kinder hatten Schwierigkeiten bei der Frage, ob es einmal gar nichts gegeben hat und sagen oft, dass sie das nicht wissen. Ihre allgemeinen Antworten lassen aber vermuten, dass sie an eine Erschaffung, zumindest der Welt, aus dem Nichts glauben. […] Das Auftreten der zweiten Kombination kann nur bei Sandra festgestellt werden, wobei aber bei ihr zu beachten ist, dass sie nicht an Gott glaubt. Dieses ist aber nicht die Konsequenz für die Anfangslosigkeit der Welt, die sie beschreibt. Sandra sagt, dass sie an den »Gotteskram« nicht glaubt. Aus ihren Äußerungen [konnte man entnehmen], dass sie sich Gott als einen Menschen vorgestellt hat, der auf der Erde gelebt hat und gestorben ist. Sie argumentiert, dass er die Erde nicht gemacht haben kann, da er auf der Erde gelebt hat. Sie beschreibt, dass die Erde schon immer da war und dass sie sich immer weiterentwickelt. Ganz naturwissenschaftlich beschreibt sie die Evolution, die Entstehung der Tiere aus dem Wasser und die Fort[entwicklung] der Pflanzen. Diese Vorstellungen bei Sandra sind [wohl] nicht durch eine Krise durch das einsetzende Wissen der Naturwissenschaften entstanden, da ein fester Glaube im Sinne der ersten Kombination bei ihr nicht voran ging. […]

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Pädagogische Anregungen

Die Vorstellung, dass Gott die Welt gestaltet, wobei etwas vorausgeht, [fand sich] bei vier Probanden […]: Jonathan, Jochen, Nele und Torben glauben alle an einen Anfang der Welt, die von Gott ausgestaltet wurde. Sie beschreiben jedoch, dass es vor diesem Anfang den Urknall gegeben hat. Diese wissenschaftliche Äußerung lässt aber bei den weiteren Erläuterungen der Kinder sehr unterschiedliche Vorstellungen erkennen. Jochen spricht z.B. von Planeten, die zusammengestoßen sind und aus denen dann die Erde entstanden ist. Diesen Knall hat aber nicht Gott gemacht. I: Weißt du nicht. Mmh was ist denn da zusammengestoßen. Was hat da so laut geknallt? J: Mmh, mehrere Planeten. Dadurch [sind] dann auch die Einzelteile in die Erde gekommen. I: Aha. Ist die Welt von selber gekommen oder ist die geschaffen worden, ist die gemacht worden? J: Geschaffen worden. I: Von wem? J: Von Gott. I: Hat Gott das gemacht, diesen Knall? J: Nein den Knall nicht, aber er hat hinterher so Bäume und Tiere. Jonathan spricht von Meteoriten, die explodiert sind. Dabei kann er sich nicht genau entscheiden, ob Gott die Welt gemacht hat oder diese Meteoriten. Nele beschreibt sehr schön, dass ein Feuerstein laut geknallt hat und daraus die Erde entstanden ist. Gott hat diesen Urknall nicht gemacht. Nachdem die Erde sich abgekühlt hatte, brachte er die leere Erde zum Leben. Nele berichtet, dass sie dies in der Schule gelernt habe und zeigt damit auf, wie sie die naturwissenschaftlichen Kenntnisse in ihre eigenen Vorstellungen integriert. Allerdings scheint sie auch zu verstehen, dass diese Erkenntnisse keine absolute Wirklichkeit darstellen. I: Die Erde da hattest du mir vorher gesagt, da war so ’n Knall. Was war vor diesem Knall? N: (lacht) Gar nichts. Weiß ich nicht. Das weiß doch auch eigentlich keiner und das

mit der Erde, dass die so entstanden ist, das wissen / das sind ja auch Vermutungen. Das weiß man ja nicht ganz genau. Diese vier Probanden zeigen, dass sie durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse ihren Glauben an Gott nicht aufgegeben, sondern einen eigenen Schöpfungsbericht konzipiert haben, in dem beides seinen festen und guten Platz hat. Da sie noch nicht genau reflektieren, geben ihre Vorstellungen für sie einen ganzheitlichen Sinn.«

Die Studie zeigt eine häufige Form einer Synthese kosmologischer und theologischer Theorien. Für das »kalte« und schwer zu verstehende Geschehen des »Urknalls« konzediert man eine »Autonomie« − wo es um die Erschaffung der eigenen »Heimat Erde« geht und das Leben, da möchte man gerne den bekannten liebenden Gott am Werk wissen. Man kann aus den Schöpfungsmythen der Völker lernen, dass dort die Dinge verhandelt werden, die für das Leben der Menschen essentiell sind. Irgendwelche Geschehnisse in einer nicht durchschauten »Welt« sind nicht von Interesse – ganz Ähnliches kann man z.T. bei den Kindern beobachten.

Bilder vom Anfang Zusammen mit Jasmin Kiefer habe ich in einer Religionsklasse eines 4. Schuljahres einer ländlichen Grundschule ähnlich wie Sabrina Mülle gefragt, wie denn unsere Welt entstanden sei. Die Frage ist bewusst offen, so dass naturwissenschaftliche und religiöse Deutungen möglich sind. Ich stütze meine Analyse zunächst auf die 15 kommentierten Bilder und dann auf Elemente des anschließenden Gesprächs. Vier Bilder sprechen explizit vom Handeln Gottes, die übrigen elf Schü-

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Abb. 1

ler/innen bieten naturwissenschaftlich inspirierte Lösungen. Letztere lassen sich auf wenige Grundtypen reduzieren. Dies geht einerseits auf eine entsprechende unterrichtliche Behandlung in früheren Stunden zurück, zum anderen auf die mehr oder weniger kollektive Produktion der Bilder. Auffällig ist, dass die Schüler/innen ihr Interesse auf das Entstehen des Planeten Erde richteten. Was vorher und darum herum geschah, interessierte sie nicht. Der Geozentrismus erscheint hier als eine Variante des Egozentrismus. Auffällig ist die unterschiedliche Fokussierung der einzelnen Bilder. 23

Jonas gibt eine recht ausführliche Erklärung : Als erstes war die Erde ein riesiger Feuerball. Dann wurde es kälter und die Oberfläche kühlte ab. So entstand die Erdkruste. Schwere Metalle sanken ins Innere, so entstand der Erdkern. Gleichzeitig wichen Dämpfe und Gase. Es gab viele Vulkanausbrüche. Die Dämpfe kühlten ab und bildeten die Luftschicht. Es begann zu regnen. So entstanden die ersten Meere. Rico bringt, wie andere Schüler/innen, den Ablauf in eine Reihenfolge: Erst war die Erde ein roter heißer Feuerball, der sich langsam abkühlte. Die schwereren Metallteile teilen nach unten. (sic!) Gleichzeitig bildete [sich] durch Vulkanausbrüche die Luftschicht. Sie kühlte ab und es begann zu regnen. Es entstanden die ersten Menschen (Abb. 1).

Ein anderer Schüler betont das Einschlagen von Asteroiden auf die Erde. Andere Kinder malen einen großen roten oder blauen Kreis. Das rote Bild steht für den Feuerball, das blaue kommentiert das Kind: »Es gab zuerst nur Wasser.« Ihren abgeplätteten blau ausgemalten Kreis kommentiert eine Schülerin folgendermaßen: »Eine Hälfte der Erde.« Ob sie damit zum Ausdruck bringen will, dass man immer nur eine Draufsicht auf einen Teil der Erdkugel haben kann, oder ob sie – wie oben angesprochen – von Kugelhälften ausgeht, lässt sich nicht entscheiden. Zwei Mädchen haben die Aufgabe so verstanden, dass es vor allem um die Entstehung der Lebewesen gehe. So schreibt Sarah: Die Welt war vorher leer gewesen, kein Tier, nichts. Dann kam der Einzeller. Er lebte im Wasser. Dann kam die Qualle, Sie lebte auch wie ein Einzeller im Wasser. Und die Fische kamen noch hinzu und die Schildkröten, dann Dinosaurier. Der legte auch Eier wie die Schildkröte. Dann kam der Hamster, der legte keine Eier, und der Elefant legte auch keine Eier, sondern sie bekommen ihre kleinen Neugeborenen wie die Menschen. Und die Affen kamen auch, sie machten es auch wie die Elefanten und zuletzt kam der Mensch.

23 Rechtschreibung korrigiert.

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Pädagogische Anregungen

Die Bilder, die Gott als Schöpfer nennen, sind eher weniger komplex. Lukas malt, wie zwei andere Kinder, einen blau ausgefüllten Kreis. Er erläutert das Blau als Wasser. Doch er fügt seinem Bild zwei Hände dazu und schreibt daneben »Gotteshände«. Deniz versucht, sich an Aussagen des ersten biblischen Schöpfungsberichts zu orientieren, ordnet aber das Land dem Wasser zeitlich vor. Sein Text lautet: Gott erschuf die Welt. Zuerst machte er die Wälder und dann die Meere. Unten im Bild notiert das Kind: Als erstes machte Gott Länder, dann Meere. Justin verbindet auch kosmologische Ereignisse mit Gott (Abb. 2).

Abb. 2

Als vorläufiges Fazit kann man festhalten, dass die Lektion der Lehrkraft zur Entstehung der Erde doch einigermaßen nachhaltig gewesen ist. Besonders eine Gruppe Jungen zeigte sich auch im Gespräch interessiert und kompetent. Im Lichte der Nussbaum-Studien kann man fragen, ob die vermittelten Fakten Teil einer Lernlogik waren. An den Rändern des Wissens wird es schwierig, weil hier Sterne, Asteroiden, Vulkane in irgendeiner Weise einbezogen werden, die sich als nicht anschlussfähig erweist. Das Wissen

von Gottes Schöpfertat zeigt sich nur bedingt anschlussfähig in dem Sinne, dass etwa von den Details des ersten Schöpfungsberichts kaum Gebrauch gemacht wird. Die Lösung mit den Gotteshänden ist ein origineller Versuch einer Synthese. Der Stufenablauf der kosmologischen Schilderungen erinnert in seiner Stufendarstellung stark an das Sieben-TageSchema von Gen 1, die Betonung des Regens (2 Jahre) an die Flutgeschichte.

Woher weiß man das? Das übereinstimmende Resultat beider kleinen Untersuchungen zur »Kosmologie« von Viertklässler/innen war, dass bei einer offenen Fragestellung die Kinder ihre Explikation mit je unterschiedlichen Gegenständen beginnen. Aus der Verschiedenheit der einzelnen Versuche ergibt sich aber in aller Regel kein Streit von der Art, wie ihn das Schulbuch ins Auge fasst. Die einzelnen Versuche sind in dem Sinne idiosynkratisch, dass offenbar jedes Kind mit einem ihm geläufigen Theorie- bzw. Wissensfragment anfängt und von dort her seine Überlegungen weiter spinnt. Damit stellen sich zwei Fragen: 1. Welche kulturell induzierten Hintergründe liegen hinter den kindlichen Konstrukten? und 2. Welche epistemologischen Voraussetzungen bestimmen die Fragestellung? T.G.K. Bryce und E.J. Blown haben in ihrer umfassenden Studie festgestellt, dass mit einem entsprechenden Interviewverfahren die Ergebnisse zur kindlichen Kosmologie doch überraschend stark übereinstimmen. Von daher suchten sie nach Möglichkeiten, durch offenere Verfahren auch den impliziten Vorstellungen der Kinder auf die Spur zu kom-

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men.24 Wie sich dies manifestiert, zeigen zwei Interviewausschnitte mit zehn- bis zwölfjährigen Kindern. In China gibt es zwei Begriffe für den Mond: Yue Liang ist der sich ändernde Mond der Phasen und Yue Qiu der runde Idealmond. Bryce und Blown vermuten, dass diese Differenzierung die Vorstellung der Kinder beeinflusst, so bei dem Jungen Shi Xin:25 FORSCHER: Erzähl mir was über den Mond! SHI XIN: Es gibt keinen Sauerstoff auf dem Mond. FORSCHER: Was ist das Verhältnis zwischen der Erde und dem Mond? SHI XIN: Die Sonne und der Mond sind innerhalb der Erde, China ist innerhalb der Erde und wird von nichts bedeckt. FORSCHER: Innerhalb? SHI XIN: China ist innerhalb der Erde. Aber Amerika ist außerhalb. FORSCHER: Wo ist der Mond? SHI YINB: Die Sonne und der Mond sind innerhalb von China unter dem Boden.

Der Idealmond scheint so etwas wie eine Art Rahmen für die anderen kosmischen Abläufe zu bilden. Aber auch bei neuseeländischen Kindern bildet das implizite alltagssprachliche Wissen über den Aufgang und Untergang der Sonne oder die Rolle der Gestirne in Märchen ein Muster, das die weitere Wissensaufnahme beeinflusst. Das zeigen die drei Kinder (11 – 12 – 13 J.):26 FORSCHER: Was geschieht mit der Sonne bei Nacht? TINA: Sie geht zu verschiedenen Teilen der Welt sie geht hinter die Hügel sie geht den Erdboden entlang – und sie geht in ein anderes Land. STEPHEN: Sie verschwindet unter der Erde und kommt irgend woanders wieder hoch.

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ROBYN: Es ist dunkel – der Grund dafür, dass es dunkel ist, ist, dass die Sonne nicht mehr scheint – sie ist hinuntergegangen in eine Art hausartiges Ding – und der Mond kommt hoch. FORSCHER: Was meinst du mit »hausartigem Ding«? ROBYN: Oh. Es ist so eine Art sie sinkt hinunter und dann übernimmt der Mond. FORSCHER: Was meinst du mit »ihrem Haus«? ROBYN: Wenn sie dahin zurücksinkt, wo sie normalerweise in der Nacht ist – wie ein Zuhause. FORSCHER: Wo ist das? ROBYN: Drunten unter dem Äquator.

Auch hier wird deutlich, dass die Kinder letztlich auf Alltagswissen zurückgreifen – wonach die Sonne eben über den Tag ihren Lauf nimmt. Ich vermute, dass man auch in den Bildern der Unterrichtsstunde solche Mechanismen erkennen kann. Ich habe bereits oben erwähnt, dass man wohl auch in den »naturwissenschaftlichen« Darstellungen implizite biblische Spuren wie Sintflut oder Sieben-Tage-Schöpfung erkennen kann. Die Kinder »basteln« mit den Bausteinen, die ihnen zur Verfügung

24 T.G.K. Bryce / E.J. Blown, Cultural Mediation of Childrens Cosmologies: A longitudinal study of the astronomy concepts of Chinese and New Zealand Children, International Journal of Science Education Bd. 28 Nr. 10 (2006), 113–1160, 1114; »Thus cultural mediation of childrens cosmologies is taken to be those cultural factors that permeate childrens cosmologies. This cultural media include what a child might learn from interacting independently with a particular cultural environment from an early age; from informal local-culture-specific teaching by parents, grandparents, and other significant adults; and from formal education by teachers who disseminate the global culture of the scientific world-view.« 25 Ebd. 1136 (Übers. G.B.). 26 Ebd. 1140 f.

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Pädagogische Anregungen

stehen, ohne deren Herkunft genauer zu bedenken. Die Erwähnung Gottes als Schöpfer ist eher ein konfessorischer Marker als die Bindung an ein bestimmtes Theoriemodell. Im Prinzip genauso verhält es sich mit dem Stichwort »Urknall«. Für eine Didaktik des Religionsunterrichts stellt sich aber noch eine ganz andere Frage. Heinz von Foerster hat die Unterscheidung von entscheidbaren und nicht entscheidbaren Fragen vorgeschlagen.27 Um was geht es bei der Frage nach dem Ursprung der Welt? Ob diese Welt ihren Ursprung einem Schöpfergott verdankt, ist definitiv eine »nicht entscheidbare Frage« und muss deshalb, so von Foerster, (immer wieder neu) entschieden werden.28 Die biblischen Zeugnisse der Genesis, die Schöpfungspsalmen und das Hiob-Buch liefern uns Argumente für einen solchen Glauben. Im Hinblick auf das Wie sind sie – beim genaueren Hinsehen – so disparat, dass man keinen Grund sieht, in Konkurrenz zu den Naturwissenschaften treten zu wollen. Auf der anderen Seite sind die dort gebrauchten Vorstellungen recht nah bei dem, was uns der Augenschein in dieser Richtung erwarten lässt: Sonne, Mond und Sterne verhalten sich so, wie wir es auch selbst erleben. Ferne Galaxien, Hintergrundstrahlung etc., was wir nur aus der Literatur oder dem Fernsehen kennen, kommt dort nicht vor. Dies macht die Suggestion dieser Bilder aus – vom Sieben-TageSchema bis zur Sintflut. Wie ist es nun mit dem Wissen zur Kosmologie? Sind diese Fragen entscheidbar? Folgt man etwa der strengen Kriteriologie Karl Raimund Poppers, dann kann man diese Hypothesen nicht wirklich falsifizieren. Demnach kann man ihnen – streng genommen – keine Gesetzesqualität zusprechen. Einerseits gibt es

für die Vorstellung, dass vor 13,7 Milliarden der Urknall stattgefunden hat, sehr gute Argumente. Dabei gehen die meisten Theorieannahmen deutlich über die Möglichkeiten des gebildeten Laien hinaus. D.h., dass es sehr schwierig ist, markante Hinweise besonders jüngeren Kindern zu vermitteln. Dazu kommt, dass es immer wieder neue Beobachtungen und Theorievarianten gibt, auch wenn diese an der Grundannahme vom »Urknall« nicht viel ändern. So gesehen handelt es sich hier nicht im strikten Sinne um eine »entscheidbare Frage« in dem Sinne, dass es nur um die Rezeption einer kollektiv approbierten Wissenstatsache geht. Dazu ist der Inhalt zu komplex und in Details umstritten oder schwer nachvollziehbar. Ich sage dies im Hinblick auf die hier zitierten Studien, die in dieser Hinsicht zur Bescheidenheit mahnen. Ich möchte an dieser Stelle nochmal auf die gemeinsame Stunde mit Jasmin Kiefer zurückkommen. Den Schüler/innen war klar, dass die Aussagen zu Gottes Schöpferhandeln in einer Spannung standen zu den vorgetragenen Aussagen über die Entwicklung des Feuerballs zur bewohnbaren und bekannten Erde. Interessanterweise war beiden Gruppen klar, dass sie für ihr Votum kaum Argumente hatten und keine Möglichkeit des Rekurses auf eigene Erfahrungen. Die Begründung erfolgte durch den Bezug auf »die 27 Heinz von Foerster, Lethologie. Eine Theorie des Erlernens und Erwissens angesichts von Unwissbarem, Unbestimmbaren und Unentscheidbarem, in: R. Voß (Hg.), Die Schule neu erfinden. Systemisch-konstruktivistische Annäherungen an Schule und Pädagogik, Neuwied/Kriftel 42002, 14–32, 28 ff. 28 Vgl. auch Richard David Precht, Warum ist alles und nicht nichts?, München 2011, 23.

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Bibel« bzw. »die Wissenschaftler«. Es ging also nicht um Wissen, sondern »wem man glauben kann«. Auf die irritierende Frage, woher denn ihre Zeugen ihr Wissen hätten, stellten sich eher nachdenkliche Antworten ein. Entweder rechnete man mit einer unmittelbaren Offenbarung Gottes oder vertraute »den frommen Männern«, die die Bibel verfasst hätten. Im Hinblick auf die Wissenschaftler erweckte es erst einmal Staunen, dass man deren »Erkenntnisse« infrage stellen konnte. Der Glaube an die Wissenschaft war ein Selbstläufer ohne den Zwang, diesen zu belegen. Hier war es nötig zu fragen, was man sehen und messen kann und dass man diese Daten dann interpretieren muss und damit »wissenschaftliche Wahrheit« auch eine Konstruktion ist – wie natürlich auch die Vorstellungen der Bibel. Dieser Impuls in der Doppelstunde mag weniger nachhaltig gewirkt haben als dies wünschenswert wäre, er verweist aber auf ein mögliches religionsdidaktisches Programm.

(Notwendige) Erkenntnistheorie im Religionsunterricht Es geht – so viel lässt sich festhalten – bei der Kosmologie zwar auch um das Erlernen von Fakten und Regeln, doch mehr noch um Fragen der Erkenntnis(möglichkeit). Ein wichtiges pädagogisches Prinzip besteht darin, Schüler/innen eigene Erfahrungen machen zu lassen und sie dabei zu unterstützen. Doch führt dieser Weg nur bedingt weiter. Denn wenn sich die Kinder nur auf das verlassen, was sie sehen, kommen sie über eine bestimmte Erkenntnis nicht hinaus. Nun ist es aber gewiss richtig und wichtig, einmal festzuhalten, was man wie sehen kann und

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was man auf dieser Basis für Schlüsse ziehen kann (z.B. die Zuordnung der Himmelsrichtungen zum Sonnenlauf) und was nicht. Wenn man Modelle einsetzt, dann muss der Bezug zwischen Modell und Wirklichkeit bedacht werden. Im Erdkundeunterricht wird dies systematisch eingeübt beim Weg von Luftbildern zu Karten und von der Vorstellung etwa einer Wanderkarte zur Rekonstruktion eines zu erwartenden Wegverlaufs. Nur wenn der Transfer von Modell und »Wirklichkeit« sicher verstanden ist, kann man mit Modellen arbeiten: der Erdkugel, von Sonne und Mond und eventuell der Planeten. Bis hier Tag und Nacht, die Mondphasen und die Jahreszeiten plausibel gemacht werden können, bedarf es großer Anstrengungen. Dass unser Sonnensystem seinerseits Teil einer Galaxie innerhalb der Milchstraße ist, ist dann schon nicht mehr leicht modellierbar. Jegliche Rede über einen Anfang des Universums müsste aber solche Modelle bemühen. In der Schulbuchreihe »SpurenLesen« haben wir für die Sek I versucht, solche Grundfragen des Erkennens und der Modellbildung exemplarisch einzuüben.29 Es wäre nach meinem Ermessen möglich und wünschenswert, einen solchen propädeutischen Lehrgang auch schon in Grundschulreligionsbüchern einzuführen. Die dort zu lernende Erkenntnisskepsis ist ein Weg zu notwendiger Bescheidenheit und damit die Voraussetzung dafür zu erfahren, dass Glauben nicht »nur ungenau Wissen« heißt, sondern Vertrauen im Kontext mit anderen angesichts von Unsicherheit. 29 Vgl. Gerhard Büttner u.a., SpurenLesen 1, Stuttgart / Braunschweig 2007 und die Folgebände.

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Sarah-Lena Eikermann »Ich glaube manchmal, dass Gott die Erde erschaffen hat. Oder dass ein Urknall die Welt gemacht hat …« – Weltbilder von Grundschulkindern heute 1. Welche Vorstellungen haben Grundschulkinder heute von der Entstehung der Erde? »Da Religionen seit jeher die Funktion erfüllt haben, auf die voranstehenden Fragen Antworten bereitzustellen und die Welt zu deuten, müssen Religionspädagogen darüber unterrichtet sein, wie die Weltbilder der Kinder beschaffen sind und wie sie sich entwickeln.«1 Dennoch sind die Weltbilder von Grundschulkindern bis heute – vor allem im Hinblick auf aktuelle Untersuchungen – kaum empirisch erforscht worden.2 Es stellen sich daher Fragen wie »Welche Vorstellungen haben Grundschulkinder heute von der Welt? Gehen Kinder von einem theologischen Ursprung aus oder sind ihre Vorstellungen naturwissenschaftlich begründet? Und gibt es eine Entwicklung der kindlichen Weltbilder in den verschiedenen Schuljahren der Grundschule?« Entsprechende Fragen sollen im Folgenden unter Rückbezug auf eine durchgeführte empirische Studie3 beantwortet werden. Die Studie wurde zu Beginn dieses Jahres an einer Grundschule in einer niedersächsischen Großstadt durchgeführt. Die erkenntnisleitende Fragestellung war hierbei, welches Weltbild Grundschulkinder heute aufweisen. Das Theoriekonzept, das der Untersuchung zugrunde liegt, orientierte sich dabei maßgeblich an der »Gruppendiskussion mit Kindern«

nach Friederike Heinzel.4 Da mit der Untersuchung – neben den Vorstellungen der Kinder über den Ursprung der Welt – ebenfalls eine mögliche Entwicklung der kindlichen Weltbilder in den Blick genommen werden sollte, wurde ein Vergleich von Zweit- und Viertklässlern

1 Anton Bucher, Das Weltbild des Kindes, in: Gerhard Büttner / Veit-Jakobus Dieterich (Hg.), Die religiöse Entwicklung des Menschen, Stuttgart 2000, 199. 2 Als Literaturhinweise zu bestehenden Studien können vor allem folgende Werke genannt werden: Anton Bucher, Das Weltbild des Kindes (wie Anm. 1, 199–215; Reto Luzius Fetz/ Karl Helmut Reich / Peter Valentin, Weltbildentwicklung und Schöpfungsverständnis. Eine strukturgenetische Untersuchung bei Kindern und Jugendlichen, Stuttgart 2001; Jean Piaget, Das Weltbild des Kindes, 8. Auflage, München 2005; Karl Helmut Reich / Reto Luzius Fetz / Peter Valentin, Weltbild, Gottesvorstellung, Religiöses Urteil: Welche Beziehung?. In: Anton A. Bucher / Karl Helmut Reich (Hg.), Entwicklung von Religiosität. Grundlagen – Theorieprobleme – Praktische Anwendung, Freiburg/Schweiz 1989, 149–158. 3 Diese Studie ercheint in ausführlicher Form demnächst im LIT-Verlag (Reihe Forum Theologie und Pädagogik, Beihefte 5) – Sarah-Lena Eikermann, Weltbilder von Grundschulkindern heute. Eine empirische Studie im Religionsunterricht. 4 Vgl. Friederike Heinzel, Kinder in Gruppendiskussionen und Kreisgesprächen, in: Friederike Heinzel, (Hg.), Methoden der Kindheitsforschung. Ein Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive, Weinheim/München 2000, 117–130.

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durchgeführt. Insgesamt nahmen 24 Schülerinnen und Schüler an der Studie teil, von denen je 12 Kinder die zweite bzw. die vierte Klasse der Grundschule besuchen. Um ein aussagekräftiges Ergebnis zu gewährleisten, wurde die gleiche Anzahl an Mädchen und Jungen mittels eines mehrperspektivischen Ansatzes untersucht. Im Rahmen eines theologischen Gesprächs wurden zunächst die Vorstellungen der Kinder sowie ihre individuellen Theorien über die Entstehung der Erde mündlich zum Ausdruck gebracht und im Anschluss daran in Einzelarbeit sowohl schriftlich als auch bildlich dargestellt. Als Einstieg ins Theologisieren über den weltlichen Ursprung wurde zu Beginn des theologischen Gesprächs die Geschichte »Rosa und Gelb« von William Steig5 vorgetragen, was die Grundschulkinder vorab auf kindgerechte Weise zum Nachdenken anregte. Die Kinder wurden dabei durch sinnvolle Unterbrechungen dazu motiviert, ihre Gedanken zur Thematik zu äußern. Erst im Anschluss an dieses Vorlesegespräch wurde zur Fragestellung, wie unsere Welt eigentlich entstanden sein könnte, übergeleitet und über den Ursprung der Welt diskutiert. Auf diese Weise konnten in insgesamt vier Diskussionen mit je sechs Kindern deren individuelle Theorien über den Ursprung der Welt herausgestellt und daraus das jeweils vorherrschende Weltbild gedeutet werden. Nachfolgend sollen nun einige Beispiele der vorherrschenden kindlichen Weltbilder sowie die wesentlichen Ergebnisse der Studie vorgestellt werden.

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2. Darstellung wesentlicher Ergebnisse

2.1 Die Weltbilder der Zweitklässler Bei der Auswertung der Datenerhebung konnte herausgestellt werden, dass die Probanden der zweiten Klasse zumeist Vorstellungen äußerten, die vor allem auf zwei Kategorien zurückzuführen sind: Je fünf Kinder konnten entweder dem »theistischen«6 oder dem »hybriden Weltbild«7 zugeordnet werden. Im Hinblick auf die geschlechterspezifische Verteilung zu den Weltbildtypen ist zentral, dass je drei Jungen und zwei Mädchen den beiden Kategorien zugeteilt werden konnten. Es bestand folglich keine auffällige Ungleichmäßigkeit in Bezug auf die Geschlechterverteilung. Lediglich zwei Schülerinnen zeigten persönliche Theorien, welche von diesem aufgezeigten Trend abweichen. Eine der beiden Schülerinnen wies ein »archaisches Weltbild«8 auf und hinsichtlich der anderen Schülerin konnte eine Mischform verschiedener Weltbildtypen festgehalten werden. Von den fünf Zweitklässlern, die dem »theistischen Weltbild« zugeordnet wurden, befanden sich vier noch in dessen erstem Stadium. Sie sahen Gott als den allumfassenden Schöpfer an. Vergleichbares zeigte sich sowohl in ihren Äußerungen während des theologischen Gesprächs, als auch in ihren eigens gefertigten Produkten. Ein Schüler führte bei der Dis5 Hinweis auf: William Steig, Gelb und Rosa, in: Grundschule Religion 11/2005, 13–16. 6 Vgl. Reich u.a.: Weltbild, Gottesvorstellung, Religiöses Urteil: Welche Beziehung? (wie Anm. 2), 152. 7 Vgl. Fetz u.a.: Weltbildentwicklung und Schöpfungsverständnis (wie Anm. 2), 73 f. 8 Vgl. ebd., 73.

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kussion beispielsweise an: »Nein, Gott hat die geschaffen, die Erde! (…) Und die Menschen! Also die Menschen hätte er so aus Staub und Sand gemacht, hat er.«9 Einen ähnlichen Bezug zwischen Gott und dem Ursprung der Erde zog auch eine Schülerin, die in ihrem Text: »Die Welt ist von Gott erschaffen. (…)« schrieb. Texte anderer Probanden wiesen einen fast identischen Wortlaut auf, indem auch sie Gott als den Schöpfer der Erde anführten. Insgesamt fünf der zwölf Zweitklässler gehen in diesem Sinne davon aus, dass ausschließlich Gott für die Entstehung der Erde zuständig ist. Einige konnten jedoch nichts zu der Art und Weise, wie dies abgelaufen sein könnte, sagen. Sie waren sich lediglich sicher, dass Gott die Welt geschaffen hat. Andere Probanden beschrieben hingegen, dass Gott dabei auf bestimmte Materialien zurückgegriffen hat. Ein Junge schrieb in seinem Text diesbezüglich zum Beispiel: »Als erstes waren Staubkörner da. Daraus hat Gott die Erde gemacht.« Die weitere häufig vertretene Form, das »hybride Weltbild«, zeichnete sich im Vergleich zu dem »theistischen Weltbild« durch mehr individuelle Theorien der Probanden aus. Trotz gleicher kategorialer Zuordnung bestanden erhebliche Unterschiede in ihren Vorstellungen, wie die Erde genau entstanden sei. Gemeinsam ist jedoch, dass alle Schülerinnen und Schüler dieses Typs sowohl naturwissenschaftliche als auch religiöse Elemente zur Erklärung des weltlichen Ursprungs heranzogen. Die Ansicht einer Schülerin ist auf diese Weise durch eine naturwissenschaftliche Erklärung unter Rückbezug zu Gott gekennzeichnet. Sie schrieb: »Die Welt ist vielleicht aus Wasser entstanden oder von Gott, weil er Blumen und uns Menschen machte.« Eine andere Schülerin

ging hingegen von Folgendem aus: »Vielleicht ist ein Komet gekommen? Und dann ist die Welt entstanden? Und dann hat Gott die Pflanzen Tiere und Menschen erschaffen.« Eine noch andere Theorie führte darüber hinaus ein Schüler an, welcher erklärte, dass vor langer Zeit ein Stück eines anderen Planeten abgefallen und daraus die Erde entstanden sei, Gott jedoch Aspekte wie das Licht auf Erden gemacht habe. Bei den Kindern bestanden somit unterschiedliche Theorien über den genauen Ursprung der Welt, dennoch vermischten alle fünf Probanden der zweiten Klasse – getreu der Zuordnung zu dem »hybriden Weltbild« – naturwissenschaftliche Erklärungen mit religiösen Aspekten und bildeten auf diese Weise ihre eigenen individuellen Vorstellungen. Des Weiteren konnte bei zwei Probanden der zweiten Klasse ein medialer Einfluss auf das persönliche Weltbild festgestellt werden. So erwähnte beispielsweise ein Schüler an mehreren Stellen des theologischen Gesprächs den Film »Star Wars« und zog diesen zu seinen Erklärungen heran. Zusätzlich konnte die Theorie des Mädchens, welches einzig das »archaische Weltbild« zeigte, auf einen Medieneinfluss zurückgeführt werden. Ihre persönliche Theorie über die Entstehung der Erde fasste sie in ihrem Text wie folgt zusammen: »Die Welt hat Gott erschaffen mit Glitzerstaub«. Es wird deutlich, dass Gott – entsprechend ihrer Vorstellung – die Welt mit Hilfe von Glitzerstaub erschuf und sie Gott im Hinblick auf den 9 Siehe Beispiel – »Theistisches Weltbild«. Zudem ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die kindlichen Aussagen und Produkte im Hinblick auf Rechtschreibung und Grammatik aus Gründen der besseren Lesbarkeit teilweise bereinigt angeführt werden.

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Ursprung der Welt daher als eine Art Magier sieht, welcher mit dem Glitzerstaub die Welt zauberte. Auf die Frage, woher sie diese Theorie habe, führte sie konkret ein Buch an. Mit Hilfe der Thematisierung einiger wesentlicher Ergebnisse der aktuellen Studie kann zusammenfassend festgehalten werden, dass vornehmlich zwei Typen von Weltbildern bei diesen Zweitklässlern vorherrschend sind. Lediglich zwei Schülerinnen weisen Vorstellungen auf, welche nicht diesen Kategorien zuzuordnen sind. Die restlichen zehn Zweitklässler haben – unabhängig von ihrem Geschlecht – zwar individuelle Theorien über die Entstehung der Erde, diese können aber alle – trotz der jeweiligen Unterschiede –, entweder dem »theistischen Weltbild« oder dem »hybriden Weltbild« zugeteilt werden. Im Allgemeinen ist daher davon auszugehen, dass bei den Grundschulkindern von heute in einem Alter von ungefähr sieben bis acht Jahren vor allem diese beiden Weltbildtypen vorherrschen. Im Folgenden sollen diese an zwei Beispielen kurz näher erläutert werden.

Beispiele der typischen Weltbilder von Zweitklässlern ) »Theistisches Weltbild« – »Nein, Gott hat die geschaffen, die Erde! Und die Menschen!«

Junge D., 7 Jahre Zentrale Aussagen im theologischen Gespräch: Durch seine Aussagen während des Gesprächs wurde schnell deutlich, dass Junge D. die Weltentstehung auf Gott

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zurückführt. So antwortete er auf die Theorie eines Mädchens beispielsweise mit: »Nein, Gott hat die geschaffen, die Erde! (…) Und die Menschen!« Darüber hinaus erklärte er, wie er sich Gottes Schöpfung vom Menschen vorstellt. Hier bezog er sich indirekt – wie auch an anderen Stellen des Gesprächs – auf die biblischen Schöpfungsgeschichten, indem er erläuterte, Gott habe den Menschen aus Sand und Erde gemacht. Die Theorie von D. zeichnet sich daher vor allem durch einen starken Bezug zu den biblischen Schöpfungsgeschichten sowie zu Gottes Wirken bei der Weltentstehung aus. Dies wurde darüber hinaus bei einem späteren Einwand eines anderen Diskussionsteilnehmers verstärkt erkennbar. Auf dessen Äußerung hin, dass nicht alles auf der Erde von Gott geschaffen wurde, sondern einige Dinge wie z.B. Häuser von den Menschen gebaut wurden, führte Junge D. diese hingegen erneut auf Gott zurück. Er sagte: »Aber Gott hat das Material dafür gegeben!« (…) »Also die Häuser sind auch von Gott!« Junge D. hält Gott für den allumfassenden Schöpfer. In seinen Vorstellungen sind sowohl die Erde als auch alles andere Gottes Werk, was in Aussagen wie »Aber Gott hat eigentlich alles in der Welt geschaffen!« bestätigt wurde.

Kindertext: In einem kurzen Text von insgesamt nur einem Satz fasste Junge D. seine Vorstellungen über die Entstehung der Erde zusammen. Dieser lautete: »Die Welt ist durch Gott entstanden.« Ähnlich wie im Gespräch bezog sich D. hier ausschließlich auf Gott als »Auslöser« für die Weltentstehung. Weitere Informationen in Bezug auf seine Vorstellungen, welche er noch im Gespräch anführte, verschriftet

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Abb. 1

er hingegen nicht. Dennoch bestätigt der kurze Text, dass D.s Theorie zur Weltentstehung stark mit Gottes Wirken verbunden ist.

Kinderzeichnung10 – Spontane Wahrnehmung: Die gesamte Zeichnung von Junge D. ist farblich gestaltet, wobei vor allem die Farben schwarz, blau, grün und gelb verwendet wurden. Auf dieser ist ein Halbkreis zu erkennen, der mit verschiedenen Farben (blau, grün, gelb) ausgemalt ist. Um den Halbkreis herum sind viele schwarze Linien gezeichnet. An einer Stelle sind diese Linien unterbrochen. Hier ist von dem Jungen D. stattdessen eine ovale gelbe Fläche gezeichnet, in welcher der Schriftzug »Gott« geschrieben steht.

Analyse der Formensprache: Der abgebildete Halbkreis befindet sich in der Bildmitte und stellt daher den Mittelpunkt der Zeichnung dar. Dieser wird von den schwarzen Linien umkreist, welche durcheinander angeordnet sind. Die beschriebene gelbe Fläche befindet sich unterhalb des Halbkreises und wird ebenfalls von den schwarzen Linien umrahmt. Die Zeichnung von Junge D. füllt lediglich die Bildmitte aus, die äußeren Ränder sind weiß bzw. leer. Analyse des Bildgehalts: Der Halbkreis, welcher den Mittelpunkt des Bildes darstellt, ist in dem vorliegenden Kontext sowie durch die gewählten 10 Siehe Abbildung 1.

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Farben deutlich als Erde zu erkennen. Die abgebildete Form der Erde deutet zudem auf eine Erdkugel hin, welche allerdings von den schwarzen Linien zur Hälfte verdeckt wird. Die Linien deuten durch ihre schwarze Gestaltung auf das Weltall hin, ähneln aufgrund ihrer Platzierung sowie der Tatsache, dass sie die Erde zur Hälfte bedecken, jedoch eher einer Art Wolke. Die Erdkugel wird in der Darstellung von D. halb vom Universum verdeckt. Zwischen den schwarzen Linien befindet sich zusätzlich – wie beschrieben – eine Aussparung, in welche eine gelbe Fläche eingezeichnet ist. Der Schriftzug macht deutlich, dass es sich hierbei um eine Gottesdarstellung handelt. Junge D. weist somit ein Gottesbild auf, welches nicht an eine menschliche Gestalt oder Ähnliches gebunden ist. Die Farbe Gelb erinnert in diesem Zusammenhang an Licht, was die Assoziation von Gott als Licht (Wärme, Hoffnung usw.) nahe legt. Dadurch, dass ein Gottesbild in die schwarzen Linien gezeichnet ist, wird darüber hinaus auch die Anordnung der schwarzen Linien erklärbar. Gott greift – in D.s Vorstellung – in die Welt ein, was dadurch visualisiert wird, dass die Erde in der Abbildung zum Teil bedeckt wird. Zusätzlich drückt dies Gottes Wirken bei der Weltentstehung aus. Für Junge D. ist Gott sowohl für die Entstehung der Erde als auch für das allgemeine Leben und alle Materialien auf der Welt verantwortlich.

Weltbild Junge D. kann sich die Weltentstehung lediglich mit Gott als dem Schöpfer vorstellen. Er führt die Weltentstehung auf eine göttliche Schöpfung zurück und sieht Gott dabei als eine Art Hersteller; er geht von einer fabrizierten Welt aus. Der

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Junge weist somit ein »theistisches Weltbild« auf.11 Er kann darüber hinaus bereits weitere Informationen hinsichtlich der Art und Weise von Gottes Vorgehen bei der Schöpfung anführen, welche jedoch erneut einen theologischen Bezug aufweisen, indem sie sich auf die biblischen Schöpfungserzählungen stützen. Junge D. sieht Gott als den allumfassenden Schöpfer an, welcher nicht nur für die Weltentstehung, sondern sogar für die Häuser auf der Erde verantwortlich ist. Außerdem kann beispielsweise in D.s Beschreibung wie Gott den Menschen machte, ein Verweis auf ein anthropomorphes Gottesbild gesehen werden. In der Vorstellung des Jungen erschuf Gott den Menschen – und die Welt – mit seinen eigenen Händen. Interessant ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass dennoch kein menschenähnliches Gottesbild bei D. besteht.

) »Hybrides Weltbild« – »(…) ganz viel Wasser ist ausgetrocknet und Gott hat dann die ganzen Blumen und die Pflanzen auf der Welt drauf gemacht.«

Junge E., 7 Jahre Zentrale Aussagen im theologischen Gespräch: Der Junge E. stellte im Rahmen des gesamten theologischen Gesprächs verschiedene Theorien hinsichtlich der Weltentstehung auf. Zusätzlich wurde bei E. ein medialer Einfluss auf seine Vorstellungen deutlich, da er auf die Frage, wo-

11 Vgl. Reich u.a.: Weltbild, Gottesvorstellung, Religiöses Urteil: Welche Beziehung? (wie Anm. 2), 152.

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her die Figuren »Gelb und Rosa« wohl kommen könnten, mit »aus Star Wars!« antwortete. Neben diesem Aspekt stellte E. darüber hinaus seine Theorie ausführlich dar. Diese beschrieb er wie folgt »Es war einmal ganz ganz viel Wasser und ganz viel Wasser ist ausgetrocknet und Gott hat dann die ganzen Blumen und die Pflanzen auf der Welt drauf gemacht.« E. geht demnach davon aus, dass sich die Erde aus dem Rohstoff Wasser entwickelt hat. Im Gespräch schilderte er weiter, dass die Erde aus diesem Element gemacht ist und nur entstehen konnte, weil das Wasser an einigen Stellen ausgetrocknet ist. Gott kommt in diesem Kontext lediglich die Aufgabe der Bevölkerung der Erde zu. E. erklärte in diesem Sinne, dass Gott die Pflanzen auf der Erde gemacht habe. Auf die Frage wie er das gemacht habe, antwortete E.: »Zauberei! (…) Er war früher auf dem Boden, er war der einzige Mensch und hat da alle, hatte ganz viele Körner und hat die auf der Welt da drauf gepflanzt.« Aus dieser Aussage lassen sich zwei Aspekte ableiten: Zum einen hat E. ein menschliches Gottesbild, zum anderen besitzt er die Vorstellung, dass Gott bei seiner Aufgabe der Weltentstehung – der Schaffung von Leben auf der Erde – auf verschiedene Rohstoffe wie Körner zurückgriff. Dass es sich bei der Entstehung der Erde um einen Zufall handelt, schloss E. – trotz seiner Vorstellung des natürlichen Ursprungs der Erde aus Wasser – aus. Seiner Meinung nach gebe es keine Zufälle. Neben seiner Theorie der Weltentstehung aus Wasser, brachte E. darüber hinaus die mythologische Vorstellung der frühen Griechen rund um den Riesen Atlas an. So erklärte E.: »Ich weiß aber wer sogar die Welt haltet. (…) Atlas! (…) Der hat Arme, der ist ganz stark, is nen Riese, der kann die Erde tragen und hat ihr welche

Flügel, sonst fällt er ja runter! Woooh!« Neben dieser Aussage bezogen sich E.s Vorstellungen im Gespräch jedoch eher darauf, dass die Welt aus Wasser entstanden sei und Gott diese im Anschluss bevölkert habe. Kindertext: Der Text von Junge E. besteht aus einem Satz, in welchem er seine – im theologischen Gespräch – angeführte Theorie der Weltentstehung aus Wasser in Kürze zusammenfasste. Er schrieb: »die Welt ist so entstanden (…) das Wasser ist ausgetrocknet und es ist die Welt entstanden.« Es ist erkennbar, dass E. im Rahmen des Textes lediglich die Hauptaussage seiner Vorstellungen – die Weltentstehung aufgrund von ausgetrocknetem Wasser – verschriftet. Weitere Aspekte seiner Theorie wie beispielsweise, dass die Welt von dem Riesen Atlas getragen wird oder Gott die Welt im Anschluss an ihre Entstehung mit Leben bevölkert hat, wurden im Text nicht aufgeführt. Kinderzeichnung12 – Spontane Wahrnehmung: Die Zeichnung des Jungen ist farblich gestaltet, wobei jedoch lediglich die Farben blau und braun verwendet wurden. Auf dem Bild sind drei verschieden große blaue Kreise zu erkennen. Zwei der Kreise sind zudem mit Hilfe brauner Flächen gezeichnet. Einer der Kreise hat drei, der andere Kreis hat fünf braune Flächen. Außer den Kreisen zeichnet Junge E. keine weiteren Dinge auf das Bild.

12 Siehe Abbildung 2.

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Abb. 2

Analyse der Formensprache: Die Kreise sind an verschiedenen Stellen des Bildes angeordnet. Der kleinste Kreis befindet sich im oberen rechten Bildbereich. Links darunter ist ein weiterer, mittelgroßer Kreis und in der linken Bildseite ist der größte Kreis platziert. Die Größe der Kreise nimmt somit von der rechten zur linken Bildseite stetig etwas zu. Analyse des Bildgehalts: Die Zeichnung von Junge E. bildet seine Vorstellung der Weltentstehung in Schritten ab. Die drei Kreise stellen in diesem Kontext die entstehende Erde dar. Der kleinste Kreis rechts oben im Bild ist die Ausgangslage der Weltentstehung, der Rohstoff bzw. das Element Wasser. Dieses Wasser trocknet schrittweise aus,

sodass einige Stellen zu Erde werden. Diesen Zwischenschritt zur Entstehung der Erde stellt der mittlere Kreis dar. Die ausgetrockneten Stellen sind dabei von E. als braune Flächen gezeichnet. Das Wasser trocknet – laut seiner Theorie – immer weiter aus, woraus letztendlich die Erde entsteht. Der größte Kreis im linken Bildbereich kann in diesem Sinne als »fertige« Welt betrachtet werden, nachdem der Austrocknungsprozess abgeschlossen ist. Interessant ist, dass E. fünf braune Flächen gemalt hat. Diese stehen scheinbar stellvertretend für die fünf Kontinente der Erde.

Weltbild: Das Beispiel von Junge E. zeigt zunächst einen gewissen Einfluss der medialen Welt auf die Vorstellungen von Kindern.

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Dies verdeutlicht, dass Aspekte der medialen Welt im Allgemeinen die kindlichen Vorstellungen zur Weltentstehung beeinflussen können.13 Darüber hinaus ist zentral, dass E. bereits eine vorherrschende Theorie zur Entstehung der Erde herausgebildet hat. Er geht davon aus, dass sich die Erde von selbst aus dem Element Wasser entwickelt hat. Dies konnte aufgrund eines Austrocknungsprozesses geschehen. Natürliche Prozesse sind für E. die Ursache der Weltentstehung. Gott findet die bereits vorhandene Erde im Anschluss daran auf und schafft das Leben auf ihr. Er ist in diesem Sinne lediglich für die Bevölkerung der Erde zuständig. E. geht daher von einem halbnatürlichen und halb-künstlichen Ursprungs der Erde aus. Zudem wird die Erde – laut E. – von dem Riesen Atlas getragen. Mit diesem Aspekt bringt er vorhandene mythologische Weltbilder mit seinen eigenen Vorstellungen zusammen.14 Dies könnte möglicherweise durch eine Thematisierung im Elternhaus begründet sein. Da er – wie seine Abbildung der Erde zeigt –, sich die Welt jedoch als Erdkugel und nicht als flache Scheibe vorstellt, kann das »archaische Weltbild« daher ausgeschlossen werden. Stattdessen deuten seine Vorstellungen auf das »hybride Weltbild« hin, was sich daraus ergibt, dass E. sowohl naturwissenschaftliche Aspekte – das Wasser – als auch religiöse Elemente – Gott als Schöpfer des Lebens auf Erden – zur Erklärung der Weltentstehung heranzieht.15

Die Weltbilder der Viertklässler Bei der Auswertung der Weltbilder der Viertklässler konnten ebenfalls zwei Weltbilder als überwiegend anzutref-

fende Kategorien ausgemacht werden. Hier stellten sich das »naturalistische Weltbild«16 und das »hybride Weltbild« als maßgeblich dar, weil zehn von zwölf Viertklässlern eines dieser beiden Weltbilder zeigten. Die Verteilung auf die beiden Typen war dabei sowohl im Hinblick auf die Anzahl der Kinder als auch auf ihr Geschlecht gleichmäßig verteilt. Insgesamt fünf Kinder wiesen in diesem Sinne das »naturalistische Weltbild« auf, von denen drei Jungen und zwei Mädchen sind. Bei ihnen bestanden im Einzelnen zum Teil ebenfalls unterschiedliche Vorstellungen über den weltlichen Ursprung, dennoch berücksichtigten sie alle hauptsächlich naturwissenschaftliche Erklärungen. So erklärte ein Schüler in der Diskussion: »Wahrscheinlich is mal nen Teil von der Sonne abgegangen und dann haben sich andere Sachen alle vermischt, dann ins schwarze Loch, Vakuum, zusammengepresst und der Teil von der Sonne is genau in der Mitte gelandet und der Rest is außen rum gelandet.. das schwarze Loch hats wieder ausgespuckt: Boom! Und dann durch die Bakterien hat sich diese Schutzschicht ähm gesetzt.« Sowohl hier als auch in Bezug auf die anderen Perspektiven führte er

13 Vgl. Veit-Jakobus Dieterich, … und dann ruht er sich vielleicht noch mal ein bisschen aus … – Wie Kinder biblische Schöpfungsgeschichten (Genesis 1 und 2) auslegen, in: Gerhard Büttner / Martin Schreiner (Hg.): »Man hat immer ein Stück Gott in sich« – Mit Kindern biblische Geschichten deuten. Teil 1: Altes Testament, Jahrbuch für Kindertheologie. Sonderband, Stuttgart 2004, 22. 14 Vgl. Anton A. Bucher, Das Weltbild des Kindes (wie Anm. 1), 200. 15 Vgl. Fetz u.a.: Weltbildentwicklung und Schöpfungsverständnis (wie Anm. 2), 73. 16 Vgl. Reich u.a.: Weltbild, Gottesvorstellung, Religiöses Urteil: Welche Beziehung? (wie Anm. 2), 152.

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lediglich naturwissenschaftliche Erklärungen an. Seine Theorie über die Weltentstehung wies zudem viele Parallelen zu den Vorstellungen der anderen Kinder mit einem »naturalistischen Weltbild« auf. Alle gingen davon aus, dass sich ein Stück der Sonne löste, dann in das schwarze Loch gefallen ist und dadurch der Urknall als Auslöser der Erde entstand. Ein Schüler beschrieb in diesem Sinne weiter: »Das Schwarze Loch ist eine Drehung die alles zerquetscht was rein fliegt und da durch entsteht der Urknall und mehrere Planeten werden da durch erschaffen. (und durch die Bakterien entstanden wir).« Die Kinder zogen daher – entsprechend des »naturalistischen Weltbilds« – ausschließlich naturwissenschaftliche Aspekte zur Erklärung der Weltentstehung heran. Diese reine Form des »Naturalismus« konnte bei drei Kindern (zwei Jungen, ein Mädchen) nachgewiesen werden, zwei Probanden zeigten dieses Weltbild hingegen in seiner aufgelockerten Form, welches sich dadurch auszeichnet, dass nicht nur an eine zufällige Entstehung der Erde geglaubt, sondern Gott ebenfalls ein Stück weit berücksichtigt wird.17 Ein Schüler führte im theologischen Gespräch beispielsweise an: »Es könnte auch sein, dass Gott als erstes ähm den Erdkern erschaffen hat, weil sonst könnte das ja eigentlich nicht sein die Erde.« und eine Schülerin fügt an anderer Stelle in der Diskussion hinzu: »Wir wurden ja sozusagen von Gott erschaffen und vielleicht wurden die ja auch von Gott erschaffen!« Beide Kinder räumten Gott im Rahmen der Diskussion daher einen gewissen Platz im Hinblick auf die Weltentstehung ein. Bei den anderen Perspektiven – dem Verfassen eines Textes sowie dem Zeichnen – berücksichtigen sie hingegen keinerlei religiöse Aspekte, sondern erklär-

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ten die Entstehung ausschließlich mit Hilfe naturwissenschaftlicher Theorien. Die Schülerin schrieb hier: »Metrioiden sind ins Schwarze-loch gefallen. Ein Stück von der Sonne ist auch ins Schwarze Loch gefallen und dann hat das Schwarze Loch alles wieder ausgespuckt und es ist die Welt entstanden.« und der Schüler verwies hingegen auf das Raum-Zeit-Kontinuum. Hiermit verbunden ist darüber hinaus das »hybride Weltbild«, welches ebenfalls fünf Kinder zeigten. Der Unterschied zur aufgelockerten Form des »Naturalismus« besteht darin, dass religiöse und naturwissenschaftliche Aspekte unter mehreren Perspektiven gleich berücksichtigt und zudem miteinander vermischt werden. Insgesamt drei Mädchen und zwei Jungen konnten dem »hybriden Weltbild« zugeordnet werden. Ein Schüler der vierten Klasse brachte im theologischen Gespräch die Natur und die Religion wie folgt in Zusammenhang: »Also ich meine das war Zufall, dass der Urknall dann gekommen war, es kann auch sein das Gott außerhalb des Universums so ein Haus hat und da, was weiß ich, gabs in seinem Haus ist er die Treppe runtergefallen und da gabs nen, dann hat das da gebebt und das hat Druck aufgebaut auf das schwarze Loch und dann gabs nen Urknall vielleicht.« Hier nannte der Schüler ohne Schwierigkeiten Gott als den Auslöser für einen naturwissenschaftlichen Prozess wie den Urknall. Ein anderer Schüler war ebenfalls der Meinung, dass Gott etwas mit der Entstehung der Erde sowie dem Urknall als Auslöser zu tun haben muss. Er sagte: »Also ich glaube Gott war zuerst da, weil sonst hätte das ganze irgendwie nicht sein

17 Vgl. Fetz u.a.: Weltbildentwicklung und Schöpfungsverständnis (wie Anm. 2), 256.

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können, weil sonst hätten da auch keine Steine rumschweben können im Weltall oder so, weil die muss ja auch wer gemacht haben.« Beide Jungen fügten für ihre persönlichen Vorstellungen somit religiöse und naturwissenschaftliche Aspekte zusammen. Ähnliches verschriftete auch eine Schülerin: »Ich glaube manchmal, dass Gott die Erde erschaffen hat. Oder dass ein Urknall die Welt gemacht hat. Erst hat er die Bäume und Dinosaurier erschaffen und auf einer kleinen Insel ein paar Affen und die Affen haben sich zu Menschen gewandelt. Und ich denke das sich die Erde immer weiter entwickelt hat.« Für sie standen Gottes Wirken und naturwissenschaftliche Theorien wie die Evolutionstheorie bezüglich der Weltentstehung im Zusammenhang. Die Kinder vermischten auf eine solche Weise die beiden Ansätze Religion und Naturwissenschaft miteinander und zogen sie gleichermaßen zur eigenen Vorstellungsbildung heran. Neben der hauptsächlichen Zuordnung zu einem »naturalistischen« oder einem »hybriden Weltbild« konnten in der Studie darüber hinaus zwei Sonderformen festgestellt werden: So zeichnete sich das Weltbild einer Schülerin vor allem durch eine starke Verunsicherung in Bezug auf die Fragestellung aus, woher die Erde komme, aus. Im theologischen Gespräch äußerte sie unter anderem »Es wurde ja gesagt, dass Gott die Welt erschaffen hat, aber wer hat dann eigentlich Gott erschaffen? Das kann ja nich so aus dem Nix komm.« oder »irgendwas hat ja den Weltraum auch erschaffen und den, und dazu brauchts ja etwas Zeit! Und wenn das vor dem Weltraum, was war denn da? War da einfach nix? Das geht ja gar nich!«. Alle Antwortmöglichkeiten erschienen für sie unmöglich, da mit jeder weitere Fragen verbunden waren. Eine weitere Sonder-

form war bei einem Schüler vorhanden. Sein Weltbild wurde stark von Elementen der Medienwelt beeinflusst, welche er zur Bildung seiner persönlichen Vorstellungen mit naturwissenschaftlichen Aspekten vermischte. So brachte er im theologischen Gespräch, neben einigen Anmerkungen über einen Film namens »Krieg der Götter«, schließlich an: »Vielleicht war der Erdkern früher nur ein Erdkern und dann hat er sich so ausgebreitet (…) Vielleicht waren alle Planeten vorher ne Sonne und die ist dann ausgetrocknet und dann is daraus ne Erde vielleicht geworden!« In seinem Text schrieb er daraufhin: »Dass der Krieg der Götter war und Hades der Teufel die Sonne zerstört. Und dann entstand die Erde. Aber der Krieg der Götter war nicht zu Ende.« Er brachte hier somit seine im Gespräch geäußerten Ansichten mit medialen Elementen zusammen und erstellte sich auf diese Weise eine eigene Theorie darüber, wie die Welt entstanden ist. Die Vorstellungen der Schülerin sowie des Schülers stellten jedoch die Minderheit dar, alle anderen Probanden wiesen entweder ein »naturalistisches« oder ein »hybrides Weltbild« auf. Daher kann durch die Ergebnisse der Studie festgehalten werden, dass die Probanden der vierten Klasse überwiegend entweder ein »naturalistisches« oder ein »hybrides Weltbild« aufweisen. Verallgemeinernd kann daher die These aufgestellt werden, dass Kinder in einem Alter von neun bis zehn Jahren vor allem eines dieser beiden Weltbildtypen innehaben. Infolgedessen sollen diese typischen Weltbilder anhand zweier Beispiele erneut genauer beschrieben werden.

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Beispiele der typischen Weltbilder von Viertklässlern ) »Naturalistisches Weltbild« – »Dann hat sich das Teil ausgebreitet. So ist für mich die Welt entstanden.«

Mädchen J., 9 Jahre Zentrale Aussagen im theologischen Gespräch: Die Vorstellungen von Mädchen J. waren in der Diskussion ausschließlich durch naturwissenschaftliche Bezüge gekennzeichnet. Auf die Frage, wie die Welt entstanden sei, antwortete sie: »Durch einen Urknall!«. Ebenfalls an weiteren Stellen des Gesprächs wurde deutlich, dass Gott für sie bei dem Ursprung der Erde keine Rolle spielt, sondern für sie stattdessen natürliche Prozesse die Ursache für die Entstehung der Welt sind. Die Erde ist für J. aus dem Urknall entstanden, das Leben entwickelte sich im Anschluss daran – entsprechend ihrer Ansicht – aus Bakterien und weiteren Entwicklungen der Natur. Sie erklärte beispielsweise: »Also alles, es muss ja nich alles aus Bakterien entstanden sein! Zum Beispiel ein Baum ist durch Bakterien entstanden, aber der nächste hat Früchte abgelassen und dann is aus den Kernen der Früchte wieder ein Baum entstanden!« Somit bezog sich J. ebenso bei der Entwicklung weiteren Lebens ausschließlich auf natürliche Prozesse in der Welt. Es bleibt daher festzuhalten, dass das Mädchen J. im Rahmen des theologischen Gesprächs somit nur naturwissenschaftlich begründete Theorien anführte. Kindertext: Ebenfalls in dem selbstverfassten Text brachte Mädchen J. lediglich natürliche

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Prozesse mit der Entstehung der Erde in Verbindung. Sie schrieb: »Vor ungefähr Millionen Jahren ist ein Stück der Sonne abgefallen. Aber auch von den anderen Planeten sind kleine Stücke abgefallen. Das ist ins Schwarze Loch gefallen und das Schwarze Loch hat es wieder in einem Teil wieder aus. Dann hat sich das Teil ausgebreitet. So ist für mich die Welt entstanden.« Wie auch unter Berücksichtigung der anderen Perspektiven standen für sie – hinsichtlich des Ursprungs der Welt – naturwissenschaftliche Aspekte im Vordergrund, Theologie oder Gottes Wirken führte sie in diesem Zusammenhang hingegen an keiner Stelle an.

Kinderzeichnung18 – Spontane Wahrnehmung: Das Bild von Mädchen J. zeigt einen großen Kreis, in welchem sich zwei weitere, kleinere Kreise befinden. Außerdem sind vier größer werdende Kreise sowie ein noch größerer Kreis mit vielen Strichen daran, erkennbar. Darüber hinaus zeigt das Bild weitere kleine Kreise, einen Kreis mit Linien und einige Schriftzüge an verschiedenen Stellen. Analyse der Formensprache: Den Mittelpunkt des Bildes macht der größte Kreis (mit zwei kleineren Kreisen darin) aus, von diesem Kreis aus verlaufen nach rechts oben die vier größer werdenden Kreise bis hin zu dem Kreis mit den Strichen. Die vielen kleinen Kreise sowie der Kreis mit den durcheinander angeordneten Linien befinden sich zudem unterhalb dessen im rechten unteren Bildbereich.

18 Siehe Abbildung 3.

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Pädagogische Anregungen

Abb. 3

Analyse des Bildgehalts: Der beschriebene Kreis mit den kleineren Kreisen darin kann im Kontext der Thematik als Erde gedeutet werden. Der Kreis, an dem sich viele Striche befinden, stellt hingegen eine Sonne dar. Die vielen kleineren Kreise sind verschiedene Planeten, die sich ebenfalls in dem abgebildeten Sonnensystem befinden. Die weiteren Kreise drücken aus, dass von der Sonne sowie den Planeten kleine Stücke abfallen und in das schwarze Loch gelangen, welches durch den Kreis mit Linien veranschaulicht wird. Das schwarze Loch spuckt diese anschließend wieder aus (Urknall) und die Steine breiten sich aus, sodass die Welt entsteht.

Weltbild: Das Weltbild von Mädchen P. ist durch die Vorstellung geprägt, dass die Welt durch einen Urknall entstanden ist. Der Prozess der Erdentstehung ereignete sich für sie aufgrund von abgefallenen Stücken der Sonne sowie weiterer Planeten, welche anschließend ins schwarze Loch gefallen sind und wieder ausgespuckt wurden, sodass es zu einem Urknall kam. J. bezieht sich bei der Frage nach der Entstehung der Erde somit ausschließlich auf die Natur und zieht zur Bildung einer eigenen Theorie lediglich naturwissenschaftliche Erklärungen heran. Bei keiner der verschiedenen Perspektiven ist ein Bezug zu Gott bei dem Ursprung der

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Welt erkennbar. J. zeigt infolgedessen eindeutig ein »naturalistisches Weltbild«.19

) »Hybrides Weltbild« – »Vielleicht hat ähm der Urknall ja die Erde gemacht, aber Gott hat es, die bevölkert oder so.«

Mädchen L2., 10 Jahre Zentrale Aussagen im theologischen Gespräch Die Schülerin zog im theologischen Gespräch unter anderem religiöse Aspekte zur Erklärung, wie die Welt entstanden ist, heran. So sagte sie beispielsweise: »Also ich glaube auch eher, dass ähm Gott unsere Erde gemacht hat, weil auf unserer Erde ist ähm bis jetzt auch die eins, also wir haben ja noch nicht so viele Planeten entdeckt, aber auf den eigentlich war überall keine Menschen oder Bäume oder so und auf dieser einzigen Erde äh war jetzt, waren jetzt so Menschenleben oder Bäume, Tiere äh und so weiter.« An anderen Stellen berücksichtigte sie wiederum naturwissenschaftliche Aspekte wie: »Ähm die ganzen Planeten sind vielleicht durch einen Urknall entstanden. (…) Also, dass es eine riesige Explosion gab und zuerst gabs noch keine Planeten um die Sonne und dann sind die ganzen Planeten entstanden.« Ansatzweise führte L2 daher die naturwissenschaftliche Sichtweise an. Den Urknall beschrieb sie dahingehend, dass zu Beginn im Weltall nur ein schwarzes Loch sowie Steine existierten, welche daraufhin eingezogen wurden und eine riesige Explosion entstand. Diese war im Anschluss daran die Ursache für die Entstehung der Planeten. L2 berücksichtigte daher sowohl religiöse als auch naturwissenschaftliche Aspekte im Hinblick auf die Weltentstehung. An

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einer anderen Stelle des Gesprächs wurde deutlich, dass sie beide Sichtweisen in gleichem Maße für möglich hält und ihnen lediglich andere Verantwortungsbereiche zuteilte. Sie führte an: »Vielleicht hat ähm der Urknall ja die Erde gemacht, aber Gott hat es, die bevölkert oder so.« In diesem Sinne brachte sie die naturwissenschaftlichen Theorien mit religiösen Elementen zusammen, was sich beispielsweise in folgender Aussage bestätigte: »(…) Gott hat dann so die Menschen oder so, also den Rest erschaffen und die haben sich ja auch aus den Affen entwickelt und vielleicht hat er dann auch die Affen erschaffen äh für die Menschen.« Hier zog das Mädchen für ihre Vorstellungsbildung zwei generell gegensätzliche Theorien – die Erschaffung der Menschen durch Gott und die Evolutionstheorie – problemlos heran und vermischte sie.

Kindertext: L2 fasste in einem Text von zwei Sätzen ihre Theorie von der Entstehung der Erde zusammen: »Ich glaube, dass die Erde in Schritten entstanden ist! Ich glaube, dass die Erde durch einen Urknall entstanden ist und dass Gott die Erde bevölkert hat!« Dies zeigte erneut, dass für sie sowohl die Naturwissenschaft als auch religiöse Aspekte und Gott im Hinblick auf die Entstehung der Erde eine Rolle spielen. Darüber hinaus wurden so die Tätigkeitsbereiche der verschiedenen Elemente verdeutlicht: Die Natur – im Sinne des Urknalls – war ihrer Meinung nach für die Entstehung der Erde verantwortlich, woraufhin Gott das Leben auf der Erde schaffte. Zudem

19 Vgl. Reich u.a.: Weltbild, Gottesvorstellung, Religiöses Urteil: Welche Beziehung? (wie Anm, 2), 152.

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Pädagogische Anregungen

Abb. 4

wurde hier erkennbar, dass sie von einer Weltentstehung in Schritten ausgeht.

Kinderzeichnung20 – Spontane Wahrnehmung: Die Zeichnung von Mädchen L2 ist farblich gestaltet. Es bildet einen großen Kreis ab, in welchem sich verschiedene bunte Flächen befinden. Außerdem sind drei weitere kleinere Kreise erkennbar, welche ebenfalls bunt gestaltet sind. Einer ist rot, der andere schwarz und ein weiterer gelb ausgemalt. Neben diesen sind auf dem Bild drei ovale Formen eingezeichnet, von denen zwei schwarz und eine rot sind. Auf dem Bild sind zudem Zahlen von null bis sechs sowie verschie-

dene Schriftzüge geschrieben. Es steht dort: »0. Gott, Urknall, 1. Bäume, Pflanzen, Wasser, Wüste, 2. Dinosaurier, 3. Eiszeit, 4. Tiere (z.B. Affen), 5. Menschen/ Neandertaler, 6. Wir!!!«. Man erkennt des Weiteren sechs Pfeile und schwarz-lila Striche, die sich über das gesamte Blatt ziehen.

Analyse der Formensprache: Den Mittelpunkt der Zeichnung bildet der große bunte Kreis, da er fast das gesamte Bild ausmacht. Oberhalb des Kreises sind die drei kleineren Kreise ange20 Siehe Abbildung 4.

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ordnet und links daneben sind die drei ovalen Formen platziert. Auf der rechten Seite neben dem großen Kreis befinden sich die beschriebenen Zahlen und Schriftzüge.

Analyse des Bildgehalts: Die Erde stellt auf dem Bild die Zeichnung des großen bunten Kreises dar, sie ist von L2 somit als Erdkugel gezeichnet. Die kleineren Formen und Kreise visualisieren andere Planeten im Weltall, das durch die schwarzen und lila Striche gekennzeichnet ist. Aufgrund der Zahlen und Schriftzüge wird erkennbar, dass L2 sich die Weltentstehung – wie bereits in ihrem Text deutlich wurde – als einen Prozess in Schritten vorstellt. Sie geht davon aus, dass es als Erstes Gott und den Urknall (Schritt 0) gab. Durch diese beiden Elemente sind die Erde und das Leben auf ihr (Schritt 1: Bäume, Pflanzen, Wasser, Wüste) entstanden. Im Anschluss daran führt L2 an, dass die Dinosaurier (Schritt 2) ihren Platz auf der Erde einnahmen – bis die Eiszeit (Schritt 3) kam und den Platz für andere Tiere (Schritt 4) frei machte. Aus diesen entstanden – durch Gott und die Natur – die ersten Menschen bzw. die Neandertaler (Schritt 5) und letztendlich die heutigen Menschen (Schritt 6). Das Bild steht damit stellvertretend für die verschiedenen Schritte, die laut L2 für die Weltentstehung zentral sind. Es bleibt festzuhalten, dass erneut natürliche als auch religiöse Aspekte bedeutend sind. Weltbild: Die Schülerin spricht – unter Berücksichtigung aller Perspektiven – sowohl der Natur als auch Gott einen Einfluss bezüglich der Weltenstehung zu. Sie geht davon aus, dass die Erde zunächst durch

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einen naturwissenschaftlichen Prozess wie dem Urknall aufgrund einer Explosion im schwarzen Loch entstanden ist – Gott im Anschluss daran jedoch die Erde mit Leben bereichert hat. Diesbezüglich bringt sie daher einerseits naturwissenschaftliche, andererseits auch religiöse Elemente zur Erklärung an. Sie weist deshalb ein »hybrides Weltbild« auf.21 Sie vermischt die verschiedenen Ansichten, was sich beispielsweise darin zeigt, dass sie sich im Rahmen ihrer Vorstellung auf naturwissenschaftliche Theorien wie die Evolutionstheorie stützt und diese problemlos mit anderen Thesen – hier der Schöpfung durch Gott – zusammenbringt. L2 kann sich in diesem Sinne vorstellen, dass Gott für die Menschen zunächst die Affen erschaffen hat und sich daraus – entsprechend der Evolutionstheorie – im Anschluss Menschen gebildet haben. Das Mädchen zieht somit verschiedene Ansichten zur eigenen Theoriebildung heran und vermischt diese hinsichtlich eigener Vorstellungen über die Entstehung der Erde.

3. Weltbilder im Vergleich Auf der Grundlage der wesentlichen Ergebnisse der vorliegenden Studie lassen sich einerseits Gemeinsamkeiten, andererseits jedoch auch Unterschiede hinsichtlich der Weltbilder von Zweit- und Viertklässlern erkennen. Eine erste Gemeinsamkeit zwischen den Grundschulkindern besteht darin, dass sowohl ein Großteil der Zweitklässler als auch der Viertklässler ein »hybrides Weltbild«

21 Vgl. Fetz u.a.: Weltbildentwicklung und Schöpfungsverständnis (wie Anm. 2), 73.

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Pädagogische Anregungen

aufweisen. In beiden Altersstufen sind bei je fünf Kindern entsprechende Vorstellungen zu erkennen. Interessant ist hierbei, dass trotz des Altersunterschiedes viele Kinder auf diese Weise der gleichen Kategorie von Weltbildern angehören. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den Altersgruppen besteht in diesem Zusammenhang darin, dass die Kinder der Natur und der Theologie ähnliche Verantwortungsbereiche zuordnen. So gehen alle Zweitklässler mit einem »hybriden Weltbild« genau wie drei Viertklässler davon aus, dass die Erde zunächst durch einen naturwissenschaftlichen Prozess entstand und Gott daraufhin die Erde mit Leben bevölkerte. Unterschiedlich ist hingegen, dass bei den Viertklässlern – im Gegensatz zu den Schülern der zweiten Klasse – nicht alle denken, dass die Erde zuerst durch die Natur entstand und Gott im Anschluss das Leben darauf schaffte. Die restlichen zwei Viertklässler mit einem »hybriden Weltbild« gehen demgegenüber davon aus, dass Gott zuerst da war und er für den Urknall verantwortlich ist, aus welchem erst dann die Erde durch einen naturwissenschaftlichen Prozess entstehen konnte. Ein Schüler denkt beispielsweise, dass Gott vorher gewesen sein muss, da ansonsten keine Steine im Weltall gewesen sein könnten. Gott hat – entsprechend seiner Vorstellung – zunächst die Steine geschaffen, welche daraufhin in das schwarze Loch geflogen sind und für den Urknall sorgten. Beide gehen daher davon aus, dass erst Gott da war und er etwas mit dem Entstehen des Urknalls zu tun hat. Der Unterschied besteht einzig in der Reihenfolge: Ist für die beiden Jungen Gott der Auslöser für den – ihrer Meinung nach – naturwissenschaftlichen Prozess der Erdentstehung, gehen die restlichen Kinder bloß von

Gottes Wirken nach der Entstehung der Erde aus. Interessant ist in diesem Kontext ferner, dass zwei Jungen eine andere Meinung haben als der Rest der Gruppe. Wie deutlich wurde, besteht ein großer Zusammenhang zwischen den Weltbildern von Zweit- und Viertklässlern darin, dass bei beiden Altersgruppen viele Kinder ein »hybrides Weltbild« aufweisen. Dies macht zusätzlich erkennbar, dass Gott in beiden Schuljahrgängen im Hinblick auf die Weltentstehung eine Rolle spielt. Hierin besteht des Weiteren jedoch ebenfalls ein wichtiger Unterschied. In der zweiten Klasse gehen noch alle Probanden von einem Wirken Gottes bei der Weltentstehung aus. Dabei können sich fünf Kinder – entsprechend ihres »theistischen Weltbilds« – lediglich Gott als den Schöpfer vorstellen und ziehen noch keinerlei naturwissenschaftliche Erklärungen heran. Für die restlichen sieben Schüler sind natürliche Prozesse zwar zentral, dennoch denken sie, dass neben der Natur auch Gott bedeutend ist. Weisen in dem zweiten Schuljahr somit noch alle zwölf Probanden – sei es gemäß des »theistischen« oder des »hybriden Weltbilds« – Gott eine Funktion bei der Entstehung der Erde zu, so nimmt dieser Gottesbezug im Laufe der Zeit ab, sodass bei den Viertklässlern bereits fünf von zwölf Kindern davon ausgehen, Gott habe hiermit nichts zu tun. Im Gegensatz zu den Zweitklässlern glaubt bei den Viertklässlern somit eine erheblich höhere Anzahl von Kindern nicht mehr an Gottes Wirken bei der Weltentstehung. Es bleibt insofern festzuhalten, dass im Laufe der Zeit naturwissenschaftliche Erklärungen an Bedeutung gewinnen und der Gottesbezug in Hinsicht auf die Weltentstehung abnimmt. Hierin kann eine Tendenz gesehen werden, welche auf die

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kindliche Entwicklung übertragen werden kann – der Gottesbezug nimmt ab, während die Naturwissenschaft an Bedeutung gewinnt. Mit der Gemeinsamkeit zwischen den Zweit- und Viertklässler durch die Zugehörigkeit zum »hybriden Weltbild« ist darüber hinaus ein Unterschied verbunden. Dieser ergibt sich aufgrund der einzelnen Vorstellungen bezüglich der Entstehung der Erde. Die Zweitklässler führen diesbezüglich verschiedene Theorien an, die von Wasser als Auslöser über einen Kometen oder Glitzerstaub bis hin zu einem abgefallenen Planetenstück reichen. Die einzelnen Vorstellungen der Viertklässler unterscheiden sich demgegenüber nicht so sehr voneinander. Hier gehen insgesamt sechs Kinder von ähnlichen Ursachen aus. So führen sie alle in ähnlicher Weise an, dass zuerst Elemente wie ein Sonnenstück oder Steine im Weltall herumflogen, diese wurden von dem schwarzen Loch angezogen, verschluckt und anschließend wieder herausgelassen, sodass der Urknall entstand. Aufgrund dessen entstand dann die Erde. Dies macht erkennbar, dass die Vorstellungen der Viertklässler mehr an naturwissenschaftlichen Erklärungen orientiert sind als die der Zweitklässler. Bringen die Zweitklässler noch vollkommen verschiedene, nämlich ihre persönlichen Vorstellungen an, so beziehen sich die Vorstellungen der Viertklässler bereits auf die Wissenschaft und weisen daher Gemeinsamkeiten auf. Ein weiterer Unterschied zwischen Zweit- und Viertklässlern bezieht sich auf die altersgemäße Entwicklung der Grundschulkinder. Wie bereits angeführt, sind sich viele jüngere Kinder sicher, dass Gott die Welt erschaffen habe, darüber hinaus können sie jedoch keine vertiefenden Erklärungen bringen,

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wie Gott die Welt erschaffen habe. Im Gegensatz dazu sind die Weltbilder der Probanden aus der vierten Klasse bereits ausdifferenzierter und klarer. Dies zeigt sich in dem Umfang der Inhalte, die sie bei den verschiedenen Perspektiven in der Datenerhebung anbringen sowie darin, dass sie bereits auf die Art und Weise der Erschaffung der Erde eingehen. Die Weltbilder der Grundschulkinder nehmen im Laufe der Zeit an Inhalten zu, sie werden differenzierter und umfangreicher. Neben diesem Aspekt ist wichtig, dass sowohl bei den Zweitklässlern als auch bei den Viertklässler ein medialer Einfluss auf das Weltbild erkennbar war. Die Ausführungen verdeutlichen, dass sich die Weltbilder von Zweit- und Viertklässlern zum einen unterscheiden, zum anderen hingegen auch Gemeinsamkeiten bestehen. Festzuhalten bleibt, dass je zwei Weltbilder in den Jahrgangsstufen vorherrschend sind und so eine Tendenz zur Verallgemeinerung angeführt werden kann, wobei sowohl Zweit- als auch viele Viertklässler ein »hybrides Weltbild« aufweisen.

4. Resümee Alle befragten Kinder der zweiten Klasse sehen die Welt als Schöpfung Gottes oder sprechen Gott – neben naturwissenschaftlichen Erklärungen – zumindest ein Mitwirken bei der Entstehung zu. Die Viertklässler haben hingegen Vorstellungen, die zumeist ebenfalls dem »hybriden Weltbild« oder jedoch dem »naturalistischen Weltbild« zuzuordnen sind. Hier beziehen sich nicht mehr alle Kinder auf Gott, sondern es stehen eher wissenschaftliche Erklärungen im Mittelpunkt. Übertragen auf kindliche Weltbilder all-

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gemein bedeuten diese Ergebnisse somit, dass Grundschulkinder heute hauptsächlich eines dieser drei Weltbilder aufweisen. Darüber hinaus kann jedoch das »hybride Weltbild« aufgrund der Ergebnisse der vorliegenden Studie als das repräsentative Weltbild der Grundschulzeit herausgestellt werden. Dies ergibt sich daraus, dass entsprechende Vorstellungen sowohl bei einem großen Teil der Zweit- als auch der Viertklässler vorherrschend sind. Die Zuordnung zu dem »hybriden Weltbild« erstreckt sich somit über die verschiedenen Schuljahrgänge der Grundschulzeit, womit es – zumindest für diese Schulform – das determinierende Weltbild ist.22 Von großer Bedeutung ist zudem die festgestellte altersgemäße Entwicklung der kindlichen Weltbilder, welche sich durch einen abnehmenden Gottesbezug bei der Weltentstehung sowie der Zunahme von naturwissenschaftlichen Erklärungen auszeichnet. Dies impliziert, dass Grundschulkinder im Laufe ihrer Entwicklung immer weniger an ein Wirken Gottes bei der Entstehung der Erde glauben und sich stattdessen mehr auf die naturwissenschaftliche Sichtweise beziehen. Ein mög-

licher Grund hierfür könnte in einem mit dem Alter wachsenden Konflikt zwischen dem (naturwissenschaftlich geprägten) Denken der Grundschulkinder und dem Glauben bestehen. Vor allem im Hinblick auf den schulischen Religionsunterricht ist dies essentiell. Religionslehrerinnen und Religionslehrer müssen über entsprechende Informationen bezüglich der kindlichen Weltbilder Bescheid wissen, um einem solchen abnehmenden Gottesbezug entgegenzuwirken und stattdessen ein komplementäres Weltbild bei den Grundschulkindern zu fördern. Von großer Bedeutung ist daher, dass die individuellen Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler unter Berücksichtigung des alterstypischen Weltbildes ernst genommen werden und sie verstehen lernen, dass sich Religion und Naturwissenschaft bezüglich der Weltentstehung nicht ausschließend gegenüberstehen.

22 Vgl. Petra Freudenberger-Lötz, Religiöse Bildung in der Grundschule, in: Zeitschrift für Religionspädagogik 10/2011, 40 f. Verfügbar unter: http://www.theo-web.de/ zeitschrift/ausgabe-2011- 01a/05.pdf

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Carina Pitschmann 1,2,3 …, Gott – Unendlichkeit als Sinn-Wissen im Religionsunterricht der Grundschule

1. Einleitung »Wo immer man es mit dem Unendlichen zu tun bekommt, bricht eine Stelle auf, an der das begreifende Denken uneigentlich wird und sich selbst nicht mehr kennt. Stets wird ein endlicher Begriff überflutet, wenn er sich auf das Unendliche richtet. Will man alle Paradoxien vermeiden, muß man sich auf endliche Ereignisse und Vorstellungen beschränken, auf das Wiederholbare und Objektivierbare, das heißt man muß darauf Verzicht tun, die Welt zu verstehen.«1 Dieser Artikel widmet sich der Erarbeitung eines Polysems mit geschichtlicher Tradition. Das Faszinosum »Unendlichkeit«, symbolisch dargestellt durch die liegende Acht »∞ «, gilt den Menschen und den Wissenschaften seit langem als rätselhafte Provokation, da es aufgrund der im Eingangszitat beschriebenen kognitiven Nicht-Erfassbarkeit dem menschlichen Perfektionismus widerstrebt. Ausgehend davon, dass es – auch anthropologisch begründet – ein wesentliches Anliegen des Menschen ist, eine »Weltformel«2 zu legitimieren und zur Erklärung der weltlichen Gesetzmäßigkeiten beizutragen, stößt man hier an scheinbar unaufhebbare Grenzen. Das interdisziplinäre »Ringen« um einen schwierigen Begriff ergibt sich somit als endloses Unterfangen. Sollte man aus diesen müßigen Gründen jedoch dem appellativen Grundtenor Hattrups folgen

und darauf verzichten, »das Ganze« verstehen zu wollen? Auch im Bereich der Kindertheologie handelt es sich bei diesem Thema bisher um ein Forschungsdesiderat. Über Gründe kann an dieser Stelle nur spekuliert werden: Umgeht man die Problematisierung der Unendlichkeit aufgrund der eigenen (symbolischen) Sprachunfähigkeit? Stellt die Schwierigkeit, den Begriff für sich selbst zu definieren, eine Schranke dar, um mit Kindern in einem Gespräch über »das, was nicht gesagt und gedacht werden kann«,3 zu reflektieren? Ob und wie Kinder fähig sind, Unendlichkeit zu denken, muss hier aufgrund mangelnder empirischer Belege unberücksichtigt bleiben.4 Dass Kinder aber –

1 Dieter Hattrup, Ist Gott ein Mathematiker? Georg Cantors Entdeckungen im Unendlichen, in: ThGl, 89. Jg 1996, 269. 2 Literarisches Beispiel für das Ringen um die Erkenntnis des Weltzusammenhangs und die Wahrnehmung der Krise von Wissenschaft ist Goethes Protagonist Faust im gleichnamigen Werk. Sein wissenschaftliches Streben ist zu erkennen, »was die Welt im Innersten zusammenhält« (Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil 1808, in: Hamburger Lesehefte 29, Husum o.J., 15). 3 In Anlehnung an die Aussageintention negativer Theologie. 4 Vgl. Albrecht Beutelspacher / Hans-Georg Weigand, Endlich….Unendlich!, in: Mathematik lehren, 112/2002, 8: Als nahezu einziger Beleg können die Untersuchungen von Jean Piaget angeführt werden. Erst auf der Stufe der formalen Operation (10–12 Jahre)

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zumindest in emotionaler Hinsicht – ein Sensorium bzw. eine Ahnung für die Dimension der Unendlichkeit ausgebildet haben, stellt Schmidbaur an einer Erzählung des griechischen Naturphilosophen Thales von Milet (625–547 v. Chr.) interpretativ heraus: »Jeder Mensch, selbst ein unmündiges Kind, reicht in der Tiefe des Fragens immer schon über das Endlich-Kontingente hinaus (…).«5 Und welches Kind hat nicht schon einmal angesichts der vielzähligen Sterne am Abendhimmel nach der Anzahl dieser oder des Blicks auf den Horizont am Meer nach dem Ende dieses gefragt? Der kindliche Fragehorizont ist hier unbegrenzt: Kann Unendlichkeit aufhören? Wohnt Gott in der Unendlichkeit? Stoppt die Zeit in der Unendlichkeit? Ist Oma der Unendlichkeit näher als ich? Gibt es Unendlichkeit erst nach dem Tod? Die Beantwortung dieser Fragen hängt nicht nur vom »intuitiven Wissen« der Antwortgeber ab, sondern auch von der Definition des Unendlichkeitsbegriffs. Wie bereits erwähnt, ist dieser aufgrund seiner Mehrdimensionalität nicht eindeutig bestimmbar. Zur Umschreibung werden häufig Charakteristika wie Vollkommenheit, Grenzenlosigkeit, Körper- und Raumlosigkeit sowie Göttlichkeit genutzt. Auch Kontrastbegriffe wie Endlichkeit, Begrenztheit und Diesseitigkeit bieten sich an. Ferner kann man als These vorsichtig zwischen einem quantitativen und einem qualitativen Unendlichkeitsbegriff differenzieren. Tapp hebt in diesem Kontext den in der Mathematik existenten quantitativen Unendlichkeitsbegriff hervor, der hier auf die Frage »Wie viel« antwortet6: Wie viele Zahlen gibt es? Wie viele Primzahlen gibt es? Die Quantität ist im Bereich der Theolo-

gie und Philosophie eher nebensächlich; die Frage »Wie viel (ist) Gott?« klingt befremdlich. Entsprechend zeichnet sich das philosophisch-theologische Unendlichkeitsdenken durch andere Merkmale aus. Zentral ist die »Qualität« der individuellen Beziehung zu Gott und den Mitmenschen. Aufgrund der Vielschichtigkeit des Unendlichkeitsbegriffs ist eine weitere These der Verfasserin, dass eine umfassende Definition des Terminus nur in der Verknüpfung verschiedener Wissenschaftsdisziplinen möglich ist.7 Fokussiert wird in diesem Rahmen sowohl ein naturwissenschaftlicher als auch ein geisteswissenschaftlicher Zugang zur Thematik. Die Interdisziplinarität zwischen Mathematik und Evangelischer Theologie ist im religionspädagogischen Bereich, speziell auch im kindertheologischen, weit-

seien Kinder fähig, eine unendliche Folge von Objekten zu konstruieren. 5 Hans Christian Schmidbaur, Die Ewigkeit Gottes, in: Otfried Reinke (Hg.), Ewigkeit? Klärungsversuche aus Natur- und Geisteswissenschaften, Göttingen 2004, 125. Vgl. Karin Richter, Cantor fragt: unendlich = unendlich?, in: Mathematik lehren, 112/2002, 13: Die kindliche Frage hat nicht nur in der Theologie einen hohen Wert. Auch der berühmte Mathematiker Georg Cantor betont, dass Fragen zu stellen wichtiger sei als Antworten zu finden. 6 Vgl. Christian Tapp, Unendlichkeit in Mengenlehre und Theologie. Über tatsächliche und scheinbare Beziehungen, in: Johannes Brachtendorf u.a. (Hg.), Unendlichkeit. Interdisziplinäre Perspektiven, Tübingen 2008, 246. 7 Vgl. S. Körner, Endlich/unendlich, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, Basel 1972, 490: In der Geschichte des Begriffs wirkten durchgehend theologische, philosophische, mathematische und physikalische Gedanken gemeinsam.

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Pitschmann Unendlichkeit als Sinn-Wissen im Religionsunterricht der Grundschule

gehend ein Forschungsdefizit. Wenn es um die Verhältnisbestimmung zwischen Glaube und Naturwissenschaften geht, dominieren Arbeiten über Erklärungsversuche zur Weltentstehung, insbesondere über die Auseinandersetzung zwischen Evolutionsbiologie und Schöpfungstheologie. Arithmetische oder geometrische Grundlagen wurden bisher kaum reflektiert, obwohl diese durchaus Potenzial für die Theologie bieten würden. Trotz der Kenntnisse über die Konfliktgeschichte beider Disziplinen seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert soll hier das primäre Anliegen sein, beide Sichtweisen in ihrem Miteinander zu denken. Da eine empirische Studie zur Unendlichkeitsvorstellung von Kindern noch aussteht und auch in diesem Artikel nicht erwartet werden kann, liegt der Schwerpunkt der Erarbeitung auf didaktischmethodischen Zugängen zum Thema im Religionsunterricht. Vorgestellt werden soll keine zusammenhängende Unterrichtseinheit, sondern konkrete Unterrichtsbausteine, die es ermöglichen auf heterogene Klassen- und Gruppensituationen abgestimmt zu werden. Intention ist es dabei sprachfähig zu werden. Welche Sprache Mathematiker, Philosophen und Theologen fanden, um über Unendlichkeit aussagefähig zu werden, ist Bestandteil des nun folgenden Kapitels.

2. Definitorische Einordnung

2.1 Unendlichkeit in der Mathematikgeschichte Ziel dieses Abschnitts ist ein kurzer, informativer Abriss zum mathematischen Verständnis von Unendlichkeit, der primär die historische Entwicklung des Be-

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griffs fokussiert, um Vergleichsaspekte mit der nachfolgenden philosophischtheologischen Auffassung herausarbeiten zu können. Auch ausgehend davon, dass es sich um einen Artikel für eine religionspädagogische Schriftenreihe handelt, können entsprechend aufwändige mathematische Beweisverfahren in Symbolsprache an dieser Stelle nicht erwartet werden. Unendlichkeit hat in der Mathematikgeschichte eine lange Tradition, die trotz ihres bestehenden Mysteriencharakters nicht zu eliminieren ist.8 Diese Geschichte soll folgend an drei wesentlichen Stationen dargestellt werden. Bereits Pythagoras (ca. 570–500 v. Chr.), der der Auffassung war, dass Zahlen die Welt bestimmen,9 beschäftigte sich mit dem Unendlichkeitsphänomen. Er nutzte diesbezüglich geometrische Beweisverfahren, um die Existenz der Unendlichkeit zu belegen. Als Ausgangspunkt wählte er ein regelmäßiges Fünfeck (Pentagramm), dessen Eigenschaft es ist, dass beim Ziehen aller Diagonalen zwischen den Eckpunkten in der Mitte des Fünfecks ein verkleinertes Abbild entsteht. Mit diesem Abbild des Pentagramms kann man nun analog verfahren und durch den gleichen Prozess wieder ein kleineres Abbild erzeugen … und so weiter. Dieses »und so weiter« ist eine treffende Bezeichnung für

8 Vgl. Arye Levavi, Person, Kultur, Unendlichkeit, Meisenheim am Glan 1971, 36. 9 Vgl. Rudolf Taschner, Das Unendliche. Mathematiker ringen um einen Begriff, Berlin Heidelberg 22006, 3. Diese Zahlenmystik wird – laut Paolo Zellini, Eine kurze Geschichte der Unendlichkeit, München 2010, 72 – bei dem Pythagoreer Lysius in gesteigerter Form präsentiert. Seiner Auffassung nach könne Gott mit einer irrationalen Zahl identifiziert werden.

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Pädagogische Anregungen

die Vorstellung von Unendlichkeit als ständige Wiederkehr und Fortführung des Gleichen. Neben der Einfachheit und der Anschaulichkeit des geschachtelten Pentagramms kann hier der ästhetische Reiz der Unendlichkeit akzentuiert werden.10 Euklid (ca. 360–280 v. Chr.), einer der bekanntesten Mathematiker und Herausgeber des Buches »Elemente« – nach der Bibel das verbreitetste Buch der Erde –, wählt keinen geometrischen, sondern arithmetischen Zugang zur Unendlichkeit. Seine These ist, dass es unendlich viele Primzahlen11 gibt. Diese These wird durch einen Widerspruchsbeweis bestätigt: Unter der Annahme, dass es nur begrenzt viele Primzahlen gibt, erzeugt Euklid durch Multiplikation aller gegebenen Primzahlen eine neue Zahl N, die durch +1 erweitert wird. Beispiel: 2, 3, 5 seien alle existierenden Primzahlen. Die Multiplikation ergibt 2 mal 3 mal 5 + 1 = 31. Eine Charakteristik dieser neuen Zahl N, die größer ist als die größte vorgegebene Primzahl (hier 5), ist, dass bei jeder Division der Zahl N durch eine der gegebenen Primzahlen immer ein Rest 1 verbleibt. Folge dessen handelt es sich bei N entweder um eine neue Primzahl oder um eine zusammengesetzte Zahl, deren Primfaktorzerlegung eine größere, »unbekannte« Primzahl ergeben wird. In unserem Beispiel konnte mit 31 eine neue Primzahl errechnet werden. Analog zu Pythagoras ist auch hier das Unendliche als Wiederkehr des Gleichen anzusehen. Ferner wirkt das Unendliche durch die Erzeugung einer »neuen« Primzahl als unerschöpflich.12 Hinsichtlich der in diesem Band thematisierten Verbindung von Glaube und Naturwissenschaften ist das Beweisverfahren des religiös erzogenen Georg

Cantor (1845–1925) relevant.13 Ein Großteil seines mathematischen Ansatzes war stark durch die Theologie beeinflusst. »Mit einer atemberaubenden Besessenheit forschte er nach Belegen für die Existenz des Unendlichen aus den Schriften der Philosophen. Ein im Nachhinein betrachtet ziemlich sinnloses Unterfangen, denn kaum eine der vielen Thesen von Philosophen blieb unwidersprochen. Trotzdem glaubte Cantor in der spekulativen christlich-aristotelischen Theologie des Thomas von Aquin Halt und Sicherheit in seinem Reden über Unendlichkeiten zu finden. Da nimmt es nicht wunder, dass Cantor so phantastische Unendlichkeiten zu betrachten wagte, die er allein mit dem Göttlichen in Verbindung setzen konnte, weil sie sich völlig der menschlichen Logik entziehen.«14 Innerhalb seiner Mengenlehre unterschied er zwischen einem »aktual« und einem »absolut« Unendlichen. Während er das absolut Unendliche mit Gott identifizierte, das sich jeder menschlichen Erkenntnis entziehe, fasste er das aktual Unendliche als Menschen zugänglichen mathematischen Bereich auf, in dem man zählen und rechnen kann.15 Hier erkennt man, dass Cantor von verschiedenen Stu10 Vgl. Rudolf Taschner (wie Anm. 9), 4 ff. 11 Unter einer Primzahl versteht man eine Zahl, die nur durch 1 und sich selbst teilbar ist. 12 Vgl. Rudolf Taschner (wie Anm. 9), 31 f. 13 Vgl. Herbert Meschkowski, Georg Cantor. Leben, Werk und Wirkung, Zürich 1983, 122. Christian Tapp (wie Anm. 6), 233 stellt diesbezüglich explizit heraus, dass Cantor seine Unendlichkeitslehre im Dialog mit Theologen konstruierte, was zusätzlich betont, dass durchaus auch naturwissenschaftliche Aussagen und Hypothesen metaphysische Annahmen als Voraussetzung haben können. 14 Rudolf Taschner (wie Anm. 9), 73 f. 15 Vgl. Dieter Hattrup (wie Anm. 1), 262.

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fen des Unendlichen ausgeht. Diese Mengen- und Unendlichkeitslehre Cantors, die er zwischen 1874 und 1897 entwickelte, hat zum Klärungsversuch von Unendlichkeit viel beigetragen. Rückführend auf die platonische Metaphysik,16 innerhalb der Mengen als mögliche Denkformen beschrieben werden, ist das Novum seiner Theorie besagtes Stufendenken bzw. die Entdeckung, dass zwischen dem Endlichen und dem absolut Unendlichen ein Bereich liegt, den man als »aktual unendlich« oder auch als das »Transfinite« bezeichnet.17

2.2 Unendlichkeit in der Theologieund Philosophiegeschichte Auch in der Theologie- und Philosophiegeschichte hat die Beschäftigung mit der Unendlichkeit eine lange Tradition. Während die Mathematiker in ihren Untersuchungen den fortführenden Wiederholungscharakter von Unendlichkeit betonen, wird der Begriff theologisch im Wesentlichen als Gottesprädikat verwendet.18 Auffällig ist hierbei, dass Unendlichkeit einen »Platzhalter« in einem System verschiedener Begriffe einzunehmen scheint. Zur Erläuterung des Abstraktums »Unendlichkeit« dienen universelle Strukturbegriffe wie Gott, Ewigkeit, Zeit, Raum, Transzendenz und Absolutheit, die zugleich die Funktion heuristischer Interpretationshilfen zur Konstruktion von Wirklichkeit und Welt übernehmen.19 Der Status als Variable drückt aus, dass die Begriffe innerhalb des hier dargestellten Begriffssystems einander austauschbar sind und jeweils zur gegenseitigen Umschreibung genutzt werden können; eine Hierarchie unter den Begriffen ist schwer auszumachen. Fol-

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gend soll der Überblick über die Begriffsgeschichte u.a. diese Verbundenheit zwischen den einzelnen Universalbegriffen verdeutlichen. »Das Wort ›U. [Unendlichkeit]‹ erscheint zuerst bei Anaximander als Bezeichnung für die Grenzenlosigkeit und Unbestimmtheit […] des Ursprungs […] als des unerschöpflichen Vorrates, aus dem alle Dinge hervorgehen und in den hinein sie sich wieder auflösen, um anderen Platz zu machen.«20 Insbesondere die Definition als grenzenlose Unerschöpflichkeit zieht sich durch die gesamte Begriffsgeschichte. Aristoteles (384–322 v. Chr.) nimmt diesen Aspekt, auch in Anlehnung an die Definitionsversuche der Mathematik, auf, indem er Unendlichkeit als unbegrenzten Fortgang festlegt, der nicht zu Ende gedacht werden kann.21 In nuce: 16 Ludwig Neidhart, Mathematische Ergebnisse über Unendlichkeit und ihre Bezüge zu Metaphysik und Theologie, in: Johannes Brachtendorf u.a. (Hg.) (wie Anm. 6), 219 zufolge sah auch Cantor eine stringente Verbindung zwischen Mengenlehre, platonischer Metaphysik und Theologie. 17 Vgl. ebd, 217 ff. 18 Vgl. Andrea Nickel-Schwäbisch, Vom unendlichen Horizont der Systeme. Ein monologischer Dialog zwischen Theologie und Systemtheorie, in: Johannes Brachtendorf u.a. (Hg.) (wie Anm. 6), 315; vgl. auch Thomas Möllenbeck, Ist der Mensch unendlich? Praktische und theoretische Bedingungen des religiösen Sprachspiels, in: Johannes Brachtendorf u.a. (Hg.) (wie Anm. 6), 327. 19 Vgl. Karen Gloy u.a., Zeit, in: TRE, Band XXXVI, Berlin / New York 2004, 513. 20 Wolfhart Pannenberg, Unendlichkeit, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer / Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 11, Basel 2001, 140 (optische Hervorhebungen im Original). 21 Vgl. ebd., 140. Im griechischen Denken wird dafür der Begriff »apeiron« genutzt, das wörtlich »ohne Grenzen« bedeutet. Vgl. Paolo Zellini (wie Anm. 9), 8.

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Unendlichkeit ist das entgegengesetzte Prinzip von Grenze. »Grenze« ist bei Aristoteles insofern auch bedeutsam, da sich an dieser Sein und Nicht- Sein konstituieren.22 Interessant an der Definition Aristoteles‹ ist ferner, dass er sich zudem mit der Ambivalenz des Unendlichkeitsbegriffs auseinandersetzt. Häufig als »das metaphysische absolute Böse«23 bezeichnet, das als Keim von Chaos und Sinnlosigkeit wirke, stellt sich das Negative bei dem griechischen Philosophen als mangelnde Erfassbarkeit von Unendlichkeit dar. Eher positiv konnotiert ist Unendlichkeit hingegen in den Gottesdefinitionen von Augustinus, Thomas von Aquin, Kues und Descartes, die Gott als unendlich fassbar beschreiben. Dabei setzen sie jeweils unterschiedliche Schwerpunkte. Während Augustinus und Thomas von Aquin in ihren Vorstellungen göttlicher Macht deren Vollkommenheit betonen, verbinden Nikolaus von Kues und Descartes mit ihren Definitionen die menschliche, endliche und die göttliche, unendliche Welt miteinander. Nikolaus von Kues sieht in der endlichen Welt ein Abbild der Unendlichkeit Gottes; Descartes zufolge enthalte das Unendliche im Vergleich zur Endlichkeit »ein Mehr an Realität«, in dem Gott gründe. An dieser Stelle wird die konventionelle Argumentationsstruktur aufgebrochen: Nicht Gott ist Garant für die Unendlichkeit, sondern aus der Unendlichkeit, die als regulative Idee allen Bewusstseinsinhalten vorausgehe, könne die Existenz Gottes belegt werden.24 Neben der Gottesdefinition ist die anklingende Dialektik im Unendlichkeitsbegriff als Novum anzusehen. Wie in der Einleitung bereits erwähnt, wird Unendlichkeit häufig über Kontrastbegriffe wie Endlichkeit, Begrenztheit, Unvoll-

kommenheit … beschrieben. Descartes nutzt diesbezüglich das polare Begriffspaar Endlichkeit versus Unendlichkeit, das in der Theologie eine Geschichte des Konflikts darstellt.25 Eine Zuspitzung erfährt dieser Endlichkeits-Unendlichkeitsdualismus im Gottesverständnis, hier insbesondere in der christologischen Formel »Wahrer Mensch und wahrer Gott«. Der Menschensohn als »Gefäß des Unendlichen«26 wird infolge der Inkarnation als 22 Vgl. Paolo Zellini (wie Anm. 9), 10 f. Die Vorstellung einer Grenze bzw. Grenzziehung zwischen zwei differierenden Bereichen ist in der Definition von Transzendenz relevant. Etymologisch abgeleitet vom lateinischen transcendere, verknüpft man mit dem Korrelat zu Immanenz die Überschreitung von bestehenden Grenzen. Als festes Thema der Metaphysik – bei Plato exemplarisch angelegt in der Unterscheidung von zwei Arten des Seienden, die sich durch den menschlichen Zugang (Verstand, Wahrnehmung über die Sinne) voneinander abgrenzen – hat Transzendenz auch in der Theologie den Status eines Leitbegriffes. Analog zum Unendlichkeitsbegriff wird Transzendenz als Gottesprädikat benutzt, um Verborgenheit und Unsichtbarkeit auszudrücken (vgl. Werner Schüßler / Bernd Harbeck-Pingel, Transzendenz, in: TRE, Band XXXIII, Berlin / New York 2002, 768 ff.). 23 Paolo Zellini (wie Anm. 9), 7. Nach Paolo Zellini (wie Anm. 9), 22 steigert sich die Annahme einer negativen Wirkung des Unendlichen bei Boethius zu einer Angst. Vgl. diesbezüglich auch Nickel-Schwäbisch (wie Anm. 18), 316, die Unendlichkeit von einem »dubiosen Nimbus« umgeben sieht. 24 Vgl. Wolfhart Pannenberg (wie Anm. 20), 141. 25 Vgl. Stephan Schaede, Mehr als unendlich. Gottes Ewigkeit, in: Johannes Brachtendorf u.a. (Hg.) (wie Anm. 6), 350. Ergänzend muss an dieser Stelle jedoch hinzugefügt werden, dass der Konnex von Endlichkeit und Unendlichkeit umstritten ist. Arye Levavi, (wie Anm. 8), 91 spricht sich explizit gegen einen Zusammenhang beider Strukturbegriffe aus. 26 Albert Höfer, Ist die Ewigkeit eine Ein-Bildung?, in: Otfried Reinke (Hg.), Ewigkeit? (wie Anm. 5), 26.

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konkretes Ewiges gedacht.27 »Ewigkeit«, hebräisch olam, ein weiteres Analogon zu Unendlichkeit, das nahezu gleichbedeutend ist mit der Unverfügbarkeit von Leben28, steht wiederholt mit der Assoziation einer Grenzüberschreitung in einem Zusammenhang. Das christliche Ewigkeits-Verständnis kann in Anlehnung an Aristoteles aufgefasst werden »entweder als absolute Zeitlosigkeit, Überzeitlichkeit, Zeitenthobenheit gedeutet oder als immerwährendes Sein, als zeitliche Dauer.«29 Pannenberg spricht in diesem Kontext von Ewigkeit als »Motor der Unendlichkeit«30. Sowohl im Alten Testament als auch im Neuen Testament auf Gott (Christus) bezogen, kann als wesentliches Beschreibungsmerkmal von Ewigkeit die Zeitenthobenheit bzw. insgesamt die Verbindung von Zeit und Ewigkeit ausgewiesen werden (vgl. Ps 89,2; Gal 1,4; Hebr 6,5). In Koh 3,1–15 erfolgt eine besonders intensive Reflexion über Zeit, indem »der Gedanke einer überzeitlichen Vollendbarkeit des Zeitlichen, Geschichtlichen und Endlichen in Gott vertreten wird«31.

seiner Relativität und Unvollkommenheit degradiert wird, erfolgt eine »Apotheose« der Dimension von Unendlichkeit – aufgezeigt durch die inhaltliche Beschreibung mit Superlativen.

In der Zusammenführung des hier skizzierten begriffsgeschichtlichen Überblicks ist für die Definition von Unendlichkeit zu konstatieren: Abgesehen von der »modernen« Ansicht Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers (1768–1834)32, der Unendlichkeit als emotionale und individuelle Dimension auffasst, weist Unendlichkeit in Verbindung mit den Begriffen Transzendenz und Ewigkeit auf einen klar abgegrenzten Bereich hin, der auch heute noch primär einer göttlichen Macht vorenthalten ist. Die Betonung einer Grenzziehung ist hierbei aufgrund der intendierten Wertigkeit entscheidend. Während der Bereich der Endlichkeit infolge

27 Vgl. Hans Christian Schmidbaur (wie Anm. 5), 129. 28 Vgl. H. Echternach, Ewigkeit, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, Basel 1972, 838. 29 Karen Gloy u.a. (wie Anm. 19), 506. 30 Wolfhart Pannenberg, Das Verhältnis unserer Begriffe von Raum und Zeit zum Gedanken der Ewigkeit, in: Otfried Reinke (Hg.), Ewigkeit? (wie Anm. 5), 107. 31 Hans Christian Schmidbaur (wie Anm. 5), 128. 32 Kontextuell verortet in der Theologie der Romantik, geht Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799). Herausgegeben von Günter Meckenstock, Berlin 1998, 80 von einem emotionalen Religionsbegriff aus – Religion bedeutet für ihn »Sinn und Geschmack fürs Unendliche«.

2.2.1 Das Plädoyer für ein »diesseitiges Christentum« – Unendlichkeit theologisch anders gedacht Den Ausführungen folgend kann eine Einseitigkeit und Starre in der begriffsgeschichtlichen Entwicklung von Unendlichkeit wahrgenommen werden. Überwiegend als machtvolles Gottesprädikat verwendet, ist ›unendlich‹ das Jenseitige, weit Entfernte, Absolute, von der Endlichkeit getrennte Transzendente und Unerreichbare. Die Befreiungstheologin Dorothee Sölle (1929–2003), die sich für eine politische und feministische Theologie engagierte, wendet sich explizit gegen diese ihrer Meinung nach imperialistische und männlich dominierte Denkweise. »Transzendenz gilt als das schlechthin

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Andere. Die Vokabeln, die wir benutzen, um Jenseitigkeit auszudrücken, heißen: über, oberhalb, jenseits von, mehr als, anders als, frei von, gegenüber von, außerhalb, total anders. Und die zugehörigen theopolitischen Termini sind: Regiment, Herrschaft, Königreich, Ordnung, Gehorsam. Die Zuordnung von Transzendenz und Immanenz wurde hierarchisch gedacht, obwohl wir festhalten müssen, dass das Christentum niemals die Immanenz Gottes verleugnet hat. […] Das Verhältnis von Immanenz und Transzendenz wurde innerhalb der neuzeitlichen Theologiegeschichte als dialektisch oder paradox gedeutet, aber diese Ansätze der Auflösung des hierarchischen Denkens sind nicht weit genug gegangen. Gottes Transzendenz, oft als seine männliche Seite reklamiert, war immer noch höher, wahrer, eigentlicher als seine Immanenz […].«33 Obwohl Sölle hier nicht explizit die Vokabel »Unendlichkeit« verwendet, sondern traditionsgeschichtlich belegte begriffliche Analogien wie Transzendenz, kann ihre Intention dennoch auf den Unendlichkeits-Diskurs angewendet werden. Der Theologin geht es um die Konstituierung eines »diesseitigen Christentums«34, in dem die Parallelität von zwei sich durch die Begriffssprache bedingten, scheinbar konträr gegenüberstehenden Wirklichkeiten – die Realität der Endlichkeit und die Realität der Unendlichkeit – nivelliert wird. Ziel ist vielmehr ihre Identifizierung bzw. Verschmelzung im Hier und Jetzt. Aufgabe der (Befreiungs- )Theologie ist die Darlegung göttlicher Präsenz in der Endlichkeit. Als Beispiel fungiert bei Sölle das Zentralmotiv der Liebe, das sie anhand des lukanischen Gleichnisses »Vom barmherzigen Samariter« (Lk 10,25–37) erläutert. Indem sich der Samariter in der biblischen Erzählung dem Verletzten auf

der Straße zuwendet und sich in aufrichtiger Absicht seiner annimmt, wird Gott gegenwärtig »sicht- und spürbar«. »Transzendenz ist radikale, das heißt von der Wurzel her bejahte, geliebte Immanenz. Wenn wir in unserer Immanenz, in dem, was wir erleben und tun, wirklich in die Radikalität der Liebe einsteigen, dann erhält unsere Immanenz die Transzendenz.«35 Die Akzentuierung des »gleich« in der Gleichsetzung von Immanenz und Transzendenz, Diesseitigkeit und Jenseitigkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit ist zufolge der Verfasserin das entscheidende Novum neuzeitlichen theologischen Denkens. Infolge des mathematischen Gleichheitsverständnisses wird eine Wertgleichheit zwischen den jeweiligen beiden Begriffen und den damit verbundenen Assoziationen hergestellt. Das Plädoyer Sölles, Endlichkeit und Unendlichkeit / Ewigkeit / Jenseitigkeit zusammen zu denken,36 erhält durch den Hinweis Wiefel-Jenners auf den Konnex von Ewigkeit und Soteriologie37 eine inhaltliche Unterfütterung. »Klassisch« theologisch gedacht,38 verbindet Wiefel33 Dorothee Sölle, Gesammelte Werke. Herausgegeben von Ursula Baltz-Otto und Fulbert Steffensky, Band 9: Gott denken, Stuttgart 2009, 230. 34 Dorothee Sölle, »Deine Gnade ist besser als Leben« (Ps 63,4), in: Otfried Reinke (Hg.), Ewigkeit? (wie Anm. 5), Göttingen 2006, 177. 35 Dorothee Sölle (wie Anm. 33), 231. 36 Vgl. Dorothee Sölle (wie Anm. 34), 180. 37 Vgl. Katharina Wiefel-Jenner, Die Ewigkeit ist nicht Nichts. – Wie können wir von der Ewigkeit reden?, in: Otfried Reinke (Hg.), Ewigkeit? (wie Anm. 5), Klärungsversuche aus Natur- und Geisteswissenschaften, 163. 38 Die hier erfolgte Qualifizierung einer »klassischen Theologie« soll keine Abwertung theologischen Denkens darstellen. Vielmehr dient sie der Unterscheidung von befreiungstheologischen Ansätzen.

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Jenner mit ihrer Vorstellung von Ewigkeit die Aufhebung von Leid und Vervollkommnung endlicher Fragmentarität im Jenseits. Entsprechend der Sehnsüchte einer Vielzahl von Menschen wird der Ewigkeit eine erlösende und heilende Funktion attribuiert, wodurch die theologische Vokabel eine praktische Ausrichtung erlangt. Auffällig ist hierbei die Personifikation von Ewigkeit als handelndes Subjekt, die mit Sölles theologischem Ansatz gegen eine »verdinglichte Transzendenz«39 divergiert. Obwohl Sölle den soteriologischen Aspekt durchaus in ihre Überlegungen aufnehmen würde, ist sie dagegen, Ewigkeit als Hoffnungsbild für ein Leben nach dem Tod zu stilisieren. Dass es ein »Mehr« gibt, das unser kognitives Fassungsvermögen übersteigt, stellt die Befreiungstheologin nicht infrage. Auch die theologische Begriffssprache per se wird nicht verändert. Die Differenz in ihrem theologischen Denken besteht primär in einer Modifizierung des theologischen Weltbildes infolge einer Verlagerung von Raum und Zeit jenseitiger Hoffnungsdimensionen in die diesseitige Realität. »Sinn und Geschmack fürs Unendliche«40 ereignet sich als Beziehungsgeschehen zwischen den Menschen.

Was sich zunächst in Sölles Ansatz als »gedanklicher Störfaktor« erweist, kann im Zusammenhang mit der Sprachfähigkeit über Unendlichkeit und den damit verknüpften nebulösen Abstraktionen als vorteilhaft bewertet werden. Indem bisher scheinbar unbeschreibbare Phänomene, Ahnungen sowie Empfindungen für eine andere Bewusstseinsdimension in die Diesseitigkeit und damit in die menschliche Lebenswelt transportiert werden, kann sich die Rede über Unendlichkeit, Ewigkeit, … durch Konkretion, Anschaulichkeit, Exemplarität und Personalität auszeichnen. Konträr zu der – für Kinder mitunter schwer verständlichen – theologischen Symbolsprache ist es in Aufnahme von Sölles Ansatz nun möglich, mit Kindern in einer verständlichen und »greifbaren« Art und Weise über Unendlichkeit zu sprechen. Mitmenschen, Ereignisse, Gegenstände o. Ä. können Unendlichkeit widerspiegeln.

Die Überlegungen des Philosophen Emmanuel Lévinas bilden ein erwähnenswertes Analogon zu Sölles theologischer Konstruktion von Wirklichkeit. Er akzentuiert die ethische Bedeutung der Transzendenz des Unendlichen, deren Präsenz sich in der Beziehung zum Anderen ereignet.41 Das »Leben von Transzendenz in der Immanenz« zeigt sich in der Verantwortungsübernahme für das jeweilige Gegenüber, so wie es der lukanische Samariter in der Perikope exemplarisch vollzieht.

39 Dorothee Sölle (wie Anm. 33), 227: »Gerade die Überwindung solcher verdinglichter Transzendenz wäre Aufgabe einer befreienden Theologie. Verdinglichte Transzendenz stellt den Gott dar, der nichts anderes kann als ein Supermann, der also unabhängig, unberührbar und machtvoll agiert. Ich denke, alle drei Absolutheitsaussagen über Gott – seine Allmacht, Allwissenheit, Allgegenwart –, alle drei ›Omnis‹, drücken eine fatale imperialistische Tendenz der Theologie aus, eben die Macht des unabhängigen Herrschers.« 40 Friedrich Schleiermacher (wie Anm. 32), 80. 41 Vgl. Emmanuel Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, München 21988, 126 f.

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3. Über Unfassbares sprachfähig werden – Didaktisch-methodische Zugänge zum Thema »Unendlichkeit« Im Folgenden wird der Versuch unternommen, ein Lernangebot für Schüler einer vierten Klasse zu offerieren, das es ermöglicht, über ein kognitiv nicht fassbares Thema sprachfähig zu werden. Die einzelnen Vorschläge orientieren sich am theologischen Ansatz Dorothee Sölles. Anlehnend an die Überschrift ist hierbei insgesamt der »Impulscharakter« der dargelegten Überlegungen zu akzentuieren, die nicht auf Vollständigkeit zielen. Wesentliches Ziel ist es, erste Zugänge zu konstruieren.

3.1 Assoziativer Zugang: Brainstorming über Unendlichkeit Als Einstieg in eine Unterrichtseinheit zum Thema »Unendlichkeit« bieten sich kreative Schreibmethoden an. In einem Schreibgespräch beispielsweise können die Schüler zu einzelnen, bereits in der Einleitung aufgeführten, Fragestellungen Stellung beziehen. Im Klassenraum sind Plakate mit konkreten, zentralen Fragestellungen oder Diskussionsimpulsen auszulegen (beispielsweise: Kann Unendlichkeit aufhören? Wohnt Gott in der Unendlichkeit?). Die Schüler können sich frei im Raum bewegen und sich zu den ausgelegten Fragen schriftlich äußern; dabei haben sie auch die Möglichkeit, auf andere Schüleräußerungen Bezug zu nehmen. Anschließend können die gesammelten Statements als Diskussionsimpulse im Unterrichtsgespräch fungieren. Eine ähnliche Methode stellt »Placemat« dar. Bei dieser Schreibmeditation werden die

Schüler in Form arbeitsgleicher Gruppenarbeit aufgefordert, sich mit einem Diskussionsimpuls auseinander zu setzen (Beispiel: »Unendlichkeit bedeutet für mich …«). Drei bis vier Schüler arbeiten an einem Plakat, das eine zweiteilige Struktur aufweist (großes, inneres Feld in der Mitte; vier kleinere äußere Felder). In einer ersten Phase (maximal 7 Minuten) erfolgt in den äußeren Feldern in Form von Stichsätzen die individuelle Stellungnahme der Schüler zu dem Diskussionsimpuls. Anschließend erhalten die Schüler Zeit die schriftlichen Äußerungen der anderen in ihrer Kleingruppe zu lesen. Schließlich sollen sie die konsensfähigen Ergebnisse in dem inneren Feld schriftlich zusammentragen und diese dem Plenum präsentieren. Neben der individuellen Auseinandersetzung ist ein weiterer Vorteil dieser Methode, dass man in kurzer Zeit (insgesamt maximal 20 Minuten) relativ viele, bereits visualisierte Ergebnisse erhält. Die schriftlichen Schüleräußerungen können im weiteren Verlauf der Einheit mit der Auffassung eines diesseitiges Christentums nach Sölle verglichen werden: Finden sich bereits in den Schüleräußerungen Tendenzen Sölles? Teilen die Schüler den Ansatz Sölles überhaupt? Wie begründen sie ihre Darlegungen zu Unendlichkeit? Einen handlungsorientierten Zugang bilden vom Umfang begrenzte, kreative Projekte. Exemplarisch könnte man die Schüler bitten, »Unendlichkeit in einem Schuhkarton« zu visualisieren. Der Arbeitsauftrag sollte so minimalistisch wie möglich ausfallen, damit die Kreativität und Assoziationen der Kinder nicht unnötig eingeschränkt werden und die kognitive Dissonanz, die zur Dynamik des Denkens beiträgt, aufrecht erhalten bleibt. Die Formen der Darstellung sind

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analog zur Entfaltung des Unendlichkeitsbegriffs vielfältig. Nachdem die Schuhkartons in einer Ausstellung gewürdigt wurden, können einzelne kreative Umsetzungen als Gesprächsanlass dienen. Zugleich erfahren die Kinder durch das Projekt, dass Unendlichkeit greifbar und in und durch die Endlichkeit darstellbar ist. Fazit: Unendlichkeit ist mitten unter uns und passiert im Leben. Auch die Frage »Was ist mir heilig?« oder die Erfahrung von »Wunder im Alltag« – weitere Projektideen für einen Schuhkarton – bricht die Ebene der Transzendenz auf und verdeutlicht, dass Spuren von Unendlichkeit im Diesseits fassbar und leiblich erfahrbar sind.

3.2 Ästhetischer Zugang: Darstellung von Unendlichkeit im Bild Einen weiteren Zugang zum Thema Unendlichkeit bieten ästhetische Lernprozesse anhand von Bildern, Kunstwerken sowie Gemälden. Neben der Möglichkeit, die Kinder zu bitten, ihre individuelle Unendlichkeitsvorstellung expressiv auszudrücken und eine eigene Museumsführung im Klassenraum zu organisieren,42 stellt der Erfahrungsaustausch einer verlangsamten und gesteuerten Wahrnehmung von Kunstwerken für das Theologisieren mit Kindern eine geeignete Basis der Reflexion dar. Analog zu den geometrischen Schachtelfiguren kann als Beispiel für eine Erarbeitung im Unterricht das Werk »Hommage to the Square« (1950–1965) von Josef Albers (1888–1976) gewählt werden.43 Auch wenn Burrichter aus verständlichen Gründen darlegt, dass dieses Werk aufgrund seiner Eigenwirkung inhaltlichthematisch religionspädagogisch nicht

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verwertet werden sollte (z.B. als symbolische Veranschaulichung einer metaphorischen Gottesrede),44 wird hier dennoch der Versuch unternommen, die dem Bild eigenen Wirkungen für ein Gespräch über Unendlichkeit zu nutzen. Auf den ersten Blick wirken die ineinander geschachtelten Quadrate in unterschiedlichen Farbintensitäten des Spektrums »Gelb«, die klar voneinander abgegrenzt sind, inhaltsleer. Dem Künstler könnte man eine Liebe zu geometrischen Formen und Farben unterstellen, die er jeweils unterschiedlich kombiniert (so finden sich geschachtelte Quadrate u.a. in Blau- und Rot-Tönen). Auf den zweiten Blick erhält das Bild jedoch eine dreidimensionale Tiefe. Alternativ nimmt man entweder einen aufgetürmten Turm wahr, der in die Blickrichtung des Betrachters ragt, oder wird in das Bild hineingezogen. Zudem verschwimmen die Grenzen zwischen den einzelnen Farbtönen, sodass partiell bestimmte Farben die Betrachtung dominieren; Komplementärfarben erscheinen oder auch die einzelnen Grenzen, die aufgelöst werden und zu einer neuen Farbe verschwimmen. Gerade diese Auflösung der Grenzen ist interessant für die Thematik: Unendlichkeit stellt sich, abstrakt formu42 Empfehlenswert ist hierbei eine Kooperation mit dem Mathematik- und Kunstunterricht. Wie im theoretischen Teil erläutert, haben exemplarisch die geometrischen Beweisverfahren der Pythagoreer in Form der verschachtelten Figuren einen ästhetischen Reiz, den man durch eigenständige Erarbeitungen leicht verdeutlichen kann. 43 Eine Abbildung dieses Werks findet sich in Rita Burrichter, Mit Bildern in der Kunst arbeiten, in: Ludwig Rendle (Hg.), Ganzheitliche Methoden im Religionsunterricht, München 32010, Beigabe. 44 Vgl. ebd., 223 f.

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liert und in Anlehnung an die theologischen und philosophischen Definitionsversuche, als grenzen- und schrankenlos dar. Interessant ist zudem, dass das Werk Albers eine Vielzahl an Kontrasten in sich vereinigt. In dem hier gewählten Farbbeispiel stehen die hellen Farbtöne in einem formalen Kontrast zu den eckigen geometrischen Formen. In inhaltlicher Hinsicht entsteht ein Kontrast dadurch, dass sich die benannte Grenzenlosigkeit in einem klar umgrenzten Rahmen ereignet. In einem übertragenen Sinne kann dieser Kontrast auf den Ansatz des diesseitigen Christentums transferiert werden: Auch bei Sölle ereignen sich Unendlichkeit und Ewigkeit im klar abgesteckten, endlichen Raum. Zur Bildbetrachtung wäre es von Vorteil, wenn jedem Schüler eine Kopie des Werkes (in Postkartenform o.ä.) zur Verfügung stehen würde. So können die Schüler sich zunächst intensiv und individuell mit dem Kunstwerk auseinandersetzen, bevor Ergebnisse im Plenum zusammengetragen werden. Wichtig ist es, Kindern einen eigenen konstruktiven Zugang zu ihrer Wahrnehmung zu ermöglichen. Um diese Intention umsetzen zu können, ist Stillarbeit für die erste Annäherung an das Kunstwerk wünschenswert, gefolgt von Partnerarbeit zum Austausch der Seh-Erlebnisse und einer Reflexion im Gesamtplenum. In der Auswertung werden die Kinder sicherlich feststellen, dass nicht alle dieselben Erfahrungen gemacht haben. Auch dies kann für die Thematik genutzt werden: »Reflexion von Bilderfahrung zielt […] auf deren Unstetigkeit, Dynamik und damit auf deren Unabgeschlossenheit.«45 Die Analyse von Kunstwerken kann sich entsprechend des hermeneutischen Zirkels und der Weiterbildung des Betrachters zum unendlichen Prozess entwickeln

– Erkenntnis und Bildung bleiben unvollkommen. Wie ersichtlich wird, kann die Arbeit mit Kunstwerken impulsgebend für ein Gespräch über Unendlichkeit sein. Infolge des subjektiven Zugangs wird Kindern ein Sprach-Raum eröffnet, der es ihnen ermöglicht, sich perspektivisch und konstruktivistisch mit einem unvorstellbaren Themenfeld zu beschäftigen. Ein wesentlicher Vorteil ist, dass sich aufgrund der Mehrdimensionalität von Kunst jedes Kind individuell beteiligen kann und somit merkt, dass das Sprachspiel »Unendlichkeit« anschaulich und konkret sein kann.

3.3 Musikalischer Zugang: Darstellung von Unendlichkeit im Lied Neben der Kunst kann auch das moderne und kirchliche Liedgut zur Versprachlichung von Unendlichkeits-Erfahrungen beitragen. Viele Lieder, gerade auch moderne Rock- und Popsongs, die der kindlichen Lebenswelt näher scheinen als Kirchenlieder, enthalten religiöse Motive, deren Interpretation Zugänge zum Komplex »Unendlichkeit« schafft. Für Schüler einer vierten Klasse mit begrenzten Englisch-Kenntnissen sollte ein Lied in deutscher Sprache gewählt werden. Im Fokus steht beispielsweise die Passage »Der Ewige Kreis« aus dem bekannten Musical »Der König der Löwen«46 In diesem Beispiel findet sich eine Vielzahl an Begriffen unseres oben aufgestellten Begriffssystems. Auch hier fällt die Verbindung von menschlichem Leben und 45 Ebd., 228. 46 Vgl. CD-Booklet zum Musical »Der König der Löwen«, Disney Enterprises 2002.

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universellen Strukturen auf. Wunder, Ewigkeit und Endlosigkeit ereignen sich konkret im begrenzten menschlichen Leben, das als ewiger Kreis angesehen wird. Indem man den Symbolcharakter des Kreises als unendliche Wiederholung oder ständige Wiederkehr von bisherigen Strukturen (beispielsweise über die Visualisierung eines Uroborus, eine sich selbst in den Schwanz beißende Schlange) thematisiert, kann Kindern verständlich werden, dass theologische Gedanken oft mithilfe metaphorischer Sprachbilder ausgedrückt werden, die den Zugang zu theologischen Inhalten aus kindlicher Perspektive oft erschweren. Diese Art der Sprachschulung bildet im Rahmen des Unendlichkeits-Diskurses einen heimlichen Lehrplan. Kinder geraten gerade bei ideellen Themen wie Gott, Himmel, Unendlichkeit und Reich Gottes an ihre Grenzen sprachlichen Ausdrucks, die sie bewusst oder unbewusst durch das heuristische Mittel eines sprachlichen Bildes (z.B. »Gott ist wie Luft, wie eine Wolke, wie ein Freund, usw.«) auszugleichen suchen. Da nicht nur Kinder in ihrer ersten Naivität sprachliche Auswege suchen, sondern auch Erwachsene ähnlich agieren, trägt eine Sensibilität für Sprache zu einem Verständnis von Theologie bei. Kinder lernen verstehen, dass Metaphorik eine wichtige Hilfe theologischen Denkens bildet.

3.4 Mathematischer Zugang im Religionsunterricht – »Der Zahlenteufel zu Gast im Religionsunterricht« Hans Magnus Enzensberger führt seine Leser auf eine verständliche Art und

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Weise in zwölf Nächten (Kapiteln) durch die wesentlichen Grundlagen der Mathematik. Neben Zahlenmengen, Brüchen, geometrischen Axiomen und der Vorstellung relevanter Mathematiker (u.a. Leonhard Euler, Carl Friedrich Gauß, Georg Cantor) wird, wie man dem Auszug (S. 174) entnehmen kann, auch das Unendlichkeitsaxiom anschaulich und kindgerecht erklärt. Zur Visualisierung des Größenverständnisses wird auf eine Alltagssituation rekurriert, die Kindern durchaus bekannt ist. Solch eine mathematische Modellierung von (Sach-)Situationen, deren Lösung als offen erscheinen, geht auf den italienischen Kernphysiker und Nobelpreisträger Enrico Fermi (1901–1954) zurück. Die Darlegung der Aufgabensituation in einer einzigen Fragestellung (z.B. Wie viele Nadeln hat ein Weihnachtsbaum? Wie viele Mathe-Aufgaben hast du in deinem Leben bereits erarbeitet? Wie viele Kirchen gibt es in Deutschland?), die Ergebnisoffenheit, das inhaltliche Ziel der Ausbildung von Größenvorstellungen und die Grundlegung der mathematischen Kompetenzen Schätzen, Modellieren von Realsituationen sowie Überschlagen sind Kennzeichen dieser Fermi-Aufgaben. Zusammenfassend kann man konstatieren: »Viele Fermi-Aufgaben enthalten eine etwas andere Sichtweise auf die Welt, als man das bisher gewohnt war.«47 Die in Fermi-Aufgaben aufscheinende Dimension der Unend47 Andreas Büchter u.a., Die Fermi-Box. Lehrerkommentar, Seelze-Velber 2007, 7. Weitere Informationen zu Enrico Fermi und dem Einsatz von Fermi-Aufgaben im schulischen Unterricht finden sich ebenfalls in dem benannten Begleitmaterial.

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Pädagogische Anregungen

»– Wenn ich gewusst hätte, sagte der Zahlenteufel, dass du solch ein Angsthase bist, wäre ich gar nicht erst gekommen. Schließlich will ich mich bloß ein bisschen mit dir unterhalten. Nachts habe ich nämlich meistens frei, und da dachte ich mir: Schau mal bei Robert vorbei, der hat es sicher satt, immer wieder [im Traum] dieselbe Rutsche runterzurutschen. – Stimmt. – Na also. – Aber reinlegen lasse ich mich nicht, rief Robert. Das kannst du dir merken. Doch da sprang der Zahlenteufel in die Höhe, und auf einmal war er gar nicht mehr so klein. – So redet man nicht mit einem Teufel, schrie er. Er trampelte auf dem Gras herum, bis die Halme platt am Boden lagen, und seine Augen funkelten. – Entschuldigung, murmelte Robert. Das Ganze kam ihm allmählich doch etwas unheimlich vor. – Wenn man sich über Mathematik so einfach unterhalten kann wie über Filme oder Fahrräder, wozu braucht es dann einen Teufel? – Das ist es ja gerade, mein Lieber, erwiderte der Alte. Das Teuflische an den Zahlen ist, dass sie so einfach sind. Im Grunde brauchst du nicht einmal einen Taschenrechner dazu. Du brauchst, um damit anzufangen, nur eins: die Eins. Mit der kannst du fast alles machen. Wenn dir zum Beispiel große Zahlen Angst machen, sagen wir mal fünfmillionensiebenhundertdreiundzwanzigtausendachthundertzwölf, dann fang es einfach so an: 1+1 1+1+1 1+1+1+1 1+1+1+1+1 … und so weiter, so lange, bis du bei fünfmillionenundsoweiter angekommen bist. Sag bloß nicht, dass dir das zu kompliziert ist! Das kapiert doch der letzte Idiot. Oder? – Schon, sagte Robert. – Und das ist noch nicht alles, fuhr der Zahlenteufel fort. Er hielt jetzt einen Spazierstock mit silbernem Knauf in der Hand und wirbelte damit vor Roberts Nase herum. – Wenn du bei fünfmillionenundsoweiter angekommen bist, zählst du einfach weiter. Du wirst schon sehen, das geht bis ins Unend-

liche. Es gibt nämlich unendlich viele Zahlen. Robert wusste nicht, ob er das glauben sollte. – Woher willst du das denn wissen?, fragte er. Hast du es ausprobiert? – Nein, hab ich nicht. Erstens würde das zu lange dauern und zweitens ist es überflüssig. Das leuchtete Robert nicht ein. – Entweder kann ich bis dahin zählen, dann ist es nicht unendlich, wandte er ein, oder es ist unendlich, dann kann ich nicht so weit zählen. – Falsch!, schrie der Zahlenteufel. Sein Schnurrbart zitterte, er wurde rot im Gesicht, sein Kopf schwoll an vor lauter Wut und wurde immer größer. – Falsch? Wieso falsch?, fragte Robert. – Dummkopf! Was glaubst du, wie viele Kaugummis bis heute auf der ganzen Welt gekaut worden sind? – Weiß ich nicht. – Schätzungsweise. – Entsetzlich viele, sagte Robert. Allein Albert und Bettina und Charlie, die in meiner Klasse und die in unserer Stadt und die in ganz Deutschland und die in Amerika … das geht in die Milliarden. – Mindestens, meinte der Zahlenteufel. Also, nehmen wir an, wir wären beim allerletzten Kaugummi angekommen. Was mache ich dann? Ich ziehe einen neuen Kaugummi aus der Tasche, und schon haben wir die Zahl aller bisher gekauten Kaugummis plus eins – die nächsthöhere. Hast du kapiert? Ich brauche die Kaugummis gar nicht zu zählen. Ich gebe dir einfach ein Rezept an, wie es weitergeht. Mehr braucht es nicht. Robert überlegte einen Moment lang. Dann musste er zugeben, der Mann hatte recht. – Übrigens geht das auch umgekehrt, fügte der Alte hinzu. – Umgekehrt? Was heißt umgekehrt? – Tja, Robert – jetzt grinste der Alte wieder –, es gibt eben nicht nur unendlich große, sondern auch unendlich kleine Zahlen. Und zwar unendlich viele.«48 48 Hans Magnus Enzensberger, Der Zahlenteufel. Ein Kopfkissenbuch für alle, die Angst vor der Mathematik haben, Carl Hanser Verlag, München 112011, 14 ff. (Optische Hervorhebung im Original). Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hanser Verlags.

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lichkeit kann nicht nur durch Größenvorstellungen und arithmetische Überlegungen angebahnt werden, sondern es bieten sich zusätzlich Rhythmen, Algorithmen und geometrische Visualisierungen. Muster und Bandornamente können hier exemplarisch erwähnt werden: Falls man unendlich viel Papier hätte, könnte man die Muster u.a. unendlich fortführen. Infolge der angedeuteten »anderen Perspektive« von Fermi-Aufgaben ermöglicht sich eine partielle Anbindung an die Disziplin der Evangelischen Theologie. Fermi aufnehmend könnte man provokant formulieren und Kinder fragen: Wie viel (ist) Gott? Wie groß (ist) Gott? Stellt die Kategorie der Unendlichkeit ein geeignetes, qualifizierendes Prädikat dar, um die göttliche Instanz »zu modellieren«? Dies könnte durch eine Weiterführung des Dialogs zwischen Robert und dem Zahlenteufel angebahnt werden. Was würde der Zahlenteufel antworten, wenn Robert ihn fragen würde, ob Gott unendlich groß und/oder unendlich klein ist? Durch solch eine Aufgabenstellung verbindet man den mathematischen und theologischen Diskurs, der es ermöglicht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede49 zwischen beiden Disziplinen exemplarisch am Unendlichkeits-Phänomen zu verdeutlichen. Zur Ausarbeitung der Fragestellung, wie der Dialog zwischen Zahlenteufel und Robert verlaufen könnte, eignen sich wiederholt kreative Schreibaufgaben in Partnerarbeit.

4. Ausblick »Hinter dem Horizont der Zeit versagt alle Definitionsmacht!«50 Die Ausführungen haben aufgezeigt, dass die Aussage dieses Zitats zunächst

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durchaus seine Gültigkeit hat. Es ist und bleibt schwierig, Unendlichkeit kognitiv erfassen zu wollen. Dennoch stellt dieses keinen vernünftigen Grund dar, die mittlerweile kulturgeschichtlich konnotierte Vokabel aus dem wissenschaftlichen Diskurs zu eliminieren oder auszuschweigen. Das Erleben von Unendlichkeit gehört zu einer unserer Alltagserfahrungen, der wir eine Sprache verleihen sollten. Hierzu können sowohl die Naturwissenschaften in Gestalt der Mathematik als auch die geisteswissenschaftlichen Disziplinen Theologie und Philosophie wertvolle Impulse geben, die trotz ihrer je eigenen Perspektivität aufeinander Bezug nehmen. »Religiöse Rede ist nicht Darstellung einer transzendenten Wirklichkeit, sondern existenzielle Einstellung zur Wirklichkeit aus dem Glauben an eine schöpferische und welterhaltende Transzendenz. Anders gesagt: Glaubenswissen ist von vornherein eine bestimmte Sichtweise von Welt, Geschichte, Gesellschaft, Personsein. Mehr noch: Nicht nur die religiöse Rede, sondern jede Redeform, auch die naturwissenschaftliche, ist von einer jeder Forschung und Erkenntnisgewinnung vorausgehenden Einstellung und von einem bestimmten Interesse geprägt. […] Von daher ist es höchst notwendig, den ausschließlich auf die naturwissenschaftliche Erkenntnisweise festgelegten Wissensbegriff zu öffnen, um der Weite des menschlichen Erkenntnisvermögens wieder Raum zu geben. Rationalität beschränkt sich nicht bloß auf die naturwissenschaftliche Erkenntnisrationalität, sondern verweist ebenso auf eine Handlungsrationalität, auf eine expressiv49 Siehe Kapitel 4. 50 Katharina Wiefel-Jenner (wie Anm. 37), 159.

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Pädagogische Anregungen

ästhetische Rationalität genauso wie auf eine therapeutische und eben auch auf eine religiöse Rationalität.«51 »Religiöse Rationalität« und »naturwissenschaftliche Emotionalität« miteinander verbindend, hat Jürgen Mittelstraß eine, auf das hier bezogene Thema anwendbare, nützliche Unterscheidung hinsichtlich unseres Wissenschaftsverständnisses eingeführt. Mittelstraß differenziert zwischen einem empirisch abgesicherten Verfügungswissen sowie einem hermeneutisch erzeugten Orientierungswissen. Das »Wissen« um Unendlichkeit gehört zur zweiten genannten Wissensform, die im Dialog zwischen Menschen in einem hermeneutischen Zirkelprozess erschlossen und ausgehandelt wird. Zusammenfassend stellen die Mathematik und Theologie mit ihrer Arbeit am Unendlichkeitsphänomen somit grundlegendes Orientierungswissen zur Verfügung, das der Sinnkonstituierung von Menschen dient.52 Beide Disziplinen haben als Gemeinsamkeit, dass sie nicht nur die Existenz von Unendlichkeit anerkennen, sondern sich zugleich auf der Suche und »auf dem Weg« nach Wahrheit befinden. Hier formuliert als These, stellen die Gründe für die Suche nach Unendlichkeit eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Mathematik und Evangelischer Theologie dar: Anthropologisch begründet hat Unendlichkeit (ebenso wie Ewigkeit und Transzendenz) eine praktische Relevanz für den Menschen. »Der Mensch hat eine unendliche Bestimmung. Darin liegt eine subjektive Inanspruchnahme des Unendlichen oder eine objektive. Vom Subjekt her läßt sich die Frage stellen, ob die Feststellung unausweichlich sei, daß der Mensch erkennend oder wollend auf Unendliches bezogen

ist. Objektiv wird das Unendliche in Anspruch genommen, wenn gefragt wird, wie sich überhaupt vom Endlichen her auf Unendliches schließen lasse.«53 Kurz: Unendlichkeit stiftet Sinn. Es handelt sich um ein heuristisches Hilfsmittel zur Strukturierung und Orientierung in der Welt. Auch wenn Naturwissenschaften und Theologie sich auf den ersten Blick auszuschließen scheinen, können nun bei weiterer näherer Betrachtung verschiedene Verbindungslinien aufgezeigt werden, deren Integration in den Religionsunterricht sich lohnt. Gerade der Unendlichkeitsbegriff bildet hier eine »Brücke« zwischen beiden Wissenschaftsdisziplinen. »[…] (Die) zentrale ›brückenschlagende‹ Erkenntnis zu Naturwissenschaft und Religion ist, dass die Argumentationsstränge der Wissenschaftsphilosophie der der Religionsphilosophie ähneln. Sowohl die Naturwissenschaft als auch die Religion stellen, unter Bezugnahme auf hypothetisch-deduktive Methoden innerhalb eines kontextuellen und historischen Rahmens, kognitive Behauptungen über die Welt auf. Beide Forschungsgemeinschaften strukturieren Beobachtungen und Erfahrungen über analoge, erweiterbare, kohärente, symbolische und metaphorisch

51 Franz Gruber, Bedingungen für einen gelingenden Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie, in: Severin J. Lederhilger (Hg.), Mit Gott rechnen. Die Grenzen von Naturwissenschaft und Theologie, Frankfurt a.M. 2006, 155. (Optische Hervorhebungen im Original). 52 Vgl. Jürgen Mittelstraß, Wissenschaft als Lebensform. Reden über philosophische Orientierung in Wissenschaft und Universität, Frankfurt a.M. 1982, 16 ff; vgl. Franz Gruber (wie Anm. 51), 155 ff. 53 Thomas Möllenbeck (wie Anm. 18), 337.

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erfassbare Modelle.«54 Neben dem Vorhandensein unerklärlicher Phänomene und Ähnlichkeiten im methodischen Zugang gibt es weitere »Brücken« zwischen Theologie und Mathematik. Exemplarisch können identische Leitbegriffe benannt werden: Raum, Körper, Wahrscheinlichkeit usw., der Konstruktionscharakter von Wirklichkeit sowie die Verbalisierung.55 Bisher blieb bezüglich der benannten Gemeinsamkeiten der Versuch aus, die hier inhärenten verschiedenen Sichtweisen auf und über die Welt zu verbinden und, analog zum Unendlichkeitsbegriff, den vielfältigen Reichtum zu entdecken. Die Verschmelzung beider »hermeneutischer Brillen«56 kann zu einem erweiterten Denk-Horizont führen. Trotz weiterhin bestehender, berechtigter Differenzen zwischen den Disziplinen kann in nuce konstatiert werden: Es wird Zeit für eine »Arithmetik und Geometrie der Theologie (für Kinder)« und die Bereitschaft dezidiert mathematische (bzw. naturwissenschaftliche) Überlegungen in den religionspädagogischen Diskurs zu integrieren! Durch die Unlösbarkeit des Rätsels »Unendlichkeit« bleibt man innerhalb des breiten diskursiven Raums in ständiger Bewegung. Insofern kann es auch als positiv angesehen werden, vom mensch-

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lichen vollkommenen Erkenntnisinteresse abzurücken und sich als fragmentarisch wahrzunehmen. (Kognitive) Fragmentarität ist kein Grund, um zu verstummen, so wie es Hattrup im Eingangszitat dieses Artikels implizit fordert. Die Gedankengänge Sölles aufnehmend, zeige sich gerade in der Fragmentarität und begrenzten Endlichkeit das, was man als Unendlichkeit benennen kann. Entsprechend ist es nicht notwendig, mit Kindern über eine weit entfernte und schwer vorstellbare Dimension zu theologisieren. Sprachfähig ist und wird man, wenn man Unendlichkeit im »›diesseitigen‹ Christentum‹57 verortet. Hier gilt es, Unvorstellbares gemeinsam mit Kindern wahrzunehmen!

54 Robert John Russell / Kirk Wegter-McNelly, Die Verzahnung von Naturwissenschaft und Theologie, in: Ted Peters / Gaymon Bennet / Kang Phee Seng (Hg.), Brücken bauen: Naturwissenschaft und Religion, Göttingen 2006, 57 f. 55 Vgl. Robert John Russell / Kirk Wegter-Mc Nelly (wie Anm. 54), 59. 56 Kang Phee Seng, Naturwissenschaft und Glaube – ein Perspektivenwechsel, in: Peters/Bennet/Seng (Hg.), Brücken bauen (wie Anm. 54), 90 spricht exemplarisch von einem naturwissenschaftlichen und theologischen Brillenglas. 57 Dorothee Sölle (wie Anm. 34), 177.

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Friederike Bergel »Aus der Schöpfung schöpfen.« – Ein Trickfilmprojekt im Religionsunterricht

Heutige Schülerinnen und Schüler wachsen in einer Zeit auf, die stark von digitalen Medien beeinflusst ist. Somit sind sie im Umgang mit Computern, Internet und Filmen vertraut. Weil die Medien aus dem Alltag der Schülerinnen und Schüler nicht mehr wegzudenken sind, sollte auch in der Schule eine verstärkte Medienerziehung erfolgen. Dies wurde bereits in den schuleigenen Arbeitsplänen berücksichtigt. Im Alltag von Grundschülerinnen und Grundschülern nehmen Trickfilme einen großen Stellenwert ein. Fast täglich schauen Kinder Trickfilme. Da sich Schule auch an der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler orientieren soll, erwächst hierdurch die Chance, durch neue Medien und im Speziellen durch Trickfilme Inhalte des Unterrichts zu vermitteln. Wieso sollten Schülerinnen und Schüler nicht selbst einmal einen Trickfilm gestalten? Besonders der methodenreiche Religionsunterricht kann dieser Idee als Grundlage dienen.

Neue Medien steigern die Motivation der Schülerinnen und Schüler. Durch die Produktion eines Trickfilmes lässt sich die ›Medienmotivation‹ der Kinder nutzen und kreatives Gestalten, aber auch mündlicher und schriftlicher Sprachgebrauch und der Umgang mit technischen Geräten, wie Digitalkamera, Aufnahmeprogramme und Computern üben.1 Für ein Trickfilmprojekt eignen sich Schülerinnen und Schüler ab Klasse 3, weil es für die Entwicklung einer Geschichte und dem darauffolgenden Storyboard wichtig ist, dass die Kinder gut lesen und schreiben können.2

Schöpfungsgeschichten in der Grundschule Das Thema Schöpfung wird in der Grundschule unter verschiedenen Schwerpunkten behandelt. Vorwiegend wird die Bewahrung der Schöpfung thematisiert. Aber auch andere Betrachtungsweisen können das Interesse der Schülerinnen und Schüler wecken. Die Lehrperson könnte eine Einheit mithilfe folgender Fragen entwickeln: Wie denken Grundschülerinnen und Grundschüler über die Schöpfungsge-

1 Vgl. Christina Otto, Trickfilme mit der Digitalkamera, Kempen 2010, 1. 2 Vgl. ebd., 2.

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Bergel Ein Trickfilmprojekt im Religionsunterricht

schichten? Wie erklären sie sich selbst die Weltentstehung? Wichtig hierbei ist die methodische Überlegung, ob die Lehrperson das Thema den Schülerinnen und Schülern handlungsorientiert vermitteln kann. Dabei ist es von Bedeutung, dass den Kindern das Thema ganzheitlich eröffnet wird. In den nachfolgenden Ausführungen wird eine mögliche schulische Umsetzung dargestellt, wie Schülerinnen und Schüler mit Einbeziehung der verschiedenen Schöpfungsgeschichten der Welt arbeiten können. Dabei wird an dieser Stelle der Schwerpunkt auf die kindliche Vorstellung von der Weltentstehung und ihre kreative Umsetzung gesetzt. Die Besonderheit der Schöpfung können die Schülerinnen und Schüler durch eine »eigne Schöpfung« thematisch und methodisch wertschätzen, indem sie zum Beispiel eigene Schöpfungsgeschichten schreiben und / oder aus einer Schöpfungsgeschichte einen Trickfilm selbst drehen. Im Rahmen eines Filmprojektes zum Thema Schöpfung entstand in einer 4. Klasse ein fast fünfminütiger Trickfilm, der auf anschauliche Weise eine selbst geschriebene Schöpfungsgeschichte kreativ und ausdrucksvoll umsetzte.

Vorstellung der Lerngruppe Das Filmprojekt zum Thema »Wie entstand die Welt? – Schöpfungsgeschichten« wurde in einer 4. Klasse einer kleinen Dorfschule durchgeführt. Diese Lerngruppe besteht aus acht Mädchen und sieben Jungen. Die 15 Schülerinnen und Schüler sind fröhlich und freundlich. Ein positives Sozialverhalten der Klasse begünstigt das Einführen neuer Metho-

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den. Der Wissensdurst der Schülerinnen und Schüler dieser Klasse fällt bereits bei der ersten Begegnung auf. Der Religionsunterricht findet konfessionell kooperativ im Klassenverband statt, an dem alle Schülerinnen und Schüler teilnehmen. In der 4. Klasse werden zwei Unterrichtsstunden im Fach Religion erteilt. Bei vorangegangener Hospitation ist aufgefallen, dass fast alle Schülerinnen und Schüler der Klasse sehr stark religiös sozialisiert sind. Diese Schülerinnen und Schüler sprechen offen über ihren Glauben. Die wenigen konfessionslosen Schülerinnen und Schüler beteiligen sich trotzdem motiviert am Religionsunterricht. Niemand spricht wertend über im Unterricht Gesagtes. In der Regel wachsen religiös erzogene und sozialisierte Schülerinnen und Schüler mit der Vorstellung von einem Gott als ›großer Macher‹ auf.3 Dies entspricht auch den Gottesvorstellungen eines großen Teils der oben beschriebenen Klasse. Fast alle Schülerinnen und Schüler haben in den vorher hospitierten Stunden Gott personifiziert. Zum Beispiel sagte ein Kind in der Wiederholungsstunde zu dem Thema der 10 Gebote: »Und dann hat Gott Moses die 10 Gebote gegeben …«. Obwohl viele Schülerinnen und Schüler bereits zwischen ›Naturwissenschaften‹ und ›Religionsunterricht‹ unterscheiden können4, kann

3 Vgl. Werner H. Ritter, Schöpfung / Leben, in: Rainer Lachmann / Gottfried Adam / Werner H. Ritter (Hg.), Theologische Schlüsselbegriffe. Biblisch – systematisch – didaktisch. Theologie für Lehrerinnen und Lehrer Band 1, Göttingen 1999, 330. 4 Dies wird an Bemerkungen wie: »Haben wir jetzt Reli oder Sachunterricht?« deutlich.

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Pädagogische Anregungen

behauptet werden, dass sie das Bild von Gott als höchste Macht durch ihren Glauben erhalten haben. Viele der Schülerinnen und Schüler der Klasse 4 kommen aus einem sehr religiös sozialisierten Umfeld und gehen regelmäßig in die Kirche. Die konfessionslosen Schülerinnen und Schüler scheinen trotz der fehlenden religiösen Sozialisation, zumindest für den Religionsunterricht, ein Gottesbild entwickelt zu haben, denn keines der Kinder dementierte eine Gottesexistenz in den Unterrichtsgesprächen. Die Vorstellung eines Schöpfergottes hilft den Kindern, Ordnung und Sinn für die Entstehung der Welt, der Lebewesen und Dinge zu finden.5 Nach Ritter verstehen Schülerinnen und Schüler »bis in die Jahrgangstufe 5/6 die Rede vom Schöpfer und Schöpfung als mythisch-wörtlich im Sinne des Artifizialismus und des Artifiziellen«6, d.h. sie nehmen die Weltentstehung als etwas künstlich von Gott Geschaffenes wahr, Gott als mächtigen Erzeuger der Dinge, somit auch der Welt mit all ihren Lebewesen. In der Grundschule empfiehlt es sich daher nicht, mit den Texten aus Gen 1–2 anzufangen, weil sie das anthropomorphe und artifizialistische Gottesverständnis der Kinder fördern.7 In den Jahrgangstufen eins und zwei wurde das Thema ›Schöpfung‹ in dieser Klasse unter dem Aspekt der Schönheit und Vielseitigkeit behandelt. In der dritten Klasse haben diese Schülerinnen und Schüler bereits die Schöpfungsgeschichten aus Gen 1–2 kennengelernt, wobei ihr Schwerpunkt auf der Priesterschrift (Gen 1–2,4a) lag. Bei diesem Projekt wird an das Wissen aus dem dritten Schuljahr angeknüpft. Dabei vertiefen sie ihr Wissen. Überdies können die Schülerinnen und Schüler durch das Kennenlernen von

Schöpfungsgeschichten aus anderen Kulturen ihr eigenes Schöpfungsverständnis reflektieren.

Methodische Umsetzung

Ein Trickfilm Es ist wichtig, dass den Schülerinnen und Schülern das Thema ganzheitlich eröffnet wird. Ein handlungsorientierter Religionsunterricht ermöglicht den Schülerinnen und Schülern eine ganzheitliche und aktive Auseinandersetzung mit dem Thema. Er kann den Schülerinnen und Schülern Raum zum Selbstausdruck bieten und soziale Kompetenzen durch die gemeinschaftliche Arbeit fördern. Eine stärkere Berücksichtigung der neuen Medienwelt kann im Religionsunterricht dazu beitragen, den christlichen Glauben unserer Zeit entsprechend auszudrücken.8 Hierdurch werden christliche Inhalte für Kinder direkter erfahr- und nachvollziehbar. Eine aktive und handlungsorientiere Medienarbeit kann das Verantwortungsbewusstsein von Schülerinnen und Schülern fördern. Den Schülerinnen und Schülern wird mit diesem Filmprojekt die Möglichkeit gegeben, einen eigenen Trickfilm zu produzieren. Dabei fördern sie ihre eigene religiöse und kreative Ausdrucksfähigkeit und lernen als soziale Erfahrung, die Vorschläge ihrer Mitschülerinnen und Mit-

5 Vgl. Ritter, Schöpfung / Leben (wie Anm. 3), 330. 6 Ebd., 331. 7 Vgl. ebd., 332. 8 Vgl. Patrick Grasser, Trickfilmstudio RU. Trickfilme im Religionsunterricht gestalten und präsentieren, Göttingen 2011, 5.

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Bergel Ein Trickfilmprojekt im Religionsunterricht

schüler einzubeziehen und auf Kompromisse einzugehen.9 Die Technik, die für einen Trickfilm benutzt wird, heißt Stop-Motion. (Sie wird auch für Spezialeffekte bei Spielfilmen eingesetzt.) Dabei werden die einzelnen Bewegungsabläufe für jedes neue Bild minimal verändert. Es wird nach jeder Bewegung gestoppt und fotografiert. Ein Stativ für die Kamera ist dabei unabdingbar. Erst das schnelle Abspielen der einzelnen Bildersequenzen erzeugt die Illusion einer echten Bewegung und haucht eigentlich unbeweglichen Objekten Leben ein.10 Der Legetrick ist eine Art des Animationsfilmes. Er eignet sich für Schülerinnen und Schüler besonders gut, denn sie können mit geringem Aufwand und relativ wenigen Bildern einen eigenen Animationsfilm erzeugen. Im Vergleich zu einem klassischen Trickfilm muss nicht jede Bewegung einzeln gezeichnet und fotografiert werden. Die Figuren, Hintergründe und Requisiten werden mit Bastelmaterialien vorbereitet und brauchen danach nur verschoben und abfotografiert zu werden.11 Es müssen mindestens 12 Bilder pro Sekunde gemacht werden, um einen Bewegungsablauf zu gewährleisten. Dies wird den Schülerinnen und Schülern mit Hilfe des Storyboards verdeutlicht. Dort kann ausgerechnet werden, wie viele Fotos die jeweiligen Schülergruppen für ihre Szene schießen müssen. Das Storyboard zeigt die Geschichte mit skizzierten Bildern und einem Text daneben. Der Text beschreibt, was in der jeweiligen Szene passiert. Es verschafft einen Überblick über die Punkte, auf die besonders geachtet werden muss. Außerdem kann es Bemerkungen enthalten, die Auskunft über das zu verwendende Material (wie

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zum Beispiel notwendige Figuren oder Kulissen) und die benötigte Zeit geben.12 Die unzähligen Bilder können mit Programmen wie iMovieHD oder Windows Movie Maker zu einem Film zusammengefügt werden. Jedoch ist für den Ton ein anderes Programm nötig. Amman und Fröhlich empfehlen in ihrem Buch ›Trickfilm entdecken‹ ein gesondertes Programm für den Ton zu verwenden und die fertige Tonspur mithilfe des Videoprogrammes an den fertigen Film zu binden.13 Unter anderem eignet sich das Audioprogramm ›Audacity Portable‹. Es ist einfach zu handhaben und als ›Freeware Download‹14 kostenlos im Internet erhältlich. ›Audacity‹ ermöglicht die Aufnahme von einzelnen Geräuschen und Texten auf mehrere getrennte Tonspuren. Des Weiteren können Musik oder andere Klänge in das Programm importiert werden. Die verschiedenen Tonspuren können anhand des Programmes je nach Bedarf genau platziert werden. Dabei können die Lautstärke und die Geschwindigkeit individuell für jede einzelne Tonspur eingestellt werden und letztendlich als eine Musikdatei exportiert werden. Diese Musikdatei könnte zum Beispiel einen

9 Vgl. ebd., 5. 10 Vgl. ebd., 5. 11 Genaue Details können im Buch von Patrick Grasser, Trickfilmstudio RU. Trickfilme im Religionsunterricht gestalten und präsentieren, Göttingen 2011, nachgelesen werden. 12 Vgl. ebd., 25. 13 Vgl. Daniel Amman / Arnold Fröhlich (Hg.), Trickfilm entdecken. Animationstechniken im Unterricht, Zürich 2008, 70 f. 14 D.h. der Urheber hat das Programm zur allgemeinen Verfügung ins Internet gestellt. Es kann kostenlos heruntergeladen und benutzt werden.

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Pädagogische Anregungen

Text mit passenden Geräuschen und Hintergrundmusik umfassen. Eine gute Vorbereitung ist für ein Filmprojekt sehr wichtig, damit ein reibungsloser Ablauf gewährleistet werden kann. Für eine gute Zusammenarbeit sollten nicht mehr als 20 Schülerinnen oder Schüler an einem Projekt beteiligt sein. Für Trickfilmprojekte sind die Ausführungen von Christina Otto in »Trickfilm mit der Digitalkamera« und Partrick Grasser in »Trickfilmstudio RU« zu empfehlen. Sie geben weitere praxisbezogene Tipps zur Gestaltung eines Trickfilmes im Unterricht. Der Legetrick eignet sich durch seine einfache Handhabung für jüngere Schülerinnen und Schüler und diente für das Filmprojekt in der 4. Klasse als grundlegende Methode. Für jeden Film wird eine Idee benötigt. Für den Schöpfungsfilm hat die oben beschriebene Lerngruppe eigene Schöpfungsgeschichten geschrieben und davon eine für ihren Trickfilm ausgewählt.

Schöpfungsgeschichten der 4. Klasse »Der Mensch, der in der Schöpfungsgeschichte als Gottes Ebenbild angesprochen wird, zeichnet sich besonders durch seine schöpferischen Anlagen und Fähigkeiten aus.«15 Kreatives Schreiben eröffnet den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit ihren Erfahrungen, Vorstellungen und Weltdeutungen Gestalt und Ausdruck zu verleihen. Sie können ihre Ideen und Gedanken anderen schriftlich mitteilen und für die Zukunft festhalten. »Schreibend können sich Kinder als Sub-

jekte äußern und sich so als Subjekte erfahren«.16 Für den Religionsunterricht nimmt das kreative Schreiben als Ausdruck des Glaubens eine besondere Rolle ein. Durch die Verschriftlichung können den Schülerinnen und Schülern eigene Gedanken und Ansichten bewusster werden. Dies dient ihnen zur Selbstreflexion und begünstigt die persönliche Weiterentwicklung. Außerdem können sie durch das Schreiben auf eine differenzierte Weise in Kontakt mit sich selbst und anderen treten. Das Schreiben kann den Schülerinnen und Schüler helfen, sich in andere Perspektiven hineinzuversetzen und ihnen Ausblicke in neue Gedankenwelten ermöglichen. Sie lernen ihre Gedanken ästhetisch umzusetzen und leisten Beiträge für einen kommunikativen Prozess. »Kreatives Schreiben ist ein ganzheitliches Unterrichtsverfahren, das Kopf, Herz und Hand in den Auseinandersetzungsprozess integriert, der oft selbst von sinnhaften Anlässen angestoßen wird. Es aktiviert und fordert den ganzen Menschen mit seinen kognitiven, emotionalen und sozialen Kompetenzen.«17 Dabei unterstützt es die subjektive Aneignung von Glaubensinhalten. Wichtig ist hierbei, dass der Schreib-

15 Eva Müller, Bildnerisches Gestalten, in: Gottfried Adam / Rainer Lachmann (Hg.), Methodisches Kompendium für den Religionsunterricht 1. Basisband, Göttingen 52010, 211. 16 Georg Hilger, Kreatives Schreiben – Eine eigene Sprache finden und gestalten, in: Georg Hilger / Werner H. Ritter (Hg.), Religionsdidaktik Grundschule. Handbuch für die Praxis des evangelischen und katholischen Religionsunterrichts, München 2006, 364. 17 Ludwig Sauter, Kreatives Schreiben, in: Ludwig Rendle, Ganzheitliche Methoden im Religionsunterricht, München 2007, 149.

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prozess durch ein anschließendes (Klassen-)Gespräch unterstützt, reflektiert und analysiert wird. Durch das Schreiben drücken die Schülerinnen und Schüler sich als Subjekt aus und geben Elemente ihres Lebens und Glaubens preis. Dies kann durch ein Gespräch gefördert und gewürdigt werden. Außerdem gibt es Raum zur Präsentation der Ergebnisse. Die Beteiligung an einem Klassengespräch und/oder die Präsentation der Ergebnisse geschehen freiwillig. Festzustellen ist, dass kreatives Schreiben den Lernenden neue Möglichkeiten anbieten kann sich darzustellen, ihnen hilft ihre Subjektivität auszudrücken, aber auch neue Vorstellungswelten eröffnet und den Gemeinschaftssinn fördert. Letzteres geschieht nicht nur durch das abschließende Gespräch, sondern auch durch kooperatives Arbeiten an einem Text. Der oben beschriebenen Lerngruppe wurde, als ein Teil einer Unterrichtseinheit zu den verschiedenen Schöpfungsgeschichten, ein Schreibauftrag erteilt. Die Schülerinnen und Schüler wurden angeregt ihre eigenen Schöpfungsgeschichten zu schreiben, nachdem sie sich mit den zwei biblischen Schöpfungsgeschichten und weiteren Schöpfungsgeschichten aus aller Welt (zum Beispiel einer chinesischen, einer südamerikanischen, einer afrikanischen Schöpfungsgeschichte u.a.) beschäftigt hatten. Als Motivation wurde den Schülerinnen und Schülern verdeutlicht, dass eine Geschichte verfilmt werden soll. Außerdem wurde das Format auf eine DIN A4 Seite eingeschränkt und die weniger leistungsstarken Schülerinnen und Schüler erhielten Schreibhilfen bzw. konnten in Partnerarbeit eine Geschichte schreiben. Die Ergebnisse waren vielseitig und eindrucksvoll.

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Diese Lerngruppe legte intuitiv ihren Schwerpunkt auf kosmozentrische Schöpfungsgeschichten. Dies ist vor allem an den selbst geschriebenen Geschichten zu erkennen. Keines der Kinder setzt die Menschen in den Fokus der Geschichte. Von den zwölf Geschichten haben sieben einen monotheistischen Hintergrund, davon haben zwei Texte eine Göttin als Protagonistin. Von den fünf Göttern erhalten zwei einen Namen und werden somit personifiziert. Zum Beispiel:

Gott Arthur und seine Schöpfung Es gab nichts, nichts außer Arthur und seine Schubkarre. Arthur war allein, er wollte etwas machen. Also tat er ein bisschen Haut von sich in seine Schubkarre. Er formte die Haut zu einer großen Kugel. Die warf er dann mitten ins Nichts. Plötzlich tauchten andere Götter auf, die mit ihm kämpften. Dabei hatte er ein Stück seines Herzes verloren und das fiel genau auf das Stück Haut. Es gab eine Explosion. Es entstand eine Kugel. Es gab Licht und die Dunkelheit, Tiere, Menschen, Pflanzen, Wasser und Land. Arthur nannte es Erde. M. (männlich 11Jahre alt) Zwei dieser Geschichten begründen die Schöpfung durch Einsamkeit und Langeweile des Schöpfers. Auch eine Göttin erhält einen Namen. Die folgende Geschichte wurde für den Trickfilm ausgewählt:

Die Erschaffung der Welt Am Anfang war ein schwarzer Baum alles, was man sehen konnte. Alles war dunkel. Eines Tages kam die Göttin Nephtis zu dem schwarzen Baum und

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Pädagogische Anregungen

wollte sich um ihn kümmern. Sie wässerte den Baum jeden Tag und jeden Tag wuchs der Baum immer größer. Eines Tages wässerte sie den Baum wieder – und nun nahm er die Farbe Blau an. Es bildeten sich auf dem blauen, großen Baum Flüsse, Meere, Bäche und Seen. Es gab nun auf der Erde Wasser. Am nächsten Tag kam Nephtis wieder und wässerte den blauen Baum nochmal. Der Baum wurde nun Gelb. Nun gab es Licht, Sonne, Mond und Sterne. Es war wunderschön, aber Nephtis merkte, dass noch viel fehlte. Ein nächster Tag begann. Jetzt wurde der Baum rot, und es gab Feuer, Glut und Vulkane. Als Nephtis wiederkam und den roten Baum wässerte, wechselte er von der Farbe Rot auf Grün. Die Erde wurde lebendiger. Es gab Land, Blumen, Bäume, Gräser und Sträucher auf der Erde. Nephtis aber war noch nicht ganz zufrieden. Es sollte Leben kommen. Also wurde der grüne Baum nochmal gewässert und er wurde braun. Wasser- und Landtiere lebten nun auf der Erde. Es war noch schöner geworden. Nephtis fand das auch. Aber sie wusste, dass noch was fehlte. Nephtis wollte jemanden ihresgleichen. Als der Baum nochmal Wasser abbekam, wurde er weiß. Es gab nun auf der Welt die Menschen. Die Göttin war zufrieden und wässerte den Baum viele Tage weiter. Er wurde grau für Berge und Täler. Nun lila für Wolken, Regen, Hagel, Wind und Schnee. Nephtis war mit der Erde zufrieden und sie lehrte den Menschen Häuser zu bauen. Alle waren glücklich und die Erde war nun erschaffen. L. und F. (weiblich 10 und 11 Jahre alt)

An den Geschichten ist zu erkennen, dass die Schülerinnen und Schüler ihr eigenes Leben (beziehungsweise menschliche Gefühle) auf die Schöpfung projizieren. Sie personifizieren ›Gott‹ als männlich oder weiblich mit menschlichen Eigenschaften. Vier Schülerinnen und Schüler gehen nicht von einem göttlichen Einfluss bei der Erschaffung der Welt aus. Jedoch zeigt sich im Unterricht, dass sie dem anthropomorphen Gottesbild der anderen Schülerinnen und Schüler nicht widersprechen. Die anthropomorphe Darstellung der Schülerinnen und Schüler zeigt, dass sie versuchen, sich in die Perspektive der Gottheit hineinzuversetzen und von dieser Position zu schreiben. Des Weiteren sehen sie die Gottheiten als übermächtig an. Bei der Entstehung der Geschichten spielte die religiöse Sozialisation keine direkte Rolle, denn auch die Schülerinnen und Schüler, die konfessionslos sind, schrieben eine ›Schöpfungsgeschichte‹. Erstaunlicherweise waren sie nicht unter den vier Schülerinnen und Schülern, die die Erschaffung der Welt ohne Gott inszenierten. Nur zwei der zwölf Geschichten besitzen einen polytheistischen Handlungsstrang. Interessanterweise hat der ›Gott‹ der einen Geschichte einen Bruder und eine Schwester. Es ist erkennbar, dass die Klasse kein starres männliches Gottesbild besitzt und stets Einflüsse von anderen Kulturen mit in ihre Geschichten einbezieht. Feststellbar ist dies im Besonderen an der Namensgebung der verschieden Gottheiten. Allerdings muss bedacht werden, dass andere Ergebnisse entstanden wären, wenn der Schreibauftrag nicht in diese Unterrichteinheit einbettet gewesen wäre. Denn trotz der individuellen Umsetzung haben die Kinder Motive verwendet, die

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Bergel Ein Trickfilmprojekt im Religionsunterricht

ihnen in den vorausgegangenen Unterrichtsstunden begegnet sind. Vor allem ist die Nachhaltigkeit des priesterlichen Schöpfungsberichtes (Gen1–2,4a) zu erkennen. Jedoch sind die sozialisationsbedingten Einflüsse mit individuellen Ideen verfeinert und erweitert worden. Auffällig ist, dass die drei Geschichten, die ohne eine Gottesfigur geschrieben wurden, stärker von Außeneinflüssen während des Schreibens beeinflusst wurden. Ein Mädchen, das über einen Wurm schrieb, benutzte das ausgeteilte Arbeitsblatt mit den Schreibimpulsen. Sie gehört zu den weniger leistungsstarken Schülerinnen und Schülern der Klasse und ist besonders bei Schreib- und Leseaufgaben auf Hilfe angewiesen. Hingegen haben sich zwei andere Mädchen, die eine Geschichte über ein Pferd als ›Schöpfer‹ geschrieben haben, an ihren außerschulischen Interessen orientiert und gleich nach Verkündung des Arbeitsauftrages gefragt, ob sie auch etwas mit Pferden schreiben dürfen. Ein Junge, der über den Baum geschrieben hat, hatte als Schreibimpuls die ganze Stunde über ein Bild (des Weltenbaum Yggdrasil) neben sich liegen. Möglicherweise wären diese Geschichten ohne die Schreibimpulse anders ausgefallen. Die Geschichten wurden gemeinsam gelesen, denn die unterschiedlichen Gottesbilder erweitern die Sicht der Schülerinnen und Schüler. Dies ist für ihre zukünftige Entwicklung von Vorteil und ermöglicht ihnen eine offene Grundhaltung ihres eigenen Gottesbildes und könnte einen Bruch mit Gott im Jugendalter vermeiden. Außerdem stehen sie anderen Gottesbildern offener gegenüber; dies ermöglicht zukünftig einen guten Umgang mit anderen Religionen. Wie bereits erwähnt, wurde die Geschichte über die Göttin Nephtis von der

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Lerngruppe favorisiert und als Grundlage für den Trickfilm genutzt.

»Die Erschaffung der Welt« Ein Schöpfungsfilm Für den Film erstellte die ganze Lerngruppe ein Konzept. Bei der Planung der einzelnen Szenen hilft das Storyboard. Mit Hilfe eines vorher angefertigten Plakats können die Schülerinnen und Schüler jede Szene planen. Für den Kulissen- und Figurenbau wird die Klasse in Gruppen unterteilt. Bastelmaterial wird für die ganze Klasse bereitgestellt. Da sich die Geschichte in mehrere Szenen einteilen lässt – eine Szene für jeden Baum – können acht Gruppen gebildet werden. Jede Gruppe ist für eine Szene verantwortlich. Damit eine Einheitlichkeit entsteht, gibt es mehrere Baumschablonen, die die Schülerinnen und Schüler zum Basteln benutzen können, außerdem wurde für je zwei Gruppen ein Schuhkarton als Legetrickfilmstudio bereitgestellt. Nachdem ein Filmablauf mit der Klasse ausgearbeitet und das Material fertiggestellt wurde, kann mit dem Fotografieren begonnen werden. Vorab muss der Umgang mit den Digitalkameras erklärt werden. Dabei ist achtsamer Umgang ebenso wichtig wie das Verstehen der technischen Funktio-

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Pädagogische Anregungen

nen. Übungen mit den Digitalkameras sollen die Kinder für die Handhabung dieser sensibilisieren.18 Danach können die eigentlichen ›Dreharbeiten‹ beginnen. Die Audioaufnahmen wurden mit sechs Kindern in einem anderen Raum parallel zu den Fotoaufnahmen durchgeführt. Dafür müssen sich die Schülerinnen und Schüler entscheiden, wer fotografiert und wer den Text aufnimmt. Die Schülerinnen und Schüler, die für die Audioaufnahmen ausgesucht wurden, erhalten den Text, um diesen durchzulesen. Sie können sich selbst je nach ihrer Gruppe den passenden Textstellen zuordnen. Nach mehrmaligem gemeinsamem Lesen werden die Schülerinnen und Schüler mit Hilfe eines Laptops aufgenommen. Dabei sind selbstverständlich mehrere Versuche möglich und notwendig. Nachdem alle Aufnahmen erstellt wurden, müssen die Fotos mit Hilfe eines Programmes ›iMovieHd‹, z.B. zu einem Film zusammengefügt und mit den Audioaufnahmen ergänzt werden. Die Audioaufnahmen werden vorher bearbeitet und mit Hintergrundgeräuschen ergänzt. Zum Schluss entsteht ein kurzer Trickfilm, durch den die Lerngruppe ihr schöpferisches und kreatives Gestalten beweisen kann. Der zeitliche Rahmen des Religionsunterrichts ist für die Durchführung eines Filmprojektes zu knapp bemessen. Deswegen empfiehlt es sich, die Durchführung als ein Projekt zu planen und dieses dann entweder an Projekttagen durchzuführen oder durch eine Arbeitsgemeinschaft außerhalb der Unterrichtszeiten zu verwirklichen. Als Abschluss ist eine Filmvorführung sehr wichtig. Dies kann im kleinen Rahmen innerhalb der Lerngruppe oder eingebunden in eine Schulveranstaltung geschehen.

Resümee Ein Filmprojekt kann gewissermaßen zu fast jedem Thema in nahezu jedem Fach durchgeführt werden, jedoch ist es besonders für den Religionsunterricht eine förderliche Möglichkeit. Der Religionsunterricht wird somit zu einem besonderen Erlebnis, das den Schülerinnen und Schülern viele Kompetenzen vermitteln kann. Inhaltsbezogene Kompetenzen werden durch neue Kompetenzen, wie Planung eines Projektes oder der Umgang mit Medien, verwirklicht. Die Bibel eignet sich hervorragend für viele phantasievolle Umsetzungen. Besonders das Thema Schöpfung bietet viele kreative Ansätze. Erschaffen die Schülerinnen und Schüler ihr eignes kleines Werk, können sie gleichzeitig die Bedeutung einer Schöpfung erfassen, und setzten sich intensiv mit dem Inhalt auseinander. Auch auf diesem Weg kann es zu der Erkenntnis einer Wertschätzung und Bewahrung ›der Schöpfung‹ kommen. Das oben erläuterte Projekt machte den Schülerinnen und Schülern sichtlich Spaß und zeigte ihnen, dass der Religionsunterricht immer wieder neue Möglichkeiten bietet sich auszudrücken und Inhalte zu gestalten. Auch stille oder weniger leistungsstarke Kinder können sich in die Arbeit einbinden. Dadurch, dass die ganze Lerngruppe zusammenarbeitet, werden gleichzeitig die Sozialkompetenz und das Gemeinschaftsgefühl geübt und verstärkt.

18 Im Buch von Patrick Grasser, Trickfilmstudio RU (wie Anm. 11) sind mehrere Übungen dafür vorgeschlagen.

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Viktória Šoltésová Die Religiosität der Roma-Kinder in der Slowakei1

1. Einführung Unsere Forschung beschäftigt sich mit der Entwicklung der Religiosität, die Teil der Wertorientierung ist, hier speziell im Hinblick auf Kinder, die in evangelische (evangelikale) Erziehungsprogramme involviert sind. Die Entwicklung persönlicher religiöser Werte der Roma- Kinder hat Bedeutung für die religiöse Elementarerziehung. Die Untersuchungen zu diesem Problem werden hier präsentiert anhand ausgewählter Untersuchungstechniken für Studien zur Wertorientierung im Bereich der Religiosität und der Beziehungen. Eine der Hauptaufgaben der religiösen Erziehung ist es, Kinder vertraut zu machen mit Werten, die dann reflektiert werden in ihrer jeweiligen Beziehung zu Gott und zu anderen Menschen. Das Gotteskonzept trägt in vielfacher Weise zu deren Herausbildung bei. Die Möglichkeiten der religiösen Erziehung der Roma-Kinder sind beschränkt wegen der dabei geforderten kulturübergreifenden Kommunikation, was sich auch im Hinblick auf deren Potential der religiösen Entwicklung niederschlägt. Dies spiegelt sich auch im Hinblick auf deren Glauben an Gott und die Kommunikation mit ihm wider. Bei der Übernahme geläufiger Forschungsmethoden in den slowakischen Kontext gilt es nicht nur die spezifischen demografischen, sozialen und religiösen Besonderheiten zu beachten, sondern auch das besondere

Bild der slowakischen spirituellen Kultur. Die spirituelle Welt der slowakischen Roma hat ihre Besonderheiten. Die Untersuchung zeigt die Notwendigkeit der Entwicklung eines Gotteskonzeptes der Roma-Kinder im Prozess ihrer religiösen Erziehung. Das Verstehen des kulturellen Wertesystems einer besonderen ethnischen Gruppe ist ein Schlüsselfaktor, um das Verhalten der Roma-Kinder antizipieren zu können. Viele Studien haben die Bedeutung der Kultur und Religiosität für die Kommunikation zwischen Nationen erkannt und auch ihre Bedeutung für ethnische Minderheiten. Religiosität kann auf vielerlei Weise gemessen werden. Sie ist ein mehrdimensionales Phänomen, das in unterschiedlicher Weise wahrgenommen werden kann, und man kann von daher nach dem effektivsten Messverfahren fragen. Der Ansatz von Gordon W. Allport im Hinblick auf religiöse Motivation hat den größten Einfluss auf die empirischen Studien zu psychoreligiösen Variablen. Allport unterscheidet als Motive für Religiosität zwischen innerer und äußerer Religiosität. Moralische Entwicklung und soziale Verortung beeinflussen das soziale Leben der Roma-Kinder. Wir referieren hier Theorien und Studien von

1 Aus dem Englischen ins Deutsche übertragen von Anton A. Bucher und Gerhard Büttner.

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Pädagogische Anregungen

Wissenschaftlern aus den Bereichen religiöse Erziehung, Wertorientierung und Spiritualität. Diese Studien übernahm das Kurze Mehrdimensionale Messinstrument von Religiosität/Spiritualität (Brief Multidimensional Measurement of Religiousness/Spirituality), wie es in den letzten Jahren vom Fetzer Institute beim General Social Survey (GSS) benutzt wurde, um die Werteentwicklung und die Religiosität von insgesamt 78 Roma-Probanden zu untersuchen, die sich aus zwei Gruppen zusammensetzten: 46 Roma- Kinder besuchten eine evangelische Katechese und 32 erhielten keine religiöse Erziehung. Zuerst werden die Religiosität und die Wertorientierung beider Gruppen verglichen und dann werden die Unterschiede im Hinblick auf verschiedene Dimensionen untersucht. Im Vordergrund steht die Korrelationsanalyse. Wir betrachten die Beziehungen zwischen religiösen und wertbezogenen Orientierungen in beiden Romakinder-Gruppen. Das Profil zur Wertorientierung gründet sich auf 26 Items (Kurze Mehrdimensionale Messinstrument von Religiosität/ Spiritualität), die die Varianz folgender Dimensionen abdecken: tägliche spirituelle Erfahrungen. Glaubensvorstellungen, Vergebungsbereitschaft, private religiöse Praxis, religiöse Bewältigungsstrategien. Familienwerte, sozialer Zusammenhang. Die Studie offenbarte einige Wertunterschiede zwischen den beiden Gruppen und Korrelationen, die den Grad der Beziehung zwischen zwei Variablen beschreiben: Religion und einigen spezifischen persönlichen Werten. Korrelation bedeutet nicht notwendigerweise Kausalbeziehung, sie bedeutet vielmehr die Verbindung zwischen unseren Variablen. Die theoretischen und praktischen Implika-

tionen dieser Ergebnisse werden in dieser Studie dann fortlaufend diskutiert.

2. Die Entwicklung der Romareligiosität

2.1 Die religiöse Erziehung der Roma-Kinder Die zunehmende Säkularisierung der Gesellschaft macht religiöse Erziehung schwieriger. Manche Länder behalten weiterhin eine staatsunterstützte religiöse Erziehung bei, entweder lutherisch, römisch-katholisch oder orthodox. Sie wird in besonderen Klassen an den Staatsschulen gelehrt. Viele Familien schicken ihre Kinder in kirchliche Schulen. In der Slowakei gibt es eine lange Tradition einer üblichen Aufteilung zwischen Römischem Katholizismus und Protestantismus und es gibt eine Regelung, nach der die religiösen Institutionen die Ausbildung der Religionslehrer/innen der beiden Richtungen beaufsichtigen. Diese Lehrkräfte unterrichten Religion an öffentlichen Schulen. Derzeit ist religiöse, moralbezogene und spirituelle Erziehung durchaus beachtet. Dies ist Teil einer weltweit zunehmenden Wertschätzung. Die Prinzipien einer kulturübergreifenden Kommunikation müssen auch beachtet werden bei einer kulturübergreifenden Katechese ebenso wie im Hinblick auf die Evangelisation von Roma-Kindern.

2.2 Die Roma-Minderheit in der Slowakei Der geschätzte Anteil der Roma-Minderheit an der slowakischen Gesamtbevölkerung (8–9 Prozent) hat sich in der zweiten

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Šoltésová Die Religiosität der Romakinder in der Slowakei

Hälfte des 20. Jahrhunderts vervierfacht.2 Nach den offiziellen Statistiken ist die Zahl der Roma derzeit geringer, weil sie beim Zensus nicht als Roma registriert wurden. Ein Teil dieser Minderheit lebt unter benachteiligten Bedingungen mit einer hohen Arbeitslosenquote. Sie sind weitgehend auf staatliche Unterstützung angewiesen. Ihr Bildungsniveau, ihre soziale und ökonomische Situation ist sehr schlecht und sie sind weitgehend vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Doch ist die Roma-Population heterogen und differenziert. Die Gemeinschaften unterscheiden sich in Dialekt, Lebensstil, sozialem Kontext usw. Die Mehrheit der Roma lebt im östlichen und südlichen Landesteil. Ungefähr 126 000 Roma3 leben in 600 ärmlichen und abgetrennten Siedlungen ohne adäquate Infrastruktur. Die gegenwärtige Situation wurde bewirkt durch die Marginalisierung der Roma-Identität in der Vergangenheit als Folge der kommunistischen Ideologie. Dies ist Folge der Einordnung der RomaBevölkerung als nicht sozial anpassungsfähig. So ist die Integration der Roma in die Gesellschaft bis heute eingeschränkt. Sie verbleiben am Rande der Gesellschaft und leben in ghettoartigen Siedlungen. Die Roma sind das Ziel zahlreicher Vorurteile. Ihre Situation hat sich verschlechtert nach dem Ende des Kommunismus in Osteuropa. Die Roma-Sprache stellt eines der wichtigsten Elemente für die Bildung einer eigenen Identität für diese Minderheit dar. Eine Schwelle für die Implementierung der Roma-Sprache liegt in der Tatsache, dass in der Slowakei eine ganze Reihe von Dialekten existiert und nicht alle Roma die kodifizierte Form der Roma- Sprache sprechen. Das macht ihren Gebrauch kompliziert: es erschwert etwa die Einführung der Roma-

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Sprache in der Schule. Es fehlt an Lehrern und Schulbüchern. Eine positive Entwicklung ist die von Schulbüchern in der Roma-Sprache und die Rekrutierung von entsprechenden Assistenten für die Schule.

2.3 Die Religiosität der Roma in der Slowakei Nach der ethnografischen Forschung ist die Ethnizität der Roma-Minderheit in der Slowakei verknüpft mit anderen Kategorien (z.B. Religion). Wir können also von einer vielschichtigen Identität sprechen.4 Die Ethnizität ist verbunden mit diesen Kategorien: 1. Nationalität 2. Roma-Kultur 3. Konfessionelle Identität Fast alle Konzeptionen einer sozialen oder ethnischen Identität erkennen Gesellschaft und Kultur als Quellen der Identität. Identität ist verbunden mit kulturellen Werten, die wiederum wichtig sind für die Akzeptanz der Mitglieder durch andere Kulturen.5 Die Sozialanthropologie hat ethnische Gruppen auf

2 Čo sa osvedčilo? Výber z rómskych projektov v strednej a východnej Európe. Bratislava 2003, 81. 3 Ebd., 82 Pałka-Szyszlak E. Kwestia romska na Słowacji. In: Szyszlak T. ed. Kwestia romska w polityce państw Europy Środkowej i Wschodniej. Wroclaw 2011, 199–230. 4 Kováč, M.; Mann, A.B. ed., Boh Všetko Vidí. Bratislava 2003, 17–35. 5 Bačová, V., Etnická identita a historické zmeny. Štúdia obyvatel’ov vybraných obcí Slovenska, Bratislava 1996, 12.

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Pädagogische Anregungen

der Grundlage biologischer, sprachlicher, kultureller und religiöser Kriterien unterschieden. Heutzutage werden diese objektiven Kriterien verbunden mit dem subjektiven Kriterium der eigenen Überzeugung auf Grund der Zugehörigkeit.6 Im Hinblick auf die Religiosität kann die Analyse auf folgenden Ebenen erfolgen: 1. »Religiöse Orientierung als Anpassung an die Community; 2. Religiöse Orientierung als Teil der Kultur; 3. Religiöse Orientierung als Mittel zur Herstellung seelischer Balance und zur Förderung sozialer und kultureller Umstrukturierung.«7 Die Forschung in der Slowakei hat eine »vielschichtige öffentliche Religiosität« zutage gefördert. Es handelt sich um eine Mischung von »vorchristlichen« und neuen christlichen Konzepten und Ideen.8 Diese Konzepte tragen magische und wundergläubige Züge: sie achten auf Zeichen in Träumen und interpretieren diese. Weltliche und postmortale Strafen stehen im Widerspruch zueinander. Der Grund für eine Bestrafung durch Gott liegt im Brechen eines Schwurs (Strafbestimmung, Zeremonie, Loyalitätseid). Religiosität ist einer der wichtigsten Bestandteile des sozialen und privaten Lebens, und die Roma messen der Religiosität in ihrer impliziten und ihrer expliziten Form eine große Bedeutung zu.9 Die Roma können, wie alle anderen Bevölkerungsanteile, seien es Slowaken, Ungarn, Rumänen oder Tschechen, unter den neu zugänglichen Religionen auswählen. So gibt es eine signifikante Zahl von Übertritten zu neuen religiösen Bewegungen, besonders zu charismatischen und pfingstlerischen Kirchen. Konversion ist ein komplexer und dynamischer

Prozess und muss in seinen einzelnen Stadien beschrieben und analysiert werden. Die Gründe zur Konversion entspringen verschiedenen Umständen. Wir müssen die Familie und die sozialen Netzwerke der Konvertiten mitbedenken und die Rolle der Autorität und des Charismas des Missionars oder Priesters beachten. Das familiäre Netzwerk und die Autorität des Missionars scheinen bei der Konversion von Roma die entscheidenden Faktoren zu sein. In jüngster Zeit gab es Konversionswellen nur in solchen Gemeinschaften, bei denen die romatypische traditionelle Familienstruktur nur schwach ausgeprägt war.10

3. Roma-Kinder und ihre Gottesvorstellung Um Gottes Existenz leichter zu greifen und verstehen zu können, hat er in der Vorstellung der Menschen oft eine menschliche Natur und menschliche Eigenschaften. Darin findet auch seine Bedeutung und Macht ihren Ausdruck. In den untersuchten Gebieten waren die Gebete mehr oder weniger individuelle Zwiesprachen mit Gott und nicht durch irgendwelche liturgischen Formen bestimmt. Das Gottesbild der Roma-Kinder stützt sich auf besondere Vorstellungen. Die Zigeuner in der Siedlung Borka 6 Ebd., 23. 7 www.radaeuropy..sk/slovak/dopln_info/publikacie_re/dokumenty/romovia.pdf 5.4.2004. 8 Kováč, M. a. Mann, A.B. ed., Boh Všetko Vidí. Duchovný svet Rómov na Slovensku/ O del sa dikhel, Romani pat’aviben pre Slovensko, 124. 9 Kováč, M. / Jurík, M., Religiozita Rómov a aktivity cirkví vo vzt’ahu k Rómom, 134. 10 http://www.eminet.sk/?q=node/119 5.6.2006.

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Šoltésová Die Religiosität der Romakinder in der Slowakei

haben eine persönliche und vertraute Beziehung zu Gott (o Del), der oft der kleine Gott (Deloro) genannt wird. Sie nehmen Gott in menschlicher Form in der Person Jesu wahr (ein junger Mann mit hellbraunem Haar und blauen Augen) oder als Glanz oder Licht.11 Die Forschungen zum Glauben der Roma-Kinder im Dorf Lomnicka wurden mit Fragebögen und anschließender informeller Diskussion zum Gottesglauben durchgeführt. Normalerweise beten Menschen ihr eigenes Abendgebet, indem sie auch über ihre Erfahrungen am vergangenen Tag sprechen. Die Kinder sagten, dass sie keine Angst vor Gott haben. Für sie ist er vor allem eine »gute Person«: »Er ist wie ein Vater, dem wir unsere Sünden bekennen und der uns vergibt, denn er ist gnädig«. Die Kinder sagten, dass sie Jesus sehen möchten und sie bitten ihn in ihrer Roma-Sprache, dass er sich ihnen zeigen möge: »Deloro av ke mande, kamav tut te dikhel« (Gott, komm zu mir. Ich liebe Dich, gib mir ein Zeichen Deiner Offenbarung). Normalerweise knien die Kinder beim Gebet. Manche beten in ihrer Roma-Sprache und können die Zehn Gebote auswendig.12 Es ist allgemein bekannt, dass die Roma an einen Gott glauben, der »unter ihnen lebt«. Im Dorf Telgart sagte jemand: »Jesus lebt als Baby bei uns …«. Über Gott sagen sie, dass er unsichtbar sei, so etwas Geistiges (spirit). Intensivere Nachfrage ließ ein Gotteskonzept erkennen: »Gott ist wahrscheinlich ein Mensch. Aber keiner sieht ihn. Er muss sehr groß sein und große Hände und Augen haben, damit er die ganze Welt sehen kann.« Andere sagten: »Jesus ist der Richter, der auf seinem Richterstuhl im Himmel sitzt und alle um ihn herum sind Engel.« Noch vor der Idee eines Bildes von Gott steht der Wunsch nach seiner Nähe (Gott muss bei uns sein

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überall und bei jedem Schritt).13 Zu den traditionellen Elementen der Roma-Religion gehört der Gedanke, dass »alle Zigeuner in den Himmel kommen«, weil Gott gnädig ist.

4. Forschung über Religiosität mit Roma-Kindern aus der Slowakei

4.1 Forschungsergebnisse In der Vorbereitungsphase stellten wir folgende Fragen: Ist es möglich, dass Roma, die am Religionsunterricht teilnehmen, eine positive Einstellung zu Gott bzw. eine persönliche Beziehung mit ihm entwickeln? Welche Elemente der religiösen Orientierung der Roma-Kinder haben positive Werte? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Religiosität der Roma-Kinder und der Auswahl der spezifischen Lebens-Werte? Wir haben die fünf Haupthypothesen adaptiert. Für die statistische Überprüfung der Hypothesen verwendeten wir zwei F-Tests für die Varianz und zwei TTests (beide mit einem Signifikanzniveau p = 0.05) und den Kendall-Korrelationskoeffizienten. Manche unserer Ergebnisse entsprechen den partiellen Ergebnissen anderer Studien. Als ein Beispiel werden wir einen Teil einer Hypothese anführen: Hypothese 3A (H3A): Es gibt eine geringe bis beinahe starke Beziehung zwischen den Werten bezüglich des Glaubens an Gott (Frage Nr. 7 »Ich glaube an einen Gott, der über mich wacht«) und per11 Kováč, M. / Mann, A.B. ed., Boh Všetko Vidí. Duchovný svet Rómov na Slovensku/ O del sa dikhel, Romani pat’aviben pre Slovensko, 61. 12 Ebd., 75. 13 Ebd., 133–134.

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Pädagogische Anregungen

sönlicher und sozialer Verantwortung, wie sie in der achten Frage »Ich fühle mich dafür verantwortlich, Schmerz und Leid in der Welt zu verringern« definiert ist. Die Korrelationsanalysen zwischen den Antworten der skalierten siebten Frage und achten Frage zeigen, dass ein

Zusammenhang zwischen den beiden existiert, was die Hypothese H3A bestätigt. Laut den Befragten, welche Religionsunterricht besucht haben, ist dies ein mittleres Maß von Korrelation. In der Gruppe der Antwortenden, welche keinen

Tabelle Nr. 3A1: Korrelation zwischen Glauben an Gott und tiefem Verantwortungsgefühl für die Verringerung von Schmerz und Leid in der Welt (persönliche gesellschaftliche Verantwortung): Befragte besuchen die Katechese = 46

Glaube an Gott

0,33

R p

0,000 ***

Befragte besuchen die Katechese nicht = 32

Glaube an Gott

Persönliche gesellschaftliche Verantwortung

Persönliche gesellschaftliche Verantwortung

R p

0,23 0,03 **

Vorschau Nr. 3A1: Korrelation zwischen den Antworten der skalierten siebten und achten Frage (Befragte besuchen Katechese): Korrelation – Frage Nr. 7 und Frage Nr. 8

Frage Nr. 7

Frage Nr. 8

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Religionsunterricht besucht haben, haben wir einen schwachen Zusammenhang zwischen den untersuchten Variablen gefunden. Wir können sagen, dass wir Unterschiede zwischen den beiden Gruppen der Befragten auf der Ebene der täglichen spirituellen Erfahrungen gefunden haben. Die erste Frage zur Wahrnehmung der Gegenwart Gottes ergab signifikante Unterschiede in beiden Hauptgruppen. Das Ergebnis des T-Tests ist signifikant -3.78. Somit haben wir herausgefunden, dass es in unserer Auswahl einen signifikanten Unterschied zwischen jenen Roma-Kindern gibt, welche die evangelische Katechese besuchen, und jenen Roma-Kindern, die dies nicht tun. In der Gruppe der Kinder, welche an der Katechese teilnehmen, nahmen wir an, es bestehe eine Korrelation zwischen der Akzeptanz des Lebens als Teil einer größeren spirituellen Kraft (Frage Nr. 17) und einer freundlichen Kooperation mit Gott (Frage Nr. 18 – »Ich arbeite mit Gott als Partner zusammen«). In diesem Fall haben wir herausgefunden, dass unter unseren ausgewählten Variablen eine Korrelation besteht. Ergebnisse unserer Selektion haben gezeigt, dass Kinder, welche daran glauben, dass Gott ihr Leben leitet, auch zur selben Zeit mit Gott wie mit einem Freund sprechen können. Persönliche Kommunikation mit Gott ist ein wichtiger Teil der Internalisierung der Religiosität. Im Sinne dieser Auswahl wurde herausgefunden, dass der Glaube an Gott mit prosozialen Gefühlen korreliert, welche durch Bemühungen erklärt werden, alles Mögliche zu tun, damit die Menschen

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weniger leiden und es ihnen besser geht. Ein höheres Maß an Verbindung haben wir in der Gruppe der Befragten gefunden, welche an der Katechese teilnehmen. Zwischen dem Glauben an Gott und Selbstvergebung fanden wir eine durchschnittliche wechselseitige Beziehung in der Gruppe jener Roma-Kinder, welche an der evangelischen Katechese teilnehmen. Es gab jedoch keine Hinweise auf eine Beziehung zwischen dem Glauben an Gott und Vergebung bei denjenigen, welche mich verletzten. Bei der Interpretation einer negativen Beziehung wäre es nicht richtig, sich auf das junge Alter der ausgewählten Gruppen von Kindern herauszureden. Wir schließen daraus, dass, selbst wenn wir das Niveau der kognitiven Entwicklung akzeptieren, die Vergebungsbereitschaft der ausgewählten Roma-Kinder niedriger ist als erwartet. Wir fanden jedoch eine Verbindung zwischen dem Wert der Vergebung bei anderen und dem Wissen über Gottes Vergebung (»Ich weiß, dass Gott mir vergibt«). Solche Kinder haben ihre Bereitschaft bestätigt, anderen zu helfen, aber nicht die, anderen zu vergeben. Diese Ergebnisse wurden unserer Meinung nach von verschiedenen Faktoren beeinflusst, welche auf eine niedrigere Ebene des sozialen Gewissens und der sozialen Entwicklung verweisen. Auch mögen sie durch das Verständnis von Beziehungen beeinflusst sein, wie es von Eltern oder von Lehrern der Katechese vermittelt wurde.

4.2 Diskussion Moralische Minderwertigkeit und Unterwürfigkeit im geistigen Bereich können gemäß der Stufen der religiösen Entwick-

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Pädagogische Anregungen

lung reflektiert werden. Erikson stellte fest, dass sowohl der Glaube der Eltern als auch das Fehlen desselben einen signifikanten Einfluss auf ihre Kinder hat. Die Konstruktion und Validierung von Werten hilft gemäß seinen Forschungsergebnissen der größeren Gemeinschaft.14 Laut D. Elkind definieren Kinder im Alter von sieben bis neun Jahren Religion gemäß bestimmten Verhaltensweisen von Menschen (Entwicklungsstadium »bestimmte Ideen«).15 Die Frühreife bestimmter Personen führte R. Goldman auf den religiösen Background zurück (speziell Familie und institutionelle religiöse Bildung).16 J.W. Fowler entfaltete Phasen des Glaubens (Religion), definiert als eine Möglichkeit des Wissens, geteilte Werte und Machtzentren, die im menschlichen Leben wirken.17 Den zentralen Wert bestimmte Fowler als transzendente Macht, die über uns hinausgeht, und die ist im Christentum Gott.18 C. Stonehouse bestimmte im Werk von Fowler das dimensionale Konzept des Glaubens als Vertragsverhältnis, welches zu Vertrauen zwischen Gott, dem Einzelnen und zwischen anderen Menschen verpflichtet.19 Die an Religion teilnehmenden Kinder in unserer Studie bekannten die Existenz einer persönlichen Beziehung zu Gott. In ihrer Forschung fand Stonehouse bei den Kindern eine aktive Spiritualität, die Fähigkeit, ihr Verständnis von Gott zu bilden, ihn als Person wahrzunehmen, mit der sie Kontakt aufnehmen und eine Beziehung pflegen können.20 Unsere Studie fand in der Gruppe von Kindern, welche am Religionsunterricht teilnehmen, ein höheres Maß an Gefühl der Nähe zu Gott und den Wunsch nach einer engeren Beziehung zu Jesus Christus.

Die Ergebnisse zeigen einen signifikanten Zusammenhang: Wenn der Einzelne versucht, sich selbst zu vergeben, wird dies auf das Wissen von Gottes Vergebung bezogen (welches unter Umständen dem Einfluss der Katechese zu verdanken ist). Die engste Beziehung, die ich mir vorstellen kann, ist eine positive Korrelation zwischen dem Wunsch, Gott die Kontrolle über das persönliche Leben zu überlassen, und der Erfahrung einer freundschaftlichen Kommunikation mit Gott (dies in der Gruppe von Roma-Kindern, die evangelische Katechese besuchen).

Die erklärte Religiosität in unserer Gruppe der Roma-Kinder korreliert tatsächlich mit religiösem Verhalten. Die konfirmatorischen Faktorenanalysen brachten interessante Ergebnisse. Bei den an der Katechese Teilnehmenden wurde ein einziger Faktor gefunden, den wir verinnerlichte Religiosität nannten. Bei den nicht an der Katechese Teilnehmenden überlappen sich die Items zu verinnerlichter und äußerlicher Religiosität auf einem 14 Stonehouse, C., Joining Children on the Spiritual Journey, Michigan 1998, 66. 15 Hanesová, D. Komunikácia evanjelia v kontexte ontogenézy človeka. In: Transformácia Kristovej moci na človeka a spoločnost’. Zborník z vedecko-výskumnej úlohy a teologickej konferencie, Banská Bystrica 2005, 60–81; 63. 16 Grom, B., Nábožensko-pedagogická psychológia, Trnava 1992, 110–111. 17 Křivohlavý, J., Psychologie smysluplnosti existence, Praha 2006, 147. 18 Fowler, J.W., Weaving the New Creation: Stages of Faith and Public Church, New York, 101. 19 Stonehouse, C., Joining Children on the Spiritual Journey, 149. 20 Ebd., 133.

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eigenständigen Faktor. Allgemein können wir sagen, dass bei einem höheren Level des Gottesglaubens bei unseren Kindern positive Anzeichen der verinnerlichten Religiosität überwiegen. Wir stellten fest, dass jene Probanden, die bezüglich der Zuversicht, ihr Leben werde von Gott gesteuert, eine hohe Punktezahl aufwiesen, dazu neigten, offen für eine persönliche Kommunikation mit dem Transzendenten zu sein und die Beziehung zu Gott als eher freundlich wahrzunehmen. Darüber hinaus: Jene Kinder, die behaupten, dass sie anderen verzeihen und auch sich selbst die schlechten Dinge vergeben können, die sie taten, haben einen ausgeprägt starken Glauben an Gott (der Grad der verinnerlichten Religiosität). In der Religionspsychologie herangezogen wurden auch die großen fünf Faktoren der Persönlichkeit (»Big Five«: Neurotizismus, Extraversion, Offenheit, Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit). Mittels des entsprechenden Inventars (NEO) der Autoren P.T. Costa und R.R. McCrae wurden bei religiösen Personen hohe prosoziale Gefühle sowie hohe Werte in den Dimensionen Freundlichkeit/Güte und Gewissenhaftigkeit nachgewiesen. Ähnliche Ergebnisse erbrachte R.B. Koseks Fragebogen »Schwedische religiöse Orientierungsskala«, die auch in der slowakischen Republik verwendet wird. Auch V. Saroglou fand einen signifikanten Zusammenhang zwischen Religiosität, Freundlichkeit und Gewissenhaftigkeit.21 Bezüglich des Verhältnisses von Religion und subjektivem Wohlbefinden haben Meadow und Kahoe festgestellt, dass die Dimensionen von Religiosität-Orthodoxie positiv mit den Gefühlen Liebe und Glück korrelieren, negativ hingegen mit Hass.22 Diese Befunde entsprechen unseren Ergebnissen. Auch wir

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registrierten einen engen Zusammenhang zwischen dem Glauben an Gott und der Bereitschaft, alles Mögliche zu tun, damit Menschen weniger leiden müssen und es ihnen besser geht. Laut C. Wales ist der Abschnitt der autoritär-moralischen Religiosität (vom 7. bis 12. Jahr der Kindheit) gekennzeichnet von der Abhängigkeit von der Autorität der Eltern. Im Kontakt mit Gott zeigen Kinder zwei widersprüchliche Tendenzen: Angst und Freude.23

4.3 Praktische Implikationen für die Forschung Aus einer konzeptionellen Sicht wurde eine Dimension der Religiosität erhellt, die selbst eine Quelle interindividueller Unterschiede ist. Wir untersuchten die Beziehungen zwischen mehreren Variablen der Religiosität von Roma-Kindern. Im Folgenden einige Ergebnisse, die zu interkultureller Forschung der Religiosität beitragen können. Das Kurze Mehrdimensionale Messinstrument von Religiosität/Spiritualität können wir als perspektivisches Instrument betrachten, um das Gottesbild von Kindern zu messen. Für künftige Anwendungen wäre es angebracht, in unseren Bedingungen solche Items, die nicht explizit genug sind, zu ändern. Dies erfordert jedoch weitere Forschung. 21 Adamová, L. Náboženský fundamentalizmus z pohl’adu osobnostných a kognitívnych charakteristík. In Halama, P.; Adamovová, L.; Hatoková, M.; Stríženec, M. Religiozita, spiritualita a osobnost’. Vybrané kapitoly z psychológie náboženstva, Bratislava 2006, 69. 22 Ebd., 96. 23 Stríženec, M. Psychológia náboženstva, Bratislava 1996, 58.

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Pädagogische Anregungen

Für praktische Belange kann die Studie nützlich sein, weil sie eine fehlende Korrelation im affektiven Bereich der Religiosität bei Kindern aufdeckte, die eine religiöse Unterweisung besuchten, eine geringe Korrelation zwischen dem Gefühl der Nähe zu Gott (»Ich fühle Gottes Gegenwart«) und auch der Freude des Glaubens an Jesus. Ebenso wurde kein Zusammenhang zwischen dem Glauben der Kinder an die Nähe Gottes (»Ich glaube an einen Gott, der über mir wacht«) gefunden, und der Bereitschaft, jenen, die ihnen Unrecht zufügten, zu verzeihen (»Ich habe jenen vergeben, die mich verletzt haben«). Wir glauben, dass diese Teilergebnisse Leitlinien für die katechetische Arbeit der evangelischen Kirchen in Roma-Gemeinschaften in der Slowakei darstellen können. Die besondere Bedeutung der Forschungsergebnisse können wir darin sehen, bei der Erstellung von Dokumenten für die Katechese evangelischer Kirchen Hilfestellungen zu geben. Die Zusammenstellung von Materialien für die Katechese aller Altersklassen, welche wichtig sind für die »religiöse Erziehung« in den Schulen, sollte sich auf die Besonderheiten der Katechese der Roma-Kinder konzentrieren. Die Ergebnisse sollten in der erzieherischen katechetischen Praxis angewendet werden. Die praktische Bedeutung der Ergebnisse können wir in ihren zukünftigen Anwendungen in der Vorbereitung der Katecheten sehen. Wir glauben, dass unsere Ergebnisse ermutigen können, die Effizienz des Anbietens von religiösen Inhalten und christlichen Werten im Entwicklungsprozess der Religiosität der Roma-Kinder zu reflektieren. Inhalt des Religionsunterrichts ist es, Beziehungen zu sich selbst und auch zu

anderen Menschen zu stiften. Katechese von Roma-Kindern kann zum Ziel haben, Respekt füreinander zu entwickeln. Die Aufgabe religiöser Erziehung ist es, Werte zu präsentieren, je nachdem, auf welchem Level das Kind ist, kognitiv, emotional und sozial. Ergebnisse unserer Forschung, auf die wir hinweisen: • Zielen Sie im Prozess der Katechese von Roma-Kindern die Ebene der verinnerlichten Religiosität und der persönlichen Beziehung zu Gott an. • Achten Sie auf die Besonderheiten der Katechese von Roma-Kindern, um die interkulturelle Kommunikation in der Katechese zu verbessern. • Spiegeln Sie die Besonderheiten der geistigen Welt und die Religiosität der Roma in der Katechese wider. • Motivieren Sie die Eltern der RomaKinder, bei der religiösen Ausbildung zu kooperieren. • Nutzen Sie die Kenntnisse der spezifischen Religiosität der Roma-Kinder in der Ausbildung von Missionaren und Katecheten.

5. Schluss Gemäß Oser sieht das Kind während des schulpflichtigen Alters Gott als einen, der sein eigenes Wachsen und die Entwicklung der Welt direkt determiniert. Seine primären religiösen Meinungen stammen von den Erfahrungen in der Familie. Grom lenkt die Aufmerksamkeit auf die affektiv übertragenen Trends, die religiöse Entwicklung gefährden können.24 Im Prozess der religiösen Erziehung lernt das Individuum Verhaltensnormen, 24 Stríženec, M., Psychológia náboženstva, 54.

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Šoltésová Die Religiosität der Romakinder in der Slowakei

welche nicht nur das religiöse Handeln substanziell regulieren, sondern auch das soziale. Die Familie spielt eine entscheidende Bedeutung in der religiösen Sozialisation. Und Religion hat eine wichtige Rolle in der Entwicklung tief religiöser Einstellungen des Kindes. Deren Entwicklung ist abhängig von der Balance von Wissen, der Anbetung Gottes und dem Aufbau der emotionalen Beziehung mit Gott.25 Wie W.W. Adams schreibt, ist es in der Kinderbetreuung notwendig, unsere eigenen Erfahrungen mit Gott offen zu legen und diese authentisch auszudrücken.26 H. Helve fand in Längsschnittstudien der Kind-Religiosität eine signifikante Abhängigkeit der Höhe der Religiosität von den Sozialisationsfaktoren, die in der Familie vor allem in der Initialphase wirken.27 Die mangelnde Fokussierung auf Gott in der Familie kann die religiöse Entwicklung des Kindes unterbinden. Die Verantwortung für religiöse Erziehung wird dann an Kirche und Schule delegiert.28 Entwicklung der kindlichen Religiosität ist das Hauptziel von religiöser Erziehung, welches bestimmt wird durch das Wissen von Gott und die Entwicklung einer emotionalen Beziehung des Kindes mit Gott. Die Vorstellung der Roma-Kinder von Gott basiert auf spezifischen Ideen. Kinder beteuern, Gott nicht zu fürchten. Ihre Idee von Gott ist, er sei wie eine gute Person. Kinder sagen, dass sie sich wünschen, Jesus zu sehen und ihn in der Roma-Sprache nach der Offenbarung seiner Person zu fragen. Von Gott sagen sie, er sei unsichtbar, ein Geist. Sie haben spezifische Vorstellungen von Gott als »einem Mann, welcher groß sein muss und große Hände haben muss und Augen, mit denen er die ganze Welt sehen kann«.

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Wir konzentrierten uns auf die Überprüfung der Items zu verinnerlichter Religiosität und auf andere Werte (wie Vergebung, Hilfsbereitschaft), die an der kleineren Gruppe der Befragten gemessen wurden. Das Kurze Mehrdimensionale Instrument von Religiosität/Spiritualität hat einige Erscheinungsformen von Religiosität gemessen, aber auch andere Werte, die die Wertorientierung bilden. Die Methodologie erscheint uns als aussichtsreich für Forschungsarbeit von Katecheten und Theologiestudenten. In unserer Forschung haben wir uns auf die Religiosität der Roma-Kinder konzentriert. Wir waren außerdem an ihren täglichen spirituellen Erfahrungen interessiert, ihrem Bild von Gott und wie sie die Beziehung zu Jesus Christus erleben. Wir fanden eine Verbindung von Religiosität und sozial ausgerichteten Werten. Im polnischen Kontext, der der slowakischen Religiosität ähnlich ist, untersuchte R. Kosek das Verhältnis von Religiosität und dem Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit. Er fand, dass verinnerlichte Religiosität in einer positiven Beziehung zu Freundlichkeit/Güte und der Gewissenhaftigkeit steht.29 Laut manchen Autoren 25 Hatoková, M. Koncept osobného Boha. In: Viera a život. Časopis pre krest’anskú orientáciu, Vol. XVI., 2006, No. 1, 48–64; 133–134. 26 Říčan, P.; Kocourková, J. Základ spirituality ve vztazích raného dětství: psychoanalytická perspektiva. In: Československá psychologie, Vol. 52, 2008, No. 1, 90–100, 98. 27 Zelman, J. Piate sympózium psychológie náboženstva v Belgicku. In: Československá psychologie, Vol. 36, 1992, No. 2, 160–162; 161. 28 Suríková, M. Słomińska, J. Náboženská výchova v trnavských rodinách. In: Sociológia. Slovak Sociological Review: časopis pre otázky sociológie, Vol. 33, 2001, No. 1, 85–98. 29 Adamovová, L. Náboženský fundamentalizmus …, 76.

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werden spirituell Gleichgesinnte als prosozialer betrachtet (Korrelation mit der Dimension Freundlichkeit/Güte). Diese Ergebnisse entsprechen zum Teil der von uns beobachteten positiven Korrelation zwischen Glauben an Gott und prosozialem Gefühl (»Ich fühle eine tiefe Verntwortung für die Verringerung von Schmerz und Leid in der Welt«). Offenheit für Erfahrungen spiegelt sich bei spirituell orientierten Menschen auch in der Erfahrung der Beziehung mit Gott wider. Die Existenz einer persönlichen Beziehung zu Gott verweist in unserer Studie auf Kinder mit Religionsunterricht. Stonehouse entdeckte in ihren Forschungen eine aktive Spiritualität von Kindern, ihre Fähigkeit, ein Verständnis von Gott zu bilden und ihn als eine Person zu erkennen, mit der du Kontakt und eine Beziehung haben kannst.30 Unsere Forschung fand in der Gruppe von RomaKindern, welche Erfahrungen mit religiöser Erziehung in der Kirche haben, einen höheren Grad an Gottesnähe und einen stärkeren Wunsch für eine innigere Beziehung mit ihm. Wir fanden, dass jene Kinder, welche mit hoher Gewissheit glauben, Gott steuere ihr Leben, eher zu einer offenen persönlichen Kommunikation mit ihm neigen. Darüber hinaus: Kinder, die sich darin sehr sicher sind, die »krummen Dinge« selbst vergeben zu haben, weisen in unserer Gruppe einen höheren Grad an Gottesglauben auf (verinnerlichte Religiosität). Die Resultate zeigen eine signifikante Assoziation zwischen dem Versuch des Kindes, selbst zu vergeben, und

dem Bewusstsein von Gottes Vergebung, das durch den Einfluss von Katechese geformt werden kann. Deklarierte Religiosität in unserer Gruppe korreliert in der Tat mit religiösem Verhalten. Roma-Kinder mit einem höheren Grad an Glauben an Gott zeigen positive Indikatoren für verinnerlichte Religiosität. Während der Forschungsarbeit erhielten wir mehr Wissen über das komplexe Thema Religiosität in der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes. Die Ergebnisse möchten wir verwenden, um neue Ziele in der religiösen Erziehung von Roma-Kindern zu formulieren. Unabdingbar ist die Notwendigkeit, für die Katechese von Roma-Kindern Unterrichtsmaterial bereitzustellen. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie haben Auswirkungen auf religiöses Verhalten und Erziehung. Es gibt die Möglichkeit, dieselben Items mit anderen abhängigen Variablen zu testen. Die gleichen Instrumente in anderen Gruppen von Befragten einzusetzen würde die Validierung der aktuellen Ergebnisse ermöglichen und unser Verständnis der Beziehungen zwischen religiösen Vorstellungen, Einstellungen und Glaubensüberzeugungen erhöhen. Zukünftige Forschung wird auch benötigt, um weitere Bereiche des Glaubens und der Gotteskonzepte von RomaKindern in der Slowakei zu untersuchen.

30 Ebd., 133.

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Jana Simon Bericht über die Aufführung des Singspiels »Diese Erde ist dein Garten«

Die Schönheit und Vielfalt der Schöpfung, das Wunder ihres Werdens und Bestehens, das faszinierende Geheimnis des Zusammenlebens von Pflanzen, Tieren und Menschen, aber auch die Gefährdung und Verwundbarkeit unserer Erde waren Thema des einzigartigen Singspiels »Diese Erde ist dein Garten«. Die Aufführung des Singspiels »Diese Erde ist dein Garten« (von dem anwesenden Autor Dieter Stork [Bild rechts unten] und Matthias Nagel) am 11. März 2011 war kein Krimi, aber spannend war es allemal. Vor der Paul-Gerhardt-Kirche zu Leipzig-Connewitz herrschte reges Treiben, schon lange vor Beginn der Aufführung. In der Kirche spürten alle die knisternde Spannung: eine Mischung aus gespannt (was die Gäste betraf) und angespannt sein (was die Aufführenden betraf). Das Singspiel wurde gemeinsam von allen 81 Schülerinnen und Schülern der Förderschule Werner Vogel, dem Chor des Wilhelm-Ostwald-Gymnasiums, einem Kunstkurs des ImmanuelKant-Gymnasiums und Musikern des Gewandhauses zu Leipzig und der Musikalischen Komödie aufgeführt. Am 17. September 2010 wurde in der Aula des Wilhelm-Ostwald-Gymnasiums das Integrativprojekt feierlich eröffnet. Von diesem Tage an probten und bastelten, bauten und sangen die Schülerinnen und Schüler zusammen in vielen gemein-

sam verlebten Stunden, um ihren großen Auftritt akribisch vorzubereiten. Am 7. März 2011 standen dann fast alle Mitwirkenden zum ersten Mal zusammen auf der »Bühne« – im noch kalten Altarraum der Kirche. Die Reihe von Jungen und Mädchen reichte von einem Ende des Raumes zum anderen. Die Leiterin des Projekts, Anne Chachaj-Steinborn, konnte sich zu diesem Zeitpunkt schon sehr daran erfreuen, wie selbstverständlich und sicher die Kinder und Jugendlichen aus den drei Schulen miteinander umgingen. Auf der Chortreppe standen Gymnasiasten mit gleichaltrigen Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung und sangen »Wir wollen aufsteh’n, aufeinander zugeh’n«. Auch ein Rollstuhl stellte keinen Hinderungsgrund für den Auftritt dar: Der junge Mann wurde mit vereinten Kräften einfach auf die Bühne gehoben. Das Lied symbolisierte zugleich

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den Antrieb und die Motivation, die hinter dem Projekt standen. »Ich finde es sehr schön, dass man die Kinder hier besser verstehen lernen und sich für sie einsetzen kann«, sagte Maja vom KantGymnasium und Nina vom OstwaldGymnasium fand das Projekt toll, »weil man sieht, wie Kinder zusammenhalten, wenn sie etwas gemeinsam erreichen wollen«. Jenny, einer Schülerin der WernerVogel-Schule, war es wichtig, dass sie das Projekt mitgestalten durfte. Eine ganze Woche lang wurde gemeinsam musiziert und geprobt, bis das Lampenfieber am Freitag für die öffentliche Generalprobe ins Unermessliche stieg. Und spätestens hier war es vorbei mit der »Kälte«, alle waren Feuer und Flamme für ihren Auftritt. Und dabei war es wirklich unwichtig, ob jung oder alt, Laie oder Professioneller, mit oder ohne Behinderung – niemand wollte etwas dem Zufall überlassen und alle waren auf den Punkt konzentriert und mit dem Herzen dabei. Die Generalprobe wurde ein voller Erfolg! Die geladenen Gäste, zum größten Teil aus Kindergärten und Schulen, waren so begeistert, dass manche auf die Kirchenbänke kletterten, um besser sehen und lauter applaudieren zu können. Entgegen der alten Musikerweisheit war die gelungene Generalprobe aber kein schlechtes Omen für die eigentliche Aufführung am darauffolgenden Samstag. Vom ersten Ton an sprang der Funke auf das Publikum über, es wurde sofort von der Begeisterung der Aufführenden angesteckt. Manche Lieder regten zum Nachdenken, viele auch zum Mitsingen und

Mittanzen an. Honoriert wurde die beeindruckende Vorstellung mit einem lang anhaltenden Applaus, stehenden Ovationen, mit Tränen der Freude und der Rührung. Die Botschaft des Singspiels, die dem Alten Testament entnommen ist, wurde erleb- und erspürbare Realität. Die Kinder und Jugendlichen haben sich gemeinsam bewegt – und gemeinsam etwas bewegen können – ob nun auf den Kirchenbänken oder in den Köpfen. Bewegt war das Publikum nicht nur von den musikalischen, schauspielerischen und handwerklichen Fähigkeiten der Kinder, sondern auch vom herzlichen und künstlerischen Miteinander. »Diese Erde ist dein Garten«, eine Jede, ein Jeder hat seinen Teil in diesem Garten zu bestellen, dann wird daraus ein: »Diese Erde ist unser Garten!«, und nur gemeinsam, Hand in Hand, so wie es die Kinder präsentierten und vorlebten, können wir den Garten bewirtschaften und für alle nutzbar machen und erhalten. Diese Aufführung kann, ja sollte als Saatkorn verstanden werden, als ehrlicher Appell der Kinder für gelebte Integration, weit über Projekte und einzelne Tage hinaus.

Musik ist die Sprache der Menschlichkeit, wann immer und wo immer sie erklingt. In ihrer Gegenwart sind wir eins. Charlotte Graf

Siehe auch die Buchbesprechung auf S. 208 ff.

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■ Rainer Oberthür: Das Buch der Symbole. Auf Entdeckungsreise durch die Welt der Religion, Kösel Verlag München 2009, 318 Seiten »Alle Dinge, die wir sehen, können wir doppelt anschauen: als Tatsache und als Geheimnis.« (8). Dieser Leitsatz führt uns in eine Sammlung vielzähliger Symbole ein und begleitet die Leser/innen auf Oberthürs Reise durch seine »persönliche Symboldidaktik«. Die (religiöse) Vieldeutigkeit von Symbolen sowie die Faszination an Phänomenen der Naturwissenschaft zeigt dieses Buch durchgehend auf. Den Leser/innen begegnen in zehn Kapiteln, bezeichnet als »Symbollandschaften«, Symbole wie der Himmel, das Wasser, die Hand, die Wüste oder das Brot, der Löwe, aber auch Farb-, Zahlenund Formsymbole sowie im Kapitel: »Wodurch wir zur Sprache kommen« Buch, Musik und Bild, jeweils als Symbol gedeutet. Neben informativen Sachtexten werden Geschichten und Gedichte, Zitate aus der Bibel und der allgemeinen Literatur, Lieder und Bilder angeboten, die den Leser/innen abwechslungsreiche und durchaus anrührende Impulse zur Beschäftigung mit den unterschiedlichen, vermeintlich einfachen Symbolen eröffnen. Unterbrochen wird die Reise durch fünf »Atempausen«-Kapitel. Hier informiert der Autor über Symbolgebrauch und -verständnis des Menschen sowie die soziale und religiöse Relevanz von Sym-

bolen und veranschaulicht diese Zusammenhänge durch kleine Erzählungen. Eine Einführung und »eine Symboldidaktik der anderen Art« (303–314) umschließen das Buch. Zum Adressatenkreis sind hauptsächlich Erwachsene zu zählen, die Symbolen, denen sie in ihrem Leben begegnen, nachgehen und etwas über deren christliche Tradition und Bedeutung erfahren möchten, ebenso auch Eltern und Religionspädagogen/innen, die sich gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen auf eine Entdeckungsreise im Staunen, Fragen und auf die Suche nach Antworten begeben wollen. Nicht immer nachvollziehbar ist der Anspruch an das Buch, »dass es sich gewissermaßen an alle Altersstufen richtet« (304). Oberthür will auch das Interesse von Kindern und Jugendlichen an der christlichen Symbolwelt wecken und möchte ihre großen Fragen und Antworten anregen. Die persönliche Anrede der Leser/innen in DuForm sowie die klare und einfache Syntax erleichtern dies zumindest grundsätzlich und sprechen das »Kind im Erwachsenen« (9) an. Die Dichte der Präsentation und die Textflut der »Symbollandschaften« werden u. E. jedoch vor allem sicher lesende Kinder ab Klasse 5 selbstständig durchdringen. Im abschließenden Kapitel führt der Autor konkrete Umsetzungsimpulse zu einzelnen Symbolen für den schulischen Unterricht an. Viele dieser Methoden lassen sich mit dem Ansatz des

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Theologisierens mit Kindern und Jugendlichen verbinden, darunter Angebote zum kreativen Schreiben, zum darstellenden Spiel und kreativen gestalterischen Arbeiten. Der Aspekt des gemeinsamen Gesprächs, der im Theologisieren einen wesentlichen Teil einnimmt, wird in dem Methodenteil des Buches jedoch deutlich vernachlässigt. Aus kindertheologischer Sicht ist es nun an der Lehrerschaft, einige der Fragen und Impulse, die sich durchaus in den Kapiteln befinden, auszuwählen, weiterzuführen und für eine tiefere Diskussion fruchtbar zu machen. Die »Stell dir vor«-Kapitel sind mehr für das Selbstgespräch angelegt. So beginnt auch das Kapitel zum Symbol »Mond«: »Stell dir vor, unsere Erde müsste ohne den Mond als Begleiter auskommen« (42). Mit einer kleinen Gedankenreise werden die Leser/innen dazu eingeladen, die Welt des Mondes zu erkunden. Sie erzählt von den Anfängen der Erde, von Flut und Ebbe, von der Zeitmessung, aber auch vom »Licht der Nacht«, das uns in der Dunkelheit den Weg leuchtet – so wichtig ist der Mond für das Leben! Nach dieser naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise des Mondes folgt ein kurzer Text, der die biblischtheologische Dimension des Symbols »Mond« darstellt: Der sich in ständiger Veränderung befindende Mond wird zum einen als Symbol für das menschliche Leben mit all seinen Höhen und Tiefen gesehen und zum anderen als Zeichen für die Auferstehung. Weiter symbolisiert das Verhältnis von Sonne und Mond die Beziehung zwischen Gott und den Menschen. Oberthür weist auf den Mond in komplexen biblisch-theologischen Zusammenhängen hin (Gen 1,16 / Ps 72,5 / Offb 12,1). Diese Impulse können als Informations- und Vorbereitungsmaterial

für den Religionsunterricht herangezogen werden, bieten sich jedoch u. E. aufgrund der Dichte und des vorausgesetzten Hintergrundwissens nicht für ein selbstständiges Lesen für Kinder und Jugendliche an. Als Unterrichtsmaterialien für die Auseinandersetzung mit dem Mond finden sich – neben der Gedankenreise – die klassisch, aber deswegen nicht weniger schön ausgewählten Bilder »Flucht nach Ägypten« von Adam Elsheimer und »Leiter zum Mond« von Georgia O’Keeffe. Andere Arbeitsmaterialien sind das Abendlied »Der Mond ist aufgegangen« von Matthias Claudius und das Gedicht »Nachts« von Mascha Kaléko. Den Leser/innen bleibt jetzt die Aufgabe, auf diese Materialsammlung theologisch und mit eigenen Bildern zu antworten. Nicht Freiraum und Fragen, sondern eine Vielzahl von Antwortmöglichkeiten liegen hier vor. Zusammen mit leeren, selbst zu gestaltenden Räumen und Papieren kann man sich das Theologisieren vorstellen. An diesem Beispielkapitel wird ersichtlich, dass das Buch gute Materialien und in Ansätzen gute Gesprächsimpulse für ein Theologisieren von, für und mit Kindern und Jugendlichen bietet. Auffällig ist, dass in keiner Weise auf andere Religionen Bezug genommen wird, die Dimension des interreligiösen Lernens, die wir für den Ansatz Theologisieren mit Kindern für wünschenswert erachten, hier also fehlt. Die Beschäftigung mit dem Symbolcharakter des Mondes würde zum Beispiel im Hinblick auf den Islam, wo dem Mond im Ramadan eine besondere Bedeutung zukommt, eine gute Gelegenheit des interreligiösen Austauschs ermöglichen. Weiterhin stellt sich die Frage, wie die Inhalte aus den »Atempausen« mit Kindern thematisiert werden

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können. Die verschiedenen Sprachebenen von Worten und Bildern, der Wunsch des Menschen zum Sprechen zu kommen, der Verweischarakter von Übergangsobjekten wie den Kuscheltieren der Kinder – aus diesen Themen sollten Impulse für Gespräche mit Kindern entwickelt werden! Das gleiche wäre wünschenswert für symbolkritische Anstöße, die sich in diesem Buch leider nicht finden. Insgesamt macht der Band also Lust, Symboldidaktik und Kindertheologie in Zukunft mehr aufeinander zu beziehen. Die Sprache der Symbole zum einen selbst zu gebrauchen, zum zweiten mit ihr theologisch zu deuten und zum dritten über sie nachzudenken, leuchtet uns nach dem Lesen des Buches ein. Insgesamt verhilft Oberthür tatsächlich dazu, die Dinge doppelt zu sehen. Aufgrund der Konzentration auf staunenswerte naturwissenschaftliche Erkenntnisse und der christlichen Wirkungsgeschichte müssen Horizonte, wie sie ausführlichere Symbollexika liefern, verständlicherweise vernachlässigt werden. Sein weiterer Fokus sind die lebensweltlichen und alltäglichen Bezüge von Leser/innen, sodass das »Buch der Symbole« auch im Bereich des Theologisierens zu empfehlen und anzuwenden, aber noch weiterzuentwickeln ist. Viele der angebotenen Methoden können in einem solchen Rahmen zum Tragen kommen und bieten Möglichkeiten, ein Symbol in seiner Vieldeutigkeit zu erfassen, ihm mit Staunen und Fragen zu begegnen und sich dessen Geheimnisses bewusst zu werden.

Katharina Kammeyer, Gesa Menzel, Veronika Burggraf, Kathrin Hanneken, Nadine Kleinschmidt

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■ Sarah-Lena Eikermann: Weltbilder von Grundschulkindern heute. Eine empirische Studie im Religionsunterricht, LIT-Verlag, Berlin 2012, 176 Seiten In ihrem Werk geht Eikermann der Frage nach, welche Formen von Weltbildern heutzutage bei Grundschulkindern vorherrschen. Dazu hat sie im Rahmen eines qualitativ angelegten Settings eine Studie mit Zweit- und Viertklässlern durchgeführt. Als zentrale Methode findet das theologische Gespräch Verwendung, das durch Zeichnungen und Texte der Schüler/innen im Sinne einer mehrdimensionalen Erkenntnisgewinnung ergänzt wird. Dem empirischen Abschnitt des Buches geht ein umfassender Einführungsteil voraus, der dem Leser die verwendeten Fachtermini erläutert. Neben inhaltlichen Begrifflichkeiten wie »Kindertheologie« und »Weltbild« werden darüber hinaus die zur abschließenden Auswertung herangezogenen Konzepte, u.a. von Piaget und Reich et al., beleuchtet. Die grundlegende Annahme der Studie – dass bereits Kinder eigene Weltbilder entwickeln – orientiert sich an der Charakteristik der Kindertheologie, nach welcher die Schüler/innen als Subjekte betrachtet und ihre eigenen Vorstellungen in den Fokus gerückt werden. Das Anliegen der Untersuchung wird folglich insofern gerechtfertigt, als gerade für Religionslehrer/innen das Wissen um die vorhandenen Weltbilder bei Kindern von Bedeutung ist. Unterteilt ist das Buch in fünf Kapitel: 1. Einleitung – 2. Wissenschaftlicher Überblick – 3. Forschungsansatz und grundlegende Methodik – 4. Ergebnisdarstellung und -auswertung – 5. Fazit.

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Der wissenschaftliche Überblick als einführender Abschnitt zeigt umfassend die bisherigen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Weltbildforschung – im naturwissenschaftlichen und (kinder-)theologischen Sinne – auf und erläutert die wichtigen Begrifflichkeiten. Dabei kommen zahlreiche grundlegende Aspekte zur Sprache, sodass auch Leser/innen, die mit der Materie nicht vertraut sind, ohne Schwierigkeiten in die Thematik einsteigen können. Als terminologische Abgrenzung erfolgt zunächst die Definition der Begriffe »Weltbild« und »Weltbildentwicklung«. Das Weltbild gilt dabei als Vorstellung bzw. Auffassung der Wirklichkeit, die sich in den vergangenen Jahrtausenden unterschiedlich ausgedrückt hat. Vom Weltbild der Babylonier um 1500 vor Christus, die die Erde als von Gott geschaffene Scheibe begriffen, bis hin zum modernen, galaktischen Weltbild, dem naturwissenschaftliche Erkenntnisse aus der Astronomie zugrunde liegen, liefert die Autorin eine geschichtliche Abfolge verschiedener Ansätze. Die Veränderung der Weltbilder sowohl im geschichtlichen als auch im individuellen Sinne wird durch den Begriff der »Weltbildentwicklung« ausgedrückt. Im Folgenden führt die Autorin naturwissenschaftliche und theologische Erklärungen zur Entstehung der Welt auf und widmet sich daraufhin der brisanten Frage, wie die Koexistenz dieser vermeintlich konträren Entwürfe zu rechtfertigen ist. Dazu werden vier Modelle von Barbour genannt, die die unterschiedlichen Möglichkeiten zur Begegnung von Theologie und Naturwissenschaft herausstellen. Anschließend überträgt die Autorin das Problem auf die Perspektive der Kin-

der und führt die Erkenntnisse mehrerer Studien auf. Eine besondere Bedeutung wird den Einsichten von Piaget und Reich et al. beigemessen, die Eikermann im weiteren Verlauf für die Auswertung ihrer eigenen Forschungen heranzieht. Der wissenschaftliche Einführungsteil schließt mit einer Untersuchung des Begriffs »Kindertheologie«. Eikermann macht dabei deutlich, dass bislang keine einheitliche Definition existiert und auch der Begriff »Theologie« per se unterschiedlich aufgefasst werden kann. Als zentrale Methode der Kindertheologie stellt die Autorin das theologische Gespräch vor. Im nächsten Abschnitt der Arbeit werden die empirischen Rahmenbedingungen sowie die strukturellen Entscheidungen der eigenen Studie erläutert. Die Autorin verortet das Forschungsvorhaben im Bereich der qualitativen Sozialforschung und bedient sich entsprechender Methoden. Im Vordergrund steht dabei die Gruppendiskussion, die als Möglichkeit zur Anbahnung von theologischen Gesprächen eingesetzt wird. Hinzu kommen Produkte von Kindern – in der vorliegenden Studie sind das Texte und Zeichnungen. Als Impuls für die Schüler/innen hat Eikermann die Erzählung »Gelb und Rosa« von William Steig ausgewählt, in der zwei Holzfiguren darüber diskutieren, ob sie bewusst hergestellt wurden oder aus Zufall entstanden sind. Durchgeführt hat die Autorin ihre Studie in vier Gruppen mit je sechs Schüler/innen. Zwei der Gruppen entstammen dabei der zweiten, die anderen beiden der vierten Jahrgangsstufe. Das Geschlechterverhältnis ist ausgeglichen. Für die Ergebnisdarstellung und -auswertung hat die Autorin für die beiden

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Jahrgangsstufen jeweils vier Weltbildtypen ausgehend von den mündlichen und schriftlichen Schüleräußerungen entwickelt, die im einzelnen tiefer gehend entfaltet werden. Zur Kategorisierung hat Eikermann die Einstufungen von Piaget und die Weltbildformen Reichs et al. einbezogen. Zwei Erkenntnisse sind von zentraler Bedeutung: Zum einen konnte die Autorin belegen, dass die Kinder in der Lage sind, komplexe Überlegungen zur Entstehung der Welt anzustellen. In ihrem Fazit verweist sie daher treffend auf den Ansatz der Kindertheologie, nach welchem Schüler/innen zu gewichtigen Fragen eigene Vorstellungen entwickeln können. Beinah alle Aussagen wurden durch die Klassifizierungen Piagets und Reichs et al. erfasst. Zum anderen konnte eine altersbezogene Entwicklung beobachtet werden: Hiernach spielt Gott in den Erklärungen zur Weltentstehung bei den Viertklässlern eine weniger große Rolle als in denen der Zweitklässler. Insgesamt hat Eikermann jedoch ein »hybrides Weltbild«, das theologische wie auch naturalistische Ursachen vereint, als häufigste Erscheinung festmachen können. Mit der Frage nach den »Weltbildern von Grundschulkindern heute« hat sich die Autorin an ein vieldiskutiertes Themengebiet gewagt. Eikermann konnte dabei zeigen, dass nicht nur Kreationismus- und Evolutionstheoretiker zum Debattieren befähigt sind, sondern auch bei Kindern bereits komplexe Ansichten vorherrschen. Durch die umfassenden elementaren Erläuterungen ist das Buch insbesondere Studierenden aus dem Bereich der Religionspädagogik, die möglicherweise auch eigene Forschungsinteressen verfolgen, als einführende Literatur zu empfehlen. Sebastian Hamel

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■ Delia Freudenreich: Spiritualität von Kindern. Was sie ausmacht und wie sie pädagogisch gefördert werden kann. Forschungsbericht über die psychologische und pädagogische Diskussion im anglophonen Raum, Kassel university press, Kassel 2011, 392 Seiten. Der Spiritualitätsbegriff ist sehr aktuell. Er besitzt nicht nur für die Theologie – hier besonders für die Religionspädagogik – eine große Relevanz, sondern auch für die Psychologie, die Pädagogik und die Religionswissenschaft. In ihrer Dissertation arbeitet Delia Freudenreich die Diskussion auf, die im anglophonen Raum über den Begriff Spiritualität vorliegt. Besonders in Großbritannien wird »seit mehr als zwanzig Jahren eine breite und intensive Debatte über die spirituelle Entwicklung und Erziehung von Kindern« geführt (S. 5). Dabei werden unterschiedliche Ansätze zum Verständnis dieses Begriffes aufgenommen. Es wird deutlich, dass der Versuch der exakten Eingrenzung dieses Begriffes durch rein wissenschaftliche Kategorien zu kurz greift. Die Dissertation von Delia Freudenreich stellt einen ersten wichtigen Schritt für die deutsche Religionspädagogik dar, die englische Diskussion um die Spiritualität der Kinder zu rezipieren. Sie füllt so ein Defizit im deutschen Forschungsfeld aus. Sie macht dem Leser / der Leserin durch die übersichtliche Form und ihren gut lesbaren Stil zahlreiche theoretische und praktische Ansätze zugänglich. Vor allem präsentiert sie Forschungsergebnisse aus Großbritannien und bezieht relevante australische und amerikanische Forschungen mit ein.

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Das Buch verfolgt zwei Forschungsziele: Zum einen die Darstellung begrifflich-theoretischer Ergebnisse zur ontologischen Frage über das Sein der kindlichen Spiritualität. Dazu werden ausgewählte theoretische Ansätze und empirische Studien umfassend dargestellt, analysiert und aufeinander bezogen. Zum anderen wird ein pädagogischpsychologisches Ziel verfolgt. Dies geschieht, indem Möglichkeiten der Begleitung von Kindern in Bezug auf ihre psychische Entwicklung und ihre spirituellen Fähigkeiten vorgestellt werden (S. 17). Das Buch enthält eine von Norbert Mette verfasste Einleitung, ein Vorwort, insgesamt vierzehn Kapitel und ein kurzes Nachwort der Verfasserin. Das Buch enthält drei miteinander verbundene Ebenen. Sehr umfassend stellt Delia Freudenreich zunächst ein Forschungsprojekt zur Spiritualität von Kindern vor, welches in den Jahren 1994–1997 von David Hay und Rebecca Nye an der Universität Nottingham durchgeführt worden ist (S. 19–94). Im zweiten Kapitel dann arbeitet sie den gedanklichen, geschichtlichen und pädagogischen Hintergrund der Diskussion über die Spiritualität von Kindern in Großbritannien auf (S. 95–130). In der umfassendsten dritten Einheit stellt sie verschiedene Ansätze zum erforschten Thema vor, wobei auch ein zusammenfassender Überblick angeboten wird (S. 131–144) und die Hauptgedanken aus den ausgewählten theoretischen Spiritualitätsmodellen (4.–10. Kapitel, S. 145–307) und empirischen Ansätzen zum Thema (11.-14. Kapitel, S. 308–376) reflektiert werden. Es kann nach dem Durchlesen des ersten Kapitels gefragt werden, warum sich die Verfasserin so umfassend mit der Reflexion des Forschungsprojektes von

Rebecca Nye und David Hay befasst und diesem insgesamt 75 Seiten ihres Textes widmet. Es wird dann später beim Lesen aber deutlich, dass sich Delia Freudenreich kontinuierlich auf Nyes und Hays Forschungsergebnisse bezieht und sie mit anderen Ansätzen vergleicht. Die Besonderheit dieses Projektes steckt für Delia Freudenreich in der Verbindung von zwei Aspekten: einerseits in dem Bewahren der Individualität der Kinder, andererseits aber gleichzeitig auch in dem Versuch, eine allgemeine Definition kindlicher Spiritualität herauszuarbeiten (S. 16). Sie arbeitet heraus, dass in den von Nye und Hay geleisteten Vorarbeiten zu diesem empirischen Projekt versucht wird, den Kindern »mehr als gerecht zu werden« (S. 36). Der Religionsbegriff wird geweitet und entwicklungspsychologisch fundierte Hypothesen zur kindlichen Spiritualität werden entwickelt (S. 29 ff, 36 ff). Über Nyes empirische Methode schreibt Delia Freudenreich: »sie wollte die Kinder unverfälscht zur Sprache kommen lassen« (S. 54). Dies geschah in den Interviews mit Kindern im Alter von 6–7 und 10–11 Jahren (S. 56). Es zeigten sich, so summiert Freudenreich, drei Arten von relevanten Kinderaussagen: a) explizit religiöse Aussagen, b) implizit spirituelle Aussagen und c) Aussagen, die sich in beiläufigen Gesprächen ergaben (vgl. S. 59). Die Verfasserin stellt die umfangreichen Analyseschritte vor, die Rebecca Nye bei der Auswertung der Interviews vorgenommen hat, und widmet sich dann eingehend dem Ergebnis dieses empirischen Forschungsprojektes. Die bei diesem Projekt erarbeitete grundlegende Kategorie der kindlichen Spiritualität stellt ein intensives Beziehungsbewusstsein (relational consciousness) der Kinder dar. Dieses Bewusstsein ist geprägt durch eine beein-

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druckende reflexive Fähigkeit der noch im konkret operationalen Stadium verhafteten Kinder (S. 83 f). Im zweiten Kapitel (S. 95–130) stellt Delia Freudenreich die Durchsetzung des universalistisch- naturalistischen Verständnisses von Spiritualität in der fächerübergreifenden Diskussion um die Förderung der Spiritualität der Kinder an den Schulen in Großbritannien dar. Sie schildert deren geschichtliche Entwicklung anhand der wichtigsten staatlichen Dokumente. Diese sind: a) das Erziehungsgesetz von 1944 (S. 96 f), b) das Schulgesetz von 1988 (S. 102 f) und c) zwei weitere Schlüsseldokumente, die von einflussreichen Gremien entwickelt worden sind (OFSTED – Office for Standards in Education und NCC – National Curriculum Council) (S. 106 f). Die Verfasserin geht darüber hinaus auch auf die Entwicklung des Religionsunterrichtes in Großbritannien und seine Verknüpfung mit der spirituellen Förderung der Schülerinnen und Schüler ein. Sie befasst sich u.a. auch mit den Gedanken des Religionspädagogen John Hull, der maßgeblich an der Entwicklung des multireligiösen Religionsunterrichtes beteiligt war und hervorhebt, in welchem Sinne der englische Religionsunterricht als säkular zu verstehen ist. (S. 128). Die dritte Einheit des Buches enthält ausgewählte theoretische (David Hay, Clive und Jane Erricker, Andrew Wright, Geoff Taggart, Jaqueline Watson, John Hull, Jerome Berryman) und empirische Einzelansätze (The Children and Worldview Project, Brendan Hyde, Tobin Hart), die in ihren Hauptlinien vorgestellt und miteinander verglichen werden. Manche Ansätze beinhalten ähnliche theoretische Gedankenmodelle, doch die Mehrheit präsentiert sehr spezifische

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Ideen. Deshalb ist es kaum möglich, alle diese – meines Erachtens nach – sehr interessanten und wichtigen Gedankenmodellen in Kürze vorzustellen. Insgesamt ist es für die Verfasserin bei der Suche nach dem Wesen der Spiritualität von Kindern wichtig, zu diskutieren, ob Spiritualität oder Religiosität die übergeordnete Kategorie darstellt. Bei Ansätzen, die Spiritualität als die übergeordnete Kategorie auffassen, spielen die Begriffe Inklusivität, Universalität, Spiritualität aller Menschen (David Hay, Sue Phillips, Clive Erricker, Jaqueline Watson, Brendan Hyde) eine große Rolle. Falls die Religiosität Hyperonym ist, sind Begriffe wie Exklusivität, echte Spiritualität (Andrew Wright) für die Verfasserin wichtig (S. 131–134). Neben Exklusivität und Inklusivität befasst sich Freudenreich auch mit dem Aspekt des Pluralismus (Clive Errickers, Rebecca Nye). Für wichtig erachte ich es, dass Delia Freudenreich die Schwierigkeiten einer Spiritualitätserziehung erwähnt, die sowohl aus theoretischer (Andrew Wright, John Hull) als auch aus empirischer (David Hay, Clive Erricker, Jerome Berryman) Sicht erwachsen. Die Verfasserin ist von der pädagogischen Idee einiger Autoren gefangen genommen, sich an den Erzählungen der Kinder zu orientieren und diese als wichtige Materie ihres spirituellen Erlebens zu erachten (Rebecca Nye, Clive Erricker, S. 135–136). Dabei beachtet sie Ansätze, denen es um einen richtigen Dialog mit den Kindern geht, der auf »Höflichkeit« und nicht primär auf einem »gemeinsamen Standpunkt« aufbaut (Jacqueline Watson, S. 279). Nicht nur Erzählungen und Dialog, sondern auch die Gefühle der Kinder im Sinne eines »emotionalen Lernens« bilden einen wichtigen Teil einer spirituellen Erzie-

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hung (Sue Phillips, S. 162). Gegen die angebliche Einseitigkeit solcher Ansätze erhebt Andrew Wright seine Stimme. Sein pädagogisches Hauptanliegen ist die kognitive »Suche nach Wissen«, weil diese Suche für ihn gleichzeitig »die Suche nach der angemessenen Beziehung mit der Realität« darstellt (S. 248). Das Lernen sollte vor allem auf »die Entwicklung spiritueller Sprachfähigkeit« des Kindes ausgerichtet sein (S. 236), wobei der Begriff der »spirituellen Wahrheit« eine große Rolle spielt. Zu einer solchen müssen die Kinder seiner Ansicht nach durch »informiertes, sensibles und reflektiertes Streben« geführt werden (S. 245). Auch Wrights Position bleibt nicht ohne Reaktion. So verweist Delia Freudenreich anschließend auf Geoff Taggart. Dieser macht darauf aufmerksam, dass bei Lernprozessen nicht nur explizite, sondern auch implizite Wissensinhalte eine Rolle spielen. Diese impliziten Wissensinhalte können von den Kindern nicht artikuliert werden, bilden jedoch einen wesentlichen Teil ihrer Lebenswelt (S. 259). Darum ist es nach Taggart wichtig, den Kindern ein »Gefühl für Ganzheit von Etwas« zu vermitteln (S. 260). Delia Freudenreich bietet auch eine Verknüpfung der beiden gegenläufigen Positionen, d.h. der Betonung von Wissen einerseits und andererseits der Betonung der Emotionen. Dies verdeutlicht sie am Modell des Australiers Brendan Hyde. Dieser betont beim Lernen sowohl die »kognitive« als auch die »nicht-kognitive Dimension« (S. 367). Auf eine weitere Balance verweist der Amerikaner Tobin Hart, indem er auf ein »ausgewogene[s] Verhältnis zwischen den im Kind angelegten spirituellen Dimensionen und den von außen an das Kind herangetragenen Inhalten« verweist (S. 376). Auch im Godly Play Ansatz von

Jerome Berryman wird eine Balance hergestellt, und zwar eine Balance zwischen der natürlich gegebenen Spiritualität des Kindes und einer expliziten religiösen Erziehung. Delia Freudenreich weist darüber hinaus darauf hin, welche Funktion die spirituelle Erziehung in der Gesellschaft hat. Eine spirituelle Erziehung ist immer auch eng verknüpft mit einer »moralischen Erziehung« (S. 286) sowie mit anderen positiven Funktionen. Dies macht die Verfasserin besonders am Beispiel von John Hulls Analysen deutlich. Dieser führt aus, dass das Kind durch eine gute spirituelle Erziehung von der, wie er es nennt, »falschen Spiritualität des Geldes« weggeführt werden kann (S. 287, 292). Für sehr lohnenswert halte ich die von Delia Freudenreich erstellte Charakterisierung der anglophonen Diskussion über Spiritualität von Kindern. Sie benennt dabei drei Aspekte: a) den Beziehungsaspekt, b) den moralischen Aspekt und c) den subversiven Aspekt. Der Beziehungsaspekt bezieht sich auf das gesamte Beziehungsgeschehen der Kinder – auf ihre Beziehungen zur Natur, sich selbst, ihre Mitmenschen, Gott und Engel. Der moralische Aspekt betont die Entwicklung »moralischer Sensitivität« bei Kindern (S. 142–143) und der subversive Aspekt hebt die Bedeutung der »Selbstentfaltungskräfte des Einzelnen« hervor, die beim Widerstand gegen »kapitalistische Mechanismen« hilfreich sein können (S. 144). Der Verfasserin ist es gelungen, die Aufmerksamkeit des Lesers / der Leserin auf 364 Seiten nicht zu verlieren. Die wichtigsten Ideen der einzelnen theoretischen und empirischen Ansätze sind kurz und prägnant vorgestellt und mit den dargestellten Argumentationen in ein Ge-

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spräch gebracht. Der Leser / die Leserin bleibt in jedem Kapitel mit dem ganzen Charakter des Buches verbunden. Der Text macht deutlich, dass Delia Freudenreich die Problematik intensiv seit mehreren Jahren studiert und der Thematik nicht nur ihr Herz, sondern auch viel Zeit geschenkt hat. Sie ermöglicht dem Leser einen mühelosen Einblick in die verschiedenen theoretischen und empirischen Forschungsansätze, nicht nur durch die Übersetzungen der originalen Zitate und wichtigsten Begriffe, sondern auch durch ihre stimmige Reflexion. Es gibt verschiedene Ansätze zur Spiritualität von Kindern und ihrer pädagogischen Förderung, doch allen gemeinsam ist die Sehnsucht nach Vermittlung des den Menschen Übergreifenden. Die spirituelle Erziehung versteht sich deswegen als der Gegentrend zum kognitiven Lernen und zum inhaltbasierten Wissen (S. 116) und sollte sich auf ein gemeinsames Streben der Lehrer und Lehrerinnen aller Schulfächer beziehen, wie es sich aus der von Delia Freudenreich erarbeiteten Reflexion des anglophonen Diskurses ergeben hat. Noemi Bravená

■ Bibi Dumon Tak: »Kuckuck, Krake, Kakerlake – Das etwas andere Tierhörbuch«, Oetinger Audio, ungekürzte Lesung mit einer Spielzeit von circa 80 Minuten, www.oetingeraudio.de »Das etwas andere Tierhörbuch« – so lautet der Untertitel dieses Hörbuchs von Oetinger Audio für Kinder ab acht Jahren: und treffender sind die Themen, Texte

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und Arrangements dieser »etwas anderen« Präsentation unserer Tierwelt nebst ihrer individuellen Verhaltensweisen in der Tat kaum zu umschreiben. Von Faultieren, die selbst nach dem Tod noch tagelang faul in Bäumen herumhängen, über Riesenröhrenwürmer, Wasserreservoirfrösche, Löcherkraken, Mauerseglern oder Erdmännchen bis hin zu Papierfischchen, die alle Papierarten und Bücher außer Kinderbücher fressen, reicht in diesem Hörbuch die Palette all der Kreaturen, die auf Erden herumlaufen beziehungsweise kriechen, unter Wasser leben oder in der Luft schweben – und von insgesamt zwölf wirklich exzellenten Topsprechern in diesem rundum gelungenen, eben »etwas anderen« Hörbuch vorgestellt werden. Ebenso »top« wie die Sprecher sind die – für eine Zielgruppe ab acht Jahren gelegentlich vielleicht etwas pikant-frechen – Texte dieses Tierhörbuchs. Da ist beispielsweise bei einem der Tierchen von einem »behaarten Pimmel« die Rede, mit dem dieser Zeitgenosse sein Weibchen vor der Begattung zunächst »reinigt«; um sicher zu gehen, dass der Nachwuchs wirklich von ihm ist – ohne freilich daran zu denken, dass andere Männchen seiner Gattung ebenso ausgerüstet sind und exakt genau so handeln! Überhaupt ist in diesem Hörbuch viel vom Heiraten, vom Nachwuchs und dem Elternverhalten der Tiere die Rede; aber nahezu immer in einer wirklich lustigen und lockeren Form. So wird beispielsweise der Laubenvogel als ein gefiederter Geselle vorgestellt, der seinen hauptsächlichen Lebenszweck darin sieht, nahezu pausenlos sein Nest auszubauen und zu schmücken. Wird dann durch das hübsche Heim ein Weibchen angelockt und lässt sich mit dem Laubenvogel ein, wird

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es nach der Paarung wieder aus dem Haus geworfen und muss zusehen, wie es mit dem Nachwuchs allein zu Recht kommt. Der Herr des Nestes putzt derweil weiterhin sein Nest – und wartet auf die nächste Dame. Durch die kreative, lustige sowie wertschätzende Darstellung der einzelnen Geschöpfe wird die Schönheit und Vielfalt von Gottes Schöpfung betont. Jedes Tier wird in lustig-merkwürdiger Weise in seiner Einzigartigkeit gekonnt präsentiert. Schmunzeln ist daher beim erwachsenen Zuhörer nahezu bei allen Kapiteln dieses empfehlenswerten Hörbuchs angesagt – den Angehörigen der Achter-Zielgruppe aber wird in einer anschaulich-bildhaften, durchgehend sehr verständlichen und auf Spannung ausgerichteten Sprache viel Neues über bekannte und unbekannte Wesen unserer Tierwelt auf sehr eingehende Weise unterhaltsam vermittelt: Nahezu jedes Kapitel dieses Hörbuchs weckt Neugierde auf die folgenden Stücke.

Anna-Christina Petermann

■ Diese Erde ist dein Garten. Ein Singspiel für Kinder zum Thema Schöpfung von Dieter Stork und Matthias Nagel, Calwer Verlag, Stuttgart 2009–2011

Das Medienpaket umfasst drei DIN A4Hefte und die Aufnahme des Singspiels als CD. Im Einzelnen sind es: • Das Mitmach-Liederbuch inklusive Playback-CD (LB). Dieter Stork, Matthias Nagel, Kadia Odekoven, 71 S., 2009.

• Das Singspiel als CD (CD). Dieter Stork, Matthias Nagel, Kinderkantorei Lübbecke unter Leitung von Heinz-Hermann Grube. Ca. 1 Stunde Kirche St. Andreas Lübbecke/Westfalen (Erstaufführung 2005) 2009. • Die Partitur (P). Dieter Stork, Matthias Nagel, 86 S., 2010. • Das Werkbuch (WB). D. Stork, K. Oedekoven und R. Mettenbrink, 176 S., 2011. Seit den 1980er Jahren haben die Impulse der Schöpfungstheologie, der Elementarisierung (Karl Ernst Nipkow) und der Psalmendidaktik (Ingo Baldermann) die Fragestellung, ob wir theologische Fragen eher »für« oder »mit« Kindern bedenken sollten, zugunsten der Kindertheologie entschieden, so möchte man meinen. Darum interessieren wir uns besonders dafür, wie das Singspiel »Diese Erde ist ein Garten« Fragen und Weltvorstellungen der Kinder aufgreift und reflektiert. Das Singspiel geht auf die Initiative von Roland Mettenbrink, Gemeindepfarrer in Preußisch-Ströhen und Rahden (Mitglied der Steuerungsgruppe »Mit Kindern anfangen« und »Jahr der Taufe« in der Evang. Kirche von Westfalen) zurück, die er so wiedergibt »Wie wäre es, wenn wir ein Schöpfungsmusical für den Kindergarten gestalten? Wäre es nicht wichtig, unseren Kindern möglichst frühzeitig zu vermitteln, dass Gott die Erde geschaffen hat, dass er sie wunderbar gemacht hat und dass er sie erhält? Hintergrund dieser Überlegungen war zum einen die schöne Landschaft Norddeutschlands, in der wir leben. Das Musical sollte aber auch eine Antwort auf den Tsunami in Südostasien sein, der Ende 2004 gewütet und bei vielen Menschen den glauben an eine gut ge-

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wollte Schöpfung erschüttert hatte.« (Mitmach-Liederbuch 2009, S. 7) Es gelang ihm, für dieses Projekt Dieter Stork als Texter, Matthias Nagel als Komponisten und Kadia Oedekoven als Erzieherin zu gewinnen.1 Hinzu kommen weitere Personen, etwa aus der Kinderkantorei oder der Kinderchorfreizeit. Wer das Medienpaket »aufpackt«, entdeckt eine Arbeit, die im Team der o.g. Personen und im Dialog mit Kindern, mit Jugendlichen und Erwachsenen entstand. So wurden die Texte des Singspiels im Kindergarten geprüft,

»zusammen mit Kindern wurden Spielszenen zu den Texten entwickelt, noch bevor es überhaupt eine Melodie gab […] Hübsche Tiermasken wurden gebastelt. Kleine Szenen zu den Liedern entstanden.« (LB, 7) Das Singspiel »Die Erde ist ein Garten« ist das Kernstück des Medienpakets. Im Beitext zur CD erklären die Autoren D. Stork und M. Nagel:

»Die Schönheit und Vielfalt der Schöpfung sind Thema dieses einzigartigen Singspiels für Kinder vom Kindergarten – bis zum Grundschulalter. Das Wunder ihres Werdens und Bestehens, das faszinierende Geheimnis des Zusammenlebens von Pflanzen, Tieren und Menschen, aber auch die Gefährdung und Verwundbarkeit unseres blauen Planeten werden in 19 abwechslungsreichen Liedern besungen. […] Die Erarbeitung der insgesamt 19 Lieder hat den Kindern des Kindergartens und der Kinderkantorei, wie auch uns, den Autoren, viel Freude gemacht. Wir hoffen, dass sich diese Freude auf die Hörerinnen und Hörer überträgt und zur Nachahmung anregt.« (CD, Beitext)

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Dazu verweisen die Autoren auf • Das parallel erscheinende MitmachLiederbuch. Es enthält die 19 Lieder, drei Übersetzungen von Psalm 104 – dem Thema des Singspiels – methodische Anregungen zur Erschließung der Lieder und eine Bastelvorlage. • Die Partitur, die eine eigene Aufführung ermöglicht • Das Werkbuch, das u.a. sieben Gottesdienstmodelle vorstellt, welche aus der Arbeit mit dem Singspiel erwachsen sind. Damit liegt nun ein Gesamtpaket vor, das ursprünglich auf die Zielgruppe Kindergarten und Grundschule ausgerichtet ist, sich als Singspiel versteht, das nun aber durch methodische Hinweise im Mitmach-Liederbuch und vor allem im »Werkbuch« darüber hinaus Grundschule, Sekundarstufe und auch Eltern mit den Arbeitsfeldern Kindergarten, Schule, Gottesdienst, Freizeit- und Kinderchorarbeit und auch Religionsunterricht (Projektarbeit) im Blick hat (LB, 6). Grundlage des Singspiels ist Psalm 104, »die Liedtexte sind aus der Beschäftigung mit den Bildern und Themen des 1 D. Stork war bis zu seinem Ruhestand Gemeinde- und Jugendpfarrer sowie Schulreferent der Evang. Kirche von Westfalen, Autor von Praxishilfen, z.B. Stork, Arbeitsbuch Weihnachten, Stuttgart 2006. M. Nagel ist Kirchenmusikdirektor in der Arbeitsstelle Gottesdienst und Kirchenmusik am Institut für Aus-, Fort- und Weiterbildung der Evang. Kirche von Westfalen, Haus Villigst. Er ist zudem Komponist, Arrangeur und Musiker populärer Kirchenmusik. K. Oedekoven leitet als Erzieherin den Evang. Kindergarten Pr. Ströhen, Stadt Rahden und ist wie R. Mettenbrink im Projekt »Mit Kindern neu anfangen« tätig. Sie ist Autorin von Fachbüchern im Elementarbereich wie Oedekoven/Milstein, Und wie geht es Jakob? Göttingen 2005.

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Psalms 104 hervorgegangen« (D. Stork LB 11). Das Singspiel spannt einen Bogen von der Geburt bzw. dem Tageslauf bis zum Abend. Diese schöne Idee überträgt die Weltvorstellung von Kindern, das altorientalische Weltbild des Psalms und den Gedanken von Werden und Vergehen, Anfang und Ende des Schöpfungspsalms in eine kongeniale Struktur. So werden in einer einfachen Struktur von Sprech- und Liedtexten Zusammenhänge und Gedanken aufeinander bezogen, aufgeteilt in den Sprecher (Dieter Stork), die Mutter (Gabriela P.), das Kind (Ricarda M.). ) Beispiel: SPRECHER: »Ein Kind wird geboren. Noch hat es klitzekleine Hände und Füße. Aber das Kind wächst und wird größer. Bald kann es sprechen, fragen, erzählen. Jetzt schläft es auf dem Schoße der Mutter. Es erwacht und blinzelt in die Welt« LIED: »Guter Gott, ich wache auf! Tausend Sonnenstrahlen blitzen. Ich bleib nicht im Bette sitzen, springe auf und lauf!« SPRECHER: »Das Kind öffnet die Augen und staunt. Die Sonne ist über den Berg geklettert und lacht in die Welt. Tau glitzert auf den Gräsern. Federwolken ziehen am hellen Himmel. »Mama«, fragt das Kind, »wer hat diese schöne Erde geschaffen?« LIED: »Wer hat die Berge, die Wälder gemacht? Wer hat das Feuer im Wind entfacht? Wer sagt der Sonne am Morgen: »Steh auf!«? [»Du, Vater, hat diese Welt uns gemacht! …]

Ein Schlüsseltext, der auch die Deutungsperspektive des Autors – weniger die von Kindern – zeigt, ist diese Passage: SPRECHER: »Mensch und Natur, Mensch und Mensch sollen friedlich und zärtlich miteinander umgehen. Wir sollen uns gern haben …«

TEXT: »Was ist der Friede, den wir brauchen? Der Friede fängt in unsern Herzen an! Doch soll er sich da drinnen nicht verkrauchen. Er will heraus, dass ich ihn schmecken kann …«

Das Singspiel bedient sich einer lehrhaften Sprache – ein Lehrtext, der mit Kindern und Erzieherinnen »abgestimmt« wurde. Die zahlreichen teils eindrucksvollen Arbeiten zum Singspiel werden nicht als eigenständige »Auslegungen« zu Psalm 104 thematisiert. Auch die Anregungen zur Mitgestaltung von Gottesdiensten greifen Aussagen von Kindern nur scheinbar auf. Wie schön wäre es aber, wenn beispielhaft gezeigt würde, wie etwa der Psalm 104 »aus dem Mund der Kinder« (Psalm 8,3) lauten könnte. Solche hätten die zahlreichen Psalm-Paraphrasen von D. Stork ergänzen können. Beiträge von Kindern werden als Illustration des Geplanten gesehen. Beispielhaft dafür ist die Anleitung des »Werkbuches« zu einem Malprozess (Thema »Die Erde ist ein Geschenk Gottes an alle Geschöpfe«). Sehr schön wird angeregt, dass die Kinder über ihre Bilder sprechen sollen, aber schon der nächste »Tipp« reduziert ihre Beiträge, indem er erklärt »Gerade durch die Buntheit der Bilder kann die Freude an der Schöpfung zum Ausdruck kommen …« (WB, 31 f). Die ganz unterschiedlichen Weltbilder, die Menschen im Lauf ihres Lebens entwickeln und die eigentlich einen didaktischen Schatz darstellen, bleiben stets außen vor. Es dominiert die Diastase »Schöpfung und Evolution« (WB, 121–172) und die Trias »Friede – Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung« (WB, 40 ff). Gottesbilder oder Weltbilder von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sind in ihrer Differenziertheit nicht im Blick. So wird auch die von R. Metten-

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brink eingangs genannte Katastrophe (Tsunami 2004) theologisch nicht bedacht. Kinder würden hier wahrscheinlich nach Gott fragen. Im Blick auf die Praxis stellt das Medienpaket aber sicherlich ein gutes Angebot dar, sei es als Vorlage für ein Projekt (Singspiel), als Materialbörse für die Gottesdienstgestaltung, sei es als Information für die Hand der Eltern und ehrenamtliche Mitarbeiter/innen oder ganz einfach als Anregung, selber mit Kindern daran weiter zu arbeiten, wo das Singspiel aufhört, mit einigen sehr schönen neuen Liedern, den Übertragungen des Psalms 104, einigen Gebeten und vor allem einer Vielzahl handlungsorientierter und praxiserprobter Gestaltungsvorschläge. Dazu empfehle ich ein Forum im Netz zu schaffen, um solcherlei Erfahrungen bzw. weitere Ideen auszutauschen und auch, um das wechselseitige Lernen zwischen Gemeinde und Schule zu fördern.

Hans Jürgen Herrmann

■ Ulrich Walter: Der Schöpfungskreis® – Holzlegematerial. Zur Entdeckung biblischer Geschichten, Agentur des Rauhen Hauses, Hamburg 2011 (ISBN 978-3-7600-7521-1); Grundlagenheft. Einführung mit Lied, Gebet und Beispieleinheit (ISBN 9783-7600-7014-8); Materialband I für die Kirche mit Kindern – mit CD-ROM (ISBN 978-3-7600-6423-9) und Materialband II Kindergarten – mit CD-ROM (ISBN 978-3-7600-6425-3) Der Schöpfungskreis ist ein von dem Religionspädagogen Ulrich Walter entwickeltes ganzheitliches und sinnenorien-

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tiertes Konzept zur lebendigen Vermittlung biblischer Geschichten. Grundlage ist das farbenfrohe Holzlegematerial (Einzelpreis 59,95 Euro) mit 21 Teilen und einem Durchmesser von 40 cm: Unter dem Regenbogen wölbt sich der Himmel mit Sonne, Mond und Stern. Erde, Berge und Meer sind Lebensraum für die Tiere, in der Mitte streckt sich ein großer Baum mit einem kreuzförmigen Stamm in den Himmel. In der rechten Hälfte befinden sich Symbole des Miteinander-Lebens: Haus, Tisch und Brot; sie werden mit Traube und Ähre zu Zeichen für alles, was der Mensch zum Leben braucht. Das Grundlagenheft stellt den Schöpfungskreis in seinen Bestandteilen vor und enthält eine Beispieleinheit zum Thema »Die Geschichte von Gottes guter Schöpfung« mit Gebet, Lied und Meditation. Der Materialband I stellt neun erprobte und hervorragend nachvollziehbare Praxiseinheiten für den Kindergottesdienst zu Kernthemen des christlichen Glaubens vor: 1. Gott ist Schöpfer, 2. Gott bewahrt das Leben auf der Erde (Noah), 3. Gott befreit aus der Knechtschaft (Mose und Miriam), 4. Bei Gott sind wir geborgen (Psalm 23), 5. Gottes Liebe ist größer als sein Zorn (Das Buch Jona), 6. In Erwartung des Friedens (Advent), 7. Jesus erzählt, wie Gottes neue Welt anbricht (Gleichnisse), 8. Gemeinschaft mit Jesus Christus (Ostern und Abendmahl), 9. Wir gehören zu Gott (Taufe und Tauferinnerung). Der Materialband II ist für die Arbeit mit Kindern in Kindergärten konzipiert und behandelt wichtige Themen des täglichen Miteinanders: 1. Staunend die Welt entdecken – Schöpfung in den Psalmen, 2. Ein Friedensfest unter dem Regenbogen – Noah wird gerettet, 3. Streiten und sich vertragen – Abraham und der Um-

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gang mit einem großen Konflikt, 4. Gut, dass es dich gibt! – Josef und seine Brüder, 5. Wem kann ich sagen, was mich bewegt? – Psalm 50 als Einladung zum Gespräch mit Gott, 6. Woran können wir uns halten? – Amos, ein Prophet Gottes sowie 7. Die Welt steht dir offen – Gottesdienst zum Abschluss der Kindergartenzeit. Auf der beiliegenden CD-ROM finden sich Fotos zu allen Einheiten und Bastelvorlagen als PDF. Insgesamt liegt hier ein innovatives Konzept vor, das zum Sammeln eigener Erfahrungen mit dem anregungsreichen Holzlegematerial herausfordert.

Martin Schreiner

■ Rafik Schami: »Wie sehe ich aus«, fragte Gott. Mit Illustrationen von Sandra Beer, edition chrismon, Frankfurt a.M. 2011, 24 Seiten »Eines Tages wollte Gott wissen, wie die Wesen seiner Schöpfung ihn sahen. Er, der alles erschaffen hatte, die Sonne und die anderen Sterne, die Erde und die anderen Planeten, wusste nicht genau, was seine Geschöpfe über ihn dachten. Und so kam Gott auf die Erde, unsichtbar wie ein Gedanke und neugierig wie ein Kind. Der Zufall wollte es, dass das Erste, was ihm begegnete, eine kleine Wolke war.« (S. 6). Mit diesen poetischen Sätzen beginnt das mit behutsam-unaufdringlichen Zeichnungen von Sandra Beer versehene Buch von Rafik Schami für kleine und große Lesende. In der Folge begegnet Gott einem Schmetterling, einem Fisch, einem Schneeglöckchen, einer Palme am Wegrand, einer Schildkröte, einem Atom, einer Jasminblüte, einem Distel-

fink, einer Maus, einer Spinne, dem Regenbogen. Sie alle fragt er immer wieder neu zu Beginn der Begegnungen »Wie sieht Gott aus?« und sie alle antworten ihm aus der Perspektive ihrer jeweiligen Welt-Sicht und ihres jeweiligen Wirklichkeitshorizontes: »Er ist unsichtbar und doch immer da. Ich spüre ihn bei jeder Bewegung.« (Wolke); »Gott ist wie eine zauberhafte Hand« (Schmetterling); »Gott ist ein unergründlicher Ozean« (Fisch); »Er ist die unendliche Wärme … er ist der größte Tröster« (Schneeglöckchen); »Gott ist ein genialer Bildhauer« (Palme); »Er ist die Ewigkeit, sein Anfang und Ende sind unsichtbar« (Schildkröte); »Gott ist mit Sicherheit ein Musiker« (Atom); »Er ist die größte Sonne aller Zeiten« (Jasminblüte); »Er ist der beste Gesprächspartner der Welt« (Distelfink); »Er ist die unendliche Freundlichkeit« (Maus); »Er ist der größte Lehrer im ganzen Weltall« (Spinne); »Ein unvorstellbar humorvoller Zauberer … die vollkommene Schönheit« (Regenbogen). All diese Antworten bringen Gott nun zum Nachdenken: »Zum Schluss, bevor er die Erde wieder verließ, wollte er noch die Krone seiner Schöpfung befragen. Er näherte sich einer kleinen Stadt. Das erste, was er sah, waren zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge. Sie spielten auf einer Sandbank in einem Park mit Murmeln.« (S. 20). Auf die Eröffnungsfrage »Wie sieht Gott aus?« sagt das Mädchen lächelnd: »Gott? Wie komme ich auf solche Gedanken, während ich mit meinem Bruder spiele? Aber, er ist bestimmt ein allmächtiges Kind, das mit den Sternen und Planeten spielt, weil sie seine Murmeln sind. (…) Ja, ich bin sicher, er kann nur ein Kind sein.« (S. 21) – während der wartende Bruder nörgelt. Gott staunt über die Weisheit des Mädchens und

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überlegt, »welch ein göttliches Wesen wird dann später aus ihm?« (S. 22) Er bedauert es, »dass er durch Milliarden von anderen Aufgaben seit einer Weile die Erde nicht mehr besucht hatte und daher nicht genau wusste, was aus dieser Gattung geworden war.« Schließlich besucht er einen alten, sehr bekannten Meister der Malerei, der ihm allerdings auf seine Frage nur ein farbiges Selbstporträt mit weißem Bart als Gott vorstellt. Mit Kopfschütteln verlässt daraufhin Gott leise die Welt und »Zweifel nagten an ihm, ob er beim Menschen nicht irgendetwas falsch gemacht hatte.« (S. 23). Das Buch regt auf sanfte Art und Weise dazu an, über die Gottesfrage nachzudenken und selbst eine Antwort zu überlegen. Wird sie ähnlich denen der nichtmenschlichen Wesen ausfallen oder gibt auch sie Anlass für Zweifel an der Ehrfurcht vor den mannigfaltigen Wundern der göttlichen Schöpfung?

Martin Schreiner

■ Eva Zoller Morf: Selber denken macht schlau. Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen, ZytgloggeVerlag, Kempten 2010 Thomas Jackson, Kinderphilosoph in Hawaii1, empfiehlt dieses Buch im Vorspann, weil es Lust auf ein gemeinsames Abenteuer mit Kindern macht: »das Abenteuer des reflektierten Lebens«. Und er spricht von der wundervollen Erfahrung für ein Kind, »sich mit einer geliebten Bezugsperson in einen Tanz des gemeinsamen Forschens und Erkundens zu begeben, dessen Ausgang niemand vorhersehen kann«.

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Wie können Eltern und Lehrer/innen diesen gemeinsamen »Tanz« mit und unter den Heranwachsenden anstoßen? Eva Zoller Morf führt das in ihrem dritten Buch zur Kinderphilosophie2 lebendig und anschaulich vor – in einer gelungenen Mischung aus anregenden philosophischen Fragestellungen, methodischen Ideen, passenden philosophischen Kinderbüchern und dosierten Einblicken in die Philosophiegeschichte. Kinder und Jugendliche kommen vor allem auch selbst zu Wort! Ausschnitte aus philosophischen Gesprächen mit ihnen veranschaulichen die methodischen Empfehlungen. Teil I widmet sich den großen (staunenden) Fragen der kleinen Kinder und wie »große« Fragen von »kleinen« unterschieden werden können. Hier erfolgt die Einführung in das Proprium philosophischer Fragen, in die philosophische Grundhaltung und in eine philosophische Gesprächskultur, die durch gezielten Einsatz der sieben »Werkzeuge der schlauen Denker«3 aufgebaut werden kann. (Stimmt das wirklich? Gib ein Beispiel? Wer weiß ein Gegenbeispiel? Was meinst du mit diesem Begriff? Gib einen Grund an! Welche Annahme steckt dahinter? Welche Folgerung können wir ableiten? – S. 37)

1 Direktor des »Philosophy in the Schools Project« an der Manoa-Universität von Hawaii. 2 Vgl. Eva Zoller, Die kleinen Philosophen. Vom Umgang mit schwierigen Kinderfragen, Orell Füssli Verlag, Zürich 1991. Eva Zoller, Philosophische Reise. Mit Kindern auf der Suche nach Lebensfreude und Sinn, verlag pro juventute, Freiburg 1999. 3 Nach: Thomas Jacksons »The Good Thinkers Toolkit«.

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Teil II des Buches gilt dem Philosophieren über ethische Fragen wie: Warum kann ich nicht alles haben? Was für ein Mensch will ich sein? Wie sollen wir leben? Was ist eigentlich Gehorsam? Warum streiten Menschen? Was ist Angst und Mut? Stimmt die goldene Regel immer? Was ist Gerechtigkeit? … Zwei wesentliche Grundannahmen Zollers dabei: die kognitive Auseinandersetzung mit Gefühlen und Wertfragen trägt zur moralischen Erziehung bei, zur »Selbstformung«, wie es Philip Cam in Anschluss an John Dewey formuliert. Eine Empfehlung an Eltern, für die dieses Kapitel speziell auch gedacht ist: Philosophieren statt moralisieren! Die zweite Grundannahme: Philosophieren mit Kindern darf die psychologische Seite nie außer Acht lassen. Gespräche über ethische Fragen müssen in einem »safe place« erfolgen, an dem die Moderation empathisch »fürsorglich teilnehmendes Denken« forciert. Zoller folgt hier Ann Margret Sharp, die dieses »Caring thinking« als wertschätzendes, affektives, aktives und normatives Denken charakterisiert (S. 69), das bei aller Offenheit unterschiedlichen Meinungen gegenüber doch das Gute will, vor Ungerechtigkeiten zurückschreckt und sich für Mitgefühl und Gewaltfreiheit einsetzt. Leicht führen Gespräche über ethische Fragen in sehr persönliche Situationen der Kinder. Es gilt in der Moderation darauf zu achten, wann die verallgemeinernde Denkbewegung des Philosophierens angezeigt ist und wann es eher geboten ist, psychologisch oder pädagogisch zu reagieren und die individuelle Problemlösung beratend zu begleiten. Welche dieser drei Grundhaltungen auch immer gerade geboten scheint, wesentlich ist es einfach, »dass wir uns überhaupt ab

und zu die Zeit nehmen, gründlich über unser Leben und Zusammenleben nachzudenken, damit uns bewusst wird, welchen Einfluss wir darauf nehmen können, oder wo wir uns vielleicht manchmal auch einfach mit Gegebenheiten abfinden müssen« (S. 73). Gelegenheiten zu diesem offenen Austausch über das Leben zu schaffen und die »fragwürdigen« Punkte darin aufzuspüren, dazu regt das Buch auf vielfältige Weise an. Gibt es bei aller Offenheit und Freiheit im Denken Grundprinzipien für diesen philosophischen Austausch? Eva Zollers Anspruch an philosophische Gespräche könnte so zusammen gefasst werden: Schlau zu denken, begründet zu argumentieren, logische Regeln dabei einzuhalten und sich der Wahrheitssuche verpflichtet zu fühlen. Das gilt speziell auch für die Auseinandersetzung mit existenziellen Grundfragen im Teil III des Buches, die unmittelbar in religiöse Überzeugungen führen. Zoller fühlt sich dabei der Argumentation Kants verpflichtet, zeichnet diese in kurzen Strichen nach und warnt vor »selbst verschuldeter Unmündigkeit« im religiösen Bereich. »Mit dem Philosophieren über religiöse Fragen versuchen wir, sowohl der Vernunft als auch der Hoffnung und dem Vertrauen Platz einzuräumen. Mittels der Vernunft loten wir aus, was wir wissen oder zumindest logisch erschließen können, um uns Antworten anzunähern, die vielleicht zu einer persönlichen Glaubensgewissheit werden können« (S. 108). Was ist dann jeweils die »Wahrheit«, nach der Philosoph/innen und Theolog/innen suchen? Zu Beginn des Teils III geht Eva Zoller den Möglichkeiten nach,

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über den vielschichtigen Begriff der »Wahrheit« zu arbeiten. Wie 10- bis 12Jährige das Thema Wahrheit anhand der Diskussion zwischen Naturwissenschaft und Glauben rund um die Schöpfung bedenken, zeigt das darauf folgende ausführliche Beispiel. Die Spannung zwischen den naturwissenschaftlichen Aussagen zur Entstehung der Welt und den biblischen Schilderungen der sieben Schöpfungstage löste ein Mädchen für sich so: »Ach wissen Sie, Gott ist doch viel größer als die Menschen, dann sind sicher auch seine Tage viel, viel länger!« (S. 113) Außerdem findet man wertvolle Anregungen und hilfreiche Buchempfehlungen zum Philosophieren mit Heranwachsenden über Gottesbilder, die Seele oder den Tod. Und wer sich wieder einmal auf die Frage einlassen will: »Warum sehen wir Gott nicht?« kann die philosophischen (oder doch theologischen?) Gedankengänge einer jungen Erwachsenen dazu in Briefform nachlesen. Die letzte große Frage dieses Buches, nämlich die nach dem Sinn des Lebens, wird für Jugendliche durchdacht, diesmal anhand der anspruchsvolleren fünf methodischen Schritte des Sokratischen Dialogs (phänomenologisch, hermeneutisch, analytisch, dialektisch, spekulativ4). Inhaltlich helfen dazu die beiden Bücher von Wolf Erlbruch: »Die große Frage«5 und »Ente, Tod und Tulpe«. Eva Zoller liest sie zusammen und findet in der ihr eigenen, kreativen, einfühlsamen und analytischen Weise zu jedem der fünf Schritte kreative Impulse und vor allem passende »Hebammenfragen«, mit denen der Sinn des Lebens umkreist wird. Es sind speziell die Hebammenfragen zu jeder Thematik, die einen ganz besonderen Schatz des anzuzeigenden Buches darstellen. Und man versteht am Ende

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wieder ein Stück mehr, wie sehr sich das Philosophieren (und das Theologisieren) mit den Heranwachsenden lohnt.

Elisabeth E. Schwarz

■ Christine Reents / Christoph Melchior: Die Geschichte der Kinder- und Schulbibel. Evangelisch – katholisch – jüdisch, Arbeiten zur Religionspädagogik 48, Vandenhoeck & Ruprecht unipress, Göttingen 2011 Wer sich mit Kinderbibeln, Kirchengeschichte und Kinderliteratur auseinandersetzt, wird gerne zu diesem ausgesprochen ansprechenden Buch greifen. Dieses hilft zu begreifen, wie viele und vielfältige Kinderbibeln seit der Reformationszeit existier(t)en und ihre theologischen, historischen und literarischen Spuren hinterließen. Das Autoren-Duo Christine Reents (emeritierte Religionspädagogin an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal) und Christoph Melchior (Geschäftsführer des Evangelischen Bibelwerks im Rheinland, Wuppertal) geht auf den fast 700 Seiten sämtlichen Aspekten historischer Kinderbibel-Forschung nach und zeigt auf, wie facettenreich die Fragen rund um Kinder-

4 Ausführlich dazu: Ekkehard Martens, Kinderphilosophie und Kindertheologie – Familienähnlichkeiten, in: Anton. A. Bucher u.a. (Hg), »Kirchen sind ziemlich christlich«, Jahrbuch für Kindertheologie Bd. 4, Stuttgart 2005, 12– 28. 5 Es wird allerdings dringend empfohlen, im Buch »Die große Frage« die Seite mit dem Boxer auszulassen. Sie bedient – wohl ungewollt – rassistische Vorurteile Schwarzen gegenüber.

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bibeln sind: neben Gesichtspunkten wie Bebilderung und Auswahl oder freie Erzählung oder Bibelparaphrase tauchen auch spezielle Fragestellungen wie das Verhältnis von Altem und Neuem Testament auf, aber auch spezielle Herausforderungen einzelner Bibelpassagen und die Rolle des konfessionellen Backgrounds. Sowohl die Kinder als Rezipienten als auch die Autoren sind besonders im Blickfeld der Darstellung, die oftmals kritischkonstruktiv problematische Punkte auf den Punkt bringt – wie etwa zur »Kinderbibel« von Jörg Zink, bei der die Eselin und die Rahmenerzählung gegenüber biblischer Betrachtung dominieren, eine existentiale Interpretation von Wunderund Auferstehungserzählungen einzig zu zählen scheint und sämtliche Jesus- Darstellung vermeidet: »Gutenachtgeschichten für Kinder und Esel« (S. 496). Hervorzuheben ist der Humor und die sprachspielerische Ausdrucksweise in diesem monumentalen Buch – nicht zuletzt dadurch wird die Lektüre zu einem leichtfüßigen Gang durch die Glaubensund Frömmigkeitsgeschichte, der einem immer wieder ein Lächeln und Schmunzeln abverlangt, ohne je an Ernsthaftigkeit zu verlieren. Dieser Gang wird durch klare Wegweiser erleichtert, die in kleinen Schritten die Lesenden an der Hand führen. In neun Kapiteln, die zuverlässige Zwischenbilanzen und Zusammenfassungen enthalten, wird man aufmerksam gemacht auf: – den volkssprachlichen Bibelgebrauch im Spätmittelalter – die Vielfalt der Bibelangebote für Kinder und Laien – die Bibeltreue als Leitmotiv im konfessionellen Zeitalter

– die Tendenz vom Heiligen Buch zur biblischen Erzählung für Kinder – die Restaurationstendenzen im 18. Jahrhundert – den Trend zu illustrierten Bibelparaphrasen – die Bibel als Kinder- und Jugendbuch im zeitgenössischen Pluralismus – die jüdischen Kinder- und Schulbibeln – die gegenwärtigen Herausforderungen Die Einsichten, Einschätzungen und Einblicke sind außerordentlich sorgfältig, solide und spannend dargestellt in einer kenntnisreichen Auseinandersetzung mit religionspädagogischer, literaturwissenschaftlicher und literaturhistorischer Quellen- und Sekundärliteratur. Hierbei kommt es auch zu klaren Korrekturen unzutreffender Vorstellungen beispielsweise zu den Vorläufern von Kinderbibeln, die eben nicht in der »biblia pauperum« des Mittelalters zu suchen sind. Diese klare persönliche Positionierung erfolgt durch teils penible Belege und räumen damit mit falschen Tradierungen auf. Bei einigen Einschätzungen kann man zwar sicherlich anderer Meinung sein und eine stärkere Einbeziehung zeitgeschichtlicher Faktoren wünschen – doch gerade für einen fachwissenschaftlichen Diskurs bietet dieses vorbildlich verfasste Werk eine gute Grundlage! Die Darstellung der jüdischen Kinder- und Schulbibeln durch Christoph Melchior ist einzigartig in dieser Komplexität und Konzentration. Auf 75 Seiten zeichnet er wesentliche Stationen und Werke von der Haskala bis heute nach und findet interessante Parallelen und Differenzen zu christlichen Aufbereitungen für Kinder. Ein christlich-jüdischer Dialog, der seiner Bezeichnung gerecht werden will, sollte diese beachtlichen Be-

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obachtungen bedenken und seine Behauptung des zeitlichen Dogmas (»Seit Auschwitz kann man nicht mehr …«) überdenken. Ein letztes Kapitel erörtert leider nur knapp die Erwartungen an Kinderbibeln aus den historischen Erkenntnissen heraus und im Hinblick auf gegenwärtige Herausforderungen. Zwar werden keineswegs Kriterien zur Kinderbibel-Beurteilung verschwiegen, aber eine konkrete Abwägung, welche Aspekte hervorzuheben oder eher zu vernachlässigen sind, bleibt letztlich aus. So bleibt der Eindruck, dass eine Einschätzung eine letztlich sehr subjektive Angelegenheit ist und Objektivität weder zu erreichen noch zu fordern ist: Gibt es eine Art »Kinderbibelkanon«? Sollte es eine solche Sammlung an wesentlichen Bibelgeschichten überhaupt geben? Wie kann eine Kinderbibel dem besonderen spirituellen Charakter der Bibel überhaupt gerecht werden? Sollte die Ideologie des GenderMainstreaming in die Gestaltung von Kinderbibeln Einfluss nehmen? Das weite Feld multimedialer (KinderbibelCD-ROMs) und filmischer Aufbereitungen (z.B. »Verbotene Geschichten«) oder Verfremdungen (z.B. die hochproblematische Zeichentrickserie »ChiRho«) wird leider nicht berücksichtigt, was den Rahmen dieses Buches sicherlich gesprengt hätte und weiteren Studien vorbehalten bleiben muss. Das Werk gibt in den einleitenden Abschnitten wie auch im Dank deutliche Hinweise auf persönliche Hintergründe und Erfahrungen, die die Einschätzungen und Beurteilungen des Autoren-Duos zumindest mit-geprägt haben. Auch hierin sehe ich eine Stärke dieses fast 700 Seiten starken Buches: die in gutem Sinne gegebene Rechenschaft über eigene Anschau-

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ungen, Anfragen und Annahmen sowie über deren bildungsbiographische und theologische Grundlagen. Wer die Nachkriegszeit unter dem Aspekt des Mangels erlebt hat, kommt vermutlich zu anderen Ansichten als jemand, der die Masse an Kinderliteratur tagtäglich vor Augen hat. Wer die Zeit des hermeneutischen Religionsunterrichts als Befreiung von der Evangelischen Unterweisung oder Katechetik empfunden hat, wird anders mit Konzepten Kanonischer Theologie umgehen als jemand, der das Ende der historisch-kritischen Methode(n) als Befreiung von einer problematischen Bevormundung erfahren hat und die Bibel als Wort des lebendigen Gottes in Anspruch und Zuspruch ernst nimmt, ohne zwischen vermeintlichem Menschenwort und Gotteswort unterscheiden zu müssen. Bemerkenswert sind die Bebilderungen, Skizzen und Veranschaulichungen, die das Buch von vorne bis hinten immer wieder zu einer illustren bzw. illustrativen Freude werden lassen. Hierdurch wird nicht nur der Lesefluss angenehm unterbrochen, sondern Inhalte intensiv in Szene gesetzt und veranschaulicht. Da etliche Kinderbibeln insbesondere aus den vergangenen Jahrhunderten kaum noch öffentlich zugänglich sind, gebührt dem Verfasser-Duo sowie dem Verlag für diese aufwändige Gestaltung des Buches mit einer Fülle an Farbreproduktionen ein besonderer Dank, die auch letztlich den sehr hohen Preis erklären kann und rechtfertigt. Ein ausführliches Namen-Register rundet ein rundum gelungenes Buch ab. Aber ein Verzeichnis von Sachaspekten, Orten und Bibelstellen hätte noch mehr den Charakter eines Hand-Buches hervorheben können. Viele Literaturanga-

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ben finden sich in den Fußnoten. Eine ausführliche Bibliographie mit hervorragender Suchfunktion befindet sich auf der dem Buch beigefügten CD-ROM, deren Verwendung völlig problemlos ist. Somit ist dem Autoren-Duo ein überragendes, überaus empfehlenswertes Grundlagen- und Handbuch zur Geschichte der Kinder- und Schulbibeln gelungen! Sowohl die deutende Darstellung

als auch das lesefreundliche Layout lassen das Herz jedes Kinderbibelliebhabers höher schlagen, werden zu neuen Vorschlägen für die Gestaltung von Kinderund Schulbibeln führen und ein neues Kapitel der Kinderbibelforschung aufschlagen.

Reiner Andreas Neuschäfer

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Die Autorinnen und Autoren

Friederike Bergel studierte Deutsch und Evangelische Theologie für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen an der Universität Hildesheim; derzeit ist sie Lehramtsanwärterin an einer Grundschule im Landkreis Goslar. Dr. Gerhard Büttner ist em. Professor für Evangelische Theologie mit den Schwerpunkten Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Universität Dortmund. Astrid Dinter, Pfarrerin i.R. ist Honorarprofessorin an der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Sarah-Lena Eikermann, Studium der Fächer Evangelische Theologie und Deutsch (Schwerpunkt Lehramt Grundschule) ist Lehramtsanwärterin im Vorbereitungsdienst in Niedersachsen.

Dr. Corinna Hößle ist Professorin für Didaktik der Biologie an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg. Sie beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Kompetenzbereich des ethischen Bewertens. Außerdem leitet sie eine »Grüne Schule« im Botanischen Garten sowie eine Schule zur Erforschung der menschlichen Sinne. Dr. Christina Kalloch ist Professorin für Praktische Theologie mit dem Schwerpunkt Religionspädagogik an der Universität Hannover. Dr. Ulrich Kropac`´ ist Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der Religionslehre, für Katechetik und Religionspädagogik an der Katholischen Universität EichstättIngolstadt.

Dr. Lilian Fried, Diplom-Pädagogin sowie Grund- und Hauptschullehrerin, ist Professorin für Pädagogik der frühen Kindheit an der Fakultät Erziehungswissenschaft und Soziologie der Technischen Universität Dortmund.

Dr. Kerstin Michalik ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Didaktik des Sachunterrichts an der Universität Hamburg. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Philosophieren mit Kindern als Unterrichtsprinzip, Historisches Lernen, Forschendes Lernen.

Stefanie Görk ist Lehrkraft für besondere Aufgaben in der Religionspädagogik am Institut für Evangelische Theologie an der Universität Kassel.

Christine Mohr studiert die Fächer Latein und Katholische Religionslehre für das Lehramt an Gymnasien an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

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Die Autorinnen und Autoren

Dr. Elisabeth Naurath ist Professorin für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Universität Osnabrück.

Jana Simon ist Sozialpädagogin und arbeitet an der Förderschule Werner Vogel in Leipzig.

Carina Pitschmann studierte Mathematik und Evangelische Theologie für das Lehramt an Grund-, Haupt- und Realschulen; sie ist Doktorandin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evangelische Theologie der Universität Hildesheim.

Viktória Šoltésová PhD., ist Professorin für Missionswissenschaft in der Pädagogischen Fakultät Matej Bel Universität in Banská Bystrica/Slowakei.

PD Dr. Stefan Scholz ist Dozent im Elitestudiengang Ethik der Textkulturen und Pfarrer im Schuldienst, Erlangen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Bibelhermeneutik, Ideologiekritik und Bibeldidaktik.