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German Pages 419 Year 2016
George-Jahrbuch 11 (2016/2017)
George-Jahrbuch Band 11 (2016/2017)
Im Auftrag der Stefan-George-Gesellschaft
herausgegeben von Wolfgang Braungart und Ute Oelmann
De Gruyter
IV Redaktionelle Mitarbeit: Ellen Beyn, Christina Caroline Peters, Sabrina Deppermann, Anna Lenz
Das George-Jahrbuch erscheint im Abstand von jeweils zwei Jahren. Es veröffentlicht Originalbeiträge in deutscher, in Ausnahmefällen auch in englischer und französischer Sprache. Ein Merkblatt zur Manuskriptgestaltung kann bei den Herausgebern angefordert werden. Die Beiträger werden gebeten, ihre Manuskripte inklusive Datenträger satzfertig an die Herausgeber einzusenden und Änderungen in den Korrekturfahnen nach Möglichkeit zu vermeiden, da der Verlag die durch die Autorkorrekturen verursachten Mehrkosten nur im beschränkten Maß trägt. Honorare können nicht gezahlt werden. Beiträger erhalten 20 Sonderdrucke ihres Beitrags und ein Exemplar des Jahrbuchs. Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Haftung übernommen. Für die hier veröffentlichten Aufsätze hat § 4 UrhRG Gültigkeit. Rezensionsexemplare werden an die Herausgeber erbeten.
ISBN 978-3-11-047833-4 ISBN (PDF) 978-3-11-048697-1 ISBN (EPUB) 978-3-11-048704-6 ISSN 1430-2519
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Ü Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX
Aufsätze Ute Oelmann „Moi, je n’ai plus envie de traduire“. Etienne George als Übersetzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Friedmar Apel Konkurrenz im Traumland. Algernon Charles Swinburne bei Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt . .
13
Bernhard Böschenstein George als Übersetzer Baudelaires und Verlaines. Entsprechung – Verfremdung – Erfindung . . . . . . . . . . . . .
27
Franziska Walter Um Maximin. Georges Übersetzung der Shakespeare-Sonette in den ‚Blättern für die Kunst‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Giulia Radaelli Stefan Georges lingua romana und „das dichten in fremdem sprachstoff“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
Carmen Gómez García Stefan George in spanischer Übersetzung . . . . . . . . . . . . . .
89
Helmuth Kiesel Stefan Georges Kriegstriptychon. Über die Gedichte ‚Der Krieg‘, ‚Der Dichter in Zeiten der Wirren‘, ‚Einem Führer im ersten Weltkrieg‘ und ‚Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
DOI 10.1515/george-2016/2017-0001
VI
Inhalt
Gabriela Wacker „Ich werde heldengrab.“ Georges ‚Hyperion‘ und ‚Der Krieg‘ zwischen Heldenverdichtung und Selbstentzug . . . . . . . . . . 133 Gabriele Guerra ‚Herr der Wende‘ und ‚erkrankte welten‘. Wirklichkeit des Apokalyptischen und Erwartung des Eschatologischen bei George und in seinem Kreis 1914–1917 . . . . . . . . . . . . . . . 157 Daniela Gretz Allerlei Krieg. Der George-Kreis, das ‚Jahrbuch für die geistige Bewegung‘ und der Erste Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . .
171
Peter Sprengel „Die jugend ruft die Götter auf.“ Stefan Georges Gedicht ‚Der Krieg‘ und das Kriegserlebnis der nächsten Generation (Otto Braun) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Markus Pahmeier Sapphischen Tones. Der Adoneus in Stefan Georges Lyrik . . . . 211 Ute Oelmann „Und gute Gespräche vereinten mich mit seinem Wesen“. Stefan George und Rainer Maria Rilke . . . . . . . . . . . . . . . 231 Hiroshi Matsuo Friedrich Gundolf und Arthur Schnitzler. Ein Dialog über Dichter und Helden . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Sándor Komáromi Später Nachklang des frühen George. Hinweis auf Theodor Hoch, ein vergessener österreichischungarischer Lyriker und Buchkünstler . . . . . . . . . . . . . . . 289 Robert Matthias Erdbeer Parawissenschaft und Parakunst – Zur Esoterik im George-Kreis. Bemerkungen zu einem aktuellen Forschungsfeld aus Anlass einer Studie von Jan Stottmeister . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
Inhalt
VII
Dokumentation Katharina Roettig und Robert E. Lerner Briefe von Ernst Kantorowicz und Woldemar von UxkullGyllenband an Josef Liegle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Rezensionen Kai Kauffmann: Stefan George. Eine Biographie (Manfred Koch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Franziska Merklin: Stefan Georges moderne Klassik. Die „Blätter für die Kunst“ und die Erneuerung des Dramas (Ute Oelmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Wolfgang Braungart (Hg.): Stefan George und die Religion (Gabriele Guerra) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Gabriele Wacker: Poetik des Prophetischen. Zum visionären Kunstverständnis in der Klassischen Moderne (Jörg Löffler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Janus Gudian: Ernst Kantorowicz. Der „ganze Mensch“ und die Geschichtsschreibung. (Jan Andres) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Stefano Bianca (Hg.): „Wir sind die späten Erben des Schönen, das ewig währt“. Michael Stettler und Rudolf Fahrner. Eine Dichterfreundschaft in Briefen (Kay Ehling) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Christian Weber: Max Kommerell. Eine intellektuelle Biographie (Barbara Stiewe) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Katharina Meiser: Fliehendes Begreifen. Hugo von Hofmannsthals Auseinandersetzung mit der Moderne (Markus Pahmeier) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
VIII
Inhalt
Richard M. Meyer: Moral und Methode. Essays, Vorträge und Aphorismen. Herausgegeben von Nils Fiebig (Thomas Amos) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 Cristina Fossaluzza / Paolo Panizzo (Hg.): Literatur des Ausnahmezustands (1914–1945) (Wolfgang Braungart) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Barbara Stambolis (Hg.): Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen (Wolfgang Braungart) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 Aus der Stefan-George-Gesellschaft Gisela Eidemüller Nachrichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Stefan-George-Gesellschaft e. V. Bingen . . . . . . . . . . . . . . 405 Anschriften der Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408
Inhalt
IX
Vorwort
Die vorliegende, elfte Folge des George-Jahrbuchs hat zwei Schwerpunkte: 2013 befasste sich die Jahrestagung der George-Gesellschaft mit dem großen Thema ‚Stefan George und das literarische Übersetzen‘, 2014 mit dem Ersten Weltkrieg und seiner Rezeption im George-Kreis. Beide Tagungen gehören in gewisser Weise zusammen; sie waren längst überfällig; erschöpfen konnten und wollten sie aber diese Themenfelder natürlich nicht. George ist nämlich einerseits ein Dichter der europäischen Moderne; schon der junge Dichter erhält entscheidende Impulse vor allem aus Frankreich und hier besonders von Stéphane Mallarmé und seinem Kreis (der Briefwechsel zwischen Mallarmé und George liegt gedruckt vor; im Jahrbuch 10 wurde er besprochen). George war andererseits aber auch ein Dichter im nationalen Kontext; er und sein Kreis wurden vom Ersten Weltkrieg, dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (so schon George F. Kennan 1979), weit mehr als nur am Rande berührt. Wie andere junge Dichter, Künstler, Intellektuelle gab es auch im Kreis Begeisterte; George selbst zählte gewiss nicht dazu. Die aspektreichen Studien unseres Jahrbuchs dokumentieren diese beiden Jahrestagungen. Hinzu kommen weitere Aufsätze zu einer wichtigen formalen, metrisch-rhythmischen Eigenheit vieler Gedichte Georges, zur Ausstrahlung, den kommunikativen Verbindungen und der Rezeption Georges und seines Kreises (Rilke, Schnitzler, Rezeption in Ungarn, Theosophie). Derzeit entstehen weitere Briefeditionen; einen bislang unbekannten Briefwechsel dokumentieren wir auch in diesem Jahrbuch (Ernst Kantorowicz, Woldemar von Uxkull-Gyllenband, Josef Liegle). Der Rezensionsteil des Jahrbuchs macht erneut deutlich, wie gut sich die GeorgeForschung weiterentwickelt. Ein schönes Zeichen dafür ist auch, dass das George-Handbuch, das 2012 erschienen ist und im letzten Jahrbuch bereits ausführlich besprochen wurde, mittlerweile in einer leicht korrigierten zweiten Auflage (als preisgünstige Paperback-Ausgabe) vorliegt.
DOI 10.1515/george-2016/2017-0002
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Vorwort
Wiederum danken wir gerne und herzlich den Bielefelder Helfern bei der Redaktion dieses Jahrbuchs: Ellen Beyn, Christina Caroline Peters, Sabrina Deppermann und Anna Lenz. Jan Andres, Saskia Fischer, Lutz Graner und Lore Knapp haben uns beim Korrekturlesen unterstützt. Wolfgang Braungart Ute Oelmann
„Moi, je n'ai plus envie de traduire“
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Aufsätze Ute Oelmann
„Moi, je n’ai plus envie de traduire“. Etienne George als Übersetzer Erstaunlicherweise gab es kluge Leute, die Georges Übersetzungen für den besseren Teil seines Werkes hielten, so – wohlbekannt – Theodor Adorno in einer Gesprächsaufzeichnung mit Hans Mayer von 1967.1 Weniger bekannt ist, dass auch der noch blutjunge Student Norbert von Hellingrath in einer Seminararbeit aus dem Sommer 1906 Georges Verlaine-Übertragungen nicht nur allen anderen Übersetzungen des Franzosen, sondern auch Georges ihm bis dato bekannt gewordener eigener Dichtung vorzog.2 Imponierend ist schon die schiere Menge der Übersetzungen: von den 18 Bänden der ‚Gesamt-Ausgabe‘ enthalten die Bände 10 bis 16 nur Übersetzungen, 17 und 18 unter anderem Übersetzungen, womit schon die Hälfte erreicht wäre, aber auch die ‚Fibel‘, Band I, enthält neben den frühen Gedichten eine Reihe von Übertragungen aus der letzten Schulund frühen Reisezeit 1887/88.3 Noch ist der Öffentlichkeit nicht bekannt, dass dies nur Stellvertreter für Kostproben von zum Teil umfangreichen Übersetzungsprojekten Georges sind. Ein in Arbeit befindlicher Nachlassband wird sie dokumentieren.4 Auf diesem hier nur skizzierten Hintergrund verblüfft das als Bestandteil des Titels gewählte Zitat, ein Zitat aus einem frühen Brief 1
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Theodor Adorno interpretiert Stefan George. Rundfunksendung 23. 4. 1967. Zitiert nach dem Mitschnitt vom 3. 1. 2007. Maik Bozza: Norbert von Hellingraths ‚Über Verlaineübertragungen von Stefan George‘. In: Jürgen Brokoff / Joachim Jacob / Marcel Lepper (Hg.): Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne, Göttingen 2014, S. 361–392. Stefan George: Gesamt-Ausgabe der Werke. Endgültige Fassung, Berlin 1927ff. Im Folgenden mit GA, Bandnummer und Seitenzahl zitiert. Im Folgenden wird häufig aus handschriftlich überlieferten Texten und Briefen zitiert, die sich sämtlich im Stefan George Archiv in Stuttgart befinden und bislang nicht publiziert wurden. Darauf weist die Angabe Hs (StGA) hin.
DOI 10.1515/george-2016/2017-0003
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Ute Oelmann
Georges, umso mehr.5 Ich habe immer wieder die These vertreten, dass jedem Neuansatz im Werk Georges eine Übersetzungsphase als Einübung vorausging, Einübung in neue Stile und Töne, in Metren, Rhythmen, Strophenformen, Reimstrukturen oder -abfolgen, ja auch Wortfelder und Sujets. Das heißt, seine Übersetzungen dienten nicht an erster Stelle dem Transfer eines Fremden in die eigene Sprache zum Nutzen einer breiteren Leserschicht, sondern immer wieder aufs Neue in Zeiten der Krise deren Überwindung.6 Mit dieser These im Kopf war es befriedigend und verblüffend zugleich, dass das Werk vor dem eigentlichen Werk, dass das Geschriebene und Übersetzte des jungen Etienne George eben diese, meine These bestätigte. Ist ein Zweck erfüllt, so lässt man gerne das, was diesem Zweck diente, hinter sich zurück. Manches, das ganz im Zwecke aufging, wird vernichtet, anderem wird ein kleinerer oder größerer Eigenwert zugesprochen. Als Etienne George sich zu jener Lustlosigkeit bekannte, hatte er einmal wieder ein Ziel erreicht: Sein Drama ‚Manuel‘ hatte er im Sommer (Juli/August) 1888 abgeschlossen, wie er den Freunden Arthur Stahl und Carl Rouge aus London berichtete. Mit diesem Dramenprojekt trug er sich damals seit Jahren, es führt in seine Schulzeit zurück. Er war wohl in den Jahren 1886/87 damit beschäftigt, in Nachfolge oder in Gleichzeitigkeit mit der Arbeit an einem anderen Stück, an ‚Phraortes‘. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass Etienne George sich – wie seine Darmstädter Schulfreunde – vorrangig als Dramendichter verstand, der nebenbei lyrische Gedichte schrieb. Von der ersten frühen Fassung des ‚Manuel‘ ist uns durch Publikation im ‚Schlussband‘ der ‚Gesamt-Ausgabe‘ das Bruchstück einer Personenrede, 11 Blankverse, erhalten (‚Timon‘). In der ‚Vorbemerkung‘ zu eben diesem ‚Schlussband‘ von 1934 lesen wir, dass diese früheste Fassung „etwa aus dem Jahre 1886“ stamme und „auf kindlicher stufe nach art des vor-goethischen schäfergedichts einfachste urmenschliche verhältnisse“ behandle.7 Nun wissen wir zwar, dass der erste Teil des ‚Schlussbandes‘ 5 6
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Serienbrief Georges an Arthur Stahl, 1.–6. Januar 1889, Hs (StGA). Ausführungen dazu finden sich in den von mir gezeichneten Anhängen zu den Einzelbänden der ‚Sämtlichen Werke‘ Stefan Georges. Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff. Im Folgenden mit SW, Bandnummer und Seitenzahl zitiert. GA XVIII Schlussband, S. [6].
„Moi, je n'ai plus envie de traduire“
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noch von George selbst zusammengestellt wurde, somit George selbst die kleine Probe ausgewählt hatte, die ‚Vorbemerkung‘ aber dürfte nicht aus seiner Feder stammen, weder die Rede von der „kindlichen stufe“ – George war 1886 immerhin 18 Jahre alt – noch gar jene vom „vor-goethischen schäfergedicht“ als Vorbild für eigenes dramatisches Dichten. Ob der Deutschunterricht am Darmstädter Gymnasium solche Lektüre bot, scheint zweifelhaft; die auf die Schulzeit zurückblickenden Briefe des Jahres 1888 aber verraten wöchentliche Theaterbesuche: Goethe, Schiller, Shakespeare, Historiendramen waren angesagt und George beschäftigte sich nach Ausweis wiederum des ‚Schlussbandes‘ mit Übungen am Goethischen Drama, der Versifizierung von dessen ‚Egmont‘, eine ‚Übertragungsleistung‘, die erst die Erben Georges in den letzten Band der ‚Gesamt-Ausgabe‘ aufnahmen. Also waren nicht tändelnde Schäfergedichte Vorbild für die ersten dramatischen Schreibversuche und für den frühen ‚Manuel‘, kein Gattungstransfer hatte stattgefunden. Oder doch? In einer nur in Teilen erhaltenen Handschrift vom Mai 1888, nach eigener Definition die Sammlung früherer „poetischer versuche“, findet sich ein 1901 nicht in die ‚Fibel‘ aufgenommener Text, ‚Thyrsis und Amaranth. Nach dem Italienischen‘,8 die wohl recht freie Übertragung eines Schäfergedichts, dessen ironische Schlusswendung allerdings kaum zum rein idyllischen Ton der frühen ‚Manuel‘Verse passt. Vielleicht nur ein Zufall, dass George den Text so wenig in die ‚Fibel‘ aufnahm wie seine Erben in den ‚Schlussband‘. Der Schüler verwarf also sein Drama ‚Phraortes‘ ebenso wie seine frühen ‚Manuel‘-Versuche und begann zu übersetzen. Nicht mehr aus dem Italienischen, das er als 15-jähriger zu lernen begonnen hatte, angeblich um Petrarca zu verstehen – er unterrichtete noch 1887/88 den Freund Stahl darin – sondern aus einer soeben neuerlernten Sprache, dem Norwegischen. Er machte sich an die Übersetzung von Ibsens ‚Catilina‘. Diese Übung verläuft fast parallel mit der neuerlichen Arbeit an dem, was er später die „zweite Stufe“ seines „Schaustücks Manuel“ nannte und im März 1893 in den dritten Band der ersten Folge der ‚Blätter für die Kunst‘ aufnahm.9 Nun gibt es Belege dafür, dass auch die Darmstädter Gymnasiasten vom Ibsenfieber erfasst waren, das Hof8 9
Hs (StGA). Stefan George: „Aus Manuel. ein Schaustück“, unterzeichnet „Rochus Herz“. In: Blätter für die Kunst I3, März 1893, S. 72–78.
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Ute Oelmann
theater Ibsens Stücke präsentierte, aber war das ein ausreichender Grund, ein Schauerstück wie ‚Catilina‘ zu übersetzen? Ich möchte hier einfach einmal behaupten, dass George nach einer neuen dramatischen Form und Sprache suchte, einer zeitgenössischen Dramenpsychologie, auch wenn die Charaktere antike Römer waren. Nach Schulabschluss im März 1888 nahm er sowohl die nicht abgeschlossene Übersetzung des ‚Catilina‘ als auch den ihm viel Sorge bereitenden ‚Manuel‘ nach London mit. ‚Catilina‘ konnte er im Mai 1888 abschließen, zu einem Zeitpunkt, als er seine Gedichte und kleineren Übersetzungen der Jahre 1886/87 sammelte. Das weitaus wichtigere eigene Stück konnte er erst im Juli vollenden, ohne jedoch damit zufrieden zu sein. „Mein ‚Manuel‘ den ich fertig vor mir sehe, der vor seiner vollendung mich so sehr ermutigte, giebt jezt mir durchaus keine ermutigung mehr, ich weiss selbst nicht warum“, schrieb er am 14. 8. 1888 an den Freund Arthur Stahl und ergänzte verallgemeinernd: „Mir aber ist nichts klar. Ich weiss nicht ob ich nach ‚Manuel‘ überhaupt wieder ein drama beginnen soll;10 obgleich der stoff vorliegt und wider meinen willen allmählich klarere formen annimmt.“11 Diesen Stoff, dieses sich formende Stück kennen wir nicht. Sommer und Herbst 1888 herrscht Krisenstimmung in London, es entstehen einzelne Gedichte wie ‚Die Glocken‘ und ‚Ich kam als der winter noch thronte‘, später in der ‚Fibel‘ unter dem Gesamttitel ‚Von einer Reise 1888–89‘ veröffentlicht,12 und George beginnt eine weitere Übersetzung eines Stückes von Ibsen, eines wenig bekannten Historiendramas ‚Die Heermannen auf Helgeland‘, so seine Titelgebung nach ‚Haermandene pa helgeland. Skuespil i 4 handlinger, Kobenhaven 1885‘. Er liest das Original im Juli in London und beginnt sogleich mit der Übersetzung.13 Es ist ein düsteres Germanenstück um Frauenraub, Männerehre, Blutsbrüderschaft, Freundschaft und Verrat, mit zahllosen Leichen, im nördlichsten Norwegen angesiedelt.
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Auffällig ist die Parallele zum späteren Bekenntnis Georges gegenüber Hugo von Hofmannsthal in seinem Brief von Anfang Januar 1892: „denn was ich nach Halgabal noch schreiben soll ist mir unfasslich“. In: Stefan George / Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal, 2. erg. Aufl., München – Düsseldorf 1953, S. 12. Brief Georges an Arthur Stahl, Serienbrief 5./14. August 1888, Hs (StGA). SW I, Die Fibel, S. 53–66. Brief Georges an Arthur Stahl, 15. 7. 1888, Hs (StGA).
„Moi, je n'ai plus envie de traduire“
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Was half es diesmal, das Übersetzen? Offensichtlich wenig, nach Ausweis jenes resignierten Serienbriefes vom 1.–6. Januar 1889 aus Montreux, wo die „luft wenig dramatisch“, vielleicht „lyrisch episch“ war, es dennoch nicht gelungen war, „eine reihe von werken der beiden ersten kunstgattungen auszubilden“ (Lyrik, Dramatik), und wo er keine Lust mehr zu übersetzen hatte: „Moi, je n’ai plus envie de traduire.“ Das klingt nach crise totale, erst recht weil George zugibt, nicht zu wissen warum: „je ne sais pourquoi“.14 Lebensgeschichtlich liegt eine Antwort auf der Hand, d.h. sie findet sich in eben diesem langen, teils deutsch, teils französisch verfassten Brief: Etienne George ist Teil einer geradezu mondänen Gesellschaft, er spricht französisch und italienisch mit einer Prinzessin, spielt Theater: den Möchtegernrevolutionär umgibt ‚Welt‘, „vivacité“, „l’agilité“; „aimable“ und „très loquace“ ist seine adlige Gastgeberin, kurzum, er lebt und schreibt nur sehr wenig. Die Übersetzung der ‚Heermannen‘ hat offensichtlich den Dramatiker in ihm nicht weiter gebracht, es folgt in direktem Anschluss keine Umarbeitung des ‚Manuels‘, ein Stück, in dem es um legitime Herrschaft, Freundschaft und Gefolgschaft, Vater-Tochter-Liebe und aufkeimende, keusche Liebe zwischen den Geschlechtern geht, aber auch um Aufstand, Verrat und Tod, d.h. um Politik. Dementsprechend rechtfertigt George die nutzlos fürs Werk scheinende, zeitfressende Übersetzung mit einem außen liegenden Zweck: Er hat zur „privaten benutzung seines freundes Carl Rouge aus dem Norwegischen übersetzt“, wie auf dem Titelblatt zu lesen ist,15 wohl weil jener Theaterfreund der Fremdsprache nicht mächtig war. Warum aber dieses Ibsenstück von allen möglichen, die er im Original besaß?16 Hatten den Schüler Etienne George, Außenseiter und KleinstadtDandy, die ganz andere dramatische Atmosphäre, hatten ihn Aufrührertum, Amoral und Dekadenz des ‚Catilina‘ fasziniert, Treue und Verrat, so fand sich all dies thematisch wie auch in der Figurenkonstellation ins Nördlich-Germanische versetzt, in den ‚Heermannen auf Helgeland‘ wieder. Es handelt sich bei den beiden Stücken um historische Spiegelungen, vergleichbar jenen in seinen ‚Büchern der Hirten- und Preis14 15 16
Serienbrief Georges an Arthur Stahl, 1.–6. 1. 1889, Hs (StGA). Hs (StGA). Die Originalausgaben der Werke von Henrik Ibsen aus Georges Besitz befinden sich heute im Stefan George Archiv.
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Ute Oelmann
gedichte, der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten‘. Das trifft vor allem auf die Konstellation der weiblichen Hauptfiguren in beiden Stücken zu: Aurelia, Gattin von Catilina und Furia (der Name sagt schon fast alles) – Verführerin und hasserfüllte Vernichterin; Dagny „hausfrau“ Sigurds und Hjördis Kebsweib, Mannweib, Zauberin. Auf der einen Seite Einfalt, Treue, weitgehend positiv konnotierte Weiblichkeit (Aurelia, Dagny), auf der anderen Sinnlichkeit, Ehrsucht, Hass, Verrat und Zauberei (Furia, Hjördis). Dieses einerseits domestizierte, andererseits dämonisierte Weiblichkeitsbild wird Georges Werk von seinen Anfängen (‚Prinz Indra‘) bis zum Spätwerk prägen – die unreine Vestalin Furia begegnet uns im Zyklus ‚Algabal‘ wieder.17 Sie hatte wie die anderen Frauen ein „mal“, d.h. sie war sexuell erfahren. Weibliche Niedertracht, Ehr-, Herrsch- und Rachsucht sowie Anmaßung männlicher Privilegien gepaart mit sexueller Attraktivität, sprach- und bildmächtiger konnten sie dem um seine eigene geschlechtliche Identität Ringenden kaum irgendwo in der Literatur jener 80er Jahre begegnen. Im Schaustück ‚Manuel‘ von 1888 findet sich allerdings keine Spur von solch dämonischer Weiblichkeit. Die männlichen Hauptfiguren, legitime und illegitime Herrscher, Aufrührer und Gefolgsleute fangen allerdings an, ihre idyllische Simplizität zu verlieren, Plastizität und Mehrdimensionalität zu gewinnen. Im späteren lyrischen Werk Georges werden sie alle Gestalt: ‚Der Täter‘, ‚Der Verworfene‘, ‚Die Führer‘, ‚Der Fürst und der Minner‘, ‚Manuel und Menes‘, ‚Algabal und der Lyder‘, ‚Der Gehenkte‘ etc.18 Aber kehren wir nochmals zu ‚Manuel‘ und dessen weiterem Schicksal zurück, denn auch George gab nicht auf. So mag die Materialknappheit nach dem Erscheinen der beiden ersten ‚Blätter‘-Hefte 1893 George dazu veranlasst haben, Passagen aus dessen sogenannter „zweite[r] Stufe“ zu veröffentlichen; er beschäftigte sich eben gerade zu diesem 17
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Erstaunlich ist die Nähe zwischen Catilinas Erzählung von seiner Begegnung mit der Vestalin und derjenigen Algabals in dem Gedicht ‚Am markte sah ich erst die würdevolle‘ (SW II, S. 81): „Beim letzten schauspiel sah ich sie auf dem markte / Die priesterinnen festlich aufgeschmückt. / Zufällig warf ich auf die eine dieser / Mein auge und mit einem flüchtgen Blick / Traf sie auch mich. Er drang nur in die seele. / Ach diesen Ausdruck in den großen augen / Sah niemals ich bei einem weib zuvor.“ Hs (StGA). Vgl. SW V, S. 45 und S. 48; SW VI/VII, S. 38f., S. 40, S. 42 und S. 44; SW IX, S. 51.
„Moi, je n'ai plus envie de traduire“
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Zeitpunkt im März 1893 wieder mit einem Drama, der Lektüre und zumindest teilweisen Übersetzung von Robert Brownings ‚A Blot on the Scutchon‘ (1843). Werke Brownings befanden sich wohl seit längerem in seinem Besitz. Nur ein knapper Dialog aus dem dritten Akt des Stückes ist von seiner Übersetzung erhalten und im ‚Schlussband‘ publiziert.19 Jedenfalls geschah das Wunder: George gelang die „Um-Schreibung“ des ‚Manuel‘ und er veröffentlichte auch alsbald „Um-Schreibungen einiger Auftritte des ‚Manuel‘“ im 2. und 5. Heft der zweiten Folge der ‚Blätter für die Kunst‘, März 1894 und Februar 1895. Leider ist uns nicht sehr viel Text überliefert; erhalten ist aber eine Handlungsübersicht von Friedrich Gundolfs Hand, die die sehr weitgehenden Veränderungen belegt, vor allem die weitere Politisierung: Manuel ist nun Kriegsverächter und will Friedensbringer sein, entwickelt hat sich aber auch die keusche Liebe der Stirnküsse zu einer erfüllten Leidenschaft – Leila ist nun Geliebte, ‚Buhlerin‘ Manuels.20 Wiederum steht die Frage hartnäckig im Raum: was haben Lektüre und Übersetzung von Brownings Stück mit der neuerlichen Umarbeitung des ‚Manuel‘ zu tun? Ist die Vermutung eines Zusammenhangs nur eine von der Chronologie ausgelöste, durch meine eingangs formulierte Generalthese bedingte Phantasterei? Gestehen muss ich sogleich, dass jede Behauptung einer kausalen, einseitigen Abhängigkeit natürlich Unsinn wäre. Vieles geschah zwischen 1889 und 1893 in Leben und Werk Georges. Er war nicht mehr Etienne George. Derjenige, der ‚Hymnen‘, ‚Pilgerfahrten‘ und ‚Algabal‘ geschrieben hatte, war der neue Dichter Stefan George; die neue Dichtung war zwischen Ende 1889 und 1892 entstanden, nicht ganz unabhängig von der Erfahrung ganz anderer Dichtung, von ganz anderen Übersetzungen. Nebenbei: George hatte in der Zwischenzeit auch eine weit weniger übliche Übertragung vorgenommen. Er hatte seine in der Kunstsprache lingua romana verfassten Gedichte in ein soeben neu gefundenes deutsches Idiom übersetzt (1889/90).21
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Vgl. SW XVIII, S. 60f. Hs (StGA). Es handelt sich um die 1901 unter dem Titel ‚Zeichnungen in Grau‘ in die ‚Fibel‘ aufgenommenen Gedichte. Vgl. SW I, S. 71–79.
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Ute Oelmann
Brownings Dramen, die George noch 1899 gegenüber Gundolf einer Übertragung wert hielt,22 waren, wie auch das von ihm Übersetzte, eher handlungsarm, psychologisch raffiniert und von großer emotionaler Intensität. An dem übersetzten Stück mochte ihn aber auch die Figurenkonstellation und der Plot fasziniert haben, denn auch hier ging es um Verführung, Liebe, Ehre, Verrat und Tod in adligem Gewande. Nun habe ich einiges Thesenhafte über den möglichen Zusammenhang zwischen Übersetzungen und eigenen dramatischen Werken in Georges frühen Jahren vorgebracht, nichts aber zum Charakter dieser Übersetzungen mitgeteilt, von denen bislang vor allem chorische und liedhafte Passagen durch Publikation bekannt wurden (‚Chor der Unsichtbaren aus Ibsens Brand‘, ‚Chor aus Ibsens Komödie der Liebe‘; ‚Örnulfs Klage‘ aus den ‚Heermannen auf Helgeland‘), abgesehen von kurzen Szenen aus dem ‚Catilina‘, Dialogen, die auf eine große, wichtige Rede Catilinas hinführen.23 Verblüffend war für mich nach längerer Beschäftigung mit Georges späteren, berühmten Shakespeare-Übertragungen, dass ich hier – vor allem in der Übersetzung der ‚Heermannen‘ – den Übersetzer als Verwörtlicher, mit Karl Kraus zu sprechen,24 fand. Positiv gewendet fand ich eine Konkretheit, Dinglichkeit, ja fast nackte Wörtlichkeit, ermöglicht auch und nicht zuletzt durch eine strukturelle und semantische Nähe der Sprachen. In späteren Übersetzungen war festzustellen, dass gar manches Wort, das auf den ersten Blick als Neologismus auffiel, eine Analogbildung zum englischen oder niederländischen Wort war (so z.B. sterbling / sterfling; selbstwillig / selfwilled; nachverlust / afterloss).25 Solche Bildungen finden sich in der Übersetzung der ‚Heermannen‘ in großer Zahl: „landnahmsmann“, „unfriedtat“, „raubbusse“, „grobzeugrock“, „hausvolk“, „wegfahrende“, „mannsrock“, „holmgang“, „kriegswerk“, „gelagestube.“ Bei „ausgangs22
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Vgl. Friedrich Gundolf an Karl Wolfskehl, 23. 8. 1899 und an Stefan George, 1. 9. 1899. In: Robert Boehringer / Georg Peter Landmann (Hg.): Stefan George – Friedrich Gundolf: Briefwechsel, München – Düsseldorf 1962, S. 36 und S. 38. Erstere nahm Stefan George 1901 in die ‚Fibel‘ auf (SW I, S. 51 und S. 52), letztere Robert Boehringer und Freunde in den ‚Schlussband‘ (SW XVIII, S. 97 und S. 91–96). Karl Kraus: Sakrileg an George oder Sühne an Shakespeare. In: Die Fackel 34, 1932, 885–887, S. 45–64. Vgl. SW XV, S. 122 und SW XII, S. 174.
„Moi, je n'ai plus envie de traduire“
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vieh“ war selbst der junge George skeptisch, ob solch ein Neologismus per se verständlich sein könnte und fügte eine Fußnote an: „Vieh, das im winter nicht in die ställe kommt“. Aber er übernahm auch Wendungen, die im Deutschen verständlich, auf früheren Sprachstufen und in früheren Kulturzusammenhängen vielleicht auch üblich waren: „ehre von jemandem haben“, „jemanden wertsetzen“, „gram werden im herzen“.26 Eben diese Sprachschicht ist es, die den Leser in die ferne Vergangenheit, in „Erich Blutaxt’s zeit“, wie Ibsen / George am unteren Rand des Personenverzeichnisses mitteilen, zurückversetzt, in eine archaische Zeit. Dass dies auch manchmal leicht komische Effekte erzeugt, sei nicht geleugnet. Vergleicht man Georges Übersetzung mit der ‚Nordischen Heerfahrt‘, übersetzt von Randi Agnete Hartner, so fallen die Glättungen auf. Ihr Bauer Kaare spricht vom Glück, das ihm „hold“ war und immer syntaktisch korrekt, aber er trägt eben auch keinen „fellhut“ sondern einen „weiten Filzhut“.27 Was ich nun hier als intendierte Wörtlichkeit, als einen früh schon eingeübten und weitgehend beibehaltenen Übersetzungsstil Georges vorgestellt habe, wird von dem jungen Übersetzer selbst ganz anders gewertet. In umständlicher Diktion legt er dem Leser in einer längeren exkulpierenden Anmerkung die Gründe für die spezifische Beschaffenheit der Übersetzung und für die Eingrenzung der möglichen Rezipienten auf die „privatbenutzung“ seines Freundes dar: Anm: Das vorliegende werk macht keineswegs den anspruch einer regelrechten übersetzung. Es ist direkt aus dem text in dieser weise übertragen, und ist einzig der privatnutzung geweiht; Das strenge zu wörtliche sich halten an das nordische original ist für den laien gänzlich wertlos und unverständlich, die untergelaufenen schnitzer – die nach neuerer meinung jedoch nie undeutlichkeiten hervorrufen-, seien sie in der eile begangen oder aus unwissenheit, können vor dem geprüften sprachkenner nicht bestehen, – kurz und gut diese übertragung ist nur für den verständnisvollen nachsichtigen freund bestimmt. Der übersetzer.28
Nun war Carl Rouge einer, der sich in der Rolle des rücksichtslosen Kritikers gefiel, einer, der sich häufig zu Bedeutsamkeit aufblähte, und der, wie sich erwies, mit Georges ‚neuen Ideen‘ nichts anfangen konnte. Viel26 27 28
Sämtliche Zitate aus Hs (StGA). Sämtliche Zitate aus Hs (StGA). Hs (StGA).
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leicht schrieb auch hier der Adressat am Text der Anmerkung mit, hat sie letztlich verschuldet. Vielleicht aber verstand Etienne George damals unter einer „regelrechten übersetzung“ das, was er später, selbstbewusst geworden, an anderen Übersetzungen kritisierte: die erläuternde, glättende Übersetzung, die jedes Verstehenshindernis ausräumt, deren höchstes Ziel Vermittlung und Verständlichkeit ist. Schließlich enthält der kleine Text seltsame Formulierungen, ist doch von „laien“ die Rede und von „neuerer meinung“, für welche „untergelaufene schnitzer“ keine „undeutlichkeiten hervorrufen“. Das erinnert frappant an die Diskussionen um Friedrich Hölderlins Sophokles-Übersetzungen, denen der eine Kommentator genau gezählte eintausendundxx Fehler vorwarf, während ein anderer diese Fehler für völlig unbedeutend hielt, da sie aus seiner Sicht die poetische Kraft der Übersetzung, der griechischen Ausgangssprache ähnlich, nicht schmälerten oder störten.29 Ich will Georges Jugendübersetzungen nicht auf die Höhe von Hölderlins Sophokles-Übertragungen hieven. Ich möchte vor allem ihren Werkstattcharakter, ihre Funktion im Werkganzen andeutend belegen. Dass mir gar manches in Georges Übersetzungen dieser frühen Zeit besser gefällt als in den gängigen, heute erwerbbaren, will ich auch nicht verschweigen. Wie expressiv, gefühlssatt tönt doch Catilinas erster Monolog in Georges Übersetzung: Ich muß! Ich muß; so heißt mich eine stimme In tiefster seele. – Und ich will ihr folgen. Ich habe kraft für etwas besseres, Für etwas höheres als dieses leben. Ein langer zug von zügellosen freuden –! Nein, nein; sie stillen nicht des herzens drang. Wild fasst es mich! Vergessen will ich nur. Es ist vorbei! Mein leben hat kein ziel. Was blieb mir wohl von meinen jugendträumen? Wie leichte sommerwolken schwanden sie. Nur gram und täuschung ließen sie zurück; Das schicksal raubte jedes hoffen mir. Veracht dich selbst! Veracht dich, Catilina! Du fühltest edlen trieb in deinem busen;Und was ist deines ganzen lebens ziel Nur sättigung der sinnlichen begier.30
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Diskussion bei einer Tagung der Hölderlin Gesellschaft in Tübingen. Hs (StGA).
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1888 hatte George diese Übersetzung abgeschlossen; die Vehemenz der Gefühle und die Expressivität der Sprache gingen nicht spurlos verloren, etwas davon findet sich in ganz neuer Amalgamierung in den von erster Baudelaire-Lektüre und -Übersetzung inspirierten ‚Zeichnungen in Grau‘ des Jahres 1889 wieder.31
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SW I, S. 71–79.
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Konkurrenz im Traumland. Algernon Charles Swinburne bei Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt Schon bei ihrer ersten Begegnung 1891 in Wien hatten George und Hofmannsthal „in einer gewissen Weise“ über Swinburne gesprochen.1 Hofmannsthal hat sich noch kurz vor seinem Tod lebhaft daran erinnert: „man fühlte sich als Verbundene“.2 1892 schrieb Hofmannsthal nach der Lektüre der ‚Poems and Ballads‘ seinen Essay über Swinburne, den er George unverzüglich übersandte. Der bedankte sich für den „herrlichen aufsatz“ nicht ohne einen gelinde ironischen Kommentar: „Sie haben eine art erhabenen schwärmens über einen dichter gefunden auf das Sie und er stolz sein dürfen“.3 Der Essay ist tatsächlich ungewöhnlich pathetisch, als wollte der junge Hofmannsthal Swinburne in „dem prunkenden und glühenden Reichtum seiner Rhetorik, dem rollenden Triumph der strömenden Bilder“4 und auch an Wiederholungen übertreffen. Gleich dreimal klagt er, dass man „den goldenen Lorbeer“5 des Poet Laureate an Swinburne vorbeigetragen habe. Er gehöre nämlich zu jenen englischen Künstlern, denen der Geschmack für Moral und gesunden Gemeinsinn so sehr abgeht, daß sie für Saft und Sinn aller Poesie eine persönliche, tiefe und erregende Konzeption der Schönheit halten, der Schönheit an sich, der moralfremden, zweckfremden, lebenfremden.6
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Hofmannsthal an Walther Brecht, 20. 2. 1929. In: Stefan George / Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal, München – Düsseldorf 21953, S. 234–236, hier S. 235. Ebd. George an Hofmannsthal, 16. oder 23. 1. 1893. In: George / Hofmannsthal, Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal (Anm. 1), S. 56–57, hier S. 57. Hugo von Hofmannsthal: Algernon Charles Swinburne. In: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hg. von Bernd Schoeller. Reden und Aufsätze 1, Frankfurt a. M. 1979, S. 143–148, hier S. 145. Ebd., S. 143, 145 u. 148. Ebd., S. 143.
DOI 10.1515/george-2016/2017-0004
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Tatsächlich sprachen nicht nur moralische, sondern spätestens seit den ‚Songs Before Sunrise‘ auch politische Gründe gegen den radikalen Republikaner Swinburne. Oscar Wilde aber sollte in gewohnter Paradoxie die dem Dichter verweigerte Auszeichnung 1895 als deren unangreifbare Bestätigung ansehen: „He whom all poets love is the Laureate Poet always.“7 Den schwelgerischen Ästhetizismus, den Hofmannsthal Swinburne zuschreibt, hatte er selbst bereits in ‚Gestern‘ der Kritik unterzogen. Im Aufsatz über Oscar Wilde wird er ihn 1905 als sittliche Verfehlung abweisen: „Oscar Wilde aber war voll Unzucht, voll tragischer Unzucht. Sein Ästhetismus war etwas wie ein Krampf.“8 Ähnlich übertreibt Hofmannsthal schon die Charakterisierung Swinburnes im Kontext des englischen Ästhetizismus. Swinburnes Gedichte waren nicht lebensfremder als Hofmannsthals frühe Lyrik, vielmehr durchaus auf die elementaren Gegebenheiten der Natur zu beziehen und, als Kritik der Entfremdung, immer wieder auch auf die sozialen und politischen Entwicklungen im viktorianischen England.9 Die konformistische bürgerliche Kritik verstand das nur zu gut. So ist in Hofmannsthals angeblichem Schwärmen ein falscher Ton zu vernehmen, der wohl auf das Abgrenzungsbedürfnis zurückzuführen ist, das Hofmannsthal notorisch befiel, wenn er zu große Nähe verspürte.10 In einem Fragment aus dem Nachlass, das 1892 im Zusammenhang der Arbeit an ‚Der Tod des Tizian‘ entstand, tritt seine ambivalente Haltung deutlicher hervor.
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The Idler 7, 1895, S. 403. Hugo von Hofmannsthal: Sebastian Melmoth. In: Ders., Gesammelte Werke (Anm. 4), S. 341–344, hier S. 343. Dazu die unübertroffene Darstellung von Christian Enzensberger: Viktorianische Lyrik. Tennyson und Swinburne in der Geschichte der Entfremdung, München 1969. Eine werkpolitische Absicht Hofmannsthals unterstellt Klaus Günther Just: Die Rezeption Swinburnes in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende. In: William Foerste / Karl Heinz Borck (Hg.): Festschrift für Jost Trier zum 70. Geburtstag, Köln – Graz 1964, S. 466–489, hier S. 477: „Hofmannsthals SwinburneDeutung stellte einen Vorgriff auf sein eigenes künftiges Schaffen dar, lieferte ein Modell, nach dem sich zu richten in den 90er Jahren praktische poetische Erfolge versprach.“
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SWINBURNE
So große Lust, als der gequälte Sinn Vor Übersättigung nicht fassen kann So große Lust dass sie das Herz betäubt Mit ihrem bloßen allzusüßen Hauch Und Sinne stumm und Worte sinnlos macht11
Ähnliches sollte später Stefan George über Swinburne sagen. Im Aufruf für ein Baudelaire-Denkmal in der ersten Folge der ‚Blätter für die Kunst‘ reklamiert George Swinburne für seine europäische Zeitgenossenschaft.12 Dort erscheint er selbst, wie Wolfgang Braungart angemerkt hat,13 in seiner Ausnahmestellung, seinem „getrennt-sein von der einheimischen kunstrichtung“,14 das er im Bündnis mit Hofmannsthal aufzuheben getrachtet hatte. Spiegelbildlich aber steht in dem Aufruf auch Swinburne als ein Einzelner in seinem Land da, während ihn Hofmannsthal in der Gruppe der Präraffaeliten aufgehoben wähnte. Im ersten Band von ‚Zeitgenössische Dichter‘ bekommt er im Kreise der wichtigsten Geister, denen man das Wiedererwachen der Dichtung in Europa verdanke, dann einen etwas zweifelhaften Ehrenplatz zwischen Dante Gabriel Rossetti und Ernest Dowson. George sollte Swinburne bald hinter sich lassen. Noch in Melchior Lechters Gedenkbuch von 1934 aber wird ‚Eine Ballade vom Traumland‘ als „glorioses beispiel was unsere herrliche sprache in den zauberhänden eines meisters vermag“ zum Unsterblichen Stefan Georges erklärt. Sie sei „ein erstaunliches, kaum faßbares rätsel an laut, an gebrochenem licht: das ist sublime kammermusik der sprache für erlauchte ohren.“15
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Hugo von Hofmannsthal: Swinburne. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Hg. von Rudolf Hirsch, Clemens Köttelwesch, Heinz Rölleke und Ernst Zinn. Bd. 2: Gedichte 2. Hg. von Andreas Thomasberger und Eugene Weber, Frankfurt a. M. 1988, S. 73. Blätter für die Kunst, Erste Folge, 1. Band, 1892, S. 32: „in Deutschland: Stefan George – in England: Ch. A. [sic!] Swinburne.“ Vgl. Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997 (= Communicatio 15), S. 3. George an Dr. H. v. Hofmannsthal, 16. 1. 1892. In: George / Hofmannsthal, Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal (Anm. 1), S. 242–243, hier S. 242. Melchior Lechter: Zum Gedächtnis Stefan Georges, Berlin 1934, S. 33.
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Rudolf Borchardt exponiert in seinem um 1909 auf Swinburnes Tod geschriebenen Aufsatz die Ausnahmestellung des Dichters explizit auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Er stilisiert ihn zu einem heroischen Edelmann und Freiheitskämpfer, der sich gerade durch den Rückgriff auf die abendländische Tradition zu seiner Zeit in radikalen Widerspruch setzt. Die viktorianische Verpflichtung der Dichtung auf Moral und gesunden Gemeinsinn, der Alfred Lord Tennyson in seiner von vielen als Verrat betrachteten Wendung zur Gesellschaftsdichtung willig nachgekommen war, stellt Borchardt als totalitäres Regime dar: Nur unter den Vorzeichen insularer Geschlossenheit des befohlenen menschlichen und darum auch gesellschaftlichen Typus und der absoluten Gewaltsamkeit seiner Durchzwingung wird der Umweg der Poesie über den Radikalismus begreiflich, weil er allein in die Freiheit einer idealen Welt führt.16
Noch 1935 im Aufsatz über Edna St. Vincent Millay, die Borchardt als amerikanische Sappho in der Nachfolge Swinburnes betrachtete, erscheint der Dichter als „der wirkliche Rebell gegen wirkliche Mächte“.17 Borchardts nicht wenig irrsinnig anmutenden Brief an George vom Januar 190618 hat Ernst Osterkamp als „eine lustvoll inszenierte Herausforderung zu einem dichterischen Agon“ bezeichnet,19 in dem auch die Übertragungen Dantes und Swinburnes eine wichtige Rolle spielten. Im Widmungsgedicht der Sammlung ‚Swinburne. Deutsch von Rudolf Borchardt‘ wird der Engländer 1919 noch einmal zum Attraktionszentrum der Poesie und zum Schirmherrn seines Kampfes erklärt und um seinen Segen gebeten; mit dem doppelten Begriff des Fremden aber charakterisiert Borchardt zugleich seine Übersetzungskonzeption.
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Rudolf Borchardt: Swinburne. In: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hg. von Marie Luise Borchardt. Prosa 4, Stuttgart 1973, S. 145–160, hier S. 160. Rudolf Borchardt: Die Entdeckung Amerikas. Die Poesie von Edna St. Vincent Millay. In: Ders., Gesammelte Werke (Anm. 16), Prosa 3, Stuttgart 1960, S. 429–472, hier S. 442. Vgl. Borchardt an George, 14. 1. 1906. In: Rudolf Borchardt: Gesammelte Briefe. Hg. von Gerhard Schuster und Hans Zimmermann. Bd. 2: 1895–1906, München – Wien 1995, S. 398–404. Ernst Osterkamp: Nachwort. In: Rudolf Borchardt: Aufzeichnung Stefan George betreffend. Hg. von Ernst Osterkamp, München 1998 (= Schriften der Rudolf Borchardt-Gesellschaft 6/7), S. 171–206, hier S. 178f.
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Denn ich schwur mich, Fremder, an dein Fremdes, Seit ich breiter durch des Knaben-Hemdes Wickelbande brach und Spiel in Bann tat, – Seit ich Waffen antat, Auszuziehn auf Raub und einen Gegner, Hast du, sitzend über Meer, ein Segner, Wie der Berg Magnet den Bug von Schiffen, Hast du mich ergriffen.20
Spätestens seit Borchardts Rezension von ‚Der siebente Ring‘21 war klar, wer mit dem Gegner gemeint war. Swinburnes ‚A Ballad of Dreamland‘ von 1876 kommt in dem von Borchardt angezettelten Wettstreit besondere Bedeutung zu. George übersetzte es als einziges eigens für ‚Zeitgenössische Dichter‘, und Borchardt hatte sich gerade mit diesem Gedicht besondere Mühe gegeben. Im Nachlass befinden sich sieben handschriftliche Vorfassungen. Algernon Charles Swinburne A BALLAD OF DREAMLAND
I hid my heart in a nest of roses, Out of the sun’s way, hidden apart; In a softer bed than the soft white snow’s is, Under the roses I hid my heart. Why would it sleep not? why should it start, When never a leaf of the rose-tree stirred? What made sleep flutter his wings and part? Only the song of a secret bird. Lie still, I said, for the wind’s wing closes, And mild leaves muffle the keen sun’s dart; Lie still, for the wind on the warm sea dozes, And the wind is unquieter yet than thou art. Does a thought in thee still as a thorn’s wound smart? Does the fang still fret thee of hope deferred? What bids the lids of thy sleep dispart? Only the song of a secret bird.
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Rudolf Borchardt: An den Heros. In: Swinburne. Deutsch von Rudolf Borchardt. Hg. von Friedmar Apel, München 1989/1990 (= Schriften der Rudolf Borchardt-Gesellschaft 1), S. 7–9, hier S. 7. Vgl. Rudolf Borchardt: Stefan Georges ‚Siebenter Ring‘. In: Ders., Gesammelte Werke in Einzelbänden (Anm. 16), Prosa I, Stuttgart 1957, S. 258–294.
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Friedmar Apel The green land’s name that a charm encloses, It never was writ in the traveller’s chart, And sweet on its trees as the fruit that grows is, It never was sold in the merchant’s mart. The swallows of dreams through its dim fields dart, And sleep’s are the tunes in its tree-tops heard; No hound’s note wakens the wildwood hart, Only the song of a secret bird. ENVOI
In the world of dreams I have chosen my part, To sleep for a season and hear no word Of true love’s truth or of light love’s art, Only the song of a secret bird.22
Swinburne bedient sich der knappsten Balladenform altfranzösischer Herkunft mit nur drei Reimen und vierhebigen Versen in variablem, vorwiegend steigendem Versmaß, fallend im Refrain. Mit einem elementaren Wortbestand aus dem Bereich der Natur, der Landschaft und des Gartens entfaltet das Gedicht den urbildlichen Vergleich des Gesangs der Vögel mit dem Lied des Dichters und kombiniert ihn mit der Vorstellung des Seelenvogels, der ältester Mythologie zufolge erst in der Lebensmüdigkeit oder ausnahmsweise im extremen Kummer vor Augen kommt. In der Wiederholung der Schlüsselwörter ‚heart‘, ‚roses‘, ‚sleep‘, ‚wind‘, ‚dream‘, ‚song‘ und ‚bird‘, in Reim, Alliteration und Refrain entfaltet die Ballade eine reiche Klangfolge, die dem Gesang der Nachtigall nachgebildet ist. Dem entspricht eine transitorische Folge von Bildern. Das dichterische Subjekt ist ein Vogel wie die Seele des sprechenden Ich, aber auch Schlaf, Traum und der Wind von See sind flüchtige, geflügelte Wesen. Mit dem versteckten Vogel ist vordergründig die Nachtigall gemeint. Die unscheinbare Drosselart baut ihr Nest bevorzugt am Boden unter Rosenbüschen, bei ihrem Gesang bleibt sie in der Regel unsichtbar. Auch für Swinburne stand die Nachtigall urbildlich für den Dichter und das Dichterische, vor allem für die Sappho, die Ovid zufolge vermöge ihrer Klage um verlorene Liebe wie eine Nachtigall zu singen verstand. Der als Kind vernommene Gesang der Nachtigall klang Swinburne in ihrer Dichtung wider. Mit ihr identifi-
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Algernon Charles Swinburne: A Ballad of Dreamland. In: Ders.: The Complete Works of Algernon Charles Swinburne. Bonchurch Edition. Hg. von Edmund Gosse und Thomas James Wise. Bd. 3: Poetical Works, London 1925, S. 78–79.
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zierte er sich in rührender Weise. „As brother and sister were we, child and bird, / Since thy first Lesbian word / Flamed on me, and I knew not whence I knew / This was the song that struck my whole soul through“.23 Ihr schrieb er folglich zu, an ihrer Zeit gekrankt zu haben wie er an seiner. So stilisiert Swinburne die Sappho zum Urbild des modernen Dichters, der ungetröstet bleiben muss. Von vornherein nimmt das Gedicht Bezug auf jenen Prozess der Zerstörung des Herzens, der seit Baudelaires ‚Fleurs du Mal‘ der avancierten europäischen Lyrik eingeschrieben bleibt. In seiner Verwundung und Schutzbedürftigkeit sehnt sich die Seele des Ich im Bild des Vogels nach kindlicher Geborgenheit in Bett und Nest. So ist es die weiße Rose der Reinheit und der Verschwiegenheit, deren Blätter das Nest bilden, nicht die rote des Begehrens. Wie häufig bei Swinburne ist es ein abgeschiedener Park, in dem das Ich sich imaginiert. Wie schon im verwüsteten, von Dornen eingeschlossenen ‚Forsaken Garden‘ erscheint er in der Anspielung auf ‚La Belle au bois dormant‘ beziehungsweise ‚Dornröschen‘ als ein Ort, an dem sich im Schlaf das Unglück überdauern ließe, als verwunschene, von der Welt abgetrennte Gegend, nunmehr aber positiv als ein schattiger Ort der Ruhe und des Friedens in mildem Licht und lauer Luft, jenseits des Getriebes auf dem Markt einer ökonomisierten Welt. Dieses Land ist als Utopie auf keiner Karte verzeichnet, die dahinter stehende Vorstellung lässt sich aber durchaus benennen. Es ist der Park von East Dene, der Garten des elterlichen Hauses in Bonchurch auf der Isle of Wight, dessen Erinnerung in Swinburnes Dichtung ähnlich wie bei Eichendorff Bilder des verlorenen Paradieses als Chiffren der Heimatlosigkeit des Subjekts zeitigt. In Swinburnes mythologischer Innenwelt verschmilzt die Isle of Wight traumhaft mit Lesbos. Das Ich der Ballade beziehungsweise sein Herz findet aber auch in der erträumten Idylle keine Ruhe, so wird sie zum Ort einer Selbstbefragung. Obwohl diese Fragen nicht explizit beantwortet, sondern im Refrain an die Dichtung verwiesen werden, scheinen sie daran zu erinnern, dass die Rose Dornen hat, sie erinnern an die Verletzungen, vor denen sich das Herz des Ich schützen wollte. So ist das Gedicht ein Verbergen und Enthüllen der inneren Verfassung des dichterischen Subjekts zugleich. Es ist die Stimme der Dichtung, die das Herz nicht ruhen 23
Algernon Charles Swinburne: On the Cliffs. In: Ders., The Complete Works (Anm. 22), S. 304–317, hier S. 311.
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lässt; diese Ballade selbst ist es, die den Traumzustand entwirft und ihn zugleich wieder aufstört. Auch der Rückzug des Ich in die erträumte Idylle der Kindheit kann die Erinnerung an enttäuschte Liebe und unerfüllte Hoffnung nicht tilgen. Die Poesie ist als Gedächtnis des Leidens kein Fluchtraum für die Seele, das Zerstörungswerk der Zeit lässt sich nicht rückgängig machen. Der Widerspruch wird nicht aufgelöst, sondern nimmt im Widerspiel des Refrains und des Envois mit den drei Strophen im Gedicht Form an. Dennoch aber entschließt sich das Subjekt in der Geleitstrophe definitiv zum Rückzug vom Reden über die Liebe und vom gesellschaftlichen Rollenspiel. Nur die im Verborgenen ertönende Stimme der Nachtigall, der Dichtung, will es fortan noch vernehmen. Bei Ovid schweigt die Natur angesichts der trauernden Sappho, nur die Nachtigall lässt sich vernehmen.24 Den Rückzug hat der Dichter gleichzeitig auch als Person vollzogen. Über die folgenden Jahre schreibt sein Biograph, Herausgeber und Freund Sir Edmund Gosse mitleidig in der Metaphorik des Begräbnisses: „He became more and more isolated from human companionship, and more and more buried in books“.25 Swinburne selbst schrieb einige Tage nach der Abfassung des Gedichts, am 27. März 1876, an den Literaturprofessor John Churton Collins über sein einförmiges Leben: „I don’t myself know any pleasure physical or spiritual (except what comes of the sea) comparable to that which comes of verse in its higher moods“.26 Stefan George EINE BALLADE VOM TRAUMLAND
Ich barg mein herz in ein nest von rosen Weit von dem sonnenweg niederwärts · So weich kann nicht weicher schnee mit ihm kosen – Unter den rosen barg ich mein herz. Was wollt es nicht schlummern? was sollt es nicht weilen Wenn niemals ein blatt von dem rosenbaum schwang? Was liess ihm den schlaf aufflatternd enteilen? Nur eines heimlichen vogels gesang.
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Vgl. Ovid: Heroides (Sappho an Phaon), XV, V. 151–156. Edmund Gosse: The Life of Algernon Charles Swinburne, London 1917, S. 232. Swinburne an J. C. Collins, 27. 3. 1876. In: Ders.: The Swinburne Letters. Hg. von Cecil Y. Lang. Bd. 3: 1875–1877, New Haven 1960, S. 160–161, hier S. 160.
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Lieg still! sprach ich: schwingen des windes ruhten. Das laub dämpft milde den stechenden strahl. Lieg still! denn der wind schläft warm auf den fluten Unstäter wie du ist der wind nicht einmal. Hat dich wie ein dorn ein gedanke getroffen? Verlezt dich noch zögernder hoffnung fang? Was hält deines schlafes lider noch offen? Nur eines heimlichen vogels gesang. Vom grünen land das ein zauber umgreifet Schrieb niemals den namen ein wanderer auf Und süssere frucht als auf bäumen dort reifet Kam niemals auf einem markte zu kauf. Die schwalben des traums ziehn im trüben gefilde · Wie schlaf ist in allen wipfeln der klang · Dort droht in den wäldern kein bellen dem wilde · Nur eines heimlichen vogels gesang. ZUEIGNUNG
Im lande der träume ersah ich mein ziel · Dort schlaf ich und hör nichts den sommer lang Von liebe in treue von liebe im spiel – Nur eines heimlichen vogels gesang.27
Georges Übertragung erfüllt die Vorgaben der Balladenform, verzichtet aber auf die puristische Beschränkung der Reime. Die Verteilung der Sätze auf die Verse passt sich formal und inhaltlich sehr weitgehend dem Original an, auch in den metrisch-rhythmischen Relationen gelingen klangliche Entsprechungen, obwohl George klangliche Äquivalenzen innerhalb der Verse sparsamer verwendet als Swinburne. Auch Syntax und Wortstellung richten sich vielfach nach dem Original. Beim Refrain aber stellt George um. Die scheinbar naheliegende Version ‚Nur noch das Lied eines heimlichen Vogels‘ hätte der Bedeutung entsprochen, welche die Metaphorik des Vogels bei Swinburne innehat, sie kam aber wohl reimtechnisch nicht in Betracht. So erhält der Gesang durch den Leitreim eine stärkere Betonung. Auch bei George ist der Wortbestand schlicht. Einzig „fang“ ist ein zoologischer Fachbegriff, der das Gebiss von Raubtieren bezeichnet. 27
Algernon Charles Swinburne: Eine Ballade vom Traumland, übersetzt von Stefan George. In: Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff. Bd. XV, S. 38f.
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‚Fang‘ ist mit dem englischen ‚fang‘ (dt. Reißzahn, Giftzahn) etymologisch verwandt, als Bild für eine die Seele des Ich quälend beschäftigende unerfüllte Hoffnung wirkt es stärker. Im Doppelsinn deutet es an, dass die Hoffnung das Ich noch immer gefangen hält. Das ist ein prägnantes Beispiel dafür, wie George in der Übersetzung die Nähe zur anderen Sprache sucht. Bereits das ‚bergen‘ statt ‚verbergen‘ oder ‚verstecken‘ im ersten Vers expliziert die Übersetzung als Rettung, die Seele des Dichters wird symbolisch einer feindseligen Alltäglichkeit entzogen. Der von Swinburne gestaltete Widerspruch wird aber bei George nicht aufgelöst. Dass es die Dichtung selbst ist, welche die erwünschte Ruhe im erträumten Garten verhindert, wird in der dritten Strophe stärker ausgedrückt. Dichtung ist nicht harmlos und friedlich, es ist der Gesang selbst, der den möglichen Frieden des Paradieses bedroht. Die süße Frucht der emphatischen Poesie ist zugleich eine bittere der Erkenntnis. ‚Envoi‘ gibt George mit ‚Zueignung‘ wieder. Zwar kann die Schlussstrophe in der Tradition der Ballade auch eine Widmung an hochgestellte Personen, vorzugsweise Damen enthalten, das ist aber bei Swinburnes Gedicht vordergründig nicht der Fall, allenfalls versteckt in der Absage an den Liebesdiskurs oder in der heimlichen Anspielung auf die Sappho. Vordergründig handelt es sich um eine klassische Abschlussstrophe, die den Entschluss des Dichters zum Rückzug von der Welt und dem amourösen Diskurs noch einmal bekräftigt. Mit ‚Zueignung‘ meint George sicher kein Heranziehen ans Eigene. Zwar sind Anklänge an den totgesagten Park in ‚Das Jahr der Seele‘ offensichtlich, von Georges Verssprache der Zeit aber unterscheidet sich die Übersetzung deutlich. ‚Zueignung‘ kann so als eine Zusammenfassung der übersetzerischen Strategie gelesen werden: Die Dichtung des verborgenen, nämlich der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbekannten Dichters Swinburne wird von George übersetzend geborgen und dem Kreis zugeeignet, dort gleichsam wohlwollend aufgenommen. Symbolisch sichert so George, in einem anderen von einem Zauber umzirkten Bereich, Swinburnes Gedicht ein Verständnis zu, das er in England nicht zu finden glaubte. So wird es symbolisch bewahrt für jenes Wiedererwachen der Dichtung in einer neuen Kunst, das im Band zugleich dargestellt und dokumentiert werden sollte.
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Rudolf Borchardt EINE BALLADE VOM TRAUMLAND
Ich barg mein Herz in ein Nest von Rosen, Weit fort vom Sonnigen, tief beiseit, Weicher als los in den Schnee, den losen, Unter den Rosen hielt ichs verschneit. Wie mags nicht schlafen? Wie starrts noch weit, Da nicht Blüte noch Blatt durch den Baum sich regt? Was rüttelt sich Schlummer und schüttelt sein Kleid? Nur weil ein Vogel von fern wo schlägt. „Lieg still“, sprach ich, „denn die Winde vertosen, Und den Pfeil dieser Glut dämpft Laub, das uns feit, Lieg still, denn das Laue und Seewind kosen, Die doch sonst ruhloser als selbst wir Beid. Schafft noch ein Denken, wie Dorn, dir Leid? Noch ein Zwängen von Schlingen, die Hoffnung legt? Was hat wieder dem Schlaf Deine Lider entzweit? Nur daß ein Vogel von fern wo schlägt.“ Zu dem Land aus Grün und verwunschenen Losen Kein Riß gibt Wallenden Reise-Bescheid, Und süß wie die Frucht ihm schwelle in Moosen, Kein Marktherr, dem sie zu Solde gedeiht; Traumschwalben flüchten durch zwittere Zeit, Und Schlaflaut schwirrts, wo ein Wipfel sich regt, Sein Waldwild wüßte von keinem Gejaid, – Nur daß ein Vogel von fern wo schlägt. Urlaub: In die Traumwelt bin ich gewillt, weit, weit, Ob ich schliefe die Zeit und nie mich regt Liebe-wie-Spiel, noch Liebe-wie-Leid – Nur daß ein Vogel von fern wo schlägt.28
Borchardt übernimmt den ersten Vers von George, raubt ihn gleichsam, und demonstriert damit für Eingeweihte gerade den Wettkampf. Zugleich wird deutlich, dass auch Borchardt seine Übersetzung als ein Rettungsunternehmen versteht. In ‚Ein verlassener Garten‘ äußert sich das in einem behutsamen Restaurieren, einem Abmildern der von Swinburne ausgedrückten Verwüstung und Sinnentleerung des Gartens der
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Algernon Charles Swinburne: Eine Ballade vom Traumland, übersetzt von Rudolf Borchardt. In: Swinburne. Deutsch von Rudolf Borchardt (Anm. 20), S. 77.
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emphatischen Poesie, so wie ja auch Georges ‚Komm in den totgesagten park‘ als Revision von Swinburnes radikaler Totsagung des Poetischen gelesen werden konnte. Borchardt übernimmt Swinburnes Reimschema und macht auch reicheren Gebrauch von Alliterationen als George. Dennoch klingt die Übersetzung fremdartiger. Vor allem weil der in Nachkonstruktion der Bilder verwendete Wortbestand sich in Substantivierungen („Sonnigen“, „das Laue“, „Denken“, „Zwängen“, „Wallenden“), Komposita („Reise-Bescheid“, „Traumschwalben“, „Marktherr“, „Schlaflaut“, „Waldwild“, „Traumwelt“, „Liebe-wieLeid“) und archaischen geographischen Begriffen („Losen“, „Riß“, „Moosen“, „Gejaid“) deutlicher als in Georges Übertragung vom allgemeinen Sprachgebrauch und zugleich einer zugänglichen Vorstellung der Räumlichkeit beziehungsweise der Landschaft absetzt. Bereits im zweiten Vers stellt sich unmissverständlich heraus, dass Borchardt Swinburnes in einem Traumland symbolisierte Dichtung retten will, indem er sie in eine räumlich verbildlichte Distanz setzt. „Weit fort“ und noch einmal „weit“ und schließlich „weit, weit“, von vornherein „tief beiseit“. Im Refrain wird des heimlichen Vogels Schlagen, sein auf den bloßen Klang des Silbenstakkato reduziertes Tönen, dann sogar zu der im Gedicht beziehungsweise in der Übersetzung imaginierten Räumlichkeit der Seele noch einmal in die Distanz einer uneinholbaren Ferne gesetzt. Die Beunruhigung aber, die davon ausgeht, wird im Gegensatz zu George bereits in der ersten Strophe im Präsens vorgestellt. Dem hier sprechenden Ich steht der Klang des eigenen Liedes schon beunruhigend fern. In der zweiten Strophe verstärkt Borchardt die Selbstbefragung, die durch Anführungsstriche als wörtliche Rede Zitatcharakter erhält, beinahe hin zu einer Persönlichkeitsspaltung, das Ich redet von sich beziehungsweise seiner in der Mehrzahl, „wir Beid“. Borchardt hatte sowohl Gedichte der Sappho als auch Swinburnes Sapphische Strophen übersetzt. Nicht ausgeschlossen, dass Borchardt hier die Zwiesprache von Swinburne und der Sappho in Gestalt der Nachtigall durch eine Zwiesprache zwischen sich und Swinburne ergänzt, wie sie das Widmungsgedicht schon darstellte. Jedenfalls redet die Übersetzung stärker als die Georges von einem Zwiespalt, der das Leid bedingt. Der moderne Dichter ist einer, der nicht vergessen kann, was doch unrettbar verloren ist. Der ferne Klang „entzweit“ die Seele des Ich, im Zwielicht des Traumlands erscheint die Zeit selbst als zwiegespalten. So exponiert
Konkurrenz im Traumland
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Borchardt Swinburnes Grundthema der zerstörerischen Macht der Zeit (‚The Triumph of Time‘). Auch die Abweisung der Herrschaft der Ökonomie wird von Borchardt deutlicher als bei George und zudem politischer markiert. Der Marktherr ist im juristischen Sprachgebrauch die Obrigkeit eines Marktes. Bei George steht das leicht verfremdende „sonnenweg“ („the sun’s way“) für die Öffentlichkeit und die Geschäfte des Tages. Borchardts merkwürdige Substantivierung „vom Sonnigen“ lässt dagegen vermuten, dass er Swinburne symbolisch aus dem Bereich jenes Lichts entfernen wollte, mit welchem das Zentralgestirn des George-Kosmos die Trabanten bedachte, um sie zu binden. Georges Geste in der Wiedergabe von ‚Envoi‘ mit ‚Zueignung‘ kontert Borchardt entsprechend mit der Aktivierung einer Anfang des 20. Jahrhunderts schon fast verloren gegangenen Bedeutung von ‚Urlaub‘: die (schriftliche) Erlaubnis, sich vom Hofe zu entfernen, die sich in diesem Fall das dichterische Subjekt selber erteilt wie es dem Poet Laureate eigenen Rechts zukommt. Diese Erlaubnis deutet Borchardt nicht wie George als eine bereits vollzogene Wahl, sondern als eine in einen Konjunktiv mündende Willenserklärung des Dichters, der Zeit und damit dem Leid enthoben zu sein oder zu werden. Dieser Wunsch aber wird schließlich eben durch die Präsenz eines Klangs aus auratischer Ferne in Frage gestellt. Die wesenhafte Distanz von Swinburnes Dichtung und seiner Gestalt, in der Übersetzung als Differenz erscheinen zu lassen, um ihm damit der unterstellten symbolischen Vereinnahmung durch George zu entziehen, war zweifellos der Ehrgeiz Borchardts. Envoi Borchardts übersetzerischer Agon, den er auch im Namen Hofmannsthals zu führen glaubte, ging jedoch gleich doppelt ins Leere. Wie für Hofmannsthal war auch für George Swinburne bei Erscheinen von Borchardts Übertragungen schon fast vergessen. Seinerseits mit Borchardt dichterisch oder übersetzerisch zu wetteifern, kam für George nicht in Frage. Die Konkurrenz mit Hofmannsthal aber hatte sich offenbar noch nicht ganz erledigt. Nachdem Melchior Lechter dem verehrten Meister von Swinburnes ‚Dolores‘ vorgeschwärmt hatte, schreibt der am 19. Januar 1919 zurück:
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Friedmar Apel Das gedicht von Sw. war mir allerdings bekannt · es ist eins der berühmtesten und die von Ihnen abgeschriebenen strofen riefen mir das ganze wieder ins gedächtnis. Dass ich aber heute noch zu einer umformung solcher verse tauge glaub ich kaum. es ist ein wahrer sturzbach von klängen und bildern – ohne als ganzes bildhaft zu sein .. wie mir deucht eher die stufe eines idealen Hofmannsthal (wenns den gäbe!) als die meine ..29
Einst wollten sich Hofmannsthal und George im Gespräch über Swinburne als Verbundene verstehen, nun dient er der Verstärkung der Abweisung, die der größere Teil des Kreises schon vollzogen hatte, kurioserweise aber mit einer Charakterisierung, die Hofmannsthals mehr oder minder heimlicher früher Kritik an Swinburnes Verskunst sehr nahe kommt. George war jedoch wie Borchardt von einem beträchtlichen Einfluss Swinburnes auf den jungen Hofmannsthal überzeugt. So erscheint es als ein denkwürdiger heimlicher Kommentar zur Geschichte der Swinburne-Rezeption, dass in Georges Sicht Hofmannsthal in der Überwindung Swinburnes nicht zu dem Ideal gelangt war, das George und Borchardt in ihm sehen wollten.
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George an Lechter, 12. 1. 1919. In: Melchior Lechter / Stefan George: Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. von Günter Heintz, Stuttgart 1991, S. 320.
George als Übersetzer Baudelaires und Verlaines
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Bernhard Böschenstein
George als Übersetzer Baudelaires und Verlaines. Entsprechung – Verfremdung – Erfindung Dieser Vortrag beginne mit einer knappen autobiographischen Reminiszenz: Im Hochsommer 1953 begab ich mich vom Genfersee aus zu Robert Boehringers damaliger Wohnung im Genfer Viertel Champel, Avenue de Beau-Séjour. Dort drückte er mir die originalen Handschriften von Georges ‚Umdichtungen‘ der ‚Fleurs du Mal‘ von Baudelaire in die Hand, mit den mich erstaunenden Worten: „Das hat noch keiner gesehn“. In der Tat enthält ja die erste George-Gesamtausgabe von den Baudelaire-Übersetzungen nur Faksimilia der Handschrift von Carl August Klein. Bevor ich das mitgeteilte Thema angehe, erinnere ich an zwei durchaus bekannte, aber wichtige poetische Erträge, die George der zehnjährigen Befassung mit Baudelaire verdankt: Das zweite Gedicht der ‚Fleurs du Mal‘, ‚Der Albatros‘, hat das Gedicht ‚Der Herr der Insel‘ aus den ‚Hirtengedichten‘ inspiriert. Der Albatros wird bei Baudelaire von den Matrosen zu deren Vergnügen gefangen genommen und all seiner Würde beraubt: „Er sonst so flink ist nun der matte steife. / Der lüfte könig duldet spott und schmach:“1 Georges hehrer Vogel dagegen gibt sich den Tod im Augenblick, wo die Gefahr droht, dass Segler sich der Insel des Vogels nähern. Er meidet jegliche ihn demütigende Konfrontation. Ein zweites Mal lässt sich diese George’sche Abwehr der Welt alltäglicher Menschen beobachten, wenn in Georges Umgestaltung von Baudelaires ‚Rêve parisien‘, im ersten Gedicht des Zyklus ‚Im Unterreich‘ aus dem Band ‚Algabal‘, ‚Ihr hallen prahlend in reichem gewande …‘, der Schluss lautet: 1
Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff. Bd. XIII/XIV, S. 12. Im Folgenden mit SW, Bandnummer und Seitenzahl zitiert.
DOI 10.1515/george-2016/2017-0005
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Bernhard Böschenstein […] Der schöpfung wo er nur geweckt und verwaltet Erhabene neuheit ihn manchmal erfreut · Wo ausser dem seinen kein wille schaltet Und wo er dem licht und dem wetter gebeut.2
Dieser Allmacht des sakralisierten Schöpfers steht bei Baudelaire in dem aus zwei Strophen bestehenden zweiten Gedichtteil die schreckliche und schmutzige kleine Wohnung gegenüber, in der eine totenhafte Uhr grausam die Mittagsstunde schlägt und ein düsterer Himmel eine erstarrte Welt der Trauer überwölbt. Wieder gibt es bei George keine Negation des poetisch allmächtigen Schöpfungsrauschs. Der „meister“ aus der ersten Strophe hat das letzte Wort.3 Diese beiden gleichlautenden Befunde stimmen mit Georges Ersetzung des äußerst negativen, satanischen Einleitungsgedichts ‚Au Lecteur‘ durch ‚Bénédiction‘, ‚Segen‘, überein, wo dem Dichter in der letzten Strophe „reine[s] licht“ „vom heilgen Strahlenherd“4 zuteil wird. Kraft einer solchen Einstellung weichen von 167 Gedichten 50 dem Zwang zum Ausschluss. Und manche krasse Formulierung erscheint in gemilderter Form oder wird schlechthin weggelassen. „[N]icht die abschreckenden und widrigen bilder“ haben den Übersetzer George angezogen, sondern „die glühende geistigkeit mit der er [Baudelaire] auch die sprödesten stoffe durchdrang.“5 Der erste Satz seiner Vorrede bekennt als Ursprung dieser großen, ein Jahrzehnt ausfüllenden Leistung die „ursprüngliche[…] reine[…] freude am formen.“ Diesem Prinzip bin ich so genau wie möglich gefolgt. Dabei kam mir mit der Zeit der Gedanke, die Lust am Formen sei am extremsten fassbar in Georges schwierigen Versuchen, die entsprechendsten Reimworte zu finden. Sehr oft gelang dies nicht, so wie später auch Rilke mit Valérys ‚Charmes‘ kämpfte und Celan mit dessen ‚Junger Parze‘. Gerade die inhaltlich nicht geglückten Reime sind sehr ergiebig, weil hier der Übersetzer zum Eigendichter wird: Er dichtet mit seinen eigenen Möglichkeiten, er holt aus seinen eigenen Schatz- und Vorratskammern das ihm als tauglich Scheinende heraus, das sich oft
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SW II, S. 60. Ebd. SW XIII/XIV, S. 11. Ebd., S. 5.
George als Übersetzer Baudelaires und Verlaines
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erstaunlich weit vom Original entfernt. Gerade an diesen extremen Stellen wird der bedeutsame Abstand zwischen dem französischen Dichter und seinem Übersetzer am greifbarsten und für die Trinität ‚Entsprechung – Verfremdung – Erfindung‘ fruchtbar. Ich durchlaufe zunächst Beispiele eindrucksvoller Abweichungen und betone dabei den erfinderischen Formsinn des Übersetzers: Um ein für Reime gänzlich unbrauchbares Wort wie ‚Friedhof‘ zu vermeiden, setzt George im Gedicht ‚Unstern‘ dafür das seltene, auch bei ihm sonst nie vorkommende Wort „totenwall“6 ein, das sich auf „trauernder trommel schall“ reimt. Im Grimm’schen Wörterbuch gibt es dieses Wort nicht. Nur ‚todeswall‘ ist einmal bei Lenz verzeichnet, mit zweifellos anderer Bedeutung. Der Spracherfinder George, der aus einem Friedhof einen Totenwall macht, ist der in diesem Übersetzungswerk immer neu anzutreffende Sprachmeister, der hier fesselt. Die Methoden, mit den Reimproblemen fertig zu werden, sind mannigfach. Um auf „narine“, „nüster“, einen Reim zu finden, lässt George Segel und Masten von den Meereswellen nicht ermüdet, sondern „von der reise müh ein wenig düster“7 sein, in ‚Fremdländischer Duft‘, was hier eine fremdartige Zutat ist, die sich nicht ohne weiteres legitimiert. Im großartigen Gedicht ‚Das Haar‘ gibt es wiederum, neben reimbedingten Erfindungen, Verse von fast magischer Übereinstimmung, die auch wieder Fast-Neologismen enthalten, etwa diesen: „Infinis bercements du loisir embaumé!“8: „Endlose wiegungen gesalbter müssigkeit.“9 ‚Wiegung‘ ist im Grimm nur durch ein Beispiel um 1700 belegt. Hier trägt der Rhythmus zur Wirkung bei, die fragile Anordnung der betonten Silben, die den bewegten Wellengang spiegeln. Diese erotisch erregten Strophen zeugen von kräftiger sprachlicher Intensität. Ich wähle einige als Beispiele aus und betone ab und zu die erfinderische Lust an Reimwörtern, zu denen es im Französischen keine Entsprechung gibt:
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Ebd., S. 23. Ebd., S. 37. Charles Baudelaire: ‚La Chevelure‘. In: Ders.: Œuvres complètes. Hg. von Claude Pichois, Bd. I, Paris 1975 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 26, V. 25. SW XIII/XIV, S. 38; Hervorhebung B. B.
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Bernhard Böschenstein […] Dort flieg ich hin wo baum wie mensch mit reicherm samen Im heissen himmelsstrich sich dehnt zu langer rast. Ihr flechten seid die wogen die mich mit sich nahmen. Du fassest · meer von ebenholz · in lichtem rahmen Den traum von segel, ruder, flammenschein und mast: […]10
Manchmal steigert George den Text des Originals – dies geschieht selten – so, wenn „J’irai là-bas“ zu „Dort flieg ich hin“ wird, wenn „pleins de sève“ zu „mit reicherm samen“ sich verwandelt, wobei es auch hier zu reimbedingten Erfindungen kommt: „in lichtem rahmen“ bleibt ohne französische Entsprechung. Ebenso wird „la gloire“ reimbedingt zu „das geschmeide“. Kühne Neuerung bringt auch die Formel „ô féconde paresse“ in der deutschen Fassung: „o trägheit, lebensfunken!“, welch letztes Wort „féconde“, fruchtbar, reimbedingt wiedergibt. Auch die zweitletzte Strophe zeugt von unerwarteten reimbedingten Erfindungen und von seltener erotischer Steigerung: […] Ihr blauen haare · zelt von ausgespannten schatten · Ihr malt den azur-himmel rund und schrankenleer. [für: immense; Anmerkung B. B.] Auf der gewundnen strähnen daunenweichen matten Berausch ich mich an wolgerüchen die sich gatten: Am öl des kokosbaums am bisam und am teer. […]11
Die überaus starke weibliche Erotik erzeugt bei Baudelaire hier ein Übermaß an Farben, Aromen, traumstarken paradiesischen Meereslandschaften, Klängen, kostbaren Metallen. George ist als Übersetzer durchaus auf der Höhe dieses erotisch-poetischen Sprachrauschs, nur manchmal unterbricht er ihn reimbedingt, durch entschiedene Grenzziehungen: so bei der Erfindung des „lichten rahmens“ und des „schrankenleeren“ Himmels. Es ist bedeutsam, dass hier die berauschende Sprache des Originals auf den Übersetzer überspringt, der sonst eher zu spröderer, verhaltenerer, gedrängterer Wiedergabe neigt. 10 11
Ebd.; Hervorhebung B. B. Ebd., S. 39; Hervorhebung B. B.
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Im ‚Balkon‘ wird in der letzten Strophe der Himmel zum „wolkensaal“.12 Hier erzeugt der Reimzwang eine liebliche, zwar künstliche, aber rührende Erfindung, die an mittelalterliche Malerei gemahnt. Im Gedicht ‚Der Rahmen‘ wird zum Schluss der Affe bei George zu einer „jungen katze“.13 Hier hinderte George ein elementarer Widerwille gegen die mit dem Affen sich verbindenden negativen Vorstellungen, dieses Tier mit der kindlichen Anmut der Gebärden einer jungen nackten Wollüstigen zu verbinden, deren Körper er freilich, deutlicher als Baudelaire, als „stets erregt“ beschreibt. In ‚Das Bild‘ werden von Baudelaire anfangs Augen und Mund gefeiert, George fügt den „schöne[n] nacken“14 hinzu, aus Reimzwang. Bei geliebten Körperteilen gibt es ja keine festen Regeln, es gibt nur, je nach den Epochen und Schulen, Traditionen, die im 19. Jahrhundert nicht mehr gelten. Das berühmte, später von Mallarmé neugestaltete Gedicht ‚Der Schwan‘ erwähnt die brutale Maschinerie der Straßenreinigung. George wird hier sehr konkret, zugleich expressiv: „Wo […] die rotte der besen / Zum stillen himmel verderbliche dünste speit:“15 An dieser Stelle meines Durchgangs muss ausnahmsweise ein anderer Gesichtspunkt vorwalten, derjenige der Metrik und Rhythmik. George, kein ausgesprochener Daktyliker, hat ‚Mœsta et Errabunda‘ in diesem Versmaß übersetzt, mit einem solchen Glück, dass hier von einem begnadeten Gelingen die Rede sein muss, durchaus nicht ohne Zusammenhang mit den Themen dieses Gedichts: der paradiesischen fernen Meereslandschaft, der unschuldig kindlichen Liebe in ihrer zärtlichsten Entfaltung, der Musik von Instrumenten und menschlichen Stimmen, all dies so eng ineinander verschlungen, dass hier wie sonst kaum je die Sprache sich durch die Thematik verflüssigt und magisch erfüllt. Zudem wird hier eine makellose Genauigkeit in der Entsprechung zum Original erreicht. Ich lese die letzten zwei Strophen vor:
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Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 49. S. 52. S. 53. S. 111.
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Bernhard Böschenstein […] Doch unsrer kindlichen liebe grünender garten Sänge und küsse und blumen und spiele am rain Geigen die zitternd hinter dem hügel warten Krüge von wein wenn der abend sich neigt in dem hain – Doch unsrer kindlichen liebe grünender garten · Schuldloser garten erfüllt mit verstohlenem glück · Ob er schon weit in den indischen meeren verschwimme? Ruft man ihn wieder mit klagenden lauten zurück · Lebt er noch einmal beim klang einer silbernen stimme? Schuldloser garten erfüllt mit verstohlenem glück.16
Nirgends so stark wie hier ist meine Kategorie ‚Entsprechung‘ eingelöst. Das thematisch äußerste Gegenteil dazu ist ‚Der frohe Tote‘. Hier herrscht nur die totale Indifferenz des Toten allem gegenüber angesichts seiner krassen Auflösung. […] Ihr würmer! augen- ohrenlos gekreuch! Ein freier froher toter kommt zu euch! Ihr heitre Weise · aufgenährt im kot! Durch meine reste dringet ohne sorgen Und sagt: blieb eine qual mir noch verborgen Mir ohne seele unter toten tot?17
Nur zehn Gedichte nach dem vorigen erscheint dieses makaberste, menschenfeindlichste Stück, auch hier mit großer Sprachkraft wiedergegeben. Solche Kontraste sind es, die den Übersetzer angeregt haben, die größte Vielfalt der Tonlagen auszufüllen. Und auch hier gelang es, durch Verknappung und Härte. So dürfen wir sagen, dass diese Übersetzungsleistung im Ganzen auch ein Lehr-Parcours wurde, eine Einweihung in größte Gegensätze der dichterischen Töne. Eine sehr George’sche Ausnahmeposition soll zum Schluss beleuchtet werden: Von den verurteilten und daher lange Zeit verbotenen Gedichten ist in Georges Ausgabe, neben den ‚Verdammten Frauen‘, ‚Lesbos‘ aufgenommen worden. Dessen Ideologie hat manches mit der George’schen gemeinsam. Es geht hier darum, die Liebesreligion der 16 17
Ebd., S. 75. Ebd., S. 84.
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überlieferten Religion vorzuziehen. Allein der Reichtum der Küsse auf dieser Insel ist von elementarer Gewalt: […] Lesbos wo küsse wie wasser des wildbaches schnellen Der ohne bangen in grundlose schluchten lief · Dann sich windet in pochenden schluchzenden wellen Stürmisch und heimlich emsig wimmelnd und tief · Lesbos wo küsse wie wasser des wildbaches schnellen. […]18
Selbst Venus muss die Sappho beneiden. Die Anklage der Nachwelt wird weggefegt durch das Argument der unendlichen Küsse. Lesbos, märtyrer- und tränenreich, ist allein dadurch schon geadelt. Immer wieder mischt sich hier in die unvergleichliche Liebeskraft ein düsteres Element. Dieses Gedicht besingt das erotische Genie als das höchste. Sein gequältes Ende entspricht dem Ende der ‚Leuchttürme‘, der Feier von acht großen Malern und Bildhauern, wo es zuletzt heißt: „Der glühende seufzer der hinrollt von zeiten zu zeiten / Und der am rande deiner ewigkeit stirbt.“19 Zu Paul Verlaine will ich nur eine knappe Ergänzung anfügen. Seine geglücktesten Lieder hat George textnah und in Verlaine entsprechender rhythmischer Beweglichkeit überzeugend wiedergegeben. Gedanklich und thematisch sind diese Gedichte nicht sehr bedeutsam, sie sind aber durchaus in der musikalischen Komposition und im stets dazu stimmigen Wortschatz sehr innovativ. George hat die neue Mobilität zwischen regelmäßigem und leicht variiertem Metrum und Rhythmus auf seine selbständige, nicht kopierende Weise sich zu eigen gemacht und so die beste Seite dieses im Ausland vielfach rezipierten Dichters als Übersetzer verwirklicht. Als Beispiel für das Gelingen wähle ich ein Gedicht aus den ‚Romances sans paroles‘: Je devine, à travers un murmure, Le contour subtil des voix anciennes Et dans les lueurs musiciennes, Amour pâle, une aurore future!
18 19
Ebd., S. 137. Ebd., S. 18.
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Bernhard Böschenstein Et mon âme et mon cœur en délires Ne sont plus qu’une espèce d’œil double Où tremblote à travers un jour trouble L’ariette, hélas! de toutes lyres! O mourir de cette mort seulette Que s’en vont, cher amour qui t’épeures, Balançant jeunes et vieilles heures! O mourir de cette escarpolette!20 VERGESSENE WEISEN
II Ich ahne hinter leisem geraun In feinem umriss alte stimmen Und in dem tönevollen glimmen · Bleiches lieb · ein neues morgengraun. Herz und seele – in wahnesschleiern – Sind nur noch ein zwiefach gesicht Wo zitternd durch trübes licht Das liedchen dringt von allen leiern. O stürben wir sacht so dahin! Lass jahr und tag im gegaukel Beängstigtes lieb! nur entfliehn – O sterben auf dieser schaukel.21
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Paul Verlaine: ‚Ariettes oubliées II‘. In: Ders.: Œuvres poétiques complètes. Hg. von Yves-Gérard Le Dantec, Paris 1954 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 121f. SW XVI, S. 18.
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Franziska Walter
Um Maximin. Georges Übersetzung der ShakespeareSonette in den ‚Blättern für die Kunst‘1 Im Jahr 1907 beginnt George mit den Übersetzungen der ShakespeareSonette und beendet sie 1909.2 Die intensive Beschäftigung mit den Sonetten Shakespeares liegt zwischen dem Entstehen des ‚Siebenten Rings‘ (1907) und des ‚Stern des Bundes‘ (1914) und fällt damit in eine Zeit, in der George sein Werk neu ausrichtet.3 George übersetzt die Sonette in einer atemberaubenden Geschwindigkeit; er braucht keine zwei Jahre und arbeitet gleichzeitig noch an Gundolfs Shakespeare-Übersetzungen mit. Morwitz berichtet im April 1907, dass George täglich ein neues Sonett lieferte.4 Die fertige Ausgabe erscheint noch im November 1909, 300 Jahre nach Shakespeares Sonetten, deren Quarto-Ausgabe auf 1609 datiert ist. Die Sonette sind die einzige Übersetzungsarbeit Georges, die ein vollständiges Werk umfasst. George übersetzt alle 154 Sonette Shakespeares und begnügt sich nicht mit einer Auswahl wie bei den an1
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Der vorliegende Aufsatz ist eine Ausarbeitung meines Vortrags, den ich 2013 auf der Binger Jahrestagung ‚Stefan George und das literarische Übersetzen um 1900‘ gehalten habe. Ich danke der Stefan-George-Gesellschaft für die Einladung und den Teilnehmern der Tagung für die anregende Diskussion. Dieser Aufsatz ist Teil meines Dissertationsprojektes zum Thema ‚Stefan Georges Übersetzung der Sonette Shakespeares‘. Zur Entstehung der Shakespeare-Übersetzung Georges vgl. Ute Oelmann: Shakespeare Sonnette. Umdichtung (SW XII). In: Achim Aurnhammer / Wolfgang Braungart / Stefan Breuer / Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Bd. 1, Berlin – Boston 2012, S. 238–254, hier S. 238–243. Im Folgenden immer GHB. Vgl. Kai Kauffmann: Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze. In: GHB 1, S. 7–94, hier S. 57: „Der zu Beginn des Jahres 1914 veröffentlichte Stern des Bundes war StGs dichterischer Beitrag zum Aufbau des Kreises, dessen soziale Formierung und ideologische Programmierung er zugleich dokumentierte und manifestierte.“ Siehe außerdem Kai Kauffmann: Der Stern des Bundes (SW VIII). In: GHB 1, S. 191–203, hier S. 191: „Zum vorangegangenen Gedichtband, in dem das Erscheinen des Gottes Maximin geschildert worden war, verhält sich der Stern des Bundes wie die Lehre zur Offenbarung.“ Vgl. Olga Marx: Meine Zusammenarbeit mit Ernst Morwitz. In: Castrum Peregrini 121/122, 1976, S. 31–47, hier S. 46.
DOI 10.1515/george-2016/2017-0006
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deren beiden großen Übersetzungen.5 Für die Veröffentlichung in den ‚Blättern für die Kunst‘ trifft George allerdings eine Auswahl: zunächst 15 und später 16 Sonette. Im Februar 1909, kurz nach der Veröffentlichung der von George übersetzten Sonette in den ‚Blättern für die Kunst‘, schreibt Walter Wenghöfer an George: Lieber und verehrter Meister – Mir geht die Zeit mit täglichen und einförmigen Sorgen so schnell dahin, dass ich gleich nach dieser ruhigen Stunde greife um Ihnen von der schönen und herzlichen Freude zu sagen, die mir aus dem neuen roten Heft entsteht. […] Von Ihren Shakespeare-Sonetten will ich – wie stets von Ihren Versen – erst nach einem halben oder ganzen Jahr reden; aber im ersten unmittelbaren Eindruck scheinen sie alles über den Siebenten Ring zu Ihnen Gesagte wundervoll zu bestätigen.6
Wenghöfer berichtet über seine Lektüre der ‚Blätter für die Kunst‘ – das „neue rote Heft“. Er zeigt sich begeistert über die dort erstmals abgedruckte Übersetzung der Shakespeare-Sonette, die er als „Ihre“, also Georges Verse bezeichnet und die er als eine Bestätigung des ‚Siebenten Rings‘ liest. Eine Verbindung zwischen der Sonett-Übersetzung und Georges eigenem Werk scheint für Wenghöfer deutlich zu sein. Meine These ist, dass Stefan George mit seiner Übersetzung der Sonette Shakespeares sein eigenes Werk fortführt. Er stützt sein Werk, indem er Shakespeares Sonette zu einem Teil seines Werkes macht, sich in eine Traditionsfolge stellt und durch den Aufbau der Texte in den ‚Blättern für die Kunst‘ eine Entwicklung hin zu seinen eigenen Texten nahelegt. Die Sonett-Übersetzungen sind damit Teil der „Werkpolitik“ und der Werkentwicklung Georges.7
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Zur Auswahl der Baudelaire-Übersetzung vgl. Cornelia Ortlieb: Baudelaire. Die Blumen des Bösen. Umdichtungen. In: GHB 1, S. 254–269. Zur Auswahl der Dante-Übersetzung vgl. Anna Maria Arrighetti: Dante. Die Göttliche Komödie. Übertragungen. In: GHB 1, S. 218–238, hier S. 223ff. Walter Wenghöfer: Gedichte und Briefe. Hg. von Bruno Pieger, Amsterdam 2002, S. 95 (Brief vom 24. Februar 1909). Zum Begriff der ‚Werkpolitik‘ siehe Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin – New York 2007. Steffen Martus beschreibt eindrucksvoll verschiedene Formen des werkpolitischen Schaffens, widmet der Stellung der Übersetzung im Werk aber leider keine gesonderten Überlegungen. Zu Georges Übersetzung als Überwindung einer
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George platziert seine Auswahl der Sonett-Übersetzungen in der achten Folge der ‚Blätter für die Kunst‘ genau zwischen zwei ‚Maximin‘-Teilen: zwischen einigen Gedichten ‚Maximins‘ und der ‚Vorrede zu Maximin‘.8 Die Sonette sind eingefasst von ‚Maximin‘ und dies wirkt sich wiederum auf die Übersetzung aus. Zudem lässt sich ein stufenartiger Aufbau der Texte feststellen: Von den Gedichten ‚Maximins‘ über die Sonette Shakespeares hin zur ‚Vorrede‘ und schließlich zu den eigenen Texten Georges. Ich werde die Auswahl der Sonette analysieren, dann den Aufbau und das Zusammenwirken der Texte in den ‚Blättern für die Kunst‘ untersuchen und schließlich zeigen, welche Auswirkungen dies auf die Übersetzungen hat. I. Auswahl der Sonette in den ‚Blättern für die Kunst‘ Die Sonette werden ohne das (englische) Original abgedruckt. Im Februar 1909 werden 15 Sonette im dritten Ausleseband der ‚Blätter für die Kunst‘ veröffentlicht. Im Februar 1910 erscheint schließlich die achte Folge der ‚Blätter für die Kunst‘, die nur für die Mitglieder des Kreises bestimmt ist. Im Gegensatz zum Ausleseband fügt George dieser achten Folge ein weiteres Sonett (Sonett 17) sowie die ‚Nachträge zu Maximin‘ hinzu. Ich werde mich im Folgenden auf ebendiese für den Kreis bestimmte Veröffentlichung beziehen. Die 16 Sonette teilen sich in 5 kleinere Gruppen: die Sonette 17 und 18, 29 bis 34, 52 und 53, 73 bis 76 sowie 97 und 98. George präsentiert die Sonette in ihrem thematischen Zusammenspiel. Alle Sonette gehören zur großen Gruppe der Sonette, die sich an einen hübschen jungen Mann, den sogenannten Fair Youth, richten. In Shakespeares Sonetten gibt es zwei weitere Figuren: eine düstere erotische Frau, die mit dem Dichter und dem jungen Mann in einem Dreiecksverhältnis steht, und einen dichtenden Rivalen, der sich ebenfalls um die Gunst des jungen Mannes bemüht. Beide Figuren tauchen in Georges Sonett-Auswahl
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Krise und als Werkentwicklung siehe den Beitrag „Moi, je n’ai plus envie de traduire“ von Ute Oelmann in diesem Jahrbuch. Alle Textstellen aus der achten Folge der ‚Blätter für die Kunst‘ zitiere ich nach dem von der Stefan George Stiftung herausgegebenen Neudruck der ‚Blätter für die Kunst‘, Düsseldorf – München 1968. Im Folgenden immer BfdK.
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nicht auf. Er konzentriert sich also ganz auf den jungen Mann. In Georges Einleitung zu seiner Sonett-Übersetzung heißt es: […] im mittelpunkte der sonnettenfolge steht in allen lagen und stufen die leidenschaftliche hingabe des dichters an seinen freund. Dies hat man hinzunehmen auch wo man nicht versteht und es ist gleich töricht mit tadeln wie mit rettungen zu beflecken was einer der grössten Irdischen für gut befand. Zumal verstofflichte und verhirnlichte zeitalter haben kein recht an diesem punkte worte zu machen da sie nicht einmal etwas ahnen können von der weltschaffenden kraft der übergeschlechtlichen liebe.9
George hebt hier Freundschaft hervor, die „hingabe des dichters“ und das, was aus dieser Freundschaft oder Liebe entsteht, nämlich eine „weltschaffende[] kraft“. Die Verbindung zu Georges ‚Maximin‘-Thematik liegt nahe: die Beziehung eines Dichters zu einem selbst erschaffenen, jungen Gott sowie ein Werk, das von einer weltschaffenden Kraft geprägt ist. Während andere „verstofflicht“ und „verhirnlicht“ sind, betont George das Schaffen. Georges Auswahl aus den Fair Youth-Sonetten hat zwei thematische Schwerpunkte: die Trennung des Dichters von seinem Freund sowie die Möglichkeit, die Schönheit des Freundes mit der Dichtkunst vor der Vergänglichkeit zu bewahren. Verlust und Abschied spielen eine große Rolle in der Sonett-Auswahl, sei es der Verlust durch räumliche Trennung oder durch den Tod. Im Sonett 29 erscheint die Trennung als aussichtslose Verbannung des Sprechers und das Klagen wird mit einer drängenden Assonanz („Bewein allein mein ausgestossnen-los“) veranschaulicht.10 Im Sonett 30 wird die klagende und trauernde Grundhaltung weitergeführt. Tränen, Todesnacht und Gram künden von der Trennung und werden durch
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Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff., hier Band XII, S. 5. Im Folgenden mit SW, Bandnummer und Seitenzahl zitiert. SW XII, S. 35. Zu einem kurzen Vergleich verschiedener Übersetzungen des Sonetts 29 siehe Ludwig W. Kahn: Shakespeares Sonette in Deutschland. Versuch einer literarischen Typologie, Bern – Leipzig 1935, S. 105–113. Gundolf nennt das Sonett 29 „ein ergreifendes Bekenntnis des unerfüllbaren Ehrsinns wie der selbständigen Leidenschaft […].“ Friedrich Gundolf: Shakespeare. Sein Wesen und Werk, Berlin 1928, S. 624.
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verschiedene Figuren der Wiederholung betont.11 Im Sonett 33 wird die Trennung von außen herbeigeführt. Die Sonne, der Geliebte, wird von Wolken, anderen Liebhabern, verdeckt.12 Das Sonett 52 erläutert, dass Schätze, bei seltener Betrachtung, eine besondere Freude verbreiten.13 Auch die Sonette 73 und 97 spielen auf die Vergänglichkeit und die damit verbundene Trennung an.14 Da das vorherrschende Thema die Abwesenheit und das Entschwinden des Fair Youth ist, fügen sich die Sonette innerhalb der ‚Blätter für die Kunst‘ in die Thematik, nämlich der Trauer um ‚Maximin‘. Die unerfüllbare (Schmerz-)Liebe ist zudem deutlicher Petrarkismus. Shakespeares Sonette werden als „eine der bedeutendsten Stationen des europäischen Petrarkismus, zugleich aber als dessen Überwindung hin zum sich selbst erfindenden individuellen Ausdruck“ gesehen.15 Sie stehen sicher in petrarkistischer Tradition, zeigen jedoch klare Abweichungen. So werden die Sonette von einer erotischen sowie einer poetischen Dreierbeziehung bestimmt, es werden neue Sprachwelten eingeführt, die Zerrissenheit des Liebenden ist triebbestimmt und der junge Mann wie auch die Frau werden keinesfalls als unschuldiges Ideal darge11
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SW XII, S. 35. Diese Betonungen finden sich bereits in Shakespeares Sonett und werden von George beharrlich übersetzt. Im englischen Original heißt es: „grieve at grievances“ („schmerzen mich die schmerzen“) und „fore-bemoaned moan“ („beklagter klagen“). Barlow zitiert das Sonett 30 als Beispiel für Georges gewissenhafte Übersetzung der Wortfelder. Vgl. Audrey G. Barlow: A Critical Study of Stefan George’s Translation from English, Diss. Manchester 1961, S. 191. SW XII, S. 39. SW XII, S. 58. Den Mitgliedern des George-Kreises ist der Gedanke vertraut, dass eine Beziehung durch Entzug bestimmt wird. Michael Landmann erinnert sich daran, dass seine Mutter Edith Landmann sich, nach einer Abreise Georges, mit den Versen dieses Sonetts tröstete. Vgl. Michael Landmann: Edith Landmann 1877–1951. In: Ders.: Erinnerungen an Stefan George. Seine Freundschaft mit Julius und Edith Landmann, Amsterdam 1980, S. 107–141, hier S. 121. Und auch Percy Gothein zählt das Sonett 52 zu seinen „Lieblingsversen“. Vgl. Percy Gothein: Aus dem Florentiner Tagebuch. In: Castrum Peregrini 16, 1954, S. 5–48, hier S. 28 (Tagebucheintrag vom 14. Juli 1943). SW XII, S. 79 und S. 103. Die Isotopien ‚Nacht‘, ‚Tod‘ und ‚Winter‘ bestimmen diese Sonette. Friedmar Apel: Poesie der Konstanz, Poetik der Differenz. In: Shakespeare. Die Sonette. Übersetzt von Wolfgang Kaußen, Frankfurt a. M. 1998, S. 319–333, hier S. 324.
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stellt.16 George betont durch seine Auswahl lediglich die petrarkistische Tradition der Sonette, allerdings nicht ihre Weiterentwicklung. In Anlehnung an ‚Maximin‘ liegt es George näher, durchaus ein reines und tadelloses Idealbild und die zu ihm gehörende Liebeslyrik zu übersetzen. Ein weiteres Thema der Sonett-Auswahl ist die Dichtkunst. Die Kunst dient dazu, die Schönheit des jungen Mannes vor der Vergänglichkeit zu bewahren, ein grundlegendes, wiederum petrarkistisches Thema in Shakespeares Sonetten. Shakespeares Sonette beginnen mit einer bekannten Gruppe von 18 Sonetten, den sogenannten ‚procreation sonnets‘, im Deutschen als ‚Fortpflanzungsreihe‘ bezeichnet. In diesen Sonetten soll sich der junge Freund um Nachwuchs bemühen, damit seine Schönheit in Form seiner Nachfahren fortbestehen kann. In den Sonetten 17 und 18, den letzten beiden Sonetten dieser Gruppe, wird dann allerdings die Dichtkunst als weitere Möglichkeit zur Wahrung der Schönheit vorgestellt. Mit diesen beiden Sonetten beginnt George seine Sonett-Auswahl. Er steigt also an dem Punkt ein, an dem kein körperlicher Nachfahre mehr gefordert wird, sondern die Dichtkunst und das geistige Erbe hervorgehoben werden.17 Auch hier wählt George die Sonette, die der petrarkistischen Tradition folgen und die nicht eine körperlich erfüllte Liebe preisen, sondern eine reine Liebe. Im Sonett 17 heißt es: „So lebst du zwier: in ihm und meinem lied.“18 „[I]n ihm“ meint hier den Nachkommen, den Erben der Schönheit, das Lied wird hier aber schon als zweite Möglichkeit der Bewahrung dargestellt. Im folgenden Sonett 18 wird der Dichtkunst die Möglichkeit zugesprochen, die Vergänglichkeit zu überwinden: „In ewigen reimen ragst du in die zeit.“19 16
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Vgl. Kurt Tetzeli von Rosador: Kontexte: Petrarkismus. In: Ina Schabert (Hg.): Shakespeare-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 583–592. Bei Shakespeare wird dieser Weg als ein Ausweg, eine weitere Möglichkeit gesehen, da es aussichtslos scheint, den jungen Mann zur Fortpflanzung zu bewegen. Diese 16 Sonette, die diese Forderung enthalten, fehlen freilich in Georges Auswahl. Die Kunst wird hier als Mittel zur Schönheitswahrung vorgestellt, ohne Ausweg oder zweite Wahl zu sein. SW XII, S. 23, Hervorhebung F. W. SW XII, S. 24.
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Auch in weiteren Sonetten der Auswahl geht es um die Bedeutung der Dichtkunst. So wird zum Beispiel im Sonett 32 beschrieben, wie der junge Mann nach dem Tod des Sprechers dessen Gedichte liest.20 Im Sonett 76, das sich ebenfalls dem Dichten widmet, bekennt der Sprecher schließlich: „O süsses lieb! ich schreibe stets von dir“.21 Mehrfach singen Vögel in den ausgewählten Sonetten und stehen für einen Dichter, der seinen Gesang in die Welt trägt.22 Die Schönheit des jungen Mannes wird in Georges Sonett-Auswahl wiederholt und erneut petrarkistisch als Idealbild gezeigt. Der junge Mann ist Abbild des Schönen, aber eben auch Vorbild für andere.23 Poetische ‚Bilder‘ und ‚Gestalten‘ sind Schlüsselbegriffe des GeorgeKreises.24 Durch Bilder wird eine Idee der Schönheit wahrnehmbar und begehrbar gemacht – auch wenn es immer nur ein Abbild des Urbildes sein kann. Der junge Mann in Georges Sonett-Auswahl vereint alles Schöne in sich (Sonett 31), übertrifft die Schönheit von Adonis und Helena (Sonett 53) und dient auch den schönsten Blumen als Vorbild (Sonett 98).25 George, der sich selbst und sein Werk als menschenbildend versteht, fügt auch in den Sonetten einen bildenden Aspekt ein. Das Anfangs- und das Schlussgedicht der Sonett-Auswahl Georges sind besonders bedeutsam. Die Auswahl beginnt mit dem Sonett 17 und der Frage: „Wer glaubt mir später · auch wenn du erschienst / In meinem vers mit deiner reichsten gabe?“26 George beginnt seine Auswahl mit einer Frage, bei der man fast nicht anders kann, als sie auch auf ‚Maximin‘ zu beziehen. Schon diese ersten beiden Verse fassen erneut die bereits genannten Hauptthemen der Auswahl zusammen: die drohende Vergänglichkeit (Trennung) und das Bewahren der Schönheit durch die
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SW XII, S. 38. Auch im Sonett 74 wird beschrieben, dass nach dem Tod des Sprechers sein Buch als „angedenken“ bleibt. Vgl. SW XII, S. 80. SW XII, S. 82. Vgl. die Sonette 29, 73, 97 und 98. Zur bildenden Kunst im George-Kreis siehe Michael Thimann: Bildende Kunst. In: GHB 2, S. 551–584, hier S. 576: „‚Bildwerdung‘ als eine denkbare Form der Materialisierung von Geist ist eine zentrale Vokabel des Kreises.“ Zu den platonischen Schlüsselbegriffen bei George siehe Christian Oestersandfort: Antike-Rezeption. In: GHB 2, S. 647–671, hier S. 661f. Vgl. SW XII, S. 37, S. 59 und S. 104. SW XII, S. 23.
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Dichtkunst. Während im Original27 die Verse lediglich gefüllt sind („filled with“), fällt auf, dass in der Übersetzung das Du ‚erscheint‘. Erscheinen ist mit Plötzlichkeit verbunden. Etwas, das erscheint, kann für einen Neuanfang stehen und führt oft zu einer religiösen Deutung.28 Auch in seinen eigenen Gedichten nutzt George das Verb ‚erscheinen‘.29 In der ‚Vorrede zu Maximin‘ heißt es über die Ankunft ‚Maximins‘: „[…] als die plötzliche ankunft eines einzigen menschen in der allgemeinen zerrüttung uns das vertrauen wiedergab und uns mit dem lichte neuer verheissungen erfüllte.“ Später dann: „An der helle die uns überströmte merkten wir dass er gefunden war. Tage um tage folgten wir ihm und blieben im banne seiner ausstrahlung ehe wir mit ihm zu reden wagten […].“30 In der ‚Vorrede‘ wird zudem ebenfalls an dem Glauben der Übrigen und der Nachkommen gezweifelt: „Die mitbürtigen die ihn nicht sahen und die späteren werden nicht begreifen wie
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„Who will believe my verse in time to come, / If it were filled with your most high deserts?“ Catherine Duncan-Jones (Hg.): Shakespeare’s Sonnets, London 1997, S. 145. In Grimms Wörterbuch wird zunächst auf die erscheinende Sonne und die Sterne, dann auf Tag und Feuer, auf Gott und seine Engel und schließlich auf erscheinende Menschen – Menschen die hervortreten und ins Auge fallen – verwiesen. Zum ‚erscheinen‘ bei George vgl. Ulrich Raulff: Der Erscheinende. Stefan Georges epiphane Augenblicke. In: Aage Hansen-Löve / Annegret Heitmann / Inka Mülder-Bach (Hg.): Ankünfte. An der Epochenschwelle um 1900, München 2009, S. 41–55, hier S. 48: „In den Jahren nach 1904, dem Jahr, in dem der junge Maximilian Kronberger starb und seine postume Apotheose zum Göttersohn Maximin erfuhr, wendet George sein poetisches Vermögen daran, das Erscheinen und Verschwinden des Göttlichen in Menschengestalt zu erinnern.“ Nach Raulff meint die „‚Erscheinung‘ im Sinne des George-Kreises […] das Sichtbarwerden des Göttlichen im menschlichen Leib.“ (ebd., S. 50) Susanne Kaul bezeichnet den Kairos bei George u.a. als „die Idee vom Dichter als einem, der in ausgezeichneter Weise die Wahrheit vernimmt und zur Sprache bringt, […] eine Leitidee der Georgeschen Dichtungskonzeption.“ Susanne Kaul: Kairos bei George. In: George-Jahrbuch 7, Berlin–New York 2008/2009, S. 1–19, hier S. 17. Das Momenthafte, die Plötzlichkeit des Erscheinens, trägt dabei sicherlich zur Auszeichnung des Dichters bei. Z.B. im ‚Stern des Bundes‘: „Wo du erschienen bist als schleierloser / Als herz der runde als geburt als bild / Der geist der heiligen jugend unseres volks!“ (SW VIII, S. 15) BfdK, 8. Folge, S. 28f., Hervorhebung F. W.
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von solcher jugend uns solche offenbarung zuteil wurde.“31 Von Beginn an wird in beiden Texten das Glauben oder das Begreifen der Menge infrage gestellt. Georges Sonett-Auswahl endet mit einem Sonett, das eine Trennung im „vorfrühling“ beschreibt und das man daher auf den Tod ‚Maximins‘ beziehen kann. Die ersten Zeilen im letzten Sonett lauten: „Von dir war ich entfernt im vorfrühling / Als stolz April im bunten schmucke schritt.“32 Der gerade 16-jährige Maximilian Kronberger starb am 15. April 1904, und dieser frühe Tod veranlasste George, ihn zum Vorbild für die Figur des jugendlichen Erlöser-Gottes ‚Maximin‘ zu machen. Kronberger konnte sich weder wehren, noch konnte sein zukünftiges Verhalten eines Gottes unwürdig sein. Wie Kronberger, so verlässt auch ‚Maximin‘ die irdische Welt im Frühling. In der ‚Vorrede zu Maximin‘ heißt es: „Und Maximin ging im rauschenden frühling an der hand der geliebten durch die gärten […]. Nach diesen tagen der entzückung ging er von einem fiebertraum in den tod“.33 George beendet mit dem Sonett 98 die Sonett-Auswahl und schließt danach die ‚Vorrede zu Maximin‘ an. Das Sonett schließt mit den Zeilen: Das weiss der lilie nahm ich nicht in acht Noch lobte ich der rose tiefes rot .. Sie waren süss · doch abglanz nur der pracht: Nach dir gezeichnet der das vorbild bot. Doch winter schien es · denn du kamest nie: Wie deinen schatten so umspielt ich sie.34
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BfdK, 8. Folge, S. 30. SW XII, S. 104. BfdK, 8. Folge, S. 32. SW XII, S. 104. Das englische Original lautet: „Nor did I wonder at the lily’s white, / Nor praise the deep vermillion in the rose; / They were but sweet, but figures of delight, / Drawn after you, you pattern of all those. / Yet seemed it winter still, and you away, / As with your shadow I with these did play.“ Duncan-Jones, Shakespeare’s Sonnets (Anm. 27), S. 307.
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Überraschend heißt es hier: „du kamest nie“.35 Ginge man davon aus, dass sich Georges Sonett-Übersetzung immer auch auf ‚Maximin‘ bezieht, dann scheint dies ein unpassender Abschluss zu sein. Sicher kann und muss sich nicht jede einzelne Stelle der Sonett-Auswahl mit ‚Maximin‘ verbinden lassen. Trotzdem sind dies wichtige Zeilen, gerade weil sie den Abschluss der Auswahl bilden. Es wäre denkbar, dass sich George hier bewusst von Shakespeare abgrenzt. Während die Schönheit in den Sonetten „nie“ wirklich ankommt, so kann sich das ‚Maximin‘Erlebnis im Folgenden davon abgrenzen und noch an Bedeutung gewinnen. George leitet sein ‚Maximin‘-Erlebnis mit einem anderen Werk der Weltliteratur ein, um dieses dann sogar zu übertreffen. Außerdem wird ‚Maximin‘ erst noch zu seiner Vollendung kommen: nämlich im ‚Stern des Bundes‘. Noch ist die Sendung nicht erreicht, noch ist es ein Annähern an die Figur, die schließlich einige Jahre später im ‚Stern des Bundes‘ erscheinen wird. Schließlich lässt sich diese Stelle auch im Zusammenhang des gesamten Sonetts lesen. Dort geht es um die verschiedenen Blumen, die nicht an die Schönheit des Geliebten heranreichen und nur ein unvollkommenes Abbild sein können. In diesem Fall bezieht sich „du kamest nie“ auf die Blumen: Der Geliebte kommt nicht in den Blumen wieder – ein einfaches Symbol reicht nicht an seine Schönheit heran. Um wahre Schönheit wiederkehren zu lassen, braucht es mehr als ein Abbild, es braucht jemanden, der das schöne Leben erläutert. Sieht man es so, dann passen diese letzten Zeilen gut als Übergang zu Georges Werk und dem ‚Maximin‘-Erlebnis. II. Verbindung zur ‚Maximin‘-Thematik – II. Zusammenwirken der Texte Die achte Folge der ‚Blätter für die Kunst‘ beginnt mit den ‚Nachträgen zu Maximin‘. Die Nachträge sind einige Gedichte von Maximilian Kronberger, die als Gedichte ‚Maximins‘ veröffentlicht werden: 13 Gedichte, die noch nicht im ‚Maximin-Gedenkbuch‘ erschienen waren, sowie einige Ausschnitte aus Kronbergers Gedicht ‚Ein Kampf‘, hier als ‚Aus einem frühen Zyklus‘. Die Gedichte wurden von George korrigiert und zum Teil geändert, wie er es mit vielen Veröffentlichungen in 35
Ich danke Friedmar Apel für diesen Hinweis und die anregende Diskussion.
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den ‚Blättern für die Kunst‘ handhabte.36 Er feilt am Stil oder ändert einen Titel. So benennt Kronberger ein Gedicht ‚Stille Worte / an M. D.‘, mit M. D. ist Kronbergers Jugendliebe Mimi Droste gemeint. In Georges Auswahl heißt das Gedicht dagegen nach dem ersten Vers ‚Verlornes Schwingen‘.37 George erschwert die Zuordnung des Gedichts an eine bestimmte (weibliche) Geliebte und bewahrt somit auch die Reinheit ‚Maximins‘. Es ist eine symbolische Aufwertung der Gedichte ‚Maximins‘, dass sie den Band eröffnen dürfen.38 Kluncker hat gezeigt, dass mit der achten Folge der ‚Blätter für die Kunst‘ eine Änderung stattfindet: Der literarische Avantgardismus und das Außenseitertum der Zeitschrift […] wurden ersetzt durch eine freilich nicht weiter entlegene neue Gemeinschaftsform des Kreises. […] Dichterisch drückt sich dieser Wandel vor allem darin aus, daß der Komplex ‚Meister-Jünger‘ nun zum beherrschenden Thema der Zeitschrift wird.39
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Vgl. Karlhans Kluncker: Blätter für die Kunst. Zeitschrift der Dichterschule Stefan Georges, Frankfurt a. M. 1974, S. 54f. Georges Änderungen stießen vor allem bei Hofmannsthal, Andrian und Vollmoeller auf Widerstand. Siehe den Brief von Hofmannsthal an Klein (1. April 1893), Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal, München – Düsseldorf 21953, S. 61: „Dann aber habe ich eine Bitte: gütigst dafür sorgen zu wollen, daß meine Interpunction respectiert wird, ich finde da jede Änderung gerade so sonderbar, als wenn man einem Componisten Änderungen in der Instrumentation vornehmen wollte.“ Zu weiteren Änderungen und Kürzungen Georges vgl. die Anmerkungen in: Maximilian Kronberger: Gedichte, Tagebücher, Briefe. Hg. von Georg Peter Landmann, Stuttgart 1987, S. 124. Für die folgenden Überlegungen relevante Änderungen werde ich einbeziehen. Die ‚Blätter der Kunst‘ beginnen üblicherweise mit Gedichten Georges oder anderer ‚Meister‘, z.B. Hölderlins in der neunten Folge oder Waclaw Lieders (übersetzt von George) in der dritten Folge. Gedichte ‚jüngerer Dichter‘ erscheinen erst ab der achten Folge, am Ende des Bandes und anonym. Vgl. Kluncker, Blätter für die Kunst (Anm. 36), S. 43. Es ist daher bezeichnend, dass die Gedichte ‚Maximin‘, nicht aber Maximilian Kronberger zugeschrieben werden. Kronbergers Gedichte hätten – zu dessen Lebzeiten – nicht ebenjene Stelle am Anfang der ‚Blätter‘ erhalten und hatten auch 1904 keinen Platz in den ‚Blättern für die Kunst‘. Nach dem Tod von Richard Perls 1898 war es bereits einmal zu Veröffentlichungen aus dem Nachlass gekommen, im dritten Band der vierten Folge. Vgl. BfdK, 4. Folge, 3. Band, S. 65. Auch diese Gedichte eröffnen den Band. Kluncker, Blätter für die Kunst (Anm. 36), S. 43. Ebd: „Das neue Selbstverständnis des Kreises findet in zwei reflektierenden Beiträgen der achten Folge
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Auch Steffen Martus hat jüngst den mit der achten Folge einsetzenden ‚Maximin‘-Mythos als „Integrationsmedium des Blätter-Kreises“ bezeichnet.40 Die neue Ausrichtung der ‚Blätter für die Kunst‘ von einer literarisch-künstlerischen Zeitschrift zu einem gemeinschaftsbildenden Organ des George-Kreises beginnt also mit den Veröffentlichungen zu ‚Maximin‘ sowie Georges Auswahl einiger Sonett-Übersetzungen.41 Auch in den Übersetzungen zeigt sich die Entwicklung der ‚Blätter für die Kunst‘: Ist es in den frühen Folgen das erklärte Ziel, zeitgenössische Autoren anderer Sprachen einzuführen, gewinnen zunehmend die Übersetzungen großer Meister an Bedeutung, und George stellt sich und sein Werk in einen Traditionszusammenhang.42 Mit der Stellung seiner Sonett-Übersetzungen in den ‚Blättern für die Kunst‘ liefert George sowohl eine Erläuterung seines ‚Maximin‘-Erlebnisses als auch dessen Legitimation. Der Aufbau ist stufenhaft: Erst kommen die Gedichte ‚Maximins‘, dann wird dieses Erlebnis eines jungen Dichters durch ein Beispiel aus der Weltliteratur unterstützt (Shakes-
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seine theoretische Grundlegung; es sind Gundolfs ‚Gefolgschaft und Jüngertum‘ und ein Auszug aus Wolters’ Buch ‚Herrschaft und Dienst‘.“ Ebd., S. 174: „Dem Übergang vom ‚nur‘ artistisch-ästhetischen Gedicht, für das die ersten Bände der ‚Blätter für die Kunst‘ in Deutschland den Weg ebneten, zum auch ethischen Gedicht, das der Georgeschen Vorstellung von der Gestalt des schönen Menschen verpflichtet ist, korrespondiert der Wandel des Beiträgerkreises von einem literarischen Tentakel zu einem Meister-Jünger-Verband.“ Vgl. auch Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995, S. 44. Steffen Martus: Geschichte der Blätter für die Kunst. In: GHB 1, S. 301–364, hier S. 356. Martus sieht die siebte Folge als Einschnitt für Stefan George, da in dieser Zeit einige wichtige Beiträger zum letzten Mal Artikel beisteuern, der Tod Kronbergers und der Bruch mit den Kosmikern in diese Zeit fallen. Vgl. ebd., S. 354. Auch Wolters schreibt, dass die „achte und neunte Folge […] die innere Umbildung und Festigung des Kreises der Blätter seit dem letzten Jahrfünft schon deutlich wider[spiegelten].“ Friedrich Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, Berlin 1930, S. 358. Und ebd. zur achten Folge: „Dieser Eingang [‚Nachträge zu Maximin‘], verbunden mit der ‚Vorrede zu Maximin‘, besagte deutlich, unter welchem Zeichen das kommende Jahrzehnt der Blättergschichte stand: was nicht um diese Mitte kreiste, sank langsam von selbst zurück, was ihr zuwuchs, gewann immer reiner das dort geschaute Bild. Nicht als ob in Gedichten oder Prosen ausdrücklich davon die rede sei!“ Vgl. Kluncker, Blätter für die Kunst (Anm. 36), S. 88–92.
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peares Sonette) und schließlich wird das Erlebnis genutzt, um erst in der ‚Vorrede‘ und dann in Georges Werk (‚Goethes lezte Nacht in Italien‘) einen sozialen Sinn zu erhalten. George führt Shakespeare fort und übertrifft ihn gewissermaßen. Während Shakespeare den jungen schönen Mann beschreibt und ihm in den Sonetten ein Denkmal setzt, wählt George das ‚Maximin‘-Erlebnis, um sich als kündenden und erziehenden Dichter zu inszenieren. Auch er bewahrt ‚Maximin‘ in seinem Werk, aber er nutzt ihn für noch mehr. Osterkamp hat die spezielle Anordnung der Texte in den ‚Blättern für die Kunst‘ als Tryptichon bezeichnet, „in dem das Bild Maximins [die ‚Vorrede‘] von zwei Seitentafeln umrahmt wird, die Shakespeare und Goethe als Propheten des göttlichen Knaben zeigen […]“.43 Osterkamp legt eindrucksvoll dar, wie George in ‚Goethes lezte Nacht in Italien‘ „eine unüberwindliche Zeitenschwelle zwischen dem klassischen Bildungshumanismus der Deutschen und dem von George beschrittenen Erlösungsweg im Zeichen eines neuen Gottes eines nationalen Erlösungsphantasmas [zieht].“44 Gerade weil die Textauswahl in Georges Werk und seinem „Erlösungsweg“ gipfelt, denke ich, dass die ‚Vorrede‘ nicht umrahmt wird, sondern dass sie vielmehr eine Stufe auf dem Weg darstellt. Shakespeare ist eine weitere Stufe und erst Georges Übersetzung und seine Sonettauswahl ermöglichen es, Shakespeares Sonette als petrarkistische „Präfigurationen der ‚leidenschaftlichen verehrungen‘ […] Maximins“ zu sehen.45 George sieht sich als Menschenbildner und -former. Ähnliches, also Menschen formen zu wollen, schreibt er Dante zu; Shakespeare dagegen sieht er als jemanden, der Menschen darstellt, sie aber nicht ändern will. George schreibt mit einer sozialen Absicht und grenzt sich auf dieser Ebene von Shakespeare ab. Deshalb deutet er die Sonette soziopoetisch um,46 durch die Auswahl und auch ihre Stellung innerhalb der ‚Blätter für die Kunst‘.
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Ernst Osterkamp: Poesie der leeren Mitte, München 2010, S. 71. Ebd., S. 113. Ebd., S. 72. Zum Begriff der ‚Soziopoetik‘ bei George siehe Oestersandfort, Antike-Rezeption (Anm. 24), S. 668ff. ‚Soziopoetik‘ meint „die Vorstellung […] einer künstlerisch orientierten Gemeinschaft“, deren „Konstitution, Institution und Expansion“ sowie „die Vorstellung der Durchdringung von Kunst und Leben“ (ebd., S. 669).
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George stellt mit den ‚Nachträgen‘ eine Auswahl zusammen, die als Einstieg in das in der ‚Vorrede‘ geschilderte ‚Maximin‘-Erlebnis zu verstehen ist. Beide Texte werden durch die Sonett-Übersetzungen verbunden. Die Sonette übernehmen hier eine vermittelnde Instanz. Sie sind der Übergang von der Dichtung ‚Maximins‘ zu dem Erlebnis, das in der ‚Vorrede‘ geschildert wird. Die Auswahl der ‚Nachträge zu Maximin‘ beginnt mit den bezeichnenden Versen: Ich will Mir meine Gottheit selbst erbilden · Ich will mich aus der geistigen ruhe An ewige gedanken wenden47
Die Gedichte ‚Maximins‘ kreisen um göttliches und irdisches Dasein. Sie sind so gewählt, dass sie wie ein Vorwort zum ‚Maximin‘-Erlebnis Georges zu lesen sind. In den ‚Nachträgen‘ geht es um die eigene Bereitschaft bzw. den eigenen Willen, das irdische Leben für ein geistiges aufzugeben. In nahezu jedem Gedicht der Nachträge zeigen sich die Sehnsucht nach Abkehr von dem gewöhnlichen Leben sowie die Zuversicht eines Weiterlebens.48 Das Gedicht ‚Tod‘ beginnt mit den Versen: Dass meine glieder einst vergehen werden Ist gewiss · doch dass mein geist vergeht Hindert meine gottheit.49
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BfdK, 8. Folge, S. 8. Kronbergers Lyrik ist von einer melancholischen Weltuntergangsstimmung geprägt, die charakteristisch für die Jugenddichtung der Jahrhundertwende ist. Zur Qualität der Dichtung Maximilian Kronbergers siehe z.B. Claude David: Stefan George. Sein dichterisches Werk, München 1967, S. 254: „Die Verse, die wir von ihm besitzen, sind durchaus die eines Knaben von fünfzehn Jahren – naiv und unaufrichtig, wie man eben in diesem Alter Gedichte schreibt. Prophetische Akzente kommen nicht häufig vor, und wirklich gelungene Passagen sind selten.“ Vgl. Wolfgang Martynkewicz: Maximin, die Lichtgestalt. Stefan George und sein Abgott. In: Claudia Schmölders (Hg.): Deutsche Kinder. Siebzehn biographische Porträts, Berlin 1997, S. 228–254, hier S. 238: „Die Themenwahl ist für einen dreizehnjährigen Knaben von damals, der sich in dramatischen Stoffen und Motiven auskennt, so ungewöhnlich nicht, der Todeswunsch, die Neigung zu theatralischen Posen, das gehört zur pubertären Fantasie. In der literarischen Feier des Todes findet sich bei Kronberger immer auch Jugendpathos und Aufbruchstimmung.“ BfdK, 8. Folge, S. 9.
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Die Beständigkeit des Geistes wird als Thema in ‚Maximins‘ Gedichten eingeführt und in den Sonetten Shakespeares erneut aufgenommen.50 In der ‚Vorrede‘ wird schließlich ein Beispiel geschildert: der Körper Maximilian Kronbergers vergeht, aber die Idee ‚Maximin‘ bleibt bestehen. Die Vergängnis ist „gewiss“, aber die Schönheit oder eben der Geist kann bewahrt werden. In dem Original-Gedicht Kronbergers steht nur „der Geist“,51 erst George ändert es zu „mein geist“ (meine Hervorh.). Auch das Gedicht ‚Fluch‘ ändert George. Statt der letzten zwei Verse fügt er zwei neue ein: Ich will zum hellen sonnenlicht mich wenden · Im reinen äther droben enden. […] Ich darf zur sonne auferstehen Und dort die reine liebe sehen.52
In dem Original-Gedicht Kronbergers steht: „Und hofft vergeblich auf ein Wiedersehn / Und hofft vergeblich auf ein Auferstehen.“53 Zwar beziehen sich die Schlussverse Kronbergers hier auf die Angesprochenen und nicht auf das Sprecher-Ich. Trotzdem ist Georges Änderung bezeichnend. Er kehrt die Schlussverse dieses Gedichts von einem vergeblichen Hoffen um: zur Auferstehung ‚Maximins‘. Zudem ist es nun keine einfache Auferstehung mehr, sondern eine Auferstehung „zur sonne“, zum Mittelpunkt unseres Sonnensystems. Auch die Sonne weist hier in die Zukunft, zu einem neuen Morgen, zum Licht hin. George baut darüber hinaus Verbindungen der ‚Nachträge‘ zu der ‚Vorrede zu Maximin‘ ein. In der ‚Vorrede‘ wird geschildert, dass „Maximin […] im rauschenden frühling an der hand der geliebten durch die gärten [ging]“.54 Das Gedicht ‚Landschaft‘ aus den ‚Nachträgen‘ beginnt mit dem Vers „Einst gingen wir im frühling durch die wiesen ·“.55 Weiter heißt es in dem Gedicht „Am himmel zogen lichte goldne flü50
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In Georges Sonett-Auswahl sind der Tod und die Vergängnis des Körpers ein vorherrschendes Thema, so z.B. im Sonett 74: „Die erd erhält nur erde als gebühr · / Mein geist ist dein · der bessre teil von mir. / So hast du nur verloren wenn ich starb / Des lebens hefe · fürs gewürm den rest“; SW XII, S. 80. Kronberger, Gedichte, Tagebücher, Briefe (Anm. 37), S. 45. Aus: ‚Fluch‘, BfdK, 8. Folge, S. 11. Kronberger, Gedichte, Tagebücher, Briefe (Anm. 37), S. 59. BfdK, 8. Folge, S. 32, Hervorhebung F. W. BfdK, 8. Folge, S. 12, Hervorhebung F. W.
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gel“,56 und in der ‚Vorrede‘ antwortet ‚Maximin‘ dem ‚Meister‘ mit den Worten: „[…] ich habe die ganze brust voll glück und über jedes ende hinaus winkt mir mit goldnen flügeln unsterblichkeit.“57 In der ‚Vorrede‘ erhebt sich während eines Gesprächs des Meisters mit ‚Maximin‘ eine „weinrote[] wolke“,58 die sich als „purpurwolken“59 auch in dem Gedicht ‚Ich kam zum Berg …‘ findet. In der ‚Vorrede‘ wird ‚Maximin‘ als „darsteller einer allmächtigen jugend“ heroisiert und ähnelt der Beschreibung des Fair Youth in Georges Auswahl der Sonette.60 Es finden sich fünf deutlich übereinstimmende Bereiche: die Göttlichkeit des Knaben, dessen Schönheit, die Abgrenzung des Geistes vom Körper, der Altersunterschied bzw. die Jugend des Knaben und der Frühling. Verschiedene Beispiele können diese Übereinstimmung verdeutlichen: Sowohl in der ‚Vorrede‘ als auch in der Übersetzung des Sonetts 53 wird der Fair Youth bzw. ‚Maximin‘ als „der Eine“ bezeichnet. Diese Großschreibung des Indefinitpronomens unterstreicht die Einzigartigkeit und hat keine Entsprechung im Originaltext.61 Der Fair Youth wird in den Sonetten 34 und 98 als „pracht“ beschrieben.62 In der ‚Vorrede‘ wird den Versen ‚Maximins‘ „seherische pracht“63 zugesprochen. Zudem umschreibt „pracht“ in den Sonetten jeweils etwas, das in der Zeit (Sonett 30) und der Dichtung (Sonett 76) fehlt.64 Die Pracht, die in Zeit und Dichtung fehlt, kommt mit dem Fair Youth und ‚Maximin‘ zurück.65 56 57 58 59
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BfdK, 8. Folge, S. 12, Hervorhebung F. W. BfdK, 8. Folge, S. 33, Hervorhebung F. W. BfdK, 8. Folge, S. 32. BfdK, 8. Folge, S. 13. In Georges Sonett-Auswahl werden mehrfach die Jahreszeiten (hier der Frühling) und auch die Wolken thematisiert. BfdK, 8. Folge, S. 28ff. Vgl. BfdK, 8. Folge, S. 23: „Kannst du · der Eine · tausend schatten leihn?“ und BfdK, 8. Folge, S. 29: „was uns not tat war Einer der von den einfachen geschehnissen ergriffen wurde und uns die dinge zeigte wie die augen der götter sie sehen.“ SW XII, S. 40 und 104. BfdK, 8. Folge, S. 30. SW XII, S. 36 und 82. Den Übersetzungen mit ‚Pracht‘ liegen im Englischen vier unterschiedliche Ausgangswörter zugrunde. ‚Pracht‘ wird darüber hinaus häufig in Georges
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Indem er die Sonette und auch die Gedichte Kronbergers bzw. ‚Maximins‘ so pointiert auswählt, gelingt es George, sein ‚Maximin‘-Erlebnis als etwas darzustellen, das sich bereits in anderen Texten andeutet.66 Mit seiner Auswahl und Übersetzung der Sonette bereitet George das ‚Maximin‘-Erlebnis vor: Nur die geistige Schönheit eines Einzelnen kann die Pracht bringen, die in der Zeit vermisst wird. In der Verbindung zu ‚Maximin‘ hebt George Aspekte der Sonette hervor, die in sein pädagogisches Konzept passen: die Abkehr vom Körper, die Hinwendung zum Geist sowie schließlich die Überwindung der Vergänglichkeit einerseits mit Mitteln der Kunst und andererseits mit einer konsequenten Erziehung der Jugend. III. Übersetzung der Sonette Die Verbindung zwischen Georges Werk und den Sonetten hat Auswirkungen auf die Übersetzung. George übersetzt die Sonette so, dass sie gut in sein Werk passen. Auch in den Sonetten schafft er einen idealtypischen jungen Mann, dessen geistige Unversehrtheit so nicht im Original zu finden ist. Zudem misst er der Dichtkunst eine Bedeutung bei, die zwar auch bei Shakespeare angedeutet ist, aber erst in Verbindung mit dem Werk Georges und in seiner Übersetzung derart betont wird. George bereitet in den Sonetten vor, was er mit den eigenen Gedichten
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eigener Dichtung genutzt. Vgl. Claus Victor Bock: Wort-Konkordanz zur Dichtung Stefan Georges, Amsterdam 1964, S. 448. Eine gängige Praxis auch des Kreises um George. Vgl. Ernst Osterkamp: Das Eigene im Fremden. Georges Maximin-Erlebnis in seiner Bedeutung für die Konzeption der ‚Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst‘. In: Eijirô Iwasaki (Hg.): Begegnung mit dem ‚Fremden‘. Grenzen – Traditionen – Vergleiche, München 1991, S. 394–400, hier S. 397: „So nimmt Friedemanns ‚Schau‘ der Gestalt Platons Züge einer Krypto-Biographie Georges an: den Heroenkult des Kreises aus der Gestalt Platons begründend, die wiederum der Gestalt des Meisters nachgeformt wird, dem einst Maximin erschien.“ Und ebd., S. 400: „Wie bei Friedemann und Kommerell zielt auch in Vallentins Winckelmann-Buch die erzählerische Simulation eines MaximinErlebnisses auf die ideologische Integration des Kreises. Nach dem von Friedemann entworfenen Modell nehmen diese ‚Geistbücher‘ die Legitimation des Dichter-Sehers als eines absoluten geistigen Herrschers im Staat des Geheimen Deutschlands dadurch vor, daß sie im herrischen Zugriff auf die Vergangenheit die Züge des Dichter-Führers George in die darzustellenden Heroengestalten zurückspiegeln.“
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erreichen will: nicht nur eine weltschaffende sondern auch eine weltformende oder weltverändernde Kraft. Im Folgenden analysiere ich Stellen, an denen George in seinem Zieltext vom Originaltext abweicht, um eigene Ideale zu stärken. Die Sonette 33 und 34 gehören zu den Sonetten, in denen das erste Mal angedeutet wird, dass der junge Freund nicht treu ist, sondern andere Beziehungen neben der zum Sprecher hat. 33 Full many a glorious morning have I seen Flatter the mountain tops with sovereign eye, Kissing with golden face the meadows green, Gilding pale streams with heavenly alchemy; Anon permit the basest clouds to ride With ugly rack on his celestial face, And from the forlorn world his visage hide, Stealing unseen to west with this disgrace:67 XXXIII Manch prächtigen morgen sah ich überglühn Die bergeshöhn mit königlicher gunst .. Sein goldnes antlitz küsst der wiesen grün · Vergüldet bleichen strom mit götterkunst. Dann liess er niederstes gewölk beziehn Mit garstigem dampfe seinen himmelsblick · Verhüllt aus der verlassnen welt zu fliehn Unsichtbar westwärts mit dem missgeschick.68
Interessant sind in dieser Übersetzung die letzten beiden Zeilen. In Shakespeares Sonett versteckt („hide“) sich der junge Freund und stiehlt sich fort („stealing unseen“), bei George dagegen „flieh[t]“ er „verhüllt“. Während in Shakespeares Sonett die Verben eher den jungen Freund als Missetäter darstellen, kann er bei George auch ein Opfer sein, der nicht selbst etwas verschuldet, sondern vor etwas flieht. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass in Shakespeares Sonett die Tat als „disgrace“ bezeichnet wird, bei George dagegen als „missgeschick“. In dem Originaltext leidet die Grazie, die Vollkommenheit des jungen
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Duncan-Jones, Shakespeare’s Sonnets (Anm. 27), S. 177. SW XII, S. 39.
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Mannes wird angegriffen und seine Schönheit entstellt.69 In Georges Übersetzung handelt es sich lediglich um ein „missgeschick“, also um etwas, das aus Versehen geschieht und das der Vollkommenheit des jungen Mannes keinen Abbruch tut. Im folgenden Sonett 34 wird das Nomen „disgrace“ wiederholt und erneut als letztes Wort des zweiten Quartetts eingesetzt. George, der an anderen Stellen der Übersetzung sehr aufmerksam mit Wiederholungsfiguren Shakespeares umgeht und diese oft sehr kunstvoll in seine Übersetzung einbaut, ignoriert die Wiederholung an dieser Stelle: 34 Why didst thou promise such a beauteous day, And make me travel forth without my cloak, To let base clouds o’ertake me in my way, Hiding thy bravery in their rotten smoke? ’Tis not enough that through the cloud thou break, To dry the rain on my storm-beaten face, For no man well of such a salve can speak, That heals the wound, and cures not the disgrace:70 XXXIV Warum versprachst du solchen schönen tag Dass ich mich ohne mantel aufgemacht? Mich holten niedre wolken ein – da lag Verhüllt in fauligem dunste deine pracht. ’s ist nicht genug dass du durch wolken siehst · Und trocken wischst mein sturmgepeitscht gesicht .. Denn keiner solche salbe lobt: sie schliesst Die wunde aber heilt den unfall nicht ·71
In Georges Übersetzung ist das Vorkommnis ein „unfall“, im Originaltext dagegen wird mit „disgrace“ eher eine Entstellung, genau genommen etwas Ungraziöses, angesprochen. George nimmt dem jungen Mann die Absicht, bei einem ‚Unfall‘ fehlt die Intention. Die Passivität
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Das englische „disgrace“ (etwa ‚Un-Grazie‘) meint sowohl Verunstaltung oder Entstellung als auch Schande. Die (charakterliche) Grazie des jungen Mannes wird beschädigt. Vgl. Duncan-Jones, Shakespeare’s Sonnets (Anm. 27), S. 176; SW XII, S. 198. Duncan-Jones, Shakespeare’s Sonnets (Anm. 27), S. 179. SW XII, S. 40.
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des jungen Mannes wird auch im ersten Quartett der Übersetzung deutlich. Bei Shakespeare nimmt der Fair Youth die Dinge selbst in die Hand: Erst verspricht er etwas, dann bringt er den Sprecher dazu, etwas zu tun, und schließlich lässt er dunkle Wolken aufziehen, die ihn verstecken. Dies alles vollbringt der junge Mann, er ist aktiv handelnd. Er lässt sich von den offensichtlich schlechten Wolken („base clouds“, „rotten smoke“) verstecken – er ist sich seiner Tat bewusst und versucht dies zwar zu verheimlichen, nicht aber zu verhindern. Ganz anders stellt sich dies in Georges Übersetzung dar: Auch hier verspricht der junge Mann einen schönen Tag. Doch alles, was dann folgt, ist zwar eine Konsequenz aus seinem Versprechen, resultiert aber nicht mehr aus seinem Handeln. So macht der Sprecher sich selbst ohne Mantel auf („ich mich aufgemacht“), und er wird von den Wolken eingeholt („mich holten […] ein“). George mildert in diesen beiden Sonetten die Charakterschwäche des jungen Mannes und kann ihn dadurch besser als Ideal darstellen. Im Sonett 74 geht es um die Kraft und Bedeutung der Dichtkunst des Sprechers. Wenn der Sprecher gestorben ist, dann soll sich der junge Mann damit trösten, dass ihm der „bessre teil“ („better part“) des Sprechers erhalten bleibt, dessen Geist bzw. sein Werk: The worth of that is that which it contains, And that is this, and this with thee remains.72 Der wert von jenem ist was ihm entschwebt Und das ist dieses hier: was mit dir lebt.73
George deutet in seiner Übersetzung die Bestimmung eines Werkes an. Der Wert des Dichters „entschwebt“ ihm und „lebt“ sogar. Bei Shakespeare wird etwas beinhaltet („contains“) und es bleibt bestehen („remains“). Die Verben ‚entschweben‘ und ‚leben‘ beinhalten vielmehr eine Aufgabe, nämlich die Bestimmung, etwas nach außen zu tragen und zu verbreiten – ein Leben, das sich nach dieser Dichtung ausrichtet. Es wird deutlich, dass Georges Werk und damit auch seine Übersetzung immer auch eine soziale Ausrichtung haben. Die Ideale sollen nicht nur
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Duncan-Jones, Shakespeare’s Sonnets (Anm. 27), S. 259. SW XII, S. 80.
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bewahrt, sondern auch genutzt werden. George möchte mit seiner Dichtung etwas erreichen.74 Eines der bekanntesten Sonette ist das Sonett 18, das den jungen Mann mit einem Sommertag vergleicht. In Georges Sonett-Auswahl leitet es gemeinsam mit Sonett 17 den Beginn der Auswahl ein. Hier das dritte Quartett und das Couplet: 18 But thy eternal summer shall not fade, Nor lose possession of that fair thou ow’st, Nor shall death brag thou wander’st in his shade, When in eternal lines to time thou grow’st, So long as men can breathe, or eyes can see, So long lives this, and this gives life to thee.75 XVIII Doch soll dein ewiger sommer nie ermatten: Dein schönes sei vor dem verlust gefeit. Nie prahle Tod · du gingst in seinem schatten .. In ewigen reimen ragst du in die zeit. Solang als menschen atmen · augen sehn Wird dies und du der darin lebt bestehn.76
Die Themen der Sonett-Auswahl Georges – Verlust und Schönheitsbewahrung in der Dichtkunst – finden sich hier deutlich. Es geht um die Schönheit des jungen Mannes, um die Angst, diese durch den Tod zu verlieren, schließlich wird die Dichtung als Lösung genannt. Die Ewig-
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Diese Tendenz in Georges Übersetzung lässt sich auch im Sonett 76 beobachten. Das dritte Quartett beginnt mit der Bekenntnis des sprechenden Dichters, dass er über nichts anderes als den geliebten jungen Mann schreibt. Bei Shakespeare werden der Geliebte und die Liebe als „argument“ beschrieben, also als Thema. Duncan-Jones, Shakespeare’s Sonnets (Anm. 27), S. 263. George wählt die – sicher auch durch ihre Einsilbigkeit bestechende – Übersetzung „plan“. SW XII, S. 82. Andere deutsche Übersetzungen wählen an dieser Stelle: Sujet, Ausdruck, Gegenstand oder Thema. Während in Shakespeares Sonett das Dichten aus der Erscheinung des Fair Youth heraus erklärt wird, zeigt sich in Georges Übersetzung der eigene Wille des Sprechers. George stellt in seiner Übersetzung das Dichten als etwas Planvolles dar. Seine Dichtung hat ein Ziel, er möchte nicht nur beschreiben, sondern etwas bewirken. Vgl. ebenfalls Georges Übersetzung des Sonnet 105. Duncan-Jones, Shakespeare’s Sonnets (Anm. 27), S. 147. SW XII, S. 24.
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keit, die in den Gedichten der ‚Nachträge zu Maximin‘ sehr präsent ist, übersetzt George zweimal im dritten Quartett.77 Sicherlich ist es eine passende und auch naheliegende Übersetzung für ‚eternal‘, die bei George zudem zweimal rhythmisch betont wird. Es prallen zwei unbetonte Silben, zwei doppelte Senkungen im Jambus, aufeinander – ein Effekt, den George entweder bewusst herbeiführt oder den er gerne in Kauf nimmt. An anderen Stellen umgeht er die rhythmische Betonung und benutzt Synkopen: „drehn“ und „goldne“. Im letzten Vers des dritten Quartetts übersetzt George „grow“ mit „ragst“. Bei Shakespeare wird ein Entstehungsprozess beschrieben, etwas entwickelt sich. Bei George wird die Bedeutung des jungen Mannes in der Zukunft bekräftigt: Etwas, das in die Zeit ragt, mutet groß und bedeutsam an. Die Übersetzung zeigt Georges selbstbewusstes Verständnis von der Dichtkunst, besonders eben der eigenen Dichtung. Der Satz wird in seiner Bedeutung verstärkt, denn es fehlt die verbindende Konjunktion „when“, sodass der Satz „In ewigen reimen ragst du in die zeit“ nicht als Einschränkung gesehen wird, sondern vielmehr als eine finale Tatsache. Zudem beendet George die vorangehende Zeile mit zwei Punkten, die man als Doppelpunkt interpretieren kann oder zumindest als bedeutungsvolle Pause sehen muss78 – beides betont die Bedeutung der folgenden Zeile.79 Die monumentale Kraft der „ewigen reime[]“ wird hervorgehoben.
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In den ‚Nachträgen zu Maximin‘ finden sich: „ewige gedanken“, „ewigkeiten“, „ewige heimat“, „will ich ewig sitzen“, „ewiger Gott“, „ewige brust“ und „meinen Gott schaun ewiglich“. BfdK, 8. Folge, S. 8–16. In Georges Vorwort zu seiner Sonett-Übersetzung nennt er den „glühenden verewigungsdrang“ als den Gehalt der Sonette. SW XII, S. 5. Georges Dichtung möchte in die Zukunft, in die Ewigkeit hineinwirken. Diesen Willen zum Wirken betont er in der Komposition seiner Auswahl durch das Adjektiv „ewig“. Zur Verwendung der Punkte bei George siehe Steffen Martus: Stefan Georges Punkte. In: Alexander Nebrig / Carlos Spoerhase (Hg.): Die Poesie der Zeichensetzung. Studien zur Stilistik der Interpunktion, Bern u.a. 2012, S. 295–327, hier S. 308. Martus beschreibt Georges Zweipunkt-Reihe als „horizontalen Doppelpunkt“. In der ersten Veröffentlichung dieser Übersetzung in dem Auswahlband der ‚Blätter für die Kunst‘ steht an dieser Stelle noch ein einziger Punkt. George ändert diese Stelle also und fügt den zweiten Punkt hinzu – ein Beweis dafür, dass er diesem zweiten Punkt besondere Bedeutung verleiht. Vgl. SW XII, S. 191 [Kommentar].
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Im Couplet heißt es bei George nicht ‚dies gibt Dir Leben‘ („this gives life to thee“), sondern „du der darin lebt“. Ähnlich wie im Beispiel zuvor zeugt dies vom Selbstverständnis Georges und seiner Überzeugung, mit seiner Dichtung etwas Neues einzuleiten. Die Dichtung und der junge Mann sind beide kraftvoll. In der Analyse der Sonett-Übersetzungen zeigt sich, dass George dann vom Original abweicht, wenn er eigene Ideale betonen oder hervorheben möchte. Auf diese Weise gelingt es ihm, die Sonette Shakespeares als Vorläufer des eigenen ‚Maximin‘-Erlebnisses darzustellen und die Sonette so in sein Werk zu integrieren. Die Sonett-Übersetzungen präsentieren das Ideal eines jungen Mannes, dessen geistige Schönheit durch die Dichtkunst weltschaffend aber auch weltverändernd eingesetzt wird. Die Auswahl der Texte in den ‚Blättern für die Kunst‘ verfolgt dabei eine Steigerung von den einfachen Gedichten Maximins über das einleitende Beispiel aus der Weltliteratur hin zu der Beschreibung eines neuen Gottes und gipfelt in den davon kündenden Gedichten Georges.
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Stefan Georges lingua romana und „das dichten in fremdem sprachstoff “
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Stefan Georges lingua romana und „das dichten in fremdem sprachstoff“ Zu dem, was Stefan George allgemein „das dichten in fremdem sprachstoff“ genannt hat,1 gehört – als ein besonderes – das Dichten in der lingua romana. Die lingua romana ist eine von George selbst erfundene romanische Sprache. In der Forschung wird sie immer wieder, doch nur beiläufig erwähnt; näher mit ihr beschäftigt hat sich bisher kaum jemand. Dies mag der spärlichen Textlage geschuldet sein; vielleicht auch der Tatsache, dass die lingua romana eine Spracherfindung des jungen George ist, die in das Jahr 1889 zurückreicht,2 also aus dem ganz frühen Werk stammt, noch vor den ‚Hymnen‘. An dem „in manchem noch unbeholfene[n] und sich überfordernde[n] Frühwerk“ des Dichters hat Theodor W. Adorno die Übersetzungen hervorgehoben; sein „Gedanke, was von George dauere, sei nicht das, was trotzig die eigene Dauer vorwegnimmt, sondern was ephemer auftritt; nicht was ihm der Kern dünkt, sondern was am Rande liegt“,3 wirkt gerade angesichts der lingua romana suggestiv. Diese nimmt als eine kurze und vorübergehende Episode eine Randstellung in der Gesamtausgabe ein, sie bleibt aber nicht nur als eine Marginalie des Frühwerks lesbar, sondern eröffnet auch einen Zugang zu Georges Poetik der Mehrsprachigkeit. Darüber führt sie letztlich zu der Frage nach dem Verhältnis von Leben und Kunst – einer Frage, auf die George unter an1
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Stefan George: Gesamt-Ausgabe der Werke. Endgültige Fassung, Berlin 1927ff., Bd. III, S. 127. Die Anhänge werden aus dieser Ausgabe zitiert (im Folgenden mit der Sigle GA, Bandnummer, Seitenzahl). Das Dichten in der lingua romana ist „genau einzugrenzen auf die Monate von Oktober bis Dezember 1889.“ (Ute Oelmann: Anhang. In: Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff., Bd. XVIII, S. 111–148, hier S. 120. Im Folgenden mit der Sigle SW, Bandnummer, Seitenzahl zitiert). Theodor W. Adorno: George. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Bd. II: Noten zur Literatur, Frankfurt a. M. 1974, S. 523–535, hier S. 532.
DOI 10.1515/george-2016/2017-0007
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derem mit „Strategien der Selbstinszenierung als Autor“4 und mit „werkpolitischen Strategien“5 antwortet, wie etwa der in der Gesamtausgabe umgesetzten „Strategie editorischer Einbalsamierung“.6 Was jedoch die lingua romana besonders auszeichnet, ist ein grundlegender Widerspruch zwischen Einschluss und Ausschluss, in den der Dichter mit Bezug auf seine unterschiedlichen Rezipienten gerät. 1927 erscheint als erster Band der Gesamtausgabe ‚Die Fibel. Auswahl erster Verse‘.7 Einige der ‚Fibel‘-Gedichte, heißt es im Anhang, „waren zuerst verfasst in einer eigenen dem spanischen angeähnelten lingua romana.“8 Die Rede ist vom Gedichtzyklus ‚Zeichnungen in Grau‘ und vom ersten Gedicht aus dem Zyklus ‚Legenden‘. Ute Oelmann weist allerdings darauf hin, dass „die meisten“ der Gedichte aus diesen beiden Zyklen in der lingua romana „handschriftlich überliefert“ seien.9 Bis zur Publikation der im Stefan George Archiv aufbewahrten Handschriften liegen als Textzeugnisse in der lingua romana – neben einem Brief an Arthur Stahl10 und einer Widmung an Maurice Muret11 – 4
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Wolfgang Braungart: Priester und Prophet. Literarische Autorschaft in der Moderne. Am Beispiel Stefan Georges. In: Christel Meier / Martina WagnerEgelhaaf (Hg.): Prophetie und Autorschaft. Charisma, Heilsversprechen und Gefährdung, Berlin 2014, S. 335–353, hier S. 338. Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin – New York 2007, S. 514. Ernst Osterkamp: Rede zum Abschluss der Ausgabe ‚Sämtliche Werke Stefan Georges‘. In: George-Jahrbuch 10, 2014/15, S. 247–253, hier S. 248. Die Gesamtausgabe mag über den Stellenwert dieser ‚erste[n] Verse‘ täuschen, denn grundsätzlich gilt: „Ganz im Sinne StGs liegen sie außerhalb des eigentlichen Werks, das erst mit den Hymnen beginnt“ (Ute Oelmann: Die Fibel. In: Achim Aurnhammer / Wolfgang Braungart / Stefan Breuer / Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Berlin – Boston 2012, Bd. 1, S. 95–106, hier S. 106). GA I, S. 129. George hat also die Gedichte erst in der lingua romana geschrieben und dann ins Deutsche übersetzt – und nicht umgekehrt, wie irrtümlich angegeben in Dieter Lamping: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, Göttingen 32000, S. 72. Oelmann, Anhang (Anm. 2), SW I, S. 95–135, hier S. 101. Oelmann bringt außerdem vor, George habe „die beiden ersten Legenden in seiner Kunstsprache ‚lingua romana‘ verfasst“ (Oelmann, Die Fibel [Anm. 7], S. 102) und nicht nur die erste, wie es im Anhang der Gesamtausgabe steht (vgl. GA I, S. 129). Vgl. Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George, München – Düsseldorf 1951, S. 46f.
Stefan Georges lingua romana und „das dichten in fremdem sprachstoff “
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insgesamt nur fünf Gedichte vor: Mit einer Ausnahme sind sie in der Gesamtausgabe vollständig abgedruckt, jeweils im Anhang.12 In den ‚Zeichnungen in Grau‘ kommt „die freieste Form, die das lyrische Werk Georges überhaupt kennt“,13 zum Vorschein. Hubert Arbogast hat sie in seiner nach wie vor einschlägigen Untersuchung treffend beschrieben, doch nur im Hinblick auf die deutschen Gedichte. Er blendet aus, dass diese „Form“ sich aus einer Übersetzung ergibt, ja einer Übersetzung standhält. Seine herabwürdigende Missachtung der lingua romana erscheint übertrieben und in der Sache verfehlt: „Über dieses Idiom zu sprechen, verbietet sich von selbst, denn das gänzlich Ungeschichtliche, das bloß Private läßt dem Betrachter keine Möglichkeit des Urteils.“14 George habe außerdem die Gedichte „unverzüglich ins Deutsche übertragen“, wobei allein die Übertragungen „für die Stilgeschichte wichtig“ seien.15 Demgegenüber gilt auch für die Vorstufe in der lingua romana, was Arbogast über die „Jugendlyrik“ Georges schreibt: dass sie „keine überzeugende künstlerische Leistung“ darstellt, „aber doch manche[n] reizvolle[n] und für die weitere Entwicklung wichtige[n] Zug“ aufweist.16 Zur Veranschaulichung sei gleich ein Beispiel angeführt, ergänzt durch Georges eigene Übersetzung ins Deutsche:
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Vgl. ebd., S. 48. Der Anhang zum ersten Band enthält als Faksimile unter den ‚Handschriftenproben aus der Fibelzeit‘ das Gedicht ‚Rosa galba‘ aus dem Zyklus ‚Zeichnungen in Grau‘ sowie die letzten fünf Verse von ‚Erkenntnis‘, der ersten der drei ‚Legenden‘ (vgl. GA I, S. 136f.). Vollständig abgedruckt ist diese als ‚Cognicion‘ in Stefan George: Werke. Ausgabe in zwei Bänden. Hg. von Georg Peter Landmann. Bd. 2, Stuttgart 41984, S. 604–608 (ich danke Ute Oelmann für diesen Hinweis und ihre Unterstützung aus dem Stefan George Archiv). Die anderen beiden veröffentlichten Gedichte in der lingua romana – ‚Paz‘ und ‚El imagen‘, ebenfalls aus den ‚Zeichnungen in Grau‘ – befinden sich im Anhang zum Schlussband der Gesamtausgabe, unter der Überschrift ‚Gedichte in fremden Sprachen‘ (vgl. SW XVIII, S. 102f.). Hubert Arbogast: Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache in den Frühwerken Stefan Georges. Eine stilgeschichtliche Untersuchung, Köln – Graz 1967, S. 48. Ebd.Vgl. auch schon ebd., S. 28. Ebd., S. 48. Ebd., S. 54f.
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Rosa galba
Gelbe Rose
En la atmosfera calida tremulante de odores En la luz argentea de un di fallaz Ella respira circunfundida de un galbo fulgor Envelata toto en una seta galba Multo vagamente. con aria extranea No lassando devinar distinctas formas Que si sua boca se contracta in moriento subrider E suas spatulas o suo seno en un leve altiar Dea misteriosa de Brahmaputra o Gange Pareceste creato de cera inanimata
Im warmen von gerüchen zitternden luftkreis Im silbernen licht eines falschen tages Hauchte sie von gelbem glanz umgossen
Ganz gehüllt in gelbe seide. [Fast gestaltlos mit fremdem aussehn] Nur lässt sie bestimmte formen ahnen Wenn sich ihr mund zu sterbendem lächeln verzieht Und ihre schulter ihr busen zu leichtem zucken. Göttin geheimnisvoll vom Brahmaputra vom Ganges! Du schienest aus wachs geschaffen und seelenlos Sin tuos oclos densamente adumbratos Ohne dein dichtbeschattetes auge Quando lassos del reposo subito se Wenn es der ruhe müde sich plötzlich levaron17 hob.18
Beim Lesen stellt sich zunächst die Frage, inwieweit die „romanische Fassung“19 überhaupt verständlich sei. Diese Frage hat für George selbst eine entscheidende Bedeutung. Wer mit den romanischen Sprachen und dem Lateinischen vertraut ist, kommt auch ohne die deutsche Übersetzung aus bzw. gelangt, dem Wort und Sinn nach, zu einer ähnlichen Übersetzung. Dass die lingua romana „dem Spanischen angeähnelt[]“ sei, lässt sich angesichts der spanischen Übersetzungen von Georges Gedichten nachvollziehen, besonders augenfällig wird es bei einzelnen Versen aus ‚Rosa galba‘:
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Eigene Transkription der faksimilierten Handschrift in GA I, S. 136; vgl. Oelmann, Anhang (Anm. 2), SW I, S. 127, wo dieselbe Handschrift leicht anders wiedergegeben wird. SW I, S. 72. Der eingeklammerte Vers findet sich nur in der Handschrift von 1899 (GA I, S. 135), in der Druckschrift ist er getilgt. GA I, S. 136.
Stefan Georges lingua romana und „das dichten in fremdem sprachstoff “ En la atmosfera calida tremulante de odores En la luz argentea de un di fallaz […] Pareceste creato de cera inanimata Sin tuos oclos densamente adumbratos Quando lassos del reposo subito se levaron.
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En la atmósfera cálida tremulante de olores En la luz argéntea de un día falaz […] Parecías creada de cera e inanimada Sin tus ojos densamente ensombrecidos Cuando cansados del reposo súbito se elevaron.20
Für erfundene Sprachen, die auf bestehenden, „natürlichen Sprachen“ basieren, also für die sogenannten aposteriorischen Sprachen, ist oft die Ähnlichkeitsbeziehung zu einer „Bezugssprache“ konstitutiv.21 Doch George bildet, indem er vor allem auf der phonologischen Ebene Spanisch mit Italienisch bzw. (Vulgär-)Latein kombiniert, eine romanische Mischsprache. Anders als im Spanischen werden betonte Silben nicht durch Akzente markiert. Es gibt außerdem Lautverschiebungen wie etwa „odores“ statt „olores“, „adumbratos“ statt „adumbrados“ oder „inanimata“ statt „inanimada“. Bei den Partizipien sind aber wiederum auch spanische Anklänge zu finden, so in „circunfundida“. Hier prägt George eine stimmhafte, alliterierende Variante (‚di‘, ‚da‘), die sich gut in die besonders weich und gedämpft klingenden ersten vier Verse fügt („calida“, „de un di“). Überhaupt ist die lingua romana eine wesentlich durch den Klang motivierte Sprache. Durch Klangwiederholungen wird nicht nur das Weiche, sondern auch das Zitternde spürbar: durch das Echo von ‚en‘, ‚an‘, ‚un‘ sowie ‚te‘, ‚ta‘, ‚to‘ und durch die vermehrt eingesetzten Liquida („tremulante“, „argenta“, „envelata toto“, „circunfundida“, „luz“, „fallaz“, „galbo fulgor“, „galba“). Wie bei den ‚Zeichnungen in Grau‘ generell, sind auch bei ‚Rosa galba‘ die Verse durch ein „Netz“ von „Entsprechungen […] in Form von wörtlichen oder leicht variierenden Wiederholungen, von Anaphern, von Assonanzen und Alliterationen“ gegliedert,22 ansonsten aber reimlos und ohne Metrum. Die Versstruktur setzt sich, so Arbogast, rein syntaktisch zusammen, 20
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Stefan George: Nada hay donde la palabra quiebra. Antología de poesía y prosa. Hg. und übers. von Carmen Gómez García, Madrid 2011, S. 74f. Umberto Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, München 31995, S. 323 und S. 325. Arbogast, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache (Anm. 13), S. 51. Wiederholungen sind „galbo“, „galba“ und „lassando“, „lassos“; anaphorisch beginnen die Verse jeweils durch „En“ und „Envelata“; Assonanzen finden sich unter anderem am Versende in den Varianten ‚a–o‘ und ‚o–a‘.
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ohne Enjambements und ohne metrische Anspielungen. Das „Gequälte und dabei höchst Gehaltene des Tones“23 wirkt daher auch durch dessen prosaische Anmutung. Es bleibt – trotz der „Entsprechungen“, deren Funktion es ist, die freie Form des Gedichts gleichsam zusammenzuhalten – bei einer „spröden, von aller Sanglichkeit weit entfernten Aussage.“24 Das Gedicht bricht offenbar in Vers 5, den George in der Übersetzung schließlich ganz weglässt. Nach diesem Vers treten auch harte Konsonantenhäufungen auf – „extranea“, „distinctas“, „contracta“ –, die das zuckende Zusammenziehen der ‚Rose‘ und ihre unfassbare Form unterstreichen.25 Vers 5 und 6 sind in der Tat eine Umbruchstelle im Gedicht, an der die „formas“ selbst thematisiert werden. Nun verändert und erweitert sich das Bild, ohne jedoch eindeutig fixiert zu werden. Die Formen lassen sich lediglich erraten und bleiben in der Schwebe – auch dann, wenn die Rose (spätestens durch die Nennung der „boca“) sich als Metapher für eine weibliche Figur herausstellt, im Gegensatz zu den anderen Rosen der ‚Fibel‘.26 23 24
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Arbogast, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache (Anm. 13), S. 51. Ebd. Arbogast zielt auf den Unterschied zum französischen vers libre ab. Über die ‚Zeichnungen in Grau‘ äußert sich in ähnlicher Weise bereits Friedrich Gundolf: Die Gedichte „sind glanzlos, spröde beinahe heiser“ und „geben Georges erste Erschütterung und Spannung noch ohne eigene Sprache – doch schon ohne fremde“ (auf die konkrete Sprachkonstellation von lingua romana und Deutsch geht Gundolf an dieser Stelle nicht ein). Weiter heißt es: „die Form, freie Rhythmen, ist noch befangen, ein schüchternes verhaltenes herbes Sagen mehr als ein Singen, ein unbeholfen trotziger Ausweg zwischen dem Ausdrucksverlangen und der Ausdrucksscheu.“ (Friedrich Gundolf: George, Berlin 1920, S. 56). Zu der von Gundolf erkannten „Spannung“ vgl. Oelmann, Die Fibel (Anm. 7), S. 105. Friedrich Wolters schließt sich Gundolfs Beschreibung der Form an, hört dabei jedoch „weder strenge Metren noch freie Rhythmen.“ (Friedrich Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, Berlin 1930, S. 24). Jürgen Brokoff zitiert den Anfang des Gedichts ‚El imagen‘, der „weniger melodiös und weich ist, als man vermuten könnte“ (Jürgen Brokoff: Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde, Göttingen 2010, S. 477). Es könnte sich allerdings auch hierbei um eine Klangfigur handeln, die den semantischen Gehalt betont. Die Metapher ist zweifach zu verstehen: Die Rose steht für den Duft sowie für die Seide, die sich wie eine umschließende Blumenkrone um die Frau legt. In den anderen Rosengedichten der ‚Fibel‘ kommt die Blume als Symbol (‚Die
Stefan Georges lingua romana und „das dichten in fremdem sprachstoff “
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Der Sprecher des Gedichts wählt eine beobachtende und beschreibende Perspektive. Er scheint sich der Rose zu nähern, indem er mit der Apostrophe in Vers 8 von der dritten in die zweite Person wechselt, wobei das Nullsubjekt von „pareceste“ im Deutschen als „Du“ expliziert werden muss. Als geheimnisvolle, gehüllte, göttliche, weibliche Erscheinung liegt die Rose zwischen Leben und Tod, Ruhe und Bewegung. Mit dem Titel ‚Zeichnungen in Grau‘ kontrastiert sowohl die leicht verstörende Dynamik des Bildes (etwa die Wachsfigur, die auf einmal die Augen öffnet) als auch die dominierende gelbe Farbe. Durch das Adjektiv „galba“ bzw. „galbo“ werden übrigens mehrere Bedeutungsebenen freigelegt: Aus ‚galbus‘ (blassgelb, grüngelb, grünlich, gelblich) leiten sich im Lateinischen verschiedene Wörter ab, in denen die Farbe jeweils metaphorisch oder metonymisch aufgerufen wird – das ‚galbinum‘ war ein grüngelbes Gewand, das nun zur Umhüllung der ‚Rosa galba‘ gut passt, bei Männern allerdings „geckenhaft und weibisch“ wirkte und in einem negativen, übertragenen Sinn für Weichlichkeit und Üppigkeit stand.27 Im Französischen heißt ‚galbé‘ gerundet, geschwungen, meint also eine Form. Diese Assoziationen überlagern sich in der lingua romana, auch wenn George am Ende schlicht mit ‚gelb‘ übersetzt; damit streift er das schwierige Feld der Übersetzung von chromatischen Bezeichnungen und engt die vom Wort mit transportierten Bedeutungen wieder ein, wie es beim Übersetzen oft zwangsläufig geschieht. Auch durch eine erschöpfende Übersetzungsanalyse der freilich schmalen Textbasis lässt sich in den Selbstübersetzungen aus der lingua romana allenfalls eine Tendenz ausmachen. Neben gelegentlichen Verknappungen ist der Gesamteindruck, dass George eine wörtliche Übersetzung verfolgt – sofern es Sinn hat, in diesem speziellen Fall von wörtlicher Übersetzung zu sprechen. Jedenfalls weicht der Dichter von seiner Vorlage nicht stark ab, auch überarbeitet er sie nicht zu einem ganz anderen Gedicht (wozu er als Selbstübersetzer und Dichterübersetzer, der zudem aus einer eigens erfundenen Sprache übersetzt, in besonderem Maße frei gewesen wäre). Selbstverständlich gibt es Un-
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Rose‘ und ‚November-Rose‘; vgl. SW I, S. 32 und S. 57) oder als Figur (die „Alpenrose“, in die sich der ‚Blumenelf‘ verliebt; vgl. SW I, S. 30) vor. Der Neue Georges. Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, Darmstadt 2013, Sp. 2231.
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terschiede zwischen den beiden Fassungen; manche sind durch die Sprachen selbst bedingt, manche wirken ‚intentionaler‘. So wird aus den „oclos densamente adumbratos“ ein „dichtbeschattetes auge“ – die im Deutschen gegebene Möglichkeit, solche Komposita zu bilden, wird George häufig nutzen.28 Und vielleicht steht im Deutschen ‚hauchen‘ (nun mit Tempuswechsel: „hauchte sie“) als ein poetisches, aber auch poetologisches Verb, weil es bereits auf die „fremden hauche“ der eigenen Dichtung verweist und damit auf vielfältige Übersetzungsprozesse, im Fall von ‚Gelbe Rose‘ auf die Übersetzung aus der lingua romana.29 Die ‚Zeichnungen in Grau‘ sind in den Kontext von Georges „Begegnung mit der französischen zeitgenössischen Lyrik“ gestellt worden, insbesondere „thematisch mit dem Werk Charles Baudelaires“, da parallel zu den Gedichten „wahrscheinlich auch schon erste[] Übersetzungen aus den Fleurs du Mal“ entstehen.30 Für diese Kontextualisierung könnte etwa die Vordergründigkeit der sinnlichen Reize31 in ‚Rosa galba‘ sprechen, obgleich die in den ‚Fleurs du Mal‘ mehrfach evozierte „splendeur oriental“32 durch ganz andere Töne und Formen verführt. Die ‚Zeichnungen in Grau‘ können wiederum nicht stellvertretend für die ‚Fibel‘ stehen, da sie zu deutlich aus der Gedichtsammlung herausfallen. Wenn also in der ‚Fibel‘ schon Ansätze und Eigenschaften der späteren Dichtung Georges erkannt werden können,33 gilt dies für die ‚Zeichnungen in Grau‘ mit Einschränkungen. Es ist allerdings doch bezeichnend, dass in ‚Rosa galba‘ die (gerade bei der ersten Lektüre) 28 29
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Vgl. Arbogast, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache (Anm. 13), S. 48. Die „fremden hauche“ in Georges ‚Weihe‘ deutet Arbogast als fremde „Einflüsse, Abhängigkeiten, Nachklänge“ in der „Dichtungsweise“ (ebd., S. 91). Oelmann, Die Fibel (Anm. 7), S. 101. Vgl. auch Oelmann, Anhang (Anm. 2), SW I, S. 125 und SW XVIII, S. 120. Dies ist ein neuer Aspekt, der mit dem Zyklus ‚Nach einer Reise‘ zu Georges Lyrik hinzutritt; vgl. Arbogast, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache (Anm. 13), S. 45f. Charles Baudelaire: L’Invitation au voyage. In: Ders.: Œuvres complètes. Hg. von Claude Pichois. Bd. 1: Les Fleurs du Mal. Poésies diverses. Le Spleen de Paris. Les Paradis artificiels. Essais et nouvelles. Théâtre. Journaux intimes. Carnet, Paris 1975, S. 53f., hier S. 53. Vgl. dazu das erste Kapitel der Untersuchung von Arbogast, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache (Anm. 13), S. 14–55. Vgl. auch Brokoff, Geschichte der reinen Poesie (Anm. 25), S. 479.
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am schwersten verständlichen Stellen durch syntaktische Verknappung und Verschränkung entstehen, wobei die fehlende Interpunktion erschwerend hinzukommt.34 In einem aufschlussreichen Brief an Stahl vom 2. Januar 1890 gibt George als wohl wichtigstes Merkmal der lingua romana die Verständlichkeit an. Er beginnt mit den Worten: Amico de meo cor! El tono elegico con que parlas en tu letra de nostra corespondencia longamente interrompida me ha magis commovido que el vituperio fortisimo. Um gottes willen wirst du ausrufen in welcher sprache schreibt denn der mensch hier; die hauptsache ist dass Du die verstehst – vom anderen später.35
Im weiteren Verlauf des Briefes thematisiert der Dichter offenkundig eine Sprachkrise: genauer, die Frage nach der Sprachwahl, die in einer um 1900 verbreiteten, wenn nicht gar topischen, krisenhaften Sprachnot akut wird. Indem sie in einer Sprache gleichsam die Wahl verschiedener Sprachen zugleich ermöglicht, löst die lingua romana die Frage „in welcher Sprache“ durch Sprachergänzung.36 Sie zeigt, dass George „unsicher war, ob die deutsche Sprache für seine symbolistische Vorstellung von Poesie überhaupt geeignet wäre“,37 und stellt sich vorerst als eine Alternative auch zu anderen, offenbar ebenfalls ungeeigneten Sprachen dar. Über eine Sprache wie die lingua romana denkt George angeblich nicht zum ersten Mal nach: 34
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Zwei Negationen („No…“ in Vers 6 und „Sin…“ in Vers 11) werden durch die jeweils in einer komplizierten Struktur anschließenden Nebensätze („Que si....“ in Vers 7 und „Quando…“ in Vers 12) zurückgenommen. Vers 7 und 8 sind zudem brachylogisch (es gibt drei Subjekte zu „se contracta“: „boca“, „spatulas“ und „seno“); George glättet die Stelle in der Übersetzung, indem er „Schulter“ (im Singular) schreibt. Zur Syntax des Gedichts vgl. die ergänzte Interpunktion in Arbogast, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache (Anm. 13), S. 50. Zit. nach Boehringer, Mein Bild (Anm. 10), S. 46; Hervorhebung G. R. Die „große Sehnsucht nach Sprachergänzung“ kennzeichnet für Walter Benjamin die „wahre Übersetzung“ (Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. 4/1: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen, Frankfurt a. M. 1972, S. 9–21, hier S. 18). Ich danke Friedmar Apel, der mich einmal mehr daran erinnert hat. Kai Kauffmann: Stefan George. Eine Biographie, Göttingen 2014, S. 34.
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Giulia Radaelli Jetzt noch ein geständnis das mir schwer wird niederzuschreiben: Der gedanke, der mich von jugend auf geplagt und heimgesucht hat, der in gewissen perioden sich wieder und wieder aufdrängte hat mich seit kurzem wieder erpackt: Ich meine der gedanke [sic] aus klarem romanischem material eine eben so klingende wie leicht verständliche literatur sprache für meinen eigenen bedarf selbst zu verfassen. Die gründe weshalb ich [in] meiner deutschen sprache nicht gern schreiben will kann ich dir auf diesem gemessenen raum nicht auseinandersetzen. (Im anfang des briefs hast Du eine probe). Darin liegt auch der grund weshalb ich seit monden nichts mehr verfasse, weil [ich] ganz einfach nicht weiss in welcher sprache ich schreiben soll. Ich ahne, diese idee wird entweder bei mir verschwinden oder mich zum märtyrer machen.38
Die lingua romana soll also eine „leicht verständliche“ Sprache sein – weder eine Geheim- noch eine Privatsprache. Zwar läuft jede erfundene Sprache scheinbar der Tatsache zuwider, dass Sprache immer sozial und immer geschichtlich ist. Doch für die lingua romana sind nicht das „Ungeschichtliche“ und „bloß Private“39 kennzeichnend. Vielmehr gründet das ‚soziale‘ Kriterium der Verständlichkeit, das der Brief durch die ersten beiden Sätze als Adressierung des Freundes und als „probe“ erkennbar anlegt, in der Geschichtlichkeit der lingua romana. Diese ist schließlich deshalb verständlich, weil George das „material“ aus historischen und historisch nah miteinander verwandten Sprachen schöpft. Allerdings wollte er sie auch als „klingende“ Sprache verstanden wissen. In der Wendung „für meinen eigenen bedarf“ kündigt sich jedoch ein Widerspruch an. Damit wird nicht nur auf den ‚reinen Kunstzweck‘ der lingua romana, sondern auch auf eine erhebliche Abdichtung von den Rezipienten hingedeutet. Trotz des Anspruchs auf Verständlichkeit ist ein Ziel der Spracherfindung, „Abstand für zu rasches und selbstverständ-
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Zit. nach Boehringer, Mein Bild (Anm. 10), S. 47. Der Dichter als „märtyrer“ ist offenbar bereit, in seiner Sprachkrise einen symbolischen Opfertod zu sterben. Zum Märtyrer als einer spanischen Referenz bei George vgl. Katharina Mommsen: Zur Bedeutung Spaniens für die Dichtung Stefan Georges. In: GeorgeJahrbuch 2, 1998/99, S. 22–48, hier S. 40–46. Arbogast, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache (Anm. 13), S. 48. Auch für Ulrich Raulff ist die lingua romana „in erster Linie Privatsprache“ (Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009, S. 221), für Manfred Durzak gar eine „Geheimsprache“ (Manfred Durzak: Der junge Stefan George. Kunsttheorie und Dichtung, München 1968, S. 35).
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liches Verstehen zu schaffen“,40 ja Rezipienten überhaupt auf Abstand oder gar fernzuhalten. In der Tat erkundet George mit der lingua romana die poetischen und kommunikativen Grenzen einer esoterischen Sprache.41 Nur wenige Vertraute werden eingeweiht: Muret erhält eine Abschrift der Gedichte,42 Stahl die zitierte „probe“; mehr ist nicht bekannt. Bis zur Veröffentlichung der Gesamtausgabe wussten vermutlich nur Menschen ‚um George‘ von der Existenz der lingua romana. Erfundene und damit künstliche Sprachen sind insofern schon widersprüchlich, als sie, um künstlich zu sein, gewissermaßen verneinen müssen, Sprache zu sein. Sie müssen künstlich bleiben, was aber der Sprache selbst widerspricht.43 Dies ist nicht der einzige, aber mitunter ein Grund, weshalb sich bis heute keine der vielen künstlichen Welthilfssprachen wirklich durchgesetzt hat. Derjenige, welcher eine künstliche Sprache [‚langue‘] schafft, hat sie in der Hand, solange sie noch nicht im Umlauf [‚en circulation‘] ist; aber von dem Augenblick an, wo sie ihrer Aufgabe dient und in allgemeinen Gebrauch kommt, entzieht sie sich der Kontrolle.44
Nun ist Zirkulation offenbar nicht die „Aufgabe“ der lingua romana. Sie wird aus dem Gebrauch, aus dem allgemeinen ohnehin, entzogen45 –
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Wolfgang Braungart: Poetik, Rhetorik, Hermeneutik. In: Aurnhammer / Braungart / Breuer / Oelmann, Stefan George und sein Kreis (Anm. 7), Bd. 2, S. 495–550, hier S. 539. Die Esoterik erfundener Sprachen bemisst sich nach dem „Umfang der vorgesehenen Kommunikationsgemeinschaften“ und nach der „Schärfe von Grenzziehungen“ (Robert Stockhammer: Erfundene Sprachen und die Totalität des Wissens. Von Leibniz zu Peano. In: Andreas B. Kilcher / Philipp Theison (Hg.): Die Enzyklopädik der Esoterik. Allwissenheitsmythen und universalwissenschaftliche Modelle in der Esoterik der Neuzeit, Paderborn – München 2010, S. 35–52, hier S. 36). Vgl. Boehringer, Mein Bild (Anm. 10), S. 48; Robert E. Norton: Secret Germany. Stefan George and his Circle, Ithaca, NY 2002, S. 61; Carmen Gómez García: Peñafiel Barranco, Antonio und Söhne. In: Aurnhammer / Braungart / Breuer / Oelmann, Stefan George und sein Kreis (Anm. 7), Bd. 3, S. 1573–1575, hier S. 1574. Analog gilt das auch für ‚reine‘ oder Privatsprachen. Ferdinand de Saussure: Linguistik und Semiologie. Notizen aus dem Nachlaß. Texte, Briefe und Dokumente. Ges., übers. und eingel. von Johannes Fehr, Frankfurt a. M. 1997, S. 114. So auch Brokoff, Geschichte der reinen Poesie (Anm. 25), S. 477.
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aus poetologischen Gründen. „After Mallarmé nearly all poetry that matters“, so George Steiner, „will move against the current of normal speech.“46 Diese ‚Gegen-Bewegung‘ könne etwa durch ein „making new“ der Sprache erfolgen; die Literatur der Zeit seit 1870 und bis in die 1930er Jahre liefere dafür viele Belege und bevorzuge, oft im Zusammenspiel, drei Verfahren: die „dislocation“ von Sprache, das „amalgam of existing languages“ (wie im Fall der lingua romana) und die „search for self-consistent neologism“.47 George wird in seiner ‚Lobrede‘ auf Stéphane Mallarmé behaupten, dass das poetische Wort auch und besonders dann wirkt, wenn sein Sinn unklar ist. Dies mag zwar nur begrenzt für die relativ ‚klaren‘ Gedichte in der lingua romana gelten; doch der häufig zitierte Schluss der ‚Lobrede‘ beschwört eine ausschließlich Eingeweihten zugängliche Sprache der Poesie, zu der sich Georges romanische Spracherfindung in Bezug setzen lässt: Jeden wahren künstler hat einmal die sehnsucht befallen in einer sprache sich auszudrücken deren die unheilige menge sich nie bedienen würde oder seine worte so zu stellen dass nur der eingeweihte ihre hehre bestimmung erkenne .. klangvolle dunkelheiten sind bei Pindar Dante und manche bei dem klaren Goethe.48
Auch diese „sehnsucht“ bewegt, neben der „Sehnsucht nach Sprachergänzung“,49 die lingua romana. Von Anfang an zielt George mit seiner Sprache auf Distinktion der dichterischen von der gemeinen Sprache ab, auf Distanz und Distanzierung50 sowohl zwischen Dichter und Sprache als auch zwischen Dichter und Leser. Sein „Werk setzt ein mit dem 46
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George Steiner: After Babel. Aspects of Language and Translation, New York – London 21975, S. 178. Ebd., S. 187. Steiner kritisiert allerdings – am Beispiel von Lewis Carrolls ‚Jabberwocky‘, doch eine Analogie zu den Gedichten in der lingua romana liegt nicht allzu fern – „the weakness of the whole undertaking. The material is too pliant, the translation too immediate.“ (Ebd., S. 188). SW XVII, S. 47. Ein Bezug zwischen George und Mallarmé ließe sich etwa über den Begriff der „Kunstsprache“ herstellen (vgl. dazu Ute Oelmann: Notizen Stefan Georges zu Literatur und Kunst. In: George-Jahrbuch 1, 1996/1997, S. 153–170, hier S. 164). Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers (Anm. 36), S. 18. Distanzierung ist ein rekurrierendes Schlagwort im Zusammenhang mit Georges Verhältnis zu erfundenen bzw. fremden Sprachen; vgl. Durzak, Der junge Stefan George (Anm. 39), S. 24 und S. 37; Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995, S. 31.
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Versuch, eine eigene Sprache zu finden, die nur eine begrenzte Gruppe versteht“, schreibt Steffen Martus über die ‚Hymnen‘: Neu war dies freilich in Georges Weiterentwicklung nur insofern, als er sich für Lyrik als Zentralgattung entschied und für die deutsche Sprache. Konzeptionell schließt er an die bekannten Versuche aus seiner Jugend an, Geheimsprachen zu erfinden.“51
Martus sieht eine weitere Kontinuität, die nun insbesondere die lingua romana und ihren Wiedererkennungseffekt betrifft: George entfaltet […] sein Projekt einer radikalen Innovation, einer eigenen und exklusiven Sprache nicht durch Ursprünglichkeitsbehauptungen oder umfassende Negation, sondern gerade im Medium von Traditionen und etablierten Konzepten, die er im Vollzug ihrer Zitation subvertiert. Auch dies fügt sich zu seinen Geheimsprachenprojekten, zumindest zum Projekt der von ihm so genannten „lingua romana“, die er aus verschiedenen Sprachen komponierte, deren Elemente sich wiedererkennen lassen.52
Inwiefern die lingua romana als „Zitation“ funktioniert, wird nicht genauer erläutert. Naheliegend ist jedoch die Vorstellung, es könne sich dabei um die „Zitation“ der sprachlichen „Elemente“ selbst handeln. Diese sind eben insofern wiedererkennbar bzw. verständlich, als sie (mehr oder weniger subversiv) auf – unter anderem literarische – Traditionen verweisen. Georges „Bewußtsein, Selbstbezüglichkeit nur mit und gegen die Tradition zu erlangen“,53 prägt auch die lingua romana. Es führt zu einer Exklusivität,54 die lediglich „den Eindruck von Voraussetzungslosigkeit“55 macht und die den Dichter in die prekäre Lage bringt, „sich kommunikativ zu isolieren.“56 Indessen ergibt sich bei der lingua romana eine exklusive Verständlichkeit. Die lingua romana erweist sich – entsprechende Sprachkenntnisse vorausgesetzt – als verständlich.57 Darin unterscheidet sie sich von 51 52 53 54 55 56
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Martus, Werkpolitik (Anm. 5), S. 544. Ebd., S. 550. Ebd., S. 552. Vgl. ebd., bes. S. 516–520. Ebd., S. 556, Hervorhebung G. R. Ebd., S. 544. Martus leitet daraus für George eine Poetik der Arbeit als Poetik des Scheiterns ab (vgl. ebd., S. 545f., S. 557, S. 573, S. 590). Wäre eine unverständliche Sprache überhaupt vorstellbar? Als guter Hermeneut wusste Sigmund Freud, dass wir „nicht imstande sind, eine Reihe von fremdartigen Zeichen anzusehen oder ein Gefolge von unbekannten Worten
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Georges anderen „erdachten sprachen“.58 Die Verständlichkeit, die sich der Dichter ausdrücklich wünscht, kann er bei bestimmten Rezipienten durchaus erwarten. Allerdings geht es dabei um ein passives Verstehen, das keinen aktiven Gebrauch der Sprache vorsieht. Auch wenn prinzipiell die Möglichkeit besteht, eine alternative Übersetzung zu verfassen oder aber die lingua romana selbst reproduzierbar zu machen, wird diese Möglichkeit nicht realisiert.59 Georges eigene Übersetzungen bleiben maßgeblich – der Autor kontrolliert den Zugang zum Verstehen bzw. zum Gebrauch seiner Sprache. Er ist Autor der Sprache selbst. Dabei nimmt er einerseits eine nahezu ‚göttliche‘ und andererseits eine höchst individualisierte Autor-Rolle ein.60 In seiner Autonomie fallen „Selbstherrlichkeit und Selbstgenügsamkeit“ zusammen.61 Alleine schafft er sich seine Sprache und bestimmt alleine über ihre Gesetze, ihre Ausnahmen, ihre Form, ihre Kommunikationsprozesse. Die lingua romana erscheint so als „attempt to establish a space, and a medium of expression, that he could claim entirely as his own, that would provide a barrier between himself and the real or imagined dangers of the external words.“62 Dass der „Versuch, eine eigene Sprache zu finden“,63 bereits vor den ‚Hymnen‘ beginnt, ist unumstritten. Der programmatische Aufsatz ‚Über Stefan George, eine neue Kunst‘ (1892) deutet es rückblickend an. Die ausgerufene „neue Kunst“ braucht in erster Linie eine neue poeti-
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anzuhören, ohne zunächst deren Wahrnehmung nach der Rücksicht auf Verständlichkeit, nach der Anlehnung an etwas uns Bekanntes zu verfälschen.“ (Sigmund Freud: Über den Traum. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Anna Freud, E. Bibring, W. Hoffer u.a. Bd. II/III, Frankfurt a. M. 1999, S. 645–700, hier S. 679f.; Hervorhebung im Original). Die lingua romana „steht […] in keinem zusammenhang mit den erdachten sprachen der kindheit-stufe (wie die schlussverse der Ursprünge im Siebenten Ring).“ (GA I, S. 129). Es geht George gerade um die „Autonomie einer poetischen Sprache […], die ihrem Wesen nach gegen das Hergebrachte und reproduzierbar Gewordene gerichtet“ ist (Gerd Michels: Die Dante-Übertragungen Stefan Georges. Studien zur Übersetzungstechnik Stefan Georges, München 1967, S. 220). Hier zitiert Michels – ohne es nachzuweisen – Arbogast, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache (Anm. 13), S. 28. Zu Georges Autor-Rollen vgl. Braungart, Priester und Prophet (Anm. 4), bes. S. 336–339 und S. 345–353. Vgl. Braungart, Rhetorik, Poetik, Hermeneutik (Anm. 40), S. 504. Norton, Secret Germany (Anm. 42), S. 55. Martus, Werkpolitik (Anm. 5), S. 544.
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sche Sprache. Wie Friedmar Apel gezeigt hat, geht es darum, „die deutsche Dichtersprache von Grund auf zu erneuern, indem sie wie eine fremde behandelt wird“.64 Die lingua romana gehört in die Vorgeschichte dieser Erneuerung: frühzeitig romanischen einflüssen besonders italienischen aber in rein linguistischer hinsicht zugängig hatte Stefan George sogar eine spanne zeit mit anderen lauten als mit den mutterlauten operiert und nach einer reihe von merkwürdigen vorstudien und sprachexperimenten scheint er gestrebt zu haben die wunderbaren zarten wie vollen klänge der südlichen sprachen in der eigenen aufzufinden und wiederzugeben.65
Hier wird eine Entwicklung in Georges Dichtung skizziert, die von den anderssprachigen „vorstudien und sprachexperimenten“ zur Suche nach den „südlichen Sprachen in der eigenen“ fortschreitet. Am Ende werden Dichten und Übersetzen gleichgesetzt: Der Dichter versucht stets, wie ein Übersetzer und Selbstübersetzer, einen Widerklang „der südlichen sprachen“ in der eigenen zu erzeugen.66 Losgelöst von bestehenden Identifikationen und Konventionen räumt er in der eigenen Sprache die Möglichkeit einer fremden Sprache ein. Die Klänge, die es „aufzufinden und wiederzugeben“ gilt, erscheinen in der eigenen Sprache unbekannt, neu und eigenwillig fremdbestimmt. Die Unterscheidung zwischen den „mutterlauten“ und den „anderen lauten“ verliert dabei ihre Selbstverständlichkeit und führt schon bei Friedrich Gundolf 64
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Friedmar Apel: Die eigene Sprache als fremde. Stefan Georges frühes Kunstprogramm. In: George-Jahrbuch 8, 2010, S. 1–18, hier S. 9, mit Bezug auf die von George zitierte Maxime Goethes, „dass man in seiner Muttersprache oft ebenso dichtet, als wenn es eine fremde wäre.“ Carl August Klein: Über Stefan George, eine neue Kunst. In: Blätter für die Kunst I/2, 1892, S. 45–50, hier S. 48. Die Stelle ist auf signifikante Weise ambivalent: Sie lässt sich auf die Übersetzungen aus der lingua romana ins Deutsche beziehen, aber auch auf die Baudelaire-Übersetzungen oder auf deutsche Gedichte Georges, und verwischt noch einmal die Grenze zwischen Dichten und Übersetzen. Helmut Henne spricht im Fall der lingua romana von ‚Rücküberführung‘ und „nicht von Übertragung, schon gar nicht von Übersetzung“ – der Unterschied wird dabei allerdings nicht klar (Helmut Henne: Sprachliche Spur der Moderne. In Gedichten um 1900: Nietzsche, Holz, George, Rilke, Morgenstern, Berlin – New York 2010, S. 72). Ohnehin sind aber für Henne die Gedichte in der lingua romana von keiner Bedeutung; es handele sich dabei um ein „weiteres Sprachexperiment“, das – im Gegensatz zu den Baudelaire-Übersetzungen – „neue Kräfte gerade nicht freisetzte.“ (Ebd., S. 67; vgl. auch ebd., S. 134).
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zu – später variiert wiederholten – Formulierungen wie: „Am Fremden hat er sein Eigenes sagen gelernt“.67 Vor dieser Sprachfindung gab es für George im Deutschen keine dichterischen Klänge, so in der Schilderung von Friedrich Wolters: Die deutsche Sprache peinigte ihn [George], und er hielt es für unmöglich, die Klanggebilde mit ihr wiederzugeben, die ihm im Ohre dröhnten. So versuchte er sich dichtend in fast allen Sprachen, bis er zuletzt in Übersteigerung dieser Ohnmacht sich eine eigne Sprache erfand, deren Klänge freilich neben den lateinischen wesentlich die spanischen Laute in sich trugen.68
Die Unterscheidung zwischen eigener und fremder Sprache erweist sich im Fall der lingua romana als diffizil, insofern diese zum einen selbst ‚gemacht‘ und damit ganz besonders eigen ist, zum anderen aber dadurch entsteht, dass die „in rein linguistischer hinsicht zugängig[en]“ romanischen Sprachen69 als die „anderen laute“ zum „Material des Dichters“70 werden, das dieser in der gleichsam artifiziellen und distanzierten Haltung des Experimentierenden bearbeitet. Das Experiment führt zum Ergebnis einer romanischen Mischsprache. Sprachmischungen finden sich in der Literatur traditionell eher in den niederen und vor allem komischen Gattungen. Gewiss trifft das auf George nicht zu. Doch in einem Brief an Muret scheint der Dichter selbst die lingua romana in jene Tradition zu stellen, wenn es scherzhaft heißt: „Ich habe Ihnen diesen brief deutsch geschrieben weil ich hier in Bingen bin. Von Berlin aus werden Sie jedenfalls mein saladiges Kauderwälsch essuyieren müssen.“71 Möglicherweise kündigt hier George an, seinem Freund von Berlin aus, wo einige Monate vorher die lingua 67
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Gundolf, George (Anm. 24), S. 51. Vgl. dazu etwa Adorno, George (Anm. 3), S. 530–532. Friedrich Wolters: Frühe Aufzeichnungen nach Gesprächen mit Stefan George zur ‚Blättergeschichte‘. In: Castrum Peregrini 45/225, 1966, S. 5–61, hier S. 27f. Einen Zusammenhang zwischen der lingua romana und Georges sprachwissenschaftlichem Studium in Berlin, insbesondere der Vorlesung über die ‚Historische Syntax des Französischen‘ beim Romanisten Adolf Tobler, erkennt Paul Gerhard Klussmann: Stefan George. In: Benno von Wiese (Hg.): Deutsche Dichter der Moderne, Berlin 1965, S. 132–152, hier S. 137. Apel, Die eigene Sprache (Anm. 64), S. 9. Zit. nach Robert Boehringer, Mein Bild von Stefan George, München – Düsseldorf 21967, Textbd., S. 223f., hier S. 224; Hervorhebung G. R. Der sonderbare Ausdruck „essuyieren“ könnte möglicherweise ‚essayieren‘ heißen, also probieren, kosten.
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romana entstanden war, in dieser Sprache und nicht mehr auf Deutsch zu schreiben, oder er stellt ihm gar die Zusendung eines Gedichtes in Aussicht, denn Muret hatte wenige Tage davor geschrieben: „Ich lechze Ihrer Cognicion entgegen.“72 Das Attribut ‚saladig‘ verstärkt die im Kauderwelsch ohnehin gegebene Sprachmischung, für die kulinarische Metaphern (in der Literatur spätestens seit der makkaronischen Dichtung) geradezu topisch sind.73 So gelesen, zeigt die Briefstelle – unabhängig davon, dass zeitgleich die ersten ‚Hymnen‘ entstehen und damit die deutsche Sprache sich vorerst durchsetzt – im Umkehrschluss, wovon sich George abgrenzen will. Mit der lingua romana will er weder eine komische noch eine dunkle, unverständliche Sprache schaffen, wenngleich ein gewisser „Babel-Effekt“74 unvermeidlich ist. Rein formal lässt sich die lingua romana mit den verschiedenen Welthilfssprachen vergleichen, die ungefähr zur selben Zeit und insgesamt vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehen und auf das Lateinische bzw. auf die romanischen Sprachen zurückgreifen.75 Esperanto ist die berühmteste und erfolgreichste dieser Sprachen.76 Wahrscheinlich würden nicht einmal Georges beste Kenner vermuten, dass wer das Esperantomuseum der Österreichischen Nationalbibliothek besucht, in der Dauerausstellung auf die lingua romana stößt. Das Museum zeigt Bestände aus der ebenfalls in der Nationalbibliothek eingerichteten und weltweit größten Sammlung für Plansprachen. Eine 72
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Zit. nach Georg Peter Landmann: Vorträge über Stefan George. Eine biographische Einführung in sein Werk, Düsseldorf – München 1974, S. 44. Mit „Cognicion“ ist die erste der ‚Legenden‘ überschrieben. Kein Zufall also, wenn von der lingua romana als Georges „private macédoine of Latin, Provençal, Catalan, and Spanish“ die Rede ist (Steven G. Kellman: The Translingual Imagination, Lincoln – London 2000, S. 18; Hervorhebung G. R.). Eco, Die Suche (Anm. 21), S. 327. Vgl. ebd., S. 321–341, bes. S. 326f. Zu George im Kontext der Welthilfssprachen vgl. Norton, Secret Germany (Anm. 42), S. 22f., sowie Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charismas, München 2007, S. 62f. Zur „Hochkonjunktur der Sprachen- und Schriftenerfinder“ um 1900, der auch die künstlerischen Avantgarden zuzurechnen sind, vgl. Stockhammer, Erfundene Sprachen (Anm. 41), S. 40ff. Esperanto beansprucht im Übrigen den Status einer Literatursprache und „rühmt seine reiche Ernte an Übersetzungen literarischer Werke als Beweis für seine komplette ‚Sprechbarkeit‘“ (Eco, Die Suche [Anm. 21], S. 335). Zur Übersetzbarkeit vgl. auch ebd., S. 349f.
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Medienstation informiert (teilweise mit Tonbeispielen) über die „Kunstsprache Homers“, „Lingua Ignota“, „Solresol“, die „Neuslavische Sprache“, „Lingua Romana“, „Volapük“, „Ido“, „Latino Sine Flexione“, „Occidental“, „Interlingua“, „Starckdeutsch“ und „Klingonisch“.77 Damit sind gleich zwei prominente Binger vertreten, neben George auch die Heilige Hildegard.78 Zur lingua romana ist zu lesen: „Die vorhandenen Dokumente (vor allem Gedichte) ermöglichen die Abstraktion einer Grammatik, die allerdings innere Widersprüche aufzeigt. Wichtiger als sprachliche Ausgereiftheit war George der ästhetische Reiz seiner Sprache.“79 Der Hinweis auf eine „Grammatik“ der lingua romana führt in den Bestand der Sammlung. Hier befindet sich nämlich, von Hand in einem Heft notiert, eine ‚Grammatica de la Lingua Romana de Stefan George‘.80 Darin folgt auf einer Transkription von ‚Rosa galba‘ in der Tat „La gramática de la Rosa Galba“. Sie nimmt den Wortschatz des Gedichts als Grundlage und führt Verben, Substantive, Artikel, Pronomen, Adjektive – mit ‚entsprechenden‘ Konjugationen bzw. Deklinationen – sowie Adverbien, Präpositionen, Konjunktionen, Partikel und Präfixe auf. Die verschiedenen grammatischen Kategorien illustriert sie durch Beispiele, die zum Teil nichts mehr mit Georges Vorlage zu tun 77
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Österreichische Nationalbibliothek, Esperantomuseum, Medienstation arto, Lingua Romana. Die Lingua Ignota soll die älteste dokumentierte erfundene Sprache sein (vgl. Arika Okrent: In the Land of Invented Languages. Esperanto Rock Stars, Klingon Poets, Loglan Lovers, and the Mad Dreamers who Tried to Build a Perfect Language, New York 2009, S. 10f.). Zur Lingua Ignota vgl. Sarah L. Higley: Hildegard of Bingen’s Unknown Language. An Edition, Translation, and Discussion, New York 2007. George verweist selbst auf Hildegard; vgl. Ernst Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, München – Düsseldorf 1960, S. 291. ÖNB, ESP, Medienstation arto, Lingua Romana (Anm. 77). http://data.onb.ac.at/rec/AC04201635 (mit diesem Zitierlink weise ich einmalig auch die folgenden Zitate nach). Von wem die Grammatik stammt, konnte bisher nicht geklärt werden. Aus der Handschrift lässt sich schließen, dass dieselbe Person Kopien der Gedichte ‚Paz‘, ‚El imagen‘ und ‚Rosa galba‘ aus Georges Gesamtausgabe mit Notizen versehen und von I bis III nummeriert hat, wahrscheinlich beim Erarbeiten der Grammatik; diese Kopien sind in einem separaten Band enthalten (http://data.onb.ac.at/rec/AC04207932). Das Grammatik-Heft ist „1991 durch HR Mag. Herbert Mayer, den ehemaligen Direktor der Sammlung für Plansprachen und des Esperantomuseums, in die Sammlung gekommen“ (persönliche E-Mail von Mag. Bernhard Tuider, dem ich für diese Auskunft und die Hilfsbereitschaft danke).
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haben. Das Heft beschließt eine Art Nachwort; es entwirft recht emphatisch eine als „Romano“ bezeichnete, übergreifende romanische Sprache, mit der die lingua romana gleichsam identifiziert wird (der Text ist selbst in dieser Sprache geschrieben). Auf die angekündigten Unstimmigkeiten geht die Grammatik gar nicht ein, vielmehr lasse sie vielfältige „variantes“ zu; einige „regulas generales“ werden allerdings für den Anfang festgehalten – gemeint ist der Anfang der erhofften Sprachentwicklung bzw. -verbreitung. Merkwürdig an diesem Fund ist die Intention, eine Sprache wie die lingua romana im Sinne einer Grammatik zu systematisieren und, zumindest in Ansätzen, auszubauen. Die lingua romana ist keine ‚ganze‘ Sprache, sondern eine wesentlich fragmentarische; sie besteht, wie die meisten erfundenen literarischen Sprachen, „nur [aus] Fragmente[n] einer Sprechweise, die eine geregelte Sprache voraussetzen, von der aber weder Wortschatz noch Syntax genauer mitgeteilt werden“.81 Es ist möglich, aus den Gedichten einzelne grammatische Regeln abzuleiten, obwohl George selbst schon Unregelmäßigkeiten vorgibt (wie im Fall des Partizips Perfekt); ein Sprachsystem lässt sich kaum rekonstruieren.82 Bei der Spracherfindung waren schließlich nicht Prinzipien wie „Erlernbarkeit, Rationalität, Sparsamkeit“ leitend; stattdessen herrscht eine poetisch begründete Variation.83 Wenn an einer Stelle eine Kongruenz ‚fehlt‘, an einer anderen ein ‚falsches‘ Pronomen steht, ist die Frage, von welchem Standpunkt aus die lingua romana zu korrigieren wäre. Der Eindruck eines nicht korrekten Gebrauchs entsteht bloß durch den Abgleich mit anderen Sprachen. Analog dazu führt der Versuch, die Wörter der lingua romana auf jeweils spanische, italienische oder lateinische Wörter zurückzufüh-
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Eco, Die Suche (Anm. 21), S. 17. So ist es, anders als Durzak behauptet, trotz der Übersetzungen ins Deutsche nicht möglich, „die linguistische Struktur von Georges ‚lingua romana‘ bis in alle Einzelheiten festzustellen.“ (Durzak, Der junge Stefan George [Anm. 39], S. 37). Hier liegt womöglich ein weiterer Unterschied zur Geheimsprache aus ‚Ursprünge‘, die laut George „völlig ausgebildet war mit Grammatik und allem, und das von einem Kinde ohne philologische Anregung.“ (Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf – München 1963, S. 77). Für Henne ist das wiederum „sicher zu bezweifeln“ (Henne, Sprachliche Spur [Anm. 66], S. 65). Eco, Die Suche (Anm. 21), S. 336.
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ren, unmittelbar in die sprachliche Pluralität. Die Wörter sperren sich gegen einen solchen Zugriff und zeigen im Gegenteil, wie eng miteinander verbunden die einzelnen Sprachen und wie unscharf die Sprachgrenzen sind. Das herkömmliche monolinguale Denken impliziert die Vorstellung, ein Wort müsse einer – möglichst nur einer von anderen distinkten – Sprache angehören. In der lingua romana setzt George sein Sprachwissen und seine Sprachwahrnehmung jedoch anders ein, nicht analytisch, sondern vielmehr synthetisch, und das ist auch die Herausforderung bei der Rezeption der Gedichte. Alles kommt zusammen, als ob der Dichter eine Sprachstufe vor der Ausdifferenzierung und Standardisierung der einzelnen romanischen Sprachen imaginiert hätte. Der sprachgeschichtlich bedeutendste Beleg für die Bezeichnung ‚lingua romana‘ markiert „das Entstehen eines romanischen Sprachbewußtseins und damit indirekt auch […] die Anfänge romanischer Schriftlichkeit“;84 es handelt sich um jenen Absatz aus dem Beschluss des Konzils von Tour, dem zufolge sämtliche Predigten „in rusticam Romanam linguam aut Thiotiscam“,85 also aus dem Lateinischen in die romanische oder germanische Volkssprache, übersetzt werden sollten. Auch wenn sich bei George kein expliziter Bezug nachweisen lässt, erinnert dieser Verweis daran, dass es vor der Etablierung von Nationalsprachen im engeren Sinne und in Absetzung von der germanischen eine romanische Sprachwelt gab, aus der etwa auch literarische Begriffe wie Romanze und Roman stammen.86 So stellt George in einem Brief an Mallarmé noch die „Romanen“ den Deutschen gegenüber.87 84
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Barbara Frank-Job: Romana lingua – vulgare illustre – italiano. Kategorisierungen der Muttersprache in Italien. In: Reinhold R. Grimm / Peter Koch / Thomas Stehl / Winfried Wehle (Hg.): Italianità. Ein literarisches, sprachliches und kulturelles Identitätsmuster, Tübingen 2003, S. 15–37, hier S. 18. Ich danke Barbara Job für die Lektüre meines Textes. Zit. nach ebd. Zu Romanze als Sprache und Gattung vgl. Johann Gottfried Herder: Adrastea. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. von Günter Arnold und Martin Bollacher. Bd. 10: Adrastea (Auswahl), Frankfurt a. M. 2000, S. 796f. Vgl. ferner Karlheinz Stierle: Zwischen Romanus und Romantik – Wandlungen eines europäischen Schüsselbegriffs. In: Anja Ernst / Paul Geyer (Hg.): Die Romantik: ein Gründungsmythos der Europäischen Moderne, Bonn 2010, S. 55–82. Stefan George / Stéphane Mallarmé: Briefwechsel und Übertragungen. Hg. von Enrico De Angelis, Göttingen 2013, S. 14.
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Von der lingua romana als einer „klingende[n] […] literatur sprache“ ist im bereits zitierten Brief an Stahl die Rede. Dass sie eine „literatur sprache“ und damit eine Schriftsprache sei, leuchtet ein; es wird nirgends erwähnt, dass sie von George auch gesprochen wurde, und er hat keinerlei Anleitung zu ihrer Aussprache und Betonung hinterlassen. Deshalb ist es besonders reizvoll, im Esperantomuseum zu hören, wie eine (ausgerechnet) weibliche Stimme ‚Rosa galba‘ rezitiert, mit einem leichten argentinischen Einschlag. Was aber für den Dichter das „klingend[e]“ bedeutete, erschließt sich nur aus einigen Quellen, in denen die romanischen bzw. südlichen Sprachen mit bestimmten Klängen assoziiert werden: Neben dem Vokalreichtum und dem – von George angeblich sehr gemochten und gekonnten – gerollten ‚r‘,88 beide als Wohlklang wahrgenommen, ist von Fülle und Zartheit die Rede.89 Ernst Morwitz erkennt in den ‚Legenden‘ eine Schwere und Härte auch im Klang, die er auf die lingua romana zurückführt.90 Dennoch, die besonderen Klänge der lingua romana lassen sich nicht ohne Weiteres ins Deutsche übersetzen; dieses Problem taucht bei Übersetzungen generell und speziell bei Gedichtübersetzungen auf. George gibt einige der Klangfiguren wieder, allerdings setzt sich die jeweilige Figur im Deutschen aus anderen Klängen zusammen.91 Das Ziel kann und soll 88
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Vgl. Mommsen, Zur Bedeutung Spaniens für die Dichtung Stefan Georges (Anm. 38), S. 29. Vgl. die bereits zitierte Stelle aus Kleins Aufsatz über die „wunderbaren zarten wie vollen klänge der südlichen sprachen“ (Klein, Über Stefan George [Anm. 65], S. 48) sowie Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst (Anm. 24), S. 22 und S. 25. Vgl. Ernst Morwitz: Die Dichtungen Stefan Georges, Godesberg 1948, S. 18 und S. 22f. Bei der Bestimmung des Tons von Georges Dichtung rekurriert auch Wolters auf Übersetzungsdynamiken: „In der Lingua Romana […] dichtete George die ZEICHNUNGEN IN GRAU und die LEGENDEN, ohne freilich ihr inneres Tonbild von der Muttersprache trennen zu können, in die sie bald umgeschrieben wurden.“ (Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst [Anm. 24], S. 24). Über die ‚Hymnen‘ wiederum schreibt er, dass sie „noch das besondere Tongepräge aus den Versuchen des Winters tragen, aber ganz aus dem Geist der deutschen Sprache geboren wurden“ und dieser unter anderem „einen Klang [zutrugen] dessen südliche Fülle unser Ohr bisher nur in romanischen Lauten vermutete“ (ebd., S. 25). Vgl. als Beispiel die Verse 3 und 4 von ‚Rosa galba‘, wo sich im Deutschen die ‚g‘-Laute verdoppeln und mit den Liquida zu einer dominanten Klangfigur verbinden.
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also weder eine Wiederholung noch eine mimetische Reproduktion sein. Was George vielmehr (wohl eher im Prozess als im Resultat) verfolgt und sich als dichterisch fruchtbar und gelingend erweist, ist die Kontrastierung von Klängen, durch die er, ausgehend von der lingua romana, einen gleichsam akustischen Blick auf die deutsche Sprache gewinnt.92 Diese für George charakteristische Fremdwahrnehmung steht hier in der spezifischen Konstellation einer Selbstübersetzung aus einer eigens erfundenen Sprache in die Muttersprache. Seine Klangpoetik ist nicht auf die Muttersprache beschränkt, sondern berücksichtigt auch den Umgang mit fremden Sprachen, sofern dieser, linguistisch ausgedrückt, als near-native oder native-like eingestuft werden kann. Zwei Äußerungen legen dies nahe. „In der fremden sprache in der er fühlt sich bewegt und denkt fügen sich dem Dichter die klänge ähnlich wie in der muttersprache“.93 Und unter dem Stichwort „Übersetzungen“ festgehalten: „In einer fremden sprache versteht man die klänge nur schwer. das wort hat noch einen mystischen beiwert den nur der begreift der von jugend auf mit der sprache umging.“94 Ob George je in der lingua romana gefühlt, sich bewegt und gedacht hat, sei dahingestellt; mit ihr aufgewachsen ist er nicht. Nur mittelbar, aufgrund seiner früh erworbenen Kenntnis der romanischen Sprachen, lässt sich die lingua romana zu seinen fastmuttersprachlichen Fremdsprachen zählen. Die Klänge „fügen sich“ in einer erfundenen Sprache vermutlich nicht „ähnlich wie in der Muttersprache“, aber sie „fügen sich“ allemal, denn der Dichter besitzt die Freiheit, sie nach dem eigenen Willen hervor- und zusammenzubringen. Das im zweiten Zitat erwähnte Verstehen der Klänge verschiebt die Perspektive auf die Rezeption. Gedichte sind anders nachzuvollziehen als Sprache im üblichen, d.h. primär semantisch fundierten Sinn. Der „mystische[] beiwert“ liegt in den Wortklängen; diese sind aber nicht allen zugänglich, sondern nur denjenigen, die „von jugend auf“ mit der jeweiligen Sprache vertraut gewesen sind. Hier tritt die exklusive Ver-
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„Gebildet an den romanischen Sprachen“, formuliert Adorno, „hört das Ohr des deutschen Mallarméschülers die eigene Sprache wie eine fremde.“ (Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft. In: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. II [Anm. 3], S. 49–68, hier S. 66). GA III, S. 127. Oelmann, Notizen Stefan Georges (Anm. 48), S. 153.
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ständlichkeit wieder auf. Wenn Georges „experimentell begründetes Kompositionsverfahren […] auf eine Leidenschaft erregende synästhetische Symbolkraft der Klanglichen hinausläuft“,95 werden als Bedingung für ihre Wirkung der relativ frühe Zeitpunkt des Spracherwerbs und die Kontinuität der Sprachpraxis gesetzt. Angeblich gibt es Ausnahmen: Mallarmé soll, ohne Deutsch zu können, Georges deutsche Gedichte gelesen haben, gleichsam durch „divination“ einer „mélodie visible“.96 Diese Synästhesie kommt dank einer besonderen Sprachkompetenz zustande, die nicht mit Fremdsprachenkenntnissen zu verwechseln ist. Eine solche Wahrnehmung von Sprache scheint auch in der Klangpoetik der lingua romana angelegt zu sein; dennoch bleibt es Georges Anliegen, eine auch darüber hinaus „verständliche“ Sprache zu schaffen. Da jedoch nicht klar ist, wie die Gedichte ausgesprochen werden, wie sie klingen sollen, stellt sich einerseits erst recht ein akustisches Lesen ein, das eine stille oder laute Artikulation versucht, und andererseits konzentriert sich der Blick eher auf die Schrift und auf die Sichtbarkeit. Daraus ergibt sich als ein visueller, lexikalisch-semantischer Effekt vor allem das Wiedererkennen romanischer Sprachelemente; diese können untereinander gegenstrebig und gleichsam wie eine harte Fügung wirken.97 Neben der klangpoetischen und poetologischen Dimension erschließt sich angesichts der Gesamtausgabe auch die werkpolitische Dimension des Dichtens in der lingua romana. Als 1901 ‚Die Fibel‘ erst95 96
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Apel, Die eigene Sprache (Anm. 64), S. 18. So Mallarmé an George, vermutlich über Gedichte aus dem ‚Jahr der Seele‘ 1896 (George / Mallarmé, Briefwechsel [Anm. 87], S. 72; vgl. auch ebd., S. 86). Seine fehlenden Sprachkenntnisse des Deutschen gibt der maître offen zu, er behauptet für sich aber stets die Möglichkeit eines anderen Verständnisses; 1893 schreibt er an George: „vos vers Algabal, et les autres, me paraissent tout d’abord familiers, intuitivement. La mélodie au sens secret ne me trahit pas, je la perçois“ (ebd., S. 65). Freilich gibt es im Austausch mit den Franzosen immer wieder Meinungsverschiedenheiten und Irritationen, bei denen Sprachkenntnisse für George sehr wohl entscheidend, ja unabdingbar werden, etwa bei der Frage, inwieweit Gedichte in fremden Sprachen lesbar und übersetzbar und inwieweit die französische und die deutsche Lyriktradition vergleichbar seien. In den ‚Zeichnungen in Grau‘ wie in den ‚Legenden‘ etabliert sich – allerdings nur zeitweilig, als „Zwischenstufe“ – ein „reimloses, hart gefügtes Gedicht“ (Arbogast, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache [Anm. 13], S. 132).
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mals erscheint, hat George – darauf deutet er an verschiedenen Stellen hin98 – seine darin versammelte frühe dichterische Produktion aus den Jahren 1886 bis 1889 bereits überwunden. In „eine[r] Art von nachgeholtem Anfang“99 will er sie trotzdem, ja gerade deshalb, veröffentlichen und so seine Sprachsuche, eine Suche durch andere und in anderen Sprachen, dokumentieren.100 Aus diesem Grund sind in der ‚Fibel‘ auch einige Übersetzungsproben abgedruckt; allerdings wird die lingua romana nirgends genannt. Dagegen wird, wie bereits erwähnt, in der Gesamtausgabe auf die lingua romana verwiesen. Während George über den Abdruck von ‚Paz‘ und ‚El imagen‘ im Anhang zum Schlussband der Gesamtaushabe „nicht mehr endgültig entschieden“ hat,101 greift er in den Anhang des ‚Fibel‘-Bandes werkpolitisch ein.102 Er tut das mit der Absicht, über seine Übersetzungen hinausgehend, ein weiteres Zeugnis für seine mehrsprachige Spracharbeit,103 zu der eben auch Spracherfindung und Selbstübersetzung gehören, und für das hohe 98
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Vgl. bereits die Widmung der frühesten Handschrift der ‚Fibel‘ (1888) an Stahl und den Druck früher Gedichte aus den ‚Rosen und Disteln‘ (Blätter für die Kunst I/5, 1892/93, S. 147–151); im Gedichtband dann die „Vorrede“ und die „Geleitverse“ sowie die dritte der ‚Legenden‘, die alle aus der Perspektive des Rückblicks verfasst sind (vgl. Oelmann, Die Fibel [Anm. 7]), S. 97–99). Martus, Werkpolitik (Anm. 5), S. 544. Vgl. genauer Oelmann, Die Fibel, (Anm. 7), S. 101. Vgl. auch ebd., S. 104. GA XVIII, S. 138. Allerdings sind die beiden Gedichte „1934 von einem Franzosen in Frankreich veröffentlicht worden.“ (Ebd., S. 139). Dies könnte die Aufnahme in den Schlussband erklären; bei dem „Franzosen“ handelt es sich offenbar um den Schweizer Muret (vgl. Boehringer, Mein Bild [Anm. 10], S. 209). George hatte den Abdruck von „fremdsprachlichen versuchen“ in der Gesamtausgabe bereits angekündigt, aber keine Textauswahl festgelegt (vgl. Oelmann, Anhang [Anm. 2], SW XVIII, S. 116). Zum poetologischen Charakter der Anhänge in der Gesamtausgabe vgl. den in diesem Band abgedruckten Vortrag Ute Oelmanns auf der Tagung ‚Stefan George und das literarische Übersetzen um 1900‘ (2013). Wie wichtig für George die „Arbeit an der Sprache“ ist, eine „technische Arbeit“, unterstreicht Adorno, indem er – bei Georges Absicht, durch diese „Arbeit“ die Sprache „zu verändern“ – auch „Gewaltsamkeiten“ konstatiert und auf die besondere Rolle der Übersetzungen hinweist (Adorno, George [Anm. 3], S. 531). Gundolf beschreibt Georges mehrsprachige Spracharbeit als „das unablässige Ringen mit sieben, reifen, satten und runden Sprachen, das leidenschaftliche Tasten und Wägen, Hämmern und Biegen, Filtern und Sieben“; dies habe „die Sonorität, Fülle und Pracht seiner angeborenen Sprache steigern helfen“ (Gundolf, George [Anm. 24], S. 51).
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Potential seiner Spracherneuerung zu liefern. Durch die lingua romana kann er sich außerdem einmal mehr – und in Abgrenzung von deutschen Dichtern – als europäischen, internationalen Dichter präsentieren, der ein entsprechendes Leben führt und ein entsprechendes Werk aufweist.104 Leben und Werk werden auch in dem Punkt in eins geführt, dass sie beide Sprachgrenzen überschreiten. George deckt mit der Gesamtausgabe auch weitere Fälle von Selbstübersetzung aus verschiedenen Sprachen ins Deutsche auf.105 Die nachträgliche Publikation lässt sich im Fall der lingua romana damit erklären, dass es sich George (erst) mit der Gesamtausgabe leistet und leisten kann, sein „Bewußtsein für Vorläufigkeit und Überholbarkeit“106 so weit auszustellen, dass er einige der anderssprachigen Vorstufen zu seinen deutschsprachigen Gedichten veröffentlicht. Gescheiterte oder aufgegebene Versuche versteckt er nicht; sie sollen vielmehr als Spracharbeit aufgewertet werden. Eine solche Aufwertung schadet einigen Gedichten aus der ‚Fibel‘ womöglich nicht; so nimmt der Dichter dieses Frühwerk (wie schon in der Vorrede zur ersten Ausgabe) in Schutz.107 Und so weckt er daran – werkpolitisch – ein vor allem philologisches Interesse.108 Nicht zuletzt wird die Diskussion um Georges Sprache(n), die sich in den Quellen und in der Forschung immer wieder um sein durch andere, mehr oder weniger fremde Sprachen geprägtes Verhältnis zur deutschen Sprache dreht, zu einem nicht geringen Teil von George selbst bewusst angeregt. Anders als Leonard Forster behauptet,109 ist George also durchaus bestrebt, als mehrsprachiger Dichter aufzutreten. Zu Recht wird in Forsters Studie jedoch hervorgehoben, er habe eine „interesting defence of
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Nicht ausschließlich die französische Sprache spielt dabei eine Rolle, wenngleich sie als die dichterisch wichtigste Zweitsprache Georges gelten kann. Maurizio Pirro spricht von einem „basso continuo“ des Französischen in Georges Werk: „George stesso […] si incaricherà di rivendicare a posteriori il basso continuo della lingua francese come pregio specifico dell’opera“ (Maurizio Pirro: Come corda troppo tesa. Stile e ideologia in Stefan George, Macerata 2001, S. 94). Vgl. GA III, S. 127f.; GA IV, S. 124f.; GA V, S. 94. Martus, Werkpolitik (Anm. 5), S. 517. Vgl. Oelmann, Die Fibel (Anm. 7), S. 104. Vgl. Martus, Werkpolitik (Anm. 5), S. 517. „George […] had no ambition to be regarded as a polyglot poet“ (Leonard Forster: The Poets’ Tongues. Multilingualism in Literature, Cambridge 1970, S. 58).
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the practice of writing in foreign languages“110 formuliert. Der Dichter verteidigt diese Praxis nämlich als „notwendigkeit“: „Das dichten in fremdem sprachstoff · das der laie leicht für spielerische laune nehmen kann · hat aber seine notwendigkeit“, heißt es.111 Damit steht er im Gegensatz zu einer in Deutschland um 1800 fest gegründeten – und im Grunde vielleicht erst jüngst revidierten – Denktradition, in der die muttersprachliche Dichtung für die einzig gültige, weil ursprüngliche gehalten wird. So betrachtet Friedrich Schleiermacher in seinem Aufsatz ‚Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens‘ (1813) das nicht-muttersprachliche Schreiben nicht als Notwendigkeit, sondern nur als Möglichkeit. Es gibt zum einen die Möglichkeit des Spiels.112 Doch das „spielerische“ ist für George gerade die „missverstandene bedeutung des dichtens in fremdem sprachstoff“.113 Zum anderen gibt es die Möglichkeit der Ausnahme; Schleiermacher spricht etwa von seltenen „wunderbaren Meister[n] […], denen mehrere Sprachen gleich sind“.114 Dies passt wiederum zu Georges (Selbst-)Bild des Dichters, der auf der einen Seite zwischen Muttersprache und Fremdsprache unterscheidet und auf der anderen Seite diese Unterscheidung wieder aufweicht, indem er für sich beansprucht, in beiden gleichermaßen dichten zu können. Der Anspruch bleibt für ihn auch dann gültig, wenn sich herausstellt, dass die Sprachen ihm doch nicht „gleich“ und dass manche fremdsprachigen Gedichte nicht „gleich“ gut waren wie seine deutschen. Das Kriterium der Qualität, an dem auch die Gedichte in der lingua romana gemessen werden könnten, geht allerdings an Georges Poetik der Mehrsprachigkeit vorbei. Es ist ein aus der Einsprachigkeit heraus bestimmtes Kriterium, das die Bedeutung der Texte und damit der Mehrsprachigkeit reduziert. Der alte George trug in Minusio ein 110 111
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Ebd., S. 57. GA III, S. 127. Wie Oelmann zu Recht anmerkt, ist die Stelle „von entscheidender Bedeutung und viel zu wenig bekannt“ (Oelmann, Anhang [Anm. 2], SW XVIII, S. 117). Friedrich Schleiermacher: Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens. In: Hans Joachim Störig (Hg.): Das Problem des Übersetzens, Darmstadt 1969, S. 38–70, hier S. 64. Deshalb ist die Frage etwas unglücklich formuliert, „ob mehr das künstlerische Machtgefühl oder Verzweiflung“ das „Spiel“ der lingua romana „hervorgetrieben“ habe (Landmann, Vorträge über Stefan George [Anm. 72], S. 32). Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden (Anm. 112), S. 54. Vgl. auch ebd., S. 64.
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von ihm auf Englisch geschriebenes Gedicht bei sich; es bedeutete ihm offenbar viel – ein Fachphilologe urteilte auf Anfrage, es sei ein schlechtes englisches Gedicht, jedenfalls zu schlecht für die Gesamtausgabe.115 Das veranschaulicht, wie die „bedeutung des dichtens in fremdem sprachstoff“ nach George am ehesten in einem ‚Lebenszusammenhang‘ zu suchen und zu finden ist. In der lingua romana schreibt der Dichter offenbar aus Sprachnot, darin liegt eine „Notwendigkeit“. Zudem stellt er jedoch einen Zusammenhang zwischen seiner Schreibsprache und seiner ‚Umgangssprache‘ im Alltag her, um so den „ursprung“ seiner nicht-deutschsprachigen Gedichte zu erklären: Nicht die anregung von gedichten allein · sondern der ausschliessliche gebrauch des Französischen in den längeren aufenthalten zu Paris und Brüssel muss als ursprung gelten. Ähnlich hatte schon für die lingua romana in den Legenden das Spanische seinen einfluss gehabt · dessen sich der Dichter mit seinen spanischen freunden die ersten Berliner monate 89 fast einzig bediente · wo ihm deutscher verkehr noch fehlte.116
Hier wird auf die Erfahrung einer Nähe, Vergleichbarkeit, vielleicht gar Substitution von Muttersprache und Fremdsprache in der Dichtung angespielt. Entscheidend kommt es dabei auf den intensiven „gebrauch“ einer bestimmten Sprache an. Die Entstehung der lingua romana ist also nicht nur auf eine Sprachkrise, sondern auch auf konkrete Lebensumstände zurückzuführen, auf jenen „jardin d’acclimatation“, in dem George auf „Franzosen, Italiener Mexicaner etc.“ trifft.117 Mit dieser biologisch-botanischen Metapher für das Berliner Umfeld präsentiert er sich auch selbst als ein exotisches Lebewesen, das trotz Entfremdung im preußischen Klima heimisch zu werden versucht. Unter den „spanischen Freunden“ sind insbesondere die Brüder Antonio, Porfirio und Julio Peñafiel aus Mexiko zu nennen. Georges damalige Dichtung sei „neben dem Klange auch aus dem Gefühl tiefster Freundschaft für diese fremden Knaben entstanden, da ihm die geliebten Münder diese vollen
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Vgl. Oelmann, Anhang (Anm. 2), SW XVIII, S. 116. Zur Qualität und Korrekturbedürftigkeit der französischsprachigen Gedichte vgl. Oelmann, Anhang (Anm. 2), SW III, S. 101–148, hier S. 103. GA III, S. 127. Brief an Stahl vom 2. Januar 1980, zit. nach Boehringer, Mein Bild (Anm. 10), S. 47.
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Laute in Herz und Ohr riefen“ – so beschreibt Wolters den „einfluss“ der spanischen Sprache.118 Auf ähnliche Weise wird die Entstehung der französischsprachigen Gedichte begründet.119 Beide Sprachwechsel stehen in einem ‚Lebenszusammenhang‘, den George in die Gesamtausgabe, d.h. in sein fortlaufendes Projekt der Selbststilisierung und „Selbsthistorisierung“ integriert,120 um so eine besondere Eigenschaft sowohl seiner „poetische[n] Existenz“121 als auch seines poetischen Vermögens und seines „poetischen Tuns“122 herauszustellen. Zwar mag Forster richtig erkannt haben, „primary purpose“ des Dichtens in der lingua romana sei letztlich „development of poetry in German“ gewesen; doch von George wird es nicht bloß als „stylistic exercise“ – oder als eine „Fingerübung“ in sprachlicher „Ungewöhnlichkeit“123 – angesehen, vielmehr deutet er ausdrücklich auf die „social circumstances of his own life“ hin.124 Von diesen her rührt die Notwendigkeit, in einer anderen Sprache zu schreiben, und indem das Leben zum Werk wird, verliert es an Kontingenz und lässt sich mit poetischen und poetologischen Anliegen in Übereinstimmung bringen. Wer George liest, setzt sich „Enttäuschungen“ und „Ernüchterung[en]“125 aus und investiert Aufmerksamkeit sogar in „höchst unwahrscheinliche Beobachtungsleistungen“ – Georges Werkpolitik ist nach Martus auch eine „Lesepädagogik“.126 Die lingua romana mag am Ende trotzdem als ein widersprüchlicher, abwegiger, von vornherein zum Scheitern verurteilter Versuch erscheinen.127 Aber genau das macht sie interessant, und an ihr lassen sich systematische, weiterführende Beobachtungen über Sprache anstellen, die nun einen Ausblick, kein Fazit, 118 119
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Wolters, Frühe Aufzeichnungen (Anm. 68), S. 27f. Mit Bezug auf die englischsprachigen Gedichte wird der „umgang mit Cyril Scott“ angeführt (GA III, S. 127). Martus, Werkpolitik (Anm. 5), S. 690. Zu diesem August von Platen entlehnten Begriff vgl. Brokoff, Geschichte der reinen Poesie (Anm. 25), S. 466. Braungart, Poetik, Rhetorik, Hermeneutik (Anm. 40), S. 530. Zur Einheit von Leben und Werk vgl. auch ebd., S. 530–533. Brokoff, Geschichte der reinen Poesie (Anm. 25), S. 479. Forster, The Poets’ Tongues (Anm. 109), S. 58. Martus, Werkpolitik (Anm. 5), S. 559. Ebd., S. 514. Vgl. Arbogast, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache (Anm. 13), S. 28.
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bieten. In ihrer Besonderheit als erfundene Sprache wirft die lingua romana die Frage auf, in Bezug auf was Sprache jeweils ‚eigen‘ oder ‚fremd‘ ist. Dabei zeigt sich das Subjekt der Sprache stets in einem einzigartigen, dichten und flexiblen Geflecht von implikationsreichen Differenzierungen und Relationen. Ferner birgt die lingua romana als erfundene und poetische Sprache die Frage, ob nicht jede poetische Sprache eine gleichsam erfundene Sprache sei. Was zunächst exzeptionell scheinen mag – die Erfindung einer eigenen Sprache durch ein einzelnes Subjekt und deren schriftliche Fixierung –, gilt geradezu exemplarisch für die Poesie und allgemein für die Literatur.128 Schließlich ist die lingua romana dort verortet, wo sich „the question of translation“, so Steiner, ganz unmittelbar stellt, nämlich in der „polarity […] of public and private“, also zwischen öffentlicher und privater Sprache.129 Diese Frage übersteigt den Bereich der literarischen Kommunikation. Sprache wird nun erkennbar als „le moyen le plus sûr de réaliser l’idiosyncrasie“ und „le lieu d’un conflit insoluble entre la visée d’unité et le désir de singularité.“130 Am Beispiel der lingua romana wird in verschärfter Weise ein Paradox deutlich, das die Sprache selbst kennzeichnet und das in der Moderne besonders nachhaltig spürbar wird: Sprache ist stets exklusiv und zugleich inklusiv, sie gehört nur einem Einzelnen, der sie aber mit anderen Einzelnen teilen kann und muss.
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Vgl. Robert Stockhammer: Das Schon-Übersetzte. Auch eine Theorie der Weltliteratur. In: Poetica 41, 2009, S. 257–291, hier S. 281; Robert Stockhammer / Susan Arndt / Dirk Naguschewski: Einleitung. Die Unselbstverständlichkeit der Sprache. In: Dies. (Hg.): Exo-phonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur, Berlin 2007, S. 7–27, hier S. 21. Steiner, After Babel (Anm. 46), S. 161. Marina Yaguello: Les fous du langage. Des langues imaginaires et leurs inventeurs, Paris 1984, S. 151f.
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Stefan George in spanischer Übersetzung Als im Jahr 2011 die Anthologie ‚Nada hay cuando la palabra quiebra‘ (‚Kein ding sei wo das wort gebricht‘)1 mit Lyrik und Prosa von Stefan George erschien, war der Dichter fast vollkommen unbekannt für das spanischsprachige Publikum, für immerhin rund vierhundert Millionen potentielle Leser. Bis dahin standen diesen Lesern nur einige wenige, nicht sehr umfangreiche Anthologien zur Verfügung. Die wichtigsten sind die von Guillermo Valencia zusammengestellte Auswahl, die 1917 in Kolumbien herausgekommen ist; eine spanische Edition mit dem Titel ‚Peregrinajes‘ (‚Pilgerfahrten‘) von 1953; eine argentinische – die umfangreichste – aus dem Jahr 1959, herausgegeben von José Vicente Álvarez. 1964 erschien die von Clotilde Schlayer erstellte Anthologie, die jedoch kaum in den Bibliotheken zu finden ist. Die letzte stammt aus dem Jahr 1986 und galt als die erste in Spanien veröffentlichte Anthologie, in die zwanzig weitere Gedichte aufgenommen wurden. Mit dem Aufkommen des Internets hielt Stefan George Einzug in die virtuelle Welt. Auch in der spanischen Rezeption ist die ganze Breite der Zugänge zu verzeichnen. George gilt einigen sogar als expressionistischer Dichter, andere lesen seine Texte vor allem im Hinblick auf seine Homosexualität, während die große Mehrheit in ihm den symbolistischen Dichter im Gefolge von Mallarmé, Verlaine und Rimbaud sieht. I. Die verspätete Rezeption Georges in der spanischen Lyrik Wie kam es zu dieser verspäteten Rezeption? Einerseits war die spanische Literatur gegen Ende des 19. Jahrhunderts voll und ganz mit Spanien selbst beschäftigt, das in dieser Zeit seine letzten Kolonien verlor: Die sogenannte ‚Generation von (18)98‘ schrieb über und für ein tristes Spanien. Die damalige Literatur, vor allem die Lyrik, war der Versuch einer Erneuerung durch den Modernismus, den Ruben Darío eingeführt und der sich als ästhetisches Modell durchgesetzt hatte. Zugleich 1
Stefan George: „Nada hay donde la palabra quiebra“. Antología de poesía y prosa. Hg. und übersetzt von Carmen Gómez García, Madrid 2011.
DOI 10.1515/george-2016/2017-0008
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wandelte sich das Kräfteverhältnis innerhalb der spanischsprachigen Literatur. Bis dahin hatte Spanien die literarischen Modelle nach Amerika exportiert, wo sie meist treu nachgeahmt wurden; dank dem Nicaraguaner Ruben Darío sollte es die lateinamerikanische Literatur sein, die der Lyrik, auch der spanischen, neue Wege wies.2 Andererseits verlief die Rezeption der deutschsprachigen Literatur seit jeher durch den Filter Frankreichs, später, vor allem ab dem Ende des Zweiten Weltkriegs, durch den Englands. Aus der spanischen Perspektive galt Stefan George daher als ein Symbolist unter anderen, dessen Besonderheit es war, dass er auf Deutsch schrieb, der aber Modelle bot, die aus der französischen und spanischen Literatur bereits bekannt waren. Anderthalb Jahrzehnte später versuchte die Generation von 1914 kulturell und künstlerisch Anschluss an Europa zu finden und verkündete die reine Poesie. Ihr wohl bekanntester Vertreter war Juan Ramón Jiménez, dessen Postulate, die auf der Sehnsucht nach dem Absoluten und dem Göttlichen gründeten, in ihrem formalen Ästhetizismus George verwandt waren. Das Auftauchen der Avantgarde in Spanien um 1917 brachte einen umfassenden Prozess der kulturellen Modernisierung mit sich; das Interesse richtete sich nun auf die neuesten literarischen Tendenzen in Europa (Futurismus, Expressionismus oder Dada), die natürlich nichts mit der Poetik Georges verband. In Lateinamerika hingegen war Stefan George ein Mythos, wie Erwin Walter Palm, der Ehemann von Hilde Domin, feststellte, weniger jedoch aufgrund seiner Lyrik, da das Genie Georges nicht in eine romanische Sprache zu übertragen wäre, vielmehr sei es „der dichterische Gestus, der ‚Kreis‘ um George, die Exklusivität. Von Hispanoamerika her sah das aus wie ein persönliches Paris, wie eine Art strengere Entsprechung zu Frankreich“.3 Da2
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So etwa würde man ohne Vicente Huidobro (1893–1948) oder Pablo Neruda (1904–1973) „die spanische Lyrik der historischen Avantgarde und der daran anschließenden Zeit nicht verstehen“. In: Eduardo Milán / Andrés Sánchez Robayna / José Ángel Valente / Blanca Varela (Hg.): Las ínsulas extrañas. Antología de poesía en lengua española (1950–2000), Barcelona 2002, S. 16. Erwin Walter Palm / Ricardo Molinari: Eine Rose für Stefan George oder Federico García Lorca und Stefan George. In: José Manuel López de Abiada / Titus Heydenreich (Hg.): IberoAmérica. Historia-sociedad-literatura. Homenaje a Gustav Siebenmann, München 1983 (= Lateinamerika Studien 13.2), S. 673–678, hier S. 673.
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rüber berichtet der argentinische Dichter Ricardo E. Molinari, der 1934 George ein Gedicht widmete und es gemeinsam mit Federico García Lorca unterzeichnete, der dazu ein Bildgedicht beilegte, das er eigens für diese Gelegenheit verfasste: Una rosa para Stefan George4 No es la paciencia de la sangre la que llega a morir, ni el sueño ni el mármol de Delfos, sino el polvo que se calienta entre las uñas. Qué importa morir, que se borren las paredes como un río seco; que no quede una flor en la calle con su borde de luto en la frente, ni el viento sobre las piedras podridas. Qué haces allí, tronchado sin humedad, con tu dicha sin aliento, con tu muerte tendida a los pies. Con tu espuma llena de ceniza. Desdeñoso. Ya vendrán los hombres con el ruido, con los gestos; pero el odio seguirá intacto. Todos te habrán estrechado la mano alguna vez, y tú habrás bebido la cicuta en la soledad, como un vaso de leche. Adiós, país de nieve, de ventisca agria, sin gentes que digan mal de ti. Eterno. Desnudo. La sangre metida en su canal de hielo – fuego sin aire – Jordán perdido. Si el tiempo tuviera sentido como el Sol y la Luna presos; si fuera útil vivir, si fuera necesario, qué hermoso espanto: tengo la voluntad avergonzada. Yo soy menos feliz que tú. Me quedo combatiendo sin honor, con un haz de ramas en las manos. Duerme. Dormir para siempre es bueno, junto al mar; los ríos secos debajo de la tierra con su rosa de sangre muerta. Duerme, lujo triste, en tu desierto solo. ¡Esta palabra inútil!5 4 5
1964 bei ‚Sur‘ im Molinaris Band ‚Un día, el tiempo, las nubes‘ veröffentlicht. „‚Una rosa para Stefan George‘ bewegt sich zwischen den ewigen Themen von Verfall, Liebe und Tod und ist ein emotionaler Tribut beider Autoren an [George]. Ihre Hommage hält sich nicht an die Richtlinien der panegyrischen,
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Eine Rose für Stefan George Nicht die Geduld des Bluts stirbt, nicht der Traum, nicht delphischer Marmor, sondern der Staub, der unter den Zehen heiß wird. Was macht das, Sterben, wenn die Wände verschwinden wie ein trockener Fluß, wenn auf der Straße keine Blume bleibt mit ihrem Trauerrand über der Stirn, noch der Wind auf den angeekelten Steinen. Was tust du dort, abgetrennt, ohne Feuchte, mit deinem Glück ohne Atem, mit deinem Tod zu Füßen, deinem Schaum voll Asche. Mit deiner Verachtung. Die Leute werden schon mit ihrem Lärm, mit Trauermienen kommen. Aber der Haß bleibt, wie er war. Alle haben dir irgendwann die Hand gegeben, und du hast den Schierling getrunken, in Einsamkeit, wie ein Glas Milch. Leb wohl, kaltes Land, mit seinem schneidenden Wind, vorbei de Leute, die Schlecht von dir reden. Für immer. Nackt. Das Blut in seinem Eiskanal – das Feuer ohne Luft – ein verlorener Jordan. Wenn die Zeit eine Richtung hätte, wie Sonne und Mond in ihrer Bahn, wenn es nützlich wäre zu leben, wenn es nötig wäre – der Schreck zu schön: die Stimme wird rauh vor Scham. Ich bin weniger glückich als du. Ich bleibe und kämpfe ohne Ruhm Mit einem Büschel Zweige in Händen. Schlaf! Schlafen für immer ist gut neben dem Meer. Die Flüsse sind versiegt unter der Erde, die Rose in ihrem Blut ist tot. Schlaf, traurige Lust, in deiner Wüste, einsam. Das Wort ist unnütz.6
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‚Gelegenheits-‘ oder Todeslyrik, sondern erhebt sich wie eine Reflektion über die Dauer der Existenz und der notwendigen Resignation angesichts des Todes, der Synthese des menschlichen Seins.“ Luis Bagué Quílez. In: Ders.: Entre el 27 español y el 22 argentino. La poesía de Ricardo Molinari. In: América sin nombre 3, 2002, http://www.cervantesvirtual.com/obra-visor/america-sinnombre--0/html/027664d0-82b2-11df-acc7-002185ce6064_44.html; (Zuletzt abgerufen am 22. 1. 2015). In Übersetzung von Palm und Molinari, Eine Rose für Stefan George (Anm. 3), S. 675.
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Das dazugehörende Bildgedicht7 zeichnete García Lorca in Buenos Aires; es trägt die folgende Widmung: ‚Los ríos agostados debajo de la tierra, con su rosa de sangre muerta‘ (‚Die Flüsse der Adern sind unter der Erde versiegt, die Rose des Bluts ist tot‘).8
Auch wenn diese ‚rosa de la muerte‘ (‚Todesrose‘) perfekt in die poetische Welt García Lorcas eingeschrieben ist, so findet man darin keine weiteren Spuren Georges. Offensichtlich galt García Lorcas Interesse eher dem Gedicht Molinaris, der Elegie, die einer homoerotischen Ikone gewidmet war. 7
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García Lorca: Rosa de la muerte. Caligrama. Zeichnung entnommen aus: Una rosa para Stefan George, Buenos Aires 1934. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Colección Fundación Federico García Lorca, Madrid. In Übersetzung von Palm und Molinari, Eine Rose für Stefan George (Anm. 3), S. 676.
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Durch den Bürgerkrieg und den Franquismus, aber auch aufgrund der zahlreichen Diktaturen, die Lateinamerika verheerten, glitt die spanischsprachige Literatur in eine Zeit des Stillstands und des Rückschritts. Der Franquismus beendete nicht nur abrupt den Modernisierungsprozess, in dem sich die Kultur seit José Ortega y Gasset und der Generation von 1914 befunden hatte; er isolierte das Land auch von Europa. Der zaghafte Versuch einer Europäisierung in den zwanziger und dreißiger Jahren wurde ebenso unterbrochen wie der Austausch mit der lateinamerikanischen Lyrik; das Recht der freien Meinungsäußerung wurde abgeschafft und die Kultur auf den nationalistischen Ausdruck der Sieger reduziert.9 Bis in die sechziger Jahre suchte die ideologisierte, ethisch wie ästhetisch dogmatische Lyrik eine pseudorealistische Ausdrucksweise,10 die alle ‚Dissidenten‘ totschwieg, wie etwa Juan Ramón Jiménez. Der sogenannte spanische ‚Realismus‘ war hingegen nicht viel mehr als eine pseudonaturalistische, oft noch costumbristische Literatur,11 die auf einer Rhetorik abgedroschener Wendungen und Topoi beruhte und alles ‚Poetische‘ entweihte – einzig die ‚soziale Lyrik‘ konnte sich dieser vorherrschenden Strömung entziehen. In den 1970er Jahren erschienen die ersten Gedichtbände von Autoren, die den Jahrzehnten des lyrischen Realismus den Rücken kehrten und an die 1920er Jahre und die Avantgarde anschlossen, vor allem an den Surrealismus, an die europäische (Joyce, Kafka, Proust) und nordamerikanische Literatur (Faulkner, Dos Passos). In diesem Kontext kamen die erwähnten George-Übersetzungen von Schlayer, die
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Vgl. Milán / Robayna / Valente / Varela, Las ínsulas extrañas (Anm. 2), S. 21f. Die einzige Ausnahme ist der postismo von Carlos Edmundo de Ory. Er macht Antonio Machado zum Vater der neuen spanischen Lyrik. Doch bezog er sich auf den frühen Machado, auf das ‚Wort in der Zeit‘, auf die Zeitlichkeit der Lyrik als einziger Referenz. Juan Ramón Jiménez wurde in Lateinamerika verständnisvoller rezipiert, da dort die Literatur weiterhin einem Prozess der Erneuerung und Universalisierung unterzogen wurde. Vgl. Milán / Robayna / Valente / Varela, Las ínsulas extrañas (Anm. 2), S. 24. Der Costumbrismo ist eine Epoche in der spanischen Romantik, die sich das Volkstümliche (costumbre, dt. Brauchtum) besinnt. (Vgl. Carmen Rivero Iglesias (Hg.): Spanische Literaturgeschichte. Eine kommentierte Anthologie, Paderborn 2014, S. 187f.)
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‚Pilgerfahrten‘ und eine Prosafassung des Zyklus der ‚Hängenden Gärten‘ heraus.12 Die in den 1940er und 1950er Jahren geborenen Lyriker übernahmen von der Generation der novísimos das Bewusstsein, dass eine poetische Erneuerung dringend notwendig war, und sie suchten durch Übersetzungen neue Modelle zu finden. Die Übertragung von Gedichten wurde für sie eine pädagogische Übung, vor allem von Tagore, Francis Jammes, Maeterlinck, d’Annunzio, Walt Whitman und Hölderlin, die für die spanische Gegenwartslyrik von entscheidendem Einfluss sind. Dennoch ist bis heute der Nachholbedarf an Übersetzungen ausländischer, vor allem deutscher Lyrik sehr groß. Bevor man sich an die Übersetzung von Stefan George machen konnte, musste man viele andere in Europa bereits kanonisierte Autoren übersetzen oder neu übersetzen, diesmal ohne Zensur und endlich aus der Originalsprache – statt, wie es bis dahin oft der Fall war, aus dem Französischen oder Englischen. Die Rezeption der französischen Symbolisten, der späte Einfluss Nietzsches und die Gedichte der sogenannten Väter der spanischsprachigen Lyrik der letzten fünfzig Jahre – Rubén Darío, Pablo Neruda und Juan Ramón Jiménez (Bücher wie ‚Dios deseado y deseante‘) – ließen also kaum Raum für Stefan George, bis die lange das literarische Leben beherrschende Tendenz zu einer Traditions- und Gruppenbildung ein Ende fand und einer individuellen schriftstellerischen Freiheit Platz machte, die zur Entstehung eines vielfältigeren und oft auch persönlich gefärbten Kanons führte. Andererseits wurden die bestehenden Übersetzungen Stefan Georges kaum wahrgenommen und ihr Autor zu einem Außenseiter innerhalb der ohnehin kaum rezipierten deutschsprachigen Literatur. Einzig eine kleine, elitäre Gruppe nahm ihn als Zeitgenossen von Hofmannsthal, vor allem aber von Rilke wahr, von Autoren also, die ihrer literarischen Bedeutung entsprechend gelesen wurden. Einige wenige spanische Germanisten, Intellektuelle und Ly-
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Man kann annehmen, dass in der franquistischen Diktatur George nicht dem ‚Geschmack‘ der regimetreuen Intellektuellen entsprach, die seinen literarischen Ästhetizismus nicht teilten und von seiner Rolle als Prophet und Mentor ebenso wenig angezogen wurden wie von seinem Wunsch nach einem sozialen Wechsel.
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riker kannten Georges Werk – meist aufgrund der Verweise Adornos, Benjamins, Schönbergs und anderer europäischer Autoren. Oft aber waren es nur ein paar Gedichte, die in Spanien gekannt und bekannt wurden. II. Die Entscheidung, George ins Spanische zu übersetzen Da George und sein Werk in Spanien beinahe unbekannt waren, lag auf der Hand, ihn zu übersetzen. Eine zusätzliche Herausforderung bestand darin, dass er weithin als unübersetzbar galt und gilt. Die Anstrengungen einer Übersetzung werden kaum durch hohe Verkaufszahlen entschädigt. Das war auch für den Verleger von nicht unwesentlicher Bedeutung. War nun einmal die Entscheidung getroffen und der Verleger überzeugt – Trotta ist einer der wenigen noch unabhängigen Verlage in Spanien und erfreut sich dank der Qualität seiner Bücher und der Auswahl seiner Autoren und Texte eines großen Prestiges –, so steht man als Übersetzerin vor dem Problem der bewussten Strategie des Misstrauens, das jeder Leser von Lyrikübersetzungen entwickelt. Ja mehr noch: Lyrikleser und -leserinnen bilden sich normalerweise im Vorhinein ihr Urteil darüber, ob die Entscheidung des Übersetzers richtig war, den Reim und den Rhythmus des Originals nachzugestalten oder es zu unterlassen. Anders ausgedrückt: Wenn es eine Form der Übersetzung gibt, bei der man als Übersetzerin präsent ist, so ist es die Übersetzung von Lyrik, denn der Leser ist sich von Beginn an bewusst, dass er nicht die unsterblichen Worte eines Shakespeare, Goethe oder Baudelaire vor Augen hat, sondern die eines oft unbekannten Mittlers, der ihm als Filter dient, dem er nicht unbedingt vertraut und der, wie es immer wieder heißt, als traduttore ein tradittore, ein Verräter ist. Die Leser haben zwar beschlossen, welchen Autor, welche Autorin sie lesen wollen; der Übersetzer, die Übersetzerin wird ihnen aber meist aufgezwungen, denn nur selten hat man, abgesehen von den Weltautoren (Shakespeare, Goethe, Baudelaire), die Wahl zwischen mehreren Fassungen. Somit weiß man als Leserin, dass die eigene Lektüre von der Interpretation des bis vor wenigen Jahrzehnten in Spanien oft anonymen Übersetzers abhängt, dessen Interpretation im Reich der Literatur ja bekanntlich nicht die einzig mögliche sein muss. Als Übersetzerin weiß man natürlich um dieses Misstrauen, ist man doch selber
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eine ebenso misstrauische Leserin anderer Lyrikübersetzungen. Das Misstrauen überkommt nun einen selbst, stellt man sich dem Vorhaben, das Unmögliche zu wagen und George zu übersetzen. III. Wie übersetzt man George? Wäre es nicht vernünftiger, auf jeden ästhetischen Anspruch zu verzichten und den Inhalt so ‚treu‘ wie möglich zu übersetzen, damit der Leser ihn mit der äußeren Form des Originals vergleichen kann? Gegen diese Möglichkeit sprechen die Konzepte des „Funktionalismus“ und der „Loyalität“, auf die Christiane Nord so oft verwiesen hat.13 Diese Konzepte gehen von der Funktion aus, die der Text in der Zielsprache und -literatur zu erfüllen hat, eine Funktion, die von der rezeptiven Intention des Lesers bestimmt wird, von dem abhängt, ob die Rezeption adäquat ist oder nicht. Der Übersetzer ist demzufolge der Mittler im Dialog zwischen dem Dichter und dem Leser, der die Kommunikation nicht mit einem bestimmten Autor sucht, sondern mit einem spezifischen Modell von Gesellschaft oder Realität, das in der Literatur thematisiert wird. Der Leser versucht das Fremde durch den Text kennenzulernen, der, wie es der spanische Philosoph Emilio Lledó ausdrückte, „eine besondere Form der Ausarbeitung präsent macht. Ein dem unseren ähnliches Bewusstsein hat dieses Objekt geschaffen, durch das wir eine neue Konfiguration und einen neuen Sinn des Anderen erfahren“.14 Da die Schönheit als Kategorie im Werk Georges von grundlegender Bedeutung ist und Georges Lyrik innerhalb der deutschen Literatur und Kultur entscheidenden Stellenwert innehat, kann man die Art der Übersetzung nicht wirklich frei wählen. Die Leser wollen George lesen und seine Sprachkunst genießen. Die Rezipienten der literarischen Übersetzung, also die Personen, die anderssprachige Lyrik kennenlernen möchten, bilden eine kleine, anspruchsvolle Gruppe, und sie wol-
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Christiane Nord ersetzt in ihrer Monographie ‚Funktionsgerechtigkeit und Loyalität: Theorie, Methode und Didaktik des funktionalen Übersetzens‘, Berlin 2011, den bisher gebrauchten Begriff der Treue, der im Sinne einer Äquivalenz von Ausgangstext und Übersetzung verwendet wird, duch den der Loyalität. Damit erweitert sie den Bezug der Übersetzung zum Text insofern, als nicht länger Treue allein dem Text gegenüber bestehen soll, sondern auch Loyalität zwischen dem (kulturellen) Rahmen und der Übersetzung. Emilio Lledó: El silencio de la escritura, Madrid 1991, S. 19.
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len wissen, wie George klang, sie möchten ihre eigene, persönliche Erfahrung mit der Literatur seiner Epoche machen. Man übersetzt für ganz und gar nicht naive Leser, sondern für solche, die über Vorwissen und einen bestimmten Erwartungshorizont verfügen. Diese Leser und Leserinnen möchten selbst das erfahren, worüber sie zuvor bereits theoretisch gehört haben und was für sie der Anlass war, George in die Hand zu nehmen. Das erwähnte Misstrauen des Lesers kann gelindert werden, wenn seine Lektüre ihm die Gewissheit vermittelt, dass er den Autor auf eine Weise liest, die so direkt wie möglich ist, bei der sich der Übersetzer nicht für den Schein der Unsichtbarkeit entschieden hat, sondern zu erreichen versucht, dass der Leser seine Anwesenheit vergisst. Aufgrund der Treue zu Stefan George und seinen theoretischen Postulaten, zu seinem Werk, aber auch zu den Lesern und ihrem Wunsch, in einen persönlichen Dialog mit dem Dichter zu treten, muss man als Übersetzerin anstreben, ein Höchstmaß an Loyalität in Bezug auf den Inhalt, die verwendeten Termini und die Form zu bewahren, aber auch versuchen, die Klangeffekte, den Ton Georges ebenso wiederzugeben wie das Gefühl, das seine Lektüre im Deutschen hervorruft, muss also seine Reime und Rhythmen nachschaffen. Eine Übersetzung in freien Versen, die bloße Übertragung des Inhalts ohne Rücksicht auf Klangeffekte widerliefen all dem, wofür George in der Literatur steht, ebenso wie seinem Leben und seinem Werk. Georges Texte zeichnen sich durch ihre Schönheit aus, die der Leser in einer anderen Sprache genauso nachvollziehen muss wie ihre Suggestivkraft, auch wenn man aufgrund der sprachlichen Kluft, die das Spanische vom Deutschen trennt, den Rhythmus nicht aufrecht erhalten kann. Daher muss man im Rahmen des Möglichen versuchen, die Syntax, die Metrik, den Rhythmus, das Reimschema, die poetischen Neuerungen nachzugestalten, in einem Balanceakt, der Umstellungen, Streichungen und Hinzufügungen unabdingbar macht. IV. Einige Beispiele Viel öfter, als man es sich als Übersetzerin wünscht, ist es unmöglich, die Metrik beizubehalten, vor allem wenn es sich um eine flektierende Sprache wie das Deutsche handelt, die eine besondere Fähigkeit zur Verdichtung hat. Um eine deutsche Verszeile auf Spanisch wiederzuge-
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ben, benötigt man zwei oder drei Silben mehr, so dass man im Fall des Georgeschen Versmaßes, das vor allem auf dem Endecasillabo beruht, oft einen vierzehnhebigen Alexandriner verwenden muss. Wenn um der zinnen kupferglühe hauben Um alle giebel erst die sonne wallt Und kühlung noch in höfen von basalt Dann warten auf den kaiser seine tauben.15 […] Cuando por las cobrizas cofias de las almenas Comienza a borbotar el sol en los frontones Y sólo patios de basalto izan frescores Ya las palomas a su emperador esperan.16 […]
Obwohl die deutsche und die spanische Metrik sehr unterschiedlich sind, so ist doch die Musikalität der acht- oder neunsilbigen Verse, die einen leichten, grazilen Stil ermöglichen, in der europäischen Lyrik weit verbreitet. Daher kann man diese Silbenzahl beibehalten, auch wenn man für den Inhalt bedeutungslose Silben oder Wörter tilgen muss: Das Lied Es fuhr ein knecht hinaus zum wald Sein bart war noch nicht flück Er lief sich irr im wunderwald Er kam nicht mehr zurück.17 […] La canción Un mozo al bosque se marchó Aún de barba rala El bosque brujo le perdió Y ya no volvió a casa.18 […]
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Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff. Bd. II, S. 66. Im Folgenden mit SW, Bandnummer und Seitenzahl zitiert. Stefan George, „Nada hay donde la palabra quiebra“ (Anm. 1), S. 88. SW IX, S. 100. Stefan George, „Nada hay donde la palabra quiebra“ (Anm. 1), S. 176.
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In Gedichten, in denen die Aussage vorrangige Bedeutung hat, wurde die Einhaltung der Silbenzahl ebenso wie die des Gleichklangs aufgegeben zugunsten einer getreueren Nachbildung des Inhaltes, wie etwa in ‚Templer‘ oder ‚Der Täter‘: Der Täter Ich lasse mich hin vorm vergessenen fenster: nun tu Die flügel wie immer mir auf und hülle hienieden Du stets mir ersehnte du segnende dämmrung mich zu Heut will ich noch ganz mich ergeben dem lindernden frieden.19 […] El ejecutor En la ventana olvidada me dejo llevar: despliega de nuevo Sobre mí tus alas y envuelve este mundo tú anhelado Siempre mío crepúsculo tú de bendiciones colmándome Hoy quiero entero entregarme aún a la paz confortante.20 […]
Andererseits findet man Verse, deren Kürze kaum zu übertragen ist, da es im Deutschen mehr einsilbige Wörter gibt als im Spanischen. Ein Beispiel: ‚Mühle lass die arme still / da die haide ruhen will‘. Allein schon die Übersetzung des Inhalts erfordert eine viel größere Silbenzahl: ‚Molino deja ahora quietos los brazos / que ya desean reposar los campos‘ (11), ja man muss sie noch erhöhen, will man der Vorlage formal folgen. Die Häufung von einsilbigen Wörtern bei George ist eines der stilistischen Wesensmerkmale, die ihn einzigartig machen: die Tendenz zur Ellipse, zur Verdichtung und Zusammenballung von Wörtern, was oft auch zur Eliminierung von flexiven und derivativen Morphemen führt. Im windes-weben War meine frage Nur träumerei. Nur lächeln war Was du gegeben. Aus nasser nacht Ein glanz entfacht – Nun drängt der mai · Nun muss ich gar 19 20
SW V, S. 45. Stefan George, „Nada hay donde la palabra quiebra“ (Anm. 1), S. 140.
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Um dein aug und haar Alle tage In sehnen leben.21 Al viento hilando Mi pregunta le era Tan sólo un ensueño. Tan sólo sonrisa Que ya has concedido. De húmida noche Un fulgor ha prendido – Apremia ahora mayo · Apremia pues debo Tus ojos tu pelo En todos mis días Vivir anhelando.22
Im Lauf der Jahre wurden die Wörter bei George immer kürzer, bis er sie auf ihre Wurzel reduziert hatte. So etwa im berühmten Vers: „Es ist worden spät“, aus ‚Ihr tratet zu dem herde‘, der nicht nur eine Ellipse des Morphems des Partizips „ge-“ aufweist, sondern auch eine im Deutschen ungewöhnliche syntaktische Umstellung: Ihr tratet zu dem herde Wo alle glut verstarb · Licht war nur an der erde Vom monde leichenfarb. Ihr tauchtet in die aschen Die bleichen finger ein Mit suchen tasten haschen – Wird es noch einmal schein! Seht was mit trostgebärde Der mond euch rät: Tretet weg vom herde · Es ist worden spät.23 Os llegasteis junto al hogar Do muerto estaba todo ardor · La tierra sólo había claridad Cadavérica de luna su color.
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SW VI/VII, S. 137. Stefan George, „Nada hay donde la palabra quiebra“ (Anm. 1), S. 148. SW IV, S. 114.
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Carmen Gómez García Sumergisteis en las cenizas Vuestros pálidos blancos dedos Buscando palpando con prisa – ¡Que se haga la luz de nuevo! Ved lo que en gesto de aliento La luna os ha aconsejado: Del hogar marchaos · Tarde se ha hecho.24
Auf Spanisch kann man diese Ellipse nicht reproduzieren, da es unmöglich ist, Wortteile zu eliminieren, ohne dass dies zu Sinnverlust, Unverständnis und, in der Folge, zu Verwunderung, ja sogar Abwehr führen würde. Man findet auch den gegenteiligen Fall, denn bei George sind Verszeilen häufig, in denen zwei oder drei Wörter durch einen Bindestrich verbunden sind, damit der Leser sie als ein einziges Konzept auffasst: „Umgebung vor dich hinschaust · weges-sicher“25 ein stilistisches Mittel, das im Spanischen nicht eingeführt ist und deshalb fremd und störend wirkt: „seguro-del-camino“;26 oder in der Prosa: „el esquivo no-permitir-que-reconozcan-del-todo“27 („das spröde nicht-ganz-erkennen-lassen“).28 Im Hinblick auf den Rhythmus muss man die Kombination aus betonten und unbetonten Endsilben, stumpfen und klingenden Endreimen beibehalten, solange sie den Lesefluss nicht allzu sehr beeinträchtigen. Es gibt aber Gedichte, bei denen alle Verse mit betonten Silben enden. Da dieser Effekt im Spanischen sehr selten ist – wenn er überhaupt existiert, weil aufgrund der Struktur des Spanischen die Mehrzahl der Verse mit unbetonten Silben endet – würde eine wortgetreue Übersetzung forciert wirken und die Lektüre stören. Daher wurde in der Übersetzung auf ein Reimschema zurückgegriffen, bei dem sich männliche und weibliche Reime abwechseln. Nur in den Gedichten, in denen diese Charakteristik aufgrund des Inhalts unbedingt notwendig scheint, wurde versucht, dieselben Versschlüsse (s.u.) weitgehend aufrecht zu erhalten. 24 25 26 27 28
Stefan George, „Nada hay donde la palabra quiebra“ (Anm. 1), S. 120. SW V, S. 17. Stefan George, „Nada hay donde la palabra quiebra“ (Anm. 1), S. 126. Ebd., S. 205. Stefan George: Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst, München 1964, S. 24.
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Der Kampf Trunken von sonne und blut Stürm ich aus felsigem haus · Laur ich in duftender flur Auf den schönlockigen gott29 […] La lucha Ebrio de sangre y de sol Raudo abandono el hogar · Aguardo en fragante solar De rizos hermosos a un dios30 […]
Manche Reime mussten umgestellt werden, sei es aufgrund der spanischen Syntax, sei es, um das Spiel mit Rhythmus und Klang des Deutschen nachzuempfinden, wie etwa „Oh madre de mi madre y madre augusta“ („O mutter meiner mutter und erlauchte“); bei anderen Gedichten mussten Enjambements geschaffen werden, die es im Ausgangstext nicht gibt. Da das Spanische klanglich offener und freier ist als das Deutsche, war es möglich, eine größere Zahl von assonanten Reimen zu bilden, um so eine stärkere Korrespondenz zum Inhalt herzustellen, die konsonante Reime nicht zugelassen hätten. Zwei Beispiele: Gib mir den grossen feierlichen hauch Gib jene glut mir wieder die verjünge Mit denen einst der kindheit flügelschwünge Sich hoben zu dem frühsten opferrauch.31 […] Dame el gran solemne aliento el ardor Dame que rejuvenece de nuevo Con los que el brío de la infancia al vuelo Al sacrificial humo prístino se alzó.32 […]
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SW VI/VII, S. 37. Stefan George, „Nada hay donde la palabra quiebra“ (Anm. 1), S. 139. SW V, S. 11. Stefan George, „Nada hay donde la palabra quiebra“ (Anm. 1), S. 123.
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Carmen Gómez García Stimmen im Strom Liebende klagende zagende wesen Nehmt eure zuflucht in unser bereich · Werdet geniessen und werdet genesen · Arme und worte umwinden euch weich. Leiber wie muscheln · korallene lippen Schwimmen und tönen in schwankem palast · Haare verschlungen in ästige klippen Nahend und wieder vom strudel erfasst. Bläuliche lampen die halb nur erhellen · Schwebende säulen auf kreisendem schuh – Geigend erzitternde ziehende wellen Schaukeln in selig beschauliche ruh. Müdet euch aber das sinnen das singen · Fliessender freuden bedächtiger lauf · Trifft euch ein kuss: und ihr löst euch in ringen Gleitet als wogen hinab und hinauf.33 Voces en la corriente Seres amantes dolientes dudantes Vuestro refugio en el nuestro buscaos · Goces tendréis y veloz sanaréis cuando · Brazos palabras os ciñan tan suaves. Cuerpos cual conchas corales por labios Nadan y cantan en frágil castillo · Cabellos en costas de astillas trenzados Vienen van vuelven en mil remolinos. Lámparas tenues de añiles destellos · Flotan columnas que en zócalos giran – Olas errantes temblando al violín Mécense en cándida calma y feliz. Mas si os cansa el cantar el pensar El paso pausado de dichas esquivas · Si un beso os alcanza: y en círculos escapáis En ondas que arriba y abajo deslizan.34
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SW III, S. 99. Stefan George, „Nada hay donde la palabra quiebra“ (Anm. 1), S. 106.
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Es folgt noch ein weiteres Beispiel, das dem Übersetzer besonders aufgrund der Musikalität der Verse, einiges abverlangt: Es lacht in dem steigenden jahr dir Der duft aus dem garten noch leis. Flicht in dem flatternden haar dir Eppich und ehrenpreis. Die wehende saat ist wie gold noch · Vielleicht nicht so hoch mehr und reich · Rosen begrüssen dich hold noch · Ward auch ihr glanz etwas bleich. Verschweigen wir was uns verwehrt ist · Geloben wir glücklich zu sein Wenn auch nicht mehr uns beschert ist Als noch ein rundgang zu zwein.35 Ríe alzándose el año hacia ti El perfume del vergel aún tenue. Trenza en el cabello en torno a ti Revoloteando hiedra y verónica. Dorada es la simiente aún en el aire · No tan elevada acaso y tan rica · Rosas te saludan todavía afables · Mas algo pálida su gallardía. Callemos lo que nos es prohibido · Hagamos voto de estar contentos Aunque ya no nos sea concedido Más que unidos caminar un trecho.36
Schließlich ist auch das einzelne Wort eine Quelle von manchmal unüberwindbaren Einschränkungen. Im Spanischen geht der konnotative Reichtum vieler polysemer Wörter verloren, wie etwa ‚Larve‘, das sowohl ‚Tierlarve‘ wie auch ‚Maske‘ bedeutet, im Spanischen aber nur das 35
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SW IV, S. 89. Eine persönliche Notiz am Rande: Zu den vielen Herausforderungen, die ‚Es lacht in dem steigenden jahr dir‘ birgt, kommt meine eigene, besondere Beziehung zu eben diesem Gedicht. Ich legte es dem Verleger vor, um ihn von der Qualität Georges zu überzeugen und auch von der Notwendigkeit, ihn zu übersetzen. Vor einiger Zeit fragte ich außerdem Ute Oelmann, welches Gedicht Georges sie am liebsten habe. Ihre Antwort: ‚Es lacht in dem steigenden jahr dir‘. Natürlich war nun das Bedürfnis, es so perfekt wie möglich zu übersetzen, viel größer. Stefan George, „Nada hay donde la palabra quiebra“ (Anm. 1), S. 117.
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erste; oder ‚Reich‘, das man mit ‚reino‘ und ‚imperio‘ übersetzen kann, ein Unterschied, dessen Interpretation entscheidend war, um George als Vorläufer des ‚Dritten Reichs‘ hinzustellen. ‚Reich‘ wurde von mir als ‚reino‘ übersetzt, nicht zuletzt aufgrund der Assoziation zum ‚Reino de Dios‘, dem ‚Reich Gottes‘ auf Erden, wobei hier sowohl auf die politische als auch auf die religiöse Konnotation angespielt wird. Wörter wie ‚Wecker‘ hingegen können zu unfreiwillig komischen Übersetzungen führen, was natürlich bei George zu vermeiden ist, da seine Texte nicht nur bar jeder Komik sind, sondern sich durch das Fehlen von Ironie, Humor und Heiterkeit auszeichnen. Sie sind also auch in der Übersetzung unbedingt zu vermeiden, weil sie ein falsches Bild des Autors, seiner Texte und seines literarischen Programms vermitteln, weshalb in der Anthologie etwa auf dieses Gedicht verzichtet wurde: Wem Du dein licht gabst bis hinauf zu dir Weiss dass er nie dich sagen darf und wort Das dafür steht hinausgebracht zur menge Nur eine weile wirkt und dann verdirbt Bis neuer wecker kommt der neu es spendet. Will ich mein ganzes teil von dir erobern So muss ich sehn wie ich ein eines fasse Wie ich im raum den du mir maassest hafte Bedingte arbeit meines tags vollbringe Und mit dem traum von morgen mich vermähle.37
Georges Prosa schließlich verweist auf eine zusätzliche Schwierigkeit. Die ‚Vorrede zu Maximin‘ zeichnet sich durch eine Wucht, Ernsthaftigkeit und zeremoniöse Schwere aus, die im Spanischen kaum nachzuvollziehen ist. Vor allem würde der Leser, der George nicht kennt, diese kaum verstehen. Darin besteht eines der Probleme der Rezeption Georges: Ein Teil seiner Prosa und Lyrik ist ohne weiteres als Literatur zu genießen. Der andere Teil seines Werks hingegen setzt umfassende Kenntnisse voraus, nicht nur um gelesen, sondern um überhaupt verstanden zu werden, so dass wohl nicht jedermann fähig ist, seine Texte angemessen zu würdigen. Zusammenfassend sei gesagt, dass man als Übersetzerin Georges sehr wohl imstande ist, sowohl den Inhalt relativ getreu wiederzugeben als auch klanglich nah am Ausgangstext zu bleiben, wenn man die Konzep37
SW VIII, S. 24; Hervorhebung C. G. G.
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tion des Autors, seine poetische Intentionalität und die Funktion seiner Lyrik berücksichtigt. Wenn sich auch die Idee von der Unsichtbarkeit des Übersetzers als falsch herausstellt, so sind Georges Texte auf eine Weise zu übersetzen, dass der Leser das Gefühl hat, dem Dichter selbst begegnet, mit ihm in einen persönlichen Dialog getreten zu sein. Vielleicht kann ja das anfängliche Misstrauen, das auf der Gewissheit gründet, die Übersetzung von Lyrik sei unmöglich, zumindest zum Zweifel an dieser Auffassung werden, denn es gibt kein traurigeres Schweigen als die verstummte Stimme eines Dichters, den niemand zu übersetzen wagt.
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Stefan Georges Kriegstriptychon. Über die Gedichte ‚Der Krieg‘, ‚Der Dichter in Zeiten der Wirren‘, ‚Einem Führer im ersten Weltkrieg‘ und ‚Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande‘1 Ein Triptychon ist, wie das griechische Kompositum andeutet, ein dreigeteiltes Bild oder, präziser formuliert, ein Ensemble von drei inhaltlich aufeinander bezogenen Bildern. Wir kennen Triptychen vor allem von den Hochaltären großer Kirchen, deren bildkünstlerischer Aufbau meist aus einem Triptychon mit Predella besteht, also aus einem breiten Hauptstück mit zwei jeweils halb so breiten Seitenteilen und – in der Regel – einer Predella, einem niedrigen ‚Stufenbild‘, das so breit ist wie der Hauptteil des Triptychons und dieses wie ein Sockel über den Altartisch, die Mensa, erhebt. Alle haben wir wohl Matthias Grünewalds monumentalen ‚Isenheimer Altar‘ vor Augen, der im Hauptoder Mittelteil Christus am Kreuz zeigt, umgeben von seiner Mutter Maria, dem Jünger Johannes, Maria Magdalena und Johannes dem Täufer, auf den Seitenflügeln den heiligen Sebastian sowie den heiligen Antonius, die leicht dem Kreuzigungsbild zugewandt sind, und in der Predella, die wegen ihrer geringen Höhe nur für sitzende oder liegende Figuren Raum bietet, die Grablegung oder Beweinung Christi. Im Mittelteil ist also das bedeutendste heilsgeschichtliche Ereignis zu sehen, der Opfertod Christi, der in der Grablegung seinen Abschluss findet, auf den Seiten zwei vorbildliche Figuren der Nachfolge und der Deutung. Neben den vielen alten und sakralen Triptychen gibt es auch eine beträchtliche Anzahl moderner und nicht-sakraler oder profaner Triptychen, zum Beispiel August Mackes ‚Großen Zoologischen Garten‘ von 1913, gut ein Dutzend Triptychen von Max Beckmann aus der Zeit des Exils und nicht zuletzt Otto Dix’ Triptychen ‚Großstadt‘ und ‚Der Krieg‘ aus der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Das 1927/28 begonnene und 1
Dieser Beitrag ist nach einem Vortrag auf der Jahrestagung der Stefan-GeorgeGesellschaft, Bingen, Oktober 2014, entstanden.
DOI 10.1515/george-2016/2017-0009
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1932 abgeschlossene Triptychon ‚Der Krieg‘2 bildet den Höhepunkt und Abschluss jener zahlreichen Bilder und Graphiken, in denen Dix, der am 22. August 1914 eingezogen wurde und den Krieg bis zum Ende im Wesentlichen an der Westfront mitmachte, seine Kriegserfahrung künstlerisch verarbeitete. Dix diente zunächst als Artillerist, dann als Angehöriger einer Maschinengewehrabteilung und schließlich als deren Führer. Sein Kriegstagebuch, seine Feldpost und viele Fotografien zeigen ihn als einen durchaus kämpferisch gestimmten Soldaten.3 Auch als Künstler war ihm der Krieg nicht nur zuwider. Am 30. Mai 1916 beendete er in seinem Tagebuch eine kurze Reflexion über den Krieg mit dem Bekenntnis: „Der Künstler: Einer der den Mut hat ja zu sagen.“4 Für seine mutigen und effektiven Einsätze wurde Dix mehrfach ausgezeichnet. Sein Kriegstriptychon lässt davon aber nichts mehr spüren. Es besteht aus vier Bildern, die thematisch enger als Grünewalds Tafeln miteinander verbunden sind und insgesamt ein dichtes Bild des Krieges als reines Inferno ergeben: Der linke Flügel zeigt eine endlose Kolonne von Soldaten, die in nebliger Morgendämmerung mit Stahlhelmen und steil aufragenden Karabinern zum Einsatz marschieren. Das große mittlere Bild eröffnet einen schockierenden Blick auf eine zwischen zerschossenen Häusern liegende Grabenstellung voller grausig zerfetzter Leiber, unter denen freilich noch eine unversehrt wirkende Gestalt mit Gasmaske sitzt, ein Soldat wohl, der die Artilleriebeschießung bis dahin überlebt hat. Der rechte Seitenflügel zeigt eine abendlich wirkende Szene am Rande des Schlachtfelds: Ein waffenloser Soldat, dessen Gesicht an Otto Dix selbst erinnert, schleppt mit wirrem Blick einen schwer verwundeten Kameraden über einen auf dem Boden kriechenden und einen tot daliegenden Soldaten aus der Feuerzone heraus. Die Predella gewährt Einblick in einen Holzverschlag, in dem einige Soldaten im Schlaf liegen, teils mit Stiefeln an den Füßen, sei es, weil sie nicht mehr die Kraft hatten, sie auszuziehen, sei es, weil sie vor dem Einschlafen eine neue Beschießung oder einen plötzlichen Einsatzbefehl fürchteten. Der Vergleich mit Grünewalds Passionstriptychon zeigt 2
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Die folgenden Ausführungen stützen sich auf den vorzüglich informierenden Bildband der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden: Birgit Dalbajewa / Simone Fleischer / Olaf Peters (Hg.): Otto Dix. Der Krieg – das Dresdner Triptychon, Dresden 2014. Vgl. ebd., S. 14–67. Ebd., S. 19.
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einen bedeutungsvollen Unterschied: Dix verzichtet völlig auf Figuren, die über das Inferno des Krieges hinausweisen und irgendeine positive Perspektive – etwa auf eine Zeit des Friedens und des Wiederaufbaus – eröffnen. Der Krieg erscheint in Dix’ Triptychon als reine und brutale, in den Tod oder den Irrsinn treibende Vernichtung. Anders bei Stefan George, der in der Auseinandersetzung mit dem Krieg einige Gedichte geschaffen hat, die, würde man sie in einer bestimmten Ordnung nebeneinander legen, ein Triptychon im Sinne des Isenheimer Altars ergeben würden. Es sind die Gedichte ‚Der Krieg‘, ‚Der Dichter in Zeiten der Wirren‘ und ‚Einem jungen Führer im ersten Weltkrieg‘, die zu Beginn des Bandes ‚Das Neue Reich‘ unmittelbar aufeinander folgen, aber auch als Triptychon arrangiert werden könnten: In der Mitte würde sich das Kolossalgemälde ‚Der Krieg‘ entfalten; auf den beiden Seiten träten mit dem ‚Dichter in Zeiten der Wirren‘ und dem ‚Jungen Führer im ersten Weltkrieg‘ zwei Figuren in Erscheinung, die in einem deutlichen (und noch zu erläuternden) Bezug zum Zentralgedicht stehen. Und auch eine Predella fände sich im ‚Neuen Reich‘, nämlich das Gedicht ‚Wenn einst dies Geschlecht sich gereinigt von Schande‘, das die Abteilung ‚Sprüche an die Toten‘ einleitet.5 Dass ich diese vier Gedichte im Zusammenhang sehe und als Triptychon mit Predella verstehe, kommt nicht von ungefähr, sondern wird – außer durch den inhaltlichen Bezug – auch durch die Anordnung im ‚Neuen Reich‘ und durch die Druckgeschichte nahegelegt. Der inhaltliche Bezug zwischen den drei zuerst genannten Gedichten ist leicht erkennbar und wird durch die Aneinanderreihung im ‚Neuen Reich‘ unterstrichen. Auf den Gedanken, dass das zuletzt genannte Gedicht ‚Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande‘ als vierter Teil eines kleinen Zyklus – oder eben eines Triptychons mit Predella – zu sehen ist, müsste man nicht unbedingt kommen, doch wird er eben durch die Druckgeschichte insinuiert; denn diese vier Gedichte hat George, was eine Ausnahme darstellt, in zwei Separatdrucken fast gleicher Auf5
Die Gedichte werden zitiert nach: Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff. Im Folgenden mit SW, Bandnummer und Seitenzahl bezeichnet. ‚Der Krieg‘: SW IX, S. 21–26; ‚Der Dichter in Zeiten der Wirren‘: SW IX, S. 27–30; ‚Einem jungen Führer im Ersten Weltkrieg‘: SW IX, S. 31–33; ‚Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande‘: SW IX, S. 90.
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machung publiziert: ‚Der Krieg‘ erschien 1917 im Verlag Georg Bondi als Einzeldruck auf acht Seiten gelblichen Papiers in einem gelben Papierumschlag mit schwarzem Aufdruck; die drei anderen Gedichte erschienen vier Jahre später, 1921, unter dem Titel ‚Drei Gesänge‘ ebenfalls bei Georg Bondi und wiederum auf acht Seiten gelblichen Papiers, allerdings in einem blauen Umschlag mit Goldaufdruck.6 Die Einbandfarben sind – natürlich – bedeutungsvoll: Der Krieg – nein: dieser scheinheilige Krieg – verdiente kein Blau und Gold; wohl aber verdienten dies die Gedichte auf diejenigen, die aus diesem Konglomerat von Illusionen und Phrasen, subjektiven Heldentaten und objektiven Irrtümern heraus in eine bessere Zukunft führen sollten. Aber trotz der Farbunterschiede: Es ist deutlich, dass George sein Gedicht ‚Der Krieg‘, das geprägt ist von der Kritik des „Siedlers auf dem berg“ (SW IX, S. 22, Strophe II, Vers 1), mit den ‚Drei Gesängen‘ ergänzen und überwinden wollte. Der heillose Krieg sollte das Bewusstsein nicht auf Dauer bestimmen und verdüstern; der Unheilsgeschichte musste eine heilsgeschichtliche Perspektive gegeben werden. Dem dient die triptychonartige Rahmung der Rede des „Siedlers“, die unter dem Leitaspekt der „fem“ steht, durch die drei ‚Gesänge‘. Es ist „pontifikale“ Lyrik (Bertolt Brecht7) in Hochform, hochpriesterlich-prophetischer Ton und soteriologischer Inhalt, der durch biblische Bezüge und zumal Christus-Analogien legitimiert wird: Ist der „Siedler auf dem berg“ zu seiner Rede doch nur fähig und berechtigt, weil er wie Christus am Ölberg – nach Lukas 22,44 – lange den „roten schweiss der angst geschwitzt“ hat (II,5).8 Meine Absicht ist es, diese vier Gedichte in ihrem Zusammenhang oder Zusammenspiel zu betrachten, also nicht nur nach dem Gehalt je6
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Vgl. die Hinweise der Herausgeberin Ute Oelmann in George, Sämtliche Werke, hier SW IX, S. 127. Brecht wertete George am 22. August 1940 in einer überaus bemerkenswerten Notiz seines Arbeitsjournals als einen letzten (und „konterrevolutionären“) Vertreter der „pontifikalen Linie“ der deutschen Lyrik, deren reinster Exponent Brecht zufolge Hölderlin war: vgl. Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, hier: Band 26: Journale 1. 1913–1941, Berlin – Weimar – Frankfurt am Main 1994, S. 416f. Weitere Hinweise bei Katharina Mommsen und Momme Mommsen: „Ihr kennt eure Bibel nicht!“. Bibel- und Horaz-Anklänge in Stefan Georges Gedicht ‚Der Krieg‘. In: Castrum Peregrini 170, 1985, S. 42–69.
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des einzelnen zu fragen, sondern auch und vor allem nach der Funktion für das ganze Ensemble – oder eben für Georges Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg. Das erste dieser vier Gedichte, ‚Der Krieg‘,9 ist eine Erörterung der quasi heilsgeschichtlichen Bedeutung des Ersten Weltkriegs, bestehend aus diagnostischen und prophetischen Ausführungen mit Bezugnahmen auf die Passion Christi (wie eben erwähnt) und die Geheime Offenbarung, die sich nicht nur in wörtlichen Anspielungen zeigen, sondern auch in der Bauform des Gedichts: Mit seinen „12 × 12 reihen“, wie George sagte,10 also mit seinen zwölf Strophen zu jeweils zwölf Versen, orientiert sich das Kriegsgedicht an der Vision des neuen, himmlischen Jerusalem, dessen Umfang der Geheimen Offenbarung zufolge 12.000 Stadien misst und das zwölf Grundsteine sowie zwölf Tore mit zwölf Engeln aufweist (Offb. 21, 9–17). Es spricht ein Apokalyptiker, der zunächst einmal eine katastrophale geschichtliche Verfehlung zu enthüllen hat; aber in der äußeren Länge und Form seiner Rede zeigen sich nicht nur die Dauer und Wucht des unheilvollen Geschehens, sondern bereits auch eine mögliche neue Ordnung von strenger und strahlender Schönheit (zumal wenn man die in der Geheimen Offenbarung 21, 18–21 geschilderte Schönheit des himmlischen Jerusalem mitbedenkt). Der Sprechende tritt zunächst als Visionär auf, der – „auf dem berg“ siedelnd (II,1) – den Illusionen, Verblendungen und Vereinseitigungen der Kriegsparteien entzogen ist, sodann – in dichter Folge – als „Seher“ (III,1), der Unheilvolles und Unliebsames zu verkünden hat, schließlich aber auch als ‚Sänger‘, wenn er zu Beginn der elften Strophe betont, dass „der sang nicht mit fluch“ ende (XI,1), und überdies auf seinen im Gedicht bereits artikulierten „preis auf stoff und stamm“ (XI,2) hinweist. Diese Janusköpfigkeit des Sprechenden wird zu Beginn der vierten Strophe in zwei Additionsreihen verdeutlicht, wenn es heißt: „SEIN amt ist lob und fem · gebet und sühne“ (IV,1), wobei unter „fem“ nicht 9
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Die folgenden Ausführungen stützen sich außer auf die publizierte Forschungsliteratur auf eine außerordentlich umsichtige und eindringliche Examensarbeit, die bisher nicht gedruckt ist: Daniel Steimer: Stefan George / Der Krieg, Heidelberg 2012 (unpubliziert). In vielen Punkten gehen die historischen Hinweise und analytisch-interpretatorischen Ausführungen weit über das hinaus, was hier gesagt werden kann. Stefan George / Friedrich Gundolf: Briefwechsel. Hg. von Robert Boehringer und Georg Peter Landmann, München – Düsseldorf 1962, S. 305.
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nur Tadel zu verstehen ist, sondern Verurteilung und geistige Bestrafung für Verfehlungen, die durch Gebet und Sühne aufgehoben werden müssen. Im Gedicht ist allerdings ein starkes Ungleichgewicht von „lob und fem“ zu beobachten, und zudem wird die Reihenfolge umgekehrt: Zehn lange Strophen dienen fast ausschließlich der „fem“, bevor mit den beiden letzten Strophen an Momente von „preis“ erinnert und „lob“ angestimmt wird. „Fem“ ist also das Leitwort. Die ersten zehn Strophen sind eine einzige Destruktion von Kriegsbegeisterung, positiv scheinender Kriegserfahrung und Kriegsrechtfertigung, eine Destruktion, die auch die bescheidensten Ansätze von Lob und Anerkennung unterminiert und revoziert: Was Lob verdient hätte, nämlich der in der ersten Strophe beschriebene Zusammenschluss des Volkes in der Stunde der Not zu Beginn des Krieges und die hochgemute Abwendung vom nichtigen Getriebe („wust und tand“) der „feigen“ oder anstrengungslosen und bequemen Friedensjahre, wird gleich noch in der ersten Strophe als Ergriffenheit eines flüchtigen „augenblick[s]“ entlarvt, als ein „verworrnes ahnen“ von geschichtlicher Größe, das weder Deutlichkeit noch Dauer erlangt hat. Der letzte Vers betont neben der Flüchtigkeit den Illusionismus dieser Stimmung: „Das volk […] sah sich gross in seiner not“; wohlgemerkt: sah sich groß, nicht etwa war oder wurde groß in seiner Not. Die zweite Strophe setzt voraus, dass ein Umschlag ins Negative eingetreten ist, der das Volk „erschüttert“ hat, weswegen seine Vertreter nun zum „Siedler auf dem berg“ kommen und ihm Vorhaltungen über seine distanzierte Haltung machen. Sie bekommen aber weder Trost noch Hilfe; vielmehr müssen sie sich sagen lassen, dass das „trübste“ erst noch kommen wird, und erfahren, weil sie immer noch in Illusionen befangen sind, eine herbe Zurückweisung: „Am streit wie ihr ihn fühlt nehm ich nicht teil.“ Das falsche Fühlen und Denken des Volkes wird in der dritten Strophe konretisiert: Mit Hilfe völkerpsychologischer Stereoptypen von „heimischer [deutscher] tugend und von welscher [französischer] tücke“ wälzen „weib“, „bürger“ und „graue[r] bart“ die Schuld am harten und drastisch benannten Los von Söhnen und Enkeln, an deren „Verglasten augen und zerfeztem leib“, auf die Kriegsgegner ab. Sie verkennen damit, was die eigentlichen Ursachen für diesen Krieg sind und was mit ihm eigentlich beseitigt oder überwunden werden müsste: „Angehäufte frevel“, die von allen sowohl not-
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wendig („zwang“) als auch zuträglich („glück“) genannt werden, obwohl sie, was man sehen kann (oder könnte) und sich deswegen „verhehl[en]“ muss, auf eine Verkümmerung des Menschen und Zerstörung des Lebens hinauslaufen. Das führt zu dem schroffen und extrem hartherzig wirkenden Spruch des Sehers: „Was ist IHM mord von hunderttausenden | Vorm mord am Leben selbst?“ Das ist oft als mitleidloser und menschenverachtender Zynismus verurteilt worden, doch kann es sich nicht darum handeln: Der „Seher“ weiß ja nicht nur von der „söhn und enkel | Verglasten augen und zerfeztem leib“, sondern macht diese gewichtig, indem er sie in die Schlusszeile der dritten Strophe stellt, so dass sie die Unheilsanalyse der dritten Strophe pointieren, bevor der „Seher“ sich zum „fem“-Redner wandelt. Es fehlt ihm also nicht an Empathie, doch scheint es so zu sein, dass der „Seher“ an dieser Stelle Empathie auch für andere Opfer hat und eine Wahrheit ausspricht, die für die bürgerliche prosperierende Wohlstands- und Konsumgesellschaft sehr unangenehm ist: dass ihr Wohlstand, ihre Fülle an Gütern auf einer planmäßigen und rücksichtslosen Ausbeutung oder gar Vernichtung von menschlichem Leben durch Versklavung oder durch Vorenthaltung von Lebensmöglichkeiten sowie durch letale Ausbeutung der Arbeits- und Lebenskraft von Hekatomben von Menschen beruht. Im selben Jahr, 1917, in dem George sein Kriegsgedicht publizierte, erschien bei Orell Füssli in Zürich unter dem Titel ‚Die Biologie des Krieges‘ eine zuvor im Deutschen Reichstag diskutierte Abhandlung des Berliner Charité-Arztes, Physiologen und Pazifisten Friedrich Georg Nicolai, der bald nach Kriegsausbruch begonnen hatte, den Krieg unter anderem mit Hilfe statistischer Methoden nach entwicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkten zu betrachten. Seine Befunde sind erschütternd und eröffnen eine ganz neue Perspektive: Sehen wir den Krieg vom Standpunkt der gesamten Menschheit an, so werden wir fast versucht, über die Geringfügigkeit seiner Wirkungen zu lächeln. In jeder Sekunde stirbt etwa ein Mensch auf Erden, aber selbst der mörderische Weltkrieg von 1914 hat es kaum vermocht, diese Ziffer in die Höhe zu schrauben: infolge dieses Krieges sind im Durchschnitt in jeder Minute statt sechzig etwa vierundsechzig Menschen gestorben. Wir überschätzen eben aus unbewußter Sentimentalität heraus die Opfer des Krieges! – Immerhin könnte man sagen, im Krieg sterben junge, lebenskräftige Menschen. Gewiß, das ist richtig, aber die oben zitierte Unfallstatistik, wonach jährlich 35,000 an sich lebenskräftige Deutsche durch Unfälle zugrunde gehen, beweist, daß auch hier der Krieg zu wichtig genommen wird.
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Dieser Eindruck von der Belanglosigkeit des Krieges wird noch erhöht, wenn wir seine Opfer mit denen des Wirtschaftskampfes genauer vergleichen. Des Menschen Leben währet siebenzig Jahre, und in der Tat sehen wir, daß in bequemen und auskömmlich bezahlten Berufen, wie sie von Gelehrten, Pastoren, Monarchen, Staatsmännern usw. ausgeübt werden, eine große Zahl von Menschen dies Alter erreicht. – Der Arbeiter wird aber im Durchschnitt nur höchstens vierzig Jahre alt. Tuberkulose, Unterernährung und bestimmte Berufskrankheiten (die man bezeichnenderweise Malerkolik, Gießfieber, Schleifer-Bergarbeiterkrankheit usw. nennt) erledigen ihn vorzeitig. Auch Ausdrücke wie Steinhauer-Lunge, Phosphor-Leber, Steinträger-Herz usw. beweisen, daß man nicht darüber im Unklaren ist, warum diese Menschen so früh zugrunde gehen. Von den Einwohnern Europas sterben in jedem Jahr etwa zwölf Millionen, das macht im letzten Jahrhundert mehr als eine Milliarde. Da diese im Durchschnitt dreißig Jahre zu früh gestorben sind, so sind im letzten Jahrhundert rund sechsunddreißig Milliarden Menschenjahre allein in Europa auf diese Weise vernichtet worden. Nehmen wir nun auch an, daß im letzten Jahrhundert in Europa etwa dreißig Millionen Menschen direkt oder indirekt infolge des Krieges gestorben sind, deren Lebenszeit gegenüber dem Durchschnitt etwa um zwanzig Jahre verkürzt worden ist, so sind demnach durch den Krieg doch nur etwas über eine halbe Milliarde Lebensjahre vernichtet worden. Wir sehen also, daß die Kriegsopfer nur ein Sechzigstel der Opfer des industriellen Schlachtfeldes betragen. Wahrlich, angesichts dieser Zahlen kann man nicht sagen, daß der Krieg die grausamste und härteste Form des Kampfes auf unserer Mutter Erde ist.11
Nicolai hätte George wohl darin zugestimmt, dass der Tod von Hunderttausenden im Krieg nicht schwerer wiege als die permanente Vernichtung von Leben im Produktionskampf und Wirtschaftskrieg. Man muss sich diese These nicht zu eigen machen; sie ist exzentrisch und hat – bei George wie bei Nicolai – ihren Sinn nur in der sozialethischen Kritik am Krieg wie an jeder Form von utilitaristischer Lebensvernichtung. Es ist jedoch deutlich, dass die vielfach kritisierten Verse III, 6–7 nicht einfach inhuman oder zynisch genannt werden können, sondern einen zutiefst humanen Aspekt haben – der freilich nicht gleich sichtbar wird, weil George sie im Sinne seiner von Wolfgang Braungart profilier-
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Georg Friedrich Nicolai: Die Biologie des Krieges. Betrachtungen eines Naturforschers den Deutschen zur Besinnung. Erste Originalausgabe. Band 1: Kritische Entwicklungsgeschichte des Krieges, Zürich 1919, S. 139f. – Die erste Ausgabe von 1917 war eine unautorisierte Ausgabe.
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ten „Poetik der Entschiedenheit“12 in schroffer Umstandslosigkeit ohne plausibilisierende Begründung formuliert hat. Mit der vierten Strophe präzisiert der Sprechende seine Haltung und seine Aufgabe in der Zeit des Krieges: Obwohl er am verfehlten „streit“ der anderen nicht teilhaben will, „liebt und dient“ er, indem er die Jüngsten – das heißt wohl: Kriegsdienstfähigen – seiner „teuren“ „mit segenswunsch“ aussendet oder eigentlich ziehen lässt, denn sie scheinen dem eigenen Trieb zu folgen. Die Frage stellt sich, warum er sie nicht von dem verfehlten Krieg zurückhält. Die Antwort ist wohl eine kriegsidealistische, die, an traditionellen Vorstellungen von notwendigen und ritterlichen Kriegen festhaltend, in der Bewährung im Krieg den Ausweis echter Männlichkeit und eine Erfahrung von besonderem Wert und grundlegender existentieller Bedeutung sah. Ernst Jünger hat dies mehrfach und auf eine Weise zu benennen versucht, die man, wenn man sich Dix’ Kriegsbilder oder Jüngers Schlachtschilderungen vor Augen hält, schwer nachvollziehen kann und gewiss nicht teilen mag, die aber als historischer Ausdruck des Versuchs einer Erfahrungsbewältigung zur Kenntnis genommen werden sollte. In einem Aufsatz, der im September 1925 unter dem Titel ‚Der Frontsoldat und die Wilhelminische Zeit‘ in der ‚Standarte‘, einer Zeitschrift des ‚StahlhelmBundes der Frontsoldaten‘, erschien, versucht Jünger zu verdeutlichen, was es hieß, als junger und in seiner Persönlichkeitsbildung noch nicht abgeschlossener Mann durch den Krieg aus der bürgerlichen Sphäre herausgerissen zu werden: „Er betrat eine neue, unbekannte Welt, und dieses Erlebnis rief in vielen jene völlige Veränderung des Wesens hervor, die sich am besten mit der religiösen Erscheinung der ‚Gnade‘ vergleichen lässt, durch welche der Mensch plötzlich und von Grund auf verwandelt wird.“13 Ein weiterer Deutungs- und Kanonisierungsversuch findet sich im ‚Abenteuerlichen Herzen‘ von 1929. Dort spricht Jünger von der „unvergleichlichen Schule des Krieges“, in der sich „das Leben in seiner höchsten Flutung und äußersten Möglichkeiten dargeboten“ habe und die „Eingangspforten in entscheidende Abschnitte des
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Vgl. Wolfgang Braungart: Metánoia. Georges Poetik der Entschiedenheit. In: Ute Oelmann / Ulrich Raulff (Hg.): Frauen um Stefan George, Göttingen 2010, S. 59–83. Ernst Jünger: Politische Publizistik. 1919 bis 1933. Hg. von Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001, S. 78–85, hier S. 79.
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Seelentumes“ aufgestoßen worden seien.14 Wer sich im Krieg auf die Probe stellte und sie bestand, erwies sich – für Jünger und wohl auch für George – als Herr seines Lebens und gab ihm zugleich eine höherwertige, existentielle Basis. Deswegen verdienen die „teuren“, die da hinauszogen, „lob“. Aber ihrem Einsatz droht die Gefahr, durch Umstände, die nun wieder in den Bereich der „fem“ gehören, sinnlos oder gar pervertiert zu werden. Sinnlos würde ihr Einsatz durch einen zu leichten Schluss, womit ein vorzeitiges Kriegsende durch einen ungerechtfertigten Sieg oder einen ‚kompromisslerischen‘ Verhandlungsfrieden gemeint sein dürfte; pervertiert würde er durch jene ominöse „Blut-schmach“ (IV,10), für die seit Friedrich Wolters’ und Ernst Morwitz’ Tagen mehrere Deutungen angeboten wurden,15 aber Einhelligkeit bis heute nicht erreicht wurde. Vielleicht muss man sich mit Ernst Osterkamp mit der Einsicht begnügen, dass George die Bedeutung von „Blut-schmach“ „absichtsvoll im Unentschiedenen belassen“ und damit einen „weiten Assoziationshof“ geschaffen hat, den seine Leserschaft mit ihren Ängsten vor afrikanischen Truppen („schwarze Schmach“), mit „antisemitischen Aggressionen“ oder „eugenischen Phantasmen“ füllen konnte.16 Dann aber auch mit anderem, was nicht von außen an das Gedicht herangetragen, sondern durch das Gedicht selbst nahegelegt wird: Warum sollte die schmähliche Versündigung am Blut, verstanden als der Essenz des Lebens oder der Lebenskraft, nicht in dem in der vorausgehenden Strophe beklagten „Abfall“ vom Menschen und „mord am Leben“ durch schamlosen Utilitarismus bestehen? Oder in der bedenkenlosen Aufopferung des „makelfrei[en]“ und allein „heilig[en]“ Blutes der „jüngsten der teuren“ in einem unrühmlichen Krieg, wie ihn die folgende fünfte Strophe beschreibt. Nichts spricht dafür, dass George die ‚schwarze Schmach‘ im Auge hatte oder von antisemitischen Regungen oder eugenischen Vorstellungen geleitet wurde. Heftig kritisiert wurde auch der Schluss der vierten Strophe: „Stämme | Die sie [die Blut-schmach] begehn sind wahllos auszurotten |
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Ernst Jünger: Sämtliche Werke, Stuttgart 1978ff. Hier Band 9: Essays I, Stuttgart 1979, S. 98 und S. 144. Vgl. den Kommentar in SW IX, S. 140. Ernst Osterkamp: Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich, München 2010, S. 200.
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Wenn nicht ihr bestes gut zum banne geht“. Wiederum wird mit schroffer Entschiedenheit geredet und eine „fem“ verkündet, die an die Ausrottungsvorstellungen des Alten Testaments erinnert.17 Aber man sollte nicht übersehen, dass diese Verurteilung durch einen Konditionalsatz eingeschränkt oder aufgehoben wird: Sie gilt nur, wenn nicht ihr „bestes gut“ – die „makelfrei[e]“ Jugend – „zum banne geht“, was wohl heißt: den „banne“ ausspricht und zur Verurteilung und Bestrafung oder Reinigung schreitet.18 Wiederum kann man dies auf den „Abfall“ vom Menschen und den „mord am Leben“ beziehen und ebenso auf die Perversion des Krieges. Die fünfte Strophe setzt die Entlarvung dieses unheiligen Krieges fort: Die Soldaten oder „Krieger“, wie Ernst Jünger zu sagen liebte, sterben nicht mehr im heldenhaften Kampf, sondern werden – zu etwa sechzig Prozent, wie die Verluststatistiken des Ersten Weltkriegs ausweisen19 – von der Artillerie zu „brei und klumpen“ geschlagen, wie George mit schonungsloser Drastik formuliert. Es ist – in Georges Sicht – das Selbstgericht der modernen, technisch entgleisten und menschenverachtenden Welt. Neues kann aus diesem Krieg nicht hervorgehen, umso weniger, als die Repräsentanten dieser Welt, wie die sechste Strophe sagt, nur lächerliche Schauspieler oder uninspirierte Bürokraten sind. Auch jener biedere „greis“, der aus dem fahlen Hannover emporstieg, der Ende August 1914 zwecks Abwehr der russischen Offensive reaktivierte General Paul von Hindenburg, konnte das Reich nur vor dem äußeren Feind retten, nicht aber vor dem „schlimmren feind“: dem ideellen Verfall, so wird man ergänzen dürfen, der „Blutschmach“, dem lebenzerstörenden „Abfall“ vom Menschen. Die siebte Strophe gilt der Kritik der Masse, die auf ihre Opfer verweist und Anerkennung fordert. Doch diese sind wertlos, weil in „verruchter zeit“ erbracht, und werden – anders als beispielsweise die 480 v. Chr. bei den Thermopylen gefallenen dreihundert Spartaner, an
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Vgl. beispielsweise Josua 11,11 und 20, sowie Jesaia 34,5–15. Die Interpretation, dass der Soldat „in eine freiwillige Verbannung“ / „ins Exil“ geht, scheint mir weniger plausibel zu sein, weil dann die Bestrafung oder Korrektur der sich am Blut vergehenden „Stämme“ entfallen würde. Vgl. Benjamin Ziemann: Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten, Überleben, Verweigern, Essen 2013, S. 28f.
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die George 1916 einmal ausdrücklich erinnerte20 – wegen ihrer „ziellos[en]“ Beliebigkeit oder Zufälligkeit nicht zu einem „sinnbild“ für Werte, für die nicht nur zu leben, sondern auch zu sterben sich lohnen würde. Diese von George unterstellte Unfähigkeit der „Menge“ oder Masse wurde einerseits geschichtlich durch den Kult des ‚Unbekannten Soldaten‘ widerlegt, der am 11. November 1920 in der feierlichen Bestattung eines anonymen Soldaten unter dem Arc de Triomphe in Paris seinen Ausdruck fand und auch in Deutschland aufgegriffen wurde. Ernst Jünger hat darüber mehrfach, im November 1925 und – ausführlich – im Dezember 1926 in einem ‚Nationalistischen Brief‘ aus Paris geschrieben,21 ebenso in seinem zeitanalytischen und geschichtsprognostischen Großessay ‚Der Arbeiter‘ von 1932, in dem der „namenlose Soldat“ des Ersten Weltkriegs zum Prototypen der kollektivistischen und militärisch durchgeformten modernen Arbeitsgesellschaft erhoben wird.22 Andererseits behält George auch bis zu einem gewissen Grad Recht. Denn anders als die dreihundert Spartaner, die durch ihren Widerstand bei den Thermopylen das Vordringen des persischen Heeres für eine Weile aufhielten und dadurch den späteren erfolgreichen Abwehrkampf der Griechen ermöglichten, ist der ‚Unbekannte Soldat‘ nicht „sinnbild“ für einen bestimmten Wert (wie Unabhängigkeit oder Freiheit), der durch eine vorbildliche Tat gesichert wurde, sondern nur für die reine, anderen zur Disposition überlassene Verfügbarkeit ohne Ende. In Jüngers ‚Arbeiter‘ figuriert der „namenlose Soldat“ als „Träger eines Höchstmaßes von aktiven Tugenden, von Mut, Bereitschaft und Opferwillen […]. Seine Tugend liegt darin, daß er ersetzbar ist und daß hinter jedem Gefallenen bereits die Ablösung in Reserve steht.“23 George hätte dies vermutlich mit Zustimmung für die Opferbereitschaft gelesen, aber auch mit Vorbehalten gegen die instrumentalisierbare Anonymität der Ziele und gegen den Gedanken der endlosen Austauschbarkeit. 20
21 22
23
Vgl. Edgar Salin: Um Stefan George, Godesberg 1948, S. 39: „Also wo sehen Sie Sinnbildliches, wenn Massen sich ziellos bekämpfen? 300 Spartaner, die mit Leonidas fielen, schufen ein Sinnbild für Hellas und für uns, weil sie nicht Masse waren […].“ Vgl. Jünger, Politische Publizistik (Anm. 13), S. 260–264. Jünger, Sämtliche Werke (Anm. 14), Abt. 2: Essays 2, Bd. 8: Der Arbeiter [u.a.], Stuttgart 1981, S. 157f. Jünger, Sämtliche Werke (Anm. 14), Bd. 8, S. 157.
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Die Strophen acht und neun üben Kritik an verschiedenen Formen der Erkenntnisverweigerung und Selbsttäuschung, in der die Menschen sich wiegen, indem sie von Erneuerung durch den Krieg und von einem kommenden Friedensreich schwärmen, ohne sich wirklich um innere Umkehr zu bemühen. Sie werden für diesen Illusionismus ein weiteres Mal knöchel- oder knietief im Blut waten müssen, wenn nicht – das ist die Hoffnung der letzten drei Verse der neunten Strophe – jener „nachwuchs“ sich durchsetzt, der kein „heuchel-auge“, sondern ein „schicksalsauge“ hat, sich also nicht der Selbsttäuschung überlässt, sondern die geschichtliche Wahrheit mit ungetrübtem Blick furchtlos, ohne vor Angst und Schrecken zu versteinern, ins Auge fasst. Wiederum finden sich in der Verurteilung des fatalen Illusionismus zwei Verse, die Kritik auf sich zogen: „Weit minder wundert es dass soviel sterben | Als dass soviel zu leben wagt.“ (IX, 1–2) Auch diese Verse werden gelegentlich als Ausdruck von Georges Inhumanität angeführt. In Wahrheit sind sie aber ein Ausdruck radikaler Humanität, die sich darüber empört, dass trotz des massenhaften Sterbens von Soldaten „soviel“ – durch Illusionen geschützt – „zu leben wagt“, anstatt, wie es eigentlich sein sollte, aus Abscheu und Empörung dem eigenen Leben ein Ende zu setzen. George könnte von Clara Immerwahr (Haber) gehört haben,24 der promovierten Chemikerin und Frau des Chemikers Fritz Haber, der seit 1910 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie war. Als dieser nach Beginn des Krieges mit Forschungen zum militärischen Einsatz von Giftgasen begann, kritisierte Immerwahr dies im Bekanntenkreis als Pervertierung der Wissenschaft und versuchte, ihren Mann von dem Vorhaben abzubringen. Vergeblich. Am 22. April 1915 wurden unter Habers Anleitung bei Ypern erstmals etwa 150 Tonnen Chlorgas gegen die feindlichen Stellungen geblasen. Das Gas setzte ungefähr 6.000 alliierte Soldaten außer Gefecht; etwa 3.000 von ihnen erlagen der Vergiftung. Haber, der im preußischen Heer wegen seiner jüdischen Herkunft nur den Rang eines Vizewachtmeisters hatte erlangen können, wurde für die Ermöglichung des Gaseinsatzes zum Hauptmann der Reserve befördert, und am 1. Mai wurden in der Haberschen Dienstvilla in Berlin-Dahlem Sieg und Beförderung mit einer großen Abendeinladung gefeiert. Am Morgen des 2. Mai aber 24
Zum Folgenden vgl. Gerit von Leitner: Der Fall Clara Immerwahr. Leben für eine humane Wissenschaft, München 1993, S. 157ff.
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erschoss sich Clara Immerwahr im Garten der Villa mit Habers Armeepistole. Die zehnte Strophe gilt den Fehlhaltungen und wechselseitigen Fehleinschätzungen der kriegführenden Nationen. Die Deutschen, so Georges Gedicht, rivalisierten schon vor dem Krieg mit den englischen ‚Krämern‘ oder ‚Händlern‘ und ließen darüber ihre eigenen „götter“ sterben, also ihre Bestimmung, ein Leben nach geistigen – statt nach ökonomischen und utilitaristischen Gesichtspunkten – zu führen. Franzosen und Engländer verharren im Gefühl alter Überlegenheit, zu dem im Krieg die Selbstgerechtigkeit trat, mit der sie die Deutschen als Verursacher des Krieges und als Zerstörer der europäischen Ordnung zu ‚verpönen‘ (also diskriminieren) suchten. Das lässt – aus heutiger Sicht – an den Paragraphen 231 des Vertrags von Versailles, der den Deutschen (und ihren Verbündeten, die aber nicht namentlich genannt wurden) die Alleinschuld am Krieg zuschrieb, vor allem aber an die zusätzliche Erklärung der alliierten „Mantelnote“ vom 16. Juni 1919. Diese bezeichnete die Auslösung des Krieges, die wiederum den Deutschen allein angelastet wurde, als „das größte Verbrechen gegen die Menschheit und gegen die Freiheit der Völker, welches eine sich für zivilisiert ausgebende Nation jemals mit Bewußtsein begangen hat“.25 George konnte dies antizipieren, weil die Verurteilung und Diskriminierung der Deutschen (oder ‚Hunnen‘) als destruktionslüsterne Kriegstreiber sofort nach Kriegsbeginn einsetzte und eine Hauptbotschaft der alliierten Kriegspropaganda war. Dem treten die letzten Verse mit einer zweifachen Apologie entgegen. Zunächst akzeptieren sie – eher hypothetisch als tatsächlich – den Destruktionsvorwurf, aber nur, um sogleich festzustellen, dass die „Verpönten“, wenn sie denn die Schuldigen am Krieg gewesen sind (oder eigentlich: gewesen wären), nur ‚zerstörten‘, was ohnehin „fallreif“ war. Sodann sprechen sie dem deutschen Volk – zumindest der Möglichkeit nach („vielleicht“) – eine geradezu heilsgeschichtliche Bedeutung zu, indem sie eine Analogie zwischen den Deutschen und den frühen Judenchristen herstellen. Denn wenn mit den letzten Versen gesagt wird, dass „die erlösung“ vielleicht ein weiteres Mal aus dem „Hass und Abscheu menschlichen geschlechtes“ kommen werde, so variiert 25
Bernhard Schwertfeger: Der Weltkrieg der Dokumente. Zehn Jahre Kriegsschuldforschung und ihr Ergebnis, Berlin 1929, Anlage 3: Mantelnote Clemenceaus vom 16. Juni 1919, S. 43*.
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diese von George in einfache Anführungszeichen gesetzte Formulierung eine Stelle aus Tacitus’ ‚Annalen‘, wo in Bezug auf die in Rom lebenden Judenchristen von einem „odium totius generis humani“ die Rede ist.26 Natürlich stellt sich sofort die Frage, worauf sich diese heilsgeschichtliche Erwartung stützt. Zwei Antworten sind denkbar. Eine erste gibt die elfte Strophe mit den alliterierenden Verweisen auf „stoff und stamm“, „kern und keim“, also die soliden und positiven, ursprünglichen und zukunftsträchtigen Bestände Deutschlands als dem Land, in dem die abendländische Kultur nach Zeiten des Verfalls und der Verwilderung zur Zeit der deutschen Klassik – Winckelmann, Goethe, Hölderlin – neu gefasst wurde.27 Eine zweite Antwort scheint mir in der zwölften Strophe enthalten zu sein, nämlich das Hoffen auf den geistigen Gewinn einer Niederlage, mit der George wohl rechnete. Denn die Sieger brauchen über ihren Sieg und ihre Überlegenheit nicht weiter nachzudenken; sie dürfen bleiben, wie sie sind. Die Verlierer jedoch müssen über die Niederlage nachdenken, müssen Konsequenzen daraus ziehen, müssen sich wandeln. Daraus erwächst ihnen ein Vorteil oder Vorsprung, denn „Herr der zukunft“, sagt der letzte Vers, bleibt oder wird, „wer sich wandeln kann“, wer neue Götter aufkommen lassen oder bilden kann und sie als „schutzbild birgt in seinen marken“. Die beiden letzten Strophen wollen ausdrücklich „sang“ (XI, 1) sein, bilden nach den zehn Strophen der „fem“-Rede zwei positive, feierliche und erhebende Schlussakkorde, die wegen der Häufung der schönen Aspekte (in XI) und heilsgeschichtlichen Perspektiven (in XII), nicht zuletzt aber auch wegen der wuchtigen Sentenzhaftigkeit der letzten Verse lange nachhallen. Trotzdem: Nur zwei von zwölf Strophen sind „sang“; der weitaus größte Teil des Kriegsgedichts – oder der Haupttafel des Kriegstriptychons – ist „fem“- oder Verurteilungs- und Strafrede: Kritik am Krieg, an seinen Gründen, seiner Ausführung und seinen Auswirkungen. Die Gründe waren falsch; die Ausführung ist schlecht, weil maschinell und rein mörderisch, ohne Möglichkeit der heldenhaften Bewährung; die Auswirkungen sind nur negativ, denn dieser verfehlte Krieg kann nicht unmittelbar Positives zeitigen, sondern allenfalls die Möglichkeit eines Neubeginns vorbereiten. Dessen „keim und kern“ liegen allerdings 26
27
Die Formulierung hat bei Tacitus einen anderen Sinn, doch spielt dies hier keine Rolle. Vgl. den Kommentar in SW IX, S. 141.
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nicht im Krieg oder Kriegserlebnis, sondern in jenen kulturellen Traditionsbeständen, die schon vor dem Krieg durch das utilitaristische Krämern verraten worden sind. Diese Totalverwerfung des Krieges hat Auswirkungen auf zwei geschichtliche Gestalten oder Sozialtypen und Akteure, die George besonders am Herzen liegen: den Dichter-Seher, der in diesem Krieg nicht Sänger oder Heldenepiker sein kann, sondern Kritiker, Ankläger und Strafredner werden musste; und den „nachwuchs“ mit dem unerschrockenen „schicksalsauge“(IX, 10), auf dem die Hoffnung auf eine geistige Wende beruht und dessen „makelfrei[e]“ „säfte“ noch sinnlos „versprizt“ (V) werden. Diesen beiden Gestalten hat George drei Korollargedichte gewidmet, die gleichsam die Seitenflügel und die Predella des Kriegstriptychons bilden. Das erste, ‚Der Dichter in Zeiten der Wirren‘,28 ist dem „Andenken des Grafen Bernhard Uxkull“ gewidmet, der sich bekanntlich am 28. Juli 1918 zusammen mit seinem Freund Adalbert Cohrs nach einem gescheiterten Versuch, ins neutrale Holland zu desertieren, das Leben nahm, für George „das schlimmste Ereignis des Krieges“.29 Das wiederum lange Gedicht, das in drei Abschnitte zu je dreißig fünfhebig jambischen Versen untergliedert ist, wirkt auf den ersten Anblick wie eine Dublette des Kriegsgedichts. Wiederum muss der Dichter über sechzig lange Verse hinweg wie Kassandra (9) und (der nicht namentlich genannte) Jeremia (12–21) als Unheilsprophet zu einem tauben (34) und verblendeten (45–51) Volk reden, bevor er – im Rückgriff auf die Bücher der „ahnen“ (64–65) wie Hölderlin – zum „Sänger“ eines künftigen Heils werden darf, und zwar eines Heils, das aus Deutschland, oder, wie im Anklang an Hölderlins Gesang des Deutschen gesagt wird, aus „Des erdteils herz“ kommt. Warum aber, wenn es eine Dublette ist, war dieses zweite Gedicht nötig? Wo liegen die Unterschiede zum Kriegsgedicht? Wo geht es über jenes hinaus? 28
29
Vgl. dazu die detaillierte Erörterung von Barbara Beßlich, die das Gedicht überaus umsichtig im historischen und werkgeschichtlichen Kontext verortet: Barbara Beßlich: Vates in Vastitate. Poetologie, Prophetie und Politik in Stefan Georges ‚Der Dichter in Zeiten der Wirren‘. In: Olaf Hildebrand (Hg.): Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen, Köln – Weimar – Wien 2003, S. 201–219. Zum biographischen Hintergrund vgl. Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. Biographie, München 2007, S. 472ff., hier S. 473.
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Es gibt mindestens drei Differenzpunkte: (1.) Es ist nicht mehr Kriegszeit, sondern Nachkriegszeit, die Stunde des Untergangs und des Bürgerkriegs, wo alles – wie in der Sizilianischen Vesper von 1282 (60) – auf Rebellion und Abrechnung sinnt. Das galt auch für Deutschland in der Zeit zwischen Herbst 1918 und Herbst 1921, in der das Gedicht entstand: Revolutionäre Aufstände und konterrevolutionäre ‚Strafaktionen‘ von Polizeitruppen und Freikorps dauerten bis zum Sommer 1920, und auch danach fielen noch zahlreiche Bürger dem politischen Mord zum Opfer (bis 1922 ungefähr 400).30 (2.) Das Gedicht wird politisch konkret, indem es mit der Nennung der Farben Rot, Blau und Schwarz (58) die drei großen Lager der Weimarer Republik, die Sozialisten, die Nationalisten und die christlichen Konservativen anspricht und implizit auffordert, die „Verschlissnen fahnenfetzen“ (59) der Parteilichkeit abzustreifen und sich versöhnlich die Hand zu reichen. (3.) Auch die heilsmäßigen Postulate des „Sängers“ werden konkreter. Nicht mehr ist – wie in der letzten Strophe des Kriegsgedichts – in mythologisch befrachteter und schwer einholbarer esoterischer Weise vom Auftauchen einer neuen synkretistischen Götterwelt die Rede,31 sondern von der Wiederaufrichtung Deutschlands als Reich der echten Werte-Ordnung (84–86: Recht, Größe, Rang, Zucht). Damit wird der Dichter in Zeiten der Nachkriegswirren zum Anreger einer nationalen Erneuerung und zum Propheten einer nicht nur nationalen Heilung, insofern von „Des erdteils herz“ ja die Errettung der Welt ausgehen soll. Realisieren muss dies freilich „Ein jung geschlecht“ (75), das alle Fehlhaltungen der für den Krieg verantwortlichen Generation abgestreift hat und jenen „Mann“ hervorbringen kann, der in der Lage ist, die „ketten“ der vergehenden Epoche zu sprengen und auf ihren „trümmerstätten“32 „das Neue Reich“ zu pflanzen. Der Dichter, der da spricht, ist nur der Pro30
31 32
Der Heidelberger Statistiker und Pazifist Emil Julius Gumbel zählte in seiner 1922 erschienenen Broschüre ‚Vier Jahre politischer Mord‘ 376 politisch motivierte Morde, von denen 354 von Tätern aus dem rechten Parteien- und Verbändespektrum begangen wurden. Vgl. dazu Osterkamp, Poesie der leeren Mitte (Anm. 16), S. 181ff. Es scheint mir verfehlt zu sein, den Vers „Der sprengt die ketten fegt auf trümmerstätten“ ausschließlich auf die Friedensbedingungen von Versailles zu beziehen. Für „trümmerstätten“ gäbe es keine reale Referenz, da die deutschen Städte – im Unterschied zu manchen belgischen und französischen – nicht zerstört waren.
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phet der „lichtere[n] zukunft“, nicht aber der Führer, und er sagt auch nicht, dass er der „Führer des Führers“33 sein werde oder sein könne, ja nicht einmal, dass er dies sein wolle. George könnte letztlich bescheidener gewesen sein, als man gemeinhin annimmt. Nichts sagt das Dichtergedicht darüber, welche Bedeutung das damals so viel beschworene Kriegserlebnis für das junge und rettende „geschlecht“ haben mochte. Das holt das zweite Korollargedicht ‚Einem jungen Führer im ersten Weltkrieg‘ nach. Man ist versucht, zu sagen, es müsste eigentlich „aus dem ersten Weltkrieg“ heißen, denn der Krieg ist vorbei, wenn das Gedicht zunächst einmal die Vergangenheit beschwört („Wenn in die heimat du kamst […]“ [Herv.H. K.]). Aber George wollte mit der temporalen Präposition „im“ wohl verdeutlichen, dass der Angesprochene ein „Führer“ zunächst einmal war. Das mag ihn zur Führerschaft auch in „Zeiten der Wirren“ (SW IX, S. 27) prädestinieren; ob sie ihm tatsächlich zukommt, zusteht und zufällt, ist eine andere Frage. Die biographischen Grundlagen nennt der Kommentar der ‚Sämtlichen Werke‘: Es sind Georges Begegnungen mit Erich Boehringer, der George während des Krieges in Bingen zu Pferde besuchte und nach Kriegsende, am 3. Dezember 1918, unter dem Eindruck des niederschmetternden Kriegsausgangs, der in der dritten Strophe beschworen wird, an George schrieb, er fühle sich „geistig tot und seelisch noch ganz vereist“.34 Den Grund nennt das Gedicht am Ende dieser dritten Strophe mit der an den Schluss gestellten und strophentechnisch pointierten Feststellung, Tränen seien dem besiegten Kriegsheimkehrer ausgebrochen „úm den vergéudeten Schátz | Wíchtigster Jáhre“. Davon will das Gedicht aber nichts wissen. Nicht umsonst steht es in einem heroischen Ton, der mit seinen zweigeteilten Langzeilen an die germanische Heldenepik erinnert und mit seinen daktylischen Pentameterversen („Wénn in die héimat du kámst | áus dem zerstámpften gefíld“) und dem Adoneus am Schluss jeder Strophe („Húnderter schícksal“) zugleich antikisch wirkt. Mit der vierten Strophe wechselt das Gedicht vom Präteritum ins Präsens und versucht nun, das Opfer „wichtigster“ jugendlicher Jahre zu retten, indem es den Kriegseinsatz trotz des schlechten Ausgangs zur zukunftsrelevanten Erfahrung erhebt:
33 34
Vgl. Beßlich, Vates in Vastitate (Anm. 28), S. 211 und S. 214. SW IX, S. 145.
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Alles wozu du gediehst · rühmliches ringen hindurch Bleibt dir untilgbar bewahrt · stärkt dich für künftig getös .. […]
Trotz der Niederlage trägt der heimgekehrte junge Offizier, belehrt durch den Dichter, den er „um rat“ fragte, am Ende im Schein der Abendsonne eine Strahlenkrone, die ihn im Sinne der letzten Strophe des Kriegsgedichts als geistigen Sieger und Herrn der Zukunft kennzeichnet. Es ist eine Apotheose des Frontoffiziers und wirkt wie ein dichterischer Vorgriff auf die Ideologie des ‚Frontsoldaten‘, die während der zwanziger Jahre in den Kreisen des soldatischen Nationalismus gepflegt und mit meist antirepublikanischen Führungsansprüchen verbunden wurde.35 Davon ist in diesem Gedicht allerdings keine Rede. Es beschwört den „jungen Führer“ aus dem Weltkrieg nur, die Kriegserfahrung, die von der „Jähe[n] erhebung“ im August 1914 über den Feldzug bis an die „pforte des siegs“ und schließlich zum „Sturz“ unter das „drückende[] joch“ der Friedensbestimmungen führte, nicht als wertlosen „kehricht“ zu verwerfen. Zweifellos sollte sie der Wiederaufrichtung Deutschlands zugutekommen. In welchem Sinn wird aber nicht gesagt, und es täte dem Gedicht Unrecht, ihn fixieren zu wollen, auch wenn verschiedene Äußerungen Georges dies ermöglichen oder nahelegen mögen. Im Gedicht selbst wird keine bestimmte Richtung angewiesen; von Georges „Verachtung des politischen Systems von Weimar“,36 wenn sie denn um 1919 schon so ausgeprägt gewesen sein sollte, ist in diesem politikfernen Gedicht nichts zu spüren. Ob George bemerkenswerten Einfluss auf die Hauptvertreter der Frontsoldatenideologie ausgeübt hätte, ist fraglich. Gewiss, der Weltkriegsoffizier und Publizist Friedrich Wilhelm Heinz, der in den Anfangsjahren der Weimarer Republik Mitglied von nationalistischen Zirkeln, Freikorps und Geheimorganisationen war, erwähnt George in seinem 1930 erschienenen Roman ‚Sprengstoff‘, der die Entwicklung eines ‚Nationalrevolutionärs‘ in paradigmatischer Weise schildert: „Sein Wort hat uns das Reich bewahrt, zu dem wir jetzt [1923, vor dem Putsch der Schwarzen Reichswehr] aufbrechen!“37 Aber im Kreis um Ernst Jünger spielte George keine Rolle; auf den rund 650 Seiten von Jüngers politischer Publizistik 35
36 37
Vgl. dazu die einschlägigen Artikel Ernst Jüngers in Jünger, Politische Publizistik (Anm. 13), bes. S. 57–63, S. 66–71, S. 78–85, S. 146–152. Karlauf, Stefan George (Anm. 29), S. 581. Friedrich Wilhelm Heinz: Sprengstoff, Berlin 1930, S. 233.
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aus den Jahren 1919 bis 1933 taucht Georges Name nicht ein einziges Mal auf. Das dritte, titellose Korollargedicht mit den Anfangsworten „Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande“, das die ‚Sprüche an die Toten‘ eröffnet, ist gleichsam die Predella des Kriegstriptychons. Es variiert die heroische Formensprache des ‚Führer‘-Gedichts und setzt dessen Rettungsarbeit fort: Die Opfer des Krieges, deren heilige „säfte“ in Strömen „versprizt“ worden sind, kehren, wenn das Volk sich „von schande gereinigt“ und vom Joch der Sieger befreit hat und fernerhin sich seiner geschichtlichen Erwählung („kür“) und Sendung erinnert, wie „Lautdröhnende Heere“ wieder. Sie werden dann, so ist dies wohl zu verstehen, als Helden erkennbar, erscheinen nicht mehr als nur passive Schlachtopfer (victimae), sondern als heldenhaft Mitwirkende an einem heilsgeschichtlichen Opfer (sacerdotium).38 Das setzt allerdings eine „göttliche deutung“ des „Unsagbaren grauens“ voraus: eine geschichtliche Rechtfertigung des Krieges durch die Überlebenden oder die Nachkommenden, eine ‚Polemodizee‘ durch geschichtliches Handeln. Insgesamt heißt das, dass die Totalverwerfung des Ersten Weltkrieges, die im Zentrum von Georges Kriegstriptychon steht, durch die drei Korollargedichte aufgebrochen und aufgehoben wird: Das erste auf den „Dichter in Zeiten der Wirren“ wiederholt zwar die Kritik und dehnt sie auf die Nachkriegszeit aus, verstärkt mit den letzten dreißig Versen aber auch die Heilsperspektiven und Heilszuversicht. Das zweite auf den „Führer im ersten Weltkrieg“ nennt diesen als einen Träger und Garanten der Heilserwartungen. Das dritte Korollargedicht, der erste der ‚Sprüche an die Toten‘, spricht den Opfern des Ersten Weltkriegs Heldenehre zu und lässt sie als Mitwirkende eines Sacerdotiums von heilsmäßiger Bedeutung erscheinen. Dem entspricht der Wechsel der Sageweise von der „fem“-Rede im prosanahen Blankvers zum HeldenSang in der Formensprache der antiken und der germanischen Heldenepik. Voraussetzung dafür war, dass George im Ersten Weltkrieg weder ein Menschheitsverbrechen speziell der Deutschen, noch die viele Jahre später (1979) von dem amerikanischen Historiker und Diplomaten George F. Kennan konstatierte „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ sah, sondern das Untergangsdrama einer „erkrankten“ Welt 38
Vgl. zu dieser für den Ersten Weltkrieg wichtigen Unterscheidung Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt 1914–1918, Berlin 2013, S. 225f.
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(‚Der Krieg‘: V,10) und den Ausgangspunkt einer epochalen Erneuerung. Seine Einschätzung der Kriegsursache wird durch die jüngere historische Forschung mehr und mehr bestätigt. Dass er im Ersten Weltkrieg nicht die ‚Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts‘ sehen wollte, obwohl die neunte Strophe des Kriegsgedichts weitere Kriege befürchtet und androht, muss man ihm nicht vorwerfen, ebenso wenig, dass er sich in seiner Hoffnung auf Erneuerung durch einen bestimmten „nachwuchs“ getäuscht hat. Nicht einmal seine Idealisierung der Nation und der Jugend muss man ihm vorwerfen; sie ist mit der Aufforderung verbunden, Einkehr zu halten, sich zu wandeln und sich neuen und besseren Werten zu verpflichten. Wie anders als durch den Wandel eines Kollektivs sollte der Gang der Geschichte zum Guten gewendet werden? Das „Volk“ oder die Nation und die Jugend sind bis heute wichtige Ansatzpunkte für die Modifikation politischer Einstellungen; die Aussöhnung zwischen Deutschen und Franzosen und zumal der deutsch-französische Jugendaustausch nach dem Zweiten Weltkrieg mögen als Exempel reichen. Und nirgendwo ist zu sehen, dass Georges Idealisierung der deutschen Nation sich gegen eine andere Nation gerichtet hätte. Idealisierung der eigenen Nation ist bei George wie bei Hölderlin Ansporn zur Entfaltung aller positiven Kräfte, die nicht auf Kosten anderer Nationen gehen muss. Ausdrücklich sagen die Verse 77 und 78 des Dichtergedichts, dass das „jung geschlecht“ zwar „vor Fremdem stolz“ sein möge, sich aber „gleich entfernt von klippen dreisten dünkels“ halten solle; der Vorwurf, dass es sich „jede Korrektur von außen“ verbitte,39 scheint mir unangebracht zu sein. Im Übrigen war die Privilegierung Deutschlands als ‚Herzland‘ Europas mit entsprechender geschichtlicher Bedeutung kein Spezifikum der nationalistischen Rechten; auch Heinrich Mann vertrat 1927 in einer Rede, die er sowohl an der Pariser Sorbonne-Universität als auch im ehemaligen Preußischen Herrenhaus in Berlin hielt, die Meinung, dass Deutschland als „Land der Mitte Europas“ dazu berufen sei, zwischen dem kommunistischen Osten und dem kapitalistischen Westen zu vermitteln, und dass gerade oder allein die Deutschen durch ihre „Natur“ dazu befähigt seien.40 Und 39 40
Beßlich, Vates in Vastitate (Anm. 28), S. 213. Heinrich Mann: Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Hg. im Auftrag der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin von Alfred Kantorowicz. Band XII: Essays, Band 2, Berlin 1956, S. 344–353, hier S. 347.
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Thomas Mann glaubte im Frühjahr 1931 in einer in Berlin gehaltenen ‚Rede auf Pan-Europa‘ feststellen und „ohne Überhebung aussprechen“ zu dürfen, dass „der deutsche Gedanke“, nämlich die anti-rationalistische „Einbeziehung der nächtig-gemüthaft-fruchtbaren Kräfte“ in das „Denken und Erleben“, in der aktuellen „geistesgeschichtlichen Umwälzung“, nämlich in der Korrektur des intellektualistischen und mechanistischen Weltbildes der versinkenden Epoche, „die Führung und Initiative“ habe.41 Bleibt noch die Vagheit von Georges Botschaft zu denken, die sich in seiner schwer fixierbaren Rede von der neuen Götterwelt und ebenso darin zeigt, dass weder „schutzbild“, von dem im vorletzten Vers des Kriegsgedichts die Rede ist, noch das heilsversprechende „sinnbild“, von dem im viertletzten Vers des Dichtergedichts die Rede ist, genauer beschrieben werden. Ernst Osterkamp hat diese Unbestimmtheiten von Georges Botschaft in seinem tiefschürfenden Buch ‚Poesie der leeren Mitte‘ als Zeichen der „Ratlosigkeit eines Charismatikers“ gedeutet und zugleich als „Pose des Charismatikers“ kritisiert, mit der dieser, George, versuchte, „sein Charisma zu inszenieren“ (sein ‚leeres‘ Charisma, wie man hinzufügen möchte).42 Dem Befund der Ratlosigkeit muss man nicht widersprechen; wer hätte sich zwischen 1917 und 1921 gewiss sein dürfen, sicheren Rat zu wissen? Was Osterkamp als reine Pose und Inszenierung der Leere bezeichnet, kann man indessen auch anders sehen. Der Dichter beschreibt Notwendigkeiten und eine Aufgabe. Was für alle notwendig ist, wo Untergang droht, sagen die letzten Verse des Kriegsgedichts: ein rettendes „schutzbild“ und Wandlungsfähigkeit. Was dem Dichter in solchen Zeiten zufällt, wird im dritten Abschnitt des Dichtergedichts ausführlich beschrieben: Er muss, „aus büchern | Der ahnen“ schöpfend, die Hoffnung auf zukünftiges Heil aufrecht erhalten, bis ein „jung geschlecht“ jenen „Mann“ hervorbringt, der das „wahre sinnbild“, das der Dichter offensichtlich nicht genauer benennen kann, auf das „völkische banner“ heftet, also dem geschichtlich-politischen Bewusstsein der Deutschen verpflichtend
41
42
Thomas Mann: Die Bäume im Garten. Rede für Pan-Eoropa. In: Thomas Mann: Das essayistische Werk in acht Bänden. Hg. von Hans Bürgin. Zweiter Band: Politische Schriften und Reden, Frankfurt a. M. 1968, S. 173–179, hier S. 176. Osterkamp, Poesie der leeren Mitte (Anm. 16), S. 52–54.
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macht.43 Das mag man als resignativ und defizitär empfinden. Man kann es aber auch anders werten, nämlich als Offenheit für die Geschichte und als Vertrauen in die sozusagen geschichtsbildende Kraft der jüngeren Generation. Der Dichter in „Zeiten der Wirren“ ist – wie der Dichter des ‚Gesanges der Deutschen‘ und der Ode ‚Wie wenn am Feiertage‘ – nur ein Ahnender und Hoffender, nicht ein sicher Wissender und schon gar kein konkret politisch Führender. Das stellt sein Charisma nicht in Frage. Charisma ist, wie die an Max Weber anschließende Forschung verdeutlicht hat, letztlich ein synergetisches Phänomen.44 Der Charismatiker braucht einen Anhang, der seine Botschaft oder seinen Anspruch verstärkt, ausbaut und realisiert. George scheint das gewusst zu haben. Jedenfalls hat er sich einen ‚Kreis‘ geschaffen, der der wechselseitigen Steigerung sowie der Fortentwicklung und Verbreitung seines Denkens dienen sollte. Dass der Kreis – aus welchen Gründen auch immer – nicht hielt, was sich George von ihm erhoffte, ist ein Schicksal, das jedem Charismatiker widerfahren kann. Ob sein Charisma deswegen vertan war, ist eine andere Frage.
43
44
Gegen die plumpe Identifikation mit dem Nationalsozialismus und Hitler verweist Osterkamp in einer längeren Anmerkung zu Recht darauf, dass das „sinnbild“, das „auf die Deutschen“ übertragen werden solle, aus dem „schöpferischen Geist der Antike“ komme. Osterkamp, Poesie der leeren Mitte (Anm. 16), S. 290. Vgl. Winfried Gebhardt (Hg.): Charisma. Theorie, Religion, Politik, Berlin 1993.
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„Ich werde heldengrab.“ Georges ‚Hyperion‘ und ‚Der Krieg‘ zwischen Heldenverdichtung und Selbstentzug. I. Georges ‚Hyperion‘: Vom „heldengrab“ zur Vision des neuen Reichs Auf das Eröffnungsgedicht zum ‚Neuen Reich‘ mit dem Titel ‚Goethes lezte Nacht in Italien‘, das bereits 1908 entstanden ist, folgt das Gedicht ‚Hyperion‘, in dem – wie im vorangehenden Gedicht Goethe – nunmehr Hölderlins Romanfigur Hyperion aus dem gleichnamigen Roman als Seher und Verkünder eines neuen Reichs in Erscheinung tritt. In der letzten Partie dieses aus drei Teilen bestehenden Gedichts, das eine Trilogie oder ein Triptychon darstellt und das erstmals 1914 in der zehnten Folge der ‚Blätter für die Kunst‘ erscheint, findet sich eine Vision des lyrischen Ich im Blankvers, das darin prophetisch seine eigene Entrückung sowie ein neues Zeitalter ankündigt: Ich kam zur heimat: solch gewog von blüten Empfing mich nie .. ein pochen war im feld In meinem hain von schlafenden gewalten · Ich sah euch fluss und berg und gau im bann Und brüder euch als künftige sonnen-erben: In eurem scheuen auge ruht ein traum Einst wird in euch zu blut der sehnsucht sinnen … Mein leidend leben neigt dem schlummer zu Doch gütig lohnt der Himmlischen verheissung Dem frommen .. der im Reich nie wandeln darf: Ich werde heldengrab · ich werde scholle Der heilige sprossen zur vollendung nahn: MIT DIESEN KOMMT DAS ZWEITE ALTER · LIEBE GEBAR DIE WELT · LIEBE GEBIERT SIE NEU. Ich sprach den spruch · der zirkel ist gezogen .. Eh mich das dunkel überholt entrückt Mich hohe schau: bald geht mit leichten sohlen Durch teure flur greifbar im glanz der Gott.1 1
Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff. Bd. IX, S. 14. Im Folgenden mit SW, Bandnummer und Seitenzahl zitiert.
DOI 10.1515/george-2016/2017-0010
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Fast unmerklich geht die Beschreibung der idyllischen Natur bei der Wiederkehr des lyrischen Ich in seine Heimat in ein visionäres Sehen über. Auf die im ersten Teil des Gedichts breit ausgeführte Zeitkritik an deutschen Zuständen, der berühmten Deutschlandschelte mit Bezug auf die Isolierung und Einsamkeit der Menschen („Ihr auch zu zweien allein“)2 sowie auf den im zweiten Teil ausgeführten, kontrastiven Preis auf die griechische Kultur und deren vornehmste Vertreter (Sophokles, Perikles, Alkibiades, Aristoteles, Alexander der Große u.a.),3 folgt im dritten Teil als Kulminationspunkt des Gedichts die Vorhersage eines kommenden Gottes: Im Mittelpunkt der Vision steht ein im Sinne des antiken Griechenlands und seiner Hochkultur erneuertes, hellenisiertes Deutschland. Diese das Gedicht abschließende Prophezeiung des „ZWEITE[N] ALTER[S]“4 basiert auf einer wichtigen Voraussetzung, nämlich dass das lyrische Ich „heldengrab“ und „scholle“, d.h. ein fruchtbares Ackerland oder ein Stück Heimat, wird, es somit einen heldenhaften Tod findet, der indes nicht nur einen Niedergang impliziert, sondern den Nährboden für Neues bereitet.5 Denn erst dann ist die Schaffung des neuen Zeitalters möglich: Genau genommen ist es nicht nur das Ableben des lyrischen Ich, sondern die Liebe, die dieses zweite Zeitalter ‚gebären‘ und es im Sinne eines Vollendungsgedankens („Der heilige sprossen zur vollendung nahn“)6 gestalten wird. Die Entrückung des lyrischen Ich ermöglicht zugleich eine Epiphanie, die Annoncierung der Ankunft eines (antiken) Gottes, der „greifbar“ im Sinne eines plastischen Gottes sein soll.7 Es handelt sich dabei um eine nahe Zukunftsvision, denn mit dem Gott ist „bald“ zu rechnen. 2 3
4 5
6 7
SW IX, S. 12. Vgl. Achim Aurnhammer: Stefan George und Hölderlin. In: Euphorion 81, 1987, S. 81–99, hier S. 94. Bernhard Böschenstein: Stefan Georges Spätwerk als Antwort auf eine untergehende Welt. In: Wolfgang Braungart / Ute Oelmann / Bernhard Böschenstein (Hg.): Stefan George. Werk und Wirkung seit dem „Siebenten Ring“, Tübingen 2001, S. 1–16. Vgl. Bernhard Böschenstein: Stefan George und Hölderlin: Überprüfung einer Konstellation. In: Castrum Peregrini 54, 2005, 266/267, S. 68–82. SW IX, S. 14. Ebd. Vgl. den regressiven Zug im Blick auf die „scholle“ als Gebärmetapher: Ernst Osterkamp: Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich, München 2010, S. 176. SW IX, S. 14. Ebd.
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Bemerkenswert an diesem ‚Hyperion‘-Gedicht ist zunächst, dass bei George im Gegensatz zur hölderlinschen Vorlage eine spezifische WertUmbesetzung stattfindet: Im Zentrum der Vision steht nunmehr die Liebe, indem der Freundschaftsbegriff von Hyperion und Diotima durch die Abwandlung eines Zitates aus dem hölderlinschen ‚Hyperion‘ modifiziert wird, wo noch vom zentralen Wert der Freundschaft die Rede ist.8 Die Liebe ist freilich der höchste Wert im Kreis um George und die zentrale Stellung des Werts der Liebe, die die Person des Sehers freisetzt, ist nicht neu, sondern ein Leitmotiv im Werk Georges, so etwa auch an prominenter Stelle in der dritten Strophe des folgenden Gedichts: Leo XIII […] ‚Komm heiliger knabe! hilf der welt die birst Dass sie nicht elend falle! einziger retter! In deinem schutze blühe mildre zeit Die rein aus diesen freveln sich erhebe .. Es kehre lang erwünschter friede heim Und brüderliche bande schlinge liebe!‘ So singt der dichter und der seher weiss: Das neue heil kommt nur aus neuer liebe.9 […]
Im Gegenzug zum verehrungswürdigen Vorbild Leo XIII. wird dem Philosophen Nietzsche als Gegenbild zu Leo XIII. und den visionären Gestalten wie Hyperion und Hölderlin im Gedicht ‚Nietzsche‘ gerade der Wert der Liebe abgesprochen, wie es die letzte Strophe deutlich erkennen lässt:10 […] Der kam zu spät der flehend zu dir sagte: Dort ist kein weg mehr über eisige felsen Und horste grauser vögel – nun ist not: 8
9 10
Vgl. Aurnhammer, Stefan George und Hölderlin (Anm. 3), S. 95. Böschenstein, Stefan Georges Spätwerk (Anm. 3), S. 10. Osterkamp, Poesie der leeren Mitte (Anm. 5), S. 175. SW VI/VII, S. 20. Vgl. dazu ausführlicher: Verf.: Poetik des Prophetischen. Zum visionären Kunstverständnis in der Klassischen Moderne, Berlin – Boston 2013, S. 158f. Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. Biographie, München 2007, S. 293f.
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Gabriela Wacker Sich bannen in den kreis den liebe schliesst .. Und wenn die strenge und gequälte stimme Dann wie ein loblied tönt in blaue nacht Und helle flut – so klagt: sie hätte singen Nicht reden sollen diese neue seele!11
In diesem Gedicht wird der Wert der Liebe weiter spezifiziert, wenn ausdrücklich seine Funktion als Mittel zur Kreisbildung erwähnt wird. Damit einhergehend wird Nietzsches einseitige „Rolle des prophetischen Orators“ als ergänzungsbedürftig durch die Figur des Sängers herausgestellt.12 Die im ‚Hyperion‘ vorgenommene Wert-Umbesetzung, mit dem Ziel, Vorgänger – hier Hölderlin und Hyperion – überhöhend zu überwinden, lässt sich in vielen Gedichten Georges, vor allem in denjenigen, die Vorbilder, visionäre Dichter und Helden vorstellen, beobachten.13 Wie sich die Bezüge der Vorbilderdarstellung und ihrer Überhöhung zu Georges Gedicht ‚Der Krieg‘ gestalten, soll im Folgenden im Vergleich zum ‚Hyperion‘-Gedicht näher ausgeführt werden. In Georges ‚Hyperion‘ scheint das heldenhafte Ableben des lyrischen Ich eine notwendige Bedingung für das Eintreten der Vision des neuen Zeitalters zu sein, gleichzeitig darf das lyrische Ich dieses jedoch nicht erleben. Dem vergleichbar führt der Prophet Mose das Volk Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft in das gelobte Land, ohne dieses jemals betreten zu dürfen:14 Mose darf nämlich nur einen Blick auf das gelobte Land Kanaan werfen, da seine Seele vor der Ankunft von Gott heimgeholt wird.15 Ähnlich ist der Seher-Figur Goethe in ‚Goethes letzte Nacht in Italien‘ die tragische Situation des nicht-alles-sehen-dürfenden Sehers eingeschrieben, der ebenfalls prophezeit, ohne das Eintreten der Prophezeiung erleben zu können.16 Der Tod des Helden ermöglicht jedoch erst den Auftritt der Nachfolger, die in Anknüpfung an die Vegetationsmetaphorik und den Topos 11 12
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16
SW VI/VII, S. 13. Wolfgang Braungart: Georges Nietzsche. „Versuch einer Selbstkritik“. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2004, S. 234–258, hier S. 253. Vgl. dazu ausführlicher: Verf., Poetik des Prophetischen (Anm. 10), S. 155ff. Vgl. Aurnhammer, Stefan George und Hölderlin (Anm. 3), S. 95. Vgl. Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, Freiburg – Basel – Wien 1980, Dtn 34, S. 211. Vgl. Osterkamp, Poesie der leeren Mitte (Anm. 5), S. 61 und S. 69.
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der Erleuchtung im ‚Hyperion‘ „sonnen-erben“17 heißen, sowie die höchste Stufe der Nachfolge, das Erscheinen eines Gottes, der sicherlich auch als ein Verweis auf die zentrale Figur in Georges Dichtung, nämlich den wie einen Gott verehrten Jüngling Maximin, verstanden werden kann, auch wenn dieser hier nicht namentlich erwähnt wird. Hinter der im ‚Siebenten Ring‘ und dem ‚Stern des Bundes‘ verehrten Maximin-Figur verbirgt sich bekanntlich der mit nur sechzehn Jahren im Jahre 1904 verstorbene Maximilian Kronberger.18 Ernst Osterkamp hat herausgestellt, dass Maximin das „männliche Derivat von Diotima“19 darstellt. Bereits die im ‚Hyperion‘ entfaltete Bildlichkeit des erblühenden Frühlings („gewog von blüten“)20 im dritten Teil des Gedichtes erinnert an die Maximin-Gedichte im ‚Siebenten Ring‘,21 wo Maximin als Vegetationsgott vorgestellt ist: „Du warst der spender unverwelkter rosen / Du gingst vorm lenzeshauch.“22 Im ‚Stern des Bundes‘ wird diese Bildlichkeit fortgesponnen, wenn beispielsweise vom „freund der frühlingswelle“23 gesprochen wird. Maximin wie Hyperion bereiten das Pflanzen des neuen Reiches gleichermaßen vor beziehungsweise bereitet Hyperion Maximin den Weg. Dass das neue Reich den Propheten nicht beherbergen wird, ist eine Vorstellung, die auch auf Maximin zutrifft. Maximin wird im ‚Siebenten Ring‘ u.a. als der dem Propheten erscheinende Gott beschrieben und nimmt damit den Part des Gegenübers des Propheten Mose ein: „Du warst für uns in frostiger lichter glosen / Der brand im dornenstrauch ·“.24 Zugleich ist er gemäß seinem Status als Nachfahre der Propheten des Alten Bundes und gemäß einer für George typischen Überbietungsgeste sogar noch strahlender als Mose und übertrifft ihn dadurch, dass er „[n]icht nur am haupt: am ganzen leibe strahlend ..“25 ist, wie es im ‚Stern des Bundes‘ heißt. Ma17 18
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SW IX, S. 14. Vgl. Karlauf, Stefan George (Anm. 10), S. 342ff. Kai Kauffmann: Stefan George. Eine Biographie, Göttingen 2014, S. 134ff. Osterkamp, Poesie der leeren Mitte (Anm. 5), S. 141. Osterkamp, Poesie der leeren Mitte (Anm. 5), S. 145. SW IX, S. 14. Vgl. Aurnhammer, Stefan George und Hölderlin (Anm. 3), S. 95. SW VI/VII, S. 103. SW VIII, S. 9. SW VI/VII, S. 103. SW VIII, S. 88. Vgl. Aurnhammer, Stefan George und Hölderlin (Anm. 3), S. 89.
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ximin wird zum Nachfahren Mose stilisiert, genauer gesagt zu einer besonderen Mose-Figuration, da er letztlich Prophet und Gott in Personalunion ist. So wird er augenfällig mit der Situation des Mose am Ende seines langen Auszugs aus Ägypten verglichen: „Wie du hier stehst bist du erkoren / Ins neue land zu schaun.“26 Die Sicht auf das neue Land wird in diesen Maximin-Gedichten in den Vordergrund gerückt, auch wenn die Trauer im Raum steht. Den Kulminationspunkt bildet im Wesentlichen eine Entrückung, die den heldenhaften Gott verklärt und für eine weitere Anbetung konserviert. Die Vorstellung, dass das lyrische Ich sich zugunsten eines Anderen – einer größeren Vision – in Form einer ‚Himmelfahrt‘ (Evelatio) auflösen muss,27 findet sich nicht erst im ‚Hyperion‘, sondern bereits im berühmten Gedicht ‚Entrückung‘ aus dem ‚Siebenten Ring‘: […] Ich löse mich in tönen · kreisend · webend · Ungründigen danks und unbenamten lobes Dem grossen atem wunschlos mich ergebend. […] Ich fühle wie ich über lezter wolke In einem meer kristallnen glanzes schwimme – Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme.28
Auf eine vergleichbare Weise wird der Tod Hyperions idealisiert. Denn in Georges ‚Hyperion‘ wird ebenfalls eine Entrückung ins Bild gesetzt, doch auf eine andere Art und Weise als im Gedicht ‚Entrückung‘, denn hier wird explizit aus dem prophetischen oder visionären Helden zunächst ein „heldengrab“,29 dem ein Gesicht vorausgeht („Eh mich das dunkel überholt entrückt / Mich hohe schau […]“)30. Es handelt sich in diesem, dem vorausgehenden Goethe-Gedicht ähnelnden „heldengesang“, um einen heroischen Abgesang auf den Helden,31 der zugleich 26 27
28 29 30 31
SW VI/VII, S. 94. Vgl. zum Begriff ‚Himmelfahrt‘: Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, München 2004, S. 648. SW VI/VII, S. 111. SW IX, S. 14. Ebd. Ebd., S. 8.
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Hyperion und sein Dichter ist, wobei Hölderlin nicht explizit genannt wird.32 Interessant ist an der Aussage „Ich werde heldengrab“33 die IchPerspektive, die eine gewisse Selbstbezüglichkeit der gesetzten Heroisierung („helden“) und der Entheroisierung („grab“) anzeigt. Berücksichtigt man die Vision vom kommenden Gott, könnte der Hinweis auf das Grab aber gerade auch umgekehrt ein Mittel zur Heroisierung darstellen. Denn auch wenn Hyperion und Hölderlin im Gedicht mit einer Überbietungsgeste, nämlich dem Verweis auf den kommenden Gott, geradezu verabschiedet werden, bleibt indes das Grab Hölderlins auf dem Tübinger Stadtfriedhof ein bedeutsamer Ort der Wallfahrt und der Heldenverehrung für die Georgianer:34 Hölderlin wird in Georges ‚Hölderlin-Rede‘ explizit zu „gruft und tempel, zu denen er die künftigen mit kränzen zu wallen lädt“,35 erklärt. Die Grabeskonnotation steht in der Hölderlin-Gedenkrede neben der heiligen Aura des Visionärs im Vordergrund. Der Charakter des Helden-Sacrificiums, des beachtenswerten Opfers, das große Taten initiiert, klingt nur dezent an und wird an anderer Stelle, nämlich im ‚Stern des Bundes‘, deutlich exponiert: „Der sich und allen sich zum opfer gibt / Und dann die tat mit seinem tod gebiert.“36 Hölderlin wird – das sei erinnert – teilweise von Norbert von Hellingrath seinerzeit neu entdeckt und ist für George, wie er es in seiner ‚Hölderlin-Lobrede‘ von 1919 festschreibt, „der grosse Seher für sein volk“37 und einer, „der mit göttern und mächten im bunde steht“38. Obwohl er „verjünger der sprache“ und „eckstein der nächsten deutschen zukunft und der rufer des Neuen Gottes“39 ist, strebt George indes seine 32
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39
Vgl. zur Verschmelzungsthese von Hyperion-Hölderlin-George: Hans-Georg Gadamer: Hölderlin und George. In: Eckhard Heftrich / Paul Gerhard Klussmann / Hans Joachim Schrimpf (Hg.): Stefan George Kolloquium, Köln 1971, S. 118–132, hier S. 123. SW IX, S. 14. Siehe zur Bedeutung Hölderlins für den George-Kreis auch: Edgar Salin: Hölderlin im George-Kreis, Bad Godesberg 1950. Erstmals veröffentlicht in: Stefan George: Hölderlin. In: Blätter für die Kunst 11/12, 1919, S. 11–13. Im Folgenden zitiert nach SW XVII, hier S. 60. SW VIII, S. 14. SW XVII, S. 59. SW VIII, S. 59–60. Vgl. auch Osterkamp, Poesie der leeren Mitte (Anm. 5), S. 152f. SW XVII, S. 60.
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Überbietung an, „denn es gilt höheres“40. Als „stifter einer weiteren ahnenreihe“41 dient er letztlich als „Präfiguration des in George inkarnierten Seherdichters“:42 Das zugrunde gelegte „Modell von Prophezeiung und Erfüllung“43 sieht also eine Verehrung und Überbietung Hölderlins zugleich vor. In ‚Geheimes Deutschland‘ wird Hölderlin schließlich noch als „Vorfahr“44 geadelt.45 Die magische Formel vom heilsgeschichtlichen Kreisschluss „Ich sprach den spruch · der zirkel ist gezogen ..“ impliziert ein performatives Sprechen,46 wonach das Aussprechen dieser Gewissheit sich unmittelbar vollzieht. Ähnlich magisch klingt die Formel in ‚Goethes lezte Nacht in Italien‘: „Bis sich verklebung der augen euch löst und ihr merket: / Zauber des Dings – und des Leibes · der göttlichen norm.“47 Aber wer ist nun dieses lyrische Ich? Handelt es sich immer noch um Hyperion gemäß Georges späten Rollengedichten, oder scheint bereits Hölderlin als prominenter Dichter-Vorfahr durch, oder sind beide bereits verschmolzen zum sie übertreffenden Nachfolger George?48 Nimmt man den performativen Anspruch der Rede ernst, kann man hinter dem Sprecher des magischen Spruchs auch George vermuten. Dann ließe 40 41 42
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46 47 48
SW VIII, S. 14. Ebd., S. 59. Claudia Albert: Sakralisierung der Dichtergestalt. Hölderlin-Rezeption im George-Kreis. In: Dies. (Hg.): Deutsche Klassiker im Nationalsozialismus. Schiller, Kleist, Hölderlin, Stuttgart 1994, S. 193. Vgl. Verf., Poetik des Prophetischen (Anm. 10), S. 162f. Aurnhammer, Stefan George und Hölderlin (Anm. 3), S. 87. Vgl. Jürgen Brokoff: Prophetie, poeta vates und die Anfänge moderner Dichtungswissenschaft. Anmerkungen zur Konstellation Hölderlin – Hellingrath – George. In: Daniel Weidner / Stefan Willer (Hg.): Prophetie und Prognostik. Verfügungen über Zukunft in Wissenschaften, Religionen und Künsten, München 2013, S. 261–276. Albert, Sakralisierung der Dichtergestalt (Anm. 42), S. 195. SW IX, S. 47. Vgl. Aurnhammer, Stefan George und Hölderlin (Anm. 3), S. 96. Vgl. zur Hölderlin-Rezeption bei George: Henning Bothe: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“. Die Rezeption Hölderlins von ihren Anfängen bis zu Stefan George, Stuttgart 1992, bes. S. 115ff. und S. 193ff. SW IX, S. 14. Ebd., S. 9. Vgl. zu den Rollengedichten: Osterkamp, Poesie der leeren Mitte (Anm. 5), S. 47. Vgl. zur Figurenüberlagerung: Gadamer, Hölderlin und George (Anm. 32), S. 123.
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sich dieses Gedicht – entgegen dem „bald“ im vorletzten Vers – auch als Beleg für Osterkamps These von der „Plötzlichkeit als Gottesbeweis“ bei George heranziehen.49 Für die Gewichtigkeit des „bald“ spricht hingegen, dass gerade in Georges Spätwerk viele Figuren des Aufschubs zu verzeichnen sind, worauf im Folgenden noch näher eingegangen wird. Hölderlin hat aber nicht nur diese visionäre Seite. In seiner Figur Hyperion kann man auch einen Kriegshelden sehen, da er bekanntlich als Kämpfer im Befreiungskrieg der Griechen gegen die Türken erinnert werden kann. Georges ‚Hyperion‘ ist aber kein genuines Kriegsgedicht, vielmehr wird eine Gegenwelt zum Krieg entworfen, die den Kriegshelden verabschiedet und auf seiner Grabesstätte ein neues Zeitalter in Aussicht stellt. In für George typischer Weise wird die Gegenwart hierbei nahezu ausgeblendet, während die Vergangenheit detailliert vergegenwärtigt wird – auch im Verbund mit einer ausweichenden Bewegung in Ahnengalerien der großen griechischen Vorbilder –, und die Zukunft wird nur nebulös in Form einer utopischen Vision entworfen.50 Auch dieses ‚Hyperion‘-Gedicht stellt wie einige der späten Gedichte Georges eine Ahnengalerie vor, indem heldenhafte und visionäre Figuren oder Dichtergrößen erinnert werden. Das neue Reich verkündigt im ‚Hyperion‘-Gedicht erneut die Figur eines Dichter-Sehers, in diesem Falle Hölderlins Hyperion, der gemäß dem Motto selbst wiederum einen gewichtigen Philosophen, nämlich den ‚Halbgott‘ Rousseau (unter Bezugnahme auf die ‚Rousseau-Ode‘) als Vorbild an die Seite gestellt bekommt: „Dem sehenden war / Der wink genug und winke sind / Von alters her die sprache der götter.“51 In einem Entwurf der Vorrede zu Hölderlins ‚Hyperion oder Der Eremit in Griechenland‘ heißt es: „Es wartet, um mit Hyperion zu reden, eine neues Reich auf uns, wo die Schönheit Königin ist.“52 Hölderlin/Hyperion und Rousseau wiederum dienen als Folie für Maximin und erinnern überdies zumindest fragmentarisch an den Stifter des Alten Bundes, nämlich den Propheten Mose. Hyperion fungiert durch die Verweise auf Rousseau und Mose als 49 50
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Osterkamp, Poesie der leeren Mitte (Anm. 5), S. 38, vgl. ebd., S. 117. Die antiken Vorbilder werden dabei nur implizit, durch Nennung ihrer Taten erinnert, zumal auch diese Welt bereits untergangen ist, im Gegensatz zur expliziten Nennung des Helden Hyperion im Titel dieses Gedichts, wodurch dieser nochmals exponiert wird. SW IX, S. 7f. Hölderlin zitiert nach Aurnhammer, Hölderlin und George (Anm. 3), S. 91.
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Prophet des Maximin-Kults, damit die Epiphanie Maximins im Neuen Bund den Alten Bund gleichsam hyperbolisch ablösen kann.53 Das ‚Heldengrabtum‘ kann bei Stefan George wörtlich genommen werden, denn es findet dabei nicht nur ein Held seinen Tod, sondern dieser Tote figuriert geradezu als Heldenarchiv. Im Gedicht ‚Hyperion‘ wird Hyperion/Hölderlin heroisiert und entherorisiert zugleich, indem die Heroisierung nicht gänzlich zurückgenommen, doch dadurch relativiert wird, dass ein noch größerer Held, der neue Gott, in Aussicht gestellt wird. Die Umwertung der Freundschaft zur Liebe ist die Geburtsstunde des neuen Gottes. Indem der neue Gott wiederum nicht näher charakterisiert wird, bleibt freilich auch die Möglichkeit, das Ziel allen Heldentums und aller neuen Werte in George zu erblicken. II. Helden und Vorbilder Hyperion ist nur eines, wenn auch ein gewichtiges von vielen Vorbildern, das im Kreis um George verehrt wird. In Georges Gedichten finden sich immer wieder Vorbilder konzentriert dargestellt, große Figuren der Dichtung oder der Geschichte, die zumeist bestimmte Werte verkörpern, die allerdings nach und nach immer abstrakter werden, so dass sie letztlich nahezu als „Leerformen“ dastehen,54 man könnte auch sagen als ruinenhafte oder fragmentierte Vorbilder. Auf diese Weise verlieren die für George wichtigen Werte jedoch zunehmend ihre Gewährsmänner und Verkörperungen: Die Werte drohen entleibt dazustehen, weil ihnen die Verkörperungen ermangeln. Um diese Entwicklung besser nachvollziehen zu können, ist ein Blick auf den Vorbildbegriff von Friedrich Gundolf erhellend. Der Helden- und Vorbildbegriff, der auch auf Georges Verhältnis zu Hölderlin und Hyperion angewandt werden kann, wird etwa in Gundolfs 1912 im dritten Band des ‚Jahrbuchs für die geistige Bewegung‘ er-
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Vgl. ebd., S. 87ff., S. 89 und S. 95. Bodo Würffel: Wirkungswille und Prophetie. Studien zu Werk und Wirkung Stefan Georges, Bonn 1978, S. 236, S. 245 und S. 258. Bodo Würffel: Sakralisation, postfigurale Gestaltung und Prophetie in der Dichtung Stefan Georges. In: Peter Tschuggnall (Hg.): Religion – Literatur – Künste, II, Anif – Salzburg 2002, S. 163–177, hier S. 176.
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schienenen Aufsatz ‚Vorbilder‘ erläutert,55 wo die Aufgabe beschrieben wird, „heroen wachzuhalten, sie umzusetzen in eigenes dasein und die strahlung die sie von ihnen empfangen in neues gebild zu verwandeln“56 und zugleich ihre „mitwirkende gegenwart“57 zu entdecken. Unter Heroen sind, pointiert gesagt, vorbildhafte Figuren mit Normierungscharakter zu verstehen. Nach Gundolf benötigen abstrakte Denkfiguren wie Normen und Werte ohnehin einer personalen Inkorporierung, um anschaulich und begreiflich und damit auch wirksam werden zu können: Vorbilder und Heroen sind Repräsentationsfiguren von Ideen, „sichtbare Maße alles Menschtums und unmittelbare Leiber der ewigen Gesetze“58: Denn ideen, gesetze, pflichten, selbst gottheit an sich, frei schwebend, gibt es nicht: nur in menschen sind sie wirklich, in menschen welche sie schaffen und in menschen welche sie empfangen und tragen. Der grosse mensch ist die höchste form unter der wir das göttliche erleben: alle grössten gedanken sind nur in menschen, durch menschen, aus menschen.59
Ferner haftet dem Helden etwas Göttliches an, was ihn auch dezidiert von anderen Größen und seinen Mitmenschen unterscheidet, wie es Gundolf in ‚Dichter und Helden‘ festhält: Heldenverehrung ist nur die deutlichste Form des Glaubens, daß die Menschen in verschiedenen Graden gotthaft sind und der Heros ist die deutlichste Gewähr für die Göttlichkeit der Menschenwelt. Im Gefühl der Massen ist dieser Glaube, wie dumpf und irre auch oft, nie erloschen – nie das Bedürfnis nach Führern und Lehrern.60
Gundolf geht also von der Notwendigkeit einer Inkorporierung der Wertideen aus,61 so dass sogenannte „Sinnbilder“ entstehen, die belegen,62 dass das Ewigmenschliche, allgültige Maße sowie Menschen, die diese Maße verkörpern, existieren: „Nur in Menschen verkörpern sich 55
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Friedrich Gundolf: Vorbilder. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 3, 1912, S. 1–20. Ebd., S. 2. Ebd. Friedrich Gundolf: Dichter und Helden (1912). In: Ders.: Dichter und Helden, Heidelberg 1921, S. 23–58, hier S. 46. Gundolf, Vorbilder (Anm. 55), S. 2f. Gundolf, Dichter und Helden (Anm. 58), S. 45. Vgl. Gundolf, Vorbilder (Anm. 55), S. 8. Gundolf, Dichter und Helden (Anm. 58), S. 51.
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Ideen (auch die Idee Gott).“63 Als „kosmische Helden“ sind Alexander, Cäsar und Napoleon zu verehren, als „kosmische Dichter“ Dante, Shakespeare und Goethe.64 Hölderlin wird von Gundolf an dieser Stelle nicht erwähnt. Wird der neue Gott jedoch aus Liebe geboren, ist er auch ein Vertreter des Wertes der Liebe, ein Gott der Liebe – so die Schlussfolgerung für das ‚Hyperion‘-Gedicht und damit für die Stellung Hölderlins als Bote des neuen Reiches. „Sinnbilder“ können zudem durch Gegenbilder noch deutlicher akzentuiert werden,65 indem sie einen Mangel auszufüllen vermögen. Der neue Gott benötigt geradezu ein „heldengrab“,66 einen ergänzungsbedürftigen Helden, den es zu übertreffen und zu überwinden gilt. Wenn jedoch das ‚Angesicht‘ des vormaligen Vorbilds durch eine abstrakte Wertsetzung entleert wird und das nur unscharf gezeichnete Bild des Vorbilds und dessen Wert-Neubesetzung auf ein außenstehendes Vorbild, nämlich George, verweist, schleicht sich ein irritierendes Moment in den Heldengesang ein, wie es die späten Kriegsgedichte zeigen. Als bemerkenswert erweist sich der Umstand, dass die Anhäufung von vorbildhaften Dichtern und Helden, die hypertrophe Bildung von Ahnengalerien mit einer Zunahme an abstrakten Formeln und Werten einhergeht, die ohne Personalisierung, im radikalsten Fall also nach Georges Ableben oder dem Entzug seines Vorbilds, gesichtslos und leer, keine Werte mehr vermitteln oder nicht mehr direkt und unmissverständlich zur Tat anleiten können. Dann wird nur noch ein Gestus der Normierung ausgestrahlt, des Neubeginns eines neuen Reichs, ohne dass dem „Sinnbild“ werthafte Gestalten als Bürgen zugeordnet werden könnten.67 III. ‚Der Krieg‘: Selbstentzug durch Entrückung Mehr noch als im ‚Hyperion‘-Gedicht wird das Thema des Heldengrabs, damit auch des Helden-Archivs in den späten Kriegsgedichten in Georges letztem Gedichtband ‚Das Neue Reich‘ verhandelt, wo unter anderem wiederum Seher-Figuren und deren Visionen vorgestellt wer63 64 65 66 67
Ebd., S. 47. Ebd., S. 48, S. 51 und S. 52. Ebd., S. 51. SW IX, S. 14. Gundolf, Dichter und Helden (Anm. 58), S. 51.
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den. Goethe, Hölderlin und die Knaben des Meeres bilden die Trias des geschichtsphilosophischen Auftakts des ‚Neuen Reichs‘ vor dem Hintergrund eines hellenisierten Deutschlands. Unmittelbar darauf folgen die großen Kriegsgedichte ‚Der Krieg‘, ‚Der Dichter in Zeiten der Wirren‘ und ‚Einem jungen Führer im Ersten Weltkrieg‘. Die Titel zeigen bereits eine Entpersonalisierung im Gegensatz zum ‚Hyperion‘-Gedicht an, da sie keine konkreten Vorbilder mehr aufrufen. Es ist geradezu ein Topos der George-Forschung, dass der prophetische Habitus im Spätwerk unverkennbar durchbricht und gleichzeitig Georges frühen Ästhetizismus, sein Programm der ‚Kunst für die Kunst‘ und seine Autonomiegebärde ablöst.68 Kurt Breysig hat diesen Umstand im Gespräch mit George bereits früh und ironisch festgehalten: ‚Denken Sie doch, wenn hinter der hohen Hecke aus dem schönen Garten auf einmal ein Prophet hervorgesprungen kommt, nackt, hartknochig und zottelhaarig …‘ Darauf George, einwerfend, ganz betrübt: ‚Nicht zottelhaarig, bitte nicht zottelhaarig!‘ – Die einzige Stelle des Gesprächs in alter ungezwungener Schalkhaftigkeit.69
Nach Dirk von Petersdorff belegen hingegen einige der Gedichte, nämlich die späten Lieder aus dem letzten Gedichtband gerade Georges „Einsicht in die Irrelevanz eines ästhetischen Antimodernismus im 20. Jahrhundert“70. Zu beachten bleibt freilich, dass einige dieser Lieder schon vor ihrem Erscheinen im ‚Neuen Reich‘ geschrieben wurden. Einerseits ist es nun unschwer zu erkennen, dass in den Kriegsgedichten der Ton des richtenden Propheten der Zeitenwende als ein unverkennbares Signum dominiert, andererseits werden aber auch Vorstellungen und Themen des frühen und mittleren George, vor allem im Blick auf das inspirative und mediale Dichterverständnis vom propheti-
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Vgl. u.a. Aurnhammer, Stefan George und Hölderlin (Anm. 3), S. 99. Wolfgang Braungart: Priester und Prophet. Literarische Autorschaft in der Moderne. Am Beispiel Stefan Georges. In: Christel Meier / Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Prophetie und Autorschaft. Charisma, Heilsversprechen und Gefährdung, Berlin 2014, S. 335–353, hier S. 348f. Kurt Breysig: Begegnungen mit Stefan George. In: Castrum Peregrini, 42, 1960, S. 9–32, hier S. 25–26. Dirk von Petersdorff: Als der Kampf gegen die Moderne verloren war, sang Stefan George ein Lied. Zu seinem letzten Gedichtband „Das Neue Reich“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 43, 1999, S. 325–352, hier S. 326.
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schen Dichter als Medium der Kunst und zwar nicht zuletzt im Blick auf die Lieder des ‚Neuen Reichs‘, fortgeschrieben.71 Georges Kriegsdichtung zeichnet sich teilweise stilistisch durch die Verwendung der „harten Fügung“72 (mit Hellingraths Begriff) und den Hang zur erinnernden Archivpoetik aus, die durch das fast ausufernde Aufrufen vergangener Größen (etwa Propheten, Vorbilder und Helden) gekennzeichnet ist. Entscheidend für das Gedicht ‚Der Krieg‘, das im Folgenden näher besehen werden soll, ist zunächst, dass es wie im exemplarisch vorangestellten ‚Hyperion‘-Gedicht eine Vorbilder-Verdichtung aufweist, die in noch extremerer Form kaum vorstellbar ist. Die damit einhergehende zunehmende ‚Gesichtslosigkeit‘ von immer abstrakter werdenden Werten in den Visionen befördert eine ‚Figur des Aufschubs‘, die in der Sphäre der Sterne beheimatet ist, wie es im Folgenden näher ausgeführt wird. Die im großen Blankversgedicht ‚Der Krieg‘ auftretende ProphetenFigur kann zunächst als Archiv von Vorbildern näher charakterisiert werden.73 Im Gedicht akkumulieren sich zwei Sprecherpositionen: Siedler und lyrische Sprechinstanz.74 Im ersten Teil von ‚Der Krieg‘75 ist die Rede vom „Seher“, der im Verbund mit einem vertretenden Mann, einem „schmucklose[n] greis“ – gemeint ist der General Hindenburg –,76 „falsche heldenreden“ entlarvt und „spotthafte könige“ an den Pranger stellt.77 Dieser „Siedler auf dem berg“ erinnert auch an Nietzsches Zarathustra, der vom erhöhten Standpunkt des Berges kritisie71
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Vgl. hierzu ausführlicher: Verf., Poetik des Prophetischen (Anm. 10), S. 151 und S. 175. Vgl. Jürgen Brokoff: Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde, Göttingen 22010, S. 488ff. Ders.: Norbert von Hellingraths Ästhetik der harten Wortfügung und die Kunsttheorie der europäischen Avantgarde. In: Ders. / Joachim Jacob / Marcel Lepper (Hg.): Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne, Göttingen 2014, S. 51–70. Dirk von Petersdorff: Fliehkräfte der Moderne. Zur Ich-Konstitution in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005, S. 127ff. Vgl. hierzu ausführlicher auch: Verf., Poetik des Prophetischen (Anm. 10), S. 164ff. Vgl. Armin Schäfer: Die Intensität der Form. Stefan Georges Lyrik, Köln – Wien – Weimar 2005, S. 291. SW IX, S. 22–26. Vgl. Würffel, Wirkungswille und Prophetie (Anm. 54), S. 247. SW IX, S. 23–24.
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rend prophezeit: „Das meiste war geschehn und keiner sah / Das trübste wird erst sein und keiner sieht.“78 Eine Dialogisierung des Gesprächs zwischen Siedler und Volk ist nur vordergründig vorhanden, dient sie doch lediglich „der Abwendung von den Vorstellungen des Fragenden, der abrupten Konfrontation mit der eigenen Wertwelt“.79 Die Dialogpartner Seher und Gemeinde sind nicht ebenbürtig, das Gespräch gleicht einem Selbstgespräch, einer Mahnrede, die keinen Einspruch gelten lässt. Der Seher ist weiterhin mit den Propheten des ‚Alten Testaments‘ in eine Reihe zu stellen, denn er wird wie Jeremia verkannt: „Nie wird dem Seher dank .. er trifft auf hohn“ und „sein amt ist lob und fem · gebet und sühne ·“.80 Scharf verurteilt der revolutionäre Prophet die falschen Grundwerte: „Was ist IHM mord von hunderttausenden / Vorm mord am Leben selbst? Er kann nicht schwärmen / Von heimischer tugend und von welscher tücke“81. Einer klassischen Propheten-Rede vergleichbar folgt auf das Strafgericht abschließend eine hoffnungsfrohe Vision, die „die graduelle Umwandlung der Sprechhaltung – von der Wiedergabe der Worte eines Dritten zur spontanen, agitativen, unmittelbaren Rede – in der siebenten Strophe“82 und die Fluchrede in der zehnten Strophe kontrastiert. Abschließend wird ein „sinnbild“ postuliert, das Christus („der an dem Baum des Heiles hing“) und Dionysos Zagreus durch eine Kreuzung von Antike und Germanentum („Apollo lehnt geheim / an Baldur“) überbietet.83 George archiviert derart die vorgängigen Seher, vornehmlich Dante, Nietzsche und sein Zarathustra, Hölderlin mit seiner Kombination von Dionysos und Christus, die alttestamentlichen Propheten (Hesekiel, dessen Waldbrandgleichnis alludiert ist, Elia, der als Ratgeber und Seher auf dem Berg sitzt, Jeremia und seine Klagelieder) und Jesus mit
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80 81 82 83
Ebd., S. 22–23. Vgl. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 4, München 1980, S. 11f. Jürgen Wertheimer: Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges. Formen und Wandlungen, München 1978, S. 166. Vgl. zur Dialogisierung: ebd., S. 160f. SW IX, S. 23. Ebd. Wertheimer, Dialogisches Sprechen (Anm. 79), S. 175. SW IX, S. 26. Vgl. Klaus Siblewski: „Diesmal winkt sicher das Friedensreich“. Über Stefan Georges Gedicht „Der Krieg“. In: Text + Kritik, 168, 2005, S. 19–34, hier S. 32.
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seinen Weissagungen über Jerusalem als Zeitenkritiker.84 Er bleibt jedoch bei der Vision eines neuen Sehers, des „Herr[n] der zukunft“,85 der im letzten Vers 149 lediglich durch die magische Zahl der Apokalypse beschworen wird, zurückhaltend: Das Gedicht besteht (zahlensymbolisch bedeutsam) aus zwölf Strophen zu je zwölf Zeilen, wodurch der Blick auf „Georges eigenen prophetischen Anspruch“ gelenkt wird,86 was auch Thomas Mann bemerkt.87 Das neue Reich wird schließlich vornehmlich ex negativo bestimmt, es ist all das nicht, was die moderne Welt repräsentiert.88 Diese „ideelle Unbestimmtheit von Georges Reichsutopie“89 sorgt zunächst für Irritationen. Klaus Siblewski betont die Mehrdeutigkeit des Gedichts ‚Der Krieg‘, das sowohl pazifistische als auch rassistische Aussagen enthalte.90 George wende sich von der Realität zusehends ab und bemühe eine „wolkige Konstruktion“91, die in einer Fatumsformel kulminiere: „Der kampf entschied sich schon auf sternen.“92 George sei dem realen Krieg nicht gewachsen und vermöge es auch nicht, den „vaterländischerhabenen Ton […] wirklich überzeugend durchzuhalten“.93 Durch die gewichtige Stellung des Schicksals am Ende des Gedichts scheint die Stellung des Sehers, der selbst schon viele Figuren vereint und wie ein Vorbildarchiv anmutet, marginalisiert zu werden. So betrachtet wäre die ‚Sternen-Entscheidung‘ als Katalysator für die Entpersonalisierung und Entwertung der Prophezeiung zu lesen, wonach der Seher durch eine höhere Instanz, symbolisiert durch die Sternenwelt, abgelöst wird. Und doch wird eine Figur des Aufschubs nachgeschoben, die die vorausgehenden Seher und Helden nochmals überhöht: „Herr der zukunft“ sei
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Vgl. den ausführlichen Kommentar zu ‚Der Krieg‘ in: SW IX, S. 139–142. Ebd., S. 26. Siblewski, „Diesmal winkt sicher das Friedensreich“ (Anm. 83), S. 27. Vgl. Würffel, Wirkungswille und Prophetie (Anm. 54), S. 246. Ernst Osterkamp: Das Neue Reich. In: Achim Aurnhammer / Wolfgang Braungart / Stefan Breuer / Ute Oelmann: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Bd. 1, Berlin – Boston 2012, S. 215. Ebd., S. 216. Siblewski, „Diesmal winkt sicher das Friedensreich“ (Anm. 83), S. 19f. Vgl. ebd., S. 32. SW IX, S. 26. Siblewski, „Diesmal winkt sicher das Friedensreich“ (Anm. 83), S. 33.
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der,94 der sich wandeln könne. Die Fatumsformel lässt sich relativieren, bedenkt man, dass George seine heldenhaften Figuren auch immer wieder als Sterne fasst, sie als wirksame Sternenbilder vorstellt. Dahinter verbirgt sich der Mythos von der Verwandlung eines jungen Heros in einen Stern am Himmel (Katasterismos).95 Vorbild für die Sternenapotheose ist wiederum der Lieblingsknabe des Kaisers Hadrian mit Namen Antinoos, der frühverstorben in einen Stern verwandelt wurde.96 Dadurch wird neben der plastischen Nähe und Leibhaftigkeit der göttlichen Figuren die Ferne, Unerreichbarkeit und Überlegenheit, aber auch die Langlebigkeit der Figuren betont. Der Ausgang entscheidet sich dementsprechend durch den Kampf der Helden in der SternenSphäre und nicht durch das Schicksal. Im Grunde genommen handelt es sich bei der Nennung der Sternenwelt wiederum um einen Hinweis auf die Entrückung der Vorbilder, wie sie aus dem Gedicht ‚Entrückung‘ bekannt ist oder aus dem oben besprochenen ‚Hyperion‘-Gedicht: Entrückt werden die Figuren, aber auch die Entscheidung, da sie offenbleibt. Im Gegensatz zum „bald“ im ‚Hyperion‘-Gedicht ist in der Schlusspartie des ‚Kriegs‘ das „schon“ bezeichnend,97 da der Vision damit eine Entscheidung der Vergangenheit zugrunde gelegt wird. Die Gestirnapotheose, die Vergöttlichung des Helden durch eine Sternwerdung, die auch im Gedicht ‚Der Krieg‘ durch den Verweis auf die Sternensphäre erinnert wird, ist zentral für Georges Vergöttlichung Maximins. Mit Bezug auf die Sternenapotheose heißt es in der ‚Vorrede‘ zum Maximin-Gedenkbuch: „Maximin hat nur kurz unter uns gelebt. Gemäss einem frühen vertrag den er geschlossen wurde er auf einen andren stern gehoben ehe seine göttlichkeit unsresgleichen geworden war.“98 Auch in den Gedichten des ‚Siebenten Rings‘ wird Maximin als Stern gefasst: „Als schon dein fuss nach den sternen sich sezte / 94 95
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SW IX, S. 26. Vgl. Böschenstein, Stefan Georges Spätwerk (Anm. 3), S. 124–125. Vgl. Georgios Varthalitis: Die Antike und die Jahrhundertwende: Stefan Georges Rezeption der Antike, Heidelberg 2000, S. 154. Vgl. Hansjürgen Linke: Das Kultische in der Dichtung Stefan Georges und seiner Schule, München – Düsseldorf 1960, S. 114 und S. 119. Vgl. Claude David: Stefan George. Sein dichterisches Werk, München 1967, S. 270. Vgl. Varthalitis, Die Antike und die Jahrhundertwende (Anm. 95), S. 166f. SW IX, S. 26. SW XVII, S. 65.
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Hat noch ein unterer strahl dich durchbohrt ·“.99 Der Stern verweist auch auf seinen Schöpfer: „Am dunklen grund der ewigkeiten / Entsteigt durch mich nun dein gestirn.“100 Im ‚Stern des Bundes‘, dem Gedichtband, der die zentrale Stellung des Sterns bereits im Titel aufzeigt, wird die Bedeutung Maximins mithilfe des Sternbilds nochmals betont, denn mit dem „Herr[n] der Wende“ ist freilich erneut die Maximin-Gestalt aufgerufen, die aber nicht mehr namentlich genannt wird: „Du stets noch anfang uns und end und mitte / Auf deine bahn hienieden · Herr der Wende · / Dringt unser preis hinan zu deinem sterne.“101 Claude David versteht den Stern als „Siegel des neuen Bundes“ und erkennt in ihm darüber hinaus „das alte Symbol des Pentagramms, des kabbalistischen Sterns, der fünfblättrigen Rose“, „die Beatrice im letzten Buch des Paradieses Dante überreicht“.102 Dantes ‚Göttliche Komödie‘ endet mit den Versen, die den zentralen Wert der Liebe, der auch im ‚Hyperion‘-Gedicht – wie gesehen – eine wichtige Rolle spielt, im Zusammenhang mit den Sternen erwähnen: „Die Liebe bewegt die Sonn‘ und andre Sterne“, Verse, die Gundolf in seinem Aufsatz über ‚Vorbilder‘ zitiert.103 Dem Gedicht ‚Der Krieg‘ sind Verse aus Dantes 17. Gesang seines ‚Paradiso‘ vorangestellt.104 Im ‚Stern des Bundes‘ wird das ‚liebevolle‘ Herbeizwingen des Göttlichen erinnert, das im ‚Teppich des Lebens‘ schon erkennbar ist:105 „Riss ich nicht ins enge leben / Durch die stärke meiner liebe / Einen stern aus seiner bahn?“106 Die Sternenmetaphorik erinnert zudem wieder an Hölderlins Hyperion, zumal dieser dem Namen nach ein ‚oben Gehender‘ ist und Sterne von seinem Freund Alabanda – poetologisch bedeutsam – als Buchstaben einer Heldenschrift gelesen werden: Da ich einst in heitrer Mitternacht die Dioskuren ihm wies, und Alabanda die Hand auf‘s Herz mir legt‘ und sagte: Das sind nur Sterne, Hyperion, nur Buchstaben, womit der Name der Heldenbrüder am Himmel geschrieben ist; in uns
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SW VI/VII, S. 102. Ebd., S. 105. Im ‚Siebenten Ring‘ steht: „Er war nur herr durch diesen stern“ (Ebd., S. 166). SW VIII, S. 8. David, Stefan George (Anm. 96), S. 292. Gundolf, Vorbilder (Anm. 55), S. 13. SW IX, S. 22. Vgl. SW V, S. 11. SW VIII, S. 70.
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sind sie! lebendig und wahr, mit ihrem Muth und ihrer göttlichen Liebe, und du, du bist der Göttersohn, und theilst mit deinem sterblichen Kastor deine Unsterblichkeit! –.107
Auch die Seherfigur in ‚Goethes lezte Nacht in Italien‘ zu Beginn des ‚Neuen Reichs‘ erblickt eingangs einen „stern“, der an den vergöttlichten Maximin erinnert und die Vision vom männlichen Heldenpaar vorbereitet.108 George selbst wurde – nebenbei bemerkt – auch früh als „Sternegucker“ von den Jungen in Bingen verspottet, weil er öfters ganz versunken in die Wolken gestarrt habe.109 Im Widmungsgedicht ‚An Stefan George‘ von Albert Rausch (d. i. Henry Benrath, 1882–1949) wird George als eine Art Priester und Prophet, der mit Sternen spielt und dadurch ein Tönen produziert, inszeniert: Ein Jüngling uns in wallendem Gewande, Weiß wie der Schnee auf sanfterglühten Firnen, Geht er wie segnend durch entlegne Lande, Und seine Finger spielen mit Gestirnen. […] Denn unser Weihegruß gilt nur dem Schönen! Und dies ist das Geheimnis seiner Taten: Ein dunkler Hall von wundervollen Tönen, Ein Hymnenruf zu reineren Gestaden.110
Georges Kunst trägt dabei den Charakter des Weihevollen, wie es in der letzten Strophe heißt. Im Gedicht wird eine Aufwärts-Abwärts-Bewegung dargestellt: Oben, auf der Ebene der Gestirne, ist der Sternenspieler angesiedelt – er streut sie uns hinab zu den Füßen wie die Blumen –, dann wendet er sich hinauf mit seinem „Hymnenanruf zu reineren Ge-
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Vgl. Friedrich Hölderlin: Hyperion oder Der Eremit in Deutschland. In: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. Im Auftrag des Württembergischen Kultusministeriums herausgegeben von Friedrich Beissner. Bd. 3: Hyperion, Stuttgart 1957, S. 36. Vgl. Manfred Landfester: Goethes letzte Nacht in Italien. Die Vision eines neuen Reiches. In: George-Jahrbuch 7, 2008/2009, S. 74–99, hier S. 85f. Osterkamp, Poesie der leeren Mitte (Anm. 5), S. 72, S. 119. Vgl. Kauffmann, Stefan George (Anm. 18), S. 22. Vgl. Karlauf, Stefan George (Anm. 10), S. 50. Albert Rausch: An Stefan George. In: Deutscher Almanach auf das Jahr 1907, Leipzig 1907, S. 68.
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staden“111, die wiederum die Himmels- und Sternenwelt meinen dürften. Sein segnender Vollzug kennt also zwei Richtungen, so dass er eine Vermittlungsfigur von Transzendenz/Sternenhimmel und Immanenz/ Erde darstellt. Ein Changieren zwischen oben und unten, ein Heranrücken der Sternendinge und eine Entrückung durch Töne prägt das Gedicht. Neben dem Sternenmotiv im Gedicht ‚Der Krieg‘ sind partiell auch ‚wundervolle Töne‘ als Gegengewicht zur ‚harten Fügung‘ zu vernehmen, die wie eine idyllische Gegenwelt des Friedens anmuten: Wo flöte aus dem weidicht tönt · aus hainen Windharfen rauschen · wo der Traum noch webt Untilgbar durch die jeweils trünnigen erben ..112
Während das Tönen der Flöten als poetologisches Moment in ‚Der Krieg‘ als Friedensvision der Zeitkritik folgt, bildet das Bild vom tönenden Knaben-Dichter den Auftakt von ‚Der Dichter in Zeiten der Wirren‘:113 Der Dichter heisst im stillern gang der zeit Beflügelt kind das holde träume tönt Und schönheit bringt ins tätige getrieb.114
Der in beiden Gedichten zu verzeichnende Wechsel zwischen prophetischer Zeitkritik und ästhetischem Sängertum, wenn auch in umgekehrter Richtung, erinnert an das ‚Zeitgedicht‘, das den Wechsel zwischen den zwei Dichtungsweisen thematisiert und relativiert:115 111 112 113
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Ebd., S. 68. SW IX, S. 26. Vgl. zu diesem Gedicht ausführlich: Barbara Beßlich: Vates in Vastitate. Poetologie, Prophetie und Politik in Stefan Georges ‚Der Dichter in Zeiten der Wirren‘. In: Olaf Hildebrand (Hg.): Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein, München 2003, S. 198–219. Beßlich sieht im Kind eine Anspielung auf Goethes Euphorion in ‚Faust II‘, den Eskapismus und die Figur des „salbentrunknen prinzen“ bei George (Ebd., S. 205). SW IX, S. 28. Ralf Simon geht davon aus, dass mit Posaune und Flöte „unterschiedliche lyrische Schreibweisen“ gemeint sind (Ralf Simon: Die Bildlichkeit des lyrischen Textes. Studien zu Hölderlin, Brentano, Eichendorff, Heine, Mörike, George und Rilke, Paderborn – München 2011, S. 214). Die „Ungleichheit der Form“ werde durch die „Gleichheit des Inhalts“ aufgehoben, was eine „Depotenzierung der Lyrik“ bedeute (Ebd.). Dadurch wird die Doppelnatur – Medium und
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Ihr sehet wechsel · doch ich tat das gleiche. Und der heut eifernde posaune bläst Und flüssig feuer schleudert weiss dass morgen Leicht alle schönheit kraft und grösse steigt Aus eines knaben stillem flötenlied.116
Sterne stehen bei George nicht nur für Vorbilder und Helden, sondern auch für eine besondere Dichtersprache: „Dein odem rinnt in meinem wort der sterne.“117 Melchior Lechter schreibt nach der Drucklegung des Maximin-Gedenkbuchs: „Das Göttliche, Ewige, einzig Wahre, singt in ihm: erhebt zu den Sternen.“118 Über das Bild des entrückten Sterns werden auch tönende Sternenklänge zum Thema erhoben, eine spezifische ‚Sternensprache‘, denn Georges Figuren klingen und tönen wie die Planeten und Sterne gemäß der Sphärenharmonie. In der ‚Vorrede zu Maximin‘ wird ihm ein „zauber des tönenden“ bescheinigt.119 Im letzten Gedicht des Maximin-Zyklus ‚Entrückung‘ löst sich – wie oben gezeigt – ein lyrisches Ich auf einem anderen Planeten in ein Tönen auf (es bleibt offen, ob Maximin oder sein Prophet gemeint ist).120 Die Verbindung der Sternenbilder mit einer Poetik des Tönens könnte auch ein Derivat der pythagoreischen Sphärenharmonie sein, wonach der ganze Kosmos und insbesondere die Sterne tönen und klingen. Die Töne entstehen durch die Geschwindigkeit und Bewegung der sieben Planeten und jeder Stern besitzt einen eigenen Ton, der sich in die siebenstufige Tonleiter der Planeten einfügt, weswegen die Zahl Sieben erneut magisch aufgeladen ist.121 Jan Stottmeister hat überzeugend pythagoreische Elemente in Stefan Georges Maximin-Kult eruiert, dabei auch Pythago-
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Herrschernatur – des Propheten-Bildes bei George unterstrichen (vgl. Verf., Poetik des Prophetischen [Anm. 10], S. 177). Die Flöte erinnert zudem an die letzten Verse des Gedichts ‚Jean Paul‘: „[…] Du regst den matten geist mit sternenflören / Dann bettest du den wahn auf weichem pfühl .. / Goldharfe in erhabnen himmels-chören / Flöte von Maiental und Blumenbühl!“ (SW V, S. 53). SW VI/VII, S. 6. SW VIII, S. 64. Lechter zitiert nach Jan Stottmeister: Pythagoreische Elemente in Stefan Georges Maximin-Kult. In: George-Jahrbuch 6, 2006/2007, S. 122–149, hier S. 124. SW XVII, S. 64. Vgl. SW VI/VII, S. 111. Vgl. Walter Burkert: Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon, Nürnberg 1962, S. 293ff.
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ras als Vorbild des charismatischen Sehers für George in Erinnerung gerufen.122 Zur Symbolik des Gedenkbuches für Maximin zählen ebenfalls Sterne, ein sternenübersätes Firmament.123 Zusätzlich lässt sich die Bedeutung der Sphärenharmonie in diesen pythagoreischen Kontext einbeziehen. Eine solche ‚Sternensprache‘ des Tönens und Klingens, die zwischen deutlicher und einer quasi vorsprachlichen Artikulation steht, heißt bei George „ton von sternen“ als Antwort auf den „schrei zu sternen“.124 Im ‚Stern des Bundes‘ erkennt man ebenfalls die Verbindung zwischen der Sphäre der Sterne und dem Helden- und Sängertum: Die hehre harfe und selbst die geschmeidige leier Sagt meinen willen durch steigend und stürzende zeit Sagt was unwandelbar ist in der ordnung der sterne. Und diesen spruch verschliesse für dich · dass auf erden Kein herzog kein heiland wird der mit erstem hauch Nicht saugt eine luft erfüllt mit profeten-musik Dem um die wiege nicht zittert ein heldengesang.125
Dieser Hintergrund ist zumindest mit Verweis auf das Sternenmotiv auch im Blick auf das Gedicht ‚Der Krieg‘ zu erinnern und könnte die ‚idyllischen Einlagen‘ in den Kriegsgedichten und den Verweis auf die Sternensphäre zumindest erhellen helfen. Blickt man auf das Sternenmotiv bei George, gewinnt Max Webers Bemerkung über den ‚dröhnenden‘ George noch an Bedeutung. Max Weber kritisiert George mit den vielzitierten Worten, dass sein „orgiastische[s] Dröhnen“, aber auch sein „leidenschaftliche[s] Harfengetön“ eine konkrete Botschaft verweigeren.126 Die visionäre Vorbild-Figur bleibt einerseits tatsächlich als ausgehöhlte Funktionsstelle, anderer-
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Stottmeister, Pythagoreische Elemente (Anm. 118), S. 122–149. Ebd., S. 129. Auch Claude David weist auf pythagoreische Elemente im GeorgeKreis hin, etwa dass die Novizen schöne Euphonien vortragen und mystische Freundschaftsbänder tragen (vgl. David, Stefan George [Anm. 96], S. 295). Die Konkurrenten des Maximin-Kultes, die Theosophen, verehren den HinduKnaben Krishnamurti und bezeichnen sich als „Sternorden“ (vgl. Jan Stottmeister: Der George-Kreis und die Theosophie. Mit einem Exkurs zum Swastika-Zeichen bei Helena Blavatsky, Alfred Schuler und Stefan George, Göttingen 2014, S. 221). SW VIII, S. 22. Ebd., S. 18. Marianne Weber: Max Weber: Ein Lebensbild, Heidelberg 31984, S. 466.
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seits als strahlender Stern und als „Harfengetön“127 zurück. So lässt sich die besondere Aura von Georges Figuren hervorheben. Bei Walter Benjamin wird die Aura als „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“,128 gerade durch die Sterne symbolisiert.129 Die wechselseitige Abhängigkeit von tönendem Subjekt und Sprache beschreibt am besten Adorno in seiner ‚Rede über Lyrik und Gesellschaft‘: „Die höchsten lyrischen Gebilde sind darum die, in denen das Subjekt, ohne Rest von bloßem Stoff, in der Sprache tönt, bis die Sprache selber laut wird.“130 Georges späte Prophetie ist zweifelsohne von einer schillernden „Offenheit“131 und vom Paradoxon geprägt, „dass in ihr das Absolute immer zugleich das Vorläufige ist“.132 Dies bewirkt – ähnlich wie im ‚Stern des Bundes‘ – einen „Widerstreit zwischen ‚Zeichen-Vollzug‘ und ‚ZeichenDeutung‘“.133 ‚Der Krieg‘ ist aber auch ein Beleg dafür, dass ein Dichter-Prophet im Zuge einer hypertrophen Ahnengalerie seine immanente Seher-Instanz in die Form einer tautologischen Selbstreferenz umwandelt. Georges „Aufspaltung in eine multiple Rollenidentität“ befördert dabei einen „Allerweltschiliasmus“.134 Die anvisierte Überbietungsgeste im Blick auf die Vorbilder mutet wie ein museales Archiv an.135 Die ma127 128
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Ebd. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. M. 2006 [zuerst 1936], S. 19. Vgl. zur Rezeption des AuraBegriffs Klages’ bei Benjamin: Michael Pauen: Dithyrambiker des Untergangs. Gnostizismus in Ästhetik und Philosophie der Moderne, Berlin 1994, S. 187f. Vgl. Wolfgang Bock: Walter Benjamin – die Rettung der Nacht. Sterne, Melancholie und Messianismus, Bielefeld 2000. Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft [1957]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann. Bd. 11: Noten zur Literatur, Frankfurt a. M. 1997, S. 49–68, hier S. 56. Würffel, Wirkungswille und Prophetie (Anm. 54), S. 252. Osterkamp, Poesie der leeren Mitte (Anm. 5), S. 229. Cornelia Blasberg: „Auslegung muß sein“. Zeichenvollzug und Zeichendeutung in Stefan Georges Spätwerken. In: Braungart / Oelmann / Böschenstein, Stefan George (Anm. 3), S. 17–33, S. 31. Vgl. Osterkamp, Poesie der leeren Mitte (Anm. 5), S. 48. Wolfgang Braungart spricht mit Blick auf die Widmungsgedichte von einem „poetische[n] Mausoleum“ (Wolfgang Braungart: „Was ich noch sinne und was ich noch füge | Was ich noch liebe trägt die gleichen züge.“ Stefan Georges performative Poetik. In: Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur, 168, 2005, S. 3–18, hier S. 11).
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gische ‚Totenbeschwörung‘136 von Göttern und Helden im Rahmen eines ausufernden Polytheismus bringt indes Figuren der Entrückung und des Aufschubs sowie Anzeichen einer visionären ‚Sternensprache‘ hervor.137 Die Stelle der heuristischen Vorbilder nimmt ein neuer Seher ein: Dessen Botschaft wirkt allerdings dadurch ‚leer‘138, dass er aufgrund des ungenannten Werts des ‚Neuen Reichs‘ geradezu auf einen ‚Flöten-Ton‘, vielleicht auch als Reflex auf die Sternensphäre der Helden, konzentriert wird. Zugleich verweist die Sternenmetaphorik auf ein spezifisches neues Heldentum und enthält im Verbund mit dem Tönen auch wiederum einen Hinweis auf Maximin. George changiert mit Böschenstein gesprochen auch hier zwischen „Öffnung und Bewahrung des geheimen Wissens vom neuen Leben“139. Deswegen münden seine Gedichte oftmals in eine Poetik des visionären Aufschubs: „Wunder undeutbar für heut / Geschick wird des kommenden tages.“140 Dahinter steht die Idee eines Selbstentzugs, die Form eines „heldengrabs“, aus dem vielleicht neue „sonnen-erben“ und Helden, insbesondere eine neue ‚Sternensprache‘ in Form von Liedern entstehen können.141
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Vgl. SW VI/VII, S. 22–23. Zum Polytheismus Georges: Osterkamp, Poesie der leeren Mitte (Anm. 5), S. 229. Friedhelm Marx hält für George allgemein das „Dilemma, einerseits Deutungsgewalt zu reklamieren, andererseits jede einsinnige Deutung zu verweigern“, fest (Friedhelm Marx: Heilige Autorschaft? Self-Fashioning-Strategien in der Literatur der Moderne. In: Heinrich Detering [Hg.]: Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart – Weimar 2002, S. 107–120, hier S. 116). Böschenstein, Stefan Georges Spätwerk (Anm. 3), S. 14. SW IX, S. 49. Ebd., S. 14.
‚Herr der Wende‘ und ‚erkrankte welten‘
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‚Herr der Wende‘ und ‚erkrankte welten‘. Wirklichkeit des Apokalyptischen und Erwartung des Eschatologischen bei George und in seinem Kreis 1914–1917 Der Schweizer Theologe und Kardinal Hans Urs von Balthasar konzipierte in den 1920er und -30er Jahren ein dreibändiges Buch mit dem Titel ‚Apokalypse der deutschen Seele‘, das er Ende der 30er Jahre publizierte. Darin hat er nicht nur ein theologie- und dogmengeschichtlich relevantes Kapitel über die Begriffe Apokalypse und Eschatologie geschrieben, sondern auch – und vor allem – eine literatur- und geistesgeschichtliche Wirkungsgeschichte der beiden Begriffe geliefert. Es handelt sich um ein in der Tat kolossales Werk: drei Bände mit insgesamt mehr als 1600 Seiten,1 in denen der Autor Goethe und Lessing, Kant und Schiller, Fichte und Novalis, Hölderlin und Jean Paul, Nietzsche, Kierkegaard und Dostoevskij, und schließlich auch Hugo von Hofmannsthal und Stefan George zusammen mit vielen anderen Schriftstellern und Denkern analysiert. Und zwar unter dem besonderen Blickwinkel der Beziehung zwischen Apokalypse und Eschatologie, die für den Autor eine zentrale Rolle in der deutschen Geistesgeschichte einnimmt und ihm besondere Einsichten in die deutsche Seele bietet. Apo-kalypsis heißt Enthüllung, heißt also soviel wie Offenbarung: revelatio. Offen liegt aber das Außen, verschleiert das Innen. Seele ist dieses Innen. […] Was immer in Philosophie, Dichtung und Theologie lebendig ist, geht den Weg nach innen […]. Die Ebene des Alltags bleibt immer zögernder zurück, die wachsende Helle des Wirklichen blendet die Begriffe, Strahlen brechen aus, die die
1
Vgl. Hans Urs v. Balthasar: Apokalypse der deutschen Seele. Studien zu einer Lehre von letzten Haltungen in drei Bänden. Bd. I: Der deutsche Idealismus, Salzburg 1937; Bd. II: Im Zeichen Nietzsches, Salzburg 1939; Bd. III: Die Vergöttlichung des Todes, Salzburg 1939. (Von der Studie existiert nun eine ebenso dreibändige Neuedition: Hans Urs v. Balthasar: Die Apokalypse der deutschen Seele. Studien zu einer Lehre von letzten Haltungen [Bd. I: Der deutsche Idealismus; Bd. II: Im Zeichen Nietzsches; Bd. III: Vergöttlichung des Todes], Einsiedeln 31998.)
DOI 10.1515/george-2016/2017-0011
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Apparate der Sachlichkeit nicht mehr einfangen: in dieser Heimlichkeit wird die Welt unheimlich, in dieser Enthüllung apokalyptisch.2
So die Worte, die den ersten Band mit dem Titel ‚Prometheus‘ eröffnen. Balthasar ordnet auf diese Weise die theologischen Kategorien der Apokalypse und Eschatologie in einen facettenreichen problem- und gestaltgeschichtlichen Zusammenhang ein. „Apokalypse der deutschen Seele“ bedeutet bei ihm also „Enthüllung der deutschen Innerlichkeit“ und impliziert zugleich eine Darstellung, in der die Kontraste, die Spannungen, die Widersprüche der deutschen Seele zwischen Ende und Anfang, Innen und Außen, Geist und Geschichte in einer kohärenten Heilsgeschichte aufgehen, wo die Seele ihre Vervollkommnung schließlich findet. In diesem Denkzusammenhang findet auch Stefan George einen Platz, denn er gilt für Balthasar – neben Spitteler – als Dichter der reinen Form, der die Erde „vermenscht“ und „formt“, und eine heroische Haltung für sich reklamiert, weil er sich gegen eine Natur stellt, die er unbewohnbar und dämonisch sieht.3 Daher kann der heroische Dichter keine positive Beziehung zum „Grunde“ finden, fährt Balthasar fort, sondern kann sich vielmehr nur als „Kämpfer mit dem Göttlichen“4 stilisieren. Der Dichter George nimmt eine prometheische und dionysische Gestalt an, etwa zwischen Goethe und Nietzsche. Die heldischen, naturfeindlichen und daher transzendenznahen Züge von George weisen, Balthasar zufolge, auf eine Antichristus-Haltung hin, nämlich auf eine Attitüde, die als Gegensatz zum Christus gilt. George „hat nicht“ – so Balthasar –, „wie Nietzsche, verhüllte Offenbarung erhalten, die er verhüllt weiterzugeben hat. Sondern er verhüllt sein eignes Offenbaren, weil die letzten Dinge als Quellen des Zaubers und alles Göttlichen in Scheu und Ehrfurcht verborgen bleiben müssen“.5 Zur weiteren Erklärung der ‚prophetischen‘ Stellung Georges innerhalb der deutschen Geistesgeschichte zitiert Balthasar den neutestamentlichen Spruch aus den Apostelgeschichten (1, 7b): „Es ist nicht eure Sache, Zeit und Stunde 2
3
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Ich zitiere den ersten Band aus der zweiten Edition von 1947. Hans Urs v. Balthasar: Prometheus. Studien zur Geschichte des deutschen Idealismus, Heidelberg 1947, S. 3. Anders als bei der ersten Edition trägt nun der erste Band den Obertitel ‚Prometheus‘. „Landschaft ist bei George immer vermenschte, geformte Erde“. Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele, Bd. II (Anm. 1), S. 119. Ebd., S. 120. Ebd., Bd. III, S. 48.
‚Herr der Wende‘ und ‚erkrankte welten‘
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zu kennen“. Auf diese Weise stilisiert Balthasar George zu einer heroischen Dichterfigur, die eine selbst geschaffene esoterische Lehre weiterzugeben hat: und zwar in Form einer kontrollierten Offenbarung. „Nur der meister weiß den tag“, bestätigt George im ‚Stern des Bundes‘6 – ein Passus, der auch von Balthasar zitiert wird. Georges „letzte Haltung“ sei, Balthasar zufolge, eschatologisch, weil der Dichter der einzige ist, der die letzten Dinge für den Menschen voraus-kennt – ohne dass er dabei eine ‚prophetische‘, also eine systematische gottesabhängige Beziehung zu seiner Gefolgschaft aus Schülern und Gläubigern stiftet. Und doch gelte eine solche Haltung als ‚apo-kalyptisch‘, weil sie das Verborgene seines Dichtens enthüllt, eben in Form der Selbstoffenbarung. Die Rolle von George als Dichter-Prophet ist in der Forschungsliteratur oft betont worden, und eine solche Bezeichnung ist völlig zutreffend, wenn wir an die damalige geistesgeschichtliche Dimension des Prophetentums denken: Der Wortkomplex Prophet, Prophetismus, Prophezeiung usw. wurde oft und gern benutzt, um eine strukturelle Nähe zur Transzendenz, einen gewissen Hang zur Voraussage und eine besondere Stilisierung des Dichters darzustellen. Dieser Wortkomplex geht eher zurück auf die romantische Dichterstilisierung als auf die nabi’im, die altisraelitischen Propheten, die in ihrer sozialen und heilsgeschichtlichen Rolle dem Propheten seine religionswissenschaftliche Bedeutung verleihen. Aus diesen Gründen halte ich es für irreführend, wenn George innerhalb einer Analyse des theologischen Diskurses um seine poetologischen Konstruktionen als Prophet beschrieben wird: Denn diese Kategorie ist einerseits generell verortet in der Geschichte Altisraels und hat andererseits eine strikt religionswissenschaftliche Rolle inne. Die Propheten sind daher – wie 1917 der Alttestamentler Hermann Gunkel, ein Zeitgenosse Georges, schrieb – „Dichter und Schriftsteller gewesen, und sicherlich Poeten und Redner allerersten Rangs, aber dennoch haben sie sich nicht als Dichter eigentlich gefühlt“.7 George ist also sehr wohl Prophet in der Haltung und Selbststilisierung als Priester und Künder seiner eigenen Privatreligion, aber er will sich bestimmt 6
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Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann. Bd. VIII, Stuttgart 1982ff., S. 98. Im Folgenden mit SW, Bandnummer und Seitenzahl zitiert. Hermann Gunkel: Die Propheten, Göttingen 1917, S. 1.
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nicht beschränkt sehen auf die für den Propheten konstitutive Vermittlerrolle zwischen irdischer Gemeinschaft und Gott, zwischen Gegenwart und Zukunft. Denn er hält sich für zu wichtig in der Heilsökonomie des Dichterischen, um zum ‚bloßen‘ Mittel zur Vorbereitung des messianischen Reiches herabgestuft zu werden.8 Aber zurück zu Balthasar: In diesem komplizierten, durchkreuzten Ineinander von Eschatologie und Apokalypse gewinnen bei ihm die üblichen theologischen Kategorien neue Konturen: Balthasar folgt also nicht der für die Theologie typischen Dichotomie zwischen Apokalypse und Eschatologie, die jeweils für die Zeiten der geschichtlichen und individuellen Rettung in Christus stehen.9 Balthasar entwickelt eine buchstäbliche ‚Psycho-graphie‘ des Menschen, d.h. eine genaue Beschreibung seiner Seele, die im dichterischen Diskurs vorkommt und Heilsgeschichte und Individuum zusammenhält. Das Eschatologische wird bei Balthasar zum Existenziellen und zwar, indem die Lehre der letzten Dinge zum Bild wird. Man versteht das Ende demnach nur durch Bilder. Das dichterische Schaffen verkörpert für Balthasar diese Bild-Sprache schlechthin, ein perfektes eschatologisches Mittel zum Verständnis – oder noch besser: zur Abbildung – von Anfang und Ende, von Mensch und Gott, von Innen und Außen, von Geist und Geschichte. 8
9
„Die Arbeit am Dichterporträt des Propheten geht bei George mit einer kombinatorischen imitatio von Vorbildern einher, die wiederum reduktionistisch auf Kernaspekte (Werte) hin konzentriert werden. Ahnengalerien stellen eine Technik der Vorbilder-Einverleibung dar: An ihnen lässt sich ablesen, wie sich eine Figur dadurch zur Leitfigur zu erheben sucht, dass sie sich in eine Reihe mit Vorbildern stellt und diese zu konservieren und zu überbieten ankündigt.“ Gabriela Wacker: Poetik des Prophetischen. Zum visionären Kunstverständnis in der Klassischen Moderne, Berlin – Boston 2013, S. 173. Der Theologe Helmut Merklein hat in der christlichen Theologie die enge Beziehung von Eschatologie und Christologie aufgezeigt, die wiederum eine „implizite Christologie“ generiert. Vgl. Helmut Merklein: Eschatologie im Neuen Testament. In: Heinz Althaus (Hg.): Apokalyptik und Eschatologie. Sinn und Ziel der Geschichte, Freiburg 1987, S. 11–42, hier S. 15. Es sei demnach in der Theologie üblich geworden, Apokalyptik und Eschatologie „im Gefolge der existentialen Interpretation Rudolf Bultmanns“ zu unterscheiden. (ebd., S. 37, Fn. 2). Und doch: „Christologie ohne Apokalyptik wird zur Siegerideologie“. Johann Baptist Metz: Der Kampf um die verlorene Zeit. Unzeitgemäße Thesen zur Apokalyptik. In: Jahrbuch Politische Theologie 3, 1999, S. 212–221, hier S. 218.
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Kurzum und als erstes Fazit: Eschatologie und Apokalypse wirken bei Balthasar vor allem durch ihr wechselseitiges Ineinandergreifen. Die Eschatologie wird somit apokalyptisch, weil sie das Schicksal des Menschen mitten in seiner Existenz offenbart; und die Apokalypse wird eschatologisch, weil sie die letzte Haltung des Menschen im dichterischen Diskurs rekonstruiert. Diese lange und leider etwas komplizierte Einführung in das Denken des jungen Balthasar ist meiner Meinung nach nötig, um Georges Beziehung zu den „letzten Dingen“ zu erklären. Nötig, weil das Eschatologische bei Balthasar – und auch bei George – dem Paradox folgt, dass es etwas Existentielles ist, das der Mensch gar nicht versteht oder auch erahnt, sondern nur poetisch erspürt. Die Stimme des Dichters dient bei einer solchen Wahrnehmung des Eschatologischen nicht etwa dazu, die letzten Dinge prophetisch anzukündigen. Vielmehr hüllt der Dichter sie in einen esoterischen Diskurs ein, in dem sie auf die Leser verbergend und enthüllend zugleich wirken. Aus diesem Paradox entsteht der zweideutige Sinnzusammenhang von der „Lehre zur Offenbarung“ des ‚Sterns des Bundes‘ – wie Kai Kauffmann sie nennt.10 Dieser Gedichtzyklus, 1914 veröffentlicht, gilt bekanntlich als theologischer Kommentar zur Apotheose des jung verstorbenen Maximilian Kronbergers zu Maximin, der im ‚Siebenten Ring‘ schon als Gott erschienen war. Hier aber geht es mir darum, die dichterischen Theologumena von George an sich zu analysieren, und diese eben nicht (nur) als verkappte poetologische Formeln zu betrachten. Vielmehr will ich Georges Dichtungen als konsequente Ausdrucksformen einer im Grunde genommen theologischen Haltung lesen. In diesem Sinn lassen sich Georges Theologumena in einen relativ kohärenten dogmengeschichtlichen Diskurs einordnen, in dem jedoch die Abweichungen vom Dogma interessanter sind als ihre orthodoxen Aspekte. Die Apokalypse, die im ‚Stern‘ Thema ist, wirkt so wie eine Offenbarung. Eine Offenbarung aber, die unter den Gläubigen einen neuen sakralen Raum eröffnen soll, in dem aber der Priester nichts Prophetisches zu verkünden hat, denn er offenbart nur das, was schon angekündigt und vorhanden war, und das ist nämlich der Bund der Gefolgschaft mit dem Dichter und Meister, die nach Transzendenz strebt, 10
Vgl. Kai Kauffmann: Der Stern des Bundes (SW VIII). In: Achim Aurnhammer / Wolfgang Braungart / Stefan Breuer / Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Bd. 1, Berlin–Boston 2012, S. 191–203, hier S. 191.
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Gabriele Guerra
vermittelt durch Maximin. (Der wiederum bestätigt die Rolle Georges als Priester und Tempelweiher indirekt). Das Prophetische ist bei George also eigentlich orakelhafter Natur: seine Stimme propagiert eine heilsgeschichtliche Rede, die die Gläubigen und Schüler empfangen und interpretieren müssen, obwohl deren Wortkargheit und -verborgenheit einen offenen Zugang zum Offenbarten verhindern. Der Dichter nun kündigt aber keine neue Zeit und keine neue Erde an (wie es bei den Apokalyptikern der Fall ist), er winkt nur auf sie hin. Gerade darin besteht die eschatologische Dimension seiner Rede: dass er eine Offenbarung propagiert, die von den letzten Dingen und – vor allem – den letzten Haltungen (im Sinne Balthasars) lehrt. Er lehrt nämlich, wie der Mensch sich auf das Ankommen der neuen Zeit und Erde vorbereiten muss, wenngleich die Offenbarung rätselhaft bleibt. Die dichterische Sprache wird somit zum reinen Signal, zum geheimen Indikator der neuen, sich erschließenden poetisch-eschatologischen Wirklichkeit. Signale und Indikatoren verkörpern jene Deutungsvektoren, die nur indirekt darauf hinweisen, dass es so etwas wie eine eschatologische Ankündigung und letztlich eine offenbarende Apokalypse gibt. Um das mit den Worten Heideggers zu paraphrasieren, d.h. des Interpreten Hölderlins: Dichter ist derjenige, der imstande ist, die Winke der Götter auszuhalten – und der dann „das Seyn stiftet“.11 Aus dieser Dreieckskonstellation von Dichten, Winken und Stiften ergibt sich die poetische Geste Georges im ‚Stern des Bundes‘. Die Eingangskomposition, die den Zyklus eröffnet, lädt somit zu einer Reflexion über die eschatologische Haltung Georges zum Dichterischen ein. Die Poesie wird hier zur heiligen Topographie, wörtlich zum Tempel, der bei seiner Gründung von der unheiligen Umgebung zu trennen ist (das genau ist die Etymologie des griechischen Wortes für Tempel: témenos). Der Priester hat dabei die Aufgabe, den von ihm rituell abgetrennten Himmelsanteil auf die Erde zu projizieren und somit den Tempelumfang genau zu bestimmen, oder noch besser gesagt: auf den zu bauenden Tempel hinzuwinken. Bernhard Böschenstein hat in seiner Textanalyse zum Spätwerk Georges mit Recht von einer Art Wende in dessen dichterischen Schaf11
Das Thema des Winkens ist mit Martin Heidegger verbunden. Vgl. dazu Martin Heidegger: Hölderlins Hymnen ‚Germanien‘ und ‚Der Rhein‘ (Gesamtausgabe, Band 39), Frankfurt am Main 1980, S. 33: „Dichtung – Aushalten der Winke der Götter – Stiftung des Seyns“.
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fen gesprochen, die zum Stiften einer „mustergültige[n] Gemeinschaft frommer jungen Menschen“ führt. Dabei betrachtet Böschenstein die Sternsymbolik des Zyklus als eine Symbolik, die zur Herstellung einer „dritten Ordnung“ dient, in der „weder […] eine antike Götterstatue wiederbelebt noch ein mittelalterliches Christusbild beschworen“ werden, sondern eher das Bestehen des Dichters und dessen Gemeinschaft „in der Schwebe zwischen Gegenwart und Entrückung“ signalisiert wird.12 Der Rekurs auf die Tempelmetaphorik verweist aber auch auf den Raumcharakter des Zyklus, denn seine Kennzeichnung als Tempel stellt genau diese „dritte Ordnung“ plastisch dar, zwischen klassischem Heidentum und Christentum, zwischen Transzendenz des Gottes und Immanenz der göttlichen Epiphanie: Diese Charakteristik entspricht auch dem, was Jan Aller, der niederländische Germanist, im Jahr 1939 die „dynamische Monumentalität“ des Eingangsgedichts in dessen „geistigen Raum“ nannte.13 Schon oft genug wurde dieses Eingangsgedicht von der älteren und von der aktuellen George-Forschung detailliert und sorgfältig analysiert. Hier möchte ich kein weiteres Kapitel hinzufügen, sondern mich nur auf ein kleines Sprachdetail konzentrieren, das sozusagen ein grammatikalischer Wink ist, ein Indikator für eine Submetaphorik, die diesem facettenreichen und sehr strukturierten Text eigen ist. Es geht dabei um die Aufwärtsbewegung im zweiten Vers: Auf deine bahn hienieden · Herr der Wende · Dringt unser preis hinan zu deinem sterne.14
In diesem „Hinan“ gehobenen Stils ertönt wieder der Vers aus dem ‚Faust‘ Goethes über das Ewigweibliche, das „uns hinanzieht“ (und gerade „hinan“ ist das allerletzte Wort im ‚Faust‘); dieses „Hinan“ findet eine perfekte Parallele im Schluss des ‚Großen Welttheaters‘ Hugo von Hofmannsthals, in dem ein Engel mit entschiedener Stimme den Seelen den letzten Weg weist: 12
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Bernhard Böschenstein: Stefan Georges Spätwerk als Antwort auf eine untergehende Welt. In: Wolfgang Braungart/Ute Oelmann/Bernhard Böschenstein (Hg.): Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘, Tübingen 2001, S. 1–16, hier S. 2 und S. 6–7. Vgl. Jan Aller: Zur Interpretation des Stern des Bundes. Der Dichter und sein Gott. In: Neophilologus 24, 1938/39, S. 117–164, hier S. 119. SW VIII, S. 8.
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Gabriele Guerra Hinauf! Vor Meisters Angesicht! Bereitet euch auf ungeheures Licht.15
Dieser Passus Hofmannsthals schließt seinerseits die Trilogie Hans Urs von Balthasars ab. „Hinauf“, „hinan“: Die Lokaladverbien drücken bekanntermaßen eine Bewegung vom Standpunkt des Sprechers aus, die sich in diesem Fall explizit nach oben richtet. Das „Hinan“ bei George (und Goethe), sowie das „Hinauf“ bei Hofmannsthal (und bei Balthasar), zusammen mit dem Hinweis auf den Meister bzw. auf den „Herr[n] der Wende“, signalisieren eine Aufforderung zur Aufwärtsbewegung zu Gott und stellen somit plastisch jenen eschatologischen Gang dar, zu dem die Eingangskomposition des ‚Sternes‘ einlädt. In seinen ersten Versen stehen damit unauffällige, und doch markante Säulendekorationen als kleine Indikatoren für den komplexen theologischen Zusammenhang von Apokalypse und Eschatologie bei George. Für beide Anzeichen ist das Hinan repräsentativ: Der Stern, zu dem „unser preis“ hinan dringt, markiert eine Offenbarung im eschatologischen Sinn. Diese Offenbarung ist nicht nur die des verklärten Maximin, sondern sie ist die Apokalypse jener deutschen Seelen, die sich um den Dichter, Meister und Priester Stefan George versammeln und in ihm Offenbarung und Wahrheit finden. „Apokalypse der deutschen Seelen“ in beiden möglichen Bedeutungen des Genitivs: eine Offenbarung nämlich, durch die sich der eschatologische Gehalt dichterischer Existenz entpuppt; und zugleich eine Apokalypse, die der Ausdruck einer solchen Existenz ist. So spitzt sich die soziale und metaphysische Bedeutung des Bundes im Zyklus Georges zu. Und dies ist einer von vielen Ansatzpunkten den Zyklus zu deuten, der sich paradigmatisch in einer grammatikalischen Pathosformel versinnbildlicht und damit wiederum den Wahrheitsgehalt der Epoche in sich trägt. Ein solcher textanalytischer Zugang zum theologischen Diskurs bei George drängt sich in unserem Rahmen besonders für das Gedicht ‚Der Krieg‘ auf. George hat es 1917 verfasst und veröffentlicht, und es hat später in dem Band ‚Das Neue Reich‘ seinen Platz gefunden. Während nun im Eingangsgedicht aus dem ‚Stern des Bundes‘ die Aufwärtsmetaphorik dominiert, ist die Metaphorik hier umgekehrt. Lesen wir dazu einige der bekanntesten Strophen aus dem Gedicht:
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Zitiert in: Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele (Anm. 1), Bd. III, S. 449.
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Zu jubeln ziemt nicht: kein triumf wird sein · Nur viele untergänge ohne würde .. Des schöpfers hand entwischt rast eigenmächtig Unform von blei und blech · gestäng und rohr. Der selbst lacht grimm wenn falsche heldenreden Von vormals klingen der als brei und klumpen Den bruder sinken sah · der in der schandbar Zerwühlten erde hauste wie geziefer .. Der alte Gott der schlachten ist nicht mehr. Erkrankte welten fiebern sich zu ende In dem getob. Heilig sind nur die säfte Noch makelfrei versprizt – ein ganzer strom.16
Nach drei Jahren Krieg und Tod richten sich die Blicke und Gesten des Dichters – und mit ihm die seines Kreises – nicht mehr nach oben, zur Beschwörung eines Gottes des heiligen Bundes, sondern zwangsläufig nach unten, zur Erde. Sie sieht „zerwühlt“ aus, wo „de[r] bruder sinken“ zu sehen ist und wo nur „untergänge ohne würde“ sind. An die Stelle der ‚Apokalypse der deutschen Seele‘, die den theologischen Diskurs im ‚Stern‘ dominierte, tritt hier sozusagen die ‚Ipokalypse‘ des deutschen Körpers, also der Absturz der Seelen nach unten und deren Fallen ins Irdische, Vergängliche, Untergegangene. Die ApokalypseOffenbarung, die den religiösen Ton des ‚Sterns‘ durchdrängt und charakterisiert, wird hier zur Apokalypse-Katastrophe, zur Beschreibung des Absturzes, der die Welt jetzt bestimmt. In dieser Apokalypse also wird das dem Krieg geschuldete Untergehen in seiner Tragik erfasst. Das Gedicht bezeichnet damit eine Wende innerhalb des theologischen Diskurses Georges: hier spricht nicht mehr der Priester und Tempelweiher (wie im ‚Stern‘), sondern jetzt der richtige Apokalyptiker. Dieser nämlich muss den Tiefpunkt der Geschichte erreichen, um die neue Zeit und Erde ankündigen zu können. Dann kann sich der Absturz in Umsturz und folglich in die Neugründung des heiligen Raums verwandeln, nachdem der Raum durch Kriegsdelikte ganz profan geworden ist. Ausgehend von diesem Gegensatz zwischen der Aufwärts-Metaphorik des ‚Sterns‘ und der Abwärts-Metaphorik des Kriegsgedichts, möchte ich diese Analysen nun noch in Beziehung setzen zu Georges Verhältnis zur Geschichte. Dafür beziehe ich eine Analyse der dichteri-
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SW IX, S. 24.
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schen Haltung Georges von Wolfgang Braungart ein, weil sie mir hierfür signifikant erscheint: Georges Weg zur Lehre ist, was seine Lyrik angeht, zugleich ein Weg ins poetische Schweigen. Es ist kein Abbrechen nach einem eruptiven Produktivitätsschub wie bei Rimbaud, sondern ein Schweigen der zunehmenden melancholischen Skepsis und des „verzichts“.17
In der Dichterstimme des späten George ist also kein Platz für einen triumphierenden Lobgesang auf die Herrschaft des (deutschen) Geistes in der Geschichte. Vielmehr dominiert der melancholische Blick zurück auf die Katastrophe eben dieses Geistes. „verzicht“ drückt gewiss hier die ästhetische Kodierung einer „asketisch strenge[n] Selbststilisierung“, eines „Elitebewußtsein[s]“ und „soziale[r] Distanz“ aus, wie es Braungart formuliert.18 Der Begriff beherrscht dabei diese Jahre aber auch ganz grundlegend, wie es z.B. die Formel Thomas Manns von der „machtgeschützten Innerlichkeit“ plastisch zeigt.19 „Verzicht“ steht auch grundlegend für die entbehrende Haltung der deutschen Intellektuellen der Politik und der Macht gegenüber. Denn es geht dabei um eine Innerlichkeit, die sowohl durch die Macht, aber auch vor ihr zu schützen ist. Für den George-Kreis ist Geschichte in diesem Denkzusammenhang immer Verfallsgeschichte. Auf diese verzichtet man also lieber und versucht vielmehr Erneuerungsprojekte in Gang zu setzen. So hat es auch Carola Groppe in ihrer Studie über den Kreis für die Nachkriegszeit konstatiert: „Das eigentliche innovative Potential und das Fundament der bedeutenden Wirkung des George-Kreises lagen nach dem Ersten Weltkrieg in der Vermittlung künstlerischer Erkenntnismodi mit wissenschaftlichen Erneuerungsprojekten“.20 Am George-Kreis lässt sich somit sehr gut die theologische Distanz begreifen, die zwischen den eschatologischen Erwartungen auf jene er17
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20
Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997, S. 306. An dieser Stelle bezieht sich Braungart auf die bekannten Verse Georges aus dem ‚Neuen Reich‘: „So lernt ich traurig den verzicht: / Kein ding sei wo das wort gebricht.“ (SW IX, S. 107). Braungart, Ästhetischer Katholizismus (Anm. 17), S. 306. Thomas Mann: Leiden und Grösse Richard Wagners. In: Ders.: Gesammelte Werke in 13 Bänden. Bd. 9: Reden und Aufsätze 1, Frankfurt a. M. 1990, S. 363–426, hier S. 419. Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933, Köln 1997, S. 625.
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lösende Mission der Vorkriegstage und der apokalyptischen Wirklichkeit der Kriegsjahre lag. So wie George selbst nahmen die Kreisanhänger wahr, dass der Krieg sich eben nicht als Erlöser gezeigt hatte, wie sie anfangs aus den Versen Georges gelesen hatten, sondern zur Katastrophe des deutschen Geistes geworden war. Nur aus der Katastrophe heraus war nun also noch eine geistige Neubegründung möglich. Kehren wir noch einmal zum Kriegsausbruchsjahr 1914 zurück, als im Kreis um Stefan George große Erwartungen und Begeisterung herrschten: Aus ihrer Sicht konnte die Priesterpoetik des Meisters nur mehr Gehör finden in der kulturpolitischen Öffentlichkeit des kriegsbegeisterten Deutschlands. Und trotz der Skepsis Georges, der sich in den Briefen an die Schüler mehrmals distanziert und ironisch äußerte, geschah das auch: Als er sich bei Kriegsausbruch in der Schweiz befand und Friedrich Gundolf wegen des im Vorkriegsdeutschland herrschenden Ausnahmezustands im Zweifel war, ob George schnell und problemlos in die Heimat zurückkehren könnte, antwortete George wie folgt: „nichts wird so heiss gegessen als es gekocht wird. Ich sehe keinen Grund vorläufig in eile die Schweiz zu verlassen“.21 Gundolf vor allem, aber auch Friedrich Wolters hatten auf die Augusttage 1914 mit großer Begeisterung reagiert und auf eine Rettung Deutschlands aus seiner geistigen Misere gehofft. Aber George konnte die geistespolitische Begeisterung seiner Schüler nicht teilen, denn sie erschien ihm zu tagespolitisch, zu nah an den konkreten Ereignissen der Zeit: „das schwierigste kommt ERST HINTENNACH!!“, schrieb er in einer weiteren Postkarte vom 26. August 1914 an Gundolf, in Großbuchstaben und mit zwei Ausrufungszeichen.22 Damit will George offenbar signalisieren, dass diese Begeisterung für die Zeit und die Stunde des kriegerischen Vaterlandes nicht etwa dem Geist seiner Poesie entsprungen sein konnte, wie die wichtigsten seiner Schüler ihn zu erkennen glaubten. „Erst hintennach“ bedeutet auch hier, in der Zeit- und Raumsymbolik Georges, welche sich aus seinem theologischen Diskurs ableiten lässt, dass die kriegsbedingte deutsche Tagespolitik aus einer doppelten, räumlichen und zeitlichen Distanzierung zu beobachten ist: Hinter der 21
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Stefan George / Friedrich Gundolf: Briefwechsel. Hg. von Robert Boehringer mit Georg Peter Landmann, München – Düsseldorf 1962, S. 256. Ebd., S. 258.
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aktuellen Kriegsbegeisterung und der daran gekoppelten Idee, dass die Prophezeiungen Georges nun die Zeit ihrer Vervollkommnung sehen; sowie nach diesen Tagen von Begeisterung und Aufregung wird endlich klar werden, wie die Sachen eigentlich wirklich sind. Das Tempus der Prophezeiung ist das der ‚normalen‘ Zukunft, oder noch besser der Gegenwart mitten in der Zukunft. Darauf weist genau die Präposition „die Zeit ist nah“. Die Anhänger und Schüler Georges greifen diese Präposition auf, verstärkt durch die „Voraussagen“ des Meisters; wenn wir 1914 entstandene Texte von Gundolf und Karl Wolfskehl lesen, wie „Tat und Wort im Krieg“, den Gundolf im Oktober in der „Frankfurter Zeitung“ publizierte, den offenen Brief an Romain Rolland von Karl Wolfskehl, oder auch „Ein deutscher Dichter und der Krieg“, einen Monat später von Wolfskehl geschrieben,23 merken wir schnell, wie sich die beiden von einer geistigen Mission beauftragt glaubten, deutsches Wort und deutsche Tat endlich und harmonisch zusammenzuführen, gemäß der stringenten Logik des Apokalyptischen, im Namen des Meisters und für ein Deutschland, das über ganz Europa herrschen soll: „Es ist unser Krieg, der Krieg wider das Gesindel“, erklärt Gundolf in einem Brief an Wolfskehl vom 2. August 1914.24 Was danach passiert, kennzeichnet jene „posteschatologische Dimension“ des Kreises, von der Georg Doerr spricht:25 jene kognitive Dissonanz nämlich – um hier den Begriff des amerikanischen Sozialpsychologen Leon Festinger zu benutzen26 –, die aus der Enttäuschung über die gescheiterte Offenbarung hervorgeht und zur Konkretisierung jenes „Ge-
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Vgl. Friedrich Gundolf: Tat und Wort im Krieg. In: Georg Peter Landmann (Hg.): Der George-Kreis. Eine Auswahl aus seinen Schriften, Köln – Berlin 1965, S. 240–243; Karl Wolfskehl: Offener Brief an Romain Rolland. In: Frankfurter Zeitung, 11. 10. 1914; Karl Wolfskehl: Ein deutscher Dichter und der Krieg. In: Karl Wolfskehl / Albert Verwey: Die Dokumente ihrer Freundschaft 1897–1946. Hg. von Mea Nijland-Verwey, Heidelberg 1968, S. 128–131. Wolfskehl / Verwey, Die Dokumente ihrer Freundschaft, S. 133. Vgl. Georg Dörr: Stefan Georges neopagane Maximin-Religion. Bricolage und intramundane Eschatologie. In: Wolfgang Braungart (Hg.): Stefan George und die Religion, Berlin – Boston 2015, S. 52–79. Ich beziehe mich hier auf Leon Festinger: When Prophecy Fails. A Social and Psychological Study of a Modern Group that Predicted the Destruction of the World, Minneapolis 1956.
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heimen Deutschlands“ führt, von dem Wolfskehl schon 1910 sprach.27 Durch sie entsteht schließlich ein insulares, wörtlich „ou-topisches“ Kunstreich. Das Tempus Georges ist aber nicht dieses, in dem alles mit allem kohärent zu funktionieren scheint, zumal in der insularen Utopie des Kreises, sondern das des Futur II, das die Funktionen des Perfekts und des Futurs I paradoxerweise vereint: nicht wie die neue Erde sein wird, wird von George seinen Schülern angekündigt, sondern, wie sie gewesen sein wird. So koinzidiert Stefan Georges dichterische Stimme in der Nachkriegszeit bezeichnenderweise mit der des „Herren der Zukunft“, der „sich wandeln kann“, wie es im Schlussvers des Kriegsgedichts heißt.28 Dies ist ein Zeichen für eine Art „Bi-Logik“,29 die den dichterischen Diskurs Georges über den Krieg bestimmt: eine doppelte Logik des einerseits/andererseits, die auf einem Spannungsverhältnis aufbaut. Einerseits trägt der Dichter die Verantwortung für jene „Geistpolitik“, die die Heimat erneuern oder sogar retten soll; anderseits aber zieht er sich aus der Aktualität zurück, verzichtet gewollt auf jegliche Intervention. Die Zeit ist doch nicht so nah, scheint George zu kommentieren: sie wird erst gekommen sein, wenn der niedergebrannte Tempel wieder errichtet worden sein wird.30
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Vgl. Karl Wolfskehl: Die Blätter für die Kunst und die neuste Literatur. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 1, 1910, S. 1–18. SW IX, S. 26. Ich beziehe mich hier auf die Lehre des chilenischen Psychoanalytikers und heterodoxen Freudianers Ignacio Matte-Blanco, der behauptet, dass im menschlichen Denken zwei radikal verschiedenene Arten der Logik koexistieren, ein asymmetrisches Bewusstsein und das symmetrische Unbewußte. Das bedeutet, dass jene Formen des Denkens, die die Realität in Kategorien zerschneiden, simultan mit den Formen des Denkens koexistieren, die auf fundamentalen Ähnlichkeiten basieren. Vgl. Ignacio Matte-Blanco: The Unconscious as Infinite Sets. An essay in Bi-Logic, London 1975. Dazu auch Karl Heinz Witte: Das „Unbewußte“ – die „mystische“ Seite des Rationalen? In: Zeitschrift für Individualpsychologie, 23, 1998, S. 356–374. Vgl. SW IX, S. 69: „Der tempel brennt. Ein halbes tausend-jahr / Muss weiterrollen bis er neu erstehe“.
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Gabriele Guerra
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Allerlei Krieg
Daniela Gretz
Allerlei Krieg. Der George-Kreis, das ‚Jahrbuch für die geistige Bewegung‘ und der Erste Weltkrieg „Es begab sich nämlich, daß die Fehler Georges sich objektivierten und Menschen wurden. Als solche aber gaben sie die Jahrbücher heraus.“1
I. Georges ‚heiliger Krieg‘ und der Erste Weltkrieg: I. Vom medienpolitischen Ursprung eines ‚Missverständnisses‘ In seinem zentralen Forschungsbeitrag konstatiert Jürgen Egyptien einleitend: „Obwohl der ‚Stern des Bundes‘ keine Reaktion auf den Ausbruch des 1. Weltkriegs darstellt, wurde sein prophetischer Gestus innerhalb und außerhalb des George-Kreises auf dieses historische Geschehen bezogen.“2 Diese Identifikation des prophezeiten „heilige[n] krieg[es]“ Georges mit dem historischen Ereignis des Ersten Weltkriegs beruht nicht zuletzt auf der prinzipiellen – positiv formuliert – kalkulierten Mehrdeutigkeit von Georges Lyrik; negativ lässt sich auch von einer abstrakten Unterbestimmtheit, der Verwendung von tautologisch wiederholten „Leerformeln“3 sprechen, die für divergente – nicht zuletzt auch politische – Konkretisierungen offen waren. Also alles nur ein ‚Missverständnis‘, ein ‚allzu wörtlich nehmen‘ von Metaphorik, wie George dies in der Vorrede zu den nach Kriegsbeginn veröffentlichten Ausgaben des ‚Stern des Bundes‘ konstatiert:
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Erich Unger: Vom Pathos. Die um George. In: Der Sturm. Wochenschrift für Kultur und Künste, Nr. 40, 1. 12. 1910. Jürgen Egyptien: Die Haltung Georges und des George-Kreises zum 1. Weltkrieg. In: Wolfgang Braungart / Ute Oelmann / Bernhard Böschenstein (Hg.): Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘, Tübingen 2001, S. 197–212, hier S. 197. Bodo Würffel: Wirkungswille und Prophetie. Studien zu Werk und Wirkung Stefan Georges, Bonn 1978, S. 234–244.
DOI 10.1515/george-2016/2017-0012
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Daniela Gretz
Um dies werk witterte ein missverständnis […]: der dichter habe statt der entrückenden ferne sich auf das vordergründige geschehen eingelassen ja ein brevier fast volksgültiger art schaffen wollen .. besonders für die jugend auf den Kampf-feldern. Nun ist der verlauf aber so: der Stern des Bundes war zuerst gedacht für die freunde des engern bezirks und nur die erwägung dass ein verborgen-halten von einmal ausgesprochenem heut kaum mehr möglich ist hat die öffentlichkeit vorgezogen als den sichersten schutz. Dann haben die sofort nach erscheinen sich überstürzenden welt-ereignisse die gemüter auch der weiteren schichten empfänglich gemacht für ein buch das noch jahrelang ein geheimbuch hätte bleiben können.4
Dieses ‚Missverständnis‘ war allerdings, worauf hier bereits angespielt wird, nicht zuletzt das Produkt einer entsprechenden medialen Selbstinszenierung des George-Kreises als Avantgarde, als kampfbereite Vorhut in allerlei Krieg. Diese kulminiert zwischen 1910 und 1912 im offiziell von Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters herausgegebenen, de facto aber von George selbst verantworteten5 ‚Jahrbuch für die geistige Bewegung‘, das zugleich die Vorgeschichte der Haltung, aber auch der Wirkung Georges und des Kreises im Ersten Weltkrieg dokumentiert, die im Folgenden rekonstruiert werden sollen. Dazu wird zunächst kurz die lange Vorgeschichte des ‚Jahrbuchs‘ skizziert, anschließend werden mit dem ‚Krieg der Jahrbücher‘ und dem ‚Krieg gegen die Moderne‘ zwei unterschiedliche Facetten der martialischen Metaphorik des ‚Jahrbuchs‘ herausgearbeitet, um abschließend die Resonanz des ‚Jahrbuchs‘ in der zeitgenössischen Presse und der Kriegspublizistik der Jahrbuchautoren in den Blick zu nehmen. Dabei gilt in Bezug auf die Rolle Georges: „Seine Aktivitäten bestehen nicht allein im Handeln, sondern auch im Handeln-Lassen und Nicht-Handeln, sie bestehen nicht allein im Geschriebenen und Gesagten, sondern auch im NichtGeschriebenen und Nicht-Gesagten.“6
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Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff. Im Folgenden mit SW, Bandnummer und Seitenzahl zitiert, hier SW VIII, S. 5, Hervorhebung D. G. Kurt Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1965, S. 49. Armin Schäfer: Die Intensität der Form. Stefan Georges Lyrik, Wien – Köln – Weimar 2005, S. 282.
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II. Zur Vorgeschichte des ‚Jahrbuchs für die geistige Bewegung‘ Die Vorgeschichte des ‚Jahrbuchs‘ reicht bis in die zweite Hälfte der 1890er Jahre zurück7 und ist Teil der bislang von der Forschung vernachlässigten „Medienpolitik“8 des George-Kreises, die als integraler Bestandteil der von Steffen Martus herausgearbeiteten „Werkpolitik“9 zu begreifen und zu rekonstruieren wäre. Auf die innovative, paradoxale Struktur dieser „Medienpolitik“ hat mit Blick auf die ‚Blätter für die Kunst‘ als „Anti-Zeitschrift“10 bereits Rudolf Borchardt hingewiesen, nämlich auf: Die für Deutschland neue Tatsache, daß man einen Gegenstand in zweierlei Weise verkaufen kann – erstens, indem man bekanntmacht, er sei überall für eine bestimmte Summe zu erstehen, zweitens, indem man bekanntmacht, er sei überhaupt nicht zu haben –, eine simple Tatsache, die auf dem Theorem von der halboffenen Tür beruht, wirkte mit publikatorischer Kraft.11
Diese Strategie der Aufmerksamkeitserzeugung vollzieht sich einerseits in einem Wechselspiel zwischen der Exklusivität der Privatdrucke von Georges Lyrik und der ‚Blätter für die Kunst‘, die sich ostentativ im Modus der „Selbstorganisation“ einer künstlerischen „Gegenöffentlichkeit“ präsentieren, und deren medienstrategischer Platzierung in der zeitgenössischen Presse zur „Selbstinszenierung“ im Modus einer „repräsentativen Öffentlichkeit“ andererseits: „Eine Serie von geschickt lancierten Aufsätzen lenkt […] in Zeitungen und Publikumszeitschriften das Interesse auf den Dichter Stefan George und seinen esoterischen 7
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Vgl. Stefan George/Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal. Hg. von Robert Boehringer. 2. erg. Aufl., Düsseldorf – München 1953, S. 79. Vgl. Cornelia Blasberg: Charisma in der Moderne. Stefan Georges Medienpolitik. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 74, 2000, S. 111–145. Vgl. Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin 2007. Walter Schmitz: Der George-Kreis und seine Medien: Poetische Präsenz / Aristokratismus der Distanz. In: Michel Grunewald / Uwe Puschner (Hg.): Das konservative Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890–1960), Bern 2003, S. 327–352, hier S. 337. Rudolf Borchardt: Die Gestalt Stefan Georges. In: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hg. von Marie Luise Borchardt. Band: Prosa I, Stuttgart 1957, S. 295–313, hier S. 303.
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Kreis.“12 Im Hinblick auf die Vorgeschichte des ‚Jahrbuchs‘ ist jedoch von Interesse, dass diese mediale Präsenz Georges und des Kreises sich u.a. der öffentlich zelebrierten Konkurrenz zu und Auseinandersetzung mit Rudolf Alexander Schröder, Rudolf Borchardt und Hugo von Hofmannsthal als Autoren der Zeitschrift ‚Die Insel‘, als „öffentlichkeitsorientiertes Gegenorgan zu den exklusiven Blättern für die Kunst“,13 verdankt. So platziert Schröder 1900 in der ‚Insel‘ einen ‚Totalverriß‘ zu Georges und Wolfskehls Jean Paul-Auswahl im ersten Band der Anthologie ‚Deutsche Dichtung‘, der den Auftakt zur Feindschaft markiert. Signifikant ist, dass sich der Streit exakt an der ‚Deutschen Dichtung‘ entfaltet, mit der George sich in die Traditionslinie einer ‚deutschen Dichterbewegung‘ im „Jahrhundert Goethes“ einschreibt und damit in den zeitgenössischen Gründungsmythos einer ästhetischen Erfindung der Nation in der „deutschen Bewegung“ der Dichter und Denker um 1800, die ihre Vollendung nach dem Traditionsbruch des 19. Jahrhunderts erst in der Gegenwart finden soll.14 Im konkreten Fall in der ‚Gestalt‘ Georges, der im Rahmen einer ästhetischen Selbstermächtigung im Namen der Nation den nationalpädagogischen Anspruch erhebt, prophetisch das ‚Zukünftige im Vergangenen‘ zu offenbaren. Mit dem Erscheinen von Klages George-Buch15 und Borchardts Göttinger ‚Rede über Hofmannsthal‘,16 die jeweils George bzw. Hofmannsthal zu zukunftsweisenden Zentralgottheiten im zeitgenössischen Dichter-Pantheon erklären, erhält dann die Auseinandersetzung endgültig eine grundsätzlichere Qualität:
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Monika Dimpfl: Die Zeitschriften Der Kunstwart, Freie Bühne/Neue Deutsche Rundschau, und Blätter für die Kunst: Organisation literarischer Öffentlichkeit um 1900. In: Dies. / Georg Jäger (Hg.): Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. Einzelstudien, Teil II, Tübingen 1990 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 28), S. 116–197, hier S. 156. Ernst Osterkamp: Poesie des Interregnums. Rudolf Borchardt über Stefan George. In: Ders. (Hg.): Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen, Berlin – New York 1997, S. 1–26, hier S. 5. Vgl. dazu: Verf.: Die deutsche Bewegung. Der Mythos von der ästhetischen Erfindung der Nation, München 2007. Ludwig Klages: Stefan George, Berlin 1902. Rudolf Borchardt: Rede über Hofmannsthal [1902/05]. In: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hg. von Marie Luise Borchardt unter Mitarbeit von R. A. Schröder und S. Rizzi. Band: Reden, Stuttgart 1955, S. 45–103, hier S. 63.
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Ihr Machtanspruch ist per definitionem total, sowohl die herrische, mit expressionistischer Verve formulierte Abhandlung Klages’ wie Borchardts Rede […] instrumentalisieren ihre Gegenstände, um sie zunächst ideengeschichtlichen Traditionsstiftungen und in einem zweiten Schritt Visionen autokratischer Geistesherrschaft inkorporieren zu können.17
Am Problem des Übergangs von Kunst in Leben, von Dichtung in Politik entzündet sich ein Kampf um die „geistige Führerschaft der Nation“,18 der sich in einer regelrechten „Pressefehde“ dokumentiert.19 Deren Auftakt markiert 1909 eine neuerliche Rezension Schröders zur Auslese aus den ‚Blättern für die Kunst‘,20 pariert durch eine ‚Erwiderung‘ Albert H. Rauschs (d. i. Henry Benrath)21 und einen Artikel Erich Lichtensteins.22 Entscheidend ist jedoch, dass beide Lager zur gleichen Zeit in unmittelbarer Konkurrenz zueinander an Jahrbuch-Projekten arbeiteten: die ‚Insler‘ am ‚Hesperus‘,23 die Georgeaner am ‚Jahrbuch für die geistige Bewegung‘.24 Borchardt begreift das Medium Zeitschrift bereits im ‚Epilog zur Insel‘ „als strategisch-taktisches Instrument, mit dessen Hilfe ein bestimmter Wille in der Öffentlichkeit durchgesetzt wird“:25
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Ebd., S. 300. Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890–1945, Tübingen 1998, S. 303. Kai Kauffmann: Von Minne und Krieg. Drei Stationen in Rudolf Borchardts Auseinandersetzung mit Stefan George. In: George-Jahrbuch 6, 2006, S. 55–79, hier S. 56. Rudolf Alexander Schröder: Rez. Blätter für die Kunst. Eine Auslese aus den Jahren 1904–1909. In: Süddeutsche Monatshefte 6, 1909, S. 439–449. Albert H. Rausch: Stefan George. Eine Erwiderung. In: Süddeutsche Monatshefte 7, 1910, S. 295–296. Erich Lichtenstein: Renegatenstreich. In: Monatliche Beilage der Heidelberger Zeitung, Nr. 296, 18. 12. 1909. Hugo von Hofmannsthal / Rudolf Alexander Schröder / Rudolf Borchardt: Hesperus. Ein Jahrbuch, Leipzig 1909. Friedrich Gundolf / Friedrich Wolters (Hg.): Jahrbuch für die geistige Bewegung, Berlin 1910–1912. Kai Kauffmann: Stilmuster. Rudolf Borchardt und Rudolf Alexander Schröder, die ‚Insel‘-Zeitschrift und das ‚Hesperus‘-Jahrbuch. In: Andreas Beyer / Dieter Burdorf (Hg.): Jugendstil und Kulturkritik. Zur Literatur und Kunst um 1900, Heidelberg 1999, S. 195–212, hier S. 200.
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[Die Zeitschrift] setzt das Vorhandensein fester Bejahung und fester Verneinung entweder voraus oder will beides schaffen; sie hat entweder einen Willen; und setzt ihn durch; gut oder schlecht, mit gelinden oder mit eindringlichen Mitteln, langsam oder schnell; oder sie hat keinen, setzt ihn nicht durch […] und geht ein.26
Im Anschluss daran formuliert Borchardt in der ‚Ankündigung‘ zu einer nie zustande gekommenen Vierteljahrsschrift mit dem Titel ‚Hesperus‘, die nicht mit dem späteren Jahrbuch gleichen Namens identisch ist,27 diese sei als „Parteiorgan“ mit einem dezidiert nationalen, auf die zukünftige Führerschaft der Nation ausgerichteten „Parteiprogramm“28 zu verstehen: Der Hesperus […] ist einheitlich vom ersten bis zum letzten Buchstaben. Er ist ein Organ der Kultur und zwar der politischen. Er sammelt die reifste Frucht eines ästhetischen Jahrzehnts, aber er ästhetisiert nicht […]. Er beansprucht nichts als das Gesamtbilde der besten und höchsten Aspiration in Deutschland zu sein, die das kommende Jahrzehnt beherrschen wird und setzt sich vor sie mit zu bestimmen.29
Diese offen kulturpolitische Ausrichtung gilt so zwar nicht für das ‚Hesperus‘-Jahrbuch, das primär ‚ästhetisiert‘, d.h. lyrische, dramatische und epische Übertragungen von klassischen Werken oder Originalwerke enthält, aber implizit, wie schon das Motto Vesper adest, Juvenes, consurgite! andeutet, auf eine nationalpädagogische Übersetzung des ästhetisch-stilistischen Ausdrucks in eine entsprechende moralische Haltung der Jugend hofft.30 Umgesetzt wird Borchardts kulturpolitische Konzeption ironischerweise viel eher durch das ‚Jahrbuch für die geistige Bewegung‘, zumal der konkrete „Anstoß“ zu dessen Publikation die 26
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Rudolf Borchardt: Epilog zur Insel [1902]. In: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hg. von Marie Luise Borchardt unter Mitarbeit von Ulrich Ott und Ernst Zinn, Band: Prosa IV, Stuttgart 1973, S. 177–184, hier S. 182. Vgl. dazu: Kai Kauffmann: Philologische Anmerkung zu Rudolf Borchardts Text Ankündigung. In: Germanisch-Romanische-Monatsschrift, NF 50/1, 2000, S. 103–105. Kai Kauffmann, Stilmuster (Anm. 25), S. 206. Rudolf Borchardt: Ankündigung. In: Ders.,Gesammelte Werke (Anm. 26), S. 197–204, hier S. 204. Vgl. zu den beiden grundsätzlichen Möglichkeiten einer Überführung von Kunst in Lebensform, die Borchardt anvisiert (Übersetzbarkeit eines ästhetischen Ausdrucks in eine politische Geste und direkte politische Artikulation und Agitation): Kauffmann, Stilmuster (Anm. 25), S. 209.
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Veröffentlichung des ‚Hesperus‘-Jahrbuchs 1909 mit der „pöbelhafte[n] Besprechung“31 Borchardts zu Georges ‚Siebenten Ring‘32 ist und das ‚Jahrbuch‘ so „als dezidierte Streitschrift“33 nicht zuletzt auch gegen Borchardt konzipiert wird. Entsprechend identifiziert Gundolf das ‚Jahrbuch‘ mit den „Erfordernissen des bevorstehenden Kriegs“34 und Wolters konstatiert folgerichtig in Anspielung auf Georges erstes ‚Zeitgedicht‘: „man soll merken, dass die ‚salbentrunknen Prinzen‘ auch Zähne und Krallen haben.“35 Und tatsächlich entwickelt sich in Folge ein kurzer, aber heftiger ‚Krieg der Jahrbücher‘, aus dem sich die martialische Rhetorik des ‚Jahrbuchs‘ zum Teil speist. III. Der ‚Krieg der Jahrbücher‘: III. ‚Hesperus‘ vs. ‚Jahrbuch für die geistige Bewegung‘ Bereits die dem ‚Hesperus‘ stellvertretend vorangestellte Passage aus der ‚Vorrede‘ zu Jean Pauls Konjektural-Biographie kann gleichermaßen als Fortsetzung der zuvor von Schröder in seiner Rezension zur ‚Deutschen Dichtung‘ formulierten wie der in Borchardts ‚Rede über Hofmannsthal‘ geäußerten Kritik interpretiert werden. Denn im Zentrum der Polemik gegen die eigene „Titanenzeit“ steht nicht zuletzt die Frage nach der Rolle des Dichters in der „moralischen Revolution“,36 also des Übergangs von Ästhetik in Ethik bzw. Politik oder von Kunst in Leben(sform). Also genau jenes Übergangs, über dessen konkrete pädagogische Ausformung in Gestalt des Erziehungskonzeptes des George-Kreises sich Borchardt mit dem Diktum „Die Welt regeneriert sich nicht an Gedichten“37 lächerlich macht. Dass es sich dabei weniger um einen generellen Einwand handelt, als um die Verteidigung eines 31
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Edgar Salin: Um Stefan George. 2., neugest. und erw. Auflage, München – Düsseldorf 1954, S. 207. Rudolf Borchardt: Stefan Georges Siebenter Ring. In: Hofmannsthal / Schröder / Borchardt, Hesperus (Anm. 23), S. 49–82. Kolk, Gruppenbildung (Anm. 18), S. 304. Stefan George / Friedrich Gundolf: Briefwechsel. Hg. von Robert Boehringer mit Georg Peter Landmann, München – Düsseldorf 1962, S. 199. Friedrich Gundolf / Friedrich Wolters: Ein Briefwechsel aus dem Kreis um Stefan George. Hg. und eingeleitet von Christophe Fricker, Köln – Weimar – Wien 2009, S. 51. Hofmannsthal / Schröder / Borchardt, Hesperus (Anm. 23), S. V. Rudolf Borchardt, Rede über Hofmannsthal (Anm. 16), S. 63.
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eigenen nationalpädagogischen Anspruchs, verdeutlicht Borchardts Rezension zum ‚Siebenten Ring‘, die „diesen Anspruch gegen George, den historisch gewordenen Dichter der Übergangszeit“38 absichern soll: „Die Gestalt Georges ist historisch geworden und steht außerhalb des Kampfes, den wir kämpfen.“39 Entsprechend ergibt sich für Borchardt eine Verpflichtung gegenüber der „Jugend, für die wir nun verantwortlich zu werden beginnen“, das „Erbe“ Georges anzutreten: „Die heroische Aufopferung Georges für seine und die Folgezeiten ist das Erbe mit dem wir heut beginnen.“40 Auf diese Kampfansage reagiert dann der George-Kreis mit der Gegengründung des ‚Jahrbuchs‘, insbesondere mit Gundolfs Aufsatz über ‚Das Bild Georges‘,41 auch wenn dieser sich vordergründig an Borchardts ‚Rede über Hofmannsthal‘ als einer verfehlten Darstellung Georges abarbeitet. Diese habe als philologische Stilkritik die Sinnbildlichkeit der „Gestalt“ Georges als „symbolischen Ausdrucks“ seiner Zeit verfehlen müssen, die erstmals Wolters in ‚Herrschaft und Dienst‘ fassen kann. Interessant ist, dass Gundolf dabei betont, dass Wolters so Georges Werk eine „stimme“ verliehen habe, die „in die ebene des gedanklichen hinaustritt“: „Jetzt spricht der sinn der dichtungen selbst und man kann ihn jetzt wohl noch bekämpfen und ablehnen, aber weder ableugnen noch missdeuten.“42 Damit charakterisiert Gundolf implizit aber nicht nur zugleich sein eigenes Verfahren, sondern en passant auch die Übersetzungsbewegung des ‚Jahrbuchs‘ insgesamt, die aus Georges Poesie Weltanschauung macht.43 Dass Gundolfs Beitrag implizit eher die Fortsetzung von Borchardts George-Kritik in der ‚Hesperus‘-Rezension adressiert als die konkret attackierte ‚Rede‘, verdeutlicht, dass Gundolf mittels der Umkehrung von Borchardts dort vorgelegter Interpretation Hofmannsthal als bloßen „lober, spiegel und diener“ seines Zeitalters, als „dichterisch reichsten vertreter der heutigen erregtheit und beweglichkeit, der zentrifugalität und des relativismus, der genusssucht und der werk38 39 40 41
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Kauffmann, Stilmuster (Anm. 25), S. 209. Borchardt, Siebenter Ring (Anm. 32), S. 81. Ebd., S. 82. Friedrich Gundolf: Das Bild Georges. In: Gundolf / Wolters, Jahrbuch (Anm. 24), Bd. 1, 1910, S. 19–48. Ebd., S. 44f. Vgl. dazu: Robert E. Norton: Secret Germany. Stefan George and His Circle, Ithaca – London 2002, S. 445.
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tätigkeit, der verfeinerungen und der geschäfte, der betäubungen und des verkehrs“ charakterisiert. George hingegen wird als „richter, prophet und täter“ und „wichtigste[r] mann des gegenwärtigen Deutschland“ mit Anspruch auf Führerschaft inszeniert: „Den richtungen des zeitalters hat er […] eine neue gestalt und ein schöpferisches pathos entgegengestellt das ihn zum führer in einem nicht mehr vermeidbaren geisterkrieg macht.“44 Borchardts Stilkritik entlarvt Gundolf anschließend als den „alten trick“ „einem großen kämpfer vorzuwerfen dass er ein schlechter tänzer sei“ und pariert diesen zugleich mit einem philologischen Gegenschlag, indem er Borchardts eigene Produktion als „angewandte philologie“ charakterisiert und ihm just eine heterogene Stilmischung45 vorwirft, wie sie dieser auf metrisch-stilistischer Ebene seinerseits ganz ähnlich George als typischem Dichter der Übergangszeit mit Mangel an Traditionsbewusstsein vorgeworfen hatte.46 Wenn Gundolf feststellt: „Übrigens wird er wohl jetzt nicht mehr frivol genug sein, den heutigen Hofmannsthal der dialekt-komödien und operetten-texte der deutschen jugend als meister und vorbild zu preisen“47, dann ist dies eine direkte Replik auf Borchardts George-Diktum aus der ‚Rede‘, zugleich aber auch ein Seitenhieb gegen die Rezension, in der Borchardt ja nur wenige Monate zuvor genau dies getan hatte. Wenn Gundolf zudem sein eigenes Vorgehen bei der Sichtung der George-Bilder als „scheiden zwischen dem was ist und dem was scheint“48 charakterisiert und abschließend konstatiert, „dass krieg sein muss zwischen wesenhaftem und scheinhaftem“ und dabei „kein bündnis“ möglich sei „zwischen der eigensucht der betriebsamen und bequemen und dem strengen willen zum leben im ganzen durch herrschaft und dienst“,49 ist dies eine Anspielung auf Borchardts Andeutung einer vergebenen Möglichkeit zu einem Bündnis, dem hier nochmals eine nachhaltige Absage erteilt wird. Dabei lässt sich „krieg“ hier, wie der zuvor heraufbeschworene „geisterkrieg“, gleichermaßen auf den allgemeinen ‚Krieg gegen die
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Gundolf, Das Bild Georges (Anm. 41), S. 21. Ebd., S. 33. Vgl. dazu Kauffmann, Von Minne und Krieg (Anm. 19), S. 68. Gundolf, Das Bild Georges (Anm. 41), S. 37. Ebd., S. 23. Ebd., S. 47f.
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Moderne‘ wie auf den ‚Krieg der Jahrbücher‘ gegen die ‚Insler‘ als deren prototypische Vertreter beziehen, womit sich andeutet, dass ‚Krieg‘ im ‚Jahrbuch‘ metaphorisch bereits auf die Gegenwart bezogen wird, aber immer noch allerlei meinen kann. Bevor der Krieg des ‚Jahrbuchs‘ gegen die Moderne näher in den Blick genommen wird, gilt es aber den weiteren Verlauf des ‚Kriegs der Jahrbücher‘ kurz zu resümieren. In Reaktion u.a. auf eine Reihe von Artikeln Gundolfs in den ‚Preußischen Jahrbüchern‘ und den gekürzten Vorabdruck von Hildebrandts Wilamowitz-Polemik in den ‚Grenzboten‘,50 der dort strategisch platziert worden war, um „die Aufmerksamkeit auf das JAHRBUCH zu lenken […]“,51 fasst Borchardt nach dem Ende des ‚Hesperus‘ resigniert den Stand des Gefechts zusammen: die „Clans“ des Kreises haben „fast alle wesentlichen Organe kritisch in Beschlag genommen, in den preussischen Jahrbüchern pontificieren sie, in Verlag nach Verlag dringen sie ein.“52 Dennoch holt Borchardt zu einem vorerst letzten Gegenschlag aus, der schon eine Art „Rückzugsgefecht“53 ist. Er greift im Titel seiner Metakritik des ‚Jahrbuchs‘ als ‚Intermezzo‘ das zentrale Stichwort der Auseinandersetzung erneut auf und attackiert im Text Gundolf direkt: „Einen ‚Geisterkrieg‘ wünscht sich der Held um seine Objekte zu führen, wohl gar mit uns herbeizuführen“, einen „Krieg, den er als Rezensent in Zeitschriften und als Kompilator dieses Jahrbuchs seit geraumer Zeit führt“.54 Auch wenn Borchardt sich im weiteren Verlauf, u.a. mit Andeutungen zur Homoerotik des Kreises, deutlich im Ton vergreift, beschreibt er mit der leitmotivischen Gegenüberstellung von „Tempel“ des George-Kreises und „Straße“ der Öffentlichkeit, auf die sich die Georgeaner mit ihrem Pressekrieg begeben hätten, exakt die „Medienpolitik“ des George-Kreises
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Kurt Hildebrandt: Hellas und Wilamowitz. In: Die Grenzboten 69, 1910, 1, S. 412–421. Kurt Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1965, S. 55. Rudolf Alexander Schröder / Rudolf Borchardt: Zwei unveröffentlichte Briefe zum Hesperus-Jahrbuch. Mitgeteilt von Achim Wierzejewski. In: Philobiblon 20, 1976, S. 166–186, hier S. 183f. Kolk, Gruppenbildung (Anm. 18), S. 310. Rudolf Borchardt: Intermezzo. In: Süddeutsche Monatshefte 7, 1910, 12, S. 694–716, hier S. 696.
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im Umfeld des ‚Jahrbuchs‘ als eine „Politik des Unpolitischen“.55 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Borchardt die Konsequenzen der skizzierten ‚Öffnung des Tempels‘ bereits eindrücklich antizipiert: Nicht also, daß eure taten euren Worten widersprechen, soll euch vernichten, sondern das genaue Gegenteil davon […]. Noch seid ihr gar zu unentschieden; noch schützt euch, daß man nicht immer weiß, wie ihr es meint; […] noch könnt ihr hinterm Berge halten, für Metaphern ausgeben, was ihr wörtlich meint, und nur allzu sachlich lancieren wollt, Absurditäten für wirklich gemeint erklären, die auch ihr nicht blöd genug seid, für anderes zu halten als aufgeblasene Tropen […].56
Bevor abschließend ein Blick auf den Punkt geworfen werden soll, an dem die ‚Jahrbuch‘-Autoren mit ihrer Kriegspublizistik endgültig die hier skizzierte Grenze der Überführung von Wort in Tat überschreiten, gilt es sich zunächst summarisch dem ‚Krieg gegen die Moderne‘ als zweiter, integraler Facette der Kriegsmetaphorik des ‚Jahrbuchs‘ zuzuwenden, die diese Grenzüberschreitung gleichsam vorbereitet. IV. Das ‚Jahrbuch für die geistige Bewegung‘ IV. im ‚Krieg gegen die Moderne‘ Retrospektiv nennt Wolters in seiner ‚Blättergeschichte‘ das Jahrbuch „eine offene Kriegserklärung an die Gegenwart“.57 Georges späteres Wolters gewidmetes Gedicht mit der Parallelisierung vom „in- und aussen-krieg“ (SW IX, S. 79) trifft aber die doppelte Funktion des ‚Jahrbuchs‘ vielleicht noch besser: dieses ist zum einen ein „Medium der Selbstverständigung“ qua Feindmarkierung, zum anderen aber auch eines der „Außendarstellung“58 des Kreises. Die grundlegende Struktur der Feindmarkierungen im ‚Jahrbuch‘ lässt sich ausgehend von der Schlussformel der Einleitung des dritten und letzten Jahrgangs verdeutlichen:
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Vgl. Klaus Landfried: Politik des Unpolitischen, Heidelberg 1975. Vgl. dazu auch Osterkamp, Interregnum (Anm. 13), S. 12. Borchardt, Intermezzo (Anm. 54), S. 716. Friedrich Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, Berlin 1930, S. 384. Kolk, Gruppenbildung (Anm. 18), S. 306 und 310.
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Wir glauben dass jezt weniger darauf ankommt ob ein geschlecht das andre unterdrückt, eine klasse die andre niederzwingt, ein kulturvolk das andre zusammenschlägt, sondern dass ein ganz andrer kampf hervorgerufen werden muss, der kampf von Ormuzd gegen Ahriman, von Gott gegen Satan, von Welt gegen Welt.59
Hier wird im Rückgriff auf persische Mythologie wie christliche Religion ein eschatologisch-apokalyptischer Endkampf heraufbeschworen, der auf den ersten Blick gerade systematisch von innerweltlichen Auseinandersetzungen abgegrenzt wird. Aufschlussreich für die konkrete Inszenierung dieses Kampfes als ‚Krieg gegen die Moderne’ ist der Rückgriff auf die mythologischen Figuren Ormuzd und Ahriman aus dem Zoroastrismus, weil sich anhand der Gegenüberstellung von Lichtbringer und Fürst der Finsternis die prinzipielle, durch analogisierbare Binäroppositionen gekennzeichnete Argumentationsstruktur des ‚Jahrbuchs‘ verdeutlichen lässt. Es operiert mit der – potentiell erweiterbaren – abstrakten Begriffsmatrix der Gegenüberstellung von Zivilisation / Kultur, Verstand / Instinkt, Materialismus (Positivismus) / Idealismus, Utilitarismus / Opferbereitschaft, Wertrelativismus / Wertebewusstsein, Oberfläche / Tiefe, Schein / Sein, Flüchtigkeit / Ewigkeit, Mechanik / Organik, Krankheit (Entartung) / Gesundheit, Blutleere / Blutfülle, Chaos / Kosmos (Form) sowie Immanenz und Transzendenz, wobei die zuerst genannten Begriffe jeweils im Rahmen negativer Feindmarkierung die moderne Gesellschaftsformation charakterisieren, die zuletzt genannten jedoch der positiven Selbstbeschreibung dienen.60 Nach dem für das Medium Zeitschrift typischen seriellen Prinzip von Wiederholung und Differenz, Schema und Variation werden diese Begriffe in wechselnder Kombination für eine Serie ganz konkreter Feindmarkierungen genutzt. Dabei ist ein Blick auf den Aufbau der drei Jahrgänge aufschlussreich. Auch dieser folgt dem seriellen Prinzip von Differenz und Wiederholung: Die Aufsätze von Wolfskehl, Gundolf und Wolters im ersten, von Wolfskehl, Gundolf und Wolters im zweiten und 59
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Friedrich Gundolf / Friedrich Wolters: Einleitung der Herausgeber. In: Dies., Jahrbuch (Anm. 24), Bd. 3, S. II–VIII, hier S. VIII. Vgl. zur Semantik des ‚Jahrbuchs‘ auch: Korinna Schönhärl: Wissen und Visionen. Theorie und Politik der Ökonomen im Stefan George-Kreis, Berlin 2009, S. 18–28, die im Rekurs auf die Magisterarbeit von Tim Schuster vier Leitunterscheidungen angibt: Ganzes – Teile, Oberfläche – Tiefe, Formung – Auflösung und Zentrum – Peripherie.
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Gundolf und Wolters im dritten Jahrgang etablieren jeweils ergänzend zu den Einleitungen der Herausgeber den weltanschaulich-programmatischen Rahmen der ‚geistigen Bewegung‘ und schreiben sie in größere Traditionszusammenhänge ein. In den dazwischen liegenden Beiträgen werden jeweils die konkreten Feindmarkierungen prototypischer Verkörperungen der Moderne vorgenommen, wie z.B. des Fortschritts, der Emanzipation, der zeitgenössischen Philologie, der Presse, des Theaters, der Musik und des Verkehrs. Dabei ergänzen und verstärken sich sowohl die Serie programmatischer Rahmenbeiträge als auch die der Feindmarkierungen jeweils für sich genommen aber auch gegenseitig, indem zentrale Begriffe und Vorstellungen wieder aufgenommen und/ oder weiterentwickelt werden. Entscheidend ist, dass dabei immer wieder implizit auf Theoreme des Kreises, aber auch explizit auf die ‚Gestalt‘ Georges und Formulierungen aus dem ‚Siebenten Ring‘ und dem ‚Stern des Bundes‘ zurückgegriffen wird, die auf konkrete Kämpfe der Gegenwart bezogen werden, wie z.B. in Wolters ‚Richtlinien‘: „Die zeit des logischen turnens ist vorbei und das ringen mit dem engel des lebens hat wieder begonnen.“61 Diese charakteristische Struktur des ‚Jahrbuchs‘ erzeugt zum einen den Eindruck einer einheitlichen, geschlossenen Weltanschauung, die auf der Ebene der Außendarstellung vermittelt werden soll. Sie hat aber zum anderen auch die konkrete pädagogische Funktion kreisinterner Selbstverständigung. Einerseits, indem die programmatischen Rahmenvorträge von älteren und/oder in der Hierarchie des Kreises weit oben angesiedelten Beiträgern stammen, während deren Ausbuchstabierung anhand konkreter Feindmarkierungen, gleichsam als Fingerübung unter Anleitung von Gundolf, Wolters und George, auch jüngeren und/oder in der Hierarchie weiter unten angesiedelten Beiträgern überlassen wird. Andererseits, indem die Beiträge in rituellen „Lesungen und Diskussionen im Zeichen der Jahrbuch-Offensive“ immer wieder „in der Runde vorgelesen und leidenschaftlich diskutiert“ und so in Form einer entsprechenden kämpferischen Haltung internalisiert wurden,62 so dass man beinahe schon von
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Friedrich Wolters: Richtlinien. In: Gundolf / Wolters, Jahrbuch (Anm. 24), Bd. 1, S. 128–145, hier S. 145. Jürgen Egyptien: Die Kreise. In: Achim Aurnhammer / Wolfgang Braungart / Stefan Breuer / Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Bd. 3, Berlin–Boston 2012, S. 365–407, hier S. 386.
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„geistiger Mobilmachung“ sprechen könnte.63 In diesem Kontext ist die in den programmatischen Beiträgen ‚Die Blätter für die Kunst und die neueste Literatur‘, ‚Weltanschauung des Jahrbuchs‘ und ‚Vorbilder‘, aber auch in ‚Romantisch und Dionysisch I und II‘ betriebene Traditionsbildung der ‚geistigen Bewegung‘ als einer spezifisch „deutschen Bewegung“ von Interesse. Dabei ist erneut die im Rekurs auf „Ormuzd“ und „Ahriman“ betriebene apokalyptisch-eschatologische Aufladung des Kampfes der Bewegung zentral, mittels der Vorstellungen der persischen Mythologie auf die eigene Geschichte und Gegenwart übertragen werden. Gegenstand dieser Adaption ist vor allem die geschichtsphilosophische Idee eines steten Kampfes von Ormuzd und Ahriman, von Licht und Finsternis, von Gut und Böse. In diesem gewinnt wechselweise die gute oder böse Seite die Oberhand, bis er sich im vierten und letzten, von Ahriman dominierten Zeitalter durch dessen Vernichtung entscheidet, wobei in einer apokalyptischen Umwertung aller Werte ‚das Unterste zuoberst‘ gekehrt wird und das Gute siegt.64 Parallel dazu wird die „geistige Bewegung“ zunächst in die Traditionslinie einer als überzeitlich und übernational konzipierten, aber in ihrer Geistigkeit letztlich als spezifisch ‚deutsch‘ verstandenen Bewegung gestellt. Diese tendenziell ‚irrationale‘ „deutsche Bewegung“ wird jedoch im Verlauf der Geschichte phasenweise immer wieder von rationalistischen Gegenbewegungen zurückgedrängt, so dass sie nur mehr als „geheime[s] Deutschland“ im Untergrund wirken kann.65 Im Anschluss daran wird schließlich die Vollendung dieser historisch unvollendet gebliebenen „deutschen Bewegung“ durch die ‚Sendung‘ des Kreises als gegenwärtiger Verkörperung des „geheime[n] Deutschland[s]“ verkündet.
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Vgl. zum Begriff der ‚geistigen Mobilmachung‘ im Kontext des Ersten Weltkriegs: Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin 2000. Hier soll lediglich die Internalisierung einer kämpferischen Haltung durch das ‚Jahrbuch‘ gekennzeichnet werden, die dann im Rahmen der ‚geistigen Mobilmachung‘ aktiviert werden kann. Dies belegt schon die Tatsache, dass auf den knapp 260 Seiten der drei ‚Jahrbuch‘-Jahrgänge knapp 30 Mal von ‚Krieg‘ und über 120 Mal von ‚Kampf‘ und/ oder abgeleiteten Verben oder Komposita die Rede ist. Vgl. dazu: Wilhelm Vollmer: Vollständiges Wörterbuch der Mythologie aller Nationen […], Stuttgart 1836, S. 109–112. Karl Wolfskehl: Die Blätter für die Kunst und die neueste Literatur. In: Gundolf / Wolters, Jahrbuch (Anm. 24), Bd. 1, S. 1–18, hier S. 15.
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Von dieser Art eschatologisch-apokalyptisch aufgeladener Traditionsbildung, die nicht zuletzt der Legitimation und Auratisierung des eigenen Sprechens dient, ist es nur noch ein relativ kleiner Schritt dazu, in Übereinstimmung mit dem Gros der Intellektuellen den ausbrechenden „Weltkrieg als Erfüllung einer lange schon bestehenden deutschen Mission“, nämlich der „Übernahme der geistigen Weltherrschaft durch Deutschland“,66 zu interpretieren. Dies soll abschließend noch anhand der Resonanz des ‚Jahrbuchs‘ in der Presse und der Kriegspublizistik der Jahrbuchautoren Wolfskehl, Gundolf und Vallentin in der ‚Frankfurter Zeitung‘ vorgeführt werden. V. „Von nun an seien unsere Taten unsere Worte“: V. Die Kriegspublizistik der Jahrbuchautoren Entscheidend ist dabei zunächst, dass, analog zur Medienpolitik des Kreises um 1900, wiederum begleitend eine Reihe von Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften die öffentliche Aufmerksamkeit auf das ‚Jahrbuch‘ richtet, dessen skizzierte Weltanschauung so das Bild Georges und des Kreises in der Öffentlichkeit mitprägt. Es handelt sich um Georg Wittkowskis Kritik ‚Die Stefan-George-Apostel‘,67 eine Rezension des ‚Jahrbuchs‘ von Robert Boehringer,68 Wilhelm Andreae-Sylas ‚Platons Poikilia und das Jahrbuch für die geistige Bewegung‘69 und Ernst Bertrams ‚Das Jahrbuch für die geistige Bewegung (Stefan George II)‘,70 die jeweils kondensierte Zusammenfassungen der ‚Jahrbuch‘-Ideologie bieten. Andreae-Syla bezeichnet in seiner Paraphrase des ‚Jahrbuchs‘ mittels platonischer Begrifflichkeit die drei Jahrgänge sogar als „Kampfesring“ und konstatiert: „Das Jahrbuch ist kein literarisches Produkt, sondern lebendiger Krieg, eine Sammlung und Einheit
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Egyptien, Haltung zum Krieg (Anm. 2), S. 199f. Georg Wittkowski: Die Stefan-George-Apostel. In: Berliner Tageblatt, Nr. 136, 16. 3. 1910, 4. Beiblatt, S. 1. Robert Boehringer: Jahrbuch für die geistige Bewegung. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 156, 8. 6. 1910. Wilhelm Andreae-Syla: Platons Poikilia und das Jahrbuch für die geistige Bewegung. In: Magdeburgische Zeitung, Montagsblatt/Wissenschaftliche Wochenbeilage, 1913, 33–35, 33: S. 263–264, 34: S. 271–272, 35: S. 279–280. Ernst Bertram: Das Jahrbuch für die geistige Bewegung (Stefan George II). In: Mitteilungen der Literarhistorischen Gesellschaft Bonn, 1913, S. 3–29.
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philosophischer Kampfschriften für das Leben und gegen die Poikilia [‚schillerndes Oberflächengeflunker‘ der ‚Vielseitigkeit‘], wo immer sie auftritt in Beruf, Kunst und Wissenschaft.“71 Der erste – kritische – Artikel ist zwar nicht durch den Kreis bewusst strategisch platziert, aber wenn Wolters diesbezüglich an Gundolf schreibt: „Den Aufsatz von Wittkowski im gestrigen Ber[liner] Tageblatt werden Sie gelesen haben: wir hätten ihn nicht besser bestellen können“,72 dokumentiert dies, dass beiden durchaus bewusst war, dass für ihren ‚Kampf‘ ‚auch schlechte Publicity gute Publicity‘ ist. Im Anschluss daran ist es vielleicht auch als Teil einer solchen „Medienpolitik“ zu verstehen, dass George bei Kriegsbeginn schweigt und den ‚Jahrbuch‘-Autoren in einer Reihe von Zeitungsartikeln das Sprechen überlässt. Dass dies zeitgenössisch durchaus so wahrgenommen wurde, dokumentiert ein Brief Thomas Manns an Ernst Bertram, in dem er Wolfskehls und Gundolfs Artikel ausdrücklich erwähnt und konstatiert: „Es ist ohne weiteres klar, daß aus Ihrer Sphäre, Ihrem Kreise über diesen Krieg Wichtiges zu sagen ist, und da der Prophet jetzt schweigen darf, so blickt man umso erwartungsvoller auf die klugen, berufenen Jünger.“73 Die drei von September bis Oktober in der renommierten ‚Frankfurter Zeitung‘74 an prominenter Stelle im Feuilleton publizierten Artikel entwickeln in ihrer Abfolge in Anlehnung an das ‚Jahrbuch‘ einen Argumentationsgang,75 der Georges „krieg“ mit
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Andreae-Syla, Platons Poikilia (Anm. 69), S. 280 und 263. Hervorhebung D.G. Die Implikationen dieser martialischen Rhetorik deuten sich an, wenn Vallentin attestiert wird, er weise „am modernen Leben die Krebsschäden nach, die die Fortschrittsmanie gefressen hat“ und nahe gelegt wird, die ‚entarteten‘ „missgeformten und verbildeten“ ‚Seelen‘ seien der erstrebten „Kallokagathia [‚Allseitigkeit‘ körperlicher und geistiger Schönheit] für alle Zeit verloren“. Ebd., S. 264 und 263. Gundolf / Wolters, Briefwechsel (Anm. 35), S. 55. Zitiert nach: Ralph-Rainer Wuthenow: Stefan George, der Krieg und die Krise. In: Uwe Schneider / Andreas Schuhmann (Hg.): Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne, Würzburg 2000, S. 109–120, hier S. 120. Die ‚Frankfurter Zeitung‘ zeichnet insgesamt eine emphatisch-euphorische Haltung zum I. Weltkrieg aus. Vgl. dazu: Der große Krieg. Eine Chronik von Tag zu Tag. Urkunden, Depeschen und Berichte der Frankfurter Zeitung. 19. Bde, Frankfurt a. M. 1914–1918. Karl Wolfskehl: Offener Brief an Romain Roland [Romain Rolland, Gerhart Hauptmann und unser Krieg]. In: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 59.
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dem der ‚geistigen Bewegung‘ und dem Ersten Weltkrieg verknüpft und in der Überführung von ‚Wort‘ in ‚Tat‘ kulminiert. Wolfskehl stilisiert den Weltkrieg zunächst in der Diktion des ‚Jahrbuchs‘ zum deutschen ‚Schicksal‘ und identifiziert ihn explizit mit dem George’schen und dem der ‚geistigen Bewegung‘: Verraten will ich ihnen, dass es noch ein Deutschland gibt, hinter der Außenseite […]. Dies Deutschland sagt ihnen […] dieser Krieg ist […] eine Notdurft. Er hat hereinbrechen müssen für die Welt europäischer Menschheit, um dieser Welt willen. Wir haben ihn nicht gewollt, aber er ist von Gott. Unser Dichter hat ihn gewusst, er hat diesen Krieg […] gesehen und verkündet […] vor allem Blätterrascheln. Der ‚Stern des Bundes‘ ist dies Buch der Weissagung, dies Buch der Notwendigkeit und Überwindung.
Er lässt sich sogar zur pointierten Schlussformulierung hinreißen: „So stehen wir inmitten von Tod und Trümmern unter dem Stern, ein Bund und eine Einheit […]. Von nun an seien unsere Taten unsere Worte.“76 Die greift Gundolf bereits im Titel ‚Tat und Wort im Krieg‘ wieder auf und wendet sie anschließend geschichtsphilosophisch, indem er konstatiert, dass seit „Goethe und Kant“, „Hölderlin und Kleist“, also seit den Heroen der „deutschen Bewegung“, das „deutsche Ideal“ unter den „Idealen der Geschichte“ gewesen sei, „über dem Wert den Gewinn, über der Wahrheit die Wirkung, über dem Geist die Gestalt, über dem Menschentum den Staat […], über dem ewigen Worte die zeitliche Tat zu vergessen.“ Anschließend wird der deutsche Kampf für die Wahrheit als Kampf für die „Kultur“ „eines überdeutschen Geisterreiches“ in Szene gesetzt und in Bezug auf die Reichsgründung von 1870/71 konstatiert, dass der Zwiespalt von Wort und Tat nicht aufgehoben wurde: „Deutscher Geist und deutsches Reich waren nicht ein und dasselbe“, um anschließend zu folgern:
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Jg., Nr. 253, Erstes Morgenblatt, Samstag 12. 9. 1914, S. 1–2; Friedrich Gundolf: Tat und Wort im Krieg. In: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 59. Jg., Nr. 282, Erstes Morgenblatt, Sonntag 11. 10. 1914, S. 1–2; Berthold Vallentin: Deutschlands Berufung. In: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 59. Jg., Nr. 301, Erstes Morgenblatt, Freitag 30. 10. 1914, S. 1. Alle drei Artikel erscheinen zum oder am Wochenende an prominenter Stelle ‚unter dem Strich‘ im Feuilleton auf dem Titelblatt. Wolfskehl, Offener Brief (Anm. 75), S. 2.
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Mit der Sehnsucht, dass dieser Zwiespalt für immer […] ende, daß der Traum von der Volkwerdung des deutschen Geistes und der Geistwerdung des deutschen Volkes sich ganz erfülle, mit der Hoffnung auf einen u n v e r l i e r b a r e n S i e g sind wir in den gegenwärtigen Kampf getreten.77
Im weiteren Verlauf wird dann konstatiert, es sei allerdings nach der antizipierten Siegestat im Weltkrieg „dem deutschen Geist“ bestimmt, mit dem „Wort“ das „neue Reich“ der künftigen Kulturwelt zu begründen, denn „Deutschland allein“ sei „noch nicht fertig […]“ und habe das „Recht und die Pflicht der Wiedergeburt Europas“. Der Artikel schließt mit einem George-Zitat, das derart de- und re-kontextualisiert unmittelbar auf den Weltkrieg zugeschnitten scheint: „Bangt nicht vor Rissen, Brüchen, Wunden, Schrammen! / Der Zauber, der zerstückt, stellt neu zusammen. / Jed’ ding, wie vordem heil und schön genest, / Nur dass unmerkbar neuer Hauch drin west!“78 Die analog zum ‚Jahrbuch‘ aufgerufene ‚deutsche Sendung‘, die hier auf den Ersten Weltkrieg übertragen wird, trägt Vallentins Artikel als ‚Deutschlands Berufung‘ anschließend sogar ganz plakativ im Titel, ansonsten buchstabiert er die geschichtsphilosophische Argumentation Gundolfs aber nur variierend und ergänzend historisch weiter aus. Es handelt sich bei der Kriegspublizistik der Jahrbuchautoren also durchaus um enthusiastische ‚Kriegspropaganda‘, die im Verlauf des Krieges noch durch weitere kreisexterne Beiträge, wie Johannes Nohls ‚Deutschland und der Stern des Bundes‘,79 flankiert wird, die sich der Dichtung Georges und der Rhe77
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Gundolf, Tat und Wort (Anm. 75), S. 1. Vgl. zur ungebrochenen Fortsetzung dieser Argumentation nach Kriegsende Johannes Nohls Artikel ‚Stefan Georges Stimme‘ in der ‚Neuen Zürcher Zeitung‘, Nr. 1588, vom 2. 12. 1918. Dieser konstatiert im Rahmen einer wilden Textmontage aus George-Zitaten (aus ‚Der Krieg‘, ‚Der Siebente Ring‘ und ‚Der Stern des Bundes‘) was bleibe, sei die „vollkommene Leibwerdung […] als Ziel volklicher Gestaltung“, was bedeute, nach Leistungen in Dichtung, Philosophie und Musik jetzt „das größere Wunderwerk der Endlichkeit zu erproben.“ Gundolf, Tat und Wort (Anm. 75), S. 2. Die De- und anschließende Re-Kontextualisierung dokumentieren nicht nur die gegenüber Georges ‚Siebenten Ring‘ veränderte Großschreibung und Interpunktion, sondern vor allem das veränderte textuelle Umfeld, statt Georges Lyrik rahmt die Verse nun die Kriegsberichterstattung über den ‚Fall Antwerpens‘ (S. 1) bzw. ein Artikel zu ‚Der Krieg und Europa‘ (S. 2). Johannes Nohl: Deutschland und der Stern des Bundes. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 1734, 31. 12. 1914. Nohl zitiert Wolfskehls ‚Offenen Brief‘ an einer Stelle wörtlich und konstatiert parallel zu Gundolf: „Nicht mehr in Bildern und
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torik des ‚Jahrbuchs‘ zum Teil exzessiv bedienen. Dass es sich bei der kreisinternen wie -externen Kriegspublizistik gleichsam um die Nachgeschichte des ‚Jahrbuchs‘ handelt, verdeutlicht der von George, nach anfänglicher interner Kritik, selbst ins Spiel gebrachte „Gedanke eines Kriegsjahrbuchs“,80 in dem die Beiträge Wolfskehls, Gundolfs und Vallentins und mögliche weitere Artikel, u.a. einer Kurt Hildebrandts zu ‚Stefan George und das Deutschtum‘81, versammelt werden sollten, auch wenn er letztlich nicht in die Tat umgesetzt wurde. VI. „die Kunst, die Gedanken im Worte zu verschleiern“: VI. Ästhetische Mehrdeutigkeit als VI. (kultur)politisches Übersetzungsproblem Vor dem so in groben Umrissen skizzierten medienpolitischen Hintergrund, scheint das Urteil zur Kriegspublizistik des Kreises, „[s]o fliegt der Zaunkönig höher als der Adler – die Geschichte ist bekannt“,82 zu kurz zu greifen. Zumal Klaus-Peter Philippi selbst eine viel einleuchtendere Erklärung für Georges öffentliches Schweigen liefert: „Nur so, indem er sich rein bewahrt vor dem Zusammenfall von ‚Sinn‘ und blutigem Ereignis, kann er seine Haltung bewahren, bleibt sein Monopol auf Deutung erhalten, bleibt Deutung als Voraus-Sage unverzichtbar.“83 Solange die entsprechenden Übersetzungsversuche des ‚Jahrbuchs‘ und der Kriegspublizistik mediale Aufmerksamkeit erzeugen und so sein „symbolisches Kapital“ als Prophet und Führer der deutschen Nation
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Bildern […], sondern in der schöpferisch gestalteten Wirklichkeit selber, im ‚Reiche‘ will der Deutsche seines Geistes Abglanz und vollkommene Bildwerdung finden.“ Dass Nohl, dessen Bruder Herman die hier zugrunde liegende Vorstellung einer unvollendeten ‚deutschen Bewegung‘ geprägt hat, Gundolfs Argumentation wieder aufgreift, ist naheliegend. George / Gundolf, Briefwechsel (Anm. 34), S. 271. Das Typoskript hat sich im Nachlass von Friedrich Wolters erhalten und liegt im Stefan George Archiv (Wolters I, 3101). Auch Hildebrandt bemüht – exzessiv – Zitate aus Georges Lyrik, relativiert aber zugleich: „Weil der Heros reich durch sein Wesen allem Tun die Richte gibt, dürfen wir in Georges Dichtungen nach Weisungen für unseren Kampf suchen, wenn wir auch wissen, dass sie eigentlichen Bezug auf den jetzigen Staatskrieg nicht haben.“ (S. 9) Klaus-Peter Philippi: Volk des Zorns. Studien zur poetischen Mobilmachung in der deutschen Literatur am Beginn des ersten Weltkriegs, ihren Voraussetzungen und Implikationen, München 1979, S. 25. Ebd., S. 26.
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steigern,84 widerspricht er diesen nicht öffentlich. Als er dies im Juli 1917, nachdem eine mögliche deutsche Niederlage schon absehbar war, mit ‚Der Krieg‘ medienwirksam ändert und dabei vor allem in der zweiten Strophe explizit die Haltung der Jünger und die öffentlichen Erwartungen an ihn zu Kriegsbeginn reflektiert, lässt sich das vorherige Schweigen gleichermaßen als taktisches Abwarten interpretieren85 wie als Selbstimmunisierungsstrategie verstehen. Denn indem er die ‚Jünger‘ zunächst unwidersprochen für sich sprechen lässt, obwohl der private Briefwechsel mit Gundolf und Wolters Georges kritische Haltung gegenüber dem Ersten Weltkrieg, vor allem aber gegenüber der emphatischen Kriegsdeutung der ‚Jahrbuch‘-Autoren eindrücklich dokumentiert,86 kann er die erzeugte Aufmerksamkeit zunächst einstreichen und sich anschließend, wie in ‚Der Krieg‘ oder der nachträglich eingefügten Vorrede zum ‚Stern des Bundes‘, im Rückzug auf ein ‚Missverständnis‘ der ‚Jünger‘ wie der Öffentlichkeit von dieser Lesart distanzieren, um sich abermals als Prophet zu inszenieren, was wieder durch einen Artikel Gundolfs in der ‚Frankfurter Zeitung‘ medienwirksam in Szene gesetzt wird.87 Flankiert wird dieser von etwa zwanzig weiteren Rezensionen in Zeitungen und Zeitschriften in den Jahren 1917/18, unter ihnen auch eine hymnische Besprechung Johannes Nohls.88 Die von Nohl en passant formulierte Frage „Im vierten Kriegsjahr tritt er hervor. Warum er den Augenblick für den günstigen, für einen Kairós hält, wer will es deuten?“ wird von Feuilleton-Chef Eduard Korrodi in einem Nachwort kritisch kommentierend wieder aufgegriffen: „ist es denn eine so mutige Weisheit des Einsiedlers, der 1917 nicht mehr ‚von heimischer 84
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Vgl. zum Begriff des ‚symbolischen Kapitals‘ im Rückgriff auf die Terminologie Pierre Bourdieus: Kolk, Gruppenbildung (Anm. 18), S. 50. Vgl. dazu: Schäfer, Intensität (Anm. 6), S. 285f. Vgl. dazu summarisch: Kai Kauffmann: Stefan George. Eine Biographie, Göttingen 2014, S. 155–163. Friedrich Gundolf: Der Krieg. In: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 62. Jg., Nr. 280, Erstes Morgenblatt, 10. 10. 1917, S. 1. Johannes Nohl: Der Krieg. Eine Dichtung von Stefan George. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 1893, 11. 10. 1917. Parallel zu Korrodi konstatiert Alexander von Bernus: „Die rückgewandte Prophetie […] ist unschwer und wenig fruchtbar; die Vorschau aber […] gewährt (abgesehen von dem misslichen Hinweis auf George selbst) nicht mehr als das, was heute jeder Oberlehrer sagt […].“ In: Ders.: Der Krieg. Dichtung von Stefan George. In: Das Reich, 2. 3. 1917, S. 612–613, hier S. 613.
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Tugend und wälscher Tücke‘ schwärmt und von einer Verwandlung im Innern spricht?“ Dabei verweist er pointiert auf die für die weltanschaulich-aktualisierende „Medienpolitik“ des ‚Jahrbuchs‘ und der Kriegspublizistik konstitutive Deutungsoffenheit von Georges Lyrik: „Spricht, ja wenn man dies so sprechen nennen darf, Stefan George teilt mit den Diplomaten die Kunst, die Gedanken im Worte zu verschleiern.“89 Diese ästhetische Qualität kann im Zuge (kultur)politischer Übersetzungsversuche offenkundig zum Problem werden.
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Nohl, Der Krieg (Anm. 88).
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„Die jugend ruft die Götter auf ..“ Stefan Georges Gedicht ‚Der Krieg‘ und das Kriegserlebnis der nächsten Generation (Otto Braun) Das finstere zeitkritische Panorama, das Stefan George 1917 mit seinem Großgedicht ‚Der Krieg‘ eröffnet, kennt kaum Lichtblicke.1 Sieht man vom wehmütig-romantischen Rückblick auf das alte Deutschland in der vorletzten Strophe ab, so ist es eigentlich nur das Begriffspaar „jung“ und „Jugend“, das vom vernichtenden Verdikt des Sehers und seiner grundsätzlichen Distanzierung vom Krieg ausgenommen wird. So heißt es in der 4. Strophe: Die jüngsten Der teuren sandt er aus mit segenswunsch .. Sie wissen was sie treibt und was sie feit .. Sie ziehn um keinen namen – nein um sich. (SW IX, S. 23)
Gemessen an der Generalablehnung des herrschenden Kriegs, wie sie der „Siedler auf dem berg“ zwei Strophen vorher ausspricht – „Am streit wie ihr ihn fühlt nehm ich nicht teil“ – ein erhebliches Zugeständnis! Der Widerspruch wiederholt sich am Ende der 5. Strophe. Dort heißt es zunächst pauschal abfällig über den Weltkrieg: „Erkrankte welten fiebern sich zu ende / In dem getob.“ Und direkt danach: „Heilig sind nur die säfte / Noch makelfrei versprizt – ein ganzer strom.“ (SW IX, S. 24) Auch hier ist doch offenbar an junge Menschen gedacht, die ihr Leben dem Krieg zum Opfer bringen; die Reinheit der subjektiven Intention gewährt ihrer Handlung anscheinend eine Form der Heiligkeit, die das Gedicht dem aktuellen Krieg als solchem gerade abspricht. Der Erste Weltkrieg war in Georges Augen bekanntlich eben nicht jener „heilige Krieg“, den er in einem vielzitierten Gedicht des ‚Stern des Bundes‘ (1914) angekündigt oder proklamiert hatte (SW VIII, S. 31) – wir kommen darauf noch zurück. 1
Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff., hier Bd. IX, S. 21–26. Im Folgenden mit SW, Bandnummer und Seitenzahl zitiert.
DOI 10.1515/george-2016/2017-0013
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Aber die Verbindung zwischen „makelfreien“ Kriegsteilnehmern und der sakralen Sphäre ist damit, doch wenigstens der Möglichkeit nach, auch im Kriegsgedicht von 1917 angelegt, und von daher versteht sich wohl der Anfang der Schluss-Strophe (das Titelzitat dieses Beitrags): „Die jugend ruft die Götter auf ..“ (SW IX, S. 26) Gemeint ist zweifellos die deutsche Jugend, denn wir befinden uns hier schon jenseits der „fluch“-Zone des Gedichts, im mystischen Bekenntnis zu Deutschland, das nun oder jedenfalls dessen Jugend offenbar doch nicht dem vollständigen Untergang preisgegeben ist und im Zeichen der Annäherung von Baldur und Apoll vielleicht sogar noch „Sieger“ werden kann (was allerdings sicher nicht im militärischen Sinne zu verstehen ist). Die auffällige Aufwertung der Jugend in ‚Der Krieg‘ ist einerseits vor dem Hintergrund ähnlicher Tendenzen in Georges bisherigem Werk zu verstehen – man denke vor allem an die kultische Verklärung der Jünglingsfigur Maximin im ‚Siebenten Ring‘. Zugleich spiegelt sich in ihr sicher die wie auch immer erotisch getönte Zuwendung zu ganz jungen Männern als Faktor der Biographie Georges2 und mancher seiner Freunde. Die Interpreten des Gedichts sind sich ja darüber einig, dass ‚Der Krieg‘ nicht zuletzt als Reflex von Strukturen und bestimmten inneren Konflikten des George-Kreises aufzufassen sei.3 Das Gedicht verarbeitet demnach gerade in seinen ersten Strophen die demonstrative Zurückhaltung, die George 1914 der Kriegsbegeisterung vieler seiner Anhänger – insbesondere Gundolfs und Wolfskehls – entgegengesetzt hat. Dabei hat faktisch wohl auch die Sorge um das Leben wichtiger Stützen des von ihm aufgebauten Kreises eine Rolle gespielt. Schon da2
3
Vgl. Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. Biographie, München 2007; Kai Kauffmann: Stefan George. Eine Biographie, Göttingen 2014 (= Castrum Peregrini, N. F. 8). Vgl. u.a.: Horst Nalewski: Stefan George: ‚Der Krieg‘ (1917). Kontext, Rezeption, Deutungsaspekte. In: Regina Fasold (Hg.): Begegnung der Zeiten. Festschrift für Helmut Richter zum 65. Geburtstag, Leipzig 1999, S. 299–310; Jürgen Egyptien: Die Haltung Georges und des George-Kreises zum 1. Weltkrieg. In: Wolfgang Braungart / Ute Oelmann / Bernhard Böschenstein (Hg.): Stefan George. Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘, Tübingen 2001, S. 197–212; Armin Schäfer: Die Intensität der Form. Stefan Georges Lyrik, Köln – Weimar – Wien 2005, S. 280–301; Georg Dörr: Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule, Würzburg 2007, S. 338–344.
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mals hatte George eine Art Ausnahme für die Vertreter der Jugend konzediert. In einem Brief an Gundolf, der diesen davor warnt, sich von einer flüchtigen Begeisterung für den Krieg hinreißen zu lassen, heißt es: Was die Jugendlichen angeht so würde ich keinen auch wenn ich ihn noch so sehr liebte und wenn ich es könnte vom Kriege abhalten. Darin liegt etwas von dem Geschick was wir alle gemeinsam tragen. Aber wer nicht nur den schönen Ansturm liebt sondern um das künftige Schicksal seines Volkes besorgt ist der muss schon jetzt alles das bedenken was er für die nächste Zukunft voraussieht.4
Von der „Zukunft“ oder dem „Herr[n] der Zukunft“ ist ja auch im letzten Vers unseres Gedichts die Rede. Tatsächlich ist Georges lyrische Flugschrift in größerem Maße, als man das gemeinhin zu sehen pflegt, durch Zeitstrukturen bestimmt. Es beginnt mit dem Rückgriff auf ein Ereignis, das zum Zeitpunkt der sehr energisch beschleunigten Publikation des Gedichts, nämlich Ende Juli 1917, präzis drei Jahre zurücklag: „So in zerspaltner heimat schlossen sich / Beim schrei Der Krieg die gegner an ..“ (SW IX, S. 22) Das vielberufene Augusterlebnis wird hier an einem Ausruf festgemacht, der nicht in Anführungszeichen, sondern in Großbuchstaben gesetzt wird und daher nicht nur sprachlich, sondern auch typographisch identisch mit dem Gedichttitel ist. Man könnte daher auch die These vertreten, dass das Gedicht nicht so sehr nach dem Krieg als historischer Gegebenheit, sondern nach jenem Aufschrei benannt ist, der seinerzeit durch das Land ging und die Menschen zusammenrücken ließ wie verschreckte Rehe bei einem Waldbrand oder Erdbeben. Die Außenperspektive, die mit dem Tiergleichnis der allerersten Verse eingenommen wird, weicht jedoch gegen Ende derselben Strophe einer Art Innenperspektive, nämlich Formulierungen, die sich eng an das heroische Pathos anlehnen, das seinerzeit die deutsche Öffentlichkeit bestimmte: Für einen augenblick Ergriffen von dem welthaft hohen schauer Vergass der feigen jahre wust und tand Das volk und sah sich gross in seiner not. (SW IX, S. 22)
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An Gundolf, 19. 9. 1914. In: Stefan George / Friedrich Gundolf: Briefwechsel. Hg. von Robert Boehringer, München 1962, S. 260f.
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Unter dem Gesichtspunkt der Zeitstruktur haben wir hier einen zweiten Rückgriff zu registrieren: Vom August 1914 wird zurückgeblickt auf die vorausgehende Friedenszeit des Wilhelminischen Reichs, die als Phase der materialistischen Veräußerlichung („wust und tand“) denunziert wird – in vollkommener Übereinstimmung natürlich mit der Vorkriegslyrik Georges. Während aber ein Großteil gerade auch der expressionistischen Augustlyrik im Einheitsgefühl des Kriegsbeginns eine Erlösung aus den sozialen Nöten und Entfremdungen der bürgerlichen Gesellschaft sah, beharrt der Siedler-Prophet in Georges Gedicht auf der Fortdauer der „angehäuften frevel“ auch im Krieg. Es ist der „satte bürger“ und gerade auch der Vertreter der älteren Generation („Der graue bart“), dem die dritte Strophe die Schuld „an unsrer söhn und enkel / Verglasten augen und zerfeztem leib“ gibt (SW IX, S. 23). Der 1914 begonnene Krieg ist in Georges Sicht nichts Neues, sondern nur der Ausläufer und das Ende eines schlechten Alten. „Wer gestern alt war kehrt nicht / Jezt heim als neu“ (SW IX, S. 25) – derlei lakonische Skepsis wendet sich gegen einen zentralen Topos der patriotischen Kriegsrhetorik: die Annahme einer umfassenden Katharsis oder Läuterung, die vom Kriegserlebnis ausgehe, von Vertretern des Expressionismus auch zur Geburt eines „neuen Menschen“ stilisiert.5 Im großen Katalog der Kriegsdiskurse, zu dem sich der mittlere Teil seines Gedichts ausweitet, wendet sich George nicht nur gegen derlei „gered von hohzeit auferstehung“ (SW IX, S. 25), sondern auch gegen die „falsche[n] heldenreden“ einer schönfärberischen Publizistik, die von den Realitäten des technisierten modernen Krieges Lügen gestraft wird. Die technische Entwicklung erscheint als sträfliche Deviation von der Schöpfung und Verrat an der Ästhetik: „Des schöpfers hand entwischt rast eigenmächtig / Unform von blei und blech · gestäng und rohr.“ Angesichts der Schützengräben und des Massensterbens konstatiert der Seher: „Der alte Gott der schlachten ist nicht mehr.“ (SW IX, S. 24) Wie nun, könnte man fragen, bedeutet der Krieg also doch einen Schritt in die 5
Vgl. Helmut Fries: Die große Katharsis. Der Erste Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und Gelehrter. Bd. 1.2, Konstanz 1994/95; Petra Ernst / Sabine A. Haring / Werner Suppanz (Hg.): Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne, Wien 2004; Verf.: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 2004 (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, IX.2), S. 761–829.
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Zukunft oder etwas qualitativ Neues? Aus Georges Sicht wäre das sicher ein Missverständnis. U-Boote, Gaskrieg und andere technische Innovationen des Ersten Weltkriegs stellen in seinen Augen nur Verlängerungen jener Fehlentwicklung dar, die er schon in der Zeitkritik des ‚Siebenten Rings‘ und des ‚Stern des Bundes‘, in Gedichten etwa wie „Ihr baut verbrechende“ (SW VIII, S. 31), gegeißelt hatte. Neben dieser schlechten Vergangenheit, deren Beispiele sich noch mehren ließen, gibt es im Gedicht allerdings auch eine gute Vergangenheit, nämlich das mythische Bild des alten Deutschlands in der vorletzten Strophe, und mehrere Hinweise auf die Zukunft. Diese beginnen schon im Katalog der vom Seher zurückgewiesenen Kriegsdiskurse: Spricht Aberwitz: ‚Nun lernten wir fürs nächste‘ Ach dies wird wiederum anders! .. (SW IX, S. 25)
So heißt es in der 8. Strophe, und in der 9.: Der lügt sich · schelm und narr: ‚Diesmal winkt sicher Das Friedensreich.‘ Verstrich die frist: müsst wieder Ihr waten bis zum knöchel bis zum Knie Im most des grossen Keltrers. (SW IX, S. 25)
„Kein triumf wird sein“, verkündet ja schon der Anfang der 5. Strophe (SW IX, S. 24). Dennoch eröffnet die Schluss-Strophe die Aussicht auf ein Ende der Nacht – wobei das Licht diesmal allerdings nicht von Osten komme – und eine Zukunfts-Herrschaft für den, der „sich wandeln kann“ (SW IX, S. 26). Das dürfte am ehesten die unbelastete, in ihrem Wachstumsprozess noch nicht erstarrte Jugend sein. Sie ist der eigentliche Träger jener Hoffnung auf Wandel, mit der das zwischen schlechter Vergangenheit, katastrophaler Gegenwart und visionärer Zukunft aufgespannte Gedicht endet. Es spricht für das kritische Ingenium Rudolf Borchardts, dass seine fragmentarischen Anläufe zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Georges Großgedicht gerade die Dimension der Zeit in den Vordergrund rückten. Die in der Ausgabe von Borchardts Werken in Einzelbänden als Haupttext abgedruckte zweite Fassung, wohl Ende 1917 entstanden, diskutiert das Verhältnis der Neuerscheinung zum früheren Schaffen Georges in den Goethe’schen Begriffen von „Manier“ und „Stil“ und weigert sich zugleich, im Sinne eines historischen, evolutionistischen oder Fortschrittsdenkens die letzte Stufe oder Phase Georges als die höchste oder alleingültige anzuerkennen:
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Was zwingt uns denn, dies als Kunstwerk matte Gedicht so als sein neustes Werk zu akzeptieren wie das Erscheinungsjahr es uns als sein letztes bietet? Ein Blick in ein lang nicht aufgeblättertes Werk seiner hohen Jahre kann uns mit einer allerneuesten Tiefe und Ahnung bestürzen, zu deren Gewährung erst der letzte Tag unsere Augen gereift hat. Was hindert uns, von seiner Manier den Rückweg zu seinem Stile zu nehmen, diesen voll ins uns zu fassen, und zu seiner Durchdringung nun auch seine Manier heranzuziehen?6
Und weiter: Wenn seine [sc. Georges] letzte Gaben, seit dem ‚Stern des Bundes‘ trüb aus versteinter Ader sintern und bald zu toten Naturspielen sich verkröpfen, so sind dafür die Flüsse seiner männlichen Fülle alle noch als Bergwasser unaufhörlich unterwegs. Zugleich jugendlich und alternd, mit Frucht und Blüte und Schrumpfung sein Immergrün verschwisternd wie der Limonenbaum steht der gewaltige Mann unter uns, eine Totalität, deren Teile nur das aus dem Ganzen gedachte Urteil bewältigt.7
Der George, dessen künstlerische Leistung dieser Kritiker auch 1917 ungeschmälert anerkennt, ist der Verfasser der vor Borchardts Bruch8 mit ihm (1906) entstandenen Werke. Ein früherer (im Anhang der Werkausgabe mitgeteilter) Entwurf Borchardts zu einer Besprechung des Gedichts geht dagegen von dem schon zitierten Diktum Georges aus: „Der alte Gott der schlachten ist nicht mehr.“ Solche Feststellungen, wie sie Zeitzeugen aus unmittelbarer Betroffenheit heraus machen könnten, seien im Grunde eines Sehers auf dem Berg nicht würdig. Aus höherer Warte lasse sich nämlich erkennen, dass Waffentechnik und Kampfformen seit Beginn der Menschheitsgeschichte ständigem Wandel unterlägen, dass schon Hektors Tod durch den feigen Pfeilschuss des Paris nicht (mehr) den Gesetzen des ritterlichen Zweikampfs entspreche und erst recht mit der Erfindung der Kanone zu Beginn der Neuzeit der alte Schlachtengott entthront sei: 6
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Rudolf Borchardt: Prosa VI. Hg. von Marie Luise Borchardt, Ulrich Ott und Gerhard Schuster unter Mitarbeit von Angelika Ott und Beratung von Ernst Zinn, Stuttgart 1990, S. 319f. Ebd., S. 320. Zu Bedeutung und Geschichte des Konflikts vgl. Rudolf Borchardt: Aufzeichnung Stefan George betreffend. Aus dem Nachlass hg. von Ernst Osterkamp. München 1998 (= Schriften der Rudolf-Borchardt-Gesellschaft 6/7); jetzt auch: Verf.: Rudolf Borchardt. Der Herr der Worte. Eine Biographie, München 2015.
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In der ersten Stückkugel die Sickingens Burgmauer zerwarf ist der Eisenhagel auf Combles impliciert: Man kann nicht zerschmetterter sein als zerschmettert. […] Daß „der alte Gott der Schlachten nicht mehr lebt“, darf man mit dem gleichen Rechte, wie heut, seit Erfindung von Pfeil und Schleuder sagen […]. Das Turnier als Krieg ist einige Jahrtausende länger tot, als das von Kriegsberichterstattern angewiderte Hinterland zu glauben sich vermißt. […] All dies Mechanische der Aufbauten und der Trümmerungen – auch Troja fiel und Rom und Corinth – wüstgelegte Fluren – gedenkt man der Pfalz – Tod von Hunderttausenden – ewig hat die Geschichte Völker gerodet – all dies hat der Arm mit breitem Schwunge von der Tafel zu fegen auf die neue Worte zu schreiben sind.9
Denn dies ist der eigentliche Punkt der Kritik, die Borchardt an Georges Kriegs-Gedicht übt: Letzteres versande in der Wiedergabe der zeitgenössischen „Meinungen und Widermeinungen“10 und bleibe die visionäre Synthese schuldig, wie man sie vom Dichter als Vates erwarten könne. Dabei ist unser Kritiker weit davon entfernt, George die „Allure […] des Sehers“11 anzulasten – er möchte nur, dass diese auch ausgefüllt und eingelöst wird: mit einer genuin dichterischen Neuschöpfung statt mit den tagesüblichen Diskussionen oder jenem „aus vielfach dilettantischen Wagnissen bekannten banalen Mischmasch aus Christus und Orpheus, Apoll und Baldur“,12 wie es die Schluss-Strophe anbiete. Borchardts Insistieren auf Zeitlosigkeit in der Auffassung des Krieges wird eher in den Selbstzeugnissen und dichterischen Versuchen eines jungen Mannes erfüllt, der 1914 im Alter von 17 Jahren als begeisterter George-Leser in den Krieg zog und im April 1918 an der Westfront den Tod fand, nachdem er zwei Monate zuvor Duzfreundschaft mit (dem doppelt so alten!) Borchardt geschlossen hatte. Gemeint ist der schon im Untertitel dieses Beitrags genannte Otto Braun, der hochbegabte einzige Sohn des langjährigen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten und Zeitschriftenherausgebers Heinrich Braun und der Schriftstellerin und Generalsenkelin (mit Napoleon-Blut in den Adern) Lily Braun.13 Otto Braun verkehrte schon als Kind in einem der wichtigsten 9 10 11 12 13
Borchardt, Prosa VI (Anm. 6), S. 588f. Ebd., S. 588. Ebd., S. 321. Ebd., S. 319. Zum Folgenden vgl. Verf.: Kriegsdienst, „Lippendienst“ und Verantwortung. Rudolf Borchardt, Heinrich und Otto Braun 1915–1918 (mit unveröffentlichten Briefen). In: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europäischen Moderne 22, 2014, S. 205–257.
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Stützpunkte des Berliner George-Kreises, nämlich dem Haus des Malerehepaars Reinhold und Sabine Lepsius. Mit deren Sohn Stefan zusammen erhielt er Privatunterricht bei Herman Schmalenbach, dem Vater des bekannten Kunsthistorikers, durch den er wohl gleichfalls an die Kunstanschauungen des Kreises herangeführt wurde. Eine wichtige Station seiner geistigen Orientierung war überdies ein kurzer Heidelberg-Aufenthalt im Juli 1914, bei dem er in nahen Kontakt zum Soziologen Alfred Weber und dessen Schülern trat und beispielsweise auch die junge Elisabeth Salomon, die spätere Frau Gundolfs, kennen lernte. Bevor sich jedoch aus diesen vielversprechenden Ansätzen die von den Eltern erhoffte Universitätskarriere oder auch ein literarisches Lebenswerk (vielleicht in enger Anlehnung an Georges Geisteswelt) formen konnte, trat der Ausbruch des Weltkriegs dazwischen, zu dem sich der Siebzehnjährige trotz schwerer Bedenken des Vaters sofort freiwillig meldete – vielleicht auch in der unterschwelligen Hoffnung, sich auf diese Weise von der jüdischen Herkunft des Vaters zu distanzieren und als würdiger Nachkomme der adligen mütterlichen Vorfahren zu legitimieren. Für Otto Braun, der sich schon als Schüler vielfach literarisch erprobt hatte, beschränkte sich der Spielraum für dichterische Produktionen und die Auseinandersetzung mit Literatur fortan auf knappe Mußestunden an ruhigeren Frontabschnitten und ein längeres Berlin-Intermezzo nach schwerer Armverletzung von Ende 1916 bis Anfang 1918. Zu Lebzeiten erschien nur ein einziges Gedicht Brauns (in der kriegspatriotischen Zeitschrift ‚Wieland‘, 1915). Mit den postumen Auszügen aus seinen Tagebüchern und Briefen, denen eine schmale Auswahl von Otto Brauns Gedichten und ein frühes Drama beigegeben war, erzielte Julie Vogelstein, die bald die vierte Frau des Vaters wurde, 1920 dagegen einen regelrechten Bestseller-Erfolg.14 Otto Braun gehörte nun zu den „unvergessenen“ Märtyrern, zu deren Gedenken sich die Nachkriegsgeneration unter der Führung der Brüder Jünger in soldatischem Ethos verpflichtet fühlte.15
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Otto Braun: Aus nachgelassenen Schriften eines Frühvollendeten. Hg. von Julie Vogelstein, Leipzig 1921 – Eine veränderte Textauswahl bietet die Neuausgabe nach dem Zweiten Weltkrieg: Ders.: Fragment der Zukunft. Aufzeichnungen eines Frühvollendeten. Hg. von Julie Braun-Vogelstein, Stuttgart 1969. Vgl. Friedrich Georg Jünger: Otto Braun. In: Ernst Jünger (Hg.): Die Unvergessenen, Berlin – Leipzig 1928, S. 29–36.
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Einen ganz anderen Zugang zu Otto Braun, der allerdings das besondere geistige Profil dieses halb verhinderten Schriftstellers zu verwischen droht, hat kürzlich die Hamburger Historikerin Dorothee Wierling vorgelegt. In ihrer 2013 bei Wallstein erschienenen Dokumentation ‚Eine Familie im Krieg. Leben, Sterben und Schreiben 1914–1918‘16 rekonstruiert sie anhand des extrem umfangreichen Familiennachlasses das Beziehungsviereck zwischen Heinrich Braun und seiner 1916 verstorbenen, erotisch schon längst eigene Wege gehenden Frau Lily einerseits, andererseits zwischen dieser und ihrer Nachfolgerin, der als gute Freundin des Hauses schon lange vor ihrer offiziellen Verbindung mit Braun Senior omnipräsenten Kunsthistorikerin Julie Vogelstein und natürlich die Beziehungen zwischen all diesen drei Personen zum geistig frühentwickelten und gezielt geförderten, vielleicht auch überforderten Sohn Otto. Das Melodram, das sich hier abzeichnet, erreicht einen Höhepunkt in dessen sogenanntem „Orestes-Brief“ an den Vater: nämlich der Reaktion des Neunzehnjährigen auf das in einem testamentartig hinterlassenen Brief enthaltene Bekenntnis der Mutter zu ihrer außerehelichen Affäre.17 Nur die Tatsache, dass die Mutter schon tot ist, als der Sohn von ihrem Ehebruch Kenntnis erhält, scheint sie vor seiner Rache zu schützen. Ein zweites Melodram kommt bei Wierling zu kurz, verdient aber Erwähnung, weil es auch Borchardts Mentor-Rolle gegenüber Otto Braun und indirekt sein Verhältnis zum Krieg beleuchtet. Der junge Braun hatte kurz vor der von ihm ersehnten, medizinisch übrigens schwer nachvollziehbaren Wiedereinstufung als „kriegsverwendungsfähig“ Ende 1917 bei einem Erholungsaufenthalt auf Schloss Neubeuern die als seelisch instabil geltende Karin von Bodenhausen-Degener kennen und lieben gelernt: eine Tochter des als Hofmannsthal-Freund und Borchardt-Mäzen bekannten Industriemanagers Eberhard von Bodenhausen-Degener. Borchardt, der im Januar 1918 zunächst vom besorgten Vater Heinrich Braun über diese Liebesbeziehung informiert wird, macht daraufhin, nach Abstimmung mit Bodenhausen, in einem dramatischen Gespräch seinen ganzen Einfluss auf Otto geltend, um diesen 16
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Dorothee Wierling: Eine Familie im Krieg. Leben, Sterben und Schreiben 1914–1918, Göttingen 2013. Ebd., S, 301–303; die mythologische Bezeichnung geht auf Julie Vogelstein zurück.
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zur Beendigung der Affäre zu bewegen. Was auch gelingt – freilich um den Preis, dass Braun nun durch nichts mehr vom erneuten Weg an die Front abgehalten wird. Für seinen Kriegstod nur ein Vierteljahr später musste sich Borchardt demnach in gewisser Weise mitverantwortlich fühlen.18 Ich habe diese beiden Beziehungskrisen in der kurzen Biographie Brauns nicht zuletzt deshalb hervorgehoben, weil sie ein ähnliches Muster zeigen: auf der einen Seite die Schwierigkeiten des jungen Mannes, Erotik und Sexualität zu akzeptieren oder selbst zu leben, auf der anderen Seite die Rolle der Gewalt (im Krieg oder im phantasierten Muttermord) als eine Form der persönlichen Befreiung oder des Selbstschutzes. So gut sich auf den Kriegstod des Zwanzigjährigen Georges Formulierung von den „noch makelfrei versprizt[en]“ „säfte[n]“ (SW IX, S. 24) anwenden ließe – es spricht vieles dafür, dass es gerade das Phantasma eines sexuellen ‚Makels‘ und ein fragwürdiges Ideal sexueller ‚Reinheit‘ war, dass diesen Jüngling mit in den Tod trieb und zu seiner besonderen Form der ‚Heiligung‘ motivierte. Denn dieser Jüngling „rief“ in der Tat „die Götter“ – des Krieges an! In Erwartung seiner Einberufung dichtet er im August 1914, streckenweise noch unter dem Einfluss Körners: Nun weiß ich nimmer Herr, was mir Dein Wille Zu tun befiehlt Nun weiß ich nimmer Herr, wohin Dein Wirken Bezwingend zielt Ich riefe gern den Kriegsgott, dass er käme Mich auserwählt Ich riefe gern den Kriegsgott, dass er schützend Mich führt und stählt. Doch weiss ich wohl, dass weithinwirkend Walten Mir einst bestimmt Und wünschte nicht, mich fruchtlos dem zu geben, Der wahllos nimmt. Doch weiss ich auch, dass mich zum Manne hämmert Der Herrscher Krieg Und wünschte nicht, im Frieden hingedämmert Zu fliehn den Sieg.19
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Was sich in bestimmten Verzerrungen seines Erinnerungstextes ‚Frühstück zu acht Gedecken‘ spiegelt: vgl. Verf., Kriegsdienst (Anm. 13), S. 211f. Zit. nach Wierling, Familie (Anm. 16), S. 48.
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Im Sinne der eben erwähnten, schon in Aufzeichnungen der Vorkriegszeit anklingenden Reinheitsvorstellungen20 ist auch die Motivik des einzigen (und auch nur aufgrund der Vermittlung der ehrgeizigen Mutter) zu Lebzeiten gedruckten Gedichts symptomatisch. Unter der Überschrift ‚Nachmittag an der Bzura‘ wird darin ein kollektives Nacktbad der berittenen Mannschaft im Fluss beschrieben – bei einem solchen Anlass hat sich Braun übrigens auch photographieren lassen.21 Aufschlussreich sind vor allem die zweite und der Anfang der dritten Strophe: Warfen wir unsre in Kämpfen gekräftigten Leiber Heiß in der zierlichen Wellen erschillernden Glanz, Und der geschmeidigen Rosse geschmeidige Treiber Stritten und jubelten, jagten und kämpften im Tanz. Droben der Sonnengott ragte und freute sich dessen, Jüngling er selbst an der Jünglinge mutigem Spiel […]22
Sieht man hier nämlich genauer hin, so zeigt sich, dass das Erfrischungsbad keine Ausnahme vom und keine Alternative zum Kriegsgeschehen darstellt, wie es die erste Zeile nahelegt („Vergessend des Krieges und des wirbelnden Donners der Schlachten“). Das gemeinsame Bad ist vielmehr sein ästhetisch gesteigertes, gereinigtes Abbild der Schlacht – denn auch hier ist ja von Streit, Kampf und Mut die Rede. An dieser Vergeistigung des Krieges ist nicht zuletzt der Sonnengott Apoll beteiligt, der Gott der Musen zugleich und, wie hier so auffällig betont wird, der Jugend. Als „makelfreier“ Jüngling (wenn man nochmals mit George sprechen darf) führt er gleichsam die Oberaufsicht und schickt seinen trocknenden Strahl auf die badenden oder gebadet-habenden Krieger. Welchen Stellenwert das Symbol der Jugend gerade auch in Otto Brauns Verhältnis zu Stefan George besaß, zeigt sein erst kürzlich veröffentlichter Feldpostbrief an die Eltern vom 2. Februar 1916.23 Er steht im Zusammenhang mit der (auf eine Anregung Heinrich Brauns zu-
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Vgl. Braun, Schriften (Anm. 14), S. 97: „Mich überkam die Empfindung von der reinigenden Kraft des Regens und vor allem das starke Gefühl, daß im Regen Gott selber zu uns hinuntersteigt“ (24. 6. 1913). Vgl. Abb. in: Wierling, Familie (Anm. 16), S. 193. Otto Braun: ‚Nachmittag an der Bzura‘. In: Wieland, Jg. 1, Nr. 24 vom 10. 9. 1915, S. 2. Verf., Kriegsdienst (Anm. 13), S. 242f.
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rückgehenden) Einladung Borchardts zu einem Vortrag in der „Deutschen Gesellschaft 1914“. In halbem Widerspruch zu dessen Kritik des ‚Siebenten Rings‘ aus dem ‚Hesperus‘, die er gerade gelesen hat, holt der Briefschreiber dort zu einer Verteidigung Georges gegenüber Hofmannsthal aus, den Borchardt ja stets als Antipoden Georges herausgestellt hatte. Braun erklärt sich nämlich außerstande, den Librettisten eines Richard Strauss über den Lyriker zu stellen, „der bei vielem Verletzenden und Seltsamem [sic] doch nie zu einem Kompromiss sich verstand, nur seiner reinen echten Kunst lebte, niemals der Zeit, d.h. dem Augenblick diente und nun das Wunderbare erleben darf, dass sein Strom mit dem unsrer Zeit gemeinsam zu fliessen beginnt.“24 Ist diese Feststellung einer Anpassung der Zeit an den Geist des sich ihr verweigernden Dichters schon sichtlich mit Bezug auf den Weltkrieg getroffen, so tritt der Gesichtspunkt der Übertragbarkeit auf die Kriegserfahrung im anschließenden Bekenntnis zur Jugendlichkeit Georges noch deutlicher hervor: Wer die hymnischen Visionen neuen Menschentums, neuer Jugend, neuer Zeit, die Visionen der vorhergehenden Zeit der Umwälzung („Zehntausend muss der heilige Wahnsinn schlagen, Zehntausend muss die heilige Seuche raffen, Zehntausende der heilige Krieg“) und schliesslich die beseligenden Schlussgesänge gelesen hat („Von welchen Wundern lacht die Morgenerde, Als wär ihr erster Tag“ usw.) der weiss, dass hier das Neue blüht und nicht in den bei allem Reiz aller subtilen Schönheit und Vornehmheit doch immer klassizistisch-müden Liedern des Wieners.25
Otto Braun war seinerzeit nicht der Einzige, der den Dreiklang vom „heilige[n] Wahnsinn“, der „heilige[n] Seuche“ und dem „heilige[n] Krieg“ aus dem Gedicht „Ihr baut verbrechende“ im 1. Buch des ‚Stern des Bundes‘ (SW VIII, S. 31) nach dem 1. August 1914 als eine Art Vorhersage des Weltkriegs gelesen hat. Er konnte nicht wissen, dass sich George in der internen Kommunikation mit Mitgliedern seines Kreises von Anfang an ablehnend-kritisch gegenüber dem Kriegsausbruch geäußert hatte. Diese Haltung wurde ja erst Ende Juli 1917, mit der Einzelpublikation von ‚Der Krieg‘ in hoher Auflage, für die eigentliche Öf24 25
Ebd. Ebd., S. 243. Zur programmatischen Funktion der Morgen-Motivik im zweiten hier anzitierten Gedicht aus dem ‚Stern des Bundes‘ vgl. Manfred Durzak: Zwischen Symbolismus und Expressionismus: Stefan George, Stuttgart u.a. 1974, S. 85–87.
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fentlichkeit sichtbar, und der Zeitpunkt dieser Publikation, kurz nach der von Erzberger eingebrachten Friedensresolution des Deutschen Reichstags und dem dadurch veranlassten Rücktritt von Reichskanzler Bethmann-Hollweg war natürlich mit Bedacht gewählt: Es handelt sich wohl um den ersten Zeitpunkt, an dem größere Teile der deutschen Öffentlichkeit für eine derart distanzierte Stellungnahme zum Weltkrieg ‚reif‘ waren. Im Umkehrschluss – dies en passant – lässt sich wohl auch sagen, dass George die allgemein grassierende Übertragung seiner Visionen eines „heiligen Kriegs“ auf das Zeitgeschehen bis zu diesem inneren Wendepunkt des Weltkriegs, also ganze drei Jahre lang in Kauf genommen hat – keineswegs billigend, wohl eher mit Ingrimm, aber doch – nach außen jedenfalls – passiv-duldend. Explizit wird er sie erst 1920 in der Vorrede zur Neuauflage des ‚Stern des Bundes‘ innerhalb der Gesamtausgabe zurückweisen: Um dieses werk witterte ein missverständnis je erklärlicher desto unrichtiger: der dichter habe statt der entrückenden ferne sich auf das vordergründige geschehen eingelassen ja ein brevier fast volksgültiger art schaffen wollen .. besonders für die jugend auf den Kampf-feldern. Nun ist der verlauf aber so: der Stern des Bundes war zuerst gedacht für die freunde des engeren bezirks und nur die erwägung dass ein verborgen-halten von einmal ausgesprochenem heut kaum mehr möglich ist hat die öffentlichkeit vorgezogen als den sichersten schutz. Dann haben die sofort nach erscheinen sich überstürzenden weltereignisse die gemüter auch der weiteren schichten empfänglich gemacht für ein buch das noch jahrelang ein geheimbuch hätte bleiben können. (SW VIII, S. 5)
Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser sehr nachträglichen Richtigstellung war Otto Braun schon seit zwei Jahren tot. Allerdings hätte er ein Dreivierteljahr vor seinem Tod die implizite Korrektur jener HeiligSprechung des Weltkriegs zur Kenntnis nehmen können, die George im Sommer 1917 mit der Publikation von ‚Der Krieg‘ vorlegte, und es ist angesichts seiner Hochschätzung Georges, seiner ausgebreiteten Kenntnisse der aktuellen Literatur und des Umstands, dass er sich zum Zeitpunkt des Erscheinens schon seit Langem wieder in der Heimat aufhielt, auch völlig undenkbar, dass ihm der Text unbekannt geblieben wäre. Dieser muss ihn allerdings so tief enttäuscht haben, dass er ihn nur demonstrativ zu ignorieren, nicht zu kommentieren vermochte. Die Tagebücher und Briefe Otto Brauns, der den Namen Georges und Zitate aus seinen Gedichten doch sonst stets im Mund führte, erwähnen mit
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keiner Silbe die Flugschrift ‚Der Krieg‘.26 Der Grund liegt wohl in Dorothee Wierlings berechtigter Vermutung, Braun müsse das Gedicht „als einen einzigen Verrat gelesen haben.“27 Dennoch beruft sich Otto Braun weiterhin auf George, und zwar auch und insbesondere mit Bezug auf den Krieg. In seinem letzten Brief an Borchardt nur wenige Wochen vor dem Tod äußert sich der Leutnant Braun außerordentlich befriedigt über die von ihm endlich wieder eingenommene Rolle des militärischen Führers und die „jetzt beginnende grosse Entscheidungsoffensive“, die „alle, die noch jung sind und die Liebe zu Gefahr und Abenteuer in sich tragen, aufs höchste“ anrege, – um anzumerken: Überhaupt halte ich es ja für Unsinn, wenn so oft behauptet wird, durch den Gedanken an Pflichterfüllung, Vaterlandsverteidigung und ähnlich schöne Dinge sei dieser Krieg geleistet worden. Das ist einfach eine schändliche Geschichtslüge. Die Freiwilligen von 14 sind Gottlob mit einem Eroberungsdrang, einer Glut zum Hinwerfen auch des letzten, des Lebens, nur um des göttlich erfüllten Augenblickes willen, der stehen bleibt in den Erztafeln der Weltgeschichte, hinausgezogen in den Heiligen Krieg wie es wenig Gleiches gibt in der Weltgeschichte. „Fernwunder locken und Fahrfreude winkt.“28
Da steht es wieder: Heiliger Krieg. Und direkt danach ein ungenaues George-Zitat, das präzis mit derselben Ungenauigkeit schon im Tagebuch vom Juni 1916 begegnet. Statt „Fernwunder“ heißt es in ‚Pente Pigadia‘ aus den ‚Zeitgedichten‘ des ‚Siebenten Rings‘ nämlich „Ferndunkel“ (SW VI/VII, S. 25), und diese düsterere Tönung ist dem Kontext auch ganz angemessen; schließlich handelt es sich um ein Gedicht auf den englischen Musiker Harris, der 1897 bei einem Aufstand der Griechen gegen die Türken fiel. Die direkt anschließende Passage im zitierten letzten Brief an Borchardt scheint Brauns Tendenz zu einer romantisierend-wandervogelbewegten Adaptation zu bestätigen. Er beruft sich nämlich für die Magie von „Fernwunder“ und „Fahrfreude“ auf sein eigenes Gedicht ‚Warschau‘, 1915 nach der kampflosen Einnahme der polnischen Hauptstadt entstanden und in rhetorischer Apostrophe an diese selbst gerichtet, und zitiert daraus die beiden folgenden Strophen: 26
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Ich danke Tobias Neubelt, der die im Jüdischen Museum Berlin, Archiv des Leo Baeck Instituts New York, bewahrten Verfilmungen der Tagebücher für mich geprüft hat. Wierling, Familie (Anm. 16), S. 194. An Borchardt, 23. 3. 1918. In: Verf., Kriegsdienst (Anm. 13), S. 256.
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Auf deinen Wällen siehst du unsere Scharen Schön hingelagert nach zu kurzer Rast, Wir werden weiter gegen Osten fahren Du bleib uns Vorhof, Schwelle zum Palast, Wir streben fort in unerhörtem Sehnen Voll junger Kraft, die dir schon längst entschwand Tief atemholend uns hinauszudehnen Ins samenglänzend hingestreckte Land.29
Wir notieren wiederum das Pathos der Jugendlichkeit („voll junger Kraft“), hier verbunden mit einer unüberhörbaren Sexualisierung („samenglänzend hingestreckt“). Besonderes Interesse aber verdient die Bildlichkeit von Vorhof und Schwelle, weil sie ganz offenkundig an entsprechende Bildfelder aus dem ‚Siebenten Ring‘ und dem ‚Stern des Bundes‘ anschließt – man denke nur an das Gedicht ‚Die Hüter des Vorhofs‘ (SW VI/VII, S. 54f.). Tatsächlich wird aus dem George-Verehrer Braun in der letzten Zeit vor seinem Tod – und der intensive Umgang sowohl mit Gundolf als auch mit Borchardt in Berlin dürfte dazu beigetragen haben – im engeren Sinn auch ein George-Schüler. Als sein Gesellenstück in dieser Hinsicht kann das Gedicht ‚Gottesdienst‘ gelten, das er Borchardt gewidmet hat – wohl nicht nur wegen der konkreten Korrekturen, die der Text diesem verdankte, oder dem Ethos der dichterischen Formung, das Braun von seinem Mentor übernommen haben mag. Im Hintergrund steht wohl auch jene Entscheidung für den Kriegseinsatz und gegen die Fortführung des Verhältnisses mit Karin, an deren Zustandekommen, wie vorhin erwähnt, auch Borchardt seinen Anteil hatte. Denn der „Gottesdienst“, um den es in diesem letzten Gedicht des Frühverstorbenen geht, lässt sich zweifellos als Dienst am oder Hingabe für den Kriegsgott lesen, den Braun ja schon im August 1914 aufgerufen hatte, damals noch unter dem Namen Ares. Wie anders und um wieviel strenger fällt jetzt aber die lyrische Form aus! Bis in Einzelheiten der Schreibweise hinein lässt sich feststellen: Braun war der Dichtung Georges wohl nie so nah wie in diesem Gedicht, dessen Botschaft einer Sakralisierung des aktuellen Kriegs völlig konträr zu dessen in ‚Der Krieg‘ niedergelegter Position stand. Brauns Gedicht lautet in der Fassung der Handschrift:
29
Ebd., S. 257.
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Peter Sprengel Gottesdienst. Rudolf Borchardt gewidmet. Dir sei Gesetz dich einem Gott zu geben Und Dem zu dienen deine Zeit Er formt dein ungefüges Leben Entrückt es der Vergänglichkeit. Doch glaub du nicht mit heissem Rufen Mit klagendem Gesange Ihn Von Seiner Tempel weissen Stufen Zu deiner Qual hinabzuziehn Denn es ist nicht Sein Amt zu lindern Wie eine Mutter klug und schlicht Nicht Sein des Felsen Fall zu hindern Der dich zerbrechlichen zerbricht. Doch hast du Mut dir selber ganz zu trauen Dann bleibt Enttäuschung ätzend dir erspart Und du wirst wirken wachsen endlich schauen Vollkommenes Wunder: Seine Gegenwart.30
Götter-Aufruf und Selbstopfer im Kriegsdienst fallen in diesem Gedicht und fielen für seinen jugendlichen Verfasser 1918 zusammen.
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Ebd., S. 226.
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Otto Braun als Siebzehnjähriger
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Sapphischen Tones. Der Adoneus in Stefan Georges Lyrik* 1. Einleitung In Stefan Georges lyrischem Werk finden sich nicht nur Gedichte streng alternierenden Versmaßes, sondern auch Gedichte, die teilweise oder vollständig andere Versmaße haben. Von der ‚Fibel‘ bis zum ‚Neuen Reich‘ gebraucht George beispielsweise in zahlreichen Gedichten die metrische Figur des Adoneus.1 Diese metrische Figur besteht aus einem Daktylus und einem Trochäus, wie in Friedrich Hölderlins berühmtem Gedichttitel ‚Hälfte des Lebens‘, und wird in deutschsprachiger Lyrik besonders häufig am Schluss der sapphischen Strophe sowie am Ende von daktylischen Versen bzw. Hexametern gebraucht.2 Trotz einiger * Dieser Aufsatz basiert auf einer These, die ich im Rahmen der Disputation meines Promotionsverfahrens an der Universität Bielefeld im Oktober 2013 vorgestellt habe. Für konstruktive Kritik danke ich zum einen den Mitgliedern des Prüfungsausschusses, Wolfgang Braungart, Kai Kauffmann und Giulia Radaelli, und zum anderen Jan Andres, Saskia Fischer, Felicitas Günther, Jörg Löffler und Ute Oelmann. Für die redaktionelle Betreuung meines Aufsatzes danke ich Anna Lenz und Sabrina Deppermann. 1 Eine genaue und differenzierte statistische Erhebung könnte erst im Rahmen einer umfassenden Studie zu Georges Metrik erfolgen (zu dieser Forschungslücke vgl. weiter unten). Eine erste Durchsicht hat ergeben, dass George in etwa einem Drittel seiner Gedichte einen Adoneus oder mehrere Adoneen gebraucht. Allerdings ist die Verwendung des Adoneus nur in etwa 15 % von Georges Gedichten besonders auffällig, da in ihnen beispielsweise nicht nur Synkopen vermieden werden. Freilich können auch vermiedene Synkopen einen bedeutungsvollen Ausdruck haben (vgl. dazu Abschnitt 3.1 dieses Aufsatzes). 2 Zur Definition des Adoneus vgl. beispielsweise Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik. Eine historische Einführung, 5., erweiterte Auflage, München 2007, S. 156; Harald Steinhagen: Art. ‚Adoneus‘. In: Dieter Burdorf / Christoph Fasbender / Burkhard Moennighoff (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, 3., völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart – Weimar 2007, S. 6. In antiker griechischer Literatur sind demgegenüber „hexametrische Versteile und äolisch-lyrische Silbenmaße [zum Beispiel in sapphischen Strophen] auch bei gleicher metrischer Notation hinreichend verschieden, da die langen Silben im Hexameter kürzere Zeitwerte als in der Lyrik haben“ (Winfried
DOI 10.1515/george-2016/2017-0014
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Studien, in denen manche ‚Macharten‘3 von Georges Gedichten bereits detailliert beschrieben worden sind,4 und trotz einer Dissertation zur Metrik in den ‚Büchern der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten‘5 ist Georges Metrik noch nicht umfassend untersucht worden.6 Dieser Aufsatz soll zum einen Georges Gebrauch des Adoneus anhand einiger Beispiele von der ‚Fibel‘ bis zum ‚Neuen Reich‘ skizzieren. Zum anderen soll er darauf aufmerksam machen, wie lohnenswert eine umfassende Studie zu Georges Metrik vielleicht sein könnte, und einen Baustein für solch eine Studie bereitstellen. Denn unabhängig davon, wie Georges Gedichte laut den Anschauungen des George-Kreises vorgetragen werden sollten – nämlich in einem ‚Hersagen‘, das nicht nur monoton ist, sondern das Inhalt bzw. Sinn zum einen sowie Ausdruck bzw. Form zum anderen vereinigt –, und unabhängig davon, wie Georges Gedichte tatsächlich vorgetragen wurden,7 ist ihre metrische Machart auf jeden Fall so vielfältig, dass sie Analysen und Deutungen rechtfertigt.
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4
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7
Menninghaus: Hälfte des Lebens. Versuch über Hölderlins Poetik, Frankfurt a. M. 2005, S. 115). Dieser Begriff stammt von Gerhard Kurz. Vgl. ders.: Macharten. Über Rhythmus, Reim, Stil und Vieldeutigkeit, Göttingen 1999. Vgl. besonders Hubert Arbogast: Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache in den Frühwerken Stefan Georges. Eine stilgeschichtliche Untersuchung, Köln – Graz 1967; Jürgen Wertheimer: Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges. Formen und Wandlungen, München 1978; Renate Birkenhauer: Reimpoetik am Beispiel Stefan Georges. Phonologischer Algorithmus und Reimwörterbuch, Tübingen 1983; Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin – New York 2007, Kap. 6. Vgl. Dennis Robert Anderson: Metrics and meaning in the early poetry of Stefan George, Diss., Buffalo 1975. Wolfgang Braungart stellt fest, dass „zu einzelnen Kategorien der Poetik“ Georges bislang generell nur „wenige detaillierte Untersuchungen“ vorliegen. Vgl. ders.: Poetik, Rhetorik, Hermeneutik. In: Achim Aurnhammer / Wolfgang Braungart / Stefan Breuer / Ute Oelmann (Hg.), in Zusammenarbeit mit Kai Kauffmann: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Bd. 2, Berlin – Boston 2012, S. 495–550, hier S. 495–501, Zitat S. 497. Zur Anschauung des George-Kreises, dass das Hersagen nicht nur monoton sein soll, vgl. Robert Boehringer: Über Hersagen von Gedichten. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 2, 1911, S. 77–88. Boehringer bewertet unter anderem die Bezeichnung „liturgisch monoton“ für das Hersagen letztlich als „unrichtig“, weil auch sie „nur teilhaftes besag[t]“ (ebd., S. 86). Zur Vereinigung
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Auf die metrische Figur des Adoneus hat zuletzt besonders Winfried Menninghaus am Beispiel von Friedrich Hölderlins Gedicht ‚Hälfte des Lebens‘ und einiger weiterer Gedichte Hölderlins aufmerksam gemacht. Dabei hat er vor allem gezeigt, dass Hölderlin in seiner Lyrik nicht nur einen pindarischen – von großen Taten und Ereignissen sprechenden, erhabenen und seherischen –, sondern auch einen sapphischen Ton gebraucht.8 Am Beginn seiner Studie beschreibt Menninghaus ausführlich den Bezug des Adoneus zur antiken Lyrikerin Sappho und zu deren Werk.9 Dabei erklärt er, dass der Name ‚Adoneus‘ auf einem Klageausruf beruht: Dieser Name verdankt sich dem rituellen Klageausruf ô ton Adônin (‚wéhe Adónis‘), der sich unter den überlieferten Fragmenten Sapphos findet. Die abschließenden fünf Silben der sapphischen Strophe entsprechen generell dem metrischen Muster dieser Klage über den Tod des schönen Adonis; eben deshalb wurde der entsprechenden Silbengruppe der Name adoneus gegeben. Dieser Name hat seine gute Berechtigung: Sappho ist die mit Abstand älteste Quelle zum Adonis-Kult; etliche ihrer Lieder sind der lesbischen Aphrodite-Verehrung zuzurechnen, und mindestens eines, vermutlich mehrere dieser Lieder haben offenbar speziell Adonis’ frühzeitigen Tod besungen – eine Klage, die Teil des Aphrodite-Kults war.10
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10
von Inhalt bzw. Sinn und Ausdruck bzw. Form im Hersagen vgl. ders.: Das Leben von Gedichten, Stuttgart 1980 (zuerst Breslau 1932), Kap. ‚Hersagen‘ (S. 27–30), S. 29f. Zur Lesepraxis im George-Kreis vgl. einführend und mit weiteren Literaturhinweisen Braungart, Poetik, Rhetorik, Hermeneutik (Anm. 6), Kap. 1.4.1.1; Günter Baumann: Medien und Medialität. In: Aurnhammer / Braungart / Breuer / Oelmann, Stefan George und sein Kreis (Anm. 6), Bd. 2, S. 683–712, Kap. 5.4.1; Jan Andres: Soziale Prozesse, Pädagogik, Gegnerschaften. In: Ebd., S. 713–750, Kap. 6.3. Vgl. Menninghaus, Hälfte des Lebens (Anm. 2). Vgl. ebd. Man kann nur vom ‚Bezug‘ des Adoneus zu Sappho und deren Werk sprechen, weil die neuere altphilologische Forschung den Begriff des ‚Adoneus‘ in metrischen Analysen antiker sapphischer Strophen vermeidet. Vgl. ebd., S. 21f., und beispielsweise Bruno Snell: Griechische Metrik, 4., neubearbeitete Auflage, Göttingen 1982, S. 44f. Zur Sappho-Rezeption vgl. grundsätzlich Andreas Bagordo: Art. ‚Sappho‘. In: Christine Walde (Hg.), in Verbindung mit Brigitte Egger: Der neue Pauly. Supplemente, Bd. 7: Die Rezeption der antiken Literatur. Kulturhistorisches Werklexikon, Stuttgart – Weimar 2010, Sp. 827–848. Menninghaus, Hälfte des Lebens (Anm. 2), S. 20; Herv. im Orig. Das von Menninghaus zitierte Fragment Sapphos findet sich in: Sappho: Gedichte. Griechisch-deutsch. Hg. und übersetzt von Andreas Bagordo, Düsseldorf 2009, S. 239 (Fr. 168 Voigt). Bagordo übersetzt es ebd. mit: „o, den Adonis“.
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Der Adoneus ist also sowohl mit der antiken Lyrikerin Sappho als auch mit einem antiken Klageausruf eng verbunden. Über den Adonis-Bezug hinaus ist der Adoneus auch durch einige andere Fragmente Sapphos klagend konnotiert, beispielsweise durch den Aphrodite-Hymnus (Fr. 1 Voigt) und das Liebessymptom-Fragment (Fr. 31 Voigt) – beides Fragmente in sapphischen Strophen. Die Legende von Sapphos verschmähter Liebe zum Fährmann Phaon und ihrem daraus folgenden Freitod (vgl. Abschnitt 2 dieses Aufsatzes) verstärkt all diese Konnotationen noch. Der Adoneus wird wegen der genannten Konnotationen und seiner metrischen Struktur in deutscher Lyrik oft verwendet, um einen klagenden Ton zu erzeugen. Freilich kann man nicht jeden Adoneus in deutscher Lyrik klagend lesen. Aber durch seine fallend betonten Versfüße und dadurch, dass der zweite fallende Versfuß nur noch eine unbetonte Silbe hat – die Sprache läuft durch diese Verkürzung auf einen zweiten, abschließenden Betonungsfall zu und in ihm aus –, hat der Adoneus ein Potenzial zum klagenden Ton, das für entsprechende Semantiken genutzt werden kann. Stefan George gebraucht den Adoneus in seinen Gedichten erstens, um Synkopen zu vermeiden, zweitens als Bestandteil inmitten oder am Ende von oft daktylischen Versen, drittens als allein stehenden Vers und viertens als zentrale metrische Figur ganzer Gedichte. Durch diese Verwendungen des Adoneus ist der Ton zahlreicher Gedichte Georges nicht beruhigend, wie zum Beispiel in den alternierenden Gedichten aus den ‚Traurigen Tänzen‘ (etwa in ‚Ob schwerer nebel in den wäldern hängt‘), und nicht streng und apodiktisch – das heißt vor allem für das ‚Neue Reich‘: nicht pindarisch-seherisch –, wie in vielen alternierenden Gedichten, zum Beispiel oft in den ‚Zeitgedichten‘ oder in ‚Der Krieg‘.11 In den Gedichten mit Adoneen ist der Ton vielmehr sapphisch, das heißt 11
Dieser strenge Ton drückt teilweise sogar äußerste Unmenschlichkeit und Grausamkeit aus. Vgl. zum Beispiel die folgenden Verse aus ‚Der Krieg‘: „‚Die ihr die fuchtel schwingt auf leichenschwaden · / Wollt uns bewahren vor zu leichtem schlusse / Und vor der ärgsten · vor der Blut-schmach!‘ Stämme / Die sie begehn sind wahllos auszurotten / Wenn nicht ihr bestes gut zum banne geht.“ Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff., hier Bd. IX, S. 23. Im Folgenden mit SW, Bandnummer und Seitenzahl zitiert. Herv. M. P. Auch alle weiteren Hervorhebungen in Zitaten Georges sind M. P. Verf.
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klagend, aber teilweise auch bittend oder fragend.12 Das zeige ich in Abschnitt 3 dieses Aufsatzes. Die dort zitierten Gedichte belegen, dass George den Adoneus in all seinen Gedichtbänden von der ‚Fibel‘ bis zum ‚Neuen Reich‘ gebraucht. Durch diese Wiederholung trägt der Adoneus zur rituellen Einheit von Georges lyrischem Werk bei,13 und er ist wegen seines klagenden bzw. teilweise bittenden oder fragenden Tones ein Ausdruck von dessen melancholischer Grundierung.14 Die zitierten Gedichte machen aber auch deutlich, für welch verschiedene Klageanlässe George den Adoneus verwendet, in welch verschiedenen Strophen- und Versformen bzw. Strophen- und Verspositionen er dies tut und wie intensiv bzw. hervorgehoben die Klagen jeweils sind. Diese Vielfalt zeigt, dass in Georges rituell strukturierter Lyrik immer ein beachtlicher Raum für Variationen ist. Bevor ich Georges Gebrauch des Adoneus in seinem lyrischen Werk analysiere, gehe ich vorher im nun folgenden Abschnitt 2 darauf ein, welche Gedichte anderer Autoren George wahrscheinlich zu seinem Gebrauch des Adoneus angeregt haben.
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Dass sowohl der pindarische als auch der sapphische Ton in Georges Gedichten vorhanden sind, merkt auch Wolfgang Braungart an – allerdings ohne Hinweis auf den Adoneus. Vgl. ders., Poetik, Rhetorik, Hermeneutik (Anm. 6), S. 511. Auf relativierende, zweifelnde, resignative, trauernde und melancholische Momente in Georges Gedichten – und speziell in denen des ‚Neuen Reiches‘ – ist in den letzten Jahren bereits mehrfach hingewiesen worden. Vgl. besonders Dirk von Petersdorff: Fliehkräfte der Moderne. Zur Ich-Konstitution in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005, Kap. II. Ernst Osterkamp deutet Georges „Rollenspiele“ im ‚Neuen Reich‘ als „künstlerische[n] Ausdruck einer profunden geschichtlichen Ratlosigkeit“ (ders.: Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich, München 2010, S. 50). Kai Kauffmann merkt an, dass Georges „Verhältnis zum Tod“ grundsätzlich „eine stärkere Beachtung verdienen“ würde (ders.: Stefan George. Eine Biographie, Göttingen 2014, S. 125). Vgl. dazu auch die quantitativen Angaben in Anm. 1. Zu Ritualen und rituellen Strukturen, die Georges lyrisches Werk zu einer Einheit zusammenfügen, vgl. Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997; zur Einheit des Werkes vgl. besonders S. 116f. Zur melancholischen Grundierung dieser Einheit vgl. zum Beispiel ebd., S. 117 und S. 288, die auf S. 288 genannten Literaturhinweise sowie die Titel bzw. Zitate in Anm. 12 des vorliegenden Aufsatzes.
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Markus Pahmeier
2. Anregungen für Georges Gebrauch des Adoneus Wahrscheinliche Anregungen für Georges Gebrauch des Adoneus sind Gedichte mit elegischen Distichen, in denen am Ende der Hexameter meistens Adoneen stehen, andere Gedichte mit Adoneen und Gedichte mit sapphischen Strophen, in denen der jeweils letzte Vers ein Adoneus ist. Solche Gedichte hat George aus anderen Sprachen übersetzt bzw. Karl Wolfskehl hat sie in den zweiten und dritten Band seiner zusammen mit George herausgegebenen Anthologie ‚Deutsche Dichtung‘ aufgenommen, allerdings teilweise gekürzt. Die meisten dieser Gedichte sind klagenden Tones oder drücken zumindest beklagenswerte menschliche Begrenztheiten aus. Beispiele für Gedichte mit elegischen Distichen sind Friedrich Hölderlins Elegien ‚Menons klage um Diotima‘ und ‚Die nacht‘ (die erste Strophe von ‚Brod und Wein‘) in ‚Deutsche Dichtung III‘.15 Beispiele für andere Gedichte mit Adoneen sind Georges Baudelaire-Übersetzung ‚Lesbos‘ in ‚Baudelaire · Die Blumen des Bösen‘, Johann Wolfgang von Goethes ‚Grenzen der menschheit‘ in ‚Deutsche Dichtung II‘ und Hölderlins ‚Hyperions schicksalslied‘ in ‚Deutsche Dichtung III‘. Und Beispiele für Gedichte mit sapphischen Strophen sind Georges Swinburne-Übersetzung ‚Sapphische Strofen‘ in ‚Zeitgenössische Dichter I‘ sowie mehrere Gedichte von Friedrich Gottlieb Klopstock (‚Die tote Clarissa‘, ‚Furcht der geliebten‘, ‚Der frohsinn‘), August Graf von Platen (‚Liebe · liebreiz · winke der gunst und alles‘) und Nikolaus Lenau (‚Abendbild‘, ‚Sehnsucht nach vergessen‘, ‚Am grabe Höltys‘) in ‚Deutsche Dichtung III‘. Hölderlins Werk ist besonders für Georges Spätwerk und dessen pindarisch-seherischen Ton von großer Bedeutung. Diese HölderlinRezeption Georges wurde vor allem durch Norbert von Hellingraths Beschäftigung mit den Pindar-Übertragungen und den späten Gedichten Hölderlins angeregt.16 Laut Henning Bothe beginnt die Hölderlin-Re15 16
Die Gedichttitel sind in der Schreibweise Wolfskehls und Georges zitiert. Vgl. den Kommentar Ute Oelmanns in: SW IX, S. 116f. Vgl. auch Achim Aurnhammer: Stefan George und Hölderlin. In: Euphorion 81, 1987, S. 81–99, der auf S. 92f. die Verwendung des Adoneus in ‚Hyperion I‘ erwähnt, sie aber nicht ausführlich interpretiert. Zu Hellingraths Beschäftigung mit Hölderlins Werk und deren Bedeutung für Stefan George und seinen Kreis vgl. grundsätzlich Ute Oelmann: Norbert von Hellingrath. In: Johann Kreuzer (Hg.): HölderlinHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart – Weimar 2002, S. 422–425; Bruno Pieger: Hellingrath, Norbert von. In: Aurnhammer / Braungart / Breuer /
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zeption Georges aber bereits in den Jahren 1895/96.17 Von daher scheint es plausibel, dass Hölderlins Werk für Georges Gebrauch des Adoneus grundsätzlich eine wichtige Anregung war und dass George besonders im ‚Neuen Reich‘ nicht nur den pindarisch-seherischen, sondern auch den sapphischen Ton Hölderlins aufgenommen hat. Georges Baudelaire-Übersetzung ‚Lesbos‘ und seine SwinburneÜbersetzung ‚Sapphische Strofen‘ zeigen sehr deutlich, dass der Adoneus für ihn sowohl als Bestandteil längerer Verse als auch als allein stehender Vers zum einen eng mit Sappho verbunden ist und zum anderen einen klagenden Ton ermöglicht. In ‚Lesbos‘ (‚Baudelaire · Die Blumen des Bösen‘; SW XIII/XIV, S. 137–139) – für Georges Metrik eine der besonders wichtigen und insgesamt vielleicht eine seiner eindrücklichsten Baudelaire-Übersetzungen –18 klagt der lyrische Sprecher vor allem in den letzten beiden, überwiegend daktylischen Strophen am Ende der Verse 1, 3 und 5 durch den Adoneus über Sapphos verschmähte Liebe zum Fährmann Phaon bzw. über ihren daraus folgenden Freitod, und er evoziert durch diese metrische Figur die Klagen, in denen sich Lesbos seitdem ergeht:19
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Oelmann, Stefan George und sein Kreis (Anm. 6), Bd. 3, S. 1419–1424, und die Literaturhinweise beider Artikel. Vgl. Henning Bothe: ‚Ein Zeichen sind wir, deutungslos‘. Die Rezeption Hölderlins von ihren Anfängen bis zu Stefan George, Stuttgart 1992, Kap. 4 [zu Stefan George], S. 118. Ich danke Bernhard Böschenstein, der mich auf der Jahrestagung der StefanGeorge-Gesellschaft 2013 über ‚Stefan George und das literarische Übersetzen um 1900‘ durch seinen Vortrag auf diese Übersetzung aufmerksam gemacht hat. Zu Georges Baudelaire-Übersetzungen vgl. einführend Cornelia Ortlieb: Baudelaire · Die Blumen des Bösen. Umdichtungen. In: Aurnhammer / Braungart / Breuer / Oelmann, Stefan George und sein Kreis (Anm. 6), Bd. 1, S. 254–269, und ausführlich Arbogast, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache (Anm. 4), Kap. 2, der an zentraler Stelle ‚Lesbos‘ und dessen besondere Bedeutung für Georges Metrik beschreibt (ebd., S. 75ff.). Vgl. dazu auch Anm. 20 des vorliegenden Aufsatzes. Zu Sapphos Leben und zur Legende über ihre „unglückliche[] Liebe zu dem jungen Fährmann Phaon, die mit ihrem Sturz vom Weißen Felsen auf der Insel Leukas endet“ – wichtig für diese Legende ist besonders Ovids Epistel ‚Sappho an Phaon‘ aus den ‚Heroides‘ –, vgl. Andreas Bagordo: Art. ‚Sappho‘. In: Bernhard Zimmermann (Hg.): Handbuch der griechischen Literatur der Antike, Bd. 1: Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit. Hg. unter Mitarbeit von Anne Schlichtmann, München 2011, S. 200–208, hier S. 205.
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Markus Pahmeier Sappho · am tag ihrer lästerung beute der toten · Als sie durchbrach des erfundenen brauches gewalt Und ihre schönheit zur äussersten ernte erboten Rohem arm der mit hochmut das opfer vergalt Sapphos · am tag ihrer lästerung beute der toten. Seit jener stunde ergeht sich Lesbos in klagen · Trotz aller ehren die ihm nun das weltall erzeigt Lauscht es bei tag und bei nacht dem getöse der plagen Das von den öden gestaden den himmel ersteigt · Seit jener stunde ergeht sich Lesbos in klagen.20
In ‚Sapphische Strofen‘ (‚Zeitgenössische Dichter I‘; SW XV, S. 35–37) erinnert der lyrische Sprecher zuerst, beispielsweise in der achten Strophe, an Sapphos ergreifenden Gesang: „Da die zehnte [Muse] sang: ihnen fremde wunder. / O die zehnte Lesbische! alle schwiegen · / Keine trug den schall dieses lieds vor weinen ·“.21 Später klagt der lyrische Sprecher in den letzten beiden Strophen durch den Adoneus, der in ihnen als letzter Vers der sapphischen Strophe verwendet wird, zum einen über die Schar der „klagend verworfnen fraun“, deren Leid von keinem Vergessen geheilt wird – wodurch er auch, wie der lyrische Sprecher in ‚Lesbos‘, Sapphos verschmähte Liebe betrauert. Und zum anderen klagt der lyrische Sprecher durch den Adoneus über das „erschütter[nde]“ Singen dieser Frauenschar, in dem auch Sapphos ergreifender Gesang mitklingen dürfte: […] Jezt vielleicht · wenn winde sich abends legen · Lullend beim taufall · Kehrt zum grauen seestrand die unerlöste Ungeliebte im dämmerlicht ungesehne Schar zurück der klagend verworfnen fraun die Lethe nicht reinigt ·
20
21
Hubert Arbogast macht auf die daktylischen Verse dieser Übersetzung und auf deren Bedeutung für ‚Das Buch der Hirten- und Preisgedichte‘ aufmerksam. Aus diesem ‚Buch‘ behandle auch ich in Abschnitt 3.2 mehrere Gedichte. Arbogast spricht allerdings nicht den adoneischen, klagenden Ton der daktylischen Verse in ‚Lesbos‘ an. Vgl. ders., Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache (Anm. 4), S. 75ff. Zu Sappho als zehnter Muse vgl. Bagordo, Art. ‚Sappho‘ (Anm. 9), Sp. 831.
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Rings umhüllt von tränen und glut und singend · Und das herz des himmels erschüttert pochend Und das herz der erde vor mitleid brechend · Hört sie zu hören.
Der Adoneus ist für George also einerseits sowohl als Bestandteil längerer Verse als auch als allein stehender Vers nicht nur mit einem klagenden Ton, sondern auch mit der antiken Lyrikerin Sappho eng verbunden. George ließ sich in seinem lyrischen Schaffen daher nicht nur durch Dichter wie Dante, Shakespeare, Goethe, Baudelaire oder Mallarmé anregen, sondern mit Sappho, wenngleich vermittelt, auch durch die wichtigste Dichterin der Antike. Andererseits können besonders für Georges Gebrauch des Adoneus in daktylischen Versen auch Gedichte mit daktylisch-adoneischen Versen anregend gewesen sein, die sich inhaltlich nicht auf Sappho beziehen, beispielsweise Gedichte mit elegischen Distichen. Das gilt gerade für Georges frühe Gedichte in der ‚Fibel‘ und in ‚Hymnen. Pilgerfahrten. Algabal‘, die noch vor seiner intensiven Arbeit an den Baudelaire-Übersetzungen und also auch vor ‚Lesbos‘ entstanden sind. 3. Der Adoneus in Georges Lyrik 3.1. Der Adoneus zur Vermeidung von Synkopen George gebraucht den Adoneus in seinen Gedichten oft, um Synkopen zu vermeiden, also die „Ausstoßung eines kurzen [unbetonten] Vokals [zwischen zwei Konsonanten] im Wortinnern“.22 Er vermeidet Synkopen allerdings nicht grundsätzlich, wie beispielsweise seine folgenden Verse zeigen: „Die · wenn auch wild im wollen und mit düsterm rollen“, „Und ewger abend einen altar weiht!“ (‚Strand‘ aus den ‚Hymnen‘; SW II, S. 21, V. 2 und 8), „Soweit des heilgen baumes frucht gedeiht“ (‚Die Lieblinge des Volkes: Der Saitenspieler‘ aus ‚Das Buch der Hirten- und Preisgedichte‘; SW III, S. 23, V. 10), „Und ewig fesselt eure trunknen seelen“ (‚Rom-Fahrer‘ aus dem ‚Teppich des Lebens‘; SW V, S. 50, V. 8) und „Augustus purpurn auf dem goldnen wagen!“ (‚Porta Nigra‘ aus dem ‚Siebenten Ring‘; SW VI/VII, S. 16–17, V. 8). Ein weiteres gutes Beispiel sind einige Verse des Gedichtes ‚Schon war der raum 22
Günther Schweikle / Red.: Art. ‚Synkope‘. In: Burdorf/Fasbender/Moennighoff, Metzler Lexikon Literatur (Anm. 2), S. 748.
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gefüllt mit stolzen schatten‘ aus dem ‚Stern des Bundes‘ (SW VIII, S. 13, V. 1–5): Schon war der raum gefüllt mit stolzen schatten Die funken sprühten in gewundnen dämpfen Es zuckten die gewesnen widerscheine Bei edlen holden die urnächtig frühen. Ihr zittern huschte auf metallnen glänzen […]
Trotz dieser und anderer Synkopen gibt es in Georges Gedichten aber auch zahlreiche Verse, in denen sie vermieden werden. Hubert Arbogast weist darauf hin, dass solche vermiedenen Synkopen den „Ausdruck“ des entsprechenden Wortes „steiger[n], indem sie das einzelne Wort in einen gewissen Widerspruch zum Metrum treten“ lassen.23 Sehr eindrücklich sind beispielsweise die folgenden Verse, in denen zwischen einem Konsonanten und einem ‚g‘ das ‚i‘ nicht ausfällt und in denen dadurch der Ton für einen Moment klagend oder bittend wird: „[…] die kinder flennen / Um selige stunde die so kurz nur schmückt“ (‚XI‘ aus dem ‚Vorspiel‘ des ‚Teppichs des Lebens‘; SW V, S. 20, V. 3–4), „Entweiht in särgen liegen heilige bilder“ (‚Porta Nigra‘ aus dem ‚Siebenten Ring‘; SW VI/VII, S. 16–17, V. 14), „‚Komm heiliger knabe! hilf der welt die birst / Dass sie nicht elend falle! einziger retter! / […]‘“ (‚Leo XIII‘ aus dem ‚Siebenten Ring‘; SW VI/VII, S. 20–21, V. 17–18) und „So drang durch unser brünstiges beschwören / Der wehe schrei nach dem lebendigen kerne“ (‚Schon war der raum gefüllt mit stolzen schatten‘ aus dem ‚Stern des Bundes‘; SW VIII, S. 13, V. 13–14). Im zuletzt zitierten Beispiel steht der Adoneus sogar am Ende des letzten Gedichtverses, wodurch das Gedicht auf eine Klage zuläuft. Am eindrücklichsten ist jedoch vielleicht der letzte Vers der ‚Tafel‘ ‚Winkel: Grab der Günderode‘ aus dem ‚Siebenten Ring‘ (SW VI/VII, S. 178), an dessen Ende das Gedicht durch einen Adoneus ebenfalls auf eine Klage zuläuft: Du warst die Huldin jener sagengaue: Ihr planlos feuer mond und geisterscheine Hast du mit dir gelöscht hier an der aue … Ein leerer nachen treibt im nächtigen Rheine.
23
Arbogast, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache (Anm. 4), S. 31.
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George vermeidet also öfters Synkopen, um durch den Adoneus, der dabei entsteht, für Momente einen klagenden bzw. bittenden Ton zu erzeugen oder um durch ihn ein Gedicht auf eine Klage zulaufen zu lassen. 3.2. Der Adoneus in daktylischen Versen George verwendet den Adoneus in vielen seiner Gedichte am Anfang, inmitten und vor allem am Ende oft daktylischer Verse. Durch den Adoneus klagen die lyrischen Sprecher in diesen Gedichten über eigenes bzw. fremdes körperliches und seelisches Leid, über Resignation, Schwermut, Sehnsucht und Trauer, über Verlust, Abschied und Tod, über vergangene kulturelle Epochen und über kulturelle Missstände. Teilweise gebrauchen die lyrischen Sprecher den Adoneus auch für Bitten und Fragen. Frühe charakteristische Beispiele für die genannten Klagen finden sich in der ersten ‚Legende‘ der ‚Fibel‘ namens ‚Erkenntnis‘ (SW I, S. 86: „[…] / Düstere wogen die heulen und schäumen / Machen mir zeichen: sie ziehn mich hinab / Dass ich dort meine verdammnis beginne.“)24 und in ‚Schweige die klage!‘ aus den ‚Pilgerfahrten‘ (SW II, S. 44, vierte Strophe: „Dann brach der damm / Verhaltenen quellen · / Sein auge ward feucht / Er stöhnte … mir deucht / Ich soll auch am stamm / Meine leier zerschellen.“). In ‚Das Geheimopfer‘ aus dem ‚Buch der Hirten- und Preisgedichte‘ (SW III, S. 21) klagen die Opfernden durch den Adoneus über ihre „ewige[]“ Sehnsucht nach ‚dem‘ Gott. Der Adoneus steht in allen Strophen am Ende des letzten Verses. Weil alle vorherigen Verse der Strophen aus einem Choriambus mit vorherigem Auftakt bestehen (zum Beispiel „Wir schüren den brand“) und weil sie daher im Gegensatz zum letzten, dreihebigen Vers und dessen Adoneus betont enden, laufen die Strophen jeweils auf eine Klage zu:
24
In den zitierten Gedichten dieses Abschnittes sind Adoneen am Anfang und inmitten von Versen nur dann hervorgehoben, wenn sie durch Übereinstimmung mit syntaktisch eng zusammenhängenden Wortgruppen besonders deutlich werden bzw. durch solch eine Übereinstimmung überhaupt erst als Adoneus interpretierbar sind.
222
Markus Pahmeier […] Wir schüren den brand Im hofe des heils Und harren in zagendem sange. […] Wir beben und schaun In sprühender kraft In zehrendem schmerz In glühendem rausch Und sterben in ewigem sehnen.
Ein ähnliches Beispiel, in dem die Verse allerdings vier- bzw. dreihebig sind, ist die neunte Strophe des ‚Geheimen Deutschlands‘ aus dem ‚Neuen Reich‘ (SW IX, S. 47: „Da hört ich von Ihm der am klippengestad / Aus klaffendem himmel im morgenschein / Ein nu lang die Olympischen sah / Worob ein solches grausen ihn schlug / Dass er zu der freunde mahl nicht mehr kam / Und sprang in die schäumenden fluten.“). Auch das gesamte Gedicht läuft im letzten Vers auf einen Adoneus zu: „Wunder undeutbar für heut / Geschick wird des kommenden tages“ (SW IX, S. 49). Dadurch wird zumindest ansatzweise betrauert, dass das heute noch „undeutbar[e]“ „Wunder“ erst zukünftig zu einem „Geschick“ werden wird. Und vielleicht deutet der Adoneus sogar einen leichten Zweifel an diesem Geschick an. In ‚Das Ende des Siegers‘ aus dem ‚Buch der Hirten- und Preisgedichte‘ (SW III, S. 26) klagt der lyrische Sprecher über das Schicksal des einst starken Siegers, der sich wegen einer nicht mehr heilenden Wunde in die Enge seiner Heimat zurückzieht und zu keinen Siegestaten mehr aufbricht. Der Adoneus steht hier inmitten und vor allem am Ende der fünfhebigen daktylischen Verse.25 Da er also nicht nur am Ende des Gedichtes steht, läuft das Gedicht nicht auf eine Klage zu, sondern hat in jedem Vers einen klagenden Ton: […] Er zog sich zurück nach den engen bezirken der heimat Allein sich in leiden verzehrend und sorglich verborgen Vor tragenden müttern die schöne geburten ersehnen Und wachsenden helden · begünstigten freunden der götter.
Ähnliche Beispiele mit fünfhebigen daktylischen Versen – allerdings teilweise mit anderen Strophenformen, mit alternierenden Versabschnit25
Lediglich der achte Vers endet nicht mit einem Adoneus.
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ten und auch mit Adoneen, die am Beginn der Verse stehen – sind ‚An Luzilla‘ aus demselben Gedichtzyklus,26 der zweite der ‚Sprüche für die Geladenen in T..‘ aus dem ‚Jahr der Seele‘27 und das sechste der ‚Standbilder‘ aus dem ‚Teppich des Lebens‘, in dem allerdings nur zwei Verse jeder Strophe mit einem Adoneus enden.28 Im sechsten der ‚Standbilder‘ wird der klagende Ton durch die teilweise betonten Versenden (auch im letzten Vers der ersten und dritten Strophe) zwar ein wenig abgemildert – jedoch nur bedingt, da der letzte Vers der vierten Strophe und damit des gesamten Gedichtes wieder mit einem Adoneus endet („Sinnlos hinan als rauch ohne flamme sich ringelt!“; SW V, S. 58). Auch in zwei Gedichten aus dem ‚Maximin‘-Zyklus des ‚Siebenten Ringes‘ mit drei- bzw. vierhebigen daktylischen Versen hat fast jeder Vers durch den Adoneus einen klagenden Ton. In ‚Trauer I‘ (SW VI/VII, S. 96) klagt der lyrische Sprecher über den Tod Maximins und fleht ihn an, dass er auf sein ‚Rufen‘ antworten möge. Der Adoneus steht am Ende jedes Verses, beispielsweise in der zweiten Strophe: Wenn einen die Finstren erlasen: So schreit ich die traurige stufe. Die nacht wirft mich hin auf den rasen. Gib antwort dem flehenden rufe …
In ‚Auf das Leben und den Tod Maximins: Das Vierte‘ (SW VI/VII, S. 102) klagt der lyrische Sprecher zuerst selbst über den Tod Maximins, bevor er in der letzten Strophe sogar dessen eigene Klagen wiedergibt. Der Adoneus steht in diesem Gedicht vor allem am Beginn vieler Verse und darüber hinaus am Ende des ersten bzw. dritten Verses jeder Stro26
27
28
Vgl. SW III, S. 35: „Da ich zum abschied die hände – Luzilla – dir biete · / Königin unter den ländlichen frauen in Phlius / Wo mich das schicksal für müssige monde verschlagen · / Denk ich mit scherzen ein wahres bedauern verwindend / Unserer laube von bläulichen ähren behangen · / […]“. Vgl. SW IV, S. 54: „Ihr lernt: das haus des mangels nur kenne die schwermut · / – Nun seht im prunke der säulen die herbere schwermut – // […] // Und des der angetan mit der könige purpur / Das schwere bleiche antlitz senkt auf den purpur.“ Vgl. SW V, S. 58, zweite Strophe: „An den engeln mit quälendem glanze verglast / Such ich die pochenden adern und drängenden rippen / Brenne von gluten die in ihren bildnern gerast / Heiligen marmor befeuchten die frevelnden lippen.“ In der ersten Strophe endet sogar nur ein Vers mit einem Adoneus.
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phe. Allerdings enden der zweite und vierte Vers jeder Strophe und damit auch das gesamte Gedicht mit einem Choriambus – also betont –, wodurch die Klage im Vergleich zu ‚Trauer I‘ trotz der Adoneen an den Versbeginnen ein wenig abgemildert wird: ‚Frühling · wie niemals verlockst du mich heuer! Dürft ich noch einmal die knospenden mai’n Einmal noch sehen mit euch die mir teuer Lieblichste blumen am irdischen rain!‘
Ein ähnliches Beispiel ist die zweite Strophe des ‚Geheimen Deutschlands‘ aus dem ‚Neuen Reich‘ (SW IX, S. 46), in der der lyrische Sprecher über die „unersättliche gierde“ seiner Zeitgenossen klagt. Die ersten fünf Verse der Strophe enden mit einem Adoneus und haben daher alle einen klagenden Ton. Der sechste und damit letzte Vers endet jedoch nicht mit einem Adoneus, sondern mit einem Choriambus. Wegen dessen betonter letzter Silbe geht der Ton am Ende der Strophe zumindest ein wenig in kulturkritische Entschiedenheit oder sogar Empörung über: Wo unersättliche gierde Von dem pol bis zum gleicher Schon jeden zoll breit bestapft hat Mit unerbittlicher grelle Ohne scham überblitzend Alle poren der welt:
Als Beispiel für ein Gedicht, in dem der Ton durch den Adoneus fragend wird, sei die letzte Strophe von ‚Welch ein kühn-leichter schritt‘ aus dem ‚Lieder‘-Zyklus des ‚Neuen Reiches‘ (SW IX, S. 99) zitiert. Diese Strophe läuft auf einen Adoneus zu, der eine Frage beendet: Welch ein heimlicher hauch Schmiegt in die seele sich ein Der jüngst-vergangenen schwermut?29
29
Angesichts der Fragen in diesem Gedicht und angesichts der Fragen im nächsten zitierten Gedicht ‚Hyperion I‘ wäre eine Analyse des Fragegebrauchs in Georges Lyrik wohl lohnend. Das Potenzial einer Untersuchung von Formen und Funktionen der Frage in dichterischen Werken hat Sabine Doering am Beispiel Hölderlins gezeigt. Vgl. dies.: Aber was ist diß? Formen und Funktionen der Frage in Hölderlins dichterischem Werk, Göttingen 1992.
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Sapphischen Tones
3.3. Der Adoneus als allein stehender Vers George verwendet den Adoneus in mehreren Gedichten als allein stehenden Vers. In ‚Hyperion I‘ aus dem ‚Neuen Reich‘ (SW IX, S. 12) ist jeder dritte Vers ein allein stehender Adoneus – mit Ausnahme vielleicht des 18. Verses, in dem wohl eher auf einen unbetonten Auftakt zwei Trochäen folgen („Nach – welchem glücke!“). Darüber hinaus schließen viele andere Verse mit einem Adoneus, nämlich die Verse 1, 2, 4, 5, 8, 10, 11, 13, 14, 19, 20 und 22: Wo an entlegnem gestade Muss ich vor alters entstammt sein Brüder des volkes? Dass ich mit euch wohl geniessend Wein und getreid unsres landes Fremdling euch bleibe? So wie sich sondert des sohns Ahnender stolz von geschwistern Späterer heirat Selbst unter freundlichen spielen Innerlich fern und versichert Besseren vaters. Ihr die in sinnen verstrickten Ihr die in tönen verströmten Schlaff dann beim werke: Klagend an ach welchen wassern Weinend an ach welchen weiden Nach – welchem glücke! Lernt nicht des tanzenden schritte Holde gebärde der freude Roh da ihr schwank seid · Fruchtbarem bund nicht gefüge Ihr auch zu zweien allein: Ihr mit dem spiegel.
Hyperion klagt in diesen Versen darüber, dass er unter seinem ‚Volk‘ ein ‚Fremder‘, also einsam bleibe, weil seine ‚Volksbrüder‘ ein unwürdiges Leben führten (V. 1–6). Er beklagt im Einzelnen, dass seine ‚Volksbrüder‘ sich in ‚sinnlichen‘ Genüssen verlören („verstrickten“, „verströmten“; V. 13–14), dass sie in ihren Taten zu „[s]chlaff“ seien (V. 15) und dass sie wegen zu großer Selbstbezogenheit („Ihr mit dem spiegel“; V. 24) nicht in der Lage seien, sich einem „[f]ruchtbare[n] bund“ einzufügen (V. 22). Der klagende Ton des Gedichtes beruht vor
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allem auf den Adoneen und durchzieht es vom ersten bis zum letzten Vers, da die meisten Verse einen Adoneus enthalten. Besonders deutlich wird der klagende Ton durch die allein stehenden Adoneen, beispielsweise in den Versen 6 („Fremdling euch bleibe“) und 24 („Ihr mit dem spiegel“). Die ‚Hyperion‘-Gedichte II und III haben jedoch eine andere metrische Struktur und damit verbunden einen insgesamt weniger klagenden, besonders am Ende von III sogar heilsgewissen Ton: Im pentametrischen zweiten Gedicht preist Hyperion die ideale Welt der griechischen Antike und trauert über deren Untergang. Und im weitgehend alternierenden dritten Gedicht bringt er seine Erwartung zum Ausdruck, dass eine solch ideale Welt in seiner Heimat wiederkehren wird. Im Gedicht ‚Einem jungen Führer im ersten Weltkrieg‘, das ebenfalls aus dem ‚Neuen Reich‘ stammt (SW IX, S. 31–33) und in dem laut Ernst Morwitz Erich Boehringer angesprochen wird,30 ist der letzte Vers jeder Strophe ein allein stehender Adoneus, beispielsweise in den Strophen 1 und 3: Wenn in die heimat du kamst aus dem zerstampften gefild Heil aus dem prasselnden guss höhlen von berstendem schutt Keusch fast die rede dir floss wie von notwendigem dienst Von dem verwegensten ritt von den gespanntesten mühn .. Freier die schulter sich hob drauf man als bürde schon lud Hunderter schicksal: […] Anders als ihr euch geträumt fielen die würfel des streits .. Da das zerrüttete heer sich seiner waffen begab Standest du traurig vor mir wie wenn nach prunkendem fest Nüchterne woche beginnt schmückender ehren beraubt .. Tränen brachen dir aus um den vergeudeten schatz Wichtigster jahre.
Der lyrische Sprecher klagt in diesen Versen darüber, dass dem angeredeten Du im ersten Weltkrieg ‚hunderte Schicksale‘ aufgebürdet worden seien (V. 5–6), und er erinnert das Du daran, dass es nach dem Kriegsende über „den vergeudeten schatz / Wichtigster jahre“ getrauert und geweint habe (V. 15–18). Allerdings sind die ersten fünf Verse jeder Strophe sowohl vor der mittigen Verszäsur als auch am Ende betont – 30
Vgl. Ernst Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, Düsseldorf – München 21969, S. 432.
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fast immer durch einen Choriambus, da es sich bei diesen Versen in der Regel um reine Pentameter handelt. Darüber hinaus mahnt der lyrische Sprecher in Strophe 4, dass auch der „Sturz unter drückendes joch […] einen sinn“ für das angeredete Du habe (V. 23), er hofft in Strophe 5, dass das Du durch die Kriegserlebnisse „für künftig getös“ gestärkt sei (V. 26), und er beendet dieselbe Strophe und damit das gesamte Gedicht mit einem heilsversprechenden Schlussbild, in dem die Abenddämmerung über dem Du „erst von strahlen ein[en] ring“ und „[d]ann eine krone“ aufscheinen lässt (V. 29–30). Trotz dieser mahnenden vierten und dieser hoffnungsvollen fünften Strophe und trotz der beschriebenen Betonungen läuft aber jede Strophe auf einen Adoneus und damit auf einen klagenden Ton zu. Besonders deutlich wird dies in den zitierten Strophen 1 und 3. 3.4. Der Adoneus als zentrale metrische Figur ganzer Gedichte Besonders in zwei Gedichten Georges ist der Adoneus die zentrale metrische Figur des gesamten Gedichtes. Das eine dieser Gedichte ist die ‚Litanei‘ aus dem Zyklus ‚Traumdunkel‘ des ‚Siebenten Ringes‘ (SW VI/VII, S. 129). In ihr besteht der erste Vers jeder Strophe aus zwei Adoneen. Der zweite Vers jeder Strophe beginnt mit einem Adoneus und endet mit einem Choriambus:31 Tief ist die trauer die mich umdüstert · Ein tret ich wieder Herr! in dein haus .. Lang war die reise · matt sind die glieder · Leer sind die schreine · voll nur die qual. Durstende zunge darbt nach dem weine. Hart war gestritten · starr ist mein arm. Gönne die ruhe schwankenden schritten · Hungrigem gaume bröckle dein brot! Schwach ist mein atem rufend dem traume · Hohl sind die hände · fiebernd der mund .. Leih deine kühle · lösche die brände · Tilge das hoffen · sende das licht!
31
Wegen ihrer großen Anzahl sind die Adoneen in den zitierten Gedichten dieses Abschnittes nicht hervorgehoben.
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Markus Pahmeier Gluten im herzen lodern noch offen · Innerst im grunde wacht noch ein schrei .. Töte das sehnen · schliesse die wunde! Nimm mir die liebe · gib mir dein glück!32
In diesen Versen klagt der lyrische Sprecher über die Trauer, die ihn „umdüstert“ (V. 1), über seine körperliche bzw. seelische Mattheit und Qual (V. 3–4), über seinen körperlichen bzw. seelischen Durst und Hunger (V. 5–8) sowie über seine innerliche Sehnsucht und Versehrtheit (V. 13–16). Er bittet den „Herr[n]“ (V. 2) um Erlösung von seiner Trauer, von seiner Schwäche und von seinen seelischen Wunden. Der klagende und bittende Ton des gesamten Gedichtes beruht ganz besonders auf den durchgehend verwendeten Adoneen. Besonders deutlich wird dies in den Versen 1 („Tief ist die trauer die mich umdüstert“), 9 („Schwach ist mein atem“), 12 („Tilge das hoffen“) und 15 („Töte das sehnen · schliesse die wunde!“). Da aber jede Strophe mit einem Choriambus und daher betont endet, wird dieser so intensiv klagende und bittende, ja sogar flehende Ton zumindest abgemildert. Auch in ‚Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande‘ aus den ‚Sprüchen an die Toten‘ des ‚Neuen Reiches‘ (SW IX, S. 90) ist der Adoneus die zentrale metrische Figur des gesamten Gedichtes. Die ersten sieben Verse beider Strophen bestehen aus zwei Adoneen mit jeweils vorherigem Auftakt. Und der letzte Vers beider Strophen ist ein allein stehender, ebenfalls auftaktiger Adoneus: Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande Vom nacken geschleudert die fessel des fröners Nur spürt im geweide den hunger nach ehre: Dann wird auf der walstatt voll endloser gräber Aufzucken der blutschein .. dann jagen auf wolken Lautdröhnende heere dann braust durchs gefilde Der schrecklichste schrecken der dritte der stürme: Der toten zurückkunft! 32
In Horst Joachim Franks ‚Handbuch der deutschen Strophenformen‘ findet sich die von George in ‚Litanei‘ verwendete Strophenform in vierzeiligem Schriftbild unter 4.2. Laut Frank ist für die Verwendung dieser Strophenform eine „leise Wehmut […] charakteristisch“. Möglicherweise könnten auch einige der anderen von Frank genannten Gedichte dieser Strophenform anregend für George gewesen sein. Vgl. Horst Joachim Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, 2., durchgesehene Auflage, Tübingen – Basel 1993, S. 79, Zitat ebd.
Sapphischen Tones
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Wenn je dieses volk sich aus feigem erschlaffen Sein selber erinnert der kür und der sende: Wird sich ihm eröffnen die göttliche deutung Unsagbaren grauens .. dann heben sich hände Und münder ertönen zum preise der würde Dann flattert im frühwind mit wahrhaftem zeichen Die königsstandarte und grüsst sich verneigend Die Hehren · die Helden!
Mit diesen Versen verwirft der lyrische Sprecher sein ‚Geschlecht‘ bzw. sein ‚Volk‘ als schändlich, als feige und als erschlafft (V. 1 und 9). Für den Fall, dass sich sein ‚Geschlecht‘ ‚reinigt‘ bzw. dass sein ‚Volk‘ sich aus dem „feige[n] erschlaffen“ erhebt und sich seiner „kür und […] sende“ erinnert (V. 1 und 9–10), prophezeit er die Wiederkehr der „toten“ „Hehren“ und „Helden“ (V. 8 und 16). Der Inhalt und der Ton des Gedichtes sind auf den ersten Blick pindarisch-seherisch. Da das Gedicht aber kein alternierendes Metrum hat, sondern hauptsächlich aus Adoneen besteht, bekommt sein Ton eine leicht zweifelnde, resignative und klagende Note. Der lyrische Sprecher scheint sich nicht sicher zu sein, ob sich sein ‚Geschlecht‘ bzw. sein ‚Volk‘ tatsächlich einmal reinigen, erheben und an seine „kür und […] sende“ erinnern wird – oder ob es dies vielleicht nicht tun wird und ob daher die Wiederkehr der toten Hehren und Helden für immer ausbleibt. Das „Wenn“ im ersten Vers jeder Strophe wäre dann nicht temporal, sondern konditional zu verstehen. Die Hoffnung darauf, dass die anschließend geschilderte Kondition der Reinigung, Erhebung und Erinnerung eintrifft, wäre nur begrenzt – und damit auch die Hoffnung darauf, dass die toten Hehren und Helden tatsächlich einmal wiederkehren. 4. Zusammenfassung Stefan George erzeugt in seinem gesamten lyrischen Werk durch Adoneen oft einen sapphischen Ton: Durch die Adoneen wird der Ton in vielen seiner Gedichte klagend, aber teilweise auch bittend oder fragend. Die Intensität und die Hervorhebung des klagenden Tones sind jedoch verschieden: Teilweise wird der Ton nur für einen Moment klagend, teilweise laufen Strophen und Gedichte auf eine Klage zu, teilweise haben die meisten Verse oder hat sogar jeder Vers eines Gedichtes einen klagenden Ton und teilweise steht solch ein Ton in ihnen zusätzlich an exponierten Stellen, besonders an Vers-, Strophen- und/
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Markus Pahmeier
oder Gedichtenden. Manchmal wird der klagende Ton durch Endbetonungen an solch exponierten Stellen aber auch mehr oder weniger stark abgemildert. Darüber hinaus werden die Adoneen in mehreren Gedichten mit anderen metrischen Figuren, wie vor allem dem Choriambus, kombiniert. Da aber auch die adoneischen Gedichte nicht freirhythmisch sind, sondern eine präzise metrische Form haben, ist der klagende Ton immer gemäßigt, nie exzessiv. Wegen ihres klagenden Tones sind die Adoneen ein wichtiger Aspekt der melancholischen Grundierung von Georges lyrischem Werk. Ihre Wiederholung trägt einerseits zu dessen ritueller Einheit bei, zeigt aber andererseits auch dessen metrische Vielfalt. Durch all die beschriebenen Variationen ist die Metrik in Georges Gedichten oft sehr individuell, abwechslungsreich und lebendig. Georges strenge, intensive und präzise Arbeit an der metrischen, oft rituellen Form hat ihm zugleich eine sehr große metrische Freiheit ermöglicht.33 Neben alternierenden Versen wie „Du sollst im weiterschreiten drum nicht zaudern“ oder „Noch härtre pflugschar muss die scholle furchen / Noch dickrer nebel muss die luft bedräun ..“ gibt es in seinem lyrischen Werk eben auch Verse wie „Hohl sind die hände · fiebernd der mund ..“, „Heiligen marmor befeuchten die frevelnden lippen“ oder „Ein leerer nachen treibt im nächtigen Rheine“.34
33
34
Vgl. dazu auch Georges eigene Äußerung in ‚Über Dichtung I‘, die allerdings einschränkungslos und apodiktisch ist: „Strengstes maass ist zugleich höchste freiheit.“ (SW XVII, S. 69) SW IV, S. 110 (‚Ob schwerer nebel in den wäldern hängt‘ aus den ‚Traurigen Tänzen‘); SW IX, S. 29 (‚Der Dichter in Zeiten der Wirren‘); SW VI/VII, S. 129; SW V, S. 58; SW VI/VII, S. 178.
„Und gute Gespräche vereinten mich mit seinem Wesen“
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Ute Oelmann
„Und gute Gespräche vereinten mich mit seinem Wesen“. Stefan George und Rainer Maria Rilke1 Literaturverzeichnisse pflegen heutzutage allzu häufig nur noch die Forschung der letzten 20 bis 30 Jahre aufzuführen. Titel aus den Jahren vor 1980 finden kaum noch Beachtung: veraltet, methodisch unscharf, Wald- und Wiesengermanistik! Ganz anders geht es mir angesichts der Aufgabe, über Rainer Maria Rilke und Stefan George zu schreiben und natürlich über Florenz als dritte und Schöne im Bunde. Ich muss meine Ausführungen mit dem Verweis auf den Aufsatz eines englischen Germanisten und Komparatisten beginnen, der in Oxford und Cambridge studierte, in Leipzig promovierte (1938) und zuletzt in Edinburgh lehrte. 1957 erschien zum ersten Mal sein Aufsatz ‚Rilke und Stefan George‘ in einer Festschrift für Hermann August Korff, wiederabgedruckt 1963 in einem Sammelband mit dem Titel ‚Exzentrische Bahnen. Studien zum Dichterbewußtsein der Neuzeit‘.2 Eudo Colecestra Mason hatte 1938 bei Blackwell ein Buch über Rilke veröffentlicht, weitere Rilkestudien folgten, mit Georgebeiträgen hingegen fiel er nicht auf. Dieser Aufsatz aber enthält fast alles für das Thema wichtige Material, alles jedenfalls, was ihm damals zugänglich war. Mason kennt und zitiert die Briefe, die Rilke und George wechselten – soweit es ihm erlaubt war, druckt er sie ab –, kennt all die Erwähnungen Georges in Rilkes Briefen und Prosa sowie negative Ausführungen der George-Exegeten und GeorgeFreunde Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters, und natürlich kennt er das veröffentlichte Werk Rilkes sehr gut. Und das Georges? Wohl auch ausreichend. Was bleibt noch zu tun? Als Arbeiterin im Weinberg des Herrn, in diesem Falle ist es das Stefan George Archiv in Stuttgart, bin ich verwöhnt. Meist kann ich mit dem einen oder anderen unbekannten Dokument auftrumpfen, mit ein paar Zeilen wenigstens oder 1
2
Der Text geht zurück auf einen Vortrag, gehalten bei der Tagung der Internationalen Rilke-Gesellschaft 2014 in Florenz, deren Thema das Verhältnis des Dichters und seines Werkes zur Stadt war. Eudo C. Mason: Exzentrische Bahnen. Studien zum Dichterbewusstsein der Neuzeit, Göttingen 1963.
DOI 10.1515/george-2016/2017-0015
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Ute Oelmann
einem Brief. Ich habe mir Mühe gegeben, und es würde mich freuen, wenn das Zitat, das Teil meines Titels ist, auch den ganz besonders kenntnisreichen, alles überblickenden unter meinen Lesern unbekannt wäre. Nein, viel habe ich nicht zu bieten: den genauen Wortlaut von Briefen, die Mason nur indirekt wiedergeben durfte, und zwei Briefe, deren Existenz bekannt ist, nicht aber ihr Wortlaut in extenso. Eine wenig erfreuliche Möglichkeit für die ehemalige ‚Hüterin der Quellen‘ und Editorin ist das Nachweisen von Fehlern in Fakten; da ist aber wenig zu tun, sieht man davon ab, dass Stefan im Titel des Inhaltsverzeichnisses – treu Rilke folgend – mit „ph“ geschrieben steht. Mein Trost und hoffentlich des Lesers Vergnügen: Ich kann hinzufügen, denn Mason stand mit Bezug auf George außer der Gesamtausgabe von Georges Werken der Jahre 1928–19343 und der Zeitschrift ‚Blätter für die Kunst‘ kaum Material zur Verfügung. Georges Erbe Robert Boehringer gründete erst 1959 das Stefan George Archiv und gab bis zu seinem Tode 1974 kaum Einblick in Unpubliziertes. Allein die erste Auflage von Boehringers Buch ‚Mein Bild von Stefan George‘ von 1951 lag Mason vor, die noch nicht den späteren reichen Dokumentenanhang enthielt.4 Last but not least, ich kann versuchen auszugleichen, ein wenig zurechtrücken, denn Masons Argumentation bekommt immer wieder Schlagseite. Er kann den Mann George nicht leiden und auch sein Werk ist ihm letztlich fremd. Deswegen kann nicht sein, was nicht sein darf: Rilkes allzu positive Äußerungen aus späteren Jahren (lang nach Florenz) können nicht die ganze Wahrheit sein – sind großzügige Anwandlungen dessen, der George längst mit dem eigenen Werk übertrumpft hatte. – Wo aber bleibt Florenz? Der Weg nach Florenz führt über Berlin. So seien einleitend die wichtigen Ereignisse und Zeugnisse rekapituliert. Am 14. November 1897 fand in der Wohnung des mit George befreundeten Malerehepaars Reinhold und Sabine Lepsius (Berlin, Kantstraße 162) eine Lesung Georges aus dem erst vor kurzem in 200 Exemplaren als Privatdruck erschienenen, von Melchior Lechter mit einem musizierenden Engel geschmückten Gedichtband ‚Das Jahr der Seele‘ statt. Eingeladen war u.a. 3
4
Stefan George: Gesamt-Ausgabe der Werke. Endgültige Fassung, Berlin 1927ff. Im Folgenden mit GA, Bandnummer und Seitenzahl zitiert. Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George, Düsseldorf – München 1951, 21968.
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Lou Andreas-Salomé, und sie brachte auf Vorschlag Georg Simmels den jungen Dichter Rainer Maria Rilke mit. Es hatte einen Damen-Überhang gegeben.5 Rilke waren nach eigener Bekundung die Gedichte bei vorausgegangener Lektüre noch fremd geblieben. Nun aber, vom Dichter in festlichem Raume inszeniert und psalmodierend vorgetragen, bemächtigten sie sich seiner. So schrieb er – allerdings 27 Jahre später – an Hermann Pongs, das ‚Jahr der Seele‘ sei ihm von „Anfang an bedeutend gewesen“, „es erschloss sich mir aber erst als Überwältigung, seit ich den Dichter im Lepsius’schen Kreise seine gebieterischen Verse hatte sagen hören.“6 Erst die Einheit der Erfahrung von Person und Werk überzeugt, nein ‚überwältigt‘. Wer die Gedichte des ‚Jahr der Seele‘ kennt, wird sich über das Attribut „gebieterisch“ wundern, das Rilke den „Versen“ selbst zuschreibt und sich fragen, welche Gedichte George denn wohl gelesen haben könnte, handelt es sich doch um die sanftesten Gedichte im Werk, um häufig melancholische und liedhafte Gedichte, wofür schon allein ein Zyklentitel wie ‚Traurige Tänze‘ spricht. War es jenes „Komm“, „schau“, „nimm“, „Erlese“, „küsse“, „flicht“, „vergiss“ und „verwinde“, waren es die Imperative des berühmten Eingangsgedichtes ‚Komm in den totgesagten park und schau‘, die Appellstruktur zahlreicher Gedichte, die sich mit dem eigenartigen Vortragsmodus Georges verband, lockte, verführte und drohte? Wie einst Hugo von Hofmannsthal wehrte sich Rilke in den Novembertagen dagegen. Bevor er am 7. 12. 1897 den ersten Brief an George schrieb, wehrte er sich, Georges Dichtung abwertend, und seine Abwehr wurde am 29. November 1897 zu einem Gedicht: ‚An Stefan George: „Wenn ich, wie Du, mich nie den Märkten menge“‘. Es wurde ein George’sches Gedicht, fast eine Parodie.
5
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Im Folgenden wird häufig aus handschriftlich überlieferten Texten und Briefen zitiert, die sich überwiegend im Stefan George Archiv in Stuttgart befinden und bislang nicht publiziert wurden. Darauf weist die Angabe Hs (StGA) hin. – Vgl. Georg Simmel an Stefan George, 12. 11. 1897, Hs (StGA). Rainer Maria Rilke an Hermann Pongs, 17. 8. 1924. In: Rainer Maria Rilke: Briefe. Hg. vom Rilke-Archiv in Weimar in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Karl Altheim, Frankfurt a. M. 1987, Bd. 3, S. 874–881.
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Ute Oelmann An Stefan George Wenn ich, wie Du, mich nie den Märkten menge Und leiser Einsamkeiten Segen suche, – Ich werde nie mich neigen vor der Strenge Der bleichen Bilder in dem tiefen Buche. Sie sind erstarrt in ihren Dämmernischen Und ihre Stirnen schweigen Deinen Schwüren, Nur wenn des Weihrauchs Wellen sie verwischen Scheint ihrer Lippen Lichte sich zu rühren. Doch, daß die Seele dann dem Offenbaren Die Arme breitet, wird ihr Lächeln lähmen; Sie werden wieder die sie immer waren: Kalt wachsen ihre alabasterklaren Gestalten aus der scheuen Arme Schämen.7
Emphatisch setzt sich das „Ich“ hier dem älteren Dichter gleich: „Ich wie Du“, beide sind einsam, markt- und publikumsfern, um sich dann ebenso vehement zu Beginn des dritten Verses abzusetzen: „Ich werde nie mich neigen“. Manches bleibt mir dunkel in diesem Gedicht, aber wieder scheint mir dieselbe Verschiebung vorzuliegen vom KünstlerMensch auf das Werk: streng, kalt, erstarrt, alabasterklar sind die Bilder und Gestalten und damit die Verse dieses Dichters. Für den jungen Hofmannsthal ging von Georges Worten ein „Verführen“ aus, ohne Berührung war die Begegnung potentiell tödlich für den jungen Dichter, der ein noch Schwankender, Suchender war. Der Prophet Von seinen Worten, den unscheinbar leisen Geht eine Herrschaft aus und ein Verführen8
„Ich bin so jung“ beginnt entsprechend ein Gedicht Rilkes aus dem November 1897.9 Lou hatte, anders als Rilke, an jenem Abend angstfrei eine Verlebendigung der Verse erlebt. Für mich hat ein Gedicht noch niemals eine solche siegreiche und überwältigende Umwandlung erlebt, wie Stefan Georges Gedichte in seinem mündlichen Vortrag. Es war als wenn sorgfältig getrocknete und schön geordnete Blumen7 8
9
Vgl. Mason, Exzentrische Bahnen (Anm. 2), S. 210. Stefan George / Hugo v. Hofmannsthal: Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal. 2., erg. Auflage, München – Düsseldorf 1953, S. 239. Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke in 12 Bänden. Hg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, Bd. 1, S. 147.
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leichen unversehens aus einem Herbarium in einen blühenden Garten zurücksprängen und jedes kleinste ihrer Blättchen goldgrün schimmernd in der Sommersonne dehnten.10
Wie ruhig, überlegt und hintersinnig tritt Rilkes Brief dann vor George, den er als „Meister“ tituliert. Der „Leseabend“ hat ihm „große[n] Eindruck“ gemacht, deswegen möchte er „[a]lles“ von Georges Kunst „mit Interesse […] verfolgen“. Subtil das erste formuliert, kühl das zweite und selbst das werkbezogene Lob „und manche meiner Feierstunden lebt von seinen Melodieen“ gilt dem Anderen der „strengen Bilder“ und „alabaster-klaren Gestalten“, den Melodien, der Musikalität mancher Gedichte. Ansonsten will er „Blätter“-Leser werden, um die Kunsttheorie Georges und seiner „Jünger“ kennenzulernen. In Klammern: Interessant ist, dass er eine Wendung, einen Begriff benutzt, der 1897 noch nicht im Umfeld Georges gebräuchlich war. Nicht nur jedes Wort ist genauestens überlegt, jede Zeile von Rilkes in gestochener deutscher Kurrentschrift gehaltenem Brief steht wohlgeordnet auf der Papierseite: Adresse, Datum, Anrede, Brieftext in drei Absätzen, kluge Vermeidung der förmlichen Schlussfloskel (was würde schon der Anrede „Meister“ entsprechen, wenn man nicht „Jünger“ sein will). Ganz anders kommt Georges Antwortbrief zu ihm, in der vor kurzem erst erfundenen und erprobten eigenen Stilschrift gehalten, starker breiter Federstrich, ein Geschäftsbrief mit der gleichstellenden Anrede „lieber Dichter“ und der höflichen Schlussformel „Mit meinem dank für Ihre worte und der versicherung meiner hochachtung“ in gewohnter Kleinschreibung. Die Botschaft lautet: „die einführung in unsren kreis geschieht ohne förmlichkeit“ und „mitgliedschaft besteht in teilnahme“. Offenheit und Partizipation signalisiert George ebenso wie Ranggleichheit: beide sind Dichter. Wie dieser Brief auf Rilke wirkte, ist, soweit ich sehe, nicht überliefert; überliefert ist auch kein Brief Rilkes an C. A. Klein, an welchen George ihn verwies; keine Bestellung der frühen Privatdrucke Georges oder der ‚Blätter für die Kunst‘ befindet sich in der sogenannten ‚Blätter‘-Korrespondenz im George Archiv.
10
Lou Andreas-Salomé: Grundformen der Kunst. In: Pan IV, 3, Oktober 1898, S. 18.
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11
Der Brief befindet sich im StGA.
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Faksimile II12
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Die Originalbriefe Georges befinden sich im Rilke-Archiv/Gernsbach, Kopien im StGA Stuttgart. Es gelang leider nur, von der Stefan George Stiftung eine Abdruckgenehmigung zu erlangen, ihr gilt mein Dank.
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Ob die Einflussangst inzwischen nachgelassen hatte? Am 5. März 1898 jedenfalls pries Rilke in seinem Prager Vortrag über ‚Moderne Lyrik‘ die neuen Entwicklungen der deutschen Lyrik seit den ausgehenden 80er Jahren des 19. Jahrhunderts, und er pries all jene, die George verachtete, an erster Stelle Detlev von Liliencron, aber auch Dehmel.13 Diesen hatte George noch im Juni / Juli 1897 auf seiner Bewertungsskala zwischen minus 10 und 5 angesiedelt und ihm „völligen mangel an künstlerischer begabung“ attestiert. Dehmels Gedichte gehörten für ihn zum „schlechtesten und widerwärtigsten was [ihm] in die hände kam.“14 Den „Rheinländer Stephan George“ bezeichnet Rilke dann im Vorübergehen als „das andere Extrem“ von Mombert; George ist mit dem „Schönheitsasketen“ gemeint, das „ewige bleiche Büßen“ ist dasjenige Georges. Formalismus, Leere, Kälte, es ist immer noch derselbe Vorwurf wie wenige Monate zuvor im Gedicht ‚An Stephan George‘. Und daraufhin Florenz! Aus unserm winterlieben Gelände bin ich fern in den Frühling verbannt wie ich zage an seinem Rand, legt sich mir leuchtend das neue Land In die zweifelnden Hände.15
So beginnt eines der sieben Gedichte, die Rilke zwischen dem 15. April und dem 19. April 1898 in Florenz gelangen, auf Lou zugeschrieben sie alle, bevor er kaum vierzehn Tage später unerwartet George gegenüberstand. Zwei Stunden soll das Gespräch gedauert haben, das in Rilkes mit den sieben Gedichten einsetzenden ‚Florenzer Tagebuch‘ mit keiner Silbe erwähnt wird. Der Name Stefan George kommt nicht vor. Bekannt ist Rilkes späte Reminiszenz in einem Brief an Robert Heinz Heygrodt vom 24. 12. 1921, Stefan George habe ihm damals mit Recht vorgehalten, dass er „zu früh veröffentlicht habe.“16 George hat keine Aufzeichnungen über seinen Italienaufenthalt von 1898 hinterlassen, nicht einmal ein Reiseführer von Florenz ist erhalten, 13 14
15
16
Rilke, Sämtliche Werke (Anm. 9), Bd. 10, S. 360–394, hier S. 375 und S. 377ff. George an Hofmannsthal, nach dem 3. 6. 1897 und 16. 7. 1897. In: George / Hofmannsthal, Briefwechsel (Anm. 8), S. 120 und S. 123. Rainer Maria Rilke: Das Florenzer Tagebuch. Hg. von Ruth Sieber Rilke und Karl Sieber, Frankfurt a. M. 1994, S. 9. Im Folgenden mit der Sigle FT abgekürzt. Rilke an Robert Heinz Heygrodt, 24. 12. 1921. In: Rilke, Briefe (Anm. 6), Bd. 2, S. 710–713.
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wie im Falle Roms. Was Rilke in jenen Wochen von Florenz und Viareggio sah und beschäftigte, was er dachte und vor allem für mitteilenswert hielt, das wissen wir, George aber – es war sein zweiter Florenzaufenthalt – erwähnte im Kontext seiner Florenzbesuche nur Fra Angelico und Dante.17 Es war für ihn die Stadt der beiden Großen. Fra Angelico hatte schon früh das Gedicht ‚Ein Angelico‘ gegolten,18 letzterer beschäftigte ihn dann ab 1901 übersetzend 20 Jahre lang. In Florenz begegnete Rilke ein Mann, dessen Selbstvertrauen nach einer von vielen Krisen einen ersten Höhepunkt erreicht hatte, gewiss seiner dichterischen Sendung. Seit März war George in Rom gewesen, hatte wichtige Kontakte geknüpft, viel Lob erfahren, z.B. von Ludwig von Hofmann; vor allem aber war er dort seinem seit zwei Jahren ins Auge gefassten Ziel, einen Verleger für sein Werk zu finden, mit dessen Hilfe ein ‚öffentlicher‘ Autor zu werden, aber ganz nach eigenen Vorstellungen, entscheidend näher gekommen: durch Ludwig von Hofmann hatte er in Rom den Verleger Georg Bondi kennengelernt und war mit diesem weitgehend handelseinig geworden. Schon im November desselben Jahres 1898 erschienen die ersten öffentlichen Ausgaben: Die Bände aus den Jahren 1890 bis 1897.19 Zudem lag ein großer Teil der Gedichte des ‚Vorspiels‘ zum ‚Teppich des Lebens‘ vor, erste ‚Zeitgedichte‘ waren entstanden und damit ein ganz neuer Typus von Gedichten (z.B. ‚Leo XIII‘), und zur Krönung hatte er in Melchior Lechter seinen Buchgestalter und treuen Anhänger gefunden.20 Schaut man Fotos von George aus dieser Zeit an, so sind die vertrauten markanten Züge vorhanden, doch die 17
18
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20
George an Albert Verwey, 7. 2. 1897 aus Florenz. In: Albert Verwey en Stefan George. De documenten van hun friedschap, bijeengebracht en toegeliicht door Mea Nijland Verwey, Amsterdam 1965, S. 36. Das Gedicht erschien 1890 in Georges erstem schmalem Gedichtband ‚Hymnen‘. Im November 1898 erschienen ‚Hymnen Pilgerfahrten Algabal‘ in einem Band, ebenso die ‚Bücher der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten‘ und das 1897 als Privatdruck veröffentlichte ‚Jahr der Seele‘ im Berliner Verlag Georg Bondi. Der Gedichtband ‚Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel‘ erschien mit der Datierung 1899/1900 als Privatdruck, ein Teil der ‚Vorspiel‘-Gedichte war zuvor in den ‚Blättern für die Kunst‘ veröffentlicht worden. Die ‚Zeitgedichte‘ leiteten erst 1907 Georges nächsten Gedichtband, den ‚Siebenten Ring‘, ein. Lechter hatte 1897 erstmalig den Privatdruck von ‚Das Jahr der Seele‘ gestaltet.
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Härte und Herrschaftsaura späterer Zeiten fehlen noch völlig. Wie jung, klein, unterlegen sich der ein Jahrsiebt jüngere Rilke damals tatsächlich fühlte, wie sich Georges durchaus vorhandener Charme und sein Interesse an dem jungen Dichter auswirkten; wir wissen nur wenig darüber. Da ist dieser Halbsatz meines Titels, und er bezieht sich auf eben jene Begegnung in den Boboli-Gärten. Lassen Sie mich den Beweis antreten. „Ich bin Stephan George dreimal begegnet: einmal dem Dichter an einem Abend bei Reinhold Lepsius, einmal dem Menschen in den ersten Alleen des Boboli – und gute Gespräche vereinten mich mit seinem Wesen – das dritte Mal kam mir Mensch und Dichter, so seltsam Eines, aus Ihrem Bilde entgegen.“ So steht es in Rilkes erstem Brief an den Maler Curt Stoeving zu lesen, von welchem er sich ein „Exemplar der photographischen Reproduktion des Porträts“ erbat, welches er postwendend erhielt.21 Ich kenne diese Briefe seit Jahren und bin immer misstrauisch geblieben, was die hier bezeugte, positive Einstellung Rilkes zu George und gar die Wirkung des Gesprächs in Florenz betrifft. Eine Begründung für dies ‚reine Gefühl‘ glaube ich heute gefunden zu haben und zwar im ‚Florenzer Tagebuch‘ ebenso wie unter den Gedichten ‚Mir zur Feier‘, Gedichte der Jahre 1897/98. Den ersten Halbvers des ersten dieser Gedichte – das Mottogedicht nicht mitrechnend – habe ich schon zitiert: „Ich bin so jung“. Das ganze Gedicht ist die versifizierte Antwort auf George, auf das ‚Jahr der Seele‘, den in ihm verkörperten Anspruch. Ich bin so jung. Ich möchte jedem Klange der mir vorüberrauscht, mich schauernd schenken, und willig in des Windes liebem Zwange, wie Windendes über dem Gartengange, will meine Sehnsucht ihre Ranken schwenken, Und jeder Rüstung bar will ich mich brüsten, solang ich fühle, wie die Brust sich breitet. Denn es ist Zeit, sich reisig auszurüsten, wenn aus der frühen Kühle dieser Küsten der Tag mich in die Binnenlande leitet.22
21
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Rilke an Curt Stoeving, 4. 12. 1898 und 7. 12. 1898. Die Briefe liegen in Abschrift im StGA. Verbleib der Originale unbekannt. Rilke, Sämtliche Werke (Anm. 9), Bd. 1, S. 147.
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Es folgen zwei weitere Gedichte, die mit jenem stark betonten „Ich“ einsetzen, nun gar mit dem „Ich will“, und beide antworten auf Georges „Komm“, das erste gar sich auf Georges Gartenmetaphorik direkt beziehend und formal imitierend „Ich will ein Garten sein […] will [ich] mit Worten wie mit Wipfeln rauschen […] will [ich] den Betäubten / mit meinem Schweigen in den Schlummer lauschen.“23 (Elfsilber mit Auftakt, Kreuzreim). Das zweite Gedicht wiederum „Ich will nicht langen nach dem lauten Leben / und keinen fragen nach dem fremden Tage: / Ich fühle, wie ich weiße Blüten trage, / die in der Kühle ihre Kelche heben“24 könnte auch im ‚Jahr der Seele‘ stehen: wieder ein Elfsilber, starke Assonanzen und Alliterationen, diesmal mit umarmendem Reim. Aber auch in der Abwehr des „lauten Leben[s]“ gleicht es dem George der ‚Seelen‘-Gedichte. Dann aber setzt es sich Georges Herbstmelancholie kühn und frühlingshaft entgegen: „Ich fühle, wie ich weiße Blüten trage“. Der Frühling ist, wie schon häufig bemerkt, in Georges ‚Seelenjahr‘ ausgespart. Ist es da noch verwunderlich, dass das dritte von „Meine[n] frühverliehnen / Lieder[n]“ handelt: Meine frühverliehnen Lieder oft in der Ruh überrankter Ruinen sang ich dem Abend sie zu.25
Letzte Bestätigung meiner These scheint mir das vierte Gedicht zu geben. „Bleichen Bildern“, „Dämmernischen“, „Schwüren“, „Weihrauchs-Wellen“ und „alabasterklaren Gestalten“ setzt es entgegen:26 Die armen Worte, die im Alltag darben, die unscheinbaren Worte, lieb ich so. Aus meinen Festen schenk ich ihnen Farben, da lächeln sie und werden langsam froh. Ihr Wesen, das sie bang in sich bezwangen, erneut sich deutlich, daß es jeder sieht; sie sind noch niemals im Gesang gegangen und schauernd schreiten sie in meinem Lied.27
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Ebd. Ebd. Ebd., S. 148. Rilke, ‚An Stefan George‘ (Anm. 7). Rilke, Sämtliche Werke (Anm. 9), Bd. 1, S. 148f.
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Stärker kann man sich nicht von George, jenem George, von dem er sich überwältigt sah, absetzen. Es entspricht dann Masons These von Rilkes gönnerhafter Großzügigkeit in späteren Jahren gegenüber George, wenn er die Verwandlung der „einfachen Worte“ als Aufgabe und Verpflichtung des Dichters gerade und vor allem bei Goethe und Stefan George verwirklicht sieht. Bekannt ist das folgende Bekenntnis Rilkes. Am 17. März 1922 konstatiert er in einem Brief an Margot Gräfin Sizzo-Noris Crouy von Muzot aus: Des Dichters Aufgabe steigere sich um die seltsame Verpflichtung, sein Wort von den Worten des bloßen Umgangs und der Verständigung gründlich, wesentlich zu unterscheiden. Kein Wort im Gedicht (ich meine hier jedes „und“ oder „der“, „die“, „das“) ist identisch mit dem gleichlautenden Gebrauchs- und Konversations-Worte; die reinere Gesetzmäßigkeit, das große Verhältnis, die Konstellation, die es im Vers oder in künstlerischer Prosa einnimmt, verändert es bis in den Kern seiner Natur, macht es nutzlos […].28
Ich hoffe, dass meine Argumentation, dass nicht zuletzt die zitierten Gedichte überzeugt haben. Für den Benutzer einer gewöhnlichen InselWerkausgabe wäre auch die zugespitzte These plausibel, dass diese ersten fünf Gedichte von ‚Mir zur Feier‘ unter anderem schon auf das Gespräch der beiden Dichter in den Boboli-Gärten antworten. Wir werden aber durch die kommentierte Rilke-Ausgabe eines anderen belehrt: keines der fünf Gedichte ist nach Anfang Mai 1898 entstanden.29 Zwar können die ersten vier auf die Lektüre des ‚Jahr der Seele‘, auf Lesung und kurzes Gespräch mit George reagiert haben, sie sind tatsächlich alle vier kurz nach dem 14. November 1897 – nach der Lesung im Hause Lepsius – entstanden,30 nicht aber jenes fünfte, das mir besonders wichtig war: 6. November 1897 lautet die Datierung. Nun, es gibt solche Vorwegnahmen. Zu erwähnen wäre vielleicht auch noch das Gedicht vom 7. 5. 1898 ‚Sie sagen alle: Du hast Zeit‘, darin vor allem die Verse 7ff:
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Rilke an Gräfin Margot Sizzo-Noris Crouy, 17. 3. 1922. In: Rilke, Briefe (Anm. 6), Bd. 3, S. 766–773. Rainer Maria Rilke: Werke. Kommentierte Ausgabe, Hg. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn, Frankfurt a. M. 1996. Die Herausgeber notieren im Anhang zu den Gedichten ein falsches Datum für die Lesung: 18. 11. 1897. Die Entstehungsdaten der Gedichte lauten: 28. 11., 31. 12., 28. 11., 25.11; vgl. Rilke, Werke, Kommentierte Ausgabe (Anm. 29), Bd. 1, S. 667.
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„Nichts fehlt mir, als ein wenig Raum, / ich bin in einem Bann, / und immer enger wird mein Traum.“31 Kaum Zweifel aber kann bestehen, dass Rilkes Florenzer Weissprüche,32 Ge- und Verbote, in jeweils kurze Textpassagen gefasst, sich auf seinen Kampf mit George und dessen Poetik beziehen lassen, allen voran die folgenden: Künstler sollen einander meiden […] zwei Einsame aber sind eine große Gefahr füreinander. (FT, S. 33) Es soll keiner tasten an des anderen Kunst. Denn nimmt er von einem Größeren, so verliert er sich; und neigt er zu der Art eines Engeren hin, so entweiht er sich und nimmt seinem Gemüt die Keuschheit; (FT, S. 33) Man ist überhaupt gegen ein Kunstwerk ungerecht, sobald man es mit anderen im Bunde beurteilen will. (FT, S. 47)
Es lassen sich aber auch verblüffende Übereinstimmungen mit Positionen Georges finden, und es wäre eine eigene detaillierte Untersuchung wert, die Merksprüche der ‚Blätter für die Kunst‘ aus den Jahren 1892 bis 1898 mit den Setzungen Rilkes zu vergleichen. Auch eine Sentenz wie „Das war immer so. Die Kunst geht von Einsamen zu Einsamen in hohem Bogen über das Volk hinweg“ (FT, S. 46) könnte in dieser Zeit in den ‚Blättern‘ zu finden gewesen sein. Später setzt George auf die Gemeinschaft des ‚Kreises‘, wirft z.B. Nietzsche vor, dass er sich nicht in Liebe einem „kreis“ verband.33 Aber auch die Verachtung des Dramas, der Bühne, des Angewiesenseins auf ein Publikum, der Berufskritik („Formalisten und ängstliche Pedanten“, FT, S. 45) finden sich dort. Divergenzen wiederum scheinen mir zu herrschen, wo es um das Wichtigste geht: um das Verhältnis von Künstler und Werk – Stichwort Selbsterlösung –, um Kunst und Leben, um „Verkündigung“ (FT, S. 58) und „Sendung“ (FT, S. 63). Dies können alles nur Andeutungen sein. Verblüfft hat mich schließlich, wie es Rilke letztlich ab Dezember 1898 gelingt, George in corpore zu „meiden“ und doch in Permanenz präsent zu halten und zwar bezeichnenderweise durch jene Verbindung von Mensch und Dichter, „so seltsam Eines“, die ihm Stoevings George-Porträt bietet. In diesem Kunstwerk findet für ihn seitens des Produzenten „Verschmelzung“ 31 32 33
Rilke, Sämtliche Werke (Anm. 9), Bd. 1, S. 189. Rilke, Florenzer Tagebuch (Anm. 15). Stefan George: ‚Nietzsche‘. In: GA, Bd. 6/7, S. 12.
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statt als „Erfüllung aus dunkler Sehnsucht und klarem Verstehen“. Der „ungestüme Willen meines Wunsches, dem ich nicht gebieten kann“, so Rilke an Stoeving, treibt ihn, den ihm unbekannten Künstler um das Porträt Georges zu bitten, denn „Stephan George’s Verse vollenden sich ja in ihm.“ Dieser zweidimensionale George, den man an die Wand hängen kann, ängstigt nicht, er schweigt und doch sprechen paradoxerweise die schweigenden Lippen: „Man muss das weise Schweigen dieser Lippen schauen, um die Rythmen ihrer Beredtsamkeit zu begreifen!“ Ein geradezu mystisches Erlebnis.34 Ein Nachspiel nur ist der letzte Briefaustausch zwischen den Dichtern. George hatte ohne weitere Veranlassung an die ihm bekannte Adresse Rilke „die anzeige von der ersten öffentlichen ausgabe meiner bücher und des Blätterbandes (sowie den lezten selbst) durch G. Bondi zugehen“ lassen, und sie hatten Rilke verfehlt, wie dieser am 7. April 1899 bedauert. Er sei „traurig über diese beiden Versäumnisse“, aber „eine dritte Gabe“ habe ihn „endlich doch gefunden: das liebe Gefühl, dass Sie sich meiner Ergebenheit noch erinnern.“ Diese Unterstellung weist George umgehend zurück, indem er Rilke nur als einen Teil der „ganze[n] geistige[n] jugend“ gelten lässt. Er anwortet: „indem ich annahm dass diese erscheinungen für unsre ganze geistige jugend ein ereignis bedeuten müssten.“ Welch ein Anspruch! Der 24-jährige Rilke befindet sich, wie er George in seinem hochdiplomatischen Schreiben mitteilt, auf Verlagssuche für „ein erstes, ernstes, feierliches Buch“, das er, wenn gedruckt, George voll Freude übersenden will. Dass er zur Erreichung dieses Ziels „in persönlicher Angelegenheit“ Georges Verleger Georg Bondi aufsuchen wollte, dürfte George ganz und gar nicht gefallen haben. Georg Bondi ist Verleger Georges und zunehmend der ‚Blätter‘-Dichter und Wissenschaftler aus dem Kreis, und Rilke gehört nicht dazu. Ausgesprochen wird das natürlich nicht, aber der Arrivierte erinnert den Anfänger an eben diesen Unterschied: „Ihr werk […] erwarte ich mit besonderer freude und wenn Sie vor dem druck einblick gewähren wollen so sage ich Ihnen gern was ich darüber denke“ im April 1899; vielleicht hängte Rilke das George-Porträt doch wieder ab.
34
Rilke an Curt Stoeving, 4. 12. 1898. Der Brief liegt in Abschrift im StGA. Verbleib des Originals unbekannt.
„Und gute Gespräche vereinten mich mit seinem Wesen“
Faksimile der Briefe III u. IV35
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Die Briefe befinden sich wiederum jeweils im StGA und im Rilke-Archiv.
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Den ‚Teppich des Lebens‘, erschienen Ende November 1899, soll Rilke besessen und geschätzt haben, vom ‚Siebenten Ring‘ (1907) aber soll er gesagt haben „er könne es nicht verstehen, offenbar sei es für die eingeweihten Mitglieder des Kreises geschrieben und verständlich.“36 Mason setzt voraus, dass es der ‚Maximinkult‘ gewesen sei, der Rilkes Ablehnung begründete, dies scheint ihm selbstverständliche Notwendigkeit. Sicher scheiden sich die Geister an dem ‚Maximin‘ überschriebenen mittleren Zyklus des Bandes, seinem vierten Ring. Häufig falsch aufgefasst, ist er ein Skandalon. Aber ich wage zu fragen, ob Rilke dieser more poetico erzeugte Gott, diese dichterische Verklärung des „beinah göttliche[n] Jüngling[s]“ so fremd war?37 1921 soll er das Gedenkbuch ‚Maximin‘38 in Muzot bei sich gehabt haben! Auffällig war mir ein erstaunlicher Passus am Ende des ‚Florenzer Tagebuchs‘, schon in Zoppot, „am Rande eines kühleren Meeres“ niedergeschrieben: Und jeder Gott ist die ganze Vergangenheit einer Welt, ihr letzter Sinn, ihr einheitlicher Ausdruck und zugleich die Möglichkeit eines neuen Lebens. Wie andere ferne Welten zu Göttern reifen werden – weiß ich nicht. Aber für uns ist die Kunst der Weg; denn unter uns sind die Künstler die Durstigen, die alles in sich trinken, die Unbescheidenen, die nirgends Hütten baun, und die Ewigen, die über die Dächer der Jahrhunderte reichen. Sie empfangen Stücke des Lebens und geben das Leben. Wenn sie einmal aber das Leben empfangen haben und die Welt in sich tragen mit allen Mächten und Möglichkeiten, werden sie etwas geben – darüber hinaus […] Ich fühle also: dass wir die Ahnen eines Gottes sind und mit unseren tiefsten Einsamkeiten durch die Jahrtausende vorwärts reichen bis zu seinem Beginn. Das fühle ich! (FT, S. 113f.)
Nein, Georges poetischer Gott Maximin war sicher nicht die Erfüllung von Rilkes Prophetie, aber Rilke könnte für diese ‚Verkündigung‘, den verzweifelten Versuch einer ‚Sinngebung‘ des älteren Dichters, Verständnis gehabt haben. Sie mögen mich des Beziehungswahns bezichtigen, aber schuld ist die Themenstellung dieser kleinen Studie. Am Ende stehe ein letzter wagemutiger Verdacht. In den ‚Blättern für die Kunst‘ erschien im Dezember 1895 ein Gedicht Georges, das einen Neubeginn ankündigte:
36
37 38
Jean Rudolf von Salis: Rilkes Schweizer Jahre, Frauenfeld – Leipzig 1936, S. 153. Rilke, Sämtliche Werke (Anm. 9), Bd. 2, S. 204. Stefan George: Maximin. Ein Gedenkbuch, Berlin 1907.
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Der Besuch Ich forschte bleichen eifers nach dem horte Nach strofen drinnen tiefste kümmerniss Und dinge rollten dumpf und ungewiss – Da trat ein nackter engel durch die pforte: Entgegen trug er dem versenkten sinn Der reichsten blumen last und nicht geringer Als mandelblüten waren seine finger Und rosen · rosen waren um sein kinn. Auf seinem haupte keine krone ragte Und seine stimme fast der meinen glich: Das schöne leben sendet mich an dich Als boten: während er dies lächelnd sagte Entfielen ihm die lilien und mimosen – Und als ich sie zu heben mich gebückt Da kniet auch ER · ich badete beglückt Mein ganzes antlitz in den frischen rosen.39
Es war das erste der Gedichte, die längere Zeit unter dem Gesamttitel ‚Zwiesprach mit dem Engel‘ firmierten.40 Im November 1897 präsentierte George weitere Gedichte dieses Zyklus in den ‚Blättern‘ unter der Überschrift: ‚Seit der Ankunft des Engels‘.41 Und Rainer Maria Rilke schrieb in den Tagen zwischen dem 6. und 8. Februar 1898 jene Engellieder, die ebenfalls in ‚Mir zur Feier‘ Aufnahme fanden. Ich lade zu dem Abenteuer ein, Rilkes erste zwei Engellieder im Gespräch mit Georges Engelgedichten zu lesen, so das folgende als Antwort auf das zuvor zitierte erste Engel-Gedicht Stefan Georges: Ich ließ meinen Engel lange nicht los, und er verarmte mir in den Armen und wurde klein, und ich wurde groß: und auf einmal war ich das Erbarmen, und er eine zitternde Bitte bloß.
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Blätter für die Kunst, III/1, Januar 1896 (erschien Dezember 1895), S. 8. Die Handschrift Stefan Georges kam erst nach dem Erscheinen des ‚Teppich des Lebens‘ als fünfter Band der ‚Sämtlichen Werke in 18 Bänden‘ (SW, 1984) als Geschenk in das StGA. Vgl. Blätter für die Kunst, IV/1.2, November 1897, S. 5.
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Ute Oelmann Da hab ich ihm seine Himmel gegeben,und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand; er lernte das Schweben, ich lernte das Leben, und wir haben langsam einander erkannt …42
Und ein letzter Versuch, Georges drittes Gedicht, unter Auslassung einer Strophe: In meinem leben rannen schlimme tage Und manche töne hallten rauh und schrill. Nun hält ein guter geist die rechte wage Nu tu ich alles was der engel will. […] Wenn mich aufs hohe meer geneigt ein neuer Gewittersturm umtost vom wahne links Vor tode rechts – so greift ER schnell das steuer Der kräfte toben harrt des einen winks: Gebietend schlichtet ER der wellen hader Die wolken weichen reiner bläue dort .. .. Bald zieht auf glatten wassern dein geschwader Zur stillen insel zum gelobten port.43
Rainer Maria Rilke antwortet darauf stolz und frei: Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht, kann er frei seine Flügel entfalten und die Stille der Sterne durchspalten,denn er muß meiner einsamen Nacht nicht mehr die ängstlichen Hände halten – seit mich mein Engel nicht mehr bewacht.44
Am 1. Dezember 1936 erschien in der Abendausgabe des ‚Berliner Tagblatts‘, Abteilung ‚Kunst und Unterhaltung‘, ein nicht gezeichneter, kursiv gesetzter Artikel, überschrieben ‚R. M. Rilke und Stefan George‘, in dem unter der Abbildung von je einer Gedichthandschrift der beiden Dichter auf die Identität ihrer Geburts- und Todesdaten hingewiesen wurde: der 4. Dezember, denn George starb an Rilkes Geburtstag. Auf diese geheimnisvollen Zusammenhang andeutende Feststellung folgt die Entgegensetzung: 42 43 44
Rilke, Sämtliche Werke (Anm. 9), Bd. 1, S. 156. Blätter für die Kunst, IV/1.2, November 1897, S. 8. Rilke, Sämtliche Werke (Anm. 9), Bd. 1, S. 156.
„Und gute Gespräche vereinten mich mit seinem Wesen“
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Zwei deutsche Dichter von sehr anders gearteter Ausprägung, vollendet jeder in sich, das Bild deutscher Dichtung vollendend der eine durch den anderen; Vorbild beide für die junge Generation, Mass und Erfüllung für jene, die in einem gesicherten Weltbild zu Hause sind.45
Wie sicher das Weltbild beider Dichter in ihren letzten Lebensjahren wirklich war, mag mit Recht infrage gestellt werden; verblüfft hat mich die darauf folgende Schriftanalyse auf der Basis der beiden abgebildeten Handschriften.46 Meine kurzen Ausführungen ergänzend, möge sie am Ende meiner Bemühung um die beiden Dichter stehen: Zwei Temperamente, die sich auch in der Schrift, dem Spiegel der Seele, niederschlagen. Die Schrift Georges, nach hundertfältiger Wandlung am Bild römischer Minuskel erzogen, trägt romanische, klassische Züge, wir denken an die Rohrfeder eines antiken Schreibers und spüren doch in jedem Zug, jeder Schwellung und im feinsten Strich die Empfindsamkeit alten Blutes, das aus einer ununterbrochenen Tradition seine Kräfte nimmt. Die Schrift Rilkes scheint andere Ursprünge zu haben. Wir erinnern uns an die Kanzleischriften des 18. Jahrhunderts, dessen aristokratischem Grundprinzip Rilke stets nahegestanden hat. Aber was sonst Schnörkel, einfältiger Zierat, zeitbedingtes Ornament war, wird in Rilkes Schrift abgeklärt, verfeinert und gekürzt. Romantisch, empfindsam ist der Duktus dieser Schrift, die bei aller Aufmerksamkeit für die kleinen Dinge nie kleinlich, immer rein und klar wirkt. Auch Rilkes Schrift hat erstaunliche Wandlungen durchgemacht, verhältnismässig spät hat sie ihre endgütige Form gefunden.47
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‚R. M. Rilke und Stefan George.‘ In: Berliner Tagblatt, 1. Dezember 1936, Abteilung ‚Kunst und Unterhaltung‘. Es handelt sich um die Handschrift von Rilkes erstem Gedicht des Stundenbuchs (1899) ‚Da neigt sich die Stunde und rührt mich an‘ und eine Teilhandschrift von Georges Gedicht ‚Nacht‘ aus dem ‚Siebenten Ring‘ (1907), das mit dem Vers beginnt „Horch! Eine stimme wird wach“. ‚R. M. Rilke und Stefan George.‘ (Anm. 45).
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Friedrich Gundolf und Arthur Schnitzler
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Friedrich Gundolf und Arthur Schnitzler. Ein Dialog über Dichter und Helden* Kreisexterne Verbindungen von Mitgliedern des George-Kreises sind immer noch nicht hinreichend erforscht. Ich möchte exemplarisch den relativ kurzen, aber intensiven Dialog Friedrich Gundolfs mit Arthur Schnitzler rekonstruieren und erläutern. Grundlage der Rekonstruktion sind die Tagebücher Schnitzlers, seine Briefe an Gundolf, sowie Gundolfs Briefe an Schnitzler. Außerdem werden die literaturtheoretischen Schriften beider Autoren berücksichtigt, die in ihrem Dialog zur Sprache kamen. Einleitend erläutere ich Schnitzlers Interesse und Anteilnahme an Stefan George und seinem Kreis sowie die mittelbaren persönlichen Verbindungen. 1. Zur Vorgeschichte 1. 1. Schnitzlers Haltung zu Stefan George Durch Hugo von Hofmannsthal kannte Schnitzler zwar die Gedichte Georges seit Beginn von dessen literarischer Tätigkeit1, hegte aber für * Besonderer Dank gilt meinem akademischen Betreuer Achim Aurnhammer, der mein Interesse an diesem Briefwechsel geweckt und durch viele Anregungen bereichert hat. Ebenso danke ich Dieter Martin für viele Hinweise zur Briefedition und für persönliche Ratschläge. Ferner zu Dank verpflichtet bin ich Marius Niemann, dem Kustos des Arthur-Schnitzler-Archivs an der Universität Freiburg, für seine Unterstützung, und Teresa Moser für ihr sorgfältiges Korrekturlesen. 1 Im Briefwechsel Schnitzlers mit Hofmannsthal kommt der Name Georges niemals vor, während der Briefwechsel George–Hofmannsthal den Namen Schnitzlers nur ein einziges Mal erwähnt. Am 24. August 1892, kurz vor dem Erscheinen der ersten Folge der ‚Blätter für die Kunst‘, schrieb Hofmannstahl an den Herausgeber Carl August Klein einen Brief und gab ihm die Anweisung, „wohin die Beiträge à discrétion zu richten sind.“ Unter vier genannten Adressaten findet sich auch der Name und die Adresse Arthur Schnitzlers. Stefan George / Hugo von Hoffmansthal: Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal. Hg. von Robert Boehringer. 2., erg. Aufl., München – Düsseldorf 1953, S. 37.
DOI 10.1515/george-2016/2017-0016
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sein Werk keine Sympathie. Im Tagebuch erwähnt Arthur Schnitzler den Namen Stefan George schon am 27. Dezember 1891: „N[ach]m[ittag]. Salten, Bahr, Loris, Bératon. Ueber den Symbolismus. Bahr und Loris sprachen, Loris las Gedichte Stephan [sic] George’s und eigne vor, die getheilten Eindruck hinterließen.“2 Die Gedichte, die an diesem Nachmittag vorgelesen wurden, sind wohl die ‚Pilgerfahrten‘, die im Dezember 1891 in Wien als Privatdruck erschienen waren. Der Tagebucheintrag bezeugt eine gewisse Reserve Schnitzlers gegenüber Georges Lyrik. Drei Monate später notiert er: „Loris las mir N[ach]m[ittags] den Tod des Tizian, Fragment vor. Tiefe und schöne Verse über Kunst. Eine Art Herrenmoral in der Kunst“ (Tgb 21. 03. 1892). Wie Schnitzlers Brief an Felix Salten vom gleichen Tag bekundet, handelte es sich um ein Manuskript, das Hofmannsthal „mit größter Eile […] als Fragment an die neue Henze’sche Zeitung, Berlin“3 vergeblich geschickt hatte. Auch wenn Schnitzler mit dem jungen Hofmannsthal eng befreundet war, teilte er, dem Tagebuch zufolge, nicht dessen Interesse an George. Als Schnitzler von Carl Gustav Vollmoeller (1878–1948) Gerüchte über George hörte (Tgb 02. 04. 1904 und 30. 10. 1907), bereitete ihm das Gespräch Unbehagen: Ab[en]d. Grethe, Erna; Vollmoeller. Der über politisch finanzielles, George, Hofmannsthal sehr klug. Höre mit Anstrengung; versinke in tiefe Verstimmung, werde wieder innerlich ganz unsicher, kenne mich in meinem Roman nicht mehr aus, werde durch die letzte Geringfügigkeit zweiflerisch und erregt. (Tgb 30. 10. 1907)
Wie wenig Sympathie Schnitzler für George hegte, bezeugt noch eine Notiz aus dem Jahr 1917: „Egon Wellesz spielt uns neue Lieder vor; etliche George’sche gingen mir nicht ein“ (Tgb 12. 07. 1917). 1. 2. Schnitzlers Interesse an Friedrich Gundolf Während er George gegenüber zeitlebens reserviert blieb, nahm Schnitzler an den Schriften Friedrich Gundolfs stärker Anteil. Dessen Name begegnet seit Anfang 1918 mehrfach im Tagebuch Schnitzlers. 2
3
Arthur Schnitzler: Tagebuch [in 4 Bänden]. Hg. von Werner Welzig u.a. Bd. 1: 1879–1892, Wien 1987. Zitate aus dem Tagebuch werden im Folgenden im Text mit der Sigle Tgb und der Datumsangabe in Klammern nachgewiesen. Arthur Schnitzler: Briefe 1875–1912. Hg. von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler. Frankfurt a. M. 1981, S. 123.
Friedrich Gundolf und Arthur Schnitzler
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„Las Gundolfs ‚Bild Georges‘ mit einer außerordentl. Charakteristik Hugos. […] Im selben Heft Wolfskehl über die ‚Blätter für die Kunst‘. Hier ist hohes Niveau – aber zugleich welche aesthetische Dogmatik und Einseitigkeit“ (Tgb 14. 01. 1918). Die beiden Abhandlungen standen im ersten Jahrgang des ‚Jahrbuchs für die geistige Bewegung‘ (Berlin 1910). Acht Jahre nach dem Erscheinen nahm Schnitzler wohl zum ersten Mal das ‚Jahrbuch‘, die Sammlung kulturkritischer Streitschriften des George-Kreises, in die Hand. Im gleichen Jahr las Schnitzler ein Buch von Gundolf: „Lese u. a. Gundolfs ‚Shakespeare und der deutsche Geist‘; außerordentliches Niveau“ (Tgb 07. 11. 1918), und nach zwei Jahren erneut ein weiteres Buch: „Begann gestern Gundolfs ‚George‘ zu lesen. Außerordentliches Niveau“ (Tgb 12. 12. 1920). Diese Wertschätzung charakterisiert Schnitzlers Gundolf-Lektüre. In den 20er Jahren kam es zu persönlichen Kontakten von Familienangehörigen Schnitzlers mit Friedrich Gundolf. Seine im Juni 1921 geschiedene Frau Olga, mit der Schnitzler in diesen Jahren noch immer eine krisenhafte Beziehung unterhielt, interessierte sich für Gundolf und den George-Kreis. „Nachm[ittag] mit O[lga] und Lucy im Parkhotel. – Reden über die großen Lyriker: Rilke, George, Hugo … Über ihn allerlei persönliches“ (Tgb 10. 05. 1921). Im August des nächsten Jahres: „Bei O[lga], die noch zu Bett – Alltags- Steuergespräche, Geldsachen. – Sie liest mir aus Gundolf (Dichter und Helden) vor“ (Tgb 02. 08. 1922). Olga intensivierte ihre Beziehungen zum George-Kreis, dessen Einfluss auf sie immer stärker wurde. „Brief von O[lga] aus Gremsmühlen; über Kantorowicz, den George Kreis. Was für ein außerordentliches geistiges Niveau dieser Brief wieder hatte!“ (Tgb 05. 10. 1922).4 Schließlich lernte sie Friedrich Gundolf persönlich kennen.
4
Wie stark fasziniert Olga von George war, bezeugt ihr Brief an Arthur Schnitzler aus Gremsmühlen am 3. Oktober 1922, dessen Kenntnis ich Max Haberich verdanke, der eine Ausgabe des Briefwechsels zwischen Arthur und Olga Schnitzler vorbereitet: „Was George wirkt, wirst Du dann allmälig sehen. Was er seinen Jüngern gibt, ist eine hohe, sehr umgrenzte, ethisch strenge Lehre, fast eine Religion. Er ist ein Führer, ein Beispiel im weitesten Sinn, der seinen Menschen Boden gibt, auf dem sie stehen können, – ein bewusster Gegensatz zu der problematisch russisch-östlichen Welt, die Europa zu überfluten und zu unterwühlen droht. (Zusammenhänge wurden mir klargelegt zwischen Gothik, Indien, Mathematik und Kapitalismus, allen gemeinsam das Grenzen- und Uferlose, das Ungriechische, Ungefasste.) Lern Hölderlin kennen, wir kennen
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Zuhaus ein Brief von O[lga]; sie war ein paar Tage mit Frau [Margarete] L[ichtenstein]5 in Heidelberg gewesen, hat u.a. Gundolf kennen gelernt, ist von ihm wie der ganzen Atmosphäre (Prof. Salz6 etc.) sehr entzückt. Hat zwei Zimmer genommen in Pens[ion] Jäger, hat ‚endlich ein Gefühl wirklichster Heimat unter diesen Menschen, die mir so a priori nahe sind, ohne Spur einer Angst vor Enttäuschung und möglicher Entfremdung‘ … ‚Tage unbeschreiblichen Glücks als diese Übereinstimmung namentlich zwischen Soscha und mir offenbar wurde‘ … Zu Weihnachten möchte sie die Kinder wohl gern in B[aden]-B[aden] haben; ‚ich möge nach meinem Ermessen beschließen‘. – – | Der Brief erfüllte mich fast ausschließlich mit Bitterkeit. (Tgb 12. 11. 1922)
Trotz der Bitterkeit begann Schnitzler mit der Lektüre von Gundolfs ‚Kleist‘, und nach einem Monat hat er „Gundolfs schönes Kleist Buch zu Ende gelesen“ (Tgb 11. 12. 1922 und 11. 01. 1923). Kurz darauf traf ein Brief von Olga ein: O[lga] schreibt sehr vergnügt und gefestigt aus B[aden]-B[aden]; sehr begeistert von Gundolf. – Es wäre mir gewiss peinvoll, wenns ihr schlecht ginge, und doch gönn ich ihrs irgendwo nicht ganz, daß sie’s so leicht hat (wie ich ihrs machen helfe). (Tgb 13. 12. 1922)
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ihn alle nicht, – dann hast Du den Weg zu George, seinem Staatsgedanken, seinem an Plato wurzelnden Geist, – und siehst, dass er in Wahrheit ein Seher ist, oft erschüttert wie’s mir neulich in einem grossen Gedicht: der Krieg, begegnet ist. Sein Christus ist: Dionysos, – dem Christus in der Sixtina ähnlich.| Ich könnte Dir Dinge von seinem Einfluss erzählen, der scheinbar bis ins Kleinste geht. Er ist ein Erzieher, seine Sphäre eine eminent männliche, fast zu dünn und scharf, als dass eine Frau drin atmen könnte, aber etwas unbedingt Grosses, vor dem man sich beugen muss.“ Verwahrt im Deutschen Literaturarchiv Marbach, A: Schnitzler, HS.NZ85.0001.04549. Margarete Lichtenstein (geb. Kantorowicz, 1888–1939) war die Schwester des Historikers Ernst Kantorowicz. Ihre Schwester Sophie war mit dem Nationalökonomen Arthur Salz verheiratet. Arthur Schnitzler: Tagebuch 1920–1922. Wien 1993, S. 442, und Eckhart Grünewald: Kantorowicz, Ernst Hartwig. In: Achim Aurnhammer / Wolfgang Braungart / Stefan Breuer / Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Bd. 3, Berlin – Boston 2012, S. 1471–1477, hier S. 1471. Arthur Salz (1881–1963) war seit seiner Jugend eng mit Friedrich Gundolf befreundet und gehörte bis zum Bruch Gundolfs mit George zum George-Kreis. Von 1910 bis 1912 wohnte er mit Gundolf in Heidelberg in der Pension Neuer. Johannes Fried / Korinna Schönhärl: Salz, Arthur. In: Aurnhammer / Braungart / Breuer / Oelmann, George und sein Kreis (Anm. 5). Bd. 3, S. 1609–1612, hier S. 1610.
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Im März 1923 begegnete Schnitzler nach langer Zeit Olga bei Alma Mahler: elegant, ganz gut aussehend; fremd und bekannt zugleich. Wir leisten ihr beim Essen Gesellschaft, auch zeitweise Alma und Werfel; sie hat uns Bücher, Chocolade gebracht, zeigt uns die Pläne ihres Häuschens, – erzählt von der Einrichtung, den Zubauten, zeigt uns auf dem Plan ‚unsre‘, meine und der Kinder Zimmer, spricht von Gundolf, dem Kreis um ihn; u. s. w. […] Das Gespräch leicht, humoristisch, sie ist zärtlich mit den Kindern; auch mit mir – soweit es meine Reservirtheit zulässt; – ich fahre mit den Kindern im Auto heim; Lili, die spürt, was in mir vorgeht, legt die Hand auf meine. (Tgb 21. 03. 1923)
Der Einfluss des George-Kreises auf Olga bereitete Schnitzler immer Verdruss, manchmal sogar psychische Beschwerden. Dies bezeugt ein Tagebucheintrag: Zu O[lga]. – Besprach materielles-finanzielles mit ihr; Steuersachen; meine prekäre Lage; – Sommerpläne und Schwierigkeiten (Heini kam dazu); sie gab sich Mühe einsichtig zu sein und war es in manchen Dingen. Dann, bei Alma, die bettlägerig; – von Dostojewsky, Strindberg, Freud aus, – ein Gespräch, in dem sich ihre Beeinflussung durch den George Kreis deutlich kundgab, – und sie, trotz mancher kluger Bemerkung, wieder den überheblichen Ton kriegte, – der mich krank machte. Bekam die Herzschmerzen, die ich seit O[lga]s Abwesenheit, in der Art und Intensität nicht wieder gehabt; – appetitlos beim Mittagmahl – und spürte wieder einmal – wie nöthig unsere Trennung war. | – Den Nachm[ittag] – nervös, im Zimmer hin und her – wie in jenen ‚verschollenen‘ Zeiten. (Tgb 23. 03. 1923)
Seine Tochter Lili hat den Einfluß des George-Kreises auf ihre Mutter ebenfalls mit Besorgnis registriert: Früh mit Lili zu O[lga]. Lili fand, O[lga] sei ungerecht gegen Wucki gewesen und erzählt mir O[lga]s Bemerkung, sie Lili habe sich seit dem Sommer verändert. ‚Ich hab mich schon während des Sommers verändert; aber auch die Mutter hat sich verändert …‘ Inwiefern –? ‚Sie ist in dem Gundolfkreis nationalistisch geworden.‘ (Tgb 30. 03. 1923)
In der Zeit der zunehmenden Bedrohung durch antisemitische „Hakenkreuzler“7 galt der George-Kreis unter Schnitzlers Freunden als nationalistisch. In dieser Überzeugung wurde Schnitzler durch das Gespräch mit Fritz von Unruh bestärkt: „der George Kreis ganz rechts eingestellt“ 7
Z. B. wurde die Vorlesung Schnitzlers in Teplitz „von Hakenkreuzlern gesprengt.“ Siehe dazu seinen Brief an Olga vom 4. Nov. 1922 in: Arthur Schnitzler: Briefe 1913–1931. Hg. von Peter Michael Braunwarth. Frankfurt a. M. 1984, S. 291ff.
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(Tgb 20. 03. 1924). Auch der Autoritarismus im George-Kreis war Schnitzler zuwider8: Dr. Wittek9, den Prof. Salz zur Aussprache über Erziehungsfragen O[lga] empfohlen. Kluger netter Mensch. Viel kam naturgemäß nicht heraus. Mich machte das Gespräch ziemlich ungeduldig; und O[lga] recht nervös – insbesondre als sie von George sprechend ihn, nach dem Rituale ‚den Meister‘ nannte. (Tgb 20. 09. 1924)
Zwei Tage später notiert er im Tagebuch: Früh erzählt mir O[lga], dass der neulich von Dr. Wittek empfohlene Hr. Dr. v. Steinen10 morgen Abend 6 kommen werde (es handelt sich um Unterricht, ev. Kurs für Lili) – und sie wolle zuerst allein mit ihm reden. Hieraus entwickelte sich fast eine ‚Scene‘, ich spürte wieder ihre Wichtigthuerei, Überheblichkeit, Beeinflußbarkeit (jetzt der Kreis des ‚Meisters‘) – und lehnte mich wieder gegen ihr ganzes Wesen auf. Beruhigend fiel mir ein, dass wir ja schon geschieden sind. (Tgb 22. 09. 1924)
Unter diesen Umständen und wegen der starken Abneigung Lilis gegen den George-Kreis wurde der geplante Unterricht nicht verwirklicht: „Dr. v. Steinen; – (Der Kurs kommt doch nicht zu Stande, Liesl P[ollaczek] kann nicht, St[einen] fährt April wieder Leipzig, – und Lili findet nebstbei auch (mit Liesl) dass ihnen das georgeanische wahrscheinlich nicht liege …“ (Tgb 27. 11. 1924).
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„On several occasions he expressed his pleasure at not having acquired disciples.“ Robert O. Weiss: Introduction. In: Arthur Schnitzler: The Mind in Words and Actions. Preliminary Remarks Concerning Two Diagrams, New York 1972, S. ix. Paul Wittek (1899–1978) studierte in Wien und wurde 1948 Professor für Turkologie an der Universität London. Er lobte George in seiner Rede: Der Dichter unserer Zeit. In: Oesterreichische Rundschau 19/1923, 8, S. 719–738, als „Schöpfer einer Gemeinschaft stiftenden Sprache, von der aus sich ein ‚heiliges Reich‘ vollenden werde.“ Zit. nach: Philipp Gresser: Deutschsprachige GeorgeKritik 1898–1945. In: Aurnhammer / Braungart / Breuer / Oelmann, George und sein Kreis (Anm. 5). Bd. 2, S. 976–1016, hier S. 997. Siehe auch Eckhart Grünewald: Historische Wissenschaften. In: Aurnhammer / Braungart / Breuer / Oelmann, George und sein Kreis (Anm. 5). Bd. 2, S. 1090–1098, besonders S. 1095. Wolfram von den Steinen (1892–1967) war Historiker und gehörte zum Kreis um Friedrich Wolters. Die von ihm herausgegebenen ‚Staatsbriefe Kaiser Friedrichs des Zweiten‘ erschienen in der Reihe ‚Werke der Schau und Forschung aus dem Kreise der Blätter für die Kunst‘ bei Ferdinand Hirt in Breslau 1923. Heiko Hartmann: Steinen, Wolfram von den. In: Aurnhammer / Braungart / Breuer / Oelmann, George und sein Kreis (Anm. 5). Bd. 3, S. 1685–1688.
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Mittlerweile hatte auch Schnitzlers Sohn Heinrich Gundolf persönlich kennen gelernt.11 Anders als im Falle Olgas freute sich Schnitzler über Heinrichs Bekanntschaft mit Gundolf. Im Brief an Olga vom 16. Juli 1924 war er „mit der Reise Heini’s nach Frankfurt u Heidelberg […] natürlich sehr einverstanden; er hat hoffentlich bei Goethe und bei Gundolf schöne Stunden erlebt.“12 Und drei Tage danach schrieb Schnitzler seinem Sohn folgende Zeilen: „Deine Karten aus Frankfurt und aus Heidelberg hab ich erhalten – es freut mich ganz besonders, d[a]ss dir Gundolf so viel Herzlichkeit erweist. Hoffentlich begegne ich ihm doch auch einmal persönlich – wäre dergleichen nur in vollkommener Anonymität möglich!“13 Schnitzlers Bedenken verminderten sich wohl, als Olga mit ihm „[ü]ber Gundolf und seine innere Abkehr von George“ sprach (Tgb 14. 08. 1924). Zu Weihnachten schenkte Heinrich seinem Vater Gundolfs ‚Caesar. Geschichte seines Ruhms‘ (Tgb 24. 12. 1924), und bald danach sprach Schnitzler mit Lili „über Borgias, Napoleon, Caesar; – (Gundolf und Brandes)“ (Tgb 11. 01. 1925). Inzwischen hatte er einen ganzen Nachmittag mit Hugo von Hofmannsthal verbracht und sich mit ihm „über George und Gundolf, sowie den Kreis“ unterhalten (Tgb 31. 12. 1924). In dieser Zeit lernte Schnitzler auch Herbert Steiner kennen und erfuhr von ihm vieles über dessen „früher[e] Beziehungen zu George und dessen Kreis; über Gundolf; – Beziehung Hugo – George“ (Tgb 18. 01. 1925). 11
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Das Friedrich-Gundolf-Archiv an der Universität London verwahrt drei Karten Heinrich Schnitzlers an Elisabeth und Friedrich Gundolf: [1.] Ansichtskarte mit dem Reiterdenkmal des Bartolomeo Colleoni auf dem Campo Santi Giovanni e Paolo in Venedig: [rechts] „Germania | Herrn Professor | Friedrich Gundolf | Heidelberg | Schloßberg 56/ bei Lobstein. [links] Venedig, 21. Juli 1925 | Viele herzliche Grüße von Ihrem | verehrungsvoll ergebenen | Heinrich Schnitzler.“ Mit dem Bild des Colleoni bekundete Heinrich insofern seine Vertrautheit mit den Schriften um George, als er auf das Gedicht von Saladin Schmitt anspielt: Dichterbildnis mit Colleoni. In: Blätter für die Kunst, XI./XII. Folge, Berlin 1919, S. 225. – [2.] Ansichtskarte an Friedrich Gundolf mit dem s/w Bild des Idolino im Museo Archaeologico in Florenz vom 12. 07. 1927, handschriftlich mit Bleistift beschrieben: „[rechts] Germania | Sig. Prof. Friedrich Gundolf. | Schloßberg 56 | Heidelberg. [links] Florenz, 12. Juli 1927. | Die herzlichsten Grüße von Ihrem verehrungsvoll ergebenen | Heinrich Schnitzler.“ Die Skulptur des nackten Jünglings entspricht dem Jugend-Kult des George-Kreises. – [3.] Heiratsanzeige: [gedruckt, ohne Signatur] „RUTH ALBU | HEINRICH SCHNITZLER | VERMÄHLTE. || BERLIN, OKTOBER 1930.“ Schnitzler, Briefe 1913–1931 (Anm. 7), S. 351. Ebd., S. 353.
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Die Gelegenheit einer ‚anonymen‘ Begegnung mit Gundolf ergab sich für Schnitzler am 17. September 1925 beim Aufenthalt in Venedig. Café Florian. – Plötzlich – Alma vorüber, sitzt eine Weile mit uns. – Uns ganz nahe Gundolf (den ich zum ersten Mal sehe), O[lga] begrüßt ihn und seine Geliebte Frl. S[alomon]. (wegen deren er angeblich bei George in Ungnade gefallen). (Tgb 17. 09. 1925)
Nach drei Tagen besuchte Gundolf Schnitzler im Hotel Grand Canal Monaco. 20/9 S[onntag]. V[or]m[ittag] im Hotel kam Gundolf, den ich bei dieser Gelegenheit kennen lerne. Schreibt ein Shakespeare-Buch. – Seine buchhändl. Erwerbungen hier. Unmöglichkeit des Arbeitens, der Sammlung in Venedig – Er war ein wenig befangen; gefiel mir besonders gut (obwohl der Weg zwischen uns nicht ganz leicht gangbar; – und wir wären doch sehr geschaffen (gewesen?) einander zu verstehen). (Tgb 20. 09. 1925)
Am selben Tag verließ Schnitzler Venedig.14 Welch große Sympathie für Gundolf diese erste Begegnung in Schnitzler hinterließ, bezeugt die gemeinschaftlich geschriebene Ansichtskarte vom 5. August 1926 aus dem schweizerischen Adelboden. Neben dem Text von Paul Lips15 an Gundolf („zu meiner frohen Überraschung fand ich in den Schweizer Bergen freudigen Wiederhall [sic] Heidelbergs. Sie waren die Sonne unseres Regentags“) steht geschrieben: „Verbindlichste Grüße! Arthur Schnitzler“.
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Am diesem Tag schrieb Gundolf an Christiane von Hofmannsthal (1902–1987), der ältesten Tochter des Dichters, die er ebenfalls während desselben Aufenthaltes in Venedig kennen lernte, einen Brief: „[…] Heute früh hab ich Schnitzler kennen lernen [sic], damit auch Wien nicht ausstirbt in meinem Venedig!“ Im Gegensatz zu Schnitzler, der nur „in vollkommener Anonymität“ die Bekanntschaft mit Gundolf für möglich hielt, scheute sich Gundolf nicht davor, dass Hofmannsthal durch Christiane bald von Gundolfs Begegnung mit Schnitzler erfahren könnte. Die Kenntnis dieses Briefes, den das Friedrich-Gundolf-Archiv an der Universität London verwahrt, verdanke ich Simon Reiser. Paul Lips (1891–1960) war Schweizer Philosoph in Heidelberg, der 1921 mit dem ‚Gesetz der Form in Wissenschaft und Kunst‘ in Heidelberg promovierte. „Lips [hat] in Deutschland häufig mit Angehörigen des George-Kreises verkehrt, insbesondere mit jenen, die wie etwa der Journalist Theodor Haubach später wegen ihrer Beteiligung am Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 hingerichtet worden sind.“ Georg Kreis: Juli 1940. Die Aktion Trump. Mit einem Nachwort von Herbert Lüthy. 2. Aufl., Basel 1973, S. 9ff.
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2. Zwei Schriften über Dichter und Helden, Wort und Tat Wegen dieser ebenso ängstlich erwarteten wie glücklich verlaufenen Bekanntschaft ließ Schnitzler dem Literaturhistoriker seine Anfang 1927 bei S. Fischer in Berlin erschienene charakterologische Schrift ‚Der Geist im Wort und der Geist in der Tat: Vorläufige Bemerkungen zu zwei Diagrammen‘ schicken.16 Im Verfasser der ‚Dichter und Helden‘ und des ‚Caesars‘ durfte Schnitzler einen verständnisvollen Leser erhoffen. Umso mehr muss Gundolfs Dankesbrief Schnitzler befremdet haben, der „eher ablehnend, aber mit merkwürdig unrichtigen Einwendungen“ war (Tgb 05. 02. 1927). Schon am 7. Februar diktierte Schnitzler einen Antwortbrief an Gundolf, der am 12. Februar beendet und abgeschickt wurde.17 Dies ist der Auftakt zu dem kritischen Gespräch zwischen Schnitzler und Gundolf. Zunächst sei Schnitzlers Schrift ‚Der Geist im Wort und der Geist in der Tat‘ inhaltlich skizziert, um sie anschließend mit ihrem Referenztext, Gundolfs ‚Dichter und Helden‘ (1921), zu vergleichen. 2. 1. Schnitzler: ‚Der Geist im Wort und der Geist in der Tat‘ (1927) Die essayistische Charakterologie Schnitzlers liefert eine Erläuterung zweier Diagramme, mit denen Schnitzler die Dispositionen der geistigen Menschen schematisch darzustellen versuchte. Die geistigen Menschen werden mit deren Medien ‚Wort‘ und ‚Tat‘ in zwei Gruppen unterteilt. Jedes Diagramm besteht aus zwei einander gegenüberstehenden Dreiecken mit der gleichen Grenzlinie. (Abb. 1) Im Diagramm für den ‚Geist im Wort‘ steigt die linke Seite des oberen Dreiecks auf vom ‚Priester‘ über den ‚Staatsmann‘, die rechte vom ‚Philosophen‘ über den ‚Historiker‘ (‚Kontinualist‘, ‚Geschichtschreiber‘) zum ‚Dichter‘. Im unteren Dreieck verläuft die linke Seite vom ‚Pfaffen‘ abwärts über den ‚Politiker‘, die rechte vom ‚Sophisten‘ über 16
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Als Textvorlage wird hier benutzt: Arthur Schnitzler: Der Geist im Wort und der Geist in der Tat. Vorläufige Bemerkungen zu zwei Diagrammen. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Robert O. Weiss. Bd. 5: Aphorismen und Betrachtungen, Frankfurt a. M. 1967, S. 135–166. Die eingeklammerten Seitenzahlen im Text mit der Sigle GiW beziehen sich auf diese Ausgabe. Schnitzlers Brief an Gundolf wurde schon veröffentlicht mit dem Titel: Entwurf eines Briefes an Professor Friedrich Gundolf in Heidelberg. In: Schnitzler, Geist im Wort (Anm. 16), S. 359–362. Aus diesem Brief wird im Folgenden mit der Sigle AS/FG zitiert, die komplette Transkription findet sich im Anhang.
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den ‚Journalisten‘ (‚Aktualist‘, ‚Tagschreiber‘) zum ‚Literaten‘. Von der oberen Spitze führt eine Linie vom ‚Dichter‘ zum ‚Propheten‘ und eine punktierte (imaginäre) Linie weiter zu ‚Gott‘, während von der unteren Spitze eine Linie vom ‚Literaten‘ zum ‚Tückebold‘ (‚Bösewicht‘) und – punktiert – weiter zum ‚Teufel‘ führt. Im Diagramm für den ‚Geist in der Tat‘ steigt die linke Seite des oberen Dreiecks auf vom ‚Seefahrer‘ (‚Entdecker‘) über den ‚Feldherrn‘ (‚Führer‘, ‚Organisator‘), die rechte vom ‚Brückenbauer‘ (‚Mathematiker‘) über den ‚Naturforscher‘ (‚Heilkünstler‘) zum ‚Helden‘. Im unteren Dreieck läuft die linke Seite vom ‚Abenteurer‘ abwärts über den ‚Diktator‘ (‚Tyrann‘), die rechte vom ‚Spekulanten‘ über den ‚Quacksalber‘ (‚Alchimist‘) zum ‚Schwindler‘ (‚Hochstapler‘). Von der oberen Spitze führt wie beim Diagramm für den ‚Geist im Wort‘ eine Linie vom ‚Helden‘ zum ‚Propheten‘ und weiter – punktiert – zu ‚Gott‘, während von der unteren eine vom ‚Schwindler‘ zum ‚Tückebold‘ und weiter – punktiert – zum ‚Teufel‘ führt. Mit diesen Bezeichnungen hat Schnitzler weder die Berufsarten noch die Begabungen gemeint, sondern die Geistesverfassungen, um Urtypen der geistigen Menschen zu kategorisieren. Die oberen Dreiecke bedeuten „das positive, ins Göttliche, d[ie] untere[n] das negative, ins Teuflische gerichtete Gebiet des menschlichen Geistes“ (GiW, S. 137). Nach Schnitzler bestehen zwischen den spiegelsymmetrischen Typen des oberen und des unteren Dreiecks gewisse Analogien. Sie scheinen sich nur durch ihre Vorzeichen von plus und minus voneinander zu unterscheiden. Allerdings hielt Schnitzler die Grenzlinie zwischen den oberen und unteren Dreiecken für ideell unüberschreitbar, und betrachtete jede Geistesverfassung als „angeboren, einheitlich und unveränderlich“ (GiW, S. 138). Er räumte zwar ein, dass „die Repräsentanten des positiven Typus“ für das Wirken „manche Ausdrucks- und Lebensformen der entsprechenden negativen Gegentypen sich aneignen“, aber das geschehe nur als eine ideelle Verstellung (GiW, S. 139). Die Repräsentanten des negativen Typus können sich zwar als positive Gegentypen gerieren, doch sah Schnitzler darin eine bloße Täuschung. Denn er schloss aus, dass ein Typ zum anderen Typ im gleichen Dreieck übergehe. Veränderbar seien nur Seelenzustände wie Charakteranlagen und Stimmungen (GiW, S. 155ff.). Schnitzler konstruiert seine Charakterologie als binäre Systematik. Sie ist statisch, symmetrisch ausgewogen und ideell. Dass er es in seiner
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Erläuterung vermeidet, reale Personen als Beispiele anzuführen, begründet Schnitzler damit, dass kein Individuum den Typus rein darzustellen vermöge. Darin zeigt sich der idealtypische (rein theoretische und logische) Charakter seiner Klassifizierung. Sie ist ethisch konzipiert, weil die Teilung von oben (positiv) und unten (negativ) hauptsächlich auf ethischen Maßstäben wie Verantwortung vs. Leichtigkeit, Wahrheit vs. Lüge, Dämonie vs. Satanie, Altruismus vs. Egoismus und Opferwilligkeit vs. Herzensträgheit beruht (GiW, S. 143f.). Da es zwischen den beiden Diagrammen des Wortes und der Tat eine „gesetzmäßige Beziehung“ (GiW, S. 163) gibt, bestehen zwischen den Geistestypen, die sich an den analogen Punkten des einen und des anderen Diagramms befinden, auch gewisse Analogien. Schnitzler gesteht folglich zu, dass „Held und Dichter (…) einander in der Atmosphäre des Geistes nahe [sind] (ein Dichter ohne geistigen Mut ist so wenig denkbar als ein Held ohne physischen Mut)“ (GiW, S. 165). Aber er erklärt nicht, ob ein Geistestyp von einem Diagramm zum anderen übergehen oder sogar zugleich im ‚Wort‘ wie in der ‚Tat‘ wirken kann.
Abb. 1
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2. 2. Gundolf: ‚Dichter und Helden‘ (1911) Unter Gundolfs Veröffentlichungen stellt wohl ‚Dichter und Helden‘ den Referenztext zu Schnitzlers Essay dar. Schon die Gegenüberstellung der ‚Dichter‘ und ‚Helden‘, der beiden Geistestypen auf den oberen Spitzen der beiden Diagramme Schnitzlers, zeigt die Parallelität beider Schriften an. Schnitzler hat Gundolfs Essay nachweislich gekannt, wie sein Tagebuch vom 2. August 1922 bezeugt. Das erste Kapitel von Gundolfs Essay war bereits 1911 erschienen.18 Unter dem Titel ‚Vorbilder‘ leitet es den dritten Jahrgang des ‚Jahrbuchs für die geistige Bewegung‘ ein. Die ursprüngliche Konzeption für das ‚Jahrbuch‘ zeigt sich noch in der polemischen Argumentation. Der Essay ‚Dichter und Helden‘ war ein Manifest der ‚geistigen Bewegung‘ und eine Weiterentwicklung der Kultur- und Wissenschaftskritik, die Gundolf schon 1911 in seinem Aufsatz ‚Wesen und Beziehungen‘ im zweiten Jahrgang des ‚Jahrbuchs‘ geübt hatte. Über die Intention des Essays verriet Gundolf: [E]s [ist] die Pflicht jeder lebendigen Bewegung, in ihre Gegenwart hinein die Heroen wachzuhalten, sie umzusetzen in eigenes Dasein und die Strahlung die sie von ihnen empfangen in neues Gebild zu verwandeln. Sie übt dabei selber – sie kann nicht anders – Wahl und Gestaltung und schafft die Vorbilder nach ihrem Wesen, aus ihren Nöten und für ihr Werk. (DuH, S. 24)
Gundolf ging es nicht um Typen oder Ideen, sondern nur um den großen, ganzheitlichen Menschen, denn Ideen, Gesetze, Pflichten, selbst Gottheit an sich, frei schwebend, gibt es nicht: nur in Menschen sind sie wirklich, in Menschen welche sie schaffen und in Menschen welche sie empfangen und tragen. Der große Mensch ist die höchste Form unter der wir das Göttliche erleben: alle größten Gedanken sind nur in Menschen, durch Menschen, aus Menschen. Die geistige und geschichtliche Welt existiert nicht und nirgends außerhalb wirklicher Menschen. (DuH, S. 25)
18
Nachdem er den Essay um ein zweites Kapitel über die ‚Helden‘ ergänzt hatte, veröffentlichte Gundolf ‚Dichter und Helden‘ 1921 als selbständige Publikation bei der Weiss’schen Universitätsbuchhandlung in Heidelberg zusammen mit zwei weiteren Studien (‚Hölderlins Archipelagus‘ und ‚Stefan George in unsrer Zeit‘). Aus diesem Essay wird im Folgenden mit der Sigle DuH und Seitenzahlen in Klammern zitiert.
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Gundolf nannte auch verschiedene Typen der Menschen, aber mit der Warnung vor denjenigen, die den wahren Heroen vortäuschen: Diese Heroenverehrung, die ästhetische oder romantische, ist immer in Gefahr mit originellen Surrogaten vorliebzunehmen, den zackigen Sonderling dem strengen Forderer, den mysteriösen Gaukler dem religiösen Genius, den Politiker dem Täter, den Literaten dem Dichter, den Abenteurer dem Helden, den Plauderer dem Sager, den Riecher dem Seher, den Vorsteller dem Darsteller, das Glänzende dem Kräftigen, das Merkwürdige dem Großen vorzuziehen. (DuH, S. 26)
Die Entsprechung zu den Geistestypen in Schnitzlers Diagrammen ist nicht zu verkennen. Doch Gundolf interessierte sich nicht dafür, die Menschen zu klassifizieren. In kritischer Distanz zu jeder Typologie lehnte er wissenschaftliche Abstraktionen als relativistische Wahllosigkeit ab, die alles als gleichwertig betrachtet. Er griff die Tendenz der Wissenschaft an, die keinen Unterschied zwischen ‚Totem‘ und ‚Lebendigem‘ mache, und alles „erkennen und benutzen und […] bequem ordnen“ (DuH, S. 23) wolle. Für Gundolf gehören große Menschen nicht der Vergangenheit an, sondern „sie wollen wirken, d.h. sie müssen verwandeln, und indem sie uns umbilden, die Empfänger ihrer Strahlen und Samen, bilden sie sich selber um, ‚gestaltend umgestaltet‘“ (DuH, S. 25). Eine dynamische Wechselwirkung zwischen den Heroen und den Verehrern (Biographen/Lesern) wird erwartet. Gundolf nannte die drei Dichter Dante, Shakespeare und Goethe als Vorbilder, indem er konstatierte, dass sie in ihren unterschiedlichen Epochen jeweils eine spezifische Art von ‚Gesamtmenschtum‘ verwirklicht hätten. In der diachronen Betrachtung unterscheidet sich der Literaturhistoriker von der synchronen Charakteristik Schnitzlers. So habe Dante „das Gesamtmenschliche aus den Zeitlichkeiten des Mittelalters in seiner unsterblichen Sprache verewigt“ (DuH, S. 33). Auch die Kraft und Herrschaft des Dichters betont Gundolf: In Dantes Dichtung sei „die Herrschaft des Menschen über ein Außermenschliches, sei es inneres oder äußeres ‚System‘, gewährleistet“ (DuH, S. 34f.). Diese Herrschaft sei so gewaltig gewesen, dass er „bis in die äußersten Wölbungen des unerschütterlich gemessenen Kosmos […] seine Menschenkraft geleitet“ habe, und dass „nun die Allordnung selbst sich regt nach dem rhythmischen Puls seines großen Herzens, und selbst Gott ist Träger und Zeichen dieser gesamtmenschlichen Leidenschaft“ (DuH, S. 35). Es ging Gundolf um die Binnenunterschiede unter den ‚großen Dich-
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tern‘: „Wie Dante die Synthese zwischen göttlichem Kosmos und menschlichem Ich, so vollzog Shakespeare die zwischen der Sachenwelt und der menschlichen Persönlichkeit“ (DuH, S. 38). Und Goethe leistete eine neue, dreifache Synthese, denn in seiner Zeit „war das Gesamtmenschtum auseinandergebrochen: in Geist, in Wissenschaft, in chaotische Wirklichkeit. Diese Synthese vollzog Goethe, der einzige Gesamtmensch und der erste Gestalter der Deutschen“ (DuH, S. 42). So fasst Gundolf das erste Kapitel mit dem Hinweis auf ihre Gemeinsamkeiten als ‚gestaltende Gestalt‘ zusammen: Wie Dante das Gesetz Gottes, Shakespeare die unmittelbare Wirklichkeit, so hat Goethe die vermittelte Wirklichkeit im Menschen geformt: drei Befreier dadurch daß sie Gestalter waren. Was bloß Stoff war haben sie begeistet, was bloß Geist war haben sie beleibt. Dem immer neuen Chaos Leben haben sie Gestalt verliehen und aus der Gestaltung neue Lebenskräfte strahlen lassen, ihr unsterbliches Wesen einverleibend dem unablässigen Wandel und inmitten unablässiger Teilungen wirkend als die unverlierbar Ganzen. (DuH, S. 44)
Gundolf sah zwischen Dichtern und Helden aber auch Gemeinsamkeiten: Nur der Weg, nicht der Wille ist bei Seher und Täter verschieden. Beide leben […] um die Welt im Ganzen zu verwandeln […]: durch Umwandlung der menschlichen Dingeschau oder Umwälzung der menschlichen Ordnungen .. von innen nach außen durch das neue Wort, von außen nach innen durch die neue Tat. Tat und Wort sind nur die Mittel worin die neue Gestalt sich ausdrückt […]. (DuH, S. 47)
Das vermittelte Tatganze wird verkörpert durch Alexander, Caesar und Napoleon. Sie waren für Gundolf mythisch unsterbliche Gestalten, die drei ‚kosmischen‘ Helden schlechthin: ‚Kosmisch‘ sind uns alle diejenigen im Menschen beschloßnen Lebenskräfte vermöge deren er fähig ist ein gesetzliches Weltganzes darzustellen oder auszudrücken, Sinnbild zu sein der weltschaffenden Kraft die den Allstoff (Chaos) gestaltet zu einem menschlichen Kosmos. So ehren wir Dante Shakespeare Goethe als die kosmischen Dichter. (DuH, S. 51f.)
Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Helden werden auch historisch erklärt. Während Alexander die Jugend als eine kosmische Urform des Gesamtmenschen verewigte, war Caesar das kosmische Urbild des Kaisertums. Weil in der Antike der Gedanke des ‚Welt‘reichs gemäß war und Erde und Mensch, Makro- und Mikrokosmos konzentrische Sphären waren, konnten die beiden sich zum wirkenden Mittel-
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punkt der Welt machen und die Welt mit sich füllen. Mit dem Untergang des römischen Reichs aber verfiel die kosmische Einheit zwischen Menschtum und Kaisertum. Mit Beginn der Renaissance wurde die Welt zu grenzenlos, um noch von einem einzigen Menschen beherrscht zu werden. Vom Weltbild der Renaissance her wurde die Reichspolitik obsolet. Keine der großen Persönlichkeiten wie Heinrich IV. oder Richelieu durften sich mehr als Zentrum der Welt fühlen. Erst Napoleon hat wieder einen staatlichen Weltwillen im Innern und die unbedingte Kraft ihn herauszustellen. […] Napoleon ist gar kein modernes Genie, sondern wieder ein in antiker Weise kosmischer Mensch, für den jene Trennungen [von Person und Sache, Mensch und Welt; Anm. H. M.] so unmöglich waren wie für Alexander und Caesar. (DuH, S. 57)
Am Ende seines Essays stellt Gundolf Dichter und Helden nebeneinander und proklamiert ihre komplementäre Bedeutung für die Moderne: „Das kosmische Bild haben Shakespeare und Goethe der Gegenwart gesichert .. die kosmische Tat, gerade so nötig für das Menschtum, verbürgt nur Napoleon“ (DuH, S. 58). Dass die moderne Welt einen kosmischen Held zeitigen konnte, ist der Beweis dafür, „daß die kosmischen Kräfte nicht tot sind und immer neuer Welt- und Heldwerdung harren“ (ebd.). Damit spielt Gundolf auf George als Nachfolger dieser Dichter und Helden an. Nicht zufällig folgt auf den Essay ‚Dichter und Helden‘ im Buch der Essay ‚Stefan George in unsrer Zeit‘. 3. Der Dialog zwischen Gundolf und Schnitzler 3. 1. Gundolfs Reaktion auf Schnitzlers Essay Das Arthur-Schnitzler-Archiv der Universität Freiburg verwahrt entstehungs- und wirkungsgeschichtliche Dokumente zu dem Essay ‚Der Geist im Wort und der Geist in der Tat‘.19 Davon enthalten die Dokumente Nr. 64–168 Briefe an Arthur Schnitzler, die sich auf den Essay beziehen. Unter den 33 Briefen sind die von Jonas Fränkel und von Joseph Körner, die vom 29. Januar 1927 datieren, die frühesten. Friedrich Gundolfs Brief vom 30. Januar war der dritte, und diese schnelle Antwort bezeugt, wie rasch Gundolf auf den Essay Schnitzlers reagierte.
19
Arthur Schnitzler: Posthumous Papers, Section A, File 52, Folder 14, Konvolut FII (150), Folder 14.
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Schon im zweiten Satz nach der anfänglichen Danksagung reklamiert Gundolf das in diesem Essay behandelte Gebiet als sein vertrautes Forschungsgebiet. Einerseits äußert er seine Freude, dass Schnitzler „mit solcher Kennerschaft und Denkkraft weite wirre Strecken [ihm] ordnet, bestimmt und vereinfacht“; andererseits äußert er sein „Unbehagen“ über die Abstraktheit des Essays, „die Fülle und Vielfalt der konkreten geschichtlichen Gesichte so abgezogen und vergewaltigt zu fühlen“. Er zweifelt, ob sich mit einem Schema Gestalten und Ereignisse überhaupt in Gesetzesformeln fassen lassen, und vermisst konkrete Beispiele, weil ihm „Umrisse erst nötig und wirklich [würden,] wenn [er] zugleich die Anschauungsmassen mit wahrnehmen [könnte], denen sie gelten.“ Den Untertitel „vorläufige Bemerkungen“ interpretierte Gundolf als das Versprechen, dass Schnitzler die Umrisse später mit seiner „reichen Lebenskunde und Zeigekraft“ ergänzen wolle, weswegen er sich bis dahin der entschiedenen Stellungnahme enthalte. Trotz des Vorbehalts konnte Gundolf aber seine Kritik nicht zurückhalten: nach seiner Auffassung des ‚Gesamtmenschen‘ könne ein Held zugleich ein großer Politiker, ein Feldherr, oder auch ein Diktator sein. Diese verschiedenen Aspekte desselben Wesens schlössen einander nicht aus. Als Beleg führt Gundolf die drei Namen an, die er in seinem Essay ‚Dichter und Helden‘ behandelt hatte: Held, Feldherr, Staatsmann, Führer, Dictator, Tyrann, ob als Geistesverfassungen, Talente, Techniken oder Berufe verstanden, sind in der Geschichte meist untrennbar. Alexander, Caesar, Napoleon, also gerade die sinnfälligsten und sinnbildlichsten umspannen die sämtlichen Zustände und erscheinen nur von Fall zu Fall unter dem oder jenem Aspekt, der nicht ihren Typus bestimmt, sondern den Standpunkt des Betrachters kennzeichnet.
Mit dieser Argumentation stellt Gundolf das Grundkonzept von Schnitzlers Charakterologie in Frage, die mit der Anordnung der ‚Geistesverfassungen‘ die Geistesmenschen klassifiziert. In seiner Polemik entlarvt Gundolf auch die Problematik der Wertungsinstanz bei Schnitzlers Charakterologie: Wer entscheidet über die Zugehörigkeit zum positiven oder zum negativen Typus, und nach welchem Kriterium? Wenn diese Bezeichnung vom Standpunkt des Betrachters abhänge, habe die ‚Geistesverfassung‘ nur einen relativen und provisorischen Stellenwert, der immer schwankend bleibe. Am Ende des Briefes wünscht sich Gundolf, „mündlich diese anregenden Gedankengänge und Blickfelder mit [Schnitzler] weiter [zu]
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verfolgen.“ Er schließt den Brief mit Dank, Hochachtung und „dankbarer Erinnerung“. Bei aller Kritik erinnert sich Gundolf auch an die erste und freundliche Begegnung mit Schnitzler in Venedig. 3. 2. Schnitzlers Antwort (12. Februar 1927) Schnitzler reagierte unverzüglich auf Gundolfs Brief und verteidigte seine Ansichten. Zwar kann er sich „vorerst mit der neutralen Anerkennung befriedigen“, die ihm Gundolf gezollt hatte. Doch dann korrigiert Schnitzler dessen Annahme, dass der Untertitel: ‚vorläufige Bemerkungen‘ eine spätere Ergänzung oder empirische Vervollständigung verspreche. Der Untertitel sollte zwar die Resultate in ihrer Vorläufigkeit relativieren, ohne aber zu intendieren, die Gedanken wären eine unverbindliche, temporäre Hypothese. Vielmehr seien sie Ergebnisse vieljähriger und langsam entwickelter Überlegungen, und insbesondere „das endgültige (vorläufig endgültige?) Schema des ersten Diagramms (Der Geist im Wort)“ habe er „nur ganz allmählich in seiner jetzigen Form entwickelt“ (AS/FG, S. 360). Aber das zweite Diagramm sei – ganz anders als das erste – entstanden, als ob es sich selbst entwickelt hätte. Es lag nahe, daß im Bereiche der Tat ein ähnliches Schema – nicht etwa sich konstruieren ließe sondern gleichfalls bereits vorgebildet vorhanden sein müßte. Typen schwebten mir vor, ohne daß sie sich zunächst ordnen wollten, bis eines Tages dieses zweite Diagramm plötzlich fertig vor mir stand. (Ebd.)
Schnitzler fügt hinzu, dass ihm die Diagramme wie eine Offenbarung apriorischer Ordnung schienen, als er sie nebeneinander gestellt hatte. Er versuchte Gundolf mit Hinweis auf seine vieljährigen Erwägungen über das erste Diagramm und das Apriori des zweiten Diagramms von der Ernsthaftigkeit und Wahrscheinlichkeit seiner Schemata zu überzeugen. Gundolfs Bedenken, er habe durch seine „Methode die Fülle und Vielfalt der konkreten geschichtlichen – und gegenwärtigen – Gesichte abgezogen und vergewaltigt“, wies er zurück mit dem Argument, dass er es absichtlich vermieden habe, Beispiele aus der Geschichte oder Gegenwart anzuführen.20 Es sei nicht seine Absicht, in seinem Schema „Individuen unterzubringen, das wundervolle Chaos des Le20
Schon im Essay bemerkte Schnitzler, dass er absichtlich darauf verzichtet, Beispiele anzuführen, „da kein Individuum den Typus rein darzustellen vermag“ (GiW, S. 145f.).
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bens in Ordnung umzufälschen“ (ebd.). Damit unterstrich Schnitzler die Idealtypik seines Konzeptes.21 Den Einwand Gundolfs, ihm scheine „die Gleich- oder Gegensetzung von verschiedenen Stufen oder Mitteln oder Aspekten desselben Wesens bedenklich“, versucht Schnitzler insofern zu widerlegen, als er die Grenze zwischen dem oberen und unteren Dreieck für logisch unüberbrückbar erklärt. Schnitzler räumt zwar ein, dass zwischen den Geistestypen, die in beiden Diagrammen in analogen Punkten stehen, wie z.B. zwischen Staatsmann und Feldherrn, Affinitäten bestehen könnten. Seine Beispiele übernimmt er allerdings aus Gundolfs ‚Dichter und Helden‘: Alexander, Caesar und Napoleon. Doch verwehrt sich Schnitzler dagegen, einen Geistestyp mit einem anderen gleichzusetzen, wenn die beiden in den oberen und unteren Dreiecken in analogen Punkten stehen, wie der ‚Feldherr (Führer)‘ und ‚der Diktator (Tyrann)‘. Auch wenn Schnitzler konzediert, ein positiver Typ könne sich bisweilen wegen strategischer Notwendigkeit ebenso verhalten wie der ihm entsprechende negative Typus, betont Schnitzler in seinem Brief, dass beide Typen sich trotz solcher temporärer Ähnlichkeit grundsätzlich unterscheiden. Wenn aber ein und dasselbe Individuum bald als Feldherr, bald als Diktator […] erscheint, also scheinbar bald als Repräsentant eines positiven, bald als Repräsentant eines negativen Typus, so wird eben einer jener Aspekte notwendig falsch sein, denn diese einander gegenübergestellten Typen bedeuten zugleich die vollkommensten Gegensätze. Wahrheit und Lüge, Dämonie und Satanie, Mensch und Un-Mensch stehen einander hier gegenüber. Hier gibt es keine Übergänge, nicht die Möglichkeit verschiedener Aspekte, nur die von Irrtümern […]. (AS/FG, S. 361f.)
Schnitzler gestand jedoch zugleich ein, dass sich solche Irrtümer, besonders bei Erscheinungen der Gegenwart, schwer vermeiden ließen, und verweist, trotz seiner Zurückhaltung vor den konkreten Beispielen, namentlich auf Mussolini. „Ob ein Mann wie Mussolini Politiker oder 21
Im Nachlass Schnitzlers findet sich auch eine Rechtfertigung der schematischen Darstellung: „Warum Schemas an sich verwerfen? / Ein Schema ist nicht Leben, aber es ist Wirklichkeit. / Auch das Skelett ist nicht Leben, aber es ist Wirklichkeit. / Wäre niemals ein menschlicher Leib zu Staub zerfallen, so wüßten wir nichts vom Skelett, könnten aber aus der Form, aus den Bewegungen auf das Skelett schließen. / Ein Schema von Typen wird sichtbar, indem das blühende Leben von ihm abfällt. Das ist kein Einwand gegen die Wirklichkeit des Schemas.“ In: Schnitzler, Gesammelte Werke (Anm. 16), Bd. 5, S. 356.
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Staatsmann, Diktator oder Führer ist, wird heute kaum noch jemand entscheiden können. Aber daß er entweder nur das eine oder nur das andere ist, das steht für mich über allem Zweifel fest.“ (AS/FG, S. 362) In solch einer Nebenbemerkung kann man trotz gegensätzlicher Intentionen die Sympathie Schnitzlers für Gundolf spüren. Den Einwand Gundolfs, dieser oder jener Aspekt bestimme nicht ihren Typus, sondern kennzeichne den Standpunkt des Betrachters, akzeptierte Schnitzler nebenbei, als er schrieb: Man wird nicht nur manchmal schwanken, ob man jemanden als Repräsentanten des Typus Staatsmann oder des Typus Feldherr, ob als Politiker oder als Diktator auffassen sollte, ja in ganz exzeptionellen Fällen wird man vielleicht sogar geneigt sein, eine Art von zusammengesetzter, aber doch wieder in höherem Sinn einheitlicher Geistesverfassung anzunehmen […]. Jedenfalls sei es zugegeben, daß es hier vielleicht vor allem auf den Standpunkt des Betrachters ankommt. (AS/FG, S. 361)
Er machte sich nicht die Mühe, dieses Problem näher zu erörtern.22 Wie Gundolf beendet auch Schnitzler seinen Brief mit dem Wunsch nach einem persönlichen Gespräch. 3. 3. Letzte Begegnung in Wien und die Folgen Die erwünschte Unterredung fand anderthalb Monate später statt, am 23. März 1927. Das Ehepaar Gundolf besuchte Schnitzler in dessen Haus in Wien: Ab[en]ds z[u] N[acht]. Gundolf und Frau; sowie O[lga]. (seltsam, auch nach 6 Jahren sie immer als ‚Gast‘ zu notiren) – Mit G[undolf] übers Diagramm; – er gibt meiner Erwiderung an ihn wohl im ganzen recht. – Bücher (die Medardus Wien 1809 Sammlung u.a.) – Über Tolstoi – meine Auffassung seines zwanghaften hysterischen Komödiantentums; – Komödiantentum Napoleons. – Über Vollmoeller, den ‚Abenteurer‘; Borchardt, den ‚Lügner‘. – Von Mitterwurzer, Burckhard. Es war animirt, wir verstanden einander vortrefflich in Humor und Ernst, und ich fasste große Sympathie für ihn. – (Tgb 23. 03. 1927) 22
Im Nachlass zu den Diagrammen findet sich aber ein aufschlussreiches Fragment: „Nochmal sei es wiederholt: nicht ich bin es, der wertete, zum mindesten innerhalb dieses Diagramms. Nur die Sprache wertet, der Sprachgebrauch, unsere anerzogene Art zu werten, schon indem wir bezeichnen.“ In: Schnitzler, Gesammelte Werke (Anm. 16), Bd. 5, S. 353. Es ging Schnitzler darum, die Beziehungen der Wörter für die Geistestypen herauszufinden und sie schematisch anzuordnen. Es lag ihm nichts daran, eine oder andere Person mit einem Typus zu identifizieren.
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Dieser Abend war eine Nachlese ihres Dialogs und zugleich auch ihre letzte Begegnung. Der kurzen Auseinandersetzung folgte eine wechselseitige Verständigung sowie distanzierter Respekt. Das bezeugt die Ansichtskarte Gundolfs an Schnitzler mit dem Bild des Minerva-Tempels aus dem Schlossgarten Schwetzingen vom 20. April 1927. Die Göttin des Handwerks, der Weisheit und der schönen Künste kann als Zeichen der Hochschätzung für Künstler und Weise interpretiert werden. Schnitzler erhielt die Ansichtskarte am 28. April aus Wien nachgesandt in Venedig und schrieb daraufhin eine Ansichtskarte an Gundolf. Die Erkrankung Gundolfs erlaubte es jedoch nicht, die Diskussion ihrer Werke fortzusetzen. Seit Sommer 1927 litt Gundolf an dem für ihn tödlichen Magenkrebs. Schnitzlers Aphorismen ‚Buch der Sprüche und Bedenken‘ (1927) erhielt Gundolf erst nach einer schweren Operation und war nicht in der Lage, sie zu lesen. Den Dankesbrief diktierte er Elisabeth und konnte ihn lediglich unterschreiben. Als Erwiderung schenkte Gundolf Schnitzler, der einst über Paracelsus einen Einakter geschrieben hatte (1899), sein neues Buch ‚Paracelsus‘ (1927), mit der Bemerkung „In einigen Tagen soll meine kleine Schrift über Paracelsus nachfolgen, die den doppelten Kenner nicht ohne Zagen und Hoffen als Leser erwartet“ (Gundolf an Schnitzler, am 28. 12. 1927). Schnitzler las das Buch sofort, aber hinterließ keine Bemerkungen23 darüber (Tgb 04. 01. 1928). Den letzten Brief an Schnitzler vom 8. Mai 1928, der wieder ein Dankesbrief für ein Buch Schnitzlers war, hat Gundolf eigenhändig geschrieben. Nach der Lektüre des ‚Paracelsus‘ erwähnte Schnitzler im Tagebuch nur noch zweimal den Namen Gundolfs in Bezug auf den Germanisten Herbert Cysarz, den Gundolf „über sich“ gestellt haben soll (Tgb 03. 11. 1927). Schnitzler verglich beide Wissenschaftler, als er Cysarzs ‚Schiller bis Nietzsche‘ las: das Niveau außerordentlich, man bewundert die Kenntnisse, die Erfassung der Zusammenhänge in den verschiedensten Tiefen, – die Prägnanz des Stils, die
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Laut Lothar Helbing und Claus Victor Bock befand sich im Friedrich-GundolfArchiv ein Brief von Schnitzler an Gundolf aus Wien 1928, im Anschluss an Gundolfs ‚Paracelsus‘. Darin soll geschrieben stehen: „Ich wünschte sehr Ihnen bald wieder zu begegnen.“ Zitiert nach: Lothar Helbig / Claus Victor Bock (Hg.): Stefan George. Dokumente seiner Wirkung. Aus dem Friedrich Gundolf Archiv der Universität London. Amsterdam 1974, S. 243. Diesen Brief konnte ich bei meinen Recherchen leider nicht verifizieren.
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Concentrirung, die Weite des Gedächtnisses; – und hat man eine Freude davon? Es bleibt ein Spiel des Geistes in allzu dünner Atmosphäre: und nur der Humor (der nur zu oft Wortwitz wird) – bringt menschliches hinein. Gundolf hat mehr Seele, mehr Herzensantheil; Athempausen, in denen er mit dem Leser sterblich ist. (Tgb 14. 04. 1929)
Schnitzler schätzte Gundolf weiterhin unverändert hoch. Am 12. Juli 1931 starb Gundolf in Heidelberg;24 etwa drei Monate später starb auch Schnitzler in Wien.25
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Fünf Tage nach seinem Tod schrieb Olga an Arthur Schnitzler einen Brief, der sich fast wie ein Nachruf auf Friedrich Gundolf liest: „Berlin, 17. Juli 31. | Das für mich wichtigste Ereignis erfuhr ich Montag, den 13. – der Gundolf ist tot, – und Du wirst vielleicht ahnen, in welche wirkliche Trauer mich das versetzt. Er ist einer der wichtigsten Menschen meines Lebens gewesen, – ich habe ihn sehr verehrt und geliebt. Was steigt nicht alles auf an Erinnerung an seine wunderhaft reiche Gegenwart, – von der ersten Begegnung in Heidelberg angefangen bis zu den Tagen in Venedig, die ihn mir noch dazu mit dem geliebten Kind verbinden. Wie viel hoher Schwung, Ernst, Heiterkeit, wunderbare Güte und Menschlichkeit ging von ihm aus, wie reich bis an die Grenzen des Ausdruckbaren hat dieser Mensch die Welt empfunden und gespiegelt, welch ein Maass hat er für Geistiges aufgestellt, wie unerbittlich und lebens-schmerzensnah zugleich. Ich müsste alles aufschreiben, – so viele schöne unvergessliche Worte und Situationen, – Gelöstheit im Kreis der Freunde, höchste, übermenschliche Gespanntheit als er den ‚Caesar‘ schrieb, – von dem er einmal ein Bruchstück in meinem Badener Haus vorlas, – ein Gespräch über österreichisches Wesen, nach einer Vorlesung über Grillparzer, das er mit unbestechlichem Blick geschildert, – Spaziergänge, – einmal ein Wort spät nachts an unserer Tür in Venedig: ‚nicht was einem Menschen geschieht, – sondern was er von der Welt appercipiert, ist sein Schicksal‘, – ein aufgerissenes Gespräch allein mit ihm über George, an dem er tief litt und den er doch über alles bejahte, ‚es gibt nur ihn,‘ – und doch ist mein Herz an seiner, des scheinbar unterlegenen Seite, – die letzte Begegnung in Wien, in die Dich einzubeziehen ich glücklich war, – vorbei, alles vorbei, – und doch hohes unverlierbares Gut, dass ich ihm begegnen durfte und ich so viel Richtung und Maass und Bestätigung innerster Wert-Ahnung von ihm empfing, lang eh ich ihn kannte.“ Die Kenntnis dieses Briefes, der hier erstmals veröffentlicht wird, verdanke ich Max Haberich (vgl. Anm. 4). Verwahrt im Deutschen Literaturarchiv Marbach, A: Schnitzler, HS.NZ85.0001.04558. Am 2. Dezember 1931 schickte Olga Schnitzler eine Trauerkarte an Elisabeth Gundolf. Oberkante links gedruckt geschrieben: „FRAU OLGA SCHNITZLER“, und dann handschriftlich mit der Tinte: „dankt Ihnen wärmstens liebe Frau Professor, für Ihre guten Worte der Teilnahme und grüsst Sie herzlichst. Berlin, 2. Dez. 31“. Die Trauerkarte verwahrt das Friedrich-Gundolf-Archiv an der Universität London.
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4. Hintergründe von Gundolfs und Schnitzlers IV. Dichter- und Helden-Auffassungen 4. 1. ‚Schaffende Kraft‘ und ‚Ordnende Kraft‘ Warum veränderte sich Gundolfs kämpferischer Ton des Briefs zur versöhnlichen Haltung bei der Begegnung in Wien? Um den Wandel seiner Reaktion auf Schnitzler zu verstehen, ist ein kurzer Einblick in das Schema des geistigen Menschen im George-Kreis aufschlussreich. Im ersten Jahrgang des ‚Jahrbuchs für die geistige Bewegung‘ hatte Friedrich Wolters, der mit Friedrich Gundolf gemeinsam das ‚Jahrbuch‘ herausgab, „das geistige Ich des menschen in seine beiden wesentlichen kräfte: in die Schaffende Kraft und die Ordnende Kraft“ geschieden.26 Als Mitherausgeber teilte Gundolf diese Auffassung und hielt seine wissenschaftliche Arbeit für einen Ausdruck der ‚Schaffenden Kraft‘.27 Dieses Schema liegt der Wissenschaftskritik zugrunde, die er in seinem Es26
27
Friedrich Wolters: Richtlinien. In: Friedrich Gundolf / Friedrich Wolters (Hg.): Jahrbuch für die geistige Bewegung, Bd. 1, Berlin 1910, S. 128. Nach Wolters hat ‚die Schaffende Kraft‘, die eine seelische Welt erzeugt, drei Betätigungsarten: Handeln, Gestalten und Schauen. Das Mittel des Handelns ist die Tat, und der Handelnde greift als Held, Heros oder Eroberer durch die unmittelbare Tat ein Bestehendes an. Das Mittel des Gestaltens ist das Werk, und der Gestaltende schafft als Künstler ein Kunstwerk, das ein inneres Gesicht mit einem Stoffmittel vereinigt. Das Mittel des Schauens ist die Verkündung, und der Schauende formt als Verkünder, Priester oder Opfer die ganze Seelische Welt nach seinem Leben. Andererseits hat ‚die Ordnende Kraft‘ auch drei Betätigungsarten: Forschen, Anwenden und Wissen. Das Mittel des Forschens ist die Methode, und der Forschende scheidet das Zuständliche aus den Weltbewegungen ab und gliedert die Ergebnisse seiner Forschung in das Netz der Begriffe ein. Das Mittel des Anwendens ist die Technik, und der Anwendende gebraucht die bekannten Beziehungen, um eine Wirkung zu erzielen, die einen Nutzzweck erfüllen soll. Das Mittel des Wissens ist das System, und der Wissende sucht die vollkommen logische Einheit der Welt und das System, eine im ganzen All bedingte Ordnung. Wolters beurteilte zwar ‚die Ordnende Kraft‘ nicht immer negativ, und räumte ein, „wenn die Schaffende und die Ordnende die beiden wesentlichen kräfte des menschen sind, so bedingen sie einander im sinne der ewigen wechselbewegung“, aber er unterstrich, dass „das leben nicht aus der ordnung, sondern aus der schöpfung [kommt]“. (Ebd., S. 132.) Gundolf schloss sich Wolters’ Schema an und erklärte damit die Wissenschaftslehre des George-Kreises. Siehe dazu Gundolfs Brief an Friedrich von der Leyen vom 8. Juli 1911. In: Gundolf-Briefe. Neue Folge. Hg. von Lothar Helbing und Claus Victor Bock. Amsterdam 1965, S. 88ff.
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say ‚Wesen und Beziehungen‘ im zweiten Jahrgang des ‚Jahrbuchs‘ entwickelte. Darin kritisierte er die Tendenz des Relativismus und Positivismus: Wer eine sache nicht als wesen erfasst kann sie durch beziehungen niemals ausdrücken. […] Im mittelpunkt jedes lebendigen steht ein einmaliges: wer diesen mittelpunkt nicht erlebt wird durch alle konzentrische schichtung von aussen nach innen niemals etwas wesentliches davon erfahren oder deuten.28
Im Gegensatz zu Gundolf ging es Schnitzler gerade um die Beziehungen der Geistesverfassungen, und nicht um reale Personen. Indem Schnitzler in seinem Brief auf die logische Unmöglichkeit der Übergänge von Typen der oberen und unteren Dreiecke hinwies, und dazu seine Geistestypen als „eine in der Idee vorgebildete Ordnung“ bezeichnete, bedeutete er wohl Gundolf, es handle sich hier nur um die ‚beziehungen‘ und folglich um die ‚Ordnende Kraft‘. Wenn Gundolf die Arbeit Schnitzlers für ein Ergebnis der genuin ‚Ordnenden Kraft‘ hielt, verlor sie ihre Relevanz für Gundolf. Da im Jahre 1927 Gundolf längst nicht mehr den George-Kreis repräsentierte, musste er sich auch nicht mehr von Schnitzler konfrontativ abgrenzen. Es kam allerdings nur zu einem einzigen freundlichen Gespräch mit dem renommierten Schriftsteller. 4. 2. Die Diagramme und der Sephirothbaum Es ist verwunderlich, dass Schnitzler in seinem Antwortbrief an Gundolf, in dem er eigentlich mit logischen Argumenten seine Ansichten verteidigen sollte, das Apriori der Diagramme betont. Zudem verrät er ihm seine Offenbarungserfahrung. Wollte Schnitzler damit vor Gundolf sein Schema mystifizieren? Im Konvolut vom ‚Geist im Wort und Geist in der Tat‘ im ArthurSchnitzler-Archiv befinden sich zwei mit Bleistift beschriebene Blätter.29 (Abb. 2) Es handelt sich um den Versuch einer graphischen Darstellung des ‚Sephirothbaumes‘ aus der sogenannten theoretischen Kabbala, […] mit den zehn göttlichen Emanationen Krone, Weisheit, Einsicht, Gnade, Gesetz oder Gerechtigkeit, Ruhm, Ewigkeit, Glanz, Grundlage, Königtum oder Herrschertum. […] In der Zeichnung erscheinen die Emanationen als Kreise, mit den entsprechenden Namen verse28
29
Friedrich Gundolf: Wesen und Beziehungen. In: Gundolf / Wolters, Jahrbuch für die geistige Bewegung (Anm. 26), Bd. 2, Berlin 1911, S. 26. Arthur-Schnitzler-Archiv: FF Q II, 2, Bl. 16 und 17.
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hen, die symmetrisch um den Mittelpunkt angeordnet und mit ihm, sowie miteinander, durch Doppellinien verbunden sind.30
Nicht nur der Umstand, dass diese zwei Blätter im Konvolut ‚Geist im Wort und Geist in der Tat‘ zuammengeheftet sind, sondern auch die Ähnlichkeiten der symmetrischen graphischen Darstellung der göttlichen Emanationen sowie der zwei Diagramme, lassen eine Affinität von Schnitzlers Typologie des menschlichen Geistes und der göttlichen Emanationen vermuten. Schnitzler hatte wohl die Idee einer göttlichen Ordnung empfunden, als er die zwei Diagramme vor sich hatte, und an Übereinstimmungen mit den Emanationen des Gottes gedacht. Zwar geht er auf dieses Thema in dem Essay nicht ein, doch könnte dies die Formulierung ‚vorläufige Bemerkungen‘ im Untertitel erklären.31 5. Fazit Vermutlich fühlte sich Gundolf angefochten, als er Schnitzlers Essay las. Der Essay beschäftigte sich mit einem Thema, das Gundolf für sein exklusives Thema hielt: Dichter und Held, Geist, Wort und Tat. Diese Begriffe waren Schlüsselwörter der ‚geistigen Bewegung‘, für die Gundolf als Wortführer gekämpft hatte. Knapp ein Jahr vor dem Erscheinen von Schnitzlers Essay hatte Gundolf endlich sein seit der Jugend verfolgtes Thema mit dem Buch ‚Caesar im 19. Jahrhundert‘ vollendet. In seiner 30
31
Robert O. Weiss: Nachwort zu Arthur Schnitzler. In: Schnitzler, Gesammelte Werke (Anm. 16), Bd. 5, S. 505. Robert O. Weiss hat in seinem Nachwort darauf nicht hingewiesen, aber auf diesen Blättern stehen Notizen mit Bleistift geschrieben: auf dem ersten Blatt: „(Der Sohar: u[nd] seine Lehre / Einleit[ung] in die Kabbal[a] / Ernst Müller)“; auf dem zweiten: „Der Sohar u[nd] seine Lehre, / Einleit[ung] in Kabbal[a], / Ernst Müller, / Avril[sic!] 1923.“ Es hat sich herausgestellt, dass das erste Blatt ein Auszug aus dem Buch Ernst Müllers (Der Sohar und seine Lehre. Einleitung in die Gedankenwelt der Kabbalah, Wien – Berlin 1920, S. 14–18.) mit Varianten von Schnitzlers Hand ist. Das zweite Blatt entspricht der schematischen Zeichnung des ‚Sefirothbaums‘ auf der Seite 61 des Buches, die Schnitzler mit den verschiedenen Bezeichungen des Gottes ergänzt hat. Ernst Müller (1880–1954) war Bibliothekar in der Bibliothek der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, Übersetzer und Schriftsteller von Texten zur jüdischen Mystik. Siehe dazu: Lexikon deutsch-jüdischer Autoren. Hg. von Archiv Bibliographia Judaica. Bd. 17: Meid – Phil, Berlin 2009, S. 207ff. Offenbar bestehen viele Parallelen und Ähnlichkeiten zwischen Schnitzlers Essay und Müllers Buch, die aber im Rahmen dieser Abhandlung leider nicht erörtert werden können.
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hektischen Reaktion auf den Essay lassen sich seine ängstlichen Bedenken ablesen, der ‚Wiener Psychologe‘ würde mit ihm auf seinem Terrain konkurrieren. Schnitzler seinerseits las Gundolfs Werke immer mit Begeisterung und schätzte ihn ‚außerordentlich‘ hoch. Trotzdem findet sich keine Spur einer Anlehnung an Gundolf. Schnitzlers Notizen für die Diagramme im Nachlass datieren bis auf 1915 zurück, also sechs Jahre vor Erscheinen von Gundolfs ‚Dichter und Helden‘. Schnitzler hat das Konzept für seinen Essay langsam und unabhängig von dem Essay Gundolfs entwickelt, zudem unterscheiden sich ihre Intentionen und Methoden. Freilich finden sich Übereinstimmungen und Überschneidungen zwischen ihnen: Während Gundolf für die Affinität vom Dichter und Helden eintrat, stellte Schnitzler den Dichter und den Helden auf die Spitzen seiner beiden Diagramme, um ihre Analogie zu zeigen. Nach Ansicht beider würden sich Dichter über ihr Prophetentum mit Gott verbinden können. Für Gundolf ging es aber vorrangig darum, Dichter wie Helden als ‚Gestalten‘, als Verkörperungen des Göttlichen, den Lesern als Vorbilder näherzubringen. Für ihn waren ihre Gemeinsamkeiten als große Menschen und Herrscher bedeutender als die Unterschiede ihres Mediums, Wort oder Tat.32 Dagegen war es für Schnitzler wichtig, Gundolf davon zu überzeugen, dass seine Diagramme kein flüchtiger Einfall, sondern Ergebnis langjähriger und ernsthafter Überlegungen waren. Ihm ging es darum, die Ordnung der Begriffe über die Urtypen des menschlichen Geistes zu abstrahieren. Um seine Charakterologie zu verteidigen, berief er sich auf seine Offenbarungserfahrung, die das Apriori der Ordnung andeutet, und wies Gundolfs Verdacht zurück, mit der Schematisierung den chaotischen Reichtum des Lebens in Ordnung umgefälscht zu haben. Während Schnitzler Gundolf im Punkt der Problematik der Wertungsinstanz nachgab, beharrte er doch auf dem unüberbrückbaren Gegensatz des positiven und negativen Typus. Für Gundolf dürfte es nicht schwierig gewesen sein, die Argumente Schnitzlers zu bejahen und zu akzeptieren, nachdem ihm klar wurde, 32
In seiner Caesar-Biographie erläuterte Gundolf schon im ersten Kapitel die Schriften von Caesar und verglich ihre Wirkungsform mit dem Stil des Dichters. Siehe dazu: Friedrich Gundolf: Caesar. Geschichte seines Ruhms, Berlin 1924, S. 9.
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dass der Essay Schnitzlers ganz andere Ziele verfolgte, als sein Manifest für das ‚Jahrbuch für die geistige Bewegung‘. Ihre Diskussion über den ‚Geist im Wort und den Geist in der Tat‘ muss freundlich verlaufen sein, wohl mit dem Vorbehalt, nicht über den ‚Dichter‘ oder gar den ‚Meister‘ zu sprechen. Die Auseinandersetzung zwischen Schnitzler und Gundolf scheint wie die kurze Begegnung zweier sich auf unterschiedlichen Umlaufbahnen bewegender Planeten. Der erstaunliche Dialog zeigt, in welch scharfem Gegensatz die beiden thematisch affinen Schriften, Arthur Schnitzlers ‚Der Geist im Wort und der Geist in der Tat‘ und Friedrich Gundolfs ‚Dichter und Helden‘, stehen und einander doch kontrastiv erhellen.
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Anhang 1: Briefe von Friedrich Gundolf an Arthur Schnitzler 1. Heidelberg, 31. 01. 1927.33 1 Blatt, doppelseitig, eigenhändig beschrieben, kein Umschlag, teils mit der Tinte (wohl von Gundolf), und teils mit dem Bleistift (wohl von Schnitzler, hier mit der gepunkteten Linie) unterstrichen [1r] Oberkante links des Blattes mit dem Bleistift eine Notiz: „Gundolf/Diagramm“ Heidelberg, 31. 1. 1927 Sehr verehrter Herr: Haben Sie vielen Dank für die freundliche Übermittelung Ihrer Schrift: Der Geist im Wort und der Geist in der Tat. Sie ist eine Übersichtskarte des Gebiets das ich oft durchwandert und bewegt mich auf zwei verschiedne Arten: sie freut mich, weil sie mit solcher Kennerschaft und Denkkraft weite wirre Strecken mir ordnet, bestimmt und vereinfacht, daneben aber bleibt das Unbehagen die Fülle und Vielfalt der konkreten geschichtlichen Gesichte so abgezogen und vergewaltigt zu fühlen. Die Gefahr jedes solchen Schemas ist empfindlicher, wenn es Gestalten und Ereignisse, als wenn es Kräfte und Dinge in Gesetzesformeln fassen will, und mir werden Umrisse erst nötig und wirklich wenn ich zugleich die Anschauungsmassen mit wahrnehmen kann, denen sie gelten. Ich nehme Ihren Untertitel „vorläufige Bemerkungen“ als das Versprechen, dass Sie diese Umrisse einmal ausfüllen mit Ihrer reichen Lebenskunde und Zeigekraft, die sich in der Theorie wohl erholen, doch nicht befriedigen. Erst dann könnte ich statt der neutralen Anerkennung der dialektischen Arbeit auch das entschiedene Ja oder nein zum substantiellen Ergebnis wagen. [1v] Im III. Abschnitt scheint mir schon jetzt bedenklich die Gleich- oder Gegensetzung von verschiedenen Stufen oder Mitteln oder Aspekten desselben Wesens .. (falls hier nicht nur Terminologie uns trennt.) Held, Feldherr, Staatsmann, Führer, Dictator, Tyrann, ob als Geistesverfassungen, Talente, Techniken oder Berufe verstanden, sind in der Geschichte meist untrennbar, Alexander, Caesar, Napoleon, also gerade die sinnfälligsten und sinnbildlichsten umspannen die sämtlichen Zustände und erscheinen nur 33
Dieser Brief wird in vier verschiedenen Fassungen überliefert. Die hier edierte Fassung 1 ist handschriftlich (FF Q III, Bl. 599–600). Die Fassung 2 ist maschinell von der Sekretärin Schnitzlers abgeschrieben (FF II, 3, Bl. 93–95). Dass Schnitzler diesen Brief abschreiben ließ, deutet an, dass er ihn für wichtig hielt. Die beiden Fassungen werden vom Arthur-Schnitzler-Archiv an der Universität Freiburg verwahrt. Die Fassung 3, eine weitere maschinelle Abschrift von Elisabeth Gundolf, wird im Friedrich-Gundolf-Archiv der Universität London verwahrt. Die Fassung 4 (Typoskript) befindet sich im deutschen Literaturarchiv in Marbach (A: Schnitzler, Mappe: A052, Cambridge. A052, 13). Die ursprünglichen Unterstreichungen von Gundolf und die nachträglichen von Schnitzler sind durch die Fassungen 2 und 3 zu unterscheiden. – Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Arthur-Schnitzler-Archivs der Universität Freiburg.
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von Fall zu Fall unter dem oder jenem Aspekt, der nicht ihren Typus bestimmt, sondern den Standpunkt des Betrachters kennzeichnet. Gern möchte ich mündlich diese anregenden Gedankengänge und Blickfelder mit Ihnen weiter verfolgen. Auf jeden Fall bin ich Ihnen durch diese reiche Gabe verpflichtet, und verbleibe in herzlicher Hochschätzung und dankbarer Erinnerung Ihr sehr ergebner Friedrich Gundolf ----------------------------------------------------------------------
2. (Schwetzingen, 20. 04. 1927.) Ansichtskarte34, ohne Datumangabe, gestempelt am 20. 04. 1927 in Schwetzingen Bild (s/w): Der Minerva-Tempel im Schlossgarten Schwetzingen eine von Elisabeth Gundolf beschriebene, handschriftlich und gemeinschaftlich geschriebene Postkarte. eigenhändige Unterschriften von Elisabeth und Friedrich Gundolf, Anita Gonzala35 und Paul Lips [links] Herrn Dr Arthur Schnitzler Wien XIX [handschiftlich mit dem Bleistift korr. zu: XVIII] Sternwartstrasse [rechts] Bei einem zufälligen Zusammentreffen gedenken wir Ihnen in Verehrung. Elisabeth Gundolf Paul Lips Friedr. Gundolf Freundliche Grüsse Anita Gonzala
34
35
Verwahrt im Deutschen Literaturarchiv Marbach, A: Schnitzler, Mappe 861, HS. 1985.0001.03264 Anita Gonzala, geb. Weil (1901–1953) war verheiratet mit Fedor Philipp Gonzala (1889–1950), dem Filmschauspieler und Erfinder. Siehe dazu: Arthur Schnitzler, Tagebuch (Anm. 2), Bd. 10: Gesamtverzeichnis, Wien 2000, S. 271. Schnitzler lernte das Ehepaar 1925 in St. Moritz durch Olga kennen. Tgb 21/23/27. 01. 1925 und 13. 04. 1928.
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3. Darmstadt, 28. 12. 1927.36 1 Blatt, doppelseitig, handschriftlich beschrieben von Elisabeth Gundolf, eigenhändig unterschrieben von Friedrich Gundolf, kein Umschlag; [1r] Oberkante links des Blattes mit dem Bleistift eine Bemerkung „Gundolf “; mit dem Bleistift unterstrichen wohl von Schnitzler Darmstadt, 28. 12. 1927 Grünerweg 37 Sehr verehrter Herr Schnitzler, nehmen Sie meinen herzlichen Dank für Ihre reiche Gabe, die mich in meinem gegenwärtigen Zustand – nach einer schweren Operation – besonders freut durch das schöne Gleichgewicht von schmerzlicher Lebenskunde und schwebender Geistesfreiheit, von scharfem Denken und dichtem Gefühl. Ich konnte vorerst freilich diese Tugenden nur in einzelnen Durchblicken auf mich wirken lassen, da mir das Lesen und Auffassen noch behindert ist. Doch empfindet man aus jeder [korr. aus: jedem] Betrachtung die Sehart der sie entstammt und die Landschaft welche sie umfasst. Ich bitte Sie, für heute mit diesem [1v] Dank und mit meinen und meiner Frau herzlichen Wünschen für das neue Jahr vorlieb zu nehmen. In einigen Tagen soll meine kleine Schrift über Paracelsus nachfolgen, die den [korr. aus: dem] doppelten Kenner nicht ohne Zagen und Hoffen als Leser erwartet. Mit den besten Grüssen bleibe ich Ihr in Verehrung ergebener Friedrich Gundolf
36
FF Q III, Bl. 601–602 im Arthur-Schnitzler-Archiv an der Universität Freiburg, und eine maschinenschriftl. Abschrift im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, A: Schnitzler, Mappe B035, Cambridge. B0035.
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4. Heidelberg, 08. 05. 1928.37 1 Blatt, einseitig, eigenhändig be- und unterschrieben von Friedrich Gundolf, ohne Umschlag; mit dem Bleistift unterstrichen wohl von Schnitzler [1] Oberkante links des Blattes mit dem Bleistift eine Bemerkung „Gundolf “; zwischen dem Datum und der Anrede mit dem Bleistift auch eine Notiz: „Neuenheimer L[and]st[raße]|36“ Heidelberg, 8. Mai 1928 Sehr verehrter Herr: Bei meiner Rückkehr aus Berlin, wo ich mich von den Folgen meiner Operation langsam erholte, finde ich Ihr neues Werk als einen schönen Willkomm vor. Ich muß mir die Lektüre, mitten unter gestauten und gehäuften Arbeiten, noch aufsparen, danke Ihnen nur einstweilen herzlich für Ihr gütiges Erinnern und Schenken, in der ungeduldigen Hoffnung auf die freieren Stunden, da ich mich dieser Freude widmen kann. In verehrendem Gedenken stets Ihr ergebner Friedrich Gundolf
37
FF Q III, Bl. 603 im Arthur-Schnitzler-Archiv an der Universität Freiburg, und eine maschinenschriftl. Abschrift im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, A: Schnitzler, Mappe B035, Cambridge. B0035.
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Anhang 2: Briefe von Arthur Schnitzler an Friedrich Gundolf 1. Adelboden, 05. 08. 1926, Ansichtskarte38 (farbig) vom Le Nevada Palace Hótel, gemeinschaftlich, handschriftlich beschrieben und signiert von Paul Lips, Olga, Heinrich und Arthur Schnitzler, Luise Koppel39. [1v] Herrn Professor Gundolf Heidelberg Schlossberg 55 Lieber Freund, 5. 8. 26. zu meiner frohen Überraschung fand ich in den Schweizer Bergen freudigen Wiederhall[sic] Heidelbergs. Sie waren die Sonne unseres Regentags. In Freundschaft und Verehrung gedachten wir Ihrer. Mit allen guten Wünschen für die nächsten Wochen grüsst Sie sehr herzlich Ihr Paul Lips Verehrungsvolle Grüsse! Olga Schnitzler [1r] Verbindlichste Grüße! Arthur Schnitzler In Verehrung Heinrich Schnitzler Luise Koppel [noch eine weitere nicht lesbare Unterschrift] ----------------------------------------------------------------------
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Verwahrt im Friedrich-Gundolf-Archiv an der Universität London. Luise Koppel, geb. Lehmann, 1887–1973.
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2. Wien, 12. 2. 1927, Arthur Schnitzler an Friedrich Gundolf 40, 3 Blätter, davon 2 Blätter doppelseitig, Typoskript, handschriftlich korrigiert und eigenhändig signiert. [1r]Oberkante links des Blattes mit dem Stempel: DR ARTHUR SCHNITZLER| WIEN, XVIII. STERNWARTESTRASSE 71. 12. 2. 1927 Verehrtester Herr Professor. Gern will ich vorerst mit der neutralen Anerkennung zufrieden sein, die Sie dem dialektischen Teil meiner Arbeit spenden; mein Ehrgeiz ging natürlich nicht so weit sofort ein vollkommenes Einverständnis mit meinen vorläufigen Resultaten zu finden, gegen die ich gerade bei den stärksten und selbständigsten Geistern auf Bedenken gefasst sein musste. Meine eigenen habe ich, wie Sie merken, mit dem Untertitel der „vorläufigen Bemerkungen“ zu beschwichtigen gesucht, doch gestehe ich, dass dieses „vorläufig“ zum Teile wenigstens anders gemeint ist, als Sie es aufzufassen scheinen. Sie werden nicht zweifeln, dass meine Diagramme als Resultate vieljähriger Erwägungen und Ueberlegungen entstanden sind und insbesondere das endgültige (vorläufig endgültige?) Schema [korr. aus: Thema] des ersten Diagramms [hat sich mir](Der Geist im Wort) hat sich mir nur ganz allmählig in seiner jetzigen Form [korr. aus: Wort] entwickelt. Es gab zahlreiche Abenteuer auf dem Weg, über die ich eine [korr. aus: ein] Art Tagebuch geführt habe. Sehr vielen Erscheinungen, historischen und gegenwärtigen, bin ich begegnet und es konnte mich nicht wundern, war ja vorausgesehen, dass keine [korr. aus: keines] dieser Erscheinungen, so himmlisch oder so teuflisch sie sich gebärden mochte [korr. aus: mochten], sich anmassen durfte die Idee des Typus zu erfüllen – (oder besser, dass ich mir anmassen durfte eine solche Erfüllung in ihr zu sehen) und dass sie sich der geometrischen Umrissenheit meines Diagramms, dem Schema, das mir vorschwebte, umso lebhafter zu entwinden versuchten, je [1v] einziger, je grösser, je individueller sie auftraten [korr. aus: waren]. Doch bin ich mir nicht bewusst durch meine Methode die Fülle und Vielfalt der konkreten geschichtlichen (– und gegenwärtigen –) Gesichte abgezogen und vergewaltigt zu haben: das hätte ich eher getan, wenn ich Beispiele zu bringen versucht hätte. Doch es war nicht meine Absicht, konnte meine Absicht nicht 40
Dieser Brief ist in drei Fassungen überliefert. Die Fassung 1, die hier ediert wird, verwahrt das Friedrich-Gundolf-Archiv an der Universität London. Zwei weitere Fassungen, die als „Entwurf“ von Robert O. Weiss herausgegeben wurden (Schitzler, Gesammelte Werke, [Anm. 16]), sind die Durchschriften der Fassung 1, und befinden sich im Arthur-Schnitzler-Archiv an der Universität Freiburg. Sie haben keine Unterschrift. An diesen Fassungen ist ein Zettel mit Büroklammer befestigt. Darauf steht mit Bleistift geschrieben: „Zum Diagramm // Antworten an // Aurnheimer // Willy Haas // Wildgans // Gundolf“.
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sein in meinem Schema Individuen unterzubringen, das wundervolle Chaos des Lebens in Ordnung umzufälschen; trotzdem und deswegen wurde mir die Wirklichkeit meiner Geistestypen, eine in der Idee vorgebildete Ordnung im Gebiete des Geistes immer unwidersprechlicher klar. Und über allem Zweifel wurde mir diese aprioristische Ordnung offenbar, als sich dem Diagramm des Worts das Diagramm der Tat entgegenstellte oder vielmehr zugesellte. Das erstere, ich sagte es schon, ging mir nur recht allmählig auf. Es lag nahe, dass im Bereiche der Tat ein ähnliches Schema – nicht etwa sich konstruieren liesse, sondern gleichfalls bereits vorgebildet vorhanden sein müsste. Typen schwebten mir vor, ohne dass sie sich zunächst ordnen wollten, bis eines Tags dieses zweite Diagramm plötzlich fertig vor mir stand. Ja, ich darf sagen, dass ich das, was man vielleicht Intuition nennen könnte, nie mit solcher Evidenz erfahren habe, als bei dieser Gelegenheit – dahingestellt, ob das Objekt dieser Intuition etwas absolut Richtiges oder an sich Wertvolles zu bedeuten habe. Die Verwandtschaft zwischen dem ersten und zweiten Diagramm hat etwas Analoges zu der zwischen den oberen und unteren Dreiecken: wie sich die Typen der oberen und der unteren Dreiecke nur durch die Vorzeichen [2r,Oberkante links des Blattes: Gundolf, Bl. 2.] plus und minus unterscheiden, so die Typen der beiden kongruenten Diagramme durch die Vorzeichen Wort und Tat. Von hier aus möchte ich Ihren sehr wichtigen Einwand verstehen, dass Ihnen nämlich die Gleich- oder Gegensetzung von verschiedenen Stufen oder Mitteln oder Aspekten desselben Wesens bedenklich scheint, glaube ihn aber zugleich teilweise wenigstens widerlegen zu können. Es ist gewiss sehr einleuchtend, wenn Sie behaupten, dass in der Geschichte gewisse Typen – Sie nennen: Feldherr, Staatsmann, Führer Diktator, Tyrann – ob als Geistesverfassungen, Talente oder Berufe verstanden, meist untrennbar sind; nur möchte ich mir gestatten, statt „meist untrennbar [“ milder zu setz] sind“ – milder zu setzen „häufig untrennbar scheinen“. Es ist sehr charakteristisch, dass diese Untrennbarkeit nur in den seltensten Fällen und gerade bei den ungeheuersten Gestalten, (die Sie selbst aufrufen, Alexander, Caesar, Napoleon,) jedenfalls aber nur bezüglich jener Typen zu konstatieren ist, auf deren Geistesverwandtschaft ich ausdrücklich hingewiesen habe, nämlich bezüglich derjenigen, die in den beiden Diagrammen Wort und Tat an den analogen Punkten stehen. Man wird nicht nur manchmal schwanken, ob man jemanden als Repräsentanten des Typus Staatsmann oder des Typus Feldherr, ob als Politiker oder als Diktator auffassen solle, ja in ganz exzeptionellen Fällen wird man vielleicht sogar geneigt sein, eine Art von zusammengesetzter, aber doch wieder in höherem Sinn einheitlicher Geistesverfassung anzunehmen, wenn man nicht (was ich nicht nur als terminologisch [wichtig] empfinde) vorzieht in gewissen Repräsentanten einen Staatsmann von bedeutender organisatorischer und Feldherrnbegabung (Caesar) oder einen Feldherrn mit grosser staatsmännischer Begabung (Alexander) zu erkennen. (War nicht wirklich für Caesar der Staat, für Alexander der Sieg das letzte [2v] Ziel?) Jedenfalls sei es zugegeben, dass es hier vielleicht vor allem auf den Standpunkt des Betrachters ankommt.
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Wenn aber ein und dasselbe Individuum bald als Feldherr, bald als Diktator, – bald als Staatsmann, bald als Politiker – bald als Dichter, bald als Literat – bald als Kontinualist, bald als Aktualist u. s. w. erscheint, also scheinbar bald als Repräsentant eines positiven, bald als Repräsentant eines negativen Typus [erscheint], so wird eben einer jener Aspekte notwendig falsch sein, denn diese einander gegenübergestellten Typen bedeuten zugleich die vollkommensten Gegensätze. Wahrheit und Lüge, Dämonie und Satanie, Mensch und UnMensch stehen einander hier gegenüber. Hier gibt es keine Uebergänge, nicht die Möglichkeit verschiedener Aspekte, nur die von Irrtümern, freilich von solchen, die häufig schwer vermeidbar sind, besonders wo es sich um Erscheinungen der Gegenwart handelt. Ein Mensch wie Caesar war vielleicht zugleich Feldherr und Staatsmann der Geistesverfassung nach, aber niemals Diktator und Politiker, wenn er sich auch politischer Mittel bedienen und sich zuweilen als Diktator gebärden musste, gerade um sich als Staatsmann und Feldherr zu erfüllen. Ob ein Mann wie Mussolini Politiker oder Staatsmann, Diktator oder Führer ist, wird heute kaum noch jemand entscheiden können. Aber dass er entweder nur das eine oder nur das andere ist, [ist]das steht für mich über allem Zweifel fest. Nun aber, verehrter Herr Professor, will ich Ihre Geduld nicht länger in Anspruch nehmen. In einem Gespräch, wie ich es recht sehr wünsche, würde man sich wahrscheinlich über manches zu einigen beginnen, was heute noch wie ein Widerspruch der Meinungen erscheint. Vielleicht kommt einmal eine Gelegenheit – und man könnte dann noch über allerlei anderes reden. [3r,Oberkante links des Blattes: Gundolf Bl. 3.] Meiner besonderen Verehrung muss ich Sie wohl nicht erst versichern; darf ich heute noch den Ausdruck herzlichster Sympathie und den aufrichtigen Wunsch einer Wiederbegegnung zum Ausdruck bringen. Mit den verbindlichsten Grüssen Ihr sehr ergebener Arthur Schnitzler
Herrn Professor Friedrich Gundolf, Heidelberg. ------------------------------------------------------------------------------------------------
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3. Venedig, 29. 04. 1927, Arthur Schnitzler an Elisabeth und Friedrich Gundolf.41 Ansichtskarte (s/w) vom Hotel Restaurant Bonvecchiati, Venezia, S. Marco, handschristlich mit Bleistift beschrieben und signiert von Arthur Schnitzler [1v rechts mit einem Bleistift] Germania Hrn. Fr. Prof. Fr. Gundolf Heidelberg Schloss[strasse?] [links eine ovale Aufklebeadresse] A. S. WIEN XVIII.|STERNWARTSTR. 71 [1r Oben, Bild (s/w) vom Hotel Restaurant Bonvecchiati, Venezia – S. Marco, unten handschriftlich mit dem Bleistift beschrieben] 29. 4. [1]927 Die freundlichen Grüße herzlichst ein[xxxx] Ihr ergebener Arthur Schnitzler
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Verwahrt im Friedrich-Gundolf-Archiv an der Universität London.
Später Nachklang des frühen George
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Später Nachklang des frühen George. Hinweis auf Theodor Hoch, ein vergessener österreichischungarischer Lyriker und Buchkünstler I. Anfänge im Autorenkreis des Verlags Schmidt-Dengler, Graz, um 1934 Theodor Hellmuth Hoch(-Turcsán) (geb. 1911, Paris) gehörte in den 1930er–1940er Jahren zu den österreichischen Lyrikern ungarischer Abstammung. Der Sohn eines Budapester Fregattenkapitäns hielt stets engen Kontakt ins Heimatland seines Vaters. Nach drei Jahren Realgymnasium und einer Ausbildung zum Buchhändler in Budapest, Leipzig (Hochschule für Buchhandel) und Holland (Kunststudien) wohnte Hoch zunächst in Wien, in das er nach dem ungarischen Exilaufenthalt während der nationalsozialistischen Herrschaft auch wieder zurückkehrte. Besonders in der Vorkriegsphase unterhielt er zudem enge Kontakte nach Graz.1 Seinen ersten bekannten Auftritt als Lyriker hatte Hoch 1934 in der Grazer Anthologie ‚Österreichische Blätter‘. Mehr Bekanntheit erlangte er jedoch erst durch die Veröffentlichung zweier Lyrikbände, ‚Der Klangspiegel‘ und ‚Das Sonnenjahr‘, sowie mit Umdichtungen aus dem Werk Endre Adys (1942–1943). Endre Ady (1877–1919), der bei Hoch Andreas Ady heißt, war ein bedeutender Autor der ungarischen Frühmoderne. Es folgte 1949 ein Band Bekenntnisprosa mit dem Titel ‚Bücherliebe‘ sowie ein Jahr später sein letzter Lyrikband ‚Die Mondstunden‘.
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Vgl. Kürschners Deutscher Literatur-Kalender. Jg. 48: 1937–1938, Berlin 1937, S. 318. Der Vater Theodor J. Hoch, durch den Adoptivvater namens Turcsán aufgezogen, trat eine Laufbahn bei der k. u. k.-Marine an, er wurde zuletzt in Pola stationiert; privat war er Kunstmaler; www.macse.org/matriculae […] (abgerufen Jan. 2013); Schematismus für das kaiserliche und königliche Heer und für die kaiserliche und königliche Kriegsmarine. Für 1908, Wien 1907, S. 1264. Hoch benutzte nicht den Doppelnamen; das Adelsprädikat ‚von‘ in den Pseudonymen darf jeder Grundlage entbehren; und vgl. auch Theodor H. Hoch. In: Heinz Kindermann (Hg.): Wegweiser durch die moderne Literatur in Österreich, Innsbruck 1954, S. 105. – Anna Lenz, Bielefeld, danke ich für ihr sorgfältiges Lektorat dieses Aufsatzes.
DOI 10.1515/george-2016/2017-0017
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Seine Lyrikbände gab er stets im Eigenverlag heraus. Die ersten beiden in Budapest veröffentlichten Bände publizierte er noch im Namen einer renommierten Budapester Buchhandlung, wo er während seines Exilaufenthaltes Anstellung gefunden hatte.2 Erst 1943 gründete er seinen Kleinverlag ‚Taurus‘, den er auch nach seiner Rückkehr nach Wien weiterführte. Als Selbstverleger hatte er dann die Möglichkeit, seine Veröffentlichungen mit hohem buchkünstlerischen Anspruch und nach eigenen Vorstellungen drucken zu lassen. Hoch folgte in seiner Budapester Lyrik den Stilvorbildern George, Hofmannsthal und Rilke; besonderen Einfluss scheint jedoch Georges Lyrik auf ihn gehabt zu haben. In beinahe jedem Gedicht zeigt sich das Andenken Georges. Von der zeitgenössischen Literaturkritik blieb das lyrische Werk Hochs weitgehend unbeachtet – wohl auch, weil es auf dem Buchmarkt nur eine Randstellung einnahm. 1950 kursierte das Gerücht, Hoch sei nach Amerika ausgewandert.3 Seitdem ist keine weitere literarische Tätigkeit des Lyrikers bekannt und auch kein anderes Lebenszeichen an die europäischen Freunde und Bekannten, sodass er heute als verschollen gilt.4 Mit ihm sind auch einige Manuskripte seiner bereits angekündigten Folgewerke verschwunden. Sein Name geriet, bei aller Präsenz in deutschen Literaturlexika, für Jahrzehnte in Vergessenheit. Seine Bücher sind heute noch in großen Bibliotheken in Österreich und Ungarn zu finden und bilden zudem ein relativ breites antiquarisches Online-Angebot. Hoch wurde im literaturhistorischen Zusammenhang erst Ende der 1990er Jahre in Veröffentlichungen zur österreichischen Exilliteratur zwischen 1938 und 1945 wieder genannt. 2
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„Emigr[ation] in Budapest [19]38–[19]46, dort Leiter d[er] Laufferschen Verlagsbuchh[andlung]“. In: Robert Teichl (Hg.): Österreicher der Gegenwart. Lexikon Schöpferischer und Schaffender Zeitgenossen, Wien 1951, S. 114. Auf dem Titelblatt zu ‚Der Klangspiegel‘ sowie zum Ady-Band 1942 hieß es: „Verlegt bei Theodor Lauffer, Budapest und Leipzig“, wobei es mit der Verlagsfunktion des Laufferschen Antiquariats und noch mit Reichweite bis nach Leipzig gar nicht stimmte. Es hätte höchstens für das 19. Jahrhundert zugetroffen, als die Lauffers aus dem deutschen Buchzentrum nach Ungarn kamen. Ein zweites Impressum auf der zweitletzten Seite des Buchblocks nennt den Leiter vom ‚Hungaria-Druck‘ mit Vollnamen doch als „verantwortlichen Herausgeber“. Vgl. Kindermann, Wegweiser (Anm. 1), S. 105. Nach ‚Kürschners Deutscher Literatur-Kalender‘ galt er 1963 (Jg. 54, Berlin 1963, S. 268) einmal als vermisst, in die weiteren Ausgaben, auch in Nekrolog 1936–1970 bzw. 1971–1998, wurde er nicht aufgenommen.
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Doch auch in diesem Kontext blieb das lyrische Werk Hochs weitgehend unbeachtet.5 In der Grazer Anthologie erschienen also 1934 Hochs frühe Gedichte (24 insgesamt), unter dem Titel ‚Hauch des Wesenlosen‘ mit dem Verfassernamen Hellmuth von Hoch. Verlegt wurde die Buchreihe ‚Österreichische Blätter‘ vom Verlag Schmidt-Dengler, ein an einen Antiquariatsladen angeschlossener Kleinverlag, unter der Herausgeberschaft des Verlegers Filip Schmidt-Dengler.6 Neben Hochs lyrischen Texten finden sich hierin auch Texte von vier weiteren Autoren; darunter, unter dem Pseudonym Filip Rabus, Texte des Herausgebers selbst. Die Beiträge sind eine an sich kultivierte, aber eher konventionelle Gefühlsund Gedankenlyrik neuromantischer Färbung; stellenweise (so eben bei ‚Rabus‘) äußert sich eine vaterländische Gesinnung. Selbst bei Hoch bleiben sie ohne jedes Anzeichen einer betonten Rückverbindung an die Moderne.7 Die Zielsetzung des Herausgebers war recht allgemein gehalten. Durch die fünf „aus Österreich gebürtige[n] Autoren – Zeugen der zwischen Jahrhundertwende Weltkrieg und Nachkriegszeit aufgewachsenen Jugend“, dachte er, „auf einige wenige dem Herausgeber wertvoll erscheinende künstlerische Kräfte der Gegenwart“ hinzuweisen, „ohne damit eine die Teilnahme oder die Stoffwahl beschränkende Absicht zu verbinden […]“.8 Desto stärker stach und sticht auch heute noch die Nachgestaltung der von Stefan George entwickelten Schriftkunst, samt ihrer sparsamen und unkonventionellen Interpunktion, hervor. Der Hinweis auf George wird auch durch die weitere Buchgestaltung auf 5
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Joseph P. Strelka: Des Odysseus Nachfahren. Österreichische Exilliteratur seit 1938, Tübingen – Basel 1999, S. 18. Hoch wurde mit den altbekannten Angaben auch ins ‚Lexikon österreichischer Exilliteratur‘ (Hg. von Sieglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser, Wien 2000, S. 308) aufgenommen. Österreichische Blätter. Hg. von Filip Schmidt-Dengler. Bd. 1: Gedichte, Graz 1934, S. 37–60. Hoch bezog sich auf die Publikation bei Mitteilungen an Herausgeber biographischer Handbücher (ab ‚Kürschners Deutscher Literatur-Kalender‘, Jg. 48, [Anm. 1]) oder in der eigenen Verlagswerbung, den Anschein eines eigenständigen Buches erweckend, stets ohne den Buchtitel. Der Sinn von Hochs kuriosem Titelwort des ‚Wesenlosen‘ erklärt sich erst im weiteren Fortgang der lyrischen Reflexion, wo das leidende Ich aus leblos gewordenen Welten gerettet werden soll; hier wird es in gar keiner Form wieder aufgegriffen. Österreichische Blätter (Anm. 6), S. 7.
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würdevolle Art hervorgehoben: kraft des goldgeprägten Leineneinbandes im Dunkelrot, aber nicht nach dem Muster von Melchior Lechters Illustrationskunst. Georges Wirkung auf die Lyrik im Zwischenkriegsösterreich wurde in der zeitgenössischen Kritik als nicht allzu stark eingeschätzt. Auch Hofmannsthal, Rilke und Trakl sah man nicht als Einflussgeber der österreichischen Lyrik an. „Der Einfluß Stefan Georges“, erschien „von weither in jedem Sinne, nicht sehr erheblich, aber unleugbar“.9 Ein Zeitgenosse erinnert sich so: Schmidt-Dengler habe „einen kleinen Verlag gegründet […], nicht zuletzt, um dem österreichischen Flügel der Anhänger des Dichters Stefan George, zu denen jedenfalls er selbst zählte, ein Podium zu bieten.“10 II. Hochs Durchbruch Schmidt-Dengler verfolgte mit seinem Kleinverlag durchaus vielschichtige Ziele. Sein Hauptanliegen war es aber, den monarchistischen Gedanken zu unterstützen. Hierbei schwor der Verleger vor allem auf Autoren aus dem altösterreichischen Adel. Zu diesen gehörten Paul Graf Thun-Hohenstein (‚Aphorismen‘, 1936) oder Leopold Freiherr von Andrian zu Werburg (‚Österreich im Prisma der Ideen‘, 1937).11 Beide standen einmal in freundschaftlichem Verhältnis zu Hugo von Hofmannsthal, dem Vordenker des ‚geistigen Österreich‘.12 Schmidt-Dengler zählte zunächst auch auf Vertreter der vielgestaltigen deutschen ‚konservativen Revolution‘, nicht zuletzt aus der Nähe des George-Kreises. Er verlegte gleich 1932 den ‚staatswissenschaftlichen Versuch‘ Rolf Schierenbergs, ‚Der politische Herder‘. Der volkstumspolitisch orien9
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Friedrich Sacher: Die neue Lyrik in Österreich, Wien 1932. Zit. nach: Walter Zettl: Literatur in Österreich von der Ersten zur Zweiten Republik. In: Herbert Zeman (Hg.): Geschichte der Literatur in Österreich. Bd. 7: Das 20. Jahrhundert, Graz 1999, S. 90. Rudolf Haller: Eine kurze Selbstdarstellung. In: Thomas Binder / Reinhard Fabian / Ulf Höfer / Jutta Valent (Hg.): Bausteine zu einer Geschichte der Philosophie an der Universität Graz, Amsterdam – New York 2001, S. 576. Zum Fall Andrian vgl. Leopold von Andrian: Korrespondenzen, Notizen, Essays, Berichte. Hg. von Ursula Prutsch und Klaus Zeyringer. Wien 2003, S. 494–498 und weiterhin F. Schmidt-Denglers Brief vom 19. 10. 1935 an Andrian, S. 588. Andrian widmete sein auf die Tagespolitik bezogenes Buch eben Hofmannsthal.
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tierte Jungkonservative Schierenberg, den eine enge Freundschaft mit Wolfgang Frommel, dem späteren Begründer der Zeitschrift ‚Castrum Peregrini‘, verband, verfasste hier einen Versuch zur politischen Raumbildung in den Grenzregionen zwischen deutschem ‚Volksboden‘ und slawischen Völkergruppen. Andrian selbst konnte dem Verleger bei allen früheren Kontakten mit Hofmannsthal allerdings zu keiner weiteren Annäherung an den George-Kreis verhelfen. Die Monarchisten standen den autoritären Tendenzen des österreichischen Ständestaates wenig kritisch gegenüber. Trotzdem galten sie als unnachgiebige Anschluss-Gegner. Schmidt-Denglers Veröffentlichungen, insbesondere Andrians Buch, aber auch z.B. Werner Bergengruens gegen die deutsche Nazi-Diktatur gerichteten Gedichte seines Bandes ‚Der ewige Kaiser‘ (ebenfalls 1937), brachten so den Verleger und seine Autoren 1938 mit dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich in große Gefahr. Andrian verließ Österreich noch vor dem deutschen Einmarsch. Der Grazer Verlag wurde, wie SchmidtDengler im ersten Nachkriegsbrief Andrian berichtet, nach jahrelangem „Kesseltreiben“ durch die Schrifttumskammer geschlossen;13 SchmidtDengler wurde inhaftiert und später in die Wehrmacht eingezogen. Er kehrte erst Ende 1945 aus der Kriegsgefangenschaft heim. Hoch, der sich eigentlich politisch unauffällig verhielt, begab sich seinerseits nach Budapest.14 Ob er dies aufgrund persönlicher Gefährdung durch Kontakte zu politisch Geächteten oder aufgrund seiner Aversion gegen den Nationalsozialismus tat, ist unklar. Aufgrund dieses Exilaufenthalts in Budapest nannte ihn Schmidt-Dengler im Nachhinein, als er im erwähnten Brief des Jahres 1946 Andrian von den Schicksalen seiner verschiedenen Vorkriegsautoren berichtete, seinen „Budapester Lyriker“.15 Doch nicht nur von außen wurde Hoch nach und nach eher als ungarischer denn als österreichischer Dichter definiert. In einem Brief an Max Rychner von 1942 bezeichnete sich Hoch selbst als „ungari-
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Brief vom 14. 5. 1946 an Andrian. In: Andrian, Korrespondenzen (Anm. 11), S. 758f. „Emigr[ation] in Budapest [19]38–[19]46, dort Leiter d[er] Laufferschen Verlagsbuchh[andlung]“. (Teichl, Österreicher der Gegenwart [Anm. 2], S. 114.) Brief vom 14. 5. 1946 an Andrian. In: Andrian, Korrespondenzen (Anm. 11), S. 760.
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sche[n] Dichter deutscher Sprache“ und identifizierte sich damit deutlich mit der Heimat seines Vaters.16 Über Hochs Laufbahn sind kaum Einzelheiten überliefert. Nur in schmalen Lexikoneinträgen wird das Leben des Lyrikers bedacht. Auch Vorabdrucke seiner Bücher sind nicht erhalten geblieben; die Einzeltexte der Bücher bleiben undatiert. So kann die Genese einer von Grund auf neuen, sich an George und teilweise Rilke anknüpfenden, eigenständigen Lyrikwelt, wie sie nach dem ‚Hauch des Wesenlosen‘ mit den 1942–1943 veröffentlichten Gedichten in Erscheinung tritt, kaum rekonstruiert werden. Dennoch soll hier der Versuch unternommen werden, auf Basis von Formanalysen und paratextuellen Hinweise die Chronologie der Entstehung zu rekonstruieren. Hochs Manuskripte der Gedichtbände, insbesondere ‚Der Klangspiegel‘, müssen bereits längere Zeit vor der Veröffentlichung verfasst worden sein. Erst am Jahresanfang 1942 konnte der erste Gedichtband ‚Der Klangspiegel‘ gedruckt werden.17 Seine Folgewerke erschienen dann jedoch in rascher Folge: ‚Andreas Ady – Umdichtungen aus dem Ungarischen‘ kurz nach Mitte 1942,18 und ‚Das Sonnenjahr‘ zum Jahresanfang 1943.19 Alle drei Werke erschienen unter dem Autorennamen Theodor H. von Hoch. Vermutlich konnte Hoch erst nach dem Tod des Vaters den Vornamen Theodor für sich beanspruchen. Es liegt deshalb nahe, dass Hoch einen Großteil der Gedichte in ‚Der Klangspiegel‘, die in vier Gruppen eingeteilt sind, schon bald nach dem ‚Hauch eines Wesenlosen‘ verfasste, als er also in regem Kontakt zu Schmidt-Dengler und seinem Kreis stand. Auch weitere Einflüsse auf den jungen Lyriker sind evident. Hoch muss zu dieser Zeit viel Rilke (bis zu den ‚Neuen Gedichten‘), George (bis zum ‚Jahr der Seele‘) und eventuell noch Andrian gelesen haben. Während die beiden erstgestellten Gruppen des Bandes, ‚Die Gemälde‘ und ‚Blüten und Geblüt‘, eine intensive Einfühlung in Georges Farben und Ton bekunden, unterschei-
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Brief an Max Rychner vom 6. 1. 1942, verwahrt im Deutschen Literaturarchiv Marbach, Nachlass Max Rychner, Mediennr. BF000126933, S. [4]. Theodor H. von Hoch: Der Klangspiegel, Budapest – Leipzig 1942. Endre Ady: Andreas Ady. Umdichtungen aus dem Ungarischen. Übersetzt von Theodor H. von Hoch. Budapest – Leipzig 1942. Theodor H. von Hoch: Das Sonnenjahr. Ein Gedichtkreis, Budapest 1943.
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den sich die zwei anschließenden Gruppen davon sehr. Einzelne Gedichte, wie ‚Innenraum‘, führen Motive ein, die auf das weitere Werk vorausweisen. Die meisten aber sind sowohl inhaltlich als auch formal sehr konventionell. ‚Das Sonnenjahr‘ als ein in sich geschlossener Zyklus von Wochenund Jahreszeit-Gesängen wurde wohl ebenfalls noch vor dem UngarnAufenthalt zumindest in Arbeit genommen und in Budapest höchstens abgeschlossen. Erst die Ady-Umdichtungen (zum Druck im Juli 1942 freigegeben) lassen sich mit großer Wahrscheinlichkeit ganz mit dem neuen Standort Budapest verbinden. Das an Stefan George erinnernde Schriftbild (bei Hoch als Futura ausgewiesen) übernimmt der Lyriker aus der Gestaltung der ‚Österreichischen Blätter‘. Doch Hoch ging noch weiter und bestellte neben der kartonierten, einfachen Ausgabe jeweils 300 nummerierte und signierte Exemplare auf Zerkall-Bütten, mit zweifarbigem Titeldruck, in Halbleder gebunden und mit einem goldgeprägten Deckelornament, das bei der einfachen Ausgabe durch ein Deckelrelief ersetzt wurde. Beide Ausgaben erhielten außerdem einen Schutzumschlag. III. Rückgriff auf Motive Georges und ein Klagelied auf den Tod III. des Dichters Gedichtgruppen wie ‚Die Gemälde‘ oder ‚Blüten und Geblüt‘ in ‚Der Klangspiegel‘ nehmen Malerporträts (‚Leonardo‘, ‚Hieronymus Bosch‘, ‚El Greco‘, ‚Mathis der Maler‘), Legenden, Mythen und Naturbilder wieder auf. In ihnen ist der Einfluss Georges offensichtlich, denn sie enthalten besonders deutliche motivische Parallelen zu Georges früher Lyrik. So beschwört eine schöne Stelle in schlichter Liedform einen beseelten Augenblick im Landschaftsbild und erinnert damit unmittelbar an die Naturinszenierung in ‚Das Jahr der Seele‘, jedoch ohne den Ton der Melancholie und des Verzichts. […] Wir folgen sacht den wirren Pfaden Erwachsen wachsam in den Tag Ein Lächeln oder Lied vermag Uns überzart mit Tau zu baden.
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Sándor Komáromi Es wirkt der Spätherbst an den Saaten Die erst im Halblicht trächtig quellen Es zieht ein Riedgras feine Wellen Im Bach · durch den die Wasservögel waten.20
Das Gedicht ‚Die ersten Sänger‘ bezieht sich mit seinem entrückten Sprachverhalten sowie seiner gleichmäßigen Fortbewegung in Syntax und Bildreihung auf die antike Idylle der ‚Hirten- und Preisgedichte‘. Hoch bringt dabei eine eigene Vorstellung, in der sich Künstlertum und Kampf ums Dasein verschränken, ins Spiel; die Szenerie verlagert sich jedoch eher ins Urweltliche: Das Raubtierfell mit kühler Hand zu lieben Ward sagenhaften Sängern oft Begier Schien ihnen doch im glanzgesträhnten Tier Manch ferner Himmelsstrich verwandt geblieben. Wenn sie dann lässig ihre Leier spannten Die Saiten strafften mit beseeltem Griff Glich jene einem schönen Ruderschiff Das sie nun überraschten und bemannten. So war der Raub in ihren Zaubersängen Das Tier · wie es zum Stein · zur Pflanze spricht Ihr eignes · ungebärdiges Gesicht Das sich verriet und suchte in den Klängen.21
In den ‚Klangspiegel‘ wurde, an entlegener Stelle einer ‚vermischt‘ anmutenden Gedichtgruppe, ein Trauergedicht auf Georges Tod, ‚Des Sängers Heimfahrt‘, aufgenommen.22 Es sticht besonders durch seine Qualität aus den anderen Gedichten heraus. Die vier Vierzeilenstrophen im Blockreim zeugen von der tiefen Erschütterung der Nachwelt anlässlich von Georges Ableben. Das Gedicht ist vermutlich nicht lange nach dem Tod Georges entstanden, als die Betroffenheit unter den Anhängern Georges sehr groß war.23
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Hoch, Der Klangspiegel (Anm. 17), Ein Kalenderblatt, S. 17. Hoch, Der Klangspiegel (Anm. 17), S. 12. Vgl. Hoch, Der Klangspiegel (Anm. 17), S. 71. Vgl. dazu etwa Dolf Sternberger: Stefan Georges Ruhm. Dokumente zur Zeitgeschichte. In: Ralph-Rainer Wuthenow (Hg.): Stefan George und die Nachwelt. Dokumente zur Wirkungsgeschichte. Bd. 2, Stuttgart 1981, S. 95f.
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Es schwamm ein Kahn · mit Früchten ungetüm beladen Den Strom hinab. Gespenstisch schien der Nebelmorgen Sein ungesäumtes · härenes Gewand zu borgen Denn mittschiffs lag ein Greis und dichte Vogelschwaden Hänflinge · Meisen · Drosseln · Sittige und Finken Umschwärmten ihn · so viele Waldeskinder ohne Lied Dass er – der Sterbende – wahrlich als Wundertäter schied Weil mit ihm all das Ungesungene nun versinken Musste · sein Sang in Nach-Gesängen bald verdarb. Wuchs seiner Seele nicht uralt Geäst · wie Eichen Die jedem Obdach beun · fand er nicht Zier und Zeichen Für Ruf und Gegenruf · das Korn der Atzung · honigfarb? Und fernher trug zuweil der Windstoss schon Getöse Von Wasserfällen · felsdurchfurchten Silber-Schnellen Vom blossen Schönsein und gewaltigen Zerschellen Den Heimweg weisend · dass ein müder Leib sich löse – IN MEMORIAM STEFAN GEORGE
Der Text formuliert aus eng ineinander greifenden Bildfragmenten eine groß angelegte Orpheus-Vision. Zum Eingang sieht der Leser den ‚Sterbenden‘, einem geheimnisvollen Böcklin-Bild ähnlich, nebelumhüllt im Kahn, als wäre er schon aufgebahrt, den Strom hinabgleiten. Die Szene wird belebter durch die „Vogelschwaden“ von „Waldeskinder[n] ohne Lied“, die ihn bis in den Tod begleiten. (Vielleicht eine Anspielung auf den Heiligen Franziskus.) Die Bildnarrative veranschaulichen die chthonische Kraft dieses Gesangs, der eben noch Lebendiges und Lebloses befruchtete und bewegte, doch nun verstummt; Mensch und Erde erleiden dabei einen ungeheuren Verlust, ein Stück Welt stirbt mit dem Dichter. Die gedrängte Komposition, die Verdunkelung, die sich der Etymologica und Archaismen Georges bedient, das besonders verrätselte Schriftbild, das durch Aussparung der Interpunktion und Zeilensprung George sogar noch überbietet: Dies alles verleiht der Vision eine Kompaktheit und Prägnanz, die dem Gewicht von Georges Dichtertum gerecht wird. Hoch setzt in den fest gefügten Bildkomplex, als wollte er schon einen interpretatorischen Ansatz einbeziehen, in der dritten Strophe einen Hinweis, in chiffre-artiger Spruchform, auf die dichterische Gestalt ein: „Wuchs seiner Seele nicht uralt Geäst · wie Eichen / Die jedem Obdach beun · fand er nicht Zier und Zeichen / Für Ruf und Gegenruf · das Korn der Atzung · honigfarb?“
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IV. Verklärung durch Dichtung und das Glücksgefühl menschlichen IV. Verbunden-Seins Aus vielen Gedichten in ‚Der Klangspiegel‘ spricht die Sehnsucht nach Welt- und Selbstfindung, nach etwas Beständigem und Seligem. Es handelt sich um eine erneut versuchte Rückkehr zu sich selbst, die mittels der Lyrik geleistet werden soll. Hoch definiert die Strategie in einem anderen Brief an Max Rychner als „die rückhaltlose Hingabe an ein schöneres und bewussteres Sein, durch unsere Dichtungen“.24 Der derart gespannten Begeisterung ließen sich bereits, wie in ‚Ein Kalenderblatt‘, Augenblicke irdischer Erfüllung abgewinnen. Hoch verbindet diese Begeisterung aber auch mit dem Alltagsglück menschlichen Verbunden-Seins. Im Eröffnungsgedicht ‚Worte‘, das dem Band vermutlich zuletzt hinzugefügt wurde, lässt sich diese Stimmung erkennen: Wir sind uns nur im Worte nah Gleich Glocken · die an Feierstunden sprechen Bis wankend ihre warmen Stimmen brechen Und wissen kaum · wie uns geschah. Sind wir nicht erst im Worte schön Uns anvertraut · zum Treuespruch verbunden Wenn wir erstarken und am Sinn gesunden Ganz sacht · im silberblauen Föhn? Und abends zu einander gehn Mit Worten · die verwaist wie Würfel fallen Geschicke wandeln · halbgehört verhallen Und flüsternd streicheln und verstehn?25
Den Kern der Beziehung von Mensch zu Mensch erkennt Hoch im Dialog und er greift im Gedicht das Motiv ‚Wort‘ auf, um das Glück, das durch vertrauliche Bande zwischen zwei Menschen entsteht, zu feiern. Die Inspiration darf unter Umständen der heute unbekannten „mütterlichen Freundin“ zugestanden werden, der das Buch zugeeignet war. Die Motivik selbst kann eventuell auf Rychners Gedichtbuch ‚Freundesworte‘ (1941) verweisen.26
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Brief vom 19. 2. 1942 an Max Rychner, verwahrt im Deutschen Literaturarchiv Marbach, Nachlass Max Rychner, S. [1]. Hoch, Der Klangspiegel, (Anm. 17), S. 11. Vgl. den Brief an Max Rychner vom 6. 1. 1942 (Anm. 16).
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Hoch und der seinerseits international bekannte Altphilologe Karl Kerényi standen wohl spätestens seit dessen Besuch in der Laufferschen Buchhandlung im freundschaftlichen Verhältnis zueinander. Kerényi schrieb gerne Begleitworte zu Hochs Gedichtbuch, die auf den Umschlag gedruckt wurden. Er lobt Ansätze des Buches, darunter eben ‚Worte‘, als „Funde[, …] die uns Weltschätze heben“. Als einen weiteren Fund nennt er ‚Geberden‘.27 Der Freund bezeichnet diese ‚Funde‘ als konstituierende Elemente in Hochs Lyrikwelt, durch welche es in seinen Gedichten „zu einem wunderbaren en famille-Sein“ komme,28 wie es in der Schlussstrophe von ‚Worte‘ selbst szenisch ins Bild gesetzt wird. In Gedichten wie ‚Ein Kalenderblatt‘, ‚Worte‘ und anderen erlangt schlichte Liedhaftigkeit und Liedform bei Hoch besondere Bedeutung. In ‚Das Sonnenjahr‘ entfalten sie sich vollends. Die Gestaltung der drei bis fünf Strophen aus vier Versen, im Allgemeinen mit vier- oder fünfhebigen Jamben, folgt einer tadellosen Symmetrie von Strophen-, Satzund Bildstruktur. Hochs Liedform zeichnet sich weiterhin durch den reinen Klang der Wechsel- oder Stabreime und die melodiöse Leichtigkeit des Versrhythmus aus. Hoch gelingen faszinierende Versgebilde von seltenem Reichtum an Sprachklang und Bildlichkeit. Die Symbolik des emblematischen Bildes als goldgeprägtes Deckelornament zu ‚Der Klangspiegel‘ wird für diese liedhafte Essenz von Hochs Lyrikwelt erst prägnant (Abb. 1). Es zeigt auf dunkelrotem Leineneinband das griechische Schriftzeichen Zeta (), das für eine Art Festigkeit und Allheit steht, unter einem Tonzeichen als Signum für den Wortbegriff ‚Klangspiegel‘, darüber das Sternchen, das wohl auf das hohe Firmament verweisen soll.
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Vgl. das gleichnamige Gedicht mit Zeilen wie „Geberden sind wie Düfte selbstdurchdrungen / Kein Auge spiegelt ihren vollen Sinn / Selbst Worte gehn an ihnen kraftlos hin / Und sind vom Schicksal scherzend vorgesungen“; In: Hoch, Der Klangspiegel, (Anm. 17), S. 20. Bemerkenswert ist auch die George’sche Schreibweise von Diphthongen. Vgl. Hoch, Der Klangspiegel (Anm. 17): Unbetitelter Klappentext, zusammen mit dem Schutzumschlag bei den meisten vorhandenen Buchexemplaren abhanden gekommen.
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V. Naturmythische Illusion: auch motivisch auf Georges Spuren Hochs ‚Sonnenjahr‘ vom Jahresanfang 1943 aus dem neugegründeten Verlag Taurus umfasst einen Zyklus mit Kalendergedichten im Wochenrhythmus des Erdkreislaufs, datiert ab dem 21. März bis zum Vorabend des nächsten Frühlingsäquinoktiums vom 20. März (tropisches Jahr), mit Vorgesängen zusätzlich zu den Jahreszeiten der jeweils 13 Wocheneinheiten. Das Werk zeichnet einen mythisch-kosmologisch inszenierten Gedichtkreis von homogener Struktur. Die Goldprägung auf dem lila-rotgefärbten Buchdeckel zeigt das Symbolbild des strahlenden Sonnensterns, umkränzt von den Tierkreiszeichen (Abb. 2). Die Idee des Buches geht wohl auf Hochs Hang zur Astrologie zurück, wie es sich Filip Schmidt-Dengler später scherzend in Erinnerung rief.29 Aber auch der Gedanke, dass er vielleicht ein eigenes ‚Jahr der Seele‘ hervorbringen wollte, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Der Zyklus umfasst – die Baustruktur damit nicht wenig überfordernd – ganze 112 Texteinheiten von Gedichtpaaren. Die Wochenstücke (unbetitelt, bloß durchnummeriert) sind zweigeteilt – nach szenenbildlich ausgeführten, liedhaften Vierzeilern (durchgehend in vier Strophen) bzw. gebetartigen Zweizeilern (jeweils fünf Strophen) in Versalschrift und Paarreimen, verteilt auf linke und rechte Buchseiten (vgl. Abb. 3). Die lyrische Narration der Vierzeiler mündet dabei aber unmittelbar in die Zweizeiler. Die doppelten Jahreszeitstücke (in vier Versen) gleicher Rollenverteilung sind an sich eigenständig, und die bildlichen Varianten stehen unter allegorisierenden Überschriften (‚Die Knospende‘ u.a.). Die Motivik des Gedichtkreises greift Momente des irdischen Naturkreislaufs mit seinen kosmischen Bezügen auf. Sie zeigt, wie Naturkreislauf und Menschenleben sich heimlich und wunderbar zu einer unsichtbaren Ganzheit zusammenschließen. Hochs lyrisches Ich, das mit seiner seelischen Einsamkeit hier für den Menschen von „nabellosen Welten“ steht,30 stößt im kosmischen Raum auf einen mal gottähnlichen, mal als dunkle Naturkraft erscheinenden ‚großen Unbekannten‘, gleichsam ein ‚unbekanntes ‚DU‘, von dem er Rettung zu erflehen strebt. Die Perspektive wird in der Zueignung des Buches („Dem unbe29
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Brief vom 14. 5. 1946 an Andrian. In: Andrian, Korrespondenzen (Anm. 11), S. 760: „[…] dass er mir die lehrreichen Spiele der Sternenspiegelei nahegebracht hat.“ Hoch, Das Sonnenjahr (Anm. 19), S. 37.
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kannten DU“) vorweggenommen und zum Eingang des ersten Wochenstücks angedeutet: „Dem Unbekannten DU zu sagen […]“.31 Hoch entwickelt ein mythopoetisches Weltbild, das motivische Details urbildlicher Religiosität zeigt. Er knüpft dabei gleich zu Anfang geradezu an Georges Eingangsgedicht der ‚Hymnen‘, ‚Weihe‘, an.32 Wahrscheinlich verdankt Hoch diese Idee unmittelbar Kerényi, der in seiner Studie über den ‚Antiken Dichter‘ 1937 die gegenseitige Verschränkung von Dichtung und Religion im Altertum erörtert und, als spätzeitliche Entsprechung zu frühen Erfahrungswelten, selbst schon auf Georges antikisierendes Gedicht hinweist.33 Hochs von George bezogene Epiphanie setzt nach Überlegungen von Risiken anhand eines Vergleichs aus dem ländlichen Leben ein: „den Seim der Waben / Mit blossem Munde anzugehen: / Das Stachelvolk zu übersehn / Von dem sie ihre Süsse haben“34. ‚Das DU des Unbekannten‘ wird dann, Georges aus ‚sternenstädten‘ niederschwebender ‚herrin‘ gleich, auf seinem „himmlischgleissenden Geleis“ sichtbar.35 Das Kalkül besteht bei Hoch nicht zuerst darin, dass das Dichtersubjekt erwartet, für seinen Aufbruch ins Dichterische gesegnet zu werden, wie noch in ‚Weihe‘, sondern es geht um die Bestätigung menschlichen Selbstwertgefühls („gibt uns den Namen […]“; „[…] dass wir […] uns Menschen nennen […]“) und um die Legitimation zum Dialog, der auf Erfahrung basiert. Der Dialog setzt in zwei Versen als flehentliches Gebet an das ‚Du‘ ein, in einer Tonlage, die hier eher an Rilkes ‚Stunden-Buch‘ erinnert. Der Ausklang des Gebetes in der Einsicht von der Nichtigkeit irdischen Lebens im Angesicht des Alls („[…] Sternenlicht im seichten Wassergraben […]“) mahnt nicht minder an den Dichter des ‚Stunden-Buchs‘:
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Ebd., S. 12. Vgl. Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982ff, Bd. 2, S. 10. Karl Kerényi: Apollon. Studien über antike Religion und Humanität, Wien 1937, S. 104–120. Vgl. hierzu im Detail: Verf.: Propheten und Dichter. Bezugnahme auf und Anverwandlung von Georges Werk im Ungarn der Jahre 1920–1940. In: Wolfgang Braungart / Ute Oelmann / Bernhard Böschenstein (Hg.): Stefan George. Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘, Tübingen 2001, S. 431–454, hier S. 439–444. Hoch, Das Sonnenjahr (Anm. 19), S. 12. Ebd.
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Sándor Komáromi Dem Unbekannten DU zu sagen Dem Fremden · das in sich verweilt Bis es sein Lager dartut · teilt Uns Einsamen · die alles wagen · Deucht manchen · wie den Seim der Waben Mit blossem Munde anzugehen: Das Stachelvolk zu übersehn Von dem sie ihre Süsse haben – Doch still! Das DU des Unbekannten Umgürtet ganz · sein güldner Kreis Ein himmlisch-gleissendes Geleis Gibt uns den Namen · den entbrannten Den wahren · den wir lang besassen Der quälend noch in Nächten spricht Aus einem taumelnden Gesicht · Das wir einst küssten und vergassen · DAS WIR IM TIEFEN GLUTHAUCH STARKER SONNEN NUN SUCHEN · DIESEM WELTEN-WEH ENTRONNEN · IN ANDERN · MAKELLOSEN TAGEN DAS WARME DU DER DUNKLEN SAGEN – UND TRÄNEN TRÄUFEN · ARME RENKEN: OH KOMM · DASS WIR UNS AN DICH SCHENKEN · UNS MENSCHEN NENNEN · UNTER STÖHNEN UND STUMM AN DEINER BRUST VERSCHÖNEN · WIE STERNENLICHT IM SEICHTEN WASSERGRABEN DEN TIEFSTEN SPIEGEL IM GERINGSTEN HABEN !36
In der weiteren Textfolge wird eine Reihe durchgeistigter Natur- und Landschaftsbilder oder Mythenfragmente gezeigt; dieser wenig kohärente motivische Komplex bricht letztlich auseinander. Parallel dazu erweist sich auch die Dynamik der Narrative als kaum tragfähig für die überdimensionierte Textlänge von etwa 140 Buchseiten. Ein reger Wechsel von Höhe- und Tiefpunkten, teilweise sogar innerhalb eines Gedichts, zeichnet das Werk ebenfalls aus. Die Form des Eingangsgedichtpaares mit der verdunkelten, dem Klagelied ähnlichen Szenerie im Teil der Vierzeiler und der enormen Steigerung in den Zweizeilern bezeugt jedoch abermals die Qualität der Hoch’schen Lyrik. 36
Ebd. Zum Druckbild vgl. Abb. 3.
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Kerényi nahm von Hochs naturmythischem Ansatz nachträglich während seiner Nachkriegsemigration in einer neueren Schrift „über Mythologie und Religionsgeschichte“ anerkennend Notiz. An einer Stelle geht es hier um religiöse „Haltung“; „die innere Haltung […] zum und im Umgang mit Göttlichem […], wie immer sie sich äußert“. Das „Hintreten des Menschen vor Göttliches“ gilt dabei als bestimmend. Anschließend lobt Kerényi den Dichter von ‚Das Sonnenjahr‘: „Und möglich ist auch – um dies mit einem Dichter auszusprechen – ‚dem Unbekannten Du zu sagen‘“.37 VI. Nachlassen der lyrischen Kraft Bei den ‚Ady-Umdichtungen‘ kommt die Diskrepanz zwischen der wortgewaltigen Dichtung des ungarischen Symbolisten und Hochs geschulten, subtileren Mitteln zum Vorschein; selbst die George-Schrift und ihre Formen der Interpunktion wurden dem ungarischen Lyriker aufgezwungen. So werden sie kaum als gerechte Nachdichtungen gelten können. Hoch wies zwar in seinem Geleitwort auf Adys in seinen Augen George-ähnliche „Wortgewalt“ hin,38 die Ähnlichkeit kann jedoch, wenn überhaupt, erst auf den späteren George bezogen werden, der Hoch doch von vornherein fremd war.39 Zu Hochs Exil-Aufenthalt in Budapest wurde 1951 in ‚Österreicher der Gegenwart‘ festgehalten: „Emigr[ation] in Budapest [19]38–[19]46“, „dort Leiter d[er] Laufferschen Verlagsbuchh[andlung]“.40 In dieser Zeitspanne hatte er die Möglichkeit, als Dichter zum ersten Mal mit eigenständigen Veröffentlichungen – seinen eigentlichen Hauptwer37
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Karl Kerényi: Umgang mit Göttlichem. Über Mythologie und Religionsgeschichte, Göttingen 1955, S. 48. Autor und Buchtitel werden im Buch in der Fußnote angegeben. Auch zur Beziehung zwischen Hoch und Kerényi wurden bislang keine Einzelheiten bekannt. In Kerényis Nachlass-Bibliothek (jetzt in Ungarn) sind wohl die meisten Hoch-Bände mit Widmung des Autors erhalten. Ady, Andreas Ady (Anm. 18), S. 7: „Seine Wortgewalt […] zerklüftete die zahmen Vorgebirge des Geistes, welche man als willfährige Brücken zur Vergangenheit saumselig betrat – ähnlich, wie dies Stefan George um die Jahrhundertwende in Deutschland tat.“ Zur Parallele zwischen Ady und George, die in der zeitgenössischen Kritik Ungarns wahrgenommen wurde, vgl.: Verf., Propheten und Dichter (Anm. 33), S. 436f. Teichl, Österreicher der Gegenwart, (Anm. 2), S. 114.
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ken – aufzutreten. Dabei berief sich Hoch zunächst auf die Stellung der Buchhandlung selbst. Hoch übernahm nicht nur das Impressum für die ersten zwei Bücher aus dem Firmennamen; er nutzte neben persönlichen Kontakten auch die Geschäftsbeziehungen zum Vertrieb seiner Werke und verkaufte sie auch im eigenen Buchladen. Aus den Briefen an Rychner geht hervor, dass er ihm ein gebundenes Exemplar von ‚Der Klangspiegel‘ „als Neujahrsgruß“ für 1942 durch Kerényi, der wieder einmal in die Schweiz reisen wollte, nach Zürich zuschickte.41 Zur gleichen Zeit empfingen auch Hermann Hesse und Anton Kippenberg Freiexemplare; von ihnen ist ein Werbeblatt für das Buch mit Empfehlungsworten, nebst denen von Kerényi vom Buchumschlag, erhalten, das dem Ady-Band desselben Jahres beigelegt wurde. Es sind Exemplare (auch von späteren Werken) wohl mit Widmung des Autors, die die Empfänger ihm abkauften oder als Geschenk bekamen und später in Bibliothekssammlungen oder in den antiquarischen Betrieb kamen. So besitzt das Antiquariat von Matt (Stans, Schweiz) je ein Widmungsexemplar von ‚Das Sonnenjahr‘ und ‚Die Mondstunden‘ aus dem Besitz des Historikers Wolfram von den Steinen aus dem Umkreis des späten George-Kreises.42 1944 wurde Ungarn Kriegsschauplatz und durch die Deutsche Wehrmacht und Einheiten der Reichssicherheitskräfte besetzt. Im bereits zitierten Lexikon von 1951 heißt es weiter: „[1943] Gründung des ‚TaurusVerlages‘, wegen Einfall d[er] Deutschen [19]44 aufgelassen“.43 Über Hochs Situation im besetzten Zufluchtsort haben wir keine genaueren Kenntnisse. Er kehrte nach Kriegsende nach Wien zurück und erwarb hier erneut einen Buchladen.44 Auch dazu ist jedoch nichts Genaueres bekannt. Die Wiederaufnahme der lyrischen Produktivität muss von den Schwierigkeiten, die die Nachkriegszeit mit sich brachte, stark beeinflusst worden sein. Neue Werke erschienen, nunmehr unter dem Namen Theodor Hoch, erst 1949–1950 in seinem Taurus-Verlag. Die beiden letzten Veröffentlichungen bleiben an literarischer Bedeutung auch weit hinter den vorherigen zurück. Mit ‚Bücherliebe – Ein Buch von Bü41 42 43 44
Brief an Max Rychner vom 6. 1. 1942 (Anm. 16) bzw. 19. 2. 1942 (Anm. 24). www.zvab.com/antiquariat+von+matt (abgerufen März 2013; März 2015). Teichl, Österreicher der Gegenwart (Anm. 2), S. 114. Kindermann, Wegweiser (Anm. 1), S. 105.
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chern, Büchernarren, Buchhändlern und Verliebten‘ (1949) bringt Hoch unvermutet Bekenntnisprosa zu Papier. Es ist eine 60 Seiten starke, humorvolle Ich-Erzählung aus einem Wiener Antiquariat, vermutlich das Antiquariat des Autors selbst. Der Protagonist, ein Buchhändler, begeht seinen 45. Geburtstag (für den Autor wäre es genau der 11. Dezember 1946) mitten in seiner Buchhandlung und im engen Freundeskreis. Man plaudert und sinniert über seltsame Begegnungen, über Freundinnen, kauzige Ladenbesucher, selbstredend aber auch über Bücher und Autoren. Die Werke Georges und allerhand anderer Klassiker haben ihren festen Platz auf den Regalen: Doch schaut: GEORGE – dort hinten, ist auch nicht schlecht .. für den, der versteht .. und da: MALLARMÉ, echt Maroquin .. und gar der „ULYSSES“ in erstem Gewand […]; Im Halbdunkel des frühen Abends verwischen sich Umrisslinien vor den müden Augen: „Ha! Ein gewisser HOFMANNS .. lacht mich von einem Wienerwald-THAL her windig aus und empfiehlt mir POCCIS Kasperltheater, wenn’s gar zu dunkel wäre ..45
Die Erzählung zeichnet sich durch ihre spielerische Leichtigkeit aus, der ein dichterischer Zug nicht abzusprechen ist. Sie beschreibt die hohe Epoche dieser Autoren jedoch bereits aus der Retrospektive. Das neue Gedichtbuch ‚Mondstunden – Ein Kreis von Nachtgedichten‘ (1950) bedient sich erneut kosmischer Vorstellungen. Die Symbolik des Mondlaufs wird durch die Nachtgedichte hingegen kaum mitgetragen, sondern allenfalls für balladenhafte Verdunkelung genutzt. Hinter der kultivierten Form bleibt alles konventionell. Hochs Modell des romantisch-symbolistischen Neuansatzes in den beiden Budapester Gedichtbüchern büßte seine Wirkungskraft endgültig ein. Es diente der Selbstverständigung einer inneren Emigration in der schwierigen Zeit um 1940, durch das weitere Weltgeschehen war es jedoch bereits überholt. Als Buchgestalter ging Hoch, obwohl er die George-ähnliche Schrift beibehielt, zu simpleren Formen über. Er verwendete Walbaum-Antiqua und verzichtete auf Büttenpapier. Das Deckelornament ersetzte er durch einfache Zeichnungen. Mit diesen Mitteln hat er in seinem Kleinverlag zuletzt noch die Neuausgabe einer klassischen Übersetzung von Platons ‚Gastmahl‘ herausgebracht. Es war die Übersetzung, die G. Schulthesz Sohn 1782 in Zürich angefertigt hatte. Der Bezug auf Pla45
Theodor Hoch: Bücherliebe. Ein Buch von Büchern, Büchernarren, Buchhändlern und Verliebten, Wien 1949, S. 11 und S. 20.
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ton ist noch dem Andenken Georges geschuldet. Die Absicht des Herausgebers war, wie er in seinem Nachwort hervorhebt, eine „lebensnahe Eindeutschung“ vom „Hauch ewiger Jugend“ für das moderne Publikum zu entdecken. Sie sei Platons Geist angemessener und für wahre Platoniker von viel größerem Wert als glattpolierte, spätere Übersetzungen, selbst als die Schleiermachers. Es wird hervorgehoben: „Dem Weltgeist offen sein, heißt stets in seelenklaren Bildern sprechen“. Der Herausgeber schließt sein Nachwort mit einem Bekenntnis zu einer „üppige[n] Herzsprache aus der Natur, in der wir uns erfahren“; sie „flutet“ ja „aus einem göttlichen Mund“.46 Solche Worte lassen doch noch erahnen, auf welche höheren Welten die verblassende lyrische Welt des Dichters einmal verwiesen hat.
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Plato: Das Gastmahl oder von der Liebe ein Gespräch. Aus dem Griechischen übersetzt von G. Schulthesz Sohn. Neuausgabe mit einem Nachwort von Theodor Hoch. Wien 1950 [1949], S. 102 und S. 104.
Später Nachklang des frühen George
Anhang: Abbildungen
Abb. 1 Deckelornament (4 × 2 cm) zu ,Der Klangspiegel‘
Abb. 2 Deckelornament (4,5 × 4,5 cm) zu ,Das Sonnenjahr‘
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Abb. 3 Druckbild zum ersten Wochengedicht aus ,Das Sonnenjahr‘
Parawissenschaft und Parakunst – Zur Esoterik im George-Kreis
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Robert Matthias Erdbeer
Parawissenschaft und Parakunst – Zur Esoterik im George-Kreis Bemerkungen zu einem aktuellen Forschungsfeld aus Anlass einer Studie von Jan Stottmeister
I. Esoterische Poetik Im Umfeld, wenn nicht gar im Vorgriff auf die Ankunft des ‚Postsäkularen‘ hat die internationale Esoterikforschung in den letzten Jahren einen erstaunlichen Aufschwung erlebt. Vor allem der Zusammenhang von Esoterik und Moderne, der im Zuge der frühneuzeitlichen Esoterikforschung lange Zeit als Gegensatz gehandelt und zugunsten einer progressiven Aufklärungserzählung ausgeblendet worden war, hat eine umfassende Revision erfahren. Diese freilich war in erster Linie religionsgeschichtlich motiviert. Im Anschluss an die maßgeblichen Studien nicht zuletzt der Amsterdamer Schule, insbesondere von Wouter Hanegraaff zum Kontext des New Age sowie zur Anthroposophie von Helmut Zander,1 hat sich jüngst auch ein spezifisch literaturwissenschaftliches Interesse formiert. Man könnte wohl von einem Korrektiv zum religionsgeschichtlichen Primat der Esoterikforschung sprechen. Hierbei wurde etwa im Hallenser Forschungsfeld von ‚Aufklärung und Esoterik‘ das verstärkte Interesse am poetischen Gestaltungs- und Erkenntnisstil des Esoterischen v.a. aus diskurshistorischer Perspektive betont.2 So fanden zusehends verfahrensorientierte Ansätze zur esoterischen Enzyklopädik oder zum Verhältnis fiktionaler, esoterischer und
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Vgl. Wouter Hanegraaff: New Age Religion and Western Culture. Esotericism in the Mirror of Secular Thought, Leiden 1996; Ders.: Esotericism and the Academy. Rejected Knowledge in Western Culture, Cambridge 2012; Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884–1945, 2 Bde, Göttingen 2007/08. Vgl. etwa die Beiträge in Monika Neugebauer-Wölk / Renko Geffarth / Markus Meumann (Hg): Aufklärung und Esoterik: Wege in die Moderne, Berlin – Boston 2013.
DOI 10.1515/george-2016/2017-0018
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parawissenschaftlicher Poetik Eingang in den philologischen Diskurs.3 Der Germanist und Judaist Andreas Kilcher hat hier insbesondere den epistemologischen Aspekt sowie die Heteronomie des Esoterischen in einem weiten Diskurshorizont verhandelt. Vor allem das Zusammenspiel von Wissen und Fiktion erscheint dabei als Signum esoterischer Modellbildung: „esotericism brings knowledge to the very boundaries of myth and literature. It is not built primarily on logical-rational foundations or empirical proof, but on […] aesthetic construction, which can be qualified as speculative, idealistic, utopian or fantastic […]. It is built upon the narrativity, even the inventability (inventio) of knowledge.“4 Diese Nähe esoterischer Verfahren zum Poetischen, ja zum ‚poetischen Erkennen‘ spiegelt ein Verhältnis wider, das auch für die Analyse szientifischer Diskurse, die Domänen des exakten Wissens mittlerweile klassisch ist. Es findet sich in Arbeiten zur epistemischen Dynamik von Symbolen, Topoi und Metaphern,5 zum ästhetisch-soziologischen Kalkül von Denk- und Stilgemeinschaften6 sowie zur ontologischen Pragmatik der ästhetischen und epistemischen Interaktion.7 Im Unterschied zur szientifischen Gemeinschaft freilich, deren Selbstverständnis mit 3
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So bei Andreas Kilcher: mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000, München 2003; und Verf.: Die Signatur des Kosmos. Epistemische Poetik und die Genealogie der Esoterischen Moderne, Berlin – New York 2010. Andreas Kilcher: Seven Epistemological Theses on Esotericism. Upon the Occasion of the 10th Anniversary of the Amsterdam Chair. In: Wouter Hanegraaff / Joyce Pijnenburg (Hg.): Hermes in the Academy. Ten Years’ Study of Western Esotericism at the University of Amsterdam, Amsterdam 2009, S. 143–148, hier S. 147. Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der Symbolischen Formen (1923–29). Hg. von Birgit Recki. 3 Bde, Hamburg 2001; Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948), Tübingen 111993; Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), Frankfurt a. M. 2013. Neben Georg Simmel wäre hier v.a. Gabriel Tarde zu nennen: Die Gesetze der Nachahmung (1890), Frankfurt a. M. 2003. Vgl. auch die klassische Studie von Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv (1935), Frankfurt a. M. 1980. So etwa in Bruno Latours Konzepten von Hybrid und faitiche bzw. im historischen Modell von Objektivität bei Lorraine Daston. Vgl. Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a. M. 2000; Lorraine Daston / Peter Galison: Objektivität, Frankfurt a. M. 2007.
Parawissenschaft und Parakunst – Zur Esoterik im George-Kreis
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der Subjektivität und Kontingenz der epistemischen Akteure auch den Anteil des Ästhetischen, Poetischen und Fiktionalen am Prozess der Wissensbildung marginalisiert bzw. schlichtweg leugnet, legt der esoterische Diskurs gerade diese Anteile strategisch offen: „Esotericism works openly and affirmatively with literary (aesthetical, rhetorical, poetological ) methods.“8 Diese Einschätzung hat Folgen auch für den poetischen Diskurs. Wenn Esoterisches sich nicht zuletzt im Modus des Poetischen in Geltung setzt, so liegt es nahe, dort, wo Esoterisches im literarischen Diskurs zur Sprache kommt, auch die Funktion und Leistung dieser esoterischen Thematiken, Modelle und Verfahren ernstzunehmen. ‚Esoterische Poetik‘ – als Kalkül des Esoterischen wie des Poetischen – verlangt mithin nach einer adäquaten Ausdrucks-, Kommunikations- und Analyseform. Dies wussten auch die esoterischen Poeten selbst. Um die Jahrhundertwende etabliert sich im Gefolge Nietzsches und der theosophischen Bewegung, aber auch in der szientismuskritischen Naturphilosophie und ihrer parawissenschaftlichen Projekte eine Neuformierung jenes Dichtertypus, den man allgemein poeta vates nennt. Die Dichter selbst bezeichnen sich als Meister, Führer, Weltbaumeister oder Kosmiker, als Visionäre, Inspirierte und Propheten, als ‚Enorme‘, Geistige und – wie im Falle Alfred Schulers – als die ‚weitaus Wissendsten um die Geheimnisse des Altertums‘. Die Esoterik jener Dichter-Seher ist bei aller antimodernistischen Emphase stets auf den modernen diskursiven Horizont bezogen, ja sie definiert und problematisiert sich selbst im Spannungsfeld von szientifischer und esoterischer Erkenntnis, von konkreter Alltagsempirie und transzendenter Wirklichkeit, von Kunstautonomie, poetischem Genie und einer Deutungshoheit, die sich – quasimagisch – der Beherrschung des Heteronomen verschreibt. Indem sie sich den parawissenschaftlichen Diskursen öffnet, deren Strategien gegenüber der exakten Forschung aufgreift oder in gezielter Abgrenzung und Konkurrenz zu ihnen auf Arkana zielt, die das Ästhetische mit nicht-ästhetischen Diskursen teilt, wird – um es zugespitzt zu formulieren – Kunst zur Parakunst. Man kann den literarischen Ästhetizismus als Bewegung deuten, diese Kontamination im Sinne eines autonomen Kunstgedankens wieder aufzulösen, mit der Folge freilich, dass er jenes diskursive Doublebind nur um so deutlicher zum Vorschein bringt. Auf 8
Kilcher, Seven Epistemological Theses (Anm. 4), S. 147.
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diese Grauzone aus Dichtung, Parawissenschaft und Esoterik antwortet ein Forschungsfeld, das als Erweiterung des Forschungshorizonts von Religionsgeschichte, Wissenschaftsgeschichte und Literaturwissenschaft gelten kann.9 Ihm gilt im Folgenden ein exemplarischer Blick. II. Okkulte Konkurrenten Okkulte Konkurrenten tummeln sich um 1900 längst auf vielen Feldern – im monistischen Milieu, im Spiritismus, an den Rändern des Neukantianismus, in der Wissenspopularisierung, in den parawissenschaftlichen Bewegungen vom Lebensreformismus bis zur technizistischen 9
Es handelt sich um eine Neuausrichtung der Debatte, inwiefern das Religiöse im poetisch-fiktionalen Text verhandelt und ‚gesprochen‘ werden kann. Sie fragt danach, wie esoterische Gehalte und Verfahren selbst an der Gestaltung des Poetischen und Parawissenschaftlichen beteiligt sind, bzw. welche Rückwirkungen sich aus ihnen auf die esoterische Profilbildung ergeben. Zur umfangreichen Forschungstradition vgl. aus theologischer Sicht bereits Amos Niven Wilder: Theopoetic. Theology and the Religious Imagination, Philadelphia 1976; neuerdings z.B. Thomas Krenski: Hans Urs von Balthasars Literaturtheologie, Hamburg 2007. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ist insbesondere das Forschungsfeld ‚Literatur und Religion‘ zu nennen, vgl. etwa Wolfgang Braungart: Literatur und Religion in der Moderne, Paderborn 2015; Tim Lörke / Robert-Walter Jochum (Hg.): Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert. Motive, Sprechweisen, Medien, Göttingen 2015; Daniel Weidner / Stefan Willer (Hg.): Prophetie und Prognostik. Verfügungen über Zukunft in Wissenschaften, Religionen und Künsten, München 2013; Toni Tholen (Hg.): Literatur und Religion, Hildesheim 2012; Daniel Weidner: Bibel und Literatur um 1800, München 2011; Hans P. Schmidt / Daniel Weidner (Hg.): Bibel als Literatur, München 2008; Wolfgang Braungart / Manfred Koch (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, 3 Bde, Paderborn 1997–2002. Esoterische Aspekte werden insbesondere in Arbeiten zu Geheimgesellschaften, zum Spiritismus, zum Monismus und zur Mystik diskutiert, so etwa bei Linda Simonis: Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2002; Diethard Sawicki: Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770–1900, Paderborn 2001; Georg Braungart: Spiritismus und Literatur. In: Braungart / Koch, Ästhetische und religiöse Erfahrungen, Bd. 2, Paderborn 1997; Bettina Gruber (Hg.): Erfahrung und System. Mystik und Esoterik in der Literatur der Moderne, Opladen 1997; Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende, Tübingen 1993; und Martina Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1989.
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Glazialkosmogonie, im theosophischen Diskurs und nicht zuletzt im fiktionalen Genre: in der populären Wissenschaftsfiktion, in der Fantastik und in jener Form der Dichtung, die sich selbst als Religion versteht. Man kann sie als Kompensationsdiskurse zum Primat der diversifizierten Wissenschaft verstehen, die gerade als ‚exakte‘ für den Laien unscharf wird. Wo Esoterik als poetisches Verfahren in Erscheinung tritt, dort trifft sie also auf ein stark umkämpftes Feld an Konkurrenzmodellen, das sie bald zur Abgrenzung und zur internen Ausdifferenzierung zwingt. Selbst innerhalb desselben esoterischen self-fashioning sind Unterscheidungen geboten, etwa bei der Arbeitsteilung zwischen Alfred Schulers expressionspoetischen ‚Cosmogoniae Fragmenta‘ und seinen wissenschaftsaffinen ‚Reden vom Wesen der ewigen Stadt‘.10 Seit jeher beispielhaft für dieses Spannungsfeld ist der George-Kreis. In ihm begegnen sich die agonalen Wissens-, Deutungs- und Kontrollkulturen, die den Kontext der moderen Esoterik bilden und die selbst durch den ästhetischen Ritualismus ihres Meisters mehr verdeckt als überwunden werden; der George-Kreis erscheint geradezu als Brennpunkt der okkulten Konkurrenz in Esoterik, Parawissenschaft und Literatur. An dieser Stelle setzt Jan Stottmeisters George-Studie an, die hier als Beispielfall der neueren Debatte um das Esoterische im Literarischen betrachtet werden soll.11 Sie trifft auf zwei inzwischen gut erschlossene, aktive Forschungsfelder: Längst vergangen ist zum Glück die Zeit, da die George-Forschung zwischen Hagiographien aus der Hand verspäteter Adepten und Verdammungsurteilen von Literarhistorikern, die ihren Gegenstand zum Vorläufer des Dritten Reichs erklärten, ahistorisch auseinanderfiel. Zum anderen sind theosophische, anthroposophische und parawissenschaftliche Diskurse nicht allein im Kontext der moder10
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Vgl. dazu Verf.: Der Kosmos als Fragment. Alfred Schulers kurze Prosa zwischen Wissenschaft und literarischer Moderne. In: Baal Müller (Hg.): Alfred Schuler. Der letzte Römer. Neue Beiträge zur Münchner Kosmik, Amsterdam 2000, S. 33–59. Schuler selbst argumentiert strategisch mit der Unterscheidung esoterisch/exoterisch, wenn er sich auf seinen eigenen Erkenntnismodus bezieht. So liege etwa der Zusammenhang von römischem Senat und Kardinalskollegium „im Esoterischen / nicht im Exoterischen“. Alfred Schuler: Vom Wesen der ewigen Stadt (1915–1922). In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg., komm. und eingel. von Baal Müller, Schwielowsee 2007, S. 258–360, hier S. 290. Jan Stottmeister: Der George-Kreis und die Theosophie. Mit einem Exkurs zum Swastika-Zeichen bei Helena Blavatsky, Alfred Schuler und Stefan George, Göttingen 2014 (= Castrum Peregrini, NF, Bd. 6).
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nen Esoterikforschung, sondern auch der Wissenschaftsgeschichte hoffähig geworden, seit man sie als Vorläufer und Korrektive, ja als Partner der exakten Forschung, wenn nicht gar als Träger eines genuin postsäkularen resp. postmaterialistischen Erkenntnisinteresses versteht.12 In diesem Sinne hat die Studie Stottmeisters nur eine, allerdings eine bemerkenswerte These, die bereits im Titel greifbar wird: den Nachweis theosophischer Diskurse im George-Kreis. Die Untersuchung setzt mit einer gründlichen und elegant geschriebenen Bestandsaufnahme der historischen Voraussetzungen ein: mit der ‚Geschichte der Theosophical Society‘, mit einer Analyse der ‚Affinités ésotériques‘ des literarischen Ästhetizismus, mit Exkursen zum George-Kult und mit Verweisen auf das esoterische Kalkül der Kosmiker. Rhetorisch folgt die Studie dabei der erfreulichen Tendenz zur gleichermaßen distanzierenden wie sympathetischen Ironisierung ihres Gegenstandes, dessen Amalgam aus Gravität, Absurdität und Virtuosität mit einer Ironiefreiheit behaftet ist, die ihresgleichen sucht. Zwar wird die Esoterikforschung ebenso wie die Georgeforschung im Eröffnungsteil der Studie noch kaum Unbekanntes finden, doch der Rückblick auf die weltanschauliche Gemengelage mit detailgenauer und erhellend kritischer Bezugnahme auf etablierte Forschungspositionen trägt doch wesentlich zur Plausibilisierung der zentralen These bei. Erfreulich ist dabei die Umsicht, mit der Stottmeister der naheliegenden Versuchung widersteht, Georges Werk zu ‚esoterisieren‘, also esoterische Gehalte einzuführen, wo ‚profaner‘ Symbolismus oder auch ästhetischer Katholizismus herrscht.13 So heißt es etwa mit Bezug auf die Gedichtsammlungen ‚Hymnen‘ und ‚Pilgerfahrten‘ schlicht: „Die Möglichkeit einer esoterischen Sinnherstellung ist gegeben, aber sie wird nicht genutzt.“14 Wenn dem so ist, so drängt sich allerdings die Frage auf, wie ein so esoterikferner Dichter wie George überhaupt im Kontext einer theosophisch-esoterischen Debatte
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Vgl. die Diskussionen im Sammelband von Dirk Rupnow / Veronika Lipphardt / Jens Thiel / Christina Wessely (Hg.): Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a. M. 2008. Vgl. hierzu Wolfgang Braungarts Studie: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997, die auch für Stottmeisters Untersuchung ein zentraler Bezugspunkt ist. Stottmeister, Der George-Kreis und die Theosophie (Anm. 11), S. 77.
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mit Gewinn diskutiert werden kann. Inwiefern hatte der George-Kreis „ein Theosophie-Problem“?15 Auf diese Frage antwortet die Arbeit Stottmeisters mit Argumenten, die, das sei an dieser Stelle schon vorweggeschickt, so überzeugend wie erschöpfend sind. In minutiöser Analyse forscht der Autor jenen theosophischen Diskursmomenten nach, die im George-Kreis zur Sprache oder eben nicht zur Sprache kommen, deren manchmal offene, zumeist jedoch verborgene Präsenz nicht nur die Diskussionskultur des Kreises sondern auch Georges Werk auf überraschend wirkungsvolle Weise markiert. Die hierfür angeführten Textbelege, die im Lauf der Untersuchung zunehmend an Relevanz gewinnen, stützen eindrucksvoll die eingangs formulierte These, derzufolge sich der Kreis „seit 1910 durch programmatische Abgrenzungen von der Theosophie konturierte“.16 Die Beschreibung der Entstehung, ‚Pflege‘ und Vermittlung dieses Konkurrenzverhältnisses ist der zentrale Gegenstand der Arbeit, die auf diese Weise eine Doppelrevision der Forschung – zur Geschichte des Georges-Kreises und zur Geschichte der Theosophie – unternimmt. Ein wesentliches Anliegen der Studie (und ihr eindrucksvollstes Resultat) besteht im Nachweis, dass der antitheosophische Affekt, der sich schon bei George selbst, vor allem aber in den Schriften seiner Anhänger zum Ausdruck bringt, weit weniger auf weltanschauliche Distanz bzw. Differenz der Heilskonzepte, als auf deren allzu große Nähe, ihre Ähnlichkeit von esoterischer Modellbildung und Vergemeinschaftung zurückzuführen ist – also auf Konkurrenz. III. Das leere Zentrum Zentralfigur der Argumentation in diesem Sinne wird für Stottmeister der Fin de Siècle Künstler und George-Buchgestalter Melchior Lechter, dessen theosophische Emphase seine Werke ebenso wie seine Kommunikation mit George bestimmt. An Lechters Werken zeigt sich idealtypisch, wie der im theosophischen Diskurs forcierte Religions- und Weltanschauungssynkretismus bildästhetisch wirksam werden, Kunst als Religion gestaltet werden kann. Mit Lechters Buchschmuck dringen also theosophische Gehalte – etwa durch Symbole wie die altägyptische Tetraktys und der griechische Ouroboros – in den George-Kosmos ein. 15 16
Ebd., S. 18. Ebd., S. 12.
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Auf eine Konversion des Meisters ist hier freilich nicht zu schließen, es liegt eher die Vermutung nahe, dass George Lechters esoterische Symbolik rein ästhetisch rezipiert. „Im Fall des Ring-Buchschmucks“, so Stottmeister, „ist eindeutig bestimmbar, welchen Einfluss George auf die Symbolik nahm: keinen.“17 Einmal mehr ergibt sich hieraus keine Ablehnung der theosophischen Gehalte durch George, aber auch „kein affirmatives Verhältnis Georges zur Theosophie“.18 So kontingent das Esoterische hier noch als Ausdruck einer allgemeinen, zeittypischen Mode auch erscheinen mag – in jenem Maße, wie Georges Dichtung sich zur Heilslehre erweitert, wird die Esoterik zum Politikum, ja Skandalon des Kreises. An der langsamen Entfremdung Lechters und Georges lässt sich überzeugend zeigen, wie sich auf der Basis weltanschaulicher Affinitäten eine Konkurrenz der Heilslehren entfaltet, die sich letztlich auch ästhetisch und poetologisch niederschlägt.19 Mit dieser Problematik ist der Hauptteil der Studie – ‚OkkultismusKritik als Wissenschaftskritik‘ – befasst. An Friedrich Wolters’ 1910 veröffentlichten ‚Richtlinien‘, die gegen Rudolf Steiners esoterische Erkenntnistheorie gerichtet sind, entwickelt Stottmeister die Auseinandersetzung zweier antiszientifischer Konzepte der ‚höheren Schau‘. Im Gegensatz zu Steiner und zum theosophischen Modell, die, wie man sagen könnte, auf die parawissenschaftliche Ergründung des Arkanum zielen, das Geheimnis also aus arkanen Überlieferungen aller Zeiten und Kulturen destillieren, öffentlich verfügbar machen und in Lehrprogrammen mit präziser Zielgruppendidaxe ventilieren wollen, setzt George auf die Dunkelheit des esoterischen Arkanums, seine Unverfügbarkeit im epistemischen Sinn. Statt das Geheimnis zu erforschen, muss man es erleben – Stottmeister bezieht sich hier auf Friedrich Gundolfs „nichtmethodische Methode“ der „Erlebnisart“ –,20 vor allem aber 17 18 19
20
Ebd., S. 117. Ebd., S. 121. Man könnte diese Einsicht somit auch als religionsgeschichtliche Vertiefung der zentralen Überlegung Braungarts deuten, der die Einheit des Werks Georges aus der Kontinuität des Rituellen erklärt. Vgl. Braungart: Ästhetischer Katholizismus (Anm. 13), S. 111: „Das Werk setzt […] nicht neu an, weil seine Entwicklung der Entwicklung entspricht, die unter den Bedingungen der Moderne Rituale und Ritualsysteme überhaupt nehmen können.“ Das Theosophische als ‚heilsästhetisches‘ Ordnungsmuster tritt hier gleichsam zum Katholischen in Konkurrenz. Stottmeister, Der George-Kreis und die Theosophie (Anm. 11), S. 162.
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muss man es reproduzieren: diese Neuerschaffung des Geheimen als Geheimes, nicht die Deutung, sei die Aufgabe des Dichters und der Kunst. So setzt George Steiners Populärdidaxe, die auf ein Erkennen des Geheimen zielt, ein öffentlich zur Schau getragenes „Geheimnishüten“ als Konzept entgegen;21 und er nimmt auf diese Weise indirekt (und nolens volens) am Diskurs der populären Esoterik teil. Der gleiche Terminus – die Schau – bezeichnet also in der theosophischen Debatte ein ‚Erkennen‘ im modernen Sinn des wissenschaftlich-hermeneutischen Erschließens, im George-Kontext ein ‚Erleben‘ und ‚Erschaffen‘ des Entzogenen. „Wir glauben“, heißt es demgemäß in Wolters’ ‚Richtlinien‘, „dass auch auf dem mystischen grunde nichts zu finden sei, ohne es zu schaffen“.22 Freilich: Dieses leere Zentrum, über dessen konsequente Inszenierung in Georges Werk sich Stottmeister bisweilen selbst zu wundern scheint – „die wahren Sinnbilder und wahrhaften Zeichen des Neuen Reichs sind derart undeutlich gehalten, dass nicht einmal deutlich wird, welche denn falsche oder trügerische wären“ –,23 ist das klassische Modell der Esoteriktradition. Wann wäre je der Inhalt des Arkanums interessant gewesen, der von Hermes über den Diskurs der Alchemisten bis zur Maurerei und zum globalen Netz der Theosophischen Gesellschaft letztlich auf ein Set von ethischen Gemeinplätzen, auf Dekaloge verweist? Nicht, dass die ethischen Prinzipien wertlos wären, aber sie sind nicht geheim. Der esoterische Diskurs lebt vielmehr vom Verfahren selbst, von der gestaltenden Umgrenzung des absenten Zentrums, vom Versprechen auf ein schlechthin Wahres, Gutes, Schönes, das – zumindest in der Tradition – kein wissenschaftliches Experten- oder Faktenwissen und im Grunde auch kein Offenbarungswissen, sondern ein gemeinschaftliches Handlungswissen meint: arkane Agency. In diesem klassischen Verständnis eines Wissens, das man auch ‚Verfahrenswissen‘ nennen kann, ist die Text-Jünger-Esoterik des George-Kreises ‚ehrlicher‘, doch ‚rückständiger‘ als die parawissenschaftlichen Modelle, die mit wissenschaftsaffinen Strategien an der Popularisierung ihres ‚Öffentlich Geheimen‘ tätig sind. Wenn daher auch George selber 21 22
23
Ebd., S. 195. Friedrich Wolters: Richtlinien. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 1 (1910), S. 128–145, hier S. 139. Stottmeister, Der George-Kreis und die Theosophie (Anm. 11), S. 297.
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von der theosophischen Debatte sagt, sie sei „Nur-Wissenschaft“ und arbeite „ganz maschinell“, so ist das weitaus weniger ‚befremdlich‘, als es Stottmeister erscheint.24 Georges Hinweis zielt hier auf das parawissenschaftliche Verfahren, das – als imitatio der wissenschaftlichen Rhetorik und als Übernahme szientifischer Beschreibungs-, Klassifikationsund Propagandatechniken – ein wesentliches Strategem der Esoterischen Moderne ist. Experimente dieser Art sind nicht erst seit dem antimaterialistischen Revival der Naturphilosophie um 1900 Teil der Populärkultur – man denke nur an Haeckels esoterischen Monismus und die ‚Weltprojekte‘, die als ‚Ingenieursphantastik‘ angesprochen worden sind; sie sind auch keineswegs ein Folgephänomen Blavatskyscher Theosophie. Das Zentrum, das Arkanum aber bleibt bei ihnen ebenso wie im Modell der Theosophischen Gesellschaft leer bzw. wird durch importierte Modellierungstechniken ersetzt: im theosophischen Diskurs durch Wissenschaft, im Ingenieursphantasma durch Technik, im George-Kreis durch Kunst. Wo solcherart die Form zum Inhalt wird, dort werden Formfragen existentiell. George steht damit im Wettbewerb um die erfolgreichsten Symbole, die die Leerstelle des nicht vorhandenen Geheimnisses ersetzen. Auch der höchste Kosmiker rät angesichts der esoterischen ‚Tragödien des Innern‘ zur Erschaffung eines Formsymbols: „Für Strahlungen / so diesem Reif gemäss / Entstehe Neu! Ein reinliches Gefaess.“25 George findet es im Mythos ‚Maximin‘. An Lechters Indienaufenthalt als Referenz, der auch institutionell die Konversion des Künstlers und die wachsende Entfremdung vom George-Kreis besiegelt, schildert Stottmeister die parallele ‚Knabengötterdämmerung‘ im theosophischen wie im George-Diskurs. Die These, die Georges Kult um Maximin mit der Erhebung Krishnamurtis zum messianischen Symbol der Theosophen in Verbindung bringt,26 ist angesichts der Konkurrenz der beiden Esoterikvarianten höchst plausibel – schon bezüglich der Benennung ihrer jeweiligen Vergemeinschaftung als ‚Sternbund‘ (Krishnamurti-Orden) resp. ‚Stern des Bundes‘ (Maximin-Publikation). Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Verbitterung und Radikalität der 24 25
26
Ebd., S. 202 und S. 165, vgl. ebd., S. 181. Alfred Schuler: Bagauden. Eine Tragödie des Innern (1914). In: Schuler, Gesammelte Werke (Anm. 10), S. 227–234, hier S. 228. Vgl. Stottmeister, Der George-Kreis und die Theosophie (Anm. 11), S. 216ff.
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Auseinandersetzung um Aspekte, die dem Exoteriker als trivial bzw. als skurril erscheinen: Charisma, subtile Umgangscodes, Symbolik, Bildgebung und Schrift.27 IV. Die Schau der Utopie Mit Überlegungen zur Konkurrenz von theosophischer Erkenntnis- und George’scher Erbauungsesoterik, die als Messianismen analog gestaltet sind, schließt Stottmeisters George-Studie ab. Zu diesem Zwecke untersucht er unter der Bezeichnung ‚Konversionen, Grenzgänge, Synthesen‘ solche Positionen, die Georges Werk im Sinne von bzw. gegen theosophische Aspekte konturieren.28 Dabei nähert sich die Studie dem beliebten Forschungsstil der biographisch inspirierten ‚Kreis-Geschichten‘. Das ist manchmal weniger ertragreich, wie im Fall des Komponisten Cyrill Scott und beim George-Urjünger Karl Wolfskehl: Da das Theosophentum des Engländers die esoterische Doktrin und „die persona Georges gefährdete“, bricht dieser bald nach „dem Gewahrwerden seines messianischen Konkurrenzverhältnisses zur Theosophie“ den Austausch ab.29 Ein weiterer Adept des Kreises, Alexander von Bernus, führt den Bruch nach seinem Coming-out als Theosoph gleich selbst herbei und schließt sich dem George-Konkurrenten Rudolf Steiner an. Die Trennung vom Gefolgsmann Wolfskehl wiederum lässt sich nicht überzeugend durch den theosophischen Diskurs begründen und scheint eher ein soziales Distinktionsproblem Georges innerhalb der späten KreisGemeinschaft gewesen zu sein. Erheblich spannender sind Stottmeisters Bemerkungen zur Einschätzung Ernst Blochs im ‚Geist der Utopie‘, der beide Esoteriken, die theosophische und die Georges, zum Ausgleich bringen will und dies mit einer Stilmischung aus „mystischer Entrückung und Kathedervortrag“ performiert.30 Der dabei intendierte Wechsel von der logisch-argumentativen zur ästhetischen Erkenntnistechnik, 27
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Die Nähe beider Positionen führt zugleich zu neuen Aneignungen, Synkretismen und Hybridisierungen, so etwa bei der Übernahme des im theosophischen Symbolbestand zentralen Swastika-Signets. Zugleich ist diese esoterisch inspirierte Inszenierung auch ein Strategem des säkularen Marketings. Vgl. Cornelia Blasberg: Charisma in der Moderne. Stefan Georges Medienpolitik. In: DVjs 74 (2000), S. 111–145. Stottmeister, Der George-Kreis und die Theosophie (Anm. 11), S. 235ff. Ebd., S. 253. Ebd., S. 278.
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den schon Michael Pauen beschreibt,31 ist auch, so könnte man ergänzen, als Verfahrensvariante einer parawissenschaftlichen Begriffsbildung im philosophischen Diskurs zu deuten. Blochs utopischer ErkenntnisMessianismus lässt sich somit als synthetisches Modell verstehen, das er aus den Differenzen Steiners und Georges gewinnt. Zum Abschluss schließlich widmet sich die Studie Friedrich Gundolfs gleichermaßen exzessiver wie subtil argumentierender ‚George‘-Hagiographie. Aus dieser Schrift, die Stottmeister als Streitschrift gegen eine theosophische Vereinnahmung Georges liest, sind starke Argumente für die These seiner Studie zu gewinnen. Gundolf selbst erklärt hierzu in wünschenswerter Klarheit, dass des Meisters Werke „keine erklügelte oder eklektische Theosophie sind, eine jener zahlreichen allgemeinverständlichen Geheimlehren und bequemen Askesen, die das metaphysische Bedürfnis des Publikums durch Schleier und Blößen, durch Halbwissen und Hokuspokus locken und letzen“.32 Eben dieser anti-parawissenschaftliche Affekt (der freilich auch ein anti-wissenschaftlicher im szientifischen Verständnis ist), kaschiert jedoch, wie Stottmeister zurecht bemerkt, die Nähe beider Esoteriken. Wenn Gundolf ausdrücklich die Konzeption von ‚Schau‘, die als ‚erlebendes Erkennen‘ gegen das ‚erklügelte‘ der Theosophen steht, betont, so überdeckt er damit analoge Elemente aus der theosophischen Visionskultur (Mahatma-Briefe, spiritistische Séancen und private Offenbarungen). Georges ‚Schauen‘ freilich ist, so Stottmeister, nach Gundolfs Ansicht „nicht erlernbar und nicht lehrbar“, das Geschaute „nicht gedeutet, sondern deutungsbedürftig“.33 Diese Uneindeutigkeit und Deutungsoffenheit, so schließt der Autor, werde als das eigentlich ‚Geheime‘ am Werk Georges profiliert. Im Rückblick weisen sich George-Kreis und theosophische Gesellschaft in der Studie Stottmeisters als ein erfolg- und einflussreiches, weltanschaulich höchst versiertes und strategisch kluges, esoterisch nah verwandtes und gerade deshalb konkurrierendes, bisweilen närrisches Agentenpaar im Weltanschauungskampf des frühen 20. Jahrhunderts aus. Es ist erkennbar, dass sich diese Konkurrenz vor allem auf der Seite des George-Kreises als Problem bemerkbar macht. Es wäre daher inte31
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Vgl. Michael Pauen: Dithyrambiker des Untergangs. Gnostizismus in Ästhetik und Philosophie der Moderne, Berlin 1994. Friedrich Gundolf: George, Berlin 1920, S. 43f., zit. nach Stottmeister, Der George-Kreis und die Theosophie (Anm. 11), S. 293. Stottmeister, Der George-Kreis und die Theosophie (Anm. 11), S. 303.
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ressant gewesen, zu erfahren, ob auch der George-Kreis im theosophischen Diskurs als Konkurrenz empfunden, ob er überhaupt als Gegengröße wahrgenommen worden ist. Auch hätte es der Untersuchung, ungeachtet ihrer Fokussierung auf den Religionscharakter, der modernen Esoterik nicht geschadet, auch die wissenschaftlichen Aspekte dieser ‚Parakunst‘ noch stärker einzubinden: den Aspekt der Wissenspopularisierung, den zentralen lebensphilosophischen Diskurs, die parawissenschaftlichen Modelle, denen man in Teilen auch die theosophische, v.a. aber die anthroposophische Debatte zurechnen kann. In diesem Kontext gibt es gegenüber immanenten oder soziologischen Lektüren aus der literarischen und Religionsgeschichte noch durchaus Forschungsbedarf. So könnte man zum Beispiel eine Gegenthese wagen und sich fragen, ob nicht die von Alfred Schuler durchgeführte (und von Ludwig Klages philosophisch überformte) Esoterisierung der um die Jahrhundertwende dominanten lebensphilosophischen und lebenswissenschaftlichen Debatte viel stärker auf Georges Dichtung und sein Abgrenzungsbegehren wirkten, als der theosophische Diskurs.34 Gerade Schulers ‚Cosmogonische Fragmente‘ folgen ja der gleichen Logik – der ästhetischen Verrätselung des esoterischen Gehalts –, wobei sie sich gerade nicht als Kunst verstehen. Schuler, so skurril er auch erscheinen mag, steht der modernen parawissenschaftlichen Modellbildung insofern näher als George, als er einen wissenschaftlichen Diskurs verrätselt, nämlich die für seine Vorträge konstitutive zeitgenössische Ethnologie und Archäologie, jedoch auch (in Begriffen wie der Chemotaxe) Elemente aus dem szientifischen Bereich. Hier zeichnet sich im weltanschaulichen wie produktionsästhetischen Kalkül ein Konkurrenzverhältnis ab, das der George-Lechter-Dissonanz vergleichbar ist. Georges Bruch mit Lechter geht insofern konsequenterweise der Bruch mit Schuler voraus. Im Sinne Stottmeisters ist freilich anzumerken, dass in institutioneller Hinsicht – und gerade sie ist für Georges Spätwerk auch ästhetisch relevant – besonders die Gemeinschafts- und Vermarktungsstrategie der theosophischen Gesellschaft ein Bezugspunkt sui generis gewesen ist. Zugleich erscheint die theosophische Debatte selbst als Amalgam des zeitgenössischen, auch szientifischen Diskurshorizonts. 34
Vgl. hierzu insbes. Baal Müller: Kosmik. Prozeßontologie und temporale Poetik bei Ludwig Klages und Alfred Schuler. Zur Philosophie und Dichtung der Schwabinger Kosmischen Runde, Schwielowsee 2007.
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In diesem Sinn ist Stottmeisters George-Buch ein wesentlicher Beitrag zur Verbindung von historischer Werk- und Diskurspolitik.35 Mit Recht beklagt der Autor daher abschließend den Umstand, dass die Produktivität des theosophischen Modells – wie des Okkulten überhaupt – für den poetischen Diskurs zu wenig wahrgenommen worden sei. In der zur Schau gestellten „Okkultophobie“ des George-Kreises habe sich vielmehr die ‚Okkultophobie‘ des akademischen Diskurses selbst erkannt und übersehen, dass sich in Georges Selbst- und Staatsentwürfen eine Auseinandersetzung zweier esoterischer Modelle vollzieht.36 Dass diese Forschungslage sich allmählich ändert, dafür ist die vorliegende Studie der beste Beweis.
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Das Problem der Werkpolitik im Sinne „einer Geschichte der Theorie und der Praxis des Werks“, die der poetologischen Positionierung oder Steuerung der Werkkonzepte folgt, hat Steffen Martus ebenfalls am Beispiel Georges erprobt. Stefan Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin – New York 2007, S. 4. Stottmeister, Der George-Kreis und die Theosophie (Anm. 11), S. 325.
Briefe von Ernst Kantorowicz und Woldemar von Uxkull-Gyllenband
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Dokumentation Katharina Roettig und Robert E. Lerner
Briefe von Ernst Kantorowicz und Woldemar von Uxkull-Gyllenband an Josef Liegle* Im Nachlass Josef Liegles1 befinden sich bislang unbekannte Briefe von Ernst Kantorowicz aus den frühen 1920er Jahren. Diese sollen hier – nicht zuletzt, da sie neues Licht auf die Datierung seiner Arbeit am Buch ‚Kaiser Friedrich der Zweite‘ werfen – mitgeteilt und kritisch gewürdigt werden. Der vorliegende Aufsatz besteht aus zwei Teilen. In einem ersten Teil (verfasst von K. R.) sollen die erhaltenen Briefe abgedruckt, knapp kommentiert und die Freundschaft zwischen Kantorowicz und Liegle anhand der Briefe sowie weiterer Zeugnisse kurz skizziert werden. Zudem werden, da Kantorowicz in diesen Jahren in besonderer Weise mit Woldemar von Uxkull-Gyllenband verbunden ist2 und die beiden auch gemeinsam an Liegle schreiben, in diesem ersten Teil auch die im Nachlass erhaltenen Briefe Uxkulls wiedergegeben und ebenfalls kurz kommentiert sowie biographisch eingeordnet werden. Der zweite Teil (verfasst von R. E. L) legt die Bedeutung der Briefe von Kantorowicz an Liegle für die Kenntnis seines Werks dar. I. Zum 1. Oktober 1919 kehrte Josef Liegle nach dreijähriger englischer Kriegsgefangenschaft an die Universität Heidelberg zurück, wo er vor * Wir danken Frau Martha Rohde-Liegle und Herrn Arnd Kerkhecker für ihre Erlaubnis, die Briefe Liegles zu publizieren, und für ihre freundliche Unterstützung bei der Abfassung dieses Aufsatzes. Frau Ariane Phillips gilt unser Dank für ihre Genehmigung, die Kantorowicz-Briefe publizieren zu dürfen. 1 Zum Nachlass und Plänen zu dessen Veröffentlichung vgl. Arnd Kerkhecker: Josef Liegle. In: Ivo De Gennaro / Hans-Christian Günther (Hg.): Artists and Intellectuals and the Requests of Power, Leiden – Boston 2009, S. 17–24, hier S. 23f. 2 Vgl. z.B. Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007, S. 548.
DOI 10.1515/george-2016/2017-0019
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dem Krieg bereits das Sommersemester 1914 verbracht hatte.3 Dort lernte er Woldemar von Uxkull-Gyllenband und Ernst Kantorowicz kennen, die Kontakte zum George-Kreis hatten bzw. ihm angehörten.4 Mit beiden verbanden ihn – neben der Nähe zum Kreis – wissenschaftliche und literarische Interessen. So besuchten sie nicht nur gemeinsam Veranstaltungen an der Universität, sondern tauschten sich auch – wie die Briefe zeigen – über ihre jeweiligen Arbeitsvorhaben aus und lasen sie einander vor.5 Dabei war Liegle als „homo incorrupte criticissimus“ sowohl für Uxkull als auch für Kantorowicz ein geschätzter Zuhörer und Gesprächspartner.6 Die genauen Daten und Umstände ihres jeweiligen Kennenlernens sind nicht bekannt. Kantorowicz und Liegle pflegten jedoch schon im 3
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Für eine Zeittafel zur Biographie Josef Liegles vgl. Kerkhecker, Josef Liegle (Anm. 1), S. 20–22; vgl. Achim Aurnhammer / Wolfgang Braungart / Stefan Breuer / Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Bd. 3, Berlin – Boston 2012, S. 1536f. Im Folgenden zitiert als George-Handbuch mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl; für eine ausführlichere Darstellung vgl. Ernst A. Schmidts Kapitel ‚Josef Liegle als Übersetzer lateinischer Texte augusteischer Zeit‘ in dem Band: Josef Liegle: Litterae Augustae. Augusteische Dichtungen und Texte des Princeps in deutscher Übersetzung. Hg. von Arnd Kerkhecker / Katharina Roettig / Martha Rohde-Liegle / Ernst A. Schmidt, Basel 2007, S. 11–60 (dort bes.: ‚Zur Vita Josef Liegles [1893–1945]‘, S. 11–18). Liegle kannte Stefan George schon seit seiner Berliner Studienzeit im Jahr 1913; in Berlin und auch während seines ersten Heidelberger Aufenthaltes hatte er zudem verschiedene Mitglieder des Kreises kennengelernt; zu den Einzelheiten vgl. die in Anm. 3 genannten Beiträge. Uxkull gehörte bereits zum George-Kreis; Kantorowicz ist im November 1920 eng mit George in Beziehung gekommen (vgl. Aurnhammer / Braungart / Breuer / Oelmann, George-Handbuch [Anm. 3], Bd. 3, S. 1474). – Als erste Orientierung zu Uxkull-Gyllenband und Kantorowicz vgl. die jeweiligen Einträge in: George-Handbuch (Anm. 3), Bd. 3, S. 1723–1727 u. 1471–1477. Liegle schreibt beispielsweise im Oktober 1921, als er gerade seine Übersetzung der Euripideischen ‚Bakchen‘ fertiggestellt hatte, an Lux (= Lucy Heyer Grote): „gestern tat ich die lezten striche an meiner reinschrift der Euripidesübersetzung nachdem ich sie vorgestern abend bei Uxkull ganz und in einem zug vorgelesen hatte.“ Vgl. auch Anm. 33 zur Übersetzung des Sophokleischen ‚König Ödipus‘. – Auch Kantorowicz und Uxkull schreiben hin und wieder, dass sie Liegle aus ihren Arbeiten vorlesen wollen; vgl. z.B. Brief von Kantorowicz an Liegle, 7. Mai 1924 (Anm. 43) oder Uxkulls Postkarte an Liegle, 15. November 1922 (Anm. 27). So Kantorowicz in einem Brief an Liegle, 14. Dezember 1922 (Anm. 29). Vgl. Postkarte Kantorowicz an Liegle, 23. Mai 1924 (Anm. 44). S. auch Uxkulls Postkarte an Liegle, 29. Oktober 1922 (Anm. 26).
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Frühjahr des Jahres 1920 regelmäßigen und häufigen Kontakt.7 Später besuchten sie auch gemeinsam ein Privatseminar zu Alexander dem Großen bei dem Althistoriker Alfred von Domaszewski.8 Die ersten Zeugnisse im Nachlass betreffen Uxkull. Am 23. November 1920 berichtet Liegle seinem Bruder Theo, dass er zusammen mit Uxkull, Salin und Beyerle ein Privatissimum über Römische Inschriften bei von Domaszewski besuche.9
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Schriftliche Mitteilung von R. E. L aus einem (unveröffentlichten) Brief Liegles an Elli Salomon, 9. April 1920: „Ernst ist täglich nach mittag bei mir.“ (Liegles Briefe an Elli befinden sich in The Friedrich Gundolf Archive, Institute of Germanic and Romance Studies, University of London.) Auch Valentin Sobotka berichtet von regelmäßigen Treffen von Liegle und Kantorowicz; Liegle habe häufig in der Pension gegessen, in der Kantorowicz damals lebte, vgl. Valentin Sobotka: Ways & Issues Retraced, Berkeley 1980, S. 121: „Two visitors attended those meals regularly: Josef Liegle, a Swabian war veteran about my age, and I.“ Und er fügt (ebd.) hinzu: „We younger men – – Kantorowicz, Liegle, Uexkuell, and I – – became friends: we liked each other’s company despite our different backgrounds and plans.“ – Ein unterhaltsames Zeugnis der gemeinsamen Unternehmungen der Freunde in dieser Zeit (vom Herausgeber auf den 21. Mai 1920 datiert) bildet ein Gedicht, das Gundolf mit weiteren Freunden – u.a. Kantorowicz und Liegle – an Erich Kahler schickt; vgl. Klaus Pott (Hg.): Friedrich Gundolf. Erich von Kahler. Briefwechsel 1920–1931. Mit Auszügen aus dem Briefwechsel Friedrich Gundolf – Fine von Kahler, 2 Bde., Göttingen 2012, hier Bd. I, S. 242. Vgl. Eckhart Grünewald: Ernst Kantorowicz und Stefan George. Beiträge zur Biographie des Historikers bis zum Jahre 1938 und zu seinem Jugendwerk ‚Kaiser Friedrich der Zweite‘, Wiesbaden 1982, S. 47. An dem Seminar nahmen auch Uxkull und Salin teil. Grünewald schreibt in einer Fußnote (S. 47, Anm. 98), dass sich der genaue Zeitpunkt dieses Seminars nicht rekonstruieren lasse. R. E. L vermutet, dass das Seminar im Wintersemester 1921/22 stattgefunden hat. Diese Vermutung wird durch einen Eintrag in Liegles AnmeldungsBuch der Heidelberger Universität unterstützt. Denn dort sind für das WS 1921/22 neben verschiedenen Veranstaltungen – Platonische Dialoge (bei Boll), Griechische Götterideale (bei Curtius), Der ältere Minnesang (bei Panzer), Griechische Geschichte (bei von Domaszewski) – auch ‚Historische Übungen‘ bei von Domaszewski vermerkt. Da von Domaszewski seine Veranstaltungen jeweils als ‚Historische Übungen‘ anzukündigen pflegte (vgl. Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George, S. 47), kann es sich bei dieser ‚Übung‘ gut um das Alexander-Seminar gehandelt haben. Brief von Liegle an Bruder Theo Liegle, 23. November 1920. – Der Wortlaut des Briefes ist folgender: „Ich bin jezt, zusammen mit Salin, v. Uxkull und Beyerle in direktes Schülerverhältnis zu unserm geliebten v. Domaszewski getre-
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Vom 27. März 1921 datiert der erste erhaltene Brief Uxkulls an Liegle, den er aus Bonndorf im Schwarzwald schreibt. Es heißt dort: Lieber José! Lange genug habe ich auf eine Antwort auf Ihren Brief warten lassen, indessen war so wenig von Wichtigkeit vorgefallen dass ich nicht viel hätte mitteilen können, jetzt indessen bin ich Ihr Nachbar geworden. Haben Sie es schon gehört? .. und wie haben Sie die Nachricht aufgenommen? Hoffentlich haben Sie sich nun gut erholt, sodass das nächste Semester für Sie erfreulicher werden wird. Ich erhole mich auch recht gut hier und werde Anfang nächsten Monats nach Heidelberg kommen, allerdings nur einige Tage, da ich dann nach Berlin fahren will. Ich weiss nicht, ob Sie jetzt schon wieder dort sind, aber bis dahin werde ich Sie doch wohl sicher dort sehen. Ob der Meister jetzt noch in Heidelberg ist, wissen Sie vielleicht besser als ich. Bei meiner Abreise war es noch unsicher wann und ob er reisen würde. Sollten Sie es wissen, so wäre ich für eine Mitteilung sehr dankbar. – – Es wird Sie interessieren – bitte unter uns –, dass der „Heilige“ mir erzählte, Boll habe einen Ruf für Diels nach Berlin. Haben Sie noch etwas gehört, ob er angenommen hat oder ablehnen will? Mit dem „Heiligen“ hatte ich noch sehr interessante Tage in H. Nun leben Sie wohl, lieber José, stets IHR Woldi10
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ten: Römische Inschriften, alle woche in seiner Wohnung.“ Ähnlich in einem Brief Liegles an Irmgard (wohl) Kalischer, Februar 1921: „Doch interessieren werden Sie sich am meisten wohl für unsere privatissime=übungen in lateinischer epigraphik in der wohnung des Heiligen: Salin Uxkull Beyerle und ich als teilnehmer.“ – Es gibt im Nachlass ein direktes Zeugnis von Uxkulls Hand, das der eben zitierten ersten Erwähnung Uxkulls bei Liegle zeitlich vorausgeht. Es ist jedoch nicht an Liegle selbst gerichtet, sondern an dessen Bruder Theo: am 29. Juli 1920 schreibt Liegle zusammen mit einigen Freunden – unter ihnen auch Uxkull – von Heidelberg aus einen Postkartengruß an Theo in Rottweil. Inhalt der Karte ist ein Dank. Die Ursache ist nicht ausgesprochen, so kann man lediglich spekulieren. Haben die Freunde möglicherweise einen gemeinsamen Ausflug zu oder mit Theo gemacht? – An dieser Stelle sei noch auf ein – zeitlich etwas später liegendes – Kuriosum von Uxkulls Hand hingewiesen: unter Liegles Briefen findet sich (datiert auf den 26. April 1921) ein Umschlag, adressiert an „Herrn Joseph Liegle, Wolfsbrunnenweg 8, Heidelberg“. Er enthält lediglich ein leeres Blatt. Über der Adresse steht in Uxkulls Schrift: „Bin da gewesen / 1012 Uhr / Woldi“. Brief von Uxkull an Liegle, 27. März 1921. – „eine Antwort auf Ihren Brief“: die Briefe Liegles an Uxkull sind nicht erhalten; „Nachbar“: Uxkull zog im Februar zusammen mit Kantorowicz an den Wolfsbrunnenweg 12 in Heidelberg (vgl. einen Brief von Kantorowicz an Fine von Kahler vom 9. Februar 1921: Stefan
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Im Juli 1921 waren sowohl Uxkull als auch Liegle in Heidelberg,11 im August verfehlen sie sich dort jedoch. Dies geht aus einem kurzen Gruß Uxkulls hervor, den er – mit Poststempel vom 18. August 1921 – an Liegle schreibt, der sich gerade in München-Nymphenburg bei Heyers aufhält: L J es tat mir sehr leid Sie nicht mehr gesehen zu haben, werde aber in 10–14 Tgen München wieder passieren hier bin ich unnötig hergehetzt, denn Domaszewski ist schon fort, das war sehr überflüssig. Alles Gute Ihr W.U.
In das Frühjahr des Jahres 1922 fällt eine Verstimmung zwischen Uxkull und seinem Lehrer von Domaszewski,12 die den ganzen Heidelberger
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George Archiv [im Folgenden: StGA], Kahler III 6545), Liegle wohnte am Wolfsbrunnenweg 8; „Hoffentlich haben Sie … erfreulicher werden wird“: Liegle hatte im Herbst 1920 sehr intensiv an einer Preisschrift zum 535. Geburtstag der Universität Heidelberg ‚Menschentypen bei Platon und Aristoteles‘ gearbeitet (die am 22. November 1920 gekrönt wurde), in der Weihnachtszeit war er dann lange krank gewesen und erholte sich daher zu Beginn des Jahres 1921 für einige Wochen bei den von Scholtzens in Riederau; „Ob der Meister jetzt noch in Heidelberg ist“: laut Hans-Jürgen Seekamp / Raymond C. Ockenden / Marita Keilson: Stefan George – Leben und Werk. Eine Zeittafel, Amsterdam 1972 [im Folgenden zitiert als Zeittafel] war George zu diesem Zeitpunkt noch in Heidelberg (ebd., S. 313); „der ‚Heilige‘“: Alfred von Domaszewski (vgl. Liegles Brief an Irmgard, Februar 1921 [Anm. 9]); „Boll habe einen Ruf für Diels nach Berlin“: Franz Boll (1867–1924) war der Heidelberger Gräzist, bei dem Liegle 1922 mit der Arbeit ‚Untersuchungen zu den platonischen Lebensformen‘ promoviert wurde. Der Kontakt mit Boll bestand bis zu dessen Tod. Der Wechsel an die Berliner Universität kam nicht zustande. Vgl. einen kurzen – innerhalb Heidelbergs verschickten – Gruß Liegles an Salin vom 14. Juli 1921: „dürfte ich Sie bitten mir eine übersetzung von Catull Tibull Properz zu besorgen und vielleicht am besten Uxküll mit heraufzugeben. Wenn irgend möglich will ich allerdings zum essen kommen.“ Das ‚Heraufgeben‘ ist wohl daraus zu erklären, dass der Wolfsbrunnenweg noch oberhalb des Schlosses liegt; vgl. Karlauf, Stefan George (Anm. 2), S. 547. Eigentlich hatten von Domaszewski und Uxkull ein gutes Verhältnis; vgl. einen Brief Liegles an Lux, 15. Mai 1921: „So war ich gestern nachmittag beim „Heiligen“ dem es sehr schlecht geht: er hat kranke beine und konnte mit den vorlesungen noch nicht beginnen. Aber obwohl er sehr niedergeschlagen und voll klagen war merkt ich doch dass ihm das schicksal waldis [sic] der niemand mehr zu spaziergängen hat viel näher gieng.“
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Freundeskreis in Atem hielt.13 Die Ursache dieser Verstimmung lässt sich nicht mehr ausmachen; möglicherweise hatte sie mit einer Arbeit
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Mitte März 1922 brachte Liegle von Domaszewski nach Hirsau. Von dieser Fahrt berichtet er Edgar Salin – in einem undatierten Brief – Folgendes: „Der tag und das licht war so strahlend daß er ganz jugendlich geistvoll und heiter wurde. Er erzählte vieles Schöne auch viel Witziges, zwischen Karlsruhe und Pforzheim sprach er viel über die „Kaisergeschichte“ und Betrachtungsweise der Geschichte; er meinte selbst Rankes Geschichte ersticke im Stoff. Er erzählte wieder sehr amüsant über Wien. Nur dreimal wurde er mürrisch: wenn er an W.o dachte: Er fragte ob Sie ihm auch sicherlich den besuch verbieten würden und behauptete er habe ihm in dem brief „glück für seinen ferneren Lebensweg“ gewünscht! Seine Arbeit werde er mit vier zensieren. Obwohl ich nun nicht all das sehr tragisch sondern vielmehr als Laune nehme deren wolken nicht immer so schwarz bleiben werden, so finde ich doch W. müßte behutsam zu werk gehen um das seinige zur aufhellung nicht zu versäumen. Ob man ihm die lage der dinge offen schildert und ihn veranlaßt einen versöhnungsbrief an D. zu schreiben? Oder ob am besten alles ruht bis zum Sommer? Eigentlich bin ich mehr beunruhigt als ich es mir eingestehe. Wie denken Sie darüber?“ Ähnlich in einem Brief Liegles an Lise Salin mit Poststempel vom 15. März 1922. Auf einer Karte vom 27. März erbittet Salin von Liegle Nachricht über Uxkull. Darauf antwortet ihm Liegle: „Ihre Karte kam heut früh. […] Woldi ist heute nach Berlin abgereist. Ich sah ihn mehrmals aber nie allein. Er sieht zu wenig seine eigenen Fehler. Ich riet ihm die Arbeit erst Ihnen zu schicken und zunächst nicht nach Hirsau. Er hat gleich an D. einen wie ich vermute sehr ungeschickten Brief geschickt und bekam eine erschrecklich kühle karte zur antwort.“ Am 4. April schreibt wiederum Salin, der gerade in Riederau bei den von Scholtzens ist, an Liegle: „Von Woldi hatte ich eine Karte, die einen Brief ankündigte. Aber der Brief ist ausgeblieben. Er schreibt als Ihren Vorschlag, ich solle über Hirsau zurück reisen. Wenn Sie noch immer dieser Ansicht sind, bitte ich um ein paar begründende Worte. Einstweilen halte ichs nicht für richtig. Der Alte hat, trotzdem ich ihm schrieb, in den ganzen Wochen nichts von sich hören lassen – da scheint mir ein Besuch recht gewagt. Ferner: ich möchte erst ganz sicher sein, dass W. wirklich sein Examen machen wird. Ich traue seiner Festigkeit gegenüber Berliner Einflüssen nicht mehr ganz und halte es des Alten wegen für taktisch unklug eine – schwere – Attacke zu reiten, ohne die Sicherheit dass W. auch wirklich nachstösst.“ Hierauf antwortet Liegle: „Über W.s äusserung bin ich etwas betroffen. Keineswegs handelt es sich um eine proposition von mir (oder auch nur um eine überlegung in hinsicht auf das φ [= das Zuträgliche oder nicht Zuträgliche]) sondern die tatsache ist dass eine vermutung die W. selbst äusserte mir im moment so plausibel vorkam dass ich erst eine möglichkeit und sodann wahrscheinlichkeit rein von mir aus ohne jede zustimmung oder ablehnung zugab. (und zwar in dem sinne dass ich daran dachte Sie könnten ohne jede beziehung auf W., für sich
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Uxkulls zu tun. Es ist jedenfalls in diesem Zusammenhang, dass Liegle Ernst Kantorowicz erstmals in seiner Korrespondenz erwähnt. Er schreibt in einem Brief mit Poststempel vom 27. März 1922 an Lise Salin – mit der er einen regen Briefwechsel unterhielt –, dass er bei Salins14 „wie erwartet W. in Aufregung und Empörung über den Alten das Geschick und die Welt“ angetroffen habe und dass er später „mit E.K. in die Brunnengasse einbog um zu haus den Fall noch einmal allein zu besprechen“.15 Im Sommer 1922 hielt sich Kantorowicz – zeitweilig offensichtlich (s.u.) mit Uxkull – in Würzburg auf. Würzburg war in den frühen 1920er Jahren ein Arbeitsort für Kantorowicz, an den er sich immer wieder zurückzog. Warum Würzburg? Jeweils im Sommer 1921 und 1922 scheint Würzburg ein Treffpunkt junger Georgeaner gewesen zu sein.16 War es vielleicht Robert Boehringer, der dort Möglichkeiten bot, die jungen Leute unterzubringen und ihnen Raum für eigene Arbeit und Gespräche zu geben? Dieser Gedanke ergibt sich daraus, dass Boehringer Liegle einmal angeboten hatte, nach dem Doktorexamen im Mai 1922 für
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oder für Domaszewski, das bedürfnis fühlen Ihren Weg hierher über Hirsau zu nehmen was nach dem was Sie schreiben ganz wegfällt – W.s wegen den besuch zu machen scheint mir allerdings inopportun, mindestens unzeitig). Eine solche falsche interpretation ist mir um so unliebsamer als ich selbst den text, die bezuglose äusserung eines gesprächs, so häufig vergesse und nur meine mit erstaunen gemischte aufmerksamkeit die paar gespräche jener tage deutlich in mir fixiert hat. Beim abschied riet ich ihm dringlich in B. zu arbeiten.“ Wörtlich schreibt er bei „dem edlen paar“, womit an dieser Stelle eigentlich nur Edgar und Lotte Salin gemeint sein können, die seit März 1922 verheiratet waren. – Der ‚Alte‘ ist von Domaszewski; so nennt ihn auch Salin in seinem Brief an Liegle vom 4. April 1922 (zitiert in Anm. 13). Brief von Liegle an Lise Salin, 27. März 1922. – Im Dezember 1921 war Liegle vom Wolfsbrunnenweg in die Brunnengasse 12 umgezogen. Vgl. – möglicherweise in einem ähnlichen Zusammenhang? – Karlauf, Stefan George (Anm. 2), S. 388: „Im Sommer 1921 standen Gundolf, Morwitz, Woldemar von Uxkull und ein weiterer Freund am Bahnhof in Würzburg.“ Vgl. auch Seekamp / Ockeden / Keilson, Zeittafel (Anm. 10), S. 314 (mit der Korrektur von REL, Anm. 53). – Im September 1921 berichtet auch Liegle (in einem undatierten Brief an Lux) von einer ersten Reise nach Würzburg, wo er mit mehreren Mitgliedern des Kreises im Gasthaus ‚Waldhaus‘ unweit von Würzburg zusammentraf. Er traf dort auf Gundolf, Morwitz, einen Neffen Morwitz’ und einen weiteren Bekannten. Bis auf Morwitz reisten alle am Tag der Ankunft Liegles ab, was ihm Gelegenheit gab, sich erstmals ausführlich mit Morwitz auszutauschen.
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eine Weile nach Würzburg zu kommen und Gast in seinem Haus zu sein.17 So scheint die Annahme nicht ganz unplausibel, dass Boehringer die Anlaufstelle auch für die Würzburger Treffen gewesen sein könnte. Bei diesen Treffen scheint es jedenfalls um den Austausch unter den jungen Leuten gegangen zu sein; denn Uxkull verweist auf Würzburg als „B… Zentrum“ bzw. „Buhlzentrum“,18 was im Sprachgebrauch der Freunde „Gesprächs-Zentrum“ bedeutet. Mit einer Nachricht aus Würzburg vom 21. Juni 1922 wird die Reihe der Kantorowicz-Briefe in Liegles Nachlass eröffnet. Es handelt sich um eine kurze Terminabsprache für einen Besuch Liegles in Würzburg: L.J. Ausgezeichnet! Bester Zug – Eilzug mit Personenzug-Tarif d.h. ohne Zuschlag! – ab Hdbg. früh 650. Erwarte Sie dann hier am Samstag vormittag 1050! Sie sind tüchtig! Auf Wiedersehen! E.19
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Am 1. April 1922 schreibt Julius Landmann im Namen Boehringers an Liegle: „Herr Dr. Böhringer bittet mich, Ihnen mitzuteilen, dass er sich freuen würde, wollten Sie in der Zeit zwischen Ihrer Promotion und einem Amtsantritt während einiger Wochen in seinem Hause in Würzburg sein Gast sein. Er selbst ist allerdings in Basel, und Erich in Freiburg, so dass Sie in Würzburg allein wären; doch zweifelt er nicht, und ebenso wenig zweifle ich daran, dass Sie sich in Würzburg wohl fühlen würden.“ „B… Zentrum“ schreibt Uxkull am 30. Juli 1922 (für den Zusammenhang vgl. Postkarte Uxkull an Liegle, 30. Juli 1922 [Anm. 21]), „Buhl-Zentrum“ heißt es dann in einem Brief von Uxkull an Liegle, 6. September 1922 (Anm. 25). In diesem Brief fährt er fort, dass man in Würzburg „von Buhlie zu Buhlie taumelte“. Ähnlich schreibt Kantorowicz an Liegle, am 7. Mai 1924 (Anm. 43): „man müsste über all dieses buhlen, buhlen, ja schon redupliziert: bububuhlen.“ All diese Ausdrücke scheinen eine humorvolle Prägung der Freunde zu sein, mit der sie ‚Austausch‘ und ‚Unterhaltung‘ u.ä. bezeichneten. Handelt es sich vielleicht um eine Verballhornung des griechischen – ‚Rat halten, sich miteinander beraten‘? Brief von Kantorowicz an Liegle, 21. Juni 1922. – Worauf der Hinweis auf die ‚Tüchtigkeit‘ Liegles zielt, ist nicht auszumachen. Bezog es sich darauf, dass Liegle gerade sowohl das Staatsexamen (März 1922) als auch seine mündliche Doktorprüfung (22. Mai 1922) hinter sich gebracht hatte?
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Liegle kommentiert dieses Treffen in einem Brief an Lux vom 27. Juni 1922 so: Ich eine Stunde später nach Würzburg ohne sein Wissen um dort N.... (Staats= und Individualgeheimnis – – –) zu treffen von dem einige Tage vorher eine rätselhafte Geldanweisung sich als unerwartete Arznei meiner diesbezüglichen Sorgen herausstellte (unter uns!): ich hätte sonst mutig dem finanziellen Zusammenbruch in die Augen sehen müssen … Dort verbrachte ich nun einen heitern Sonntag mit unaufhörlichem Schwatzen köstlichem Essen viel Steinwein Baden im Main Durch-die-Stadt-bummeln u.s.w. verschwatzte auch die Nacht auf Montag und stieg mit einem schönen Geschenk der Berliner Aristotelesausgabe beladen um 4 Uhr in den Frühzug und kam hier zum Frühstück mit Sascha und Lise.20
Kantorowicz scheint dann den ganzen Sommer des Jahres 1922 in Würzburg verbracht zu haben; denn am 30. Juli 1922 schickt er Liegle zusammen mit Uxkull folgende Karte von einem Ausflug aus Bamberg: L.J. Was machen Sie, wie gefällt es Ihnen & warum lassen Sie so wenig von sich hören? Ich bleibe vorerst noch in Würzbg. Herzlichst Ernst. Bin auch im B… Zentrum und sende Ihnen herzliche Grüsse. Woldi. Dr phil mal.21 20
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Brief von Liegle an Lux, 27. Juni 1922. – „Ich eine Stunde später nach Würzburg ohne sein Wissen“: Rudolf von Scholtz (zumeist Sascha genannt) war in diesen Tagen bei Liegle in Heidelberg zu Gast; von Scholtz brach am Samstag nachmittag zu einem Besuch bei seiner Mutter auf und wollte am Sonntag zurückkommen; eine Stunde nach ihm bricht Liegle auf – offensichtlich also mit einem anderen Zug als dem von Kantorowicz vorgeschlagenen. Warum Liegle Sascha diese Fahrt verheimlicht hat, wissen wir nicht. Es ist ebenfalls unklar, warum er in diesem Brief an Lux von „N“ spricht. Bezieht sich „N“ auf einen – uns unbekannten – Spitznamen? Oder denkt Liegle an die Abkürzung „N“ für „nomen“, die in mittelalterlichen Dokumenten als Platzhalter für einen konkreten Namen gebräuchlich war? Dass es sich jedenfalls um Kantorowicz handeln muss, ergibt sich aus der Übereinstimmung der Daten. Der Rest bleibt ein rätselhaftes „Staats= und Individualgeheimnis“. Postkarte von Kantorowicz mit Uxkull an Liegle, 30. Juli 1922. – „&“: hier und ebenso in einem Brief von Kantorowicz an Liegle, 7. Mai 1924 (Anm. 43), sowie in einem Brief vom 23. Mai 1924 (Anm. 44), an drei Stellen also, an denen der Zusammenhang klar ein ‚und‘ erfordert, schreibt Kantorowicz ein winziges Kürzel, das am ehesten einem sehr kleinen, verkürzten &-Zeichen ähnelt. So wurde es hier wiedergegeben. Zum „B… Zentrum“ vgl. die Erklärung in Anm. 18; „Dr phil mal.“: was bedeutet das hinzugesetzte ‚mal‘? Doctor philosophiae malus? Doctor philosophiae male? Oder etwa – dem Klange nach – Dr. ‚vielmal‘?
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Die Postkarte zeigt auf der Vorderseite eine Abbildung des Bamberger Reiters, der – zusammen mit der fränkischen Landschaft um Würzburg – Kantorowicz einen wichtigen Impuls für seine Überlegungen und Studien zu Friedrich II. gab.22 Zunächst aber kehrte Kantorowicz nach seinem Würzburger Aufenthalt für eine Weile nach Heidelberg zurück. Liegle hatte Heidelberg zu diesem Zeitpunkt schon verlassen: er ging im Juli 1922 als Privatlehrer von Georg Picht auf den Birklehof nach Hinterzarten. Auch Uxkull war fort; er verbrachte erst einige Zeit in Berchtesgaden und reiste dann nach München.23 Ich gebe hier in chronologischer Reihenfolge die Briefe dieses Sommers und Herbstes wieder. Am 27. August 1922 schreibt Kantorowicz aus Heidelberg an Liegle: Lieber Josef! Dass ich Ihnen erst heute für Ihren so erfreulichen Brief danke, wird Ihnen vielleicht aus dem Datum verständlich sein: ich bin wieder zurückgesiedelt und habe in der Zwischenzeit eine ganze Anzahl kleiner Fahrten erledigt, die schon seit langem auf meinem „Programm“ nie zur Ausführung kamen, z.B. Speyer! Dieser Ausflug, verbunden mit einem schnellen Besuch von Worms u. Mainz war vorerst der letzte. Das besetzte Gebiet zumal während des gegenwärtigen „Ausverkaufs“, der die französischen, belgischen, holländischen Spiessbürger-Schmeissfliegen zu Myriaden anlockt, ist so deprimierend, dass man froh ist, wenn man sich wieder in seinen Winkel geflüchtet hat, wo einen alles Widerwärtige nicht erreicht und man von den läppischen oder ekel-erregenden Fratzen farbiger und farbloser Franzosen verschont ist. Es ist schon sehr bezeichnend, dass einem die Franzosen einen absoluten körperlichen Ekel einjagen durch ihre Schmierigkeit und auf den Gesichtern zur Schau getragenen Verseuchtheit, eine Tatsache, die einem bei Engländern, Amerikanern, selbst Italienern niemals begegnet. Nein, nein – da gibt es keine Brücke mehr, niemals mehr und nur ein einziges ceterum censeo, nämlich Franciam esse delendam. Jede deutsche Politik, die nicht letzten Endes nur auf die Vernichtung Frankreichs ausgeht, ist heute verwerflich. Aber lassen wir all diese unerfreulichen Dinge beiseite! Dafür sehe ich mit desto grösserer Dankbarkeit auf diesen Würzburger Sommer zurück, ohne den ich wohl garnicht hätte weiterarbeiten können. Erst die Anschauung der vielen fränkischen u. schwäbischen Städte und Landschaften hat mir offenbart, dass dasjenige Deutschtum, das allein für uns fruchtbar und sinnvoll ist und uns Jahrhunderte über verschlossen war, dass dieses nicht in der Frage: Potsdam oder Weimar? enthalten ist, sondern eher in Bamberg, wenn Sie wissen, wie ich das meine, kurz: in Franken und Schwaben. 22 23
Vgl. dazu den Brief von Kantorowicz an Liegle, 27. August 1922 (Anm. 24). Vgl. Uxkulls Briefe/Postkarten an Liegle vom 6. September 1922 (Anm. 25), 29. Oktober 1922 (Anm. 26) und 15. November 1922 (Anm. 27).
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Es ist das gleiche Deutschland, aus dem die deutschen Kaiser ihre Kräfte geholt haben und ebenso Wolfram v. Eschenbach und die Steinmetzen der fränkischen Plastik. Jedenfalls ist dieses das kaiserliche, das „feudale“ Deutschland, das heute so gut wie unbekannt ist, während die andere Kraftquelle, die „bürgerlich-städtische“ der Zünfte, der Gotik und Dürers heute erheblich mehr gekannt wird. Und in erster Linie ist es auch dieses kaiserliche Deutschland, dem Friedrich II. gelten soll. Ob ich es je zu Stande bringe und ob ich der hierfür Geeignete bin! Manchmal glaube ich es ja und hoffe es auch, dann aber wird mir vor der Riesenaufgabe wieder Angst, besonders wenn von allen Seiten zugleich neuer Stoff einen zu überschwemmen droht und man ratlos und verzweifelt ist, weil man nicht weiss, wo man ihn fassen kann und wie. Ihre Frage, Lieber, ob es nicht vielleicht doch zu grosse Schwierigkeiten bietet, ist insofern auch sicherlich berechtigt. Aber ungestraft darf man sich wohl nicht zu tief mit einem Stoff einlassen: er lastet zu schwer auf einem, wenn er unverarbeitet ist, so dass man sich seiner entledigen muss, ob man will oder nicht. Es wäre etwas perfide, hätte man sich dessen nur zu seiner Lust und Selbstbegattung bedient, und ich selbst hätte ein ewig schlechtes Gewissen vor mir. Über die Art der Darstellung bin ich immer noch gänzlich Ihrer Ansicht, habe es auch mit E.M. besprochen. Es ist wohl die einzige für uns mögliche – aber Sie werden wohl noch eine ganze Weile warten müssen. – Hier in Heidelberg ist es komisch wie immer. Valentin Sob. hat ganz heimlich geheiratet – auch ich wusste es nicht. Bei Beyerle hat Heidelberg eine grössere Metamorphose bewirkt als bei irgend einem anderen, indem er sich eine neue Sprache zugelegt hat mit polnisch-russisch-italienischem Akzent und einem infolgedessen Rho! Salin sprach ich im Seminar, nachdem ich ihn „zu Hause“ nicht angetroffen hatte. Ich wollte ihm nur Guten-Tag sagen. Wir haben uns infolge der Schwüle nur gegenseitig 1⁄2 Stunde angeschwitzt – c’est tout. Er war übrigens aus mir nicht ganz begreiflichen Gründen richtig befangen, was dann natürlich auch auf mich übergriff. Woldi ist in Berchtesgaden und fährt mit seiner Mutter in die Schweiz. – Ob ich nach Tübingen gehe ist fraglich, obwohl mir Haller gut gefällt. Sein Gebiet ist ein ganz anderes! – Zunächst fahre ich jetzt auf 8 Tage nach München (Pens. Feldhütten, falls Sie gerade dort sein sollten). Im Herbst aber käme ich Sie vielleicht einmal ganz kurz besuchen, kann aber noch nichts sagen. Leben Sie wohl, Josef! Von Herzen alles Gute Ihr Ernst.24 24
Brief von Kantorowicz an Liegle, 27. August 1922. – „Ihren so erfreulichen Brief“: die Briefe Liegles an Kantorowicz sind nicht erhalten; „wieder zurückgesiedelt“: aus Würzburg (vgl. Postkarte Kantorowicz an Liegle, 30. Juli 1922 [Anm. 21]); „Bamberg“: vgl. Anm. 22; „E.M.“: vermutlich ist Ernst Morwitz gemeint; „Valentin Sob.“: Valentin Sobotka, der Bruder Fine von Kahlers (vgl. Aurnhammer / Braungart / Breuer / Oelmann, George-Handbuch [Anm. 3], Bd. 3, S. 1468ff.), heiratete am 5. August 1922 Franja Marschak (vgl. Pott, Briefwechsel [Anm. 7], Bd. 1, S. 579); „Beyerle“: oben schon erwähnt im Zusam-
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Uxkull schreibt am 6. September 1922 aus Berchtesgaden: Mein lieber Josef! Sie haben ausser einer mit Ek. gemeinsamen Karte nichts von mir gehört. Am 19. Juli habe ich mit dem gleichen Prädikat wie die andern ordentlichen und ausserordentlichen Mitglieder des Kreises promoviert, wobei die Prüfung eigentlich bei K. Meister am besten verlief. Seitdem war ich im Buhl-Zentrum der Saison Würzburg, wo man überhaupt von Buhlie zu Buhlie taumelte – natürlich war es sehr schön; denn wir müssen ja nun einmal b.....! Seit drei Wochen bin ich hier und lese Kallimachos – es wäre allerhand über ihn zu sagen, aber davon lieber ein andermal. Ihre Bucolici Graeci sind noch gut aufgehoben. Für den Winter stehen abwechselnd (etwa die Reihenfolge so): München Heidelberg Berlin auf der Plan-Liste und ich hoffe es wird so werden. Was machen Sie, lieber Flavius (φ« ), und was hören Sie von Bekannten? Schreiben Sie einmal. Von Percy erhielt ich aus Wien einige Zeilen, aus denen ich aber nichts über sein ‚Schicksal‘ ersehen konnte? Was macht der Plato? Ek. war einige Zeit in Heidelberg und ist im Begriffe nach München zu fahren. Herzlichst Ihr Woldi. Adresse bleibt so bis 15. Sept.25
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menhang mit dem Privatissimum bei von Domaszewski (vgl. Anm. 9), er war später Doktorand bei Salin (vgl. Liegle, Litterae Augustae [Anm. 3], S. 14); „ Rho“: offensichtlich eine komische Wortschöpfung (von nicht belegtem - – ‚dreifach rauschen‘) für ein mehrfach gerolltes R; „Berchtesgaden“: vgl. Uxkulls Brief an Liegle, 6. September 1922 (Anm. 25); „Haller“: der Historiker Johannes Haller (1865–1947). Brief von Uxkull an Liegle, 6. September 1922. – „einer mit Ek. gemeinsamen Karte“: vgl. Postkarte von Uxkull mit Kantorowicz, 30. Juli 1922 (Anm. 21); „promoviert“: das George-Handbuch (Anm. 3), Bd. 3, S. 1724, nennt als Datum der Promotion den 20. Juli 1922 (vgl. dort: „[…] wo er am 20. 7. 1922 bei dem Althistoriker Alfred von Domaszewski mit einer Dissertation über die KimonVita des Plutarch magna cum laude promoviert wurde.“); „K. Meister“: hier ist wohl gemeint, dass Uxkull auch eine Prüfung bei dem Heidelberger Altphilologen Karl Meister (1880–1963) abzulegen hatte; „Buhl-Zentrum“ + „von Buhlie zu Buhlie taumelte“: vgl. Anm. 18; „Flavius“: wohl eine Anspielung auf den Autor Flavius Josephus – ob sich Liegle zu dieser Zeit schon mit Flavius Josephus beschäftigte? Für das Jahr 1924 gibt es in einem Brief an Lux vom 30. Mai einen Beleg, dass er Flavius Josephus gelesen hatte. Später hat er auch einen Ausschnitt aus dessen ‚De bello Judaico‘ übersetzt (vgl. Liegle, Litterae Augustae [Anm. 3], S. 504–509); „φ« “: Wendung (wenn auch im Original in umgekehrter Reihenfolge: φ« – ‚in den Bergen aufgewachsener Löwe‘) aus Homerischen Gleichnissen (Il. 12.299 und 17.61, Od. 6.130 und 9.292) – wohl eine Anspielung auf Liegles neuen Wohnort in den Bergen des Schwarzwalds; „Percy“: Percy Gothein, vgl. George-Handbuch
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Am 29. Oktober 1922 schreibt Uxkull eine Postkarte aus München: L. J. Ob Sie meinen Brief aus Berchtesgaden erhalten haben weiss ich nicht, zumindestens haben Sie darauf nicht gezeichnet. Ich wäre sehr froh einmal von Ihnen und Ihrer Arbeit etwas zu wissen; man kommt sonst ganz ausser Kontakt. Nach Weihnachten fahre ich bestimmt einmal in den Schw-wald und da hoffe ich Sie zu sehen. Ich bin sehr fleissig und unsere Gebiete sind im Augenblick nicht so sehr weit auseinander, da ich die Zeit bis Weihnachten nutze um meine « $9
«-Arbeit umzuarbeiten und zu vollenden. Wenn es soweit ist, schicke ich Ihnen ein Exemplar (Schreibmaschine) und vielleicht können Sie noch etwas dazu sagen. Leben Sie herzl wohl Ihr Woldi.26
Am 15. November 1922 folgt eine weitere Postkarte Uxkulls aus München: Mein lieber Josef, nehmen Sie herzlichen Dank für Ihren Brief, auf den hin ich verzichte den W.’s eine « beizubringen. Ich hoffe sehr, dass meine Arbeit in 4–6 Wochen fertig ist und freue mich, wenn Sie Ihnen nützen könnte: dann hat sie einen wirklichen Zweck erfüllt. Wahrscheinlich wird es mir möglich sein sie Ihnen nach Weihnachten selbst vorzulesen, es wäre schön, wenn wir uns dann wiedersehen könnten. Schreiben Sie einmal wieder, wenn Sie Zeit dazu finden. Haben Sie dort auch den immer gleichen Höhennebel, der hier anfängt einen ganz missmutig zu machen und durch sein wochenlanges Nicht-Weichen stark deprimiert? Alles Liebe Ihr W.27
Am 14. Dezember 1922 kehrt Kantorowicz wieder einmal von Würzburg28 zurück und findet bei seiner Rückkunft in Heidelberg einen Brief Liegles vor. Er antwortet sogleich und schlägt Termine für ein mög-
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(Anm. 3), Bd. 3, S. 1387ff.; „Plato“: Liegle arbeitete zu dieser Zeit an seiner Dissertation mit dem Titel ‚Untersuchungen zu den platonischen Lebensformen‘; „Ek. war einige Zeit … nach München zu fahren.“: vgl. den Brief von Kantorowicz an Liegle, 27. August 1922 (Anm. 24). Postkarte von Uxkull an Liegle, 29. Oktober 1922. – „Brief aus Berchtesgaden“: vgl. Brief von Uxkull an Liegle, 6. September 1922 (Anm. 25); „meine « $9
«-Arbeit“: gemeint ist mit dieser Arbeit ‚Über den Urzustand‘ wohl eine Seminararbeit, die von Uxkull bei Boll geschrieben hatte, vgl. dazu Anm. 47; „vielleicht können Sie noch etwas dazu sagen“: zu Liegles Rolle als Kritiker vgl. Anm. 6. Postkarte von Uxkull an Liegle, 15. November 1922. – „den W.’s“: konnte nicht ermittelt werden; „ « “: ‚umfassende, grundlegende Bildung‘; „meine Arbeit“: vermutlich noch immer die Überarbeitung der Seminararbeit, von der Uxkull auch im vorigen Brief spricht, vgl. Anm. 26. Zu Kantorowicz’s Aufenthalten in Würzburg vgl. Anm. 16.
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liches Treffen auf der Durchreise Liegles zu seinen Geschwistern nach Gmünd vor: Liebster José! Ich komme eben aus Würzburg zurück und finde Ihren Brief vor. Also, zunächst vielen Dank und mein Programm: Ich muss am 18. XII. d.h. Montag nach Berlin, bin aber am 21. XII. sicher wieder zurück. Wie wäre es, Josef, wenn Sie auf dem Wege nach Gmünd am 22. XII. ganz heimlich im „Schutze der Dämmerung“ – um mit Frl. Plach zu sprechen! – doch nach Hdbg. kämen, bei mir übernachteten und dann am 23. oder 24. weiterfahren. Das braucht kein Mensch zu erfahren u. meiner Diskretion können Sie sicher sein, schon da ich „einschlägige“ Bekannte garnicht zu sehen bekomme. Eventuell ginge es auch am 21. XII. Diesen Sonntag geht es leider nicht und nach München komme ich auch nicht. Möglich wäre es freilich bei Ihrer Rückreise oder aber später nach Neujahr – ich käme dann nach Hinterzarten und liefe 2 Tage Ski! Es wäre aber schon sehr schön am 21. oder 22. – Sie müssen mir nur sofort auf einer offenen Postkarte Bescheid geben, ob es Ihnen recht ist, so dass mir Frl. Plach evtl. nach Berlin Nachricht geben kann. Ich möchte Sie schon sehr gern sehr bald sehen. Auch wegen meiner Arbeit, von der ich Ihnen Einzelnes vorlesen möchte – sie geht nämlich sehr gut voran –, und da Sie als homo incorrupte criticissimus mir massgebender sind als die meisten anderen, so wäre ich auch deswegen sehr froh Sie zu sehen. Also, Lieber, hoffentlich auf baldiges Wiedersehen, jedenfalls aber auf baldige Antwort. Herzlichst wie immer und mit allen guten Wünschen Ihr Ernst.29
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Brief von Kantorowicz an Liegle, 14. Dezember 1922. – „Ihren Brief“: die Briefe Liegles an Kantorowicz sind nicht erhalten; „auf dem Wege nach Gmünd“: Liegle verbrachte – anders als Kantorowicz annahm, der dachte, dass Liegle die Weihnachtstage bei seinen Geschwistern in Gmünd verbringen würde – den Heiligen Abend in Hinterzarten, fuhr dann nach München und Riederau und kam erst am Silvesterabend nach Gmünd; „ganz heimlich“: da Liegle nicht immer der Sinn danach stand, auf viele Bekannte zu treffen, verzichtete er manchmal auf Reisen nach Heidelberg bzw. reiste inkognito, vgl. z.B. einen Brief an Lise Salin vom 8. Januar 1923: „Dann fuhr ich (aber behalten Sies für sich) über Heidelberg besuchte einen Bekannten [gemeint ist Kantorowicz] gieng auch bei Nacht durch die Brunnengasse um wenigstens das Häuschen wiederzusehen.“ oder vgl. auch den Brief von Liegle an Lux, Januar 1923 (Anm. 30): „Schön darum weil ich niemandem begegnete“); „Frl. Plach“: sie scheint (vgl. die zweite Erwähnung am Ende dieses Briefes) die Vermieterin oder Zugehfrau von Kantorowicz gewesen zu sein; „da Sie als homo incorrupte criticissimus mir massgebender sind als die meisten anderen“: zu Liegles Rolle als kritischer Zuhörer vgl. Anm. 6 (vgl. zusätzlich Karlauf, Stefan George [Anm. 2], S. 551, der Wilhelm Stein als einen anderen prüfenden Leser der Kapitel des Friedrich-Buches nennt).
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Das geplante Treffen kam im alten Jahr nicht mehr zustande. Anfang Januar des Jahres 1923 verbrachte Liegle jedoch zwei Tage in Heidelberg bei Kantorowicz. Am 4. Januar 1923 notiert er in seinem Taschenkalender: „Personenzug nach Heidelberg. Ernst K. an der Bahn. Friedrich II und vielerlei. (der „Jüngling“ in Rom) die Tragiker. Freiheit“. Am 5. Januar macht er den Eintrag: „Den Oedipus gezeigt. … Abends im Café gewartet (Uxkull mit Schwester) Gundolf kurz (L. Bezold)“.30 Am 6. Januar fuhr Liegle dann mit Uxkull Richtung Hinterzarten.31 Uxkull scheint aber gleich weiter nach Bonndorf gefahren zu sein; denn er schreibt am 10. Januar 1923: Lieber Joseph, Leider ist es nicht möglich, dass ich Sie jetzt in Hinterzarten besuche, da die Automobilverbindung nach Bonndorf so schlecht sind [sic], dass ich die Reise an einem Tage hin und zurück nicht machen kann; Indessen hoffe ich, dass Ernst und ich im Februar auf einige Tage nach Hinterzarten kommen können. Fürs Erste werde ich nach Würzburg gehen und Ihnen dann meine Adresse schreiben. Herzlich Ihr Woldi32 30
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Lux gegenüber beschreibt Liegle die beiden Heidelberger Tage folgendermaßen (in einem nur ungefähr auf Anfang Januar 1923 datierten Brief): „Am Donnerstag reiste ich nach Heidelberg und verbrachte zwei anstrengende aber schöne Tage mit dem E.K. Anstrengend darum weil ich überschüttet wurde mit einem lang zurückgehaltenen Guss von tausend Gott= und Welt= ideen und =verknüpfungen und weil die Luft der Stadt wieder so weich und warm war (An den Bäumen hängen schon die Kätzchen). Schön darum weil ich niemandem begegnete ausser Georgs Grossvater [wohl Georg Pichts Großvater mütterlicherseits, Friedrich Curtius] mit Ernst Robert C. (der aber nach nichts aussieht und sogar etwas fett erscheint) und weil ich für so kurze Zeit auch an tollen Gesprächen Freude habe zumal wenn ein Mensch dabei so anständig und nicht ohne Geist ist. Ausserdem drehte sich fast alles um seine derzeitige Arbeit zu deren Fortschreiten und Stand ich Stellung nehmen sollte. […] Nur ein kurzes Stündchen war ich bei Gundolf (weil Lili Bezold da war –) und fand dass es ihm (seinem Aussehen nach) sehr schlecht geht auch war er nicht einmal munter und witzig. Bei E.K. sah ich auch den III. Band der Hoelderlin Werke und beschloss sofort ihn zu erwerben: nun habe ich einstweilen den von ihm mitbekommen und er kauft sich in Heidelberg einen neuen.“ Vgl. Liegles Eintrag im Taschenkalender am 6. Januar 1923: „Fahrt Hinterzarten Woldi.“ Brief von Uxkull an Liegle, 10. Januar 1923. – Dieser Brief ist maschinengeschrieben; in dem Satz „dass Ernst und ich im Februar“ ist „ichim“ versehentlich zusammengeschrieben, dies wurde hier korrigiert. „im Februar … nach Hinterzarten kommen“: vgl. dazu Anm. 37.
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Bei dem Januar-Treffen in Heidelberg sind – wie Liegles Einträge im Taschenkalender zeigen – die Themen zur Sprache gekommen, die Kantorowicz und Liegle zu dem Zeitpunkt am meisten beschäftigen. Für Kantorowicz ist es Friedrich II., für Liegle ist es seine Übersetzungstätigkeit,33 und für beide ist es die Frage nach dem ‚Jüngling‘.34 Diese Fragen wurden bald darauf brieflich noch vertieft. Liegle schrieb Kantorowicz am 15. Januar einen langen Brief über diese Dinge,35 der jedoch nicht erhalten ist. Wir haben nur noch die Antwort, die Kantorowicz am 9. Februar 1923 schrieb:
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Anfang Dezember 1922 hatte Liegle seine Übersetzung des ‚König Ödipus‘ von Sophokles beendet. Er ließ das Manuskript an Ernst Morwitz schicken (vgl. einen undatierten Brief Liegles an Lise Salin aus dem Dezember 1922), der es zunächst George überließ (vgl. einen Brief von Morwitz an Liegle vom 12. Januar 1923). – Zu Liegles weiteren Übersetzungsarbeiten vgl. Liegle, Litterae Augustae (Anm. 3), S. 19ff. sowie Kerkhecker, Josef Liegle (Anm. 1), S. 23. Ein knapper Hinweis auf diesen Gegenstand findet sich in einem Brief Liegles an seinen Bruder Theo von Anfang / Mitte Januar 1923: „Ich will Dir doch schreiben was fuer eine frage mich so sehr beschaeftigt: Du kennst vielleicht die stelle in Gundolfs Georgebuch [Friedrich Gundolf: George, Berlin 1920, S. 205] wo von dem bild des Schoenen Juenglings die rede ist und wo dies bild den Griechen und den Deutschen zu-, den Romanen aber abgesprochen wird. Der freund den ich besuchte [gemeint ist Kantorowicz] sprach es nun auch den Roemern ab und ich wurde sehr zum widerspruch gereizt: nun bin ich daran wenigstens fuer mich selber darueber mehr zu erfahren. Was meinst Du darueber?“ Vgl. seinen Brief an Lise Salin vom 16. Januar 1923: „Seit ich wieder zurueck bin lese ich fast nur mehr Roemer und finde es einen Jammer dass wir so wenig von ihnen wissen. Habe ich Ihnen vielleicht schon im lezten Brief erzaehlt dass ich jezt die Behauptung hoerte dieses Volk kenne nicht den „Juengling“: das Bild der in sich vollkommenen Jugend (wie die Griechen und die Deutschen). Sie werden zwar – fuerchte ich – erwidern Sie wissen es nicht aber es wuerde mich doch interessieren was Sie zu dieser Meinung sagen: mich hat sie ordentlich zum Widerstand herausgefordert. Aber das koennte auch daher kommen dass ich solche allgemeinen Saetze ueberhaupt nicht liebe.“ Im brieflichen Austausch mit Lise kommt Liegle zu dem Schluss, dass all dies in das Gebiet der römischen Religion fällt. Die genannten Briefe markieren den Beginn einer stärkeren Beschäftigung Liegles mit römischen Gegenständen, u.a. mit Fragen der römischen Religion. – Kantorowicz gibt dem zweiten Kapitel (S. 39–71) seines Buches ‚Kaiser Friedrich der Zweite‘, in dem er über den Aufenthalt des jungen Friedrich in Rom schreibt, den Titel „Puer Apuliae“. Im Taschenkalender notiert Liegle am 15. Januar 1923: „Nach tisch brief an Elsa und Ernst Kant.“
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Mein lieber Josef! Sie werden sicher ein wenig gekränkt sein, von mir auf Ihren langen Brief noch keine Antwort zu haben – aber! Nun, „unter uns“ brauchen wir doch nicht um Ausreden uns zu sorgen! Übrigens hatte ich angefangen auf Ihre Fragen oder Aussagen einzugehen – ich sah aber bald, dass ich dazu eigentlich eine Weltgeschichte schreiben müsste und so liess ich es lieber sein. Tatsache aber ist es, dass mich seither die „Jugend“-Frage und auch die „Kinderkreuzzugs-Angelegenheit“ nicht ganz zur Ruhe kommen lässt. Dabei ist das Zweite noch leichter: da ich für die Zeit und für die Ereignisse der Zeit den Kaiser als nehme und alles nur im Vergleich zu ihm sehen kann, so muss ich schon bei meiner Anschauung verharren: hier der bewusste klare Willen des Einzelnen, sogar des „Individuums“, dort ein empfundenes unirdisches Wollen im Massenrausch. Ich kann das mit so wenigen Worten nicht weiter präcisieren – aber empfinden Sie denn dieses Zweite als licht, hell – kurz: als „Sommertags“-zug? Subjektiv von den Kindern aus – ja, vielleicht; aber dann käme ich nicht weiter, sondern müsste mit Psychologie anfangen. Vor allem aber – die Bonzen inclusive Woldi hören’s ja nicht! – mache ich mir aus der „Wahrheit“ dieser Nebenerscheinungen (abgesehen von der selbstverständlichen Tatsachenwahrheit!) garnichts, wenn durch eine „ungerechte“ Schattierung die Person des Kaisers dafür desto wahrer wird. Und das ist hier – denke ich – der Fall. – Mit dem Einwand Herakles – Achill mögen Sie recht haben: es kommt dazu noch etwas anderes, nämlich dass Achill diese zwiefache Möglichkeit irgendwie als Schicksal von allem Anfang an mitbekommen hat und dieses Schicksal wiederum mit dem des Hektor seltsam verknüpft ist, so dass Achill ohne jene „Wahl“ nicht zu denken ist. In Herakles’ Dasein wird aber die Entscheidung erst „von aussen“ hereingetragen und Herakles liesse sich mit all seinen Taten auch ohne den „Scheideweg“ denken. Über den puer wage ich so in Kürze nichts zu sagen. Sie haben recht und ich habe recht. Hohe Zeiten haben ihn wohl fast immer, aber nicht alle Völker sehen in ihm das Sinnbild schönsten Menschtums und höchsten Adels (Seelenadels natürlich, im Sinne von Dante [am Rand erklärend hinzugefügt: „im convivio!“]: individuellen, nicht sozialen Adels. Darin liegt auch schon das was ich damals meinte!). Ihre Bemerkung über Kirchenrecht und römische Religion ist ausgezeichnet. – Indessen las ich viel den unerhört aktuellen Aristophanes und vor allem etwas, wovon ich keine Ahnung hatte: Attila, Alarich, Dietrich v. Bern, die Völkerwanderung. Die Quellen sind längst nicht so dürftig und tohuwabatisch wie ich dachte: im Gegenteil, für Attila z.B. glänzend. D. h. für „Personengeschichte“ sind sie gut, für „politische Geschichte“ schwach. Die Historiker sind ja auch noch Römer! – Der Hölderlin ist schon ersetzt, also machen Sie sich keine Sorge, Josef. – Mir geht es ganz gut, nur „zerzaselt“ mich die Zeit! Gibt es einen Krieg in absehbarerer Zukunft, Josef? Seien Sie innigst gegrüsst! Ihr Ernst.36 36
Brief von Kantorowicz an Liegle, 9. Februar 1923. – „Der Hölderlin ist schon ersetzt“: vgl. dazu Liegles Brief an Lux, Januar 1923 (Anm. 30).
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Bis zum Sommer gibt es keine Zeugnisse für eine Begegnung.37 Erst im Juli notiert Liegle während eines einwöchigen Aufenthalts in Heidelberg in seinem Taschenkalender zwei Besuche – am 29. und am 31. – bei Kantorowicz.38 Uxkull hat Liegle aber während seines Aufenthalts in Heidelberg verpasst;39 denn jener schreibt am 16. August 1923 von Heidelberg aus nach Nymphenburg, wo sich Liegle gerade bei Heyers aufhält: L E Es tat mir sehr leid Sie nicht hier getroffen zu haben . doch war ich gerade in jenen tagen verreist. ich hätte Sie sehr gern gesprochen . hoffe dies aber noch in München nachzuholen . wo ich ende Aug od Anfg Sept. durchkomme. Sind Sie um die zeit noch dort? Die Briefe sind besorgt. Alles Herzliche Ihr Woldi.40
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Die Pläne für einen Besuch in Hinterzarten, den Uxkull in seinem Gruß vom 10. Januar 1923 (Anm. 32) angedeutet hatte, scheinen zwischendurch noch einmal näher ins Auge gefasst worden zu sein. Denn Elsa Brinkmann, die Liegle ebenfalls besuchen, dabei aber Kantorowicz ausdrücklich nicht sehen wollte (Brief vom 27. Januar 1923), schreibt am 18. Februar 1923: „Es wäre einfacher und mir lieber gewesen Du hättest mir den Hauptgrund gegen mein Kommen mitgeteilt. Wenn Uxk. und Kant. ihren Besuch hinausschieben, könntest Du ihnen doch schreiben, dass es Dir erst späterhin wieder passt; sie sind ja an nichts für längere unabsehbare Zeit gebunden.“ Der Besuch der beiden Freunde scheint aber am Ende doch nicht zustande gekommen zu sein. Denn Liegle – der für den 4. März die Ankunft Elsas notiert – erwähnt ihren Besuch nicht, und Kantorowicz schreibt am 7. Mai 1924, dass er Liegle schon seit anderthalb Jahren nicht mehr gesehen habe (Anm. 43). Dabei vergisst er allerdings die Besuche Liegles in Heidelberg im Juli 1923. Am 4. August notiert Liegle: „Bei E. zu Mittag.“ Falls damit auch Kantorowicz gemeint ist, den er in den beiden anderen Einträgen mit „E.K.“ abkürzt, käme dies noch als dritte Begegnung hinzu. Liegle schreibt Uxkull aber am 31. Juli einen Brief, wie aus seinem Taschenkalender hervorgeht. Postkarte von Uxkull an Liegle, 16. August 1923. – „L E“: warum Uxkull die Karte, die an Liegle adressiert ist, mit ‚L[ieber] E‘ und nicht mit ‚L J‘ beginnt, ist nicht auszumachen. Es muss sich um ein Versehen handeln. Vielleicht hatte er gerade den gemeinsamen Freund Ernst Kantorowicz im Kopf?; „Sind Sie um die zeit noch dort?“: Liegle war in der Tat vom 20. August bis zum 11. September (mit einer kurzen Unterbrechung) in München. Ein Treffen mit Uxkull erwähnt Liegle jedoch weder im Taschenkalender noch in seiner Korrespondenz; „Die Briefe sind besorgt“: um welche Briefe es sich handelt, ist nicht bekannt.
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Wieder brechen die Zeugnisse für einige Monate ab. Vom 22. Februar bis 4. April 1924 ist Liegle mit Franco Bruno-Averardi in Rom und Neapel. Auch Kantorowicz reist im Frühling dieses Jahres durch Italien und nach Sizilien.41 So verfehlen sich die beiden in Heidelberg.42 Daher schreibt Kantorowicz am 7. Mai 1924 einen Brief, in dem er vor allem von seiner Reise berichtet: Liebster Josef! Wann kommen Sie das „dritte Mal“ hierher? – geben Sie mir doch jetzt schon Nachricht damit ich Sie dann nicht wieder verfehle. Ich habe schon Verfehlungen genug auf mir lasten. Es ist wirklich ein ausgesuchtes Pech und ich bin sehr unglücklich darüber, zumal ich Sie jetzt schon 1 1⁄2 Jahre nicht gesehen habe – eine lange Zeit! Im Herbst damals kam vieles Unvorhergesehene dazwischen, dann war ich lang in Berlin zum Arbeiten und im Frühjahr d.h. eben jetzt wie jeder gute Deutsche in Italien. Allerdings nur dem Namen nach in Italien, in Wirklichkeit teils in Griechenland, teils in Afrika, indem nämlich Süd-Italien u. Sizilien kaum noch italienisch sind. Es war eine Reise, von der ich nicht weiss wo zu erzählen ich anfangen sollte – bei dem Bacchantenzug des Museo Nazionale in Neapel oder den Metopen von Selinunt in Palermo, bei der Majestät des Castel del Monte oder der von Paestum, die in einem Atem zu nennen nicht so unziemend ist wie es scheint – – – man müsste über all dieses buhlen, buhlen, ja schon redupliziert: bububuhlen. Aber Ihnen selbst wird es ja ähnlich ergangen sein u. so wissen Sie wie bis zum Springen voll man gerade die ersten Tage nach der Rückkehr ist. Für mich war diese Reise eine „Studienreise“ wie keine zuvor, doch trotzdem ich nur auf meinen Arbeitswegen gehen wollte: es gelang mir nicht – und das Wertvollste was ich mitgebracht habe war nicht das was ich mir gedacht hatte, sondern war die Antike, war Paestum vor allem, Paestum und ein fast zufällig Geschautes in Ober-Italien, in den Marken, Loretto bei Ancona. Es sind dieses die beiden wirklich heiligen Regionen, jenes der Antiken, dieses die Landschaft der Renaissance. Doch ich mag darüber nicht in drei Worten schreiben. Ich hebe es mir für jenes Buhlen auf. Wann wird das sein, Josef? Pfingsten? Meine Arbeit liegt Jahre hinter mir & ich muss mich bemühen wieder hereinzukommen. Auch aus dieser möchte ich Ihnen so gern vorlesen. Doch dazu müssten Sie schon herkommen, da ich mich nur hier unter den zahllosen „Mappen“ auskenne. Ich glaube, Sie werden an vielem Spass haben. Sie haben ja keinen
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Auch wenn es aus dieser Zeit keine Briefe gibt, die auf diese Reise Bezug nehmen, hat Liegle dennoch – sei es über gemeinsame Freunde, sei es über Briefe, die nicht erhalten sind – Kenntnis von ihr. Denn er schreibt am 22. April 1924 an Lux, dass Kantorowicz gerade in Italien sei. – Zur Italienreise von Kantorowicz vgl. Karlauf, Stefan George (Anm. 2), S. 556–558. Liegle war um den 20. April 1924 in Heidelberg und reiste am 22. April weiter nach Frankfurt, vgl. seinen Brief an Lux vom 22. April 1924 (Anm. 41).
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unwesentlichen Anteil daran – oder haben Sie die Würzburger Gespräche vergessen? Ich nicht. – Also, José, ich sage Ihnen auf Wiedersehen u. zwar hoffentlich auf ein baldiges – wirklich, zu Pfingsten! Ja, einverstanden? Innigst Ihr EK.43
Ein Treffen zu Pfingsten hat Liegle offensichtlich gleich bestätigt; denn schon am 23. Mai 1924 schreibt Kantorowicz einen weiteren Gruß – den letzten, der im Nachlass Liegles erhalten ist: Liebster Josef! Dank für Ihren Brief, den ich gleich beantworten will. Das ist gescheit, dass Sie Pfingsten kommen können u. wohnen müssen Sie selbstverständlich bei mir – das ist ja mit das Wesentliche. Bloss ein „Haken“ (ohne †): ich bin wohl nicht vor Pfingstsamstag, resp. Pfingstfreitag Abend disponibel da ich aut[!] selbst Besuch bekomme aut[!] ein paar Tage fort bin, wohingegen ich für Pfingsten selbst alles abgelehnt hatte. Da Sie ja aber meistens mehrere „Plätze“ besuchen, so ginge es vielleicht, dass Sie die anderen erst erledigen & am Pf-Freitag Abend etwa hier landen. Oder geht das nicht? Bitte geben Sie mir Nachricht. – Sehr traurig bin ich über das, was Sie mir von Ihrem Bruder Theo schreiben. Ich hatte ja davon keine Ahnung. Hoffentlich tut ihm das warme Wetter jetzt gut. Aber darüber müssen Sie mir erzählen. Also, l. J., dann auf sehr baldiges Wiedersehen, auf das ich mich schon sehr freue – vor allem, einen „kritischen Hörer“ zu haben. Also – Innigst Ihr EK.44
Ab Pfingstsamstag, dem 7. Juni 1924, ist Liegle dann bei Kantorowicz. Am 12. Juni, seinem Geburtstag, schreibt Liegle an Lux aus Heidelberg: „zu nichts komme ich vor lauter Besuchen und Anhören von Arbeiten und nötigem und unnötigem Schwatzen und allem möglichen – […]
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Brief von Kantorowicz an Liegle, 7. Mai 1924. – „das ‚dritte Mal‘“: hat Kantorowicz das Sprichwort λ« – ‚aller guten Dinge sind drei‘ – im Kopf?; „schon 11⁄2 Jahre nicht gesehen habe“: vgl. dazu Anm. 37; „wie jeder gute Deutsche in Italien“: in dem Brief an Lux vom 22. April 1924 (Anm. 41) berichtet Liegle, dass auch Boll und Curtius in Italien seien; zu den Reisen der Georgeaner in diesem Frühjahr vgl. Karlauf, Stefan George (Anm. 2), S. 557; „buhlen“: vgl. dazu Anm. 18; „Würzburger Gespräche“: vgl. dazu Anm. 18 und Anm. 21. Brief von Kantorowicz an Liegle, 23. Mai 1924. – „Pf-Freitag Abend etwa hier landen“: aus einem Brief Liegles an Lux vom 12. Juni 1924 geht hervor, dass er am Pfingstsamstag bei Kantorowicz angekommen ist; „von Ihrem Bruder Theo“: Theo war seit Herbst 1923 sehr krank und hielt sich vom Oktober an für mehrere Monate in Hinterzarten auf, wo er gepflegt wurde. Ende Mai 1924 kam er dann in eine Heilanstalt in Bonndorf, wo er sich schließlich wieder erholte.
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Wohnen tu ich oben bei E.K. und wir tauschen italienische Erinnerungen: er war auch in Neapel.“ Zu dieser Zeit hat Liegle schon begonnen, sich mit einem Thema zu beschäftigen, das ihn dann für längere Zeit interessieren sollte: mit Augustus.45 In dem eben zitierten Brief an Lux schreibt er daher, dass ihn „jeden Morgen für eine Viertel- oder halbe Stunde Augustus“ in die Institutsbibliothek rufe. Und auch über dieses Thema hat Liegle mit Kantorowicz gesprochen oder vielmehr: er hat es ihm wenigstens angedeutet; denn auf offene Ohren stieß er damit nicht. Dies berichtet er Lux nach seiner Rückkehr nach Hinterzarten in einem Brief vom 21. Juni 1924: In Heidelberg hab ich viel entdeckt: Einen wunderbaren (den schönsten) Kopf des Divus, in Boston, unsagbar schön und erhaben und voll erhabener Trauer, des Herrschers. Die Verehrung des Staufers Friedrich II für ihn. Seine Goldmünzen (im ganzen Mittelalter einzigartig) sind nach einer Münze des Augustus (Heinrich VI nannte sich ganz nach ihm, sogar Octavianus). Duhn wie Domaszewski hatten das augusteische Urbild der Münze nicht gekannt und gegenüber E.K. (der sich – unter uns – damit beschäftigt) geäussert dass Münzen mit Adler nicht römisch (höchstens ptolemaeisch) seien. Obwohl ich meine Liebe ganz verschwieg musste ich dies und einiges sonst E.K. doch mitteilen aber die Ohren sind taub und vollgeschrieen von Caesar (Gundolf schreibt ein grosses Buch „Sein Ruhm“). Als ich sagte das christliche Zeitalter (so auch ich als Kind) höre zuerst den Namen Augustus aus der Bibel wurde ich verlacht und die Überraschung war gross über das vergessene Weihnachtsevangelium des Lukas. Doch mündlich mehr darüber.46
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Vgl. Kerkhecker, Josef Liegle (Anm. 1), S. 24 sowie Liegle, Litterae Augustae (Anm. 3), S. 48–60. Brief von Liegle an Lux, 21. Juni 1924. – „Kopf des Divus, in Boston“: es handelt sich wahrscheinlich um jenes Portrait, das Dietrich Boschung (Ders.: Die Bildnisse des Augustus, Berlin 1993) unter Nr. 80 in seinem Katalog vorstellt. Einen Abguss dieses Portraits besaß die Heidelberger Abguss-Sammlung bis 1913 nicht. Zwischen 1913 und 1924 gibt es zwar eine Lücke in der Dokumentation; da aber auch 1924 kein solcher Abguss in der Sammlung war, dürfte sich auch in der Zwischenzeit keiner dort befunden haben. Liegle kann diesen Kopf also nicht in der Abguss-Sammlung gesehen haben. Entweder hat er ihn an einem anderen Ort als Abguss gesehen, oder aber er spricht hier gar nicht von einem Abguss, sondern von einer Photographie, die er – wo auch immer – erstmals bei seinem Heidelberger Aufenthalt gesehen hat. – Für ihre Hilfe in diesen Fragen danke ich Frau Josy Luginbühl (Bern) und Herrn Dr. Hermann Pflug (Heidelberg); „Goldmünzen“: hierbei handelt es sich um die sogenannten Au-
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Aus späterer Zeit sind keine Briefe Uxkulls oder Kantorowicz’s mehr im Nachlass erhalten. Die Kontakte bestanden aber – wenn auch lose(r) oder eher aus der Entfernung – fort.47 Liegle und Kantorowicz haben sich noch hier und da gesehen.48 Schließlich finden sich in Liegles Nachlass auch Widmungsexemplare zweier Schriften Kantorowicz’s: zum einen ein Exemplar des zweiten Bandes des Buches ‚Kaiser Friedrich der Zweite‘ aus dem Jahr 1931 mit einer eingelegten gedruckten
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gustalen; „Münze des Augustus“: Heinrich Kowalski beschreibt in seinem Aufsatz über die Augustalen (Ders.: Die Augustalen Kaiser Friedrich II. In: Schweizerische numismatische Rundschau 55, 1976, S. 77–150, hier S. 89) drei Münzen aus augusteischer Zeit, die für die Bildsprache der Augustalen Kaiser Friedrich II. einflussreich gewesen sind. Ob Liegle wirklich nur eine von ihnen als Vorbild für die Goldmünzen vor Augen hatte, ist ungewiss. Wahrscheinlicher scheint, dass auch er an verschiedene Münzen aus augusteischer Zeit als Vorbild dachte. – Ich danke Markus Beyeler (Bern) für seine Auskünfte; „Duhn“: der Heidelberger Archäologe Friedrich von Duhn (1851–1930); „Gundolf schreibt ein grosses Buch“: 1924 veröffentlichte Gundolf das Buch ‚Caesar. Geschichte seines Ruhms‘. Im Dezember 1924 schreibt Lise Salin an Liegle, sie habe gehört, dass Uxkull sich sehr verändert habe, und fährt fort: „Bei Curtius habe er einen zweistündigen sehr interessanten Vortrag über England gehalten.“ Liegle antwortet darauf am (vermutlich) 29. Dezember: „Von Woldis Veränderung hörte ich gelegentlich, und jezt durch seine neueste Veröffentlichung über die griechischen Vorstellungen von der Urgeschichte (die erweiterte Seminararbeit bei Boll). Die aus diesem Büchlein oder vielmehr Heft erkennbare Metamorphose ist nun keinesfalls eine zu seinem Vorteil durchgemachte. Die Sprache ist unsäglich salopp leichtfertig schlecht auch schlecht: wissenschaftlich! Die Fragestellung oberflächlich wie die Methode; anmasslich gegen seine „Mitbrüder im Geiste“, bescheiden vor den Vertretern (den jetzigen!) der „alten Wissenschaft“ – Diese Kritik ist ungerecht streng und soll nur Ihnen gegenüber so geäussert werden weil Sie ihn kennen und mich schon verstehen werden. Wie ich ihm selbst eine Kritik ausdrücken soll ist mir eine schwere Frage, zumal er für seine nüchterne Wissenschaftlichkeit von mir Lob erwartet und sicher von andern schon genug geschmäht wird.“ – Eine Distanz Liegles gegenüber Uxkull – der auch sonst kritisch beurteilt wurde (vgl. George-Handbuch [Anm. 3], Bd. 3, S. 1725) – zeigt sich auch sonst hin und wieder in den Äußerungen Liegles, vgl. z.B. seine Korrespondenz mit Salin im Zusammenhang mit Uxkulls Auseinandersetzung mit von Domaszewski (Anm. 13). Auch in einem Brief aus dem August 1921 hatte Liegle Lux bereits von Meinungsverschiedenheiten mit dem ‚blonden Grafen‘ berichtet. Im September 1924 kam Liegle auf der Durchreise bei Kantorowicz vorbei; dies berichtet Kantorowicz in einem Brief an George vom 25. September 1924 (Mitteilung von R. E. L vom 26. März 2014).
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Karte „Übersandt vom Verfasser“, zum anderen ein Sonderdruck eines Artikels mit dem Titel „‚Mythenschau‘. Eine Erwiderung“.49 Darauf steht von Kantorowicz’s Hand: „Herzlichst v. Vf.“ In den folgenden Jahren, zumal in den Jahren des Krieges, haben sich Liegle und Kantorowicz jedoch aus den Augen verloren.50 Denn am 12. Januar 1947 schreibt Kantorowicz aus Berkeley an Salin: Haben Sie von Liegle, oder über ihn, indessen Nachricht erhalten? Ich weiss nur durch Küpper, dass er vermisst wird und zuletzt im Osten war. Seines ist wohl eines der seltsamsten Leben, das sich nie ganz aus etwas ihn verklammert haltendem gelöst hat, und dabei von einem inneren Reichtum, der kaum seinesgleichen hat. Seine wenigen Arbeiten stehen in garkeinem Verhältnis zu dem, was er zu sagen hatte. Auch seine Ehe schien ihn nicht gelockert zu haben. In den letzten Berliner Jahren habe ich ihn kaum mehr gesehen; und doch gehörte er zu meinem, wie noch mehr zu Ihrem, Dasein.51
Dies kommt – das mag Kantorowicz geahnt haben – einem Nachruf gleich; denn Liegle war am 25. April 1945 bei Halbe-Baruth in der Mark Brandenburg gefallen.52 II. The letters and postcards sent by Ernst Kantorowicz to Josef Liegle constitute some of Kantorowicz’s earliest known correspondence. All that precedes them are a set of letters sent by Kantorowicz to his parents during the First World War and a set exchanged between him and his lover Josefine (‚Fine‘) von Kahler that begins in May 1919 and ends in 1931. An extended correspondence between Kantorowicz and the Stefan George disciple Wilhelm Stein is more or less coextensive with the Kantorowicz-Liegle correspondence, but Kantorowicz’s postcards to Liegle of June and July 1922 slightly precede his first letter to Stein. Not surprisingly, then, the letters and postcards to Liegle are full of hitherto un-
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Erschienen ist der Artikel in der Historischen Zeitschrift 141, 1930, S. 457–471. Uxkull war schon tot; er starb am 24. Mai 1939 an den Folgen eines Autounfalls, vgl. George-Handbuch (Anm. 3), Bd. 3, S. 1724. Brief von Kantorowicz an Salin, 12. Januar 1947. – Der Brief liegt im Nachlass Edgar Salins in der Universitätsbibliothek Basel (Signatur: NL 114: C 34: 21). Liegle lebte seit Mai 1927 in Berlin; dort heiratete er 1931 Gertrud Weber (zu den Einzelheiten vgl. Liegle, Litterae Augustae [Anm. 3], S. 15–18). Vgl. dazu Liegle, Litterae Augustae (Anm. 3), S. 18.
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known aspects of Kantorowicz’s biography, as well as insights into the young man’s thought. We may begin with ‚Würzburg‘. Katharina Roettig observes that in the summers of 1921 and 1922 Würzburg appears to have been a meeting place of ‚Georgeaner‘ and this point may be enlarged upon. A published jotting by Wilhelm Stein indicates that in the summer of 1921 he, Friedrich Gundolf, Ernst Morwitz, and Woldemar von Uxkull were waiting in the Würzburg train station where they were having a lively discussion when Gundolf interrupted it to point out a young boy.53 Further light on what these men were doing in Würzburg is cast by a letter sent by Josef Liegle in September 1921 to Lucy Heyer Grote telling of how in the course of travelling from Munich to Heidelberg he stopped off in Würzburg and made his way to an inn on the outskirts of the city (‚Waldhaus‘) where he met Gundolf and Morwitz. Gundolf soon was obliged to leave for Berlin but Liegle, who then was meeting Morwitz for the first time, stayed on with Morwitz for discussions about Liegle’s dissertation and ‚Greek things‘. Ernst Kantorowicz too visited Würzburg in late September or October of 1921, although we have no indication of whom he met there.54 Mainly from the newly available correspondence we learn about Würzburg as a George-Kreis retreat in the summer of 1922. Possibly the young disciples met in the home of Robert Boehringer rather than the ‚Waldhaus‘, but that is uncertain.55 What we do know is that Kantorowicz was in Würzburg already in late June and stayed until early or midAugust.56 Liegle came for a week-end in late June and was followed by Uxkull, who travelled to Würzburg on 19 July soon after he passed his doctoral exams and stayed until the middle of August.57 A fourth George disciple who was in Würzburg in the summer of 1922 was Wilhelm Stein whose presence is indicated by a reminiscence of Kantorowicz in a 53
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See Wilhelm Stein: Aufzeichnungen über George, Aarau 1963, p. 2; Seekamp / Ockenden / Keilson, Zeittafel (note 10), p. 314 misread this passage to infer that George was also present. Kantorowicz to Josefine (‚Fine‘) von Kahler, 31 October 1921: StGA (note 10), Kahler III 6553. See K.R., above, notes 16 and 17. The correspondence shows that Kantorowicz was also in Würzburg in December 1922 but offers no further detail. Uxkull to Liegle, 6 September 1922 (note 25).
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letter to Stein of May 1924,58 and a fifth was Ernst Morwitz, as indicated by Kantorowicz referring to a recent discussion with him (‚E.M.‘) in his letter to Liegle of 27 August. Clearly there was much talk of literary concerns. In his letter to Liegle of August Kantorowicz indicated that he had discussed the manner in which he should be writing his planned biography and in his letter to Liegle of 7 May 1924 he alluded to their Würzburg discussions about his book. The letter to Stein expresses gratitude for all he had learned from him in Würzburg about ‚seeing‘. Woldemar Uxkull wrote jocularly to Liegle in September 1922 about the recent Würzburg ‚season‘ where one went reeling about from one discussion to another. I call attention to the ‚season‘ because it seems to have been a hitherto unknown engagement of members of the GeorgeKreis without the presence of the Meister. We see too that Kantorowicz’s presence was central. His American student, Ralph Giesey, once wrote to me that „it is a mistake, all too easy to make, to regard EKa as a member of the Kreis.“59 Giesey’s point was that Kantorowicz „always met George alone, not in a group.“ This is undeniable, but one can still say that Kantorowicz belonged to the Kreis when members sought out each other’s company in groups. ‚Würzburg‘ leads us to the date when Kantorowicz began to work on his biography of the Emperor Frederick II, probably the single most important item of information contained in the new evidence. Eckhart Grünewald tentatively accepted a recollection of Ludwig Thormaehlen that the date was 1924 and Grünewald has been followed in this by several scholars.60 But Thormaehlen was not in the Heidelberg world (he was in the George-Berlin world) and never had personal contacts with Kantorowicz. On instinctive grounds Thomas Karlauf proposed the date of 1923.61 The new evidence, however, fixes the date to 1922.62 In his 58 59 60
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Kantorowicz to Stein, 15 May 1924: StGA (note 10), Stein III 5279. Letter of 13 July 1999. Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George (note 8), p. 65, referring to Ludwig Thormaehlen: Erinnerungen an Stefan George, Hamburg 1962, p. 253. Grünewald is followed by Johannes Fried: Ernst H. Kantorowicz and Postwar Historiography. German and European Perspectives. In: Robert L. Benson / Johannes Fried (Eds.): Ernst Kantorowicz, Stuttgart 1997, p. 180–201, here p. 185, note 19, and Janus Gudian: Ernst Kantorowicz. Der ‚ganze Mensch‘ und die Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 2014, p. 59. Karlauf, Stefan George (note 2), p. 549.
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letter from Heidelberg to Liegle of 27 August 1922 Kantorowicz wrote that he now was „working further“.63 There can be no doubt that the work was on the biography because he refers to having recognized during the summer that Franconia and Swabia comprised the real imperial ‚kaiserlich‘ Germany that applied to Frederick II. He wondered whether he really could bring off the work he planned and whether he was the right person to do it. He thought that the answer was ‚yes‘ but was seized by fear about the enormous task, especially when he saw how he could be drowned by relevant new material streaming in from all sides. Signalling that he was going ahead „whether he wanted to or not“, he used language suggestive of being called by a higher power: „it would be treachery to work on something only for pleasure and auto-impregnation ‚Selbstbegattung‘, and I would have a bad conscience forever.“64 From this we can conclude that he had taken a break from his work on the biography during the summer of 1922 but had not yet advanced very far. Consequently, the decision to start the biography must have been made in the winter or spring. Assuming that Ernst Morwitz’s later statement that „it was the poet who urged that [Frederick’s] history be newly written“65 is trustworthy, it is useful to know that Stefan George was in Heidelberg in April and May.66 Even if it was ‚the poet‘ who was the motive force behind Kantorowicz’s decision to write the biography, the letter of 27 August 1922 indicates that at that time he was thinking of doing it within an academic 62
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Fried, Ernst H. Kantorowicz (note 60), p. 185 shows that Kantorowicz already purchased the two nineteenth-century ‚Jahrbücher‘ for the reign of Frederick II and one on the struggle in Frederick’s youth between Philip of Swabia and Otto IV in 1921. Thus the subject apparently was already on his mind. But more indicative of his having gotten started on the biography is his purchase of Franz Kampers’ ‚Die Deutsche Kaiseridee in Prophetie und Sage‘ in 1922. (The evidence for these purchases comes from dates inscribed on books from his personal library that are now in the collection of the Institute for Advanced Study, Princeton.) Kantorowicz to Liegle, 27 August 1922 (note 24). Here and throughout I refer to the editions of the letters and associated material in the foregoing presentation by K.R. Kantorowicz to Liegle, 27 August 1922 (note 24). Ernst Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, Düsseldorf 1960, p. 230. See Seekamp / Ockenden / Keilson, Zeittafel (note 10), p. 328–329. Ibid., p. 328–329.
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context as a Habilitationsschrift. (He had received a doctorate in 1921.) The basis for this insight is his statement „Ob ich nach Tübingen gehe ist fraglich, obwohl mir Haller gut gefällt. Sein Gebiet ist ein ganz anderes!“67 This remark is supplemented by a similar one in a letter he sent to Wilhelm Stein the day before in which he wrote: „Mit Haller habe ich mich ausserordentlich gut (!) verstanden. Trotzdem ist es noch nicht sicher, ob ich zu ihm gehen werde, da mein Gebiet ihm leider ganz fern liegt.“68 The ‚Haller‘ in question was Johannes Haller, one of Germany’s foremost senior medieval historians. Obviously ‚going to him‘ at this point meant choosing him as a Habilitation’s overseer. And the point is driven home by the remark that Haller’s field was ‚entirely different‘, for his field was late-medieval Church history, whereas Kantorowicz was planning a biography of a thirteenth-century Emperor. In the event Kantorowicz did not choose to habilitate under Haller, and after conferring with Carl Heinrich Becker in Berlin on the subject in September abandoned it.69 Apparently he was torn between pursuing an academic career according to which he would have to obey certain rules of scholarly presentation or striking out on his own by writing a book that defied those rules and proceeded in the mode of a Stefan-Georgestyle ‚hero book‘. As can be seen, given his utmost devotion to the Meister and the Meister’s ideals, he took the latter course. Some information about Kantorowicz’s financial situation at this point is not out of order. His income derived from the Kantorowicz liquor firm, located before the war in Posen. But a forced sale of the Posen factory to Polish buyers in November 1920 appeared to constitute a disaster.70 He described the terms in a letter to Fine von Kahler of 4 January 1921: the sum, however large, was in Polish currency that at the time was nearly valueless, and at any rate the currency could not be exported; thus he was financially strapped.71 Yet the situation was turned 67 68 69
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Kantorowicz to Liegle, 27 August 1922 (note 24). Kantorowicz to Stein, 26 August 1922. – StGA (note 10), III 5276. Kantorowicz to C. H. Becker, 16 September 1922. – Becker papers: Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preussischer Kulturbesitz, Mappe 5599. Stanisław Nawrocki: Die Geschichte der Familie Kantorowicz und deren Firma. In: Jerzy Strzelczyk (Ed.): Ernst Kantorowicz [1895–1963]. Soziales Milieu und Wissenschaftliche Relevanz, Poznan´ 1996, p. 75–90, here p. 88. Kantorowicz to Josefine (‚Fine‘) von Kahler, 4 January 1921. – StGA (note 10), Kahler III 6539.
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around, owing to the business talents of his cousin Franz. The new Polish owners used the valuable name ‚Hartwig Kantorowicz‘, and their factory continued to produce liquors – now also vodka – from 1920 until 1939. But Franz directed a German ‚Hartwig Kantorowicz‘ firm with a new factory and the old Berlin administrative office and retail outlets.72 The financial report for the German company for the fiscal year 1920–1921 indicated that it prospered to the extent of being able to grant a 30 % dividend.73 In 1922 the firm commissioned a charming animated cartoon, ‚The Miracle‘, to be played in movie theaters, showing two men having an argument until a bottle of liquor miraculously appears; golden liquid then flows down their throats; they smile and make up; then a caption appears: „Kantorowicz: Famed Throughout the World.“74 Kantorowicz’s retrieved wealth explains why he was able to put aside the goal of an academic career in favor of living independently, and it helps illuminate two details in Liegle’s letters to Lucy Heyer Grote (Lux) that reveal Kantorowicz’s financial generosity. The first comes from a letter of 27 June 1922 in which Liegle reports that „N“ (meaning Kantorowicz) had without announcement sent him a money transfer that was „unexpected medication for my relevant troubles (between us): otherwise I would have had to look a financial collapse bravely in the eye“.75 Particularly touching is the incident concerning volume three of Hölderlin’s works (the philosophical papers), published in 1922. As Liegle wrote to Lucy in January 1923, he saw the book in Kantorowicz’s library and resolved to buy it. But Kantorowicz told him he could take it „for the time being“ and he would buy himself another. ‚For the time being‘, however, was just a formula to avoid embarrassment, for Kantorowicz was not expecting to have it back: in February he wrote to Liegle, „the Hölderlin is already replaced so give no thought to it, Josef.“76 To return now to Kantorowicz’s consideration of habilitating under Johannes Haller, that leads us to the subject of the young man’s politics. 72 73
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75 76
Interview with Vera Peters (daughter of Franz Kantorowicz), 29 July 1991. Deutsche Allgemeine Zeitung (Berlin), Weltwirtschaft, 25 January 1922; Industrie und Handelszeitung (Berlin), 25 January 1922. Walther Ruttman: Das Wunder. In: Ders.: Berlin, die Sinfonie der Großstadt & Melodie der Welt (Edition Filmmuseum 39, 2013). I thank Jost Philipp Klenner for calling my attention to this animated cartoon. Liegle to Lux, 27 June 1922 (note 20). Kantorowicz to Liegle, 9 February 1923 (note 36).
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There were any number of prominent senior medieval historians to whom he might have ‚gone to‘. Surely the most obvious would have been the medievalist at Heidelberg, right where he was living, Karl Hampe. So why did he think of Haller? The answer is clear. Haller at the time was the most outspoken German revanchist who concurrently worked in the medieval field. His view of the French in particular was extraordinarily hostile. As Heribert Müller has summed up his position: „He wanted to expose, to rip the mask off, the sly-deceitful-cunning and also power-thirsty Frenchman, whose opposite number was the upright-genuine, freedom- and truth-loving German.“77 In the very year 1922 Haller referred to pre-war Germany in the preface to his ‚Die Aera Bülow‘ as „the best and strongest of all states“ and in 1923 he wrote in the preface to the first edition of his subsequently best-selling ‚Epochen der deutschen Geschichte‘ that he hoped the book would strengthen Germans in the misery of the present, which is why he gave it the subtitle ‚The Day Will Come!‘78 Here was a man with whom Kantorowicz could feel very comfortable from the political point of view. As he wrote to Wilhelm Stein, when he and Haller met in August 1922 they understood each other extremely well. (He used an exclamation point for emphasis.) Kantorowicz’s own politics, at least vis-à-vis the French, emerge very clearly in his letter to Liegle of 27 August 1922. (He wrote similarly to Stein the day before but the vehemence of his letter to Liegle is stronger.) One’s breath is taken away by the ferocity. In English translation the passage runs: The occupied territory is so depressing, especially during the current „final sales“ that draw French, Belgian [and] Dutch vulgar-bourgeois-bluebottles in the myriads. I was happy to flee to my nook, away from everything revolting, 77
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Heribert Müller: Der bewunderte Erbfeind – Johannes Haller, Frankreich und das französische Mittelalter. In: Historische Zeitschrift 252, 1991, p. 265–317, here p. 276: „Den durchtrieben-hinterhältig-raffinierten und auch herrschsüchtigen Franzosen, ihn gilt es zu entlarven, ihm eben die Maske vom Gesicht zu reissen. Sein Gegenstück hat dieser Charakter übrigens im aufrecht-echten, freiheits- und wahrheitsliebenden Deutschen.“ Johannes Haller: Die Aera Bülow, Stuttgart 1922, p. v; passage from ‚Die Epochen der deutschen Geschichte‘ cited by Heribert Müller: ‚Eine gewisse angewiderte Bewunderung‘: Johannes Haller und der Nazionalsozialismus. In: Wolfram Pyta / Ludwig Richter (Eds.): Gestaltungskraft des Politischen: Festschrift für Eberhard Kolb, Berlin 1998, p. 443–482, here p. 444.
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where one is spared from the foolish or nauseating grotesqueness of the colored and colorless French. It is very indicative that the French induce complete physical nausea because of their sordidiness and the faces that reveal the infection they carry; one never sees this among the English, Americans, or even the Italians. No no, there is no longer any bridge, never, and only a single ceterum censeo, namely Franciam esse delendam [France must be destroyed]. Every German policy today that does not base itself in the last analysis on the destruction of France is reprehensible.79
So far as can be told, this visceral hatred of the French did not come from Kantorowicz’s war-time experiences on the western front. During the years from 1914 until 1916 he was in the thick of fighting on the Meuse; in 1916 he was wounded during the horrendous battle of Verdun. But the numerous letters he sent home to his parents communicate only a hard-bitten sense of duty without any opinion of the enemy – whom at any rate he never actually saw. As for rest days, he customarily went to Metz, where he probably consorted mostly with Germans. Between August and October of 1918 the situation was different. In late August Kantorowicz was left to fend for himself for a few days in the northeastern city of St. Quentin as a result of a bureaucratic mistake and wrote home that the city was „the picture of the most horrible devastation […] no house that is to any extent inhabitable, only here and there a patched up room.“80 Then, after staying for a month in Guise with a German unit (his duties were to decode and translate enemy telegraph messages), the rapid collapse of the front forced a hurried evacuation which brought him to Dorengt, a village twenty kilometers to the east. There, having taken sick with dysentery, he stayed in a commandeered room in a house owned by a woman in the village. He wrote to his parents that this woman was „wonderful“. She cooked soup for him, made him chamomile tea and waffles, and put a hot brick in his bed to keep him warm. In short, she tended to him „like a mother“.81 Nothing precludes the possibility that Kantorowicz confronted French people whom he did not like in 1918, but the words about the surrogate mother indicate that he was not blinded by hatred for the entire nation 79 80
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Kantorowicz to Liegle, 27 August 1922 (note 24). Kantorowicz to parents, 22 August 1918. – The war-time letters are in the possession of Mrs. Ariane Phillips who graciously made copies of them available to me. Kantorowicz to parents, 8 October 1918.
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as he was four years later. (The less said about his racist reference to the French colonial African troops the better.) Evidently it was the ‚shame of Versailles‘ and doubtless incidents in the occupied Rhineland that moved him to his extreme view that German policy had to be aimed at the destruction of France. We know that Kantorowicz’s nationalism remained extreme throughout the duration of the Weimar Republic; he is said to have remarked that „right of me is only the wall.“ But his biography of Frederick II does take a mixed view of the French. On the one hand King Louis IX is described as having an „unbeirrbare Rechtlichkeit […] seine einfache Demut und Ehrfurcht machte ihn zum Heiligen“, whereas Charles of Anjou is portrayed as an unmitigated villain: „Das unerhörte des Anjou: einen im Kriege gefangenen König auf dem Schafott enthaupten zu lassen […] ist bekannt. Auf dem Markt von Neapel vor der sich drängenden Menge, die noch nie eines Königs Enthauptung gesehen, ließ der Franzose das Todesurteil in seiner Gegenwart vollstrecken.“82 The letter to Liegle of 27 August reflects one point of view that remained constant until Kantorowicz turned away from his nationalism with the triumph of Hitler: the position of „knightly“ Franconia and Swabia as the center of all that was „fruitful and meaningful“ in German culture. As he phrased the matter memorably in the letter, the choice should not be „Potsdam or Weimar“ (Prussianism or Liberalism) but rather „Bamberg“. In this spirit he and Uxkull sent Liegle in the summer a postcard displaying the ‚Bamberger Reiter‘. The same sculpture then took its place in ‚Kaiser Friedrich der Zweite‘: „[…] daß sich in Werken wie dem ‚Reiter‘ – dem von Bamberg, aber auch von Magdeburg – zum einzigsten Mal dem Auge im gemeißelten Stein, noch nicht in Lied oder Wort, jene Möglichkeit offenbart eines zugleich weltweiten und dennoch deutschen Wesens.“83 Even as late as 1935, in a radio talk, ‚Deutsches Papsttum‘, Kantorowicz idealized the cathedral of Bamberg as the image of all that was worthwhile in Germany: „das Delphi der wenigen Deutschen, die um Apollon wissen.“84
82 83 84
Ernst Kantorowicz: Kaiser Friedrich der Zweite, Berlin 1927, p. 520 and p. 620. Kantorowicz, Kaiser Friedrich (note 82), p. 77. Ernst Kantorowicz: Deutsches Papsttum. In: Castrum peregrini 7, 1953, p. 7–24, here p. 7.
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The letter, finally, points to a crucial decision regarding the style of the biography. Given that Kantorowicz was considering the notion of habilitating, it obviously was necessary to decide whether he still would defy academic convention by choosing to write in a highflown, rhetorical style. This explains his reference to „the manner of representation“ (Art der Darstellung) about which he remained entirely in agreement with Liegle’s point of view, implicitly supported in Würzburg by Morwitz. As he wrote, „it is presumably the only [style] possible for us“.85 By ‚us‘ he obviously meant the George set, and as we know he lived up to this by writing in a way that gave George „hot and cold flashes“.86 Another adumbration of what resulted in ‚Kaiser Friedrich der Zweite‘ is a passage in the letter to Liegle of 9 February 1923 in which Kantorowicz gives expression to his suspicion of calls for truth, placing the word truth (Wahrheit) in distancing quotation marks. For him real truth was different from the „obvious truth of events“ (selbstverständliche Tatsachenwahrheit), rather „an ‚unfair‘ shading of the person of the Emperor can be the most true“ (eine ‚ungerechte‘ Schattierung die Person des Kaisers dafür desto wahrer wird).87 Thus we can see that even in the early phases of writing the author was committing himself to the subjective, anti-positivist method which provoked the ‚Mythenschau‘ controversy soon after his book appeared. The rhetorical style that Kantorowicz chose gave sense to the Georgeschool practice of reading aloud. We see from his letter of 14 December 1922 that he wished Liegle could come visit him, not only because he would like to see him but because he wanted to read to him passages from his work in progress. (Sending a manuscript would not do.) Again in May 1924 Kantorowicz wrote twice that he hoped Liegle would come to see him so that he could read aloud; in the second instance he termed his friend a „critical listener“ just as most of us today would refer to a ‚critical reader‘. But when the two of them met time was by no means exclusively spent in recitation. An entry in Liegle’s diary for 4 January 1923 and Kantorowicz’s letter to him of 9 February 1923 indicate that during two days in Heidelberg the two discussed interrelated concerns 85 86
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Kantorowicz to Liegle, 27 August 1922 (note 24). Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf 1963, p. 174: „Wie in Friedrich dem Zweiten der Untergang der Staufen geschildert ist, da wird’s einem heiss und kalt bei der Lektüre.“ Kantorowicz to Liegle, 9 February 1923 (note 36).
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about the ancient concept of the idealized ‚youth‘ (der Jüngling). Liegle afterwards felt exhausted because he was „showered with a long-heldback flow of a thousand God- and world-ideas and connections“, yet he took delight in these „terrific conversations“.88 This may be the first reference to Kantorowicz as a stunning conversation partner, but it is certainly not the last. Kantorowicz’s brief account of his trip to southern Italy in April 1924, written on his return to Heidelberg on 7 May, communicates the point that he went to see objects that would help him enrich his biography of a medieval ruler but instead was overwhelmed by enthusiasm for the monuments of ancient Greece.89 This enthusiasm would never leave him. In the summer of 1953 he was able to visit Greece itself and his passion matched that of three decades before. The Jewish Kantorowicz then wrote that Greece was his „patria“.90 Greece outranked Italy: „How can you enjoy ‚panels‘ when you can see things in three dimensions? Everything in Italy seems thin and derivative compared to Greece.“91 One of Stefan George’s poems had exalted those who carried a banner with the words „Hellas our eternal love!“ (Hellas ewig unsre liebe!).92 From 1924 until his death Kantorowicz was one of this number. His publications were about the Middle Ages, but he was a medievalist whose emotional commitment lay elsewhere.
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Liegle to Lux, January 1923 (note 30). See Kantorowicz to Liegle, 7 May 1924 (note 43). He writes more expansively about his trip to southern Italy, but with the same major points, in his letter to Wilhelm Stein of 15 May 1924 (note 58). Kantorowicz to Ralph Giesey, 7 June 1953. – www.regiesey.com/Ekaica (accessed 31 July 2014). Kantorowicz to Elise Peters, 11 July 1953. – Lerner archive. Stefan George: Gesamt-Ausgabe der Werke. Endgültige Fassung, Berlin 1927ff. Vol. 5: Der Teppich des Lebens, Prelude: Poem VII, p. 18.
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Kai Kauffmann: Stefan George. Eine Biographie. Göttingen: Wallstein 2014, 251 S., 41 Abb.
Kai Kauffmann hat im 2012 erschienenen Handbuch ‚Stefan George und sein Kreis‘ die „Biographische Skizze“ über den Meister verfasst.1 Daraus ist nun eine veritable Biographie geworden. Erfreulicherweise ließ Kauffmann sich nicht verlocken, dem größeren Raum einen unbestreitbaren Vorteil seines Lebensabrisses zu opfern: die von George so geschätzte Kürze („die kürze – rein ellenmässig – die kürze“2). Auf gerade einmal 250 Seiten stellt er Leben und Werk dar, kompakt, verständlich, in übersichtlicher Gliederung. Biographische und werkanalytische Kapitel wechseln einander ab, wobei Kauffmann einleitend betont, sich des Prekären dieser Trennung bewusst zu sein und besonders für die Zeit nach der eigentlichen Kreisbildung noch größeres Gewicht auf die „Verknüpfungen“ gelegt zu haben. Wo Dichtung das Leben einer nationalen Geisteselite formen soll, eines Bundes Auserwählter, der sich wiederum an der mythisch erhöhten Gestalt und Lebensführung des Dichters orientiert, verschmelzen Leben und Werk zu jenem ästhetico-pragmatischen Konglomerat, das die Besonderheit des Phänomens ‚George‘ in der deutschen Kulturgeschichte ausmacht. Kauffmann gelingt es – so viel lässt sich vorab sagen –, im zweiten Teil seines Buchs die Rolle der Dichtung bei der ästhetischen Lebensformung im George-‚Staat‘ verständlich zu machen. Ebenso plausibel ist es, wenn er im ersten Teil (S. 13–110), der die Zeit vor der Jahrhundertwende abdeckt, in eher traditionell-biographischer Manier den „Seelenkonflikten und Lebensentwürfen“ Georges nachgeht, die sich im Werk niedergeschlagen haben 1
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Kai Kauffmann: Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze. In: Achim Aurnhammer / Wolfgang Braungart / Stefan Breuer / Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Bd. 1, in Zusammenarbeit mit Kai Kauffmann, Berlin – Boston 2012, S. 7–94. Stefan George: Blätter für die Kunst. 2. Folge, 2, S. 34.
DOI 10.1515/george-2016/2017-0020
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(dies ausdrücklich gegen die Vermutung, bei George lasse sich nichts Authentisches finden, alles sei Rollenspiel oder Reklamestrategie dieses zur permanenten Selbstinszenierung verdammten Autors; vgl. S. 10f.). Überall greifbar ist das Bemühen um Ausgewogenheit. Kauffmann will „verfestigte Bilder und Deutungen auf den Prüfstand stellen“ (ebd.). Damit ist, wie schnell klar wird, nicht das ohnehin verblasste George-Bild der kreisnahen Hagiographen des 20. Jahrhunderts gemeint. Es geht vielmehr um die sehr viel jüngeren Bilder, die Kauffmanns Vorgänger im 21. Jahrhundert in Umlauf gebracht haben: Robert Norton (2002) und Thomas Karlauf (2007),3 die Verfasser der ersten ‚außerkreislichen‘ George-Biographien überhaupt (beide Bücher sind mindestens dreimal so dick wie dasjenige Kauffmanns). Auf Nortons Abrechnung – so muss man es wohl nennen – mit dem Präfaschisten und Päderasten George geht Kauffmann nur beiläufig ein, erwartungsgemäß kritisch gegenüber Nortons umstandsloser Gleichsetzung von Rollenlyrik mit Meinungsäußerungen des Autors. Karlauf hingegen ist durch das ganze Buch hindurch präsent. An der äußerst erfolgreichen Biographie bemängelt Kauffmann einen Hang zur Literarisierung (Karlaufs Methode sei das kunstvolle „Arrangieren von suggestiven Szenen“ aus Georges Leben; S. 10), der zu Verzeichnungen führe. Der Wille, hier einiges geradezurücken, war offenbar ein nicht unwesentlicher Impuls bei der Abfassung der neuen Lebensbeschreibung. Die Abgrenzung gegenüber Karlauf wirkt bisweilen überanstrengt, bedenkt man, dass Kauffmann letztlich keine so andere Geschichte erzählt – und angesichts des Quellenmaterials auch nicht erzählen kann –, als sein Vorgänger. Es gibt Differenzen in eher unwichtigen Details (war die Schwester Anna für George, wie Karlauf unterstellt, bloß eine willfährige Dienstmagd?); es gibt eine grundlegende Differenz im Tonfall: Kauffmann vermeidet konsequent jene Ridikülisierung der Posen des Meisters und der Servilitäten seiner Jünger, die sich bei diesem Gegenstand – Stichwort: ‚vom Erhabenen zum Lächerlichen …‘ – beinahe aufdrängt. Geht es um brisantere Streitpunkte, fragt man sich manchmal, ob der Widerspruch nötig war. So rügt Kauffmann Karlaufs These, George sei vor allem deswegen gegen den Ersten Weltkrieg gewesen, 3
Vgl. Robert Norton: Secret Germany. Stefan George and His Circle, Ithaca – London 2002; Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charismas, München 2007.
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weil die deutsche Jugend, die er zu rekrutieren gedachte, nun vom wirklichen Staat auf den Schlachtfeldern verheizt wurde. Aber auf die von Kauffmann dagegen ins Feld geführte Aversion Georges gegen „den Materialismus des modernen Kriegs“ geht selbstverständlich auch Karlauf ein (anhand der bekannten Verse über „unform von blei und blech · gestäng und rohr“ aus ‚Der Krieg‘). Im nächsten Schritt konzediert Kauffmann dann doch, „dass George sich nicht besonders für den Krieg interessierte“ (S. 157) und beschreibt eindrucksvoll die Verlustängste des Meisters und seine zunehmende Unfähigkeit, allein zu sein. Bei genauerem Hinsehen handelt es sich um Unterschiede in der Akzentuierung, nicht der generellen Einschätzung. Der heikelste Punkt bleibt die Gewichtung von Georges Homosexualität. Dass George schwul war, wird kaum jemand mehr ernsthaft bestreiten, dass seine Dichtung über weite Strecken eine Beschwörung schöner männlicher Leiber ist, ebenso wenig. Warum dann aber immer noch in einer seltsam gewundenen Rhetorik darüber reden, als gälte es, ihn vor Anrüchigem in Schutz zu nehmen? „Wenn, was wahrscheinlich ist, George homoerotische Neigungen hatte, wenn er sogar, und warum eigentlich nicht, junge Männer begehrte und liebte, dann hat er diese Affekte gezielt ins Medium der Dichtung, aber auch in (andere) Formen der Freundschaft überführt, also sublimiert.“ (S. 27) Ja, warum eigentlich nicht? Gewiss kann man geteilter Meinung sein über manche wie aus dem Schlafzimmer verlautbarten Feststellungen Karlaufs („im Herbst 1910 […] wurden George und Morwitz intim“ u. a.m.). Einen eindeutigen Beleg für ausgelebte Homosexualität gibt es bisher nicht, da hat Kauffmann Recht. Aber muss man deshalb weiterhin die „angebliche Veranlagung Georges zur Homosexualität“ bemühen (S. 116, Herv. M.K.), darf man in Bezug auf die George-Hofmannsthal-Affäre vom Winter 1892 allenfalls einen „homerotischen Subtext“ zulassen? Entscheidend, so Kauffmann, sei eine „Ähnlichkeit ihrer Seelenwelt“ und die „Verwandtschaft ihrer Dichtungskonzepte“ gewesen (S. 54). Die altfränkische Sprache, die der ansonsten sichere Stilist Kauffmann hier anschlägt, spricht Bände. Nicht minder suggestiv, als Karlauf die InbrunstStellen bei George als Hinweis auf die Erfüllung des Begehrens liest, deutet Kauffmann die Verzicht-Stellen als Beleg für dessen anhaltende Sublimierung. Wer jetzt einwendet, es handle sich bei dieser Diskussion um eine biographistische Verirrung, die Frage, ob George seine Liebe praktiziert
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habe oder nicht, sei für das Verständnis des Werks irrelevant, macht es sich zu leicht. Dergleichen geht, wie eine rezeptionsästhetisch aufgeklärte Literaturwissenschaft weiß, in den Erwartungs- und Verständnishorizont des Lesers ein und bestimmt auf diese Weise durchaus die ‚Gestalt‘ des Gedichts. Auch das andere Argument, so etwas wie eine ‚schwule Poesie‘ gäbe es ohnehin nicht, ist zu kurz gegriffen. Der trotzige Gestus von Georges Gedichten, seiner Sprache überhaupt, ist so deutlich durch die Erfahrungen eines homosexuellen Außenseiters geprägt, dass Karlaufs Formel von „der Geburt der Poesie aus dem Geist der Homoerotik“ zweifellos ihre Berechtigung hat. Die durch Karlaufs Biographie in eine breite Öffentlichkeit getragene Diskussion wird die George-Forschung noch geraume Zeit beschäftigen. Gerade Kauffmann zeigt für den frühen, angeblich so ‚ästhetizistischen‘ George, in welchem Maß diese Dichtung „sich aus affektiven Energien speist“ (S. 37). Vorzüglich seine Interpretation des Initialgedichts ‚Weihe‘ mit seiner merkwürdigen Schlussstrophe, in der der herbeikommandierten Muse vom schützend-stützenden „Finger“ des Ich der traditionelle Inspirationskuss verwehrt wird. George riskiert, so Kauffmann, um des emotionalen Ausdrucks willen das Zerbrechen der Form! Daraus ergibt sich eine schlüssige Gesamtperspektive: Die Gedichte der 90er Jahre umkreisen das „Ideal einer von durchschlagenden Affekten gereinigten Poesie“, vollziehen und reflektieren dabei zugleich aber das permanente Scheitern dieses Versuchs. Was wiederum ihre spezifische Lebendigkeit ausmacht! Zu Recht verwirft Kauffmann das Deutungsmuster einer durch ‚kühle‘ Formgebung vom Leben gänzlich abgelösten Poesie. Bei George „kühlen die Affekte in der Form des Gedichts eben nicht aus, sondern setzen sich in ‚heiße‘ Bilder um.“ (S. 217) Durchgängig überzeugen Kauffmanns knappe Vorstellungen der Gedichtbände, die an exemplarischen Texten die Entwicklung hin zum kulturpolitisch erziehenden Dichter-Führer und die damit einhergehende „Depotenzierung der Poesie“ (S. 153) nachzeichnen. Die Verbindung zu den biographischen Abschnitten, die die Strategien der Kreisbildung und die Medienpolitik des Meisters behandeln, stellt sich mühelos her. Auch hier ist Kauffmann sichtlich um Gerechtigkeit bemüht. Die abstoßenden Seiten von Georges Habitus – das gewaltsam Herrscherliche, Misogyne, chiliastisch Verstiegene – stellt er ohne Beschönigung dar, versucht dann aber, das Bild durch gegenläufige Aspekte zu ergänzen: dem Kreis als Sekte um einen angebeteten Über-
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Vater kontrastiert der „Kreis als Ersatzfamilie“ mit George als mütterlichem Zentrum. Die steile Heilsrhetorik des ‚Neuen Reichs‘ wurzelt in einem Bewusstsein sinkender Lebenskraft und utopischer Hoffnungslosigkeit. Die schlimmsten George-Sprüche und -Gedichte (wie ‚Der Eid‘ oder ‚Der Brand des Tempels‘) werden dem Leser erspart. Dafür wird mit einiger Schonungslosigkeit an ideologisch unverfänglicheren Texten der zweiten Lebenshälfte gezeigt, wie jene „dynamische Monumentalität“, zu der George noch nach dem ‚Siebten Ring‘ befähigt war, häufig zu liturgischem Leerlauf verkommt. Vor Kauffmanns Komprimierungsgabe, seinem Gespür für eine sinnvolle Text-Auswahl, seiner Fähigkeit, daran exemplarisch Grundlinien von Georges Poesie und gelebter Poetik zu entwickeln, kann man nur den Hut ziehen. Mit diesem schlanken Buch, das souverän den Forschungsstand wiedergibt und stets auf argumentative Umsicht bedacht ist, liegt nun endlich auch eine wissenschaftlich zuverlässige GeorgeEinführung vor.
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Manfred Koch
Ute Oelmann
Franziska Merklin: Stefan Georges moderne Klassik. Die „Blätter für die Kunst“ und die Erneuerung des Dramas. Würzburg: Ergon-Verlag 2014, 229 S., 5 Abb.
Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine Freiburger Dissertation, die von Achim Aurnhammer betreut wurde und alle Merkmale trägt, die Arbeiten aus dieser Schule prägen: sie verbindet exakte Philologie, den Nahblick auf Texte, mit detailliertem historischen Wissen, in den Worten der Verfasserin „textintensive Analyse und ästhetikgeschichtliche Kontextualisierung“ in einer leserfreundlichen, differenzierten, terminologisch sauberen aber nicht überlasteten Sprache. Die mit 210 Seiten Text erfreulich schlanke, durch einen kleinen Bildteil, ein nützliches „Verzeichnis der Dramen und dramentheoretischen Texte der ‚Blätter für die Kunst‘“ sowie einer umfangreichen Bibliographie ergänzte Arbeit, erfüllt ein Desiderat der Georgeforschung. Sie widmet sich dem fast völlig vernachlässigten Dramatiker Stefan George und seinen dramatischen Versuchen im Kontext der Dramentheorie der ‚Blätter für die Kunst‘ und, die prägnanten Einzelanalysen George’scher Texte ergänzend und kontrastierend, den dramatischen Versuchen aus dem Umkreis der ‚Blätter für die Kunst‘ von Ludwig Klages (‚Desiderata‘, 1894), Karl Wolfskehl (‚Sanctus‘, 1910) und Ludwig Thormaehlen (‚Das Gespräch vor der Abtei‘, 1919). Auch die Auswahl dieser Autoren und ihrer Texte bezeugt die Klugheit Franziska Merklins, handelt es sich doch jeweils um formale Paralleltexte zu Georges ‚Die Herrin betet‘ (1894), ‚Die Aufnahme in den Orden‘ (1901) und ‚Der Brand des Tempels‘ (1919) und um fast die gesamte Zeitspanne des Erscheinens der ‚Blätter für die Kunst‘ (1892–1919). Ein Kapitel des dritten Teils der Arbeit, „Dramenpraxis“ überschrieben, beschäftigt sich schließlich mit einem dramatischen Frühwerk Georges, dem Fragment ‚Manuel‘ und seinen Überarbeitungen (1893/94). Doch ist der größere Teil der Arbeit (die Großkapitel I und II) den ‚Blättern für die Kunst‘ gewidmet (S. 23–127), mit Schwerpunkt auf der Dramentheorie, vertreten durch Werke und Texte verschiedener Autoren der ‚Blätter‘-Gruppe (Georg Fuchs, Ernst Hardt, Henry von HeiseDOI 10.1515/george-2016/2017-0021
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ler, Hugo von Hofmannsthal, Karl Vollmoeller, Carl August Klein, Karl Wolfskehl). Eingeleitet wird dies durch die die gesamte Arbeit fundierende Darstellung „Klassik als Programm: Die expositorischen Texte der ‚Blätter für die Kunst‘“. Diese knapp 50 Seiten fassen die ästhetische Theorie zusammen, wie sie in den „Einleitungen und Merksprüchen“ formuliert ist, die ohne Verfassernamen den jeweiligen Heften der Zeitschrift voranstehen, meist von George formuliert oder zumindest ausgewählt und redigiert. Ganz zu Recht weist Franziska Merklin darauf hin, dass die Texte zwar in der Forschung häufig zitiert werden, eine synthetisierende Gesamtdarstellung aber fehlt. Diese Gesamtdarstellung wird hier versucht, und das Ergebnis ist in der titelgebenden Formel „Stefan Georges moderne Klassik“ provokativ zusammengefasst. Es wäre schön, wenn die Forschung diese Provokation annehmen und die Arbeit von Franziska Merklin breit wahrnehmen und ausgiebig diskutieren würde. Wie immer wäre Einzelnes kritisch anzumerken, so die auch der gelobten Knappheit und Dichte der Darstellung geschuldete punktuelle Vereinheitlichung oder Annährung von Positionen, die chronologisch weit voneinander entfernt sind, z.B. Verlautbarungen aus der ‚Blätter‘-Zeit um 1900 mit solchen, formuliert in den drei Nummern des ‚Jahrbuchs für die geistige Bewegung‘ der Jahre 1910–1912. Auch wird manchmal größere Nähe zu Positionen Georges bei ‚Blätter‘-Autoren vorausgesetzt, als sie nach Ansicht der Rezensentin gegeben waren, ein Beispiel dafür liegt im Falle von Georg Fuchs vor. Doch schmälert solche Kritik nicht die wesentlichen Verdienste der Arbeit.
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Gabriele Guerra
Gabriele Guerra
Wolfgang Braungart (Hg.): Stefan George und die Religion. Berlin – Boston: De Gruyter 2015, 255 S.
„Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, / hat auch Religion; / wer jene beiden nicht besitzt, / der habe Religion.“ So der alte Goethe überaus scharfsinnig und hellsichtig. In der geistigen und kulturellen Landschaft um 1900 und im Bewusstsein einer radikalen Epochenwende glaubten viele Schriftsteller, Künstler, Intellektuelle, der sozialen, kulturellen, sprachlichen Krise der Zeit eine neue Religiosität, wenn nicht sogar eine neue Religion schlechthin entgegenstellen zu müssen, die über ein neues, geist- und kulturzentriertes Vokabular verfügte und die sich mit dem Ästhetischen mischen und durchkreuzen sollte. Stefan George gehört bekanntlich zu denjenigen, die diesen (kunst-) religiösen Ansatz exemplarisch vervollkommneten. Man kann ihn sogar, in Bezug auf seine Vergöttlichung Maximins und auf die rituelle Praxis des Kreises um ihn, als Religionsstifter bezeichnen. Daher birgt das Werk des Binger Dichters eine reichhaltige Fundgrube für eine religionsinteressierte literaturwissenschaftliche Forschung. Dies nun belegt der von Wolfgang Braungart herausgegebene Sammelband ‚Stefan George und die Religion‘, der (leider nicht alle) Beiträge der gleichnamigen Tagung der Stefan George-Gesellschaft enthält, die 2012 in Bingen stattfand. „Ein Problem“ nennt der Herausgeber in seinem Vorwort die Religion für die Moderne und für deren ästhetische Richtungen. Diese vorsichtige Formulierung scheint zwar sehr berechtigt im Hinblick auf die verschiedensten Ansätze, die Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller fanden – einen gemeinsamen Nenner gab es aber doch: Alle wollten eine neue Welt und eine neue symbolische Ordnung herstellen. „Religion“ bedeutete für diese Intellektuellen – und primär für Stefan George – einen Gestus der (Wieder-)Verzauberung, der (Re-)Mythisierung der Welt mit Mitteln der Poesie. Das impliziert, dass die künstlerische Tätigkeit dabei extrem facettenreich erscheint: Mythos, Theologie, allgemeine Transzendenzinstanzen, Macht des Symbolischen, Politik des Religiösen, Kraft des Ästhetischen und Performativität des DOI 10.1515/george-2016/2017-0022
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Künstlerischen konkurrieren in der Erstellung eines neuen Gesamtbildes des künstlerischen und intellektuellen Schaffens. Exemplarisch verfolgt Braungart in seinem einleitenden Beitrag das Ziel einer solchen Gesamtrekonstruktion des ästhetisch-religiösen Komplexes durch den Rekurs auf den Begriff der „Mythopoesie“, der im Zentrum seines Aufsatzes steht (Romantische Mythopoesie, Georges Mythopoesie – Oder: Kann man Mythen machen? Zur Einführung). Braungart leitet diesen Begriff schlüssig von George her sowie aus den romantischen Auffassungen und aus Nietzsches Religionskritik, die wiederum einen wichtigen – wenn nicht den zentralen – Bestandteil des kunstreligiösen Gesamtansatzes um die Jahrhundertwende bildet. Braungart stellt dabei auch zentrale Fragen, die das Maximin-Bild und seinen Kult als exemplarische Taten Georges betreffen: zum einen, ob und wie man Mythen machen kann; und zum zweiten, ob es auch Mythen geben könnte, die keine Verbindung zur religiösen Praxis im strikten Sinn haben, sondern nur zu einer ästhetischen. Damit befinden wir uns im Zentrum eben dieser kunstreligiösen Fragestellung bei George und dessen Kreis: wie kann man sein künstlerisches Schaffen religiös verstehen, d.h. in einem gemeinschaftsstiftenden und kultbildenden Sinn? Die anderen in diesem Sammelband enthaltenen Beiträge versuchen auf verschiedenste Art und Weise (der Herausgeber betont dabei deren Gang „von innen nach außen“ bzw. von George und seinem Werk hin zu dessen geschichtlichen, religiösen und kulturellen Kontexten) diese und ähnliche Fragen zu beantworten: Sie zielen z.B. auf die Prophetieund Erlösungsbegriffe in Georges dichterischer Produktion (Jürgen Brokoff, Prophetie und Erlösung in Stefan Georges Lyrik nach 1900, der einen sehr detaillierten textimmanenten Gang durch die späte Lyrik Georges verfolgt); oder auf die Gestalt Maximins als mediales Kultobjekt, dem in den Traditionen des poeta vates und des charismatischen Seher-Propheten nachzufolgen ist (Lothar van Laak, Maximin als religiöses Medium); oder auch auf die Religion bei George als ‚selbstgebastelte‘ „intramundane Eschatologie“ (Georg Dörr, Stefan Georges neopagane Maximin-Religion. Bricolage und intramundane Eschatologie). Dörr gelingt es somit, das Hauptproblem der religiösen Auffassung Georges zum religionsgeschichtlich entscheidenden Punkt zu bringen, nämlich zum konfessionellen: Geht es um eine heidnisch oder katholisch gefärbte Religion?. In dem darauffolgenden Aufsatz erklärt Uwe Spörl, inwiefern es auch bei George möglich ist, von einer „gottlosen
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Gabriele Guerra
Mystik“ zu sprechen (Gottlose Mystik und Georges poetische Religion. Zwei Arten ästhetischer Religiosität in und mit der Literatur um 1900). Der Beitrag bietet auch eine gewisse Innendifferenzierung von Religiosität und Religion, die von zentraler Bedeutung in der kulturpolitischen Landschaft um die Jahrhundertwende ist und ansonsten in dem Sammelband nicht genug thematisiert wird. Jan Stottmeister – Autor einer sehr interessanten und für die George-Forschung in gewisser Hinsicht neue Perspektiven eröffnenden Studie ‚Der George-Kreis und die Theosophie‘ (Göttingen 2014) – bietet eine Einsicht in die komplizierte und ambivalente Beziehung Georges zur Theosophie und zum Okkultismus (‚Richtlinien‘ gegen Rudolf Steiner. Theosophie-Kritik als Wissenschaftskritik im George Kreis um 1910). Der Holländer Wouter J. Hanegraaff – Dozent für Geschichte der hermetischen Philosophie – zieht mit seinem Aufsatz eine inspirierende Parallele zwischen dem neuplatonisch gefärbten Renaissance-Kreis um Marsilio Ficino und dem Kreis um George, der Grundmodelle platonischer Spiritualität und männlich kodierter Gemeinschaft reaktiviert habe (Freeing the Ancient Wisdom from Catholic Crusts. Stefan George and Incognito Paganism). Die Studie ‚Apollo lehnt geheim an Baldur. Oder: Der Dichter ruft die Götter auf‘ von Justus H. Ulbricht beleuchtet die Religiosität Georges im Hinblick auf das germanisch-griechische Spannungsverhältnis in seiner symbolisch-poetischen Welt und vor dem Hintergrund völkischer Auffassungen der Zeit. Denselben völkischen und rasseorientierten Hintergrund berücksichtigt Uwe Puschner mit seinem Beitrag ‚Rasse und Religion. Die Ideologie arteigener Religionsentwürfe‘, der die poetischreligiöse Leistung Georges und dessen Kreises zwischen deutschchristlichen und neuheidnischen Einflüssen analysiert. Christoph Auffarth bietet dann mit dem Aufsatz ‚Das ‚Dritte Reich‘ – das ‚Geheime Deutschland‘. Stefan George im Kontext. Thesen‘ eine thesenartige Relektüre zweier grundlegender Denkfiguren aus dem Kreis um George, mit systematischem Rekurs auf religionsgeschichtliche und -wissenschaftliche Kategorien (u.a. Chiliasmus, Katechontik und Apokalypse). Richard Faber (Der Ästhetizist Algabal, der politisch-religiöse Dichter Stefan George und das Problem seines Präfaschismus) setzt sich mit der von ihm als „nationalrevolutionär“ bezeichneten Ideologie Georges auseinander, die ja zwischen Ästhetizismus, Cäsarismus und Reichsgedanken schwankt und als solche zum Bestandteil des konservativ-revolutionären Gedankenguts wird, in Form von Präfaschismus (übrigens eine
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ziemlich unpolitologische Etikette; ansonsten ist der Aufsatz Fabers sehr überzeugend). Almut-Barbara Renger bietet mit ihrem Beitrag ‚Die Konjunktur des Meisters. Stefan George im Spiegel religions- und wissenssoziologischer Studien seiner Zeit‘ eine interessante und facettenreiche Darstellung der Verwissenschaftlichung Georges und entsprechender poetischer Figuren in der Weimarer Zeit, vor allem im Sinne der damals entstehenden Religionssoziologie. In demselben Sinn vergleicht Volkhard Krech die Kunstreligion Georges mit der Religionstheorie Georg Simmels (Wo „Rausch und Helle“ eins werden. Stefan Georges Kunstreligion im Lichte von Georg Simmels Religionstheorie). Beide Aufsätze leisten somit ein Gesamtbild Georges in Sachen Wissenschaft, das von zentraler Bedeutung ist, wenn man dessen Herangehensweise an das Theoretische näher betrachtet und sich nicht nur auf die Produktion des Kreises beschränken will. „Schreiben als Handwerk, Anschauung als Erkenntnis, sinnlich fassbare Erscheinung des Religiösen, Kampf mit den Geistern der Geschichte als gegenwärtige Mächte, Verehrung des Heiligen“ – so resümiert Bertram Schefold die schriftstellerische Leistung Martin Mosebachs, wenn er dessen hier abschließenden Vortrag über ‚Stefan Georges Religion‘ präsentiert. Und er fügt hinzu: „Erinnert das nicht an George?“ Schefold will damit nicht nur die zweifellos auffällige Ähnlichkeit zwischen George und Mosebach signalisieren, sondern auch die spezifischen Qualitäten des Letzteren. Mosebach vertritt tatsächlich die These, dass George als Befürworter einer „katholischen Literatur“ zu deuten ist – eine katholische Literatur, sollte man hinzufügen, die eher bei Mosebach selbst als bei George so direkt wirkt. Zwar ist George auch insofern ein ‚katholischer‘ Poet, als er Riten und Liturgien mit katholischer Sensibilität benutzt. George habe dabei aber nach Mosebach „den Weg in die Privatreligion“ gewählt: einen zeittypischen Weg nämlich, der die ambivalente und facettenreiche Denkbewegung um 1900 zwischen Hang zur Transzendenz, zum Okkulten, zum Esoterischen geprägt hat. Mosebach nennt George daher in einem Atemzug mit Madame Blavatsky, Rudolf Steiner, Sri Aurobindo – aber auch mit den Freimaurern, mit den Tolstoianern, mit den lebensreformerischen Künstlern des Monte Verità. Hinzu fügt er aber noch, dass George „Anteil haben [musste] am Sehertum der großen Dichter der Vergangenheit, an ihrem unmittelbaren Umgang mit Musen und Göttern“. Aus dieser spannungsreichen Konstellation zwischen katholischem Glau-
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ben, Verführung des Esoterischen, Faszination für die Antike, Vorliebe für Rituelles und forcierten Ästhetizismus entsteht schließlich ein Gesamtbild des Dichters, in dem sich seine „Religion“ im „Selbstwiderspruch“ ausdrückt – so die Schlussfolgerung Mosebachs. Und zwar mit Recht, denn Stefan George kann als „Herr der Zukunft“ (wie am Schluss seines Gedichts ‚Der Krieg‘) viele verschiedene Welten bewohnen: Bekanntlich gehört er in besonderer Weise zu denjenigen, die sich wandeln können – auch im Religiösen.
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Jörg Löffler
Gabriele Wacker: Poetik des Prophetischen. Zum visionären Kunstverständnis in der Klassischen Moderne. Berlin – Boston: De Gruyter 2013 (= Studien zur deutschen Literatur 201), VII und 326 S.
Um es gleich vorweg zu sagen: Der Autorin ist mit dieser Studie ein ‚großer Wurf‘ gelungen, beeindruckend in seiner Materialfülle und Reflexivität. Das ist umso bemerkenswerter, als der Untertitel einen kaum einlösbaren Skopus der Untersuchung verspricht, nämlich das „visionäre[] Kunstverständnis in der Klassischen Moderne“. Diese Großraum-Epoche wird denn auch eher dezisionistisch eingegrenzt: „ca. 1871–1942“ (S. 21). Eine nähere Begründung erfährt diese Setzung ebensowenig wie die Auswahl der in ausführlichen Einzelkapiteln untersuchten Autoren: Thomas Mann, Stefan George, Rainer Maria Rilke, Georg Trakl und Franz Werfel. Diese (in heuristischer Hinsicht wohl unumgängliche) Fokussierung wird allerdings kompensiert durch ein ebenso breites wie detailscharfes kulturgeschichtliches Panorama zum Komplex ‚Prophetie und Poetik‘. Dies gibt auch das Stichwort für die methodischen Vorentscheidungen der Autorin: Ihr ist es um eine „kulturgeschichtliche[], ansatzweise soziologische[] und schwerpunktmäßig[] poetologische[] Perspektive“ (S. 21) zu tun. Diese Multiperspektivität erklärt sich aus der „Annahme […], dass es nicht den einen passenden theoretischen Zugriff gibt, mit welchem man das DichterPropheten-‚Phänomen‘ handhaben könnte“ (S. 76). Tiefergehend wird das Methoden-Problem allerdings nicht reflektiert; als literaturtheoretischer Kronzeuge wird en detail nur Harold Bloom mit seiner ‚Anxiety of Influence‘ (1973) herangezogen. Diese nicht ganz unproblematische Zurückhaltung bei der literaturgeschichtlichen und methodologischen Fundierung des Vorhabens ist es aber vielleicht, die den panoramatischen Blick erst ermöglicht – einen Blick, der zudem durch eine Reihe von close readings geschärft wird, die den zahlreich herangezogenen lyrischen Beispielen besonders gerecht werden. Wiederum ohne große gattungspoetische Vorüberlegungen untersucht die Autorin daneben Erzählungen, Romane, (einige wenige) DOI 10.1515/george-2016/2017-0023
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Jörg Löffler
Dramen, aber auch Sachtexte, Rezeptions- und Briefzeugnisse. Im Sinne einer „transgressiven Autorschaftspoetik“ kommt sie auf diese Weise der „Idee vom ‚Gesamtkunstwerk‘ Dichter-Prophet“ (S. 76) auf die Spur, so dass die Arbeit auch den kulturwissenschaftlichen Anspruch erfüllt, Praxen der (Selbst-)Inszenierung auf der gleichen Stufe wie literarische Texte zu behandeln. Dazu dient ihr Stephen Greenblatts Konzept des self-fashioning, das mehrfach herangezogen wird. Besondere Erklärungskraft gewinnt dieses Konzept bei der Untersuchung Stefan Georges und seines Kreises (mit knapp 40 Seiten eines der kürzeren Kapitel der 500-Seiten-Monographie) sowie Rainer Maria Rilkes. Beide Figuren verwenden eine große Energie darauf, sich selbst zu einer beachtenswerten persona zu stilisieren – und haben damit Erfolg, was die Autorin auch aus soziologischer Perspektive schlüssig darzulegen weiß, unter anderem im Rekurs auf Pierre Bourdieus Theorie des Habitus und des dichterischen Feldes. Bei George und Rilke zeigt sich besonders gut die Polyvalenz des prophetischen Dichters, der Widersprüchliches in sich vereint: Schöpfer und Medium, Bewahrer und Erneuerer, Panegyriker und Kritiker, in letzter Konsequenz schließlich zerfallendes und sich behauptendes Subjekt (eine Differenz, die deutlicher noch bei Georg Trakl und Franz Werfel hervortritt). Bei George und Rilke führen diese Widersprüche zur Implosion bzw. Transgression des Propheten-Modells – im einen Fall „zur eigenen Zersetzung im selbst konstruierten musealen Archiv“ (der Selbst- und Vorbilder Georges, S. 173), im anderen Fall zur „Domestizierung des Erhabenen im Schönen“ (S. 475) und zur Dominanz des poeta faber gegenüber dem poeta vates. Eine ganz anders gelagerte Ambivalenz zeigt sich bei den parodistischen Verwendungen des Künstler-Propheten-Motivs in den Erzählungen von Thomas Mann. Auf der Oberfläche der Texte scheinen sie eine eindeutige Stoßrichtung zu haben: die Kritik am ‚falschen‘ Propheten (das theologische Problem der ‚Unterscheidung der Geister‘ zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch), an seiner Machtanmaßung und potenziellen Destruktivität. Auf den zweiten Blick mischt sich in das Lachen wie das Grauen eine Faszination für die ästhetischen Valeurs des prophetischen Auftretens, der sich die immanente Poetik dieser Texte nicht entziehen kann. Die latente Gewaltbereitschaft eines unbedingten Kunst-Wollens infiziert selbst den Beobachter in seiner ironischen Distanz: „Manns Parodien auf das Dichter-Propheten-Pathos wirken eben-
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falls selbstzerstörerisch, wenn sich die Parodie auf das Dichter-Propheten-Amt nicht vom Prophetischen selbst distanziert.“ (S. 109) Eine ähnliche „Ästhetisierung der Prophetie“ (S. 477) lässt sich im lyrischen und epischen Werk Franz Werfels beobachten. Im JeremiaRoman ‚Höret die Stimme‘ von 1937 geht es ähnlich wie bei Rilke und Trakl um das prophetische Subjekt zwischen Selbstaufgabe und Selbstbehauptung. An dieser Stelle entfaltet die Autorin mit einem sinnfälligen Wortspiel eine Differenz, die für alle geschilderten Propheten-Figuren von Bedeutung ist: „Wie bei Trakl fungiert die Propheten-Gestalt als Schauplatz des ständigen agonalen Wechsels zwischen menschlicher Autonomie (Sprachmacht) und Autonomie der (göttlichen) Worte (Macht der Sprache).“ (S. 421) Es ist genau dieser Umschlagspunkt, der immer wieder das Interesse der Autorin auf sich zieht: der Dichter als Sprachrohr der göttlichen Stimme (bei Werfel als „Trompete“ symbolisiert; vgl. S. 459) und/oder als eigenmächtiger Schöpfer einer nie gehörten Sprache, die ihn unter seinen Zeitgenossen erst zum Propheten macht. Bei Werfel nun löst sich dieser Konflikt eher unspektakulär auf: in der Ganzwerdung des Subjekts, das seiner prophetischen Sendung unter innerem und äußerem Druck schließlich gewahr wird, und der „Konzeption einer ‚schönen‘ Poetik als Ordnungsgarant“ (S. 431), was Werfels Vorliebe für traditionelle Formen erklären mag. Ergänzt wird diese Reihe prophetischer Figuren-Konzeptionen durch eine Vielzahl von Herleitungen und Exkursen, unter anderem zu Hölderlin, Nietzsche und Rimbaud, die sich gehäuft im eigentlichen Herzstück der Studie finden, im 150-seitigen Kapitel zu Georg Trakl. Hier findet ein weiteres theologisches Begriffspaar Verwendung, das ein Leitmotiv der Studie ist: Stigma und Charisma. Trakls Strategien der Selbststigmatisierung konstruieren eine imago, die nicht weniger herausgehoben wirkt als die Selbstheroisierung, die sich bei George und Rilke beobachten lässt. Dadurch erklärt sich zu einem guten Teil auch der apokalyptische Grundton des Trakl’schen Spätwerks, wo der Untergang des singenden Subjekts die Vorbedingung „seines Fortlebens im Lied“ (S. 476) darstellt. Was zumal George der Autorin zufolge als „Einflussangst“ (Harold Bloom) bedrängt und zu Überbietungsstrategien provoziert, mutiert bei Trakl zur „Einflusslust“ (S. 402), die sich Figuren wie Novalis, Hölderlin, Nietzsche und Rimbaud scheinbar bruchlos einverleibt. Was bleibt, ist das Bild eines Dichter-Propheten, der sich in seinen eigenen Figurationen (Elis und Helian; vgl. S. 306–344) entäu-
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ßert und für den Selbstvernichtung und -übersteigerung schließlich in eins zu fallen scheinen. So ertragreich sie ist, präsentiert sich die Studie nicht immer in einer leicht erschließbaren Form. Hilfreich sind die Ein- und Überleitungen zwischen den Kapiteln und die ausführliche Zusammenschau am Ende (mit einem Ausblick zu Propheten-Figuren in der Literatur und Kultur von den 1950er Jahren bis zur Gegenwart). Umfang und Komplexität der Materie spiegeln sich aber oft genug in einem überkomplexen Stil wider, der durch abstrakte Substantivierungen und hypotaktischen Satzbau gekennzeichnet ist (bis hin zu Sätzen, die über 14 Zeilen laufen; vgl. S. 473f.). Bei dem (allzu) häufigen und routinierten Gebrauch von fremdsprachlichen Wendungen fällt es besonders ins Auge, wenn an einer Stelle versehentlich „Hypertaxe“ statt „Hypotaxe“ steht (S. 123). Das ist freilich die Ausnahme in einem umfangreichen Manuskript, das ansonsten bis ins Detail makellos ausgearbeitet ist. All dies kann den Eindruck des ‚großen Wurfs‘ auch keineswegs trüben: Bei der beeindruckenden Weite des Blicks und der Tiefe der Argumentation nimmt man den mitunter etwas sperrigen Stil gerne in Kauf.
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Jan Andres
Janus Gudian: Ernst Kantorowicz. Der „ganze Mensch“ und die Geschichtsschreibung. Frankfurt: Societäts-Verlag 2014 (= Gründer, Gönner und Gelehrte. Biographienreihe der Goethe-Universität Frankfurt a. M.), 221 S.
„It seemed to me the very opposite of good biography because it gave less attention to the real Frederick than to a supposed world figure inhabiting the cloud-cuckoo realm of a confirmed opium-eater“ (zitiert bei Gudian, S. 156). Diese Einschätzung, was das Gegenteil einer guten Biographie ist, stammt vom amerikanischen Historiker Ferdinand Schevill (Jahrgang 1868 wie George), der damit sein Urteil über Ernst Kantorowiczs großen Erstling, das Buch über Friedrich II., formulierte. Etwas anders gesagt: Bei diesem Autor könne man lernen, wie man eine Biographie nicht schreibt. Janus Gudian ist folglich in seiner Biographie über Kantorowicz nur auf den Spuren dessen Lebens, imitiert aber nicht seinen Stil und sein Denken. Gudian legt eine knappe, unpathetisch, flüssig und zugänglich geschriebene Darstellung eines bemerkenswerten Lebens vor, das erstaunliche Wendungen genommen hat und nehmen musste. Kaum einer der Spitznamen, die im George-Kreis üblich waren, charakterisierte seinen Träger so treffend wie die Bezeichnung, die von Kantorowicz überliefert ist, auch wenn sie nicht ‚offiziell‘ von George verliehen war wie andere: der ‚Chevalier‘, der zugleich ein Zyniker sei. Kantorowicz stammte aus einer wohlhabenden, ja reichen Posener Schnapsfabrikaten-Familie jüdischen Glaubens. Aus dieser Herkunft erklären sich vermutlich erstens der lebenslang dandyhafte, durchaus dem Vergnügen – er war ein guter Koch und überhaupt bei Tisch ein Genießer – zugeneigte Lebensstil des Historikers; zweitens die durch die Fluchterfahrung geprägte Exilanten-Existenz des von den Nazis vertriebenen Frankfurter Professors. Lebensgeschichtlich war es die Zuschreibung ‚Jude‘ für den nicht-gläubigen Kantorowicz, die sein Schicksal bestimmte und ihn aus Europa vertrieb; wissenschaftshistorisch die ihm jahrzehntelang über das ‚Friedrich‘-Buch anhaftende Herkunftsbestimmung ‚Georgeaner‘, wirksam bis weit in die Zeit in den USA DOI 10.1515/george-2016/2017-0024
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nach dem Zweiten Weltkrieg, noch deutlich erkennbar an Schevills Worten von 1945. Die Anfänge der Laufbahn Kantorowiczs fallen mit dem Ende des Krieges und dem Verlust der Posener Heimat zusammen. Der Weltkriegsveteran studierte ab 1919 in Heidelberg, wo er drei Jahre später bei Gothein in Nationalökonomie promoviert wurde. In Heidelberg kam er dann auch in Georges Kreise; Gudian aber sieht neben George noch einen anderen, meist nicht beachteten Menschen, der großen Einfluss auf ihn gehabt habe: die von ihm geliebte Fine von Kahler, die mit Erich von Kahler verheiratet war und daneben auch von Gundolf glühend verehrt wurde. Gudian hält die Liebe zu Fine gerade wegen ihrer letztendlichen Vergeblichkeit für eine Denk- und Lebensschule. Damit marginalisiert er Georges kaum zu überschätzenden Einfluss aber nicht, der ausführlich ab S. 40 vor allem anhand der Entstehungsgeschichte des ‚Friedrich‘-Buches und der sich daran anschließenden Kontroversen auf dem Hallenser Historikertag dargestellt wird. Durch das Buch und seinen Vortrag 1930 vor den Fachkollegen wird Kantorowicz für viele, fast alle, zum George-Adepten. Gerade aus seiner Stellung zwischen den Welten, zwischen Kunst/Kreis und Wissenschaft, resultiert dann aber auch die erste Berufung nach Frankfurt (S. 83ff.). Lange konnte Kantorowicz dort nicht lehren; bündig stellt Gudian die Verwicklungen um die Beurlaubung durch die Nazis und die berühmte Wiederantritts-Vorlesung zum ‚Geheimen Deutschland‘ im November 1933 dar (S. 102ff.). Nach wie vor vermag diese Rede im neuen nationalsozialistischen Staat, gehalten von einem jüdischen, nationalkonservativen Freicorps-Veteranen, in ihrer ebenso esoterischen wie deutlichen Absage an die neuen Machthaber zu beeindrucken. Die hier eingenommene Haltung, das Ethos, zeichnet den Weg vor, der über Beurlaubungen aus Deutschland weg führt, zunächst nach Oxford zu seinem Freund Bowra (S. 111ff.) und dann 1939 in die USA. Die naheliegende Frage, warum er ausgerechnet in die vorher so verachteten USA ging, beantwortet Gudian mit der Entschiedenheit, die Kantorowicz eigen war: Der NS habe einen scharfen Bruch mit Europa erzwungen (S. 135). Weg aus Posen, weg aus Frankfurt, schließlich weg aus Deutschland: Diese größte Wendung im Leben Kantorowiczs kann man mit einer Wortprägung Hölderlins aus ‚Patmos‘ beschreiben, sie war „schroffabbrechend“. Berkeley wurde die erste neue Heimat, sein negatives Bild des Lan-
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des änderte sich langsam und mit der Situation des Exil-Wissenschaftlers arrangierte sich Kantorowicz auf seine gewohnt ironisch-bissige Art: „Ich habe es insofern gut, als ich keine Fehler machen kann [gesperrt], da ich alles für neueste Forschungsergebnisse ausgeben werde, wenn ich vorbeihaue.“ (Brief an Wilhelm Stein, S. 141) Ganz oft hat er offenbar nicht vorbeigehauen; ab 1945 hatte er endlich die ersehnte Festanstellung nach mageren, fast ärmlichen Jahren, die dem Lebemann viel abverlangt hatten, der in Europa Familie – die Mutter und die Cousine Gertrud wurden bei einem Fluchtversuch verhaftet und in Theresienstadt umgebracht – und Vermögen verlor. In Berkeley kam dann endlich auch das zweite Buch, die ‚Laudes regiae‘, bis heute weithin unbekannt, in den Druck. Auch in den USA blieb Kantorowicz so etwas wie ein etablierter Außenseiter, was die jahrelangen Berufungsdiskussionen um ihn an der Universität Chicago belegen, die Gudian recht ausführlich auf der Basis von brieflichen Stellungnahmen darstellt. Letztlich überwog hier die Ablehnung. Kantorowicz hat sich auch in den USA die Fähigkeit zur klaren Positionierung, zur Verteidigung dessen, was er für wichtig hielt, bewahrt. Denn der Vertriebene war auch in den Staaten nicht unangefochten: In Berkeley geriet er im Rahmen der sogenannten Loyalty-Oath-Affäre in die Untiefen der Kommunistenverfolgung – kaum nachvollziehbar bei seiner Vita. Seine Universität verlangte einen antikommunistischen Treueeid, den Kantorowicz wie viele seiner Kollegen verweigerte – aus Prinzip, weil es ein Eingriff von außen in die Universität sei (S. 168f.). Er habe mit der Waffe in der Hand gegen die Kommunisten gekämpft, schrieb Kantorowicz, aber dieser Eid, ein erzwungenes Bekenntnis, ging ihm zu weit. Gudian formuliert hier die These, „wissenschaftliches Gelehrtentum hat in EKas Selbstverständnis das Jüngertum Georges ersetzt.“ (S. 173) Diese Entgegensetzung von Dienst an der Wissenschaft und Dienst am Dichter ist vielleicht etwas zu scharf, wenn man an Rainer Kolks Einlassungen zum Wissenschaftsethos des Kreises denkt; andererseits mag es eine Erklärung sein, warum Kantorowicz so auf Distanz zu den alten Weggefährten in Europa ging. Das ist nicht nur mit nationalsozialistischen Dispositionen zu erklären, die es bei Boehringer etwa nicht gab, der aber dennoch von Kantorowicz kritisch gesehen wurde. Kantorowicz jedenfalls wurde zu den sogenannten ‚Tolman Communists‘ gerechnet, entlassen und erst nach einem Urteil des Su-
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preme Court wieder eingestellt. Sein Verhältnis zu Kalifornien und Berkeley war irreparabel beschädigt und er wechselte ein letztes Mal die (geistige) Heimat. Von 1951 bis zu seinem überraschenden Tod 1963 war Kantorowicz in Princeton, am Institute for Advanced Studies. Diese letzte Station stellt Gudian als ‚Epilog‘ dar (S. 178–196) und dies leider sehr knapp. Hier erfährt man vielleicht am wenigsten Neues und auch praktisch nichts über jenes wichtige Buch, das in dieser Zeit entstand: ‚The King’s Two Bodies‘ von 1957, das im Gegensatz zu den anderen Schriften in der Biographie nicht gewürdigt wird. Dafür rücken die inneren Kämpfe um eine deutsche Neuauflage des ‚Friedrich‘ und die Freundschaft mit Marion Dönhoff hier ins Zentrum des Schlusskapitels. Janus Gudian hat eine Lesebiographie geschrieben, die bewusst nicht nur das Fachpublikum adressiert, sondern sich für eine breitere, interessierte Leserschaft öffnet. Dafür hat er auf Fußnoten und die detaillierte Diskussion der Forschung, die auf zentrale Publikationen beschränkt ist, verzichtet, was sicher auch den Vorgaben der Schriftenreihe der Universität Frankfurt geschuldet ist. Manchmal hätte man sich zusätzlich zu den illustrativen Schwarz-Weiß-Photographien einlässlichere Problematisierungen gewünscht, das hätte aber den Charakter des Buches verändert und wohl nicht ins Konzept der Reihe gepasst. Die unübersehbaren Stärken liegen in der souveränen, stilsicheren Darstellung und in der profunden Kenntnis der Briefe von Kantorowicz und dessen Freunden bzw. Umfeld, die dem Autor durch seine Frankfurter Arbeit am Nachlass bestens vertraut sind. Die amerikanischen Jahre fallen deutlich knapper aus, hierzu liegen aber auch weniger Vorarbeiten vor. Das einzige, was den Lesefluss gelegentlich etwas hemmt, ist die durchgehende Bezeichnung des Historikers als ‚EKa‘, was dann doch etwas stört, aber eine Marginalie ist angesichts der darstellerischen Leistung. Insofern erfüllt Gudian die Anforderungen, die der anfangs zitierte Schevill wohl an eine gute Biographie gestellt hätte.
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Stefano Bianca (Hg.): „Wir sind die späten Erben des Schönen, das ewig währt“. Michael Stettler und Rudolf Fahrner. Eine Dichterfreundschaft in Briefen. Wien – Köln – Weimar: Böhlau 2013, 226 S., 12 Abb. Der von Stefano Bianca herausgegebene und kommentierte Briefwechsel zwischen Michael Stettler und Rudolf Fahrner dokumentiert einen „Nachklang des George-Kreises“ und belegt „das lebendige Überdauern Georgescher Traditionen in der Nachkriegszeit“, in die auch andere wie Robert Boehringer, Alexander Graf Stauffenberg, Robert von Steiger, Gemma Wolters-Thiersch, Urban Thiersch und Eberhard Zeller „hineinspielen“ (S. 8). Fahrner und Stettler lernten sich – unter Vermittlung des in Basel lehrenden klassischen Archäologen Karl Schefold (S. 15) – 1950 über das von Robert Boehringer verfasste Buch ‚Mein Bild von Stefan George‘ kennen, wo sie denn auch beide abgebildet sind (Taf. 133 und 144). Als Vertreter der jüngsten Generation hatten Fahrner und Stettler einigen Anteil an der endgültigen Gestaltung des Manuskripts (S. 16). Nachgezeichnet werden zunächst die Lebenswege von Michael Stettler (1913–2003) und Rudolf Fahrner (1903–1988): Stettler wird als Gymnasiast blitzartig von Georges Gedichtszeile „Traumfittich rausche! Traumharfe kling!“ getroffen (S. 8). Im November 1931 macht er sich auf den Weg nach Minusio und wird empfangen (S. 9f.). Es folgen weitere Begegnungen. Stettler nimmt als der Jüngste an der Totenwache des 6. Dezember 1933 teil (S. 10). Er studiert Architektur an der ETH Zürich, hört Heinrich Wölfflin und verkehrt im Hause von Ludwig Curtius. Seine 1940 erschienene Dissertation gilt dem Baptisterium von Nocera superiore. 1942 erhält er eine Assistentenstelle am Kunsthistorischen Museum Bern, wo er schon 1948 zum Direktor berufen wird (S. 11). – Für Fahrner wird die Lektüre von Friedrich Gundolfs 1916 erschienenem Goethebuch zum entscheidenden Erlebnis. Gegen den Willen des Vaters und praktisch mittellos macht er sich 1921 auf den Weg nach Heidelberg, um bei Gundolf zu studieren (S. 12). George sieht er nur aus der Ferne. Auf Empfehlung Gundolfs wechselt Fahrner DOI 10.1515/george-2016/2017-0025
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Kay Ehling
1923 nach Marburg und schreibt an seiner Dissertation ‚Hölderlins Begegnung mit Goethe und Schiller‘. Bei seinem Doktorvater Walter Elze habilitiert er sich mit einer Arbeit über Meister Eckhart. Im April 1930, Fahrner ist inzwischen Privatdozent in Marburg, wird er von George nach Berlin ins Achilleion eingeladen (S. 13); zu einer letzten Begegnung kommt es im Mai 1933 am Nymphenburger Schlosspark in München. Im darauffolgenden Jahr wird Fahrner außerordentlicher Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte in Heidelberg. Obwohl Mitglied nationalsozialistischer Organisationen gerät er in Konflikt mit der Universitätsleitung, was auf eigenen Wunsch zur Entlassung aus dem Staatsdienst führt (S. 14). In Berlin kommt er mit den Stauffenberg-Brüdern in Verbindung und wird in die Pläne und Vorbereitungen des 20. Juli einbezogen. Von 1939 bis 1944 hat Fahrner eine Professur für Deutsche Sprache und Literatur in Athen inne und leitet das dort befindliche Deutsche Wissenschaftliche Institut (S. 15). In dieser Funktion lädt er u.a. Alexander von Stauffenberg ein. Als Stettler und Fahrner sich kennenlernen, lebt Letzterer schon seit fünf Jahren als Privatgelehrter in Überlingen am Bodensee. Die ersten von Stefano Bianca zitierten Briefe stammen von Stettler und datieren vom 26. Juni bzw. 21. August 1950 (S. 19). Der Herausgeber zitiert die Briefe nicht in ganzer Länge, sondern nur die ihm relevant erscheinenden Passagen, die er dann in einer Art Montagetechnik durch einen fortlaufend erläuternden Kommentar miteinander verbindet. Bevor Fahrner nach Ankara übersiedelt, um dort eine Professur für Deutsche Sprache und Literatur zu übernehmen, treffen sich die Freunde in München. Bei einem gemeinsamen Gang durch den verschneiten Nymphenburger Schlosspark „müssen sich Stettler und Fahrner […] gegenseitig auf eine Weise eröffnet haben, die ihre tiefere Freundschaft für immer begründete“ (S. 20). Noch im Rückblick heißt es in der dritten Strophe des 1977 von Fahrner verfassten Gedichtes (‚An Michael Stettler‘), dessen erster Vers „In Nymfenburg · du naher · hat’s begonnen“ lautet: „Aber damals kam das andre zeichen / Dem wir · glaub ich · nimmermehr entweichen / Weil das anverwandte sich erkannte / Eine flamme in der andern brannte“ (S. 20; S. 145f.). – Nach Fahrners Übersiedlung in die Türkei gehen Briefe und Gedichte zwischen Ankara und Bern über „Alpen und Isthmen“ (S. 23) hin und her (S. 21–58). Themen sind das Erscheinen von ‚Mein Bild von Stefan George‘ im Jahr 1951 („Ich möchte aber dann, wenn Sie hier sind, mit
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Ihnen die Bilder durchgehen, eins ums andere“: Stettler an Fahrner am 27. Januar 1952, S. 23), Reisen („Im Frühjahr gelangen noch sehr schöne Reisen … bis ins unvergleichliche Hierapolis, …“: Fahrner an Stettler am 21. Juni 1952, S. 25), Besuch am Grabe Georges in Minusio („Die Lorbeerbäumchen umstanden Namen und Kranz, die Blätter blinkten im Mondlicht“: Stettler an Fahrner am 4. Dezember 1952, S. 28). Im September 1953 besucht Fahrner Stettler wieder in Gümligen (S. 31). „Zweige von orangen und mimosen / Legt er nachts auf deine schwelle hin“ heißt es dann in Stettlers Gedicht ‚Der Wanderer‘ im Rückblick auf die gemeinsamen Tage und Stunden (S. 32). Wie Bianca schreibt, bereitet Fahrner mit seinem Buch über Hofmannsthal seine Rückkehr nach Deutschland vor (S. 35), die sich aber schwierig gestaltet (S. 56). Sowohl der Botschafter als auch Alexander Graf Stauffenberg setzen sich für ihn ein („Herrlich schlägt sich Offa für mich – wirklich herzbewegend!“: Fahrner an Stettler am 30. Dezember 1957, S. 57). Aus Anlass der Rückkehr wird in Urban Thierschs Atelier, nahe des Nymphenburger Schlossparks ein Fest gefeiert und Hofmannsthals ‚Kleines Welttheater‘ aufgeführt (S. 59). So ist München – nicht mehr Schwabing, aber Nymphenburg – immer noch eine ‚George-Stadt‘, was auch Fahrners Gruß aus München als der „heiligen Stadt“ wieder bestätigt (Brief an Stettler vom 16. Februar 1955, S. 43). Als Stettler zum 25. Todestag Georges für die ‚Neue Züricher Zeitung‘ einen Artikel publiziert, mahnt sein Freund Fahrner ihn, „sich nicht zu sehr an die ‚Gazetten‘ zu verschwenden“. Stettler schreibt zurück: „Warum ich die Erinnerungen der Gazette in den Rachen warf? Weil ich es satt bin, zu jedem Gedenktag des Meisters all die unverschämten Artikel zu lesen und es mir scheint, es sollte doch auch einmal ein unverzeichnetes Bild den gewöhnlichen Leuten, […] zu Gesichte kommen“ (15. Dezember 1958, S. 60). In seinem Antwortbrief dankt Fahrner zunächst für die von Georges Grab gesandten Lorbeerblätter und setzt den lakonischen Kommentar hinzu: „Zur Gazette: Antwort passt!“ (19. Dezember 1958, S. 61). – Der Tod des Freundes Alexander Graf Stauffenberg Anfang 1964 stürzt Fahrner in eine tiefe Depression; bis zuletzt hatten sie an dessen im Jahr zuvor erschienenen und Robert Boehringer gewidmeten Sizilienbuch gearbeitet (S. 69f.). Fahrners Erinnerungen an „Offa“ werden später von Stauffenbergs zweiter Frau Marlene nicht so gut aufgenommen, wie Fahrner hofft (Brief an Stettler vom 27. Januar 1987, S. 184: „Leider hat Marlene keine Freude gezeigt an meinem opus“). –
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Fahrner und Stettler gehen als nächstes Projekt, in das auch Robert Boehringer involviert ist, an ein Erinnerungsbuch für Frank Mehnert (1909–1943), den letzten im Krieg gefallenen Gefährten Georges (S. 80–111). Mehnert erscheint Stettler im Rückblick als „ein stern der funkelt / Und nah bleibt · wenn das dunkel uns umfängt“ (so in dem Gedicht ‚Bildnis‘, vgl. S. 81; 111). Letzterer trägt auch die Hauptlast des Buches („ … es hat mich unendliche Arbeit gekostet“: 7. März 1968, S. 109). Anschließend wendet sich Fahrner einem weiteren Erinnerungsbuch zu, das dem Architekten, Kunsterzieher und Bühnenbildner Paul Thiersch, dem Vater von Gemma Wolters-Thiersch, Fahrners Lebensgefährtin, und ihren Brüdern Stefan und Urban Thiersch gewidmet ist (S. 112). Das Buch erscheint 1970 im Gebrüder Mann Verlag, Berlin. Anfang dieses Jahres überbringt Fahrner einen in der Überlinger Werkstatt von Gemma Wolters-Thiersch gefertigten Silberkelch (das schöne Stück ist auf der Vorderseite des Buches abgebildet). Stettler dankt für den darin eingelassenen emaillierten Widder des Stettlerwappens „mit den goldenen Hörnern und Hoden“ (Brief vom 31. Januar 1970, S. 115). Bianca bemerkt dazu, dass „das ‚Silberne‘ ein wiederkehrender Topos in ihrer Korrespondenz war. Oft rühmte Fahrner die ‚Silberstimme‘ des dichtenden Freundes, sowie seine ‚silbernen‘ oder ‚wie mit dem Silberstift gezeichneten‘ Verse“ (S. 4). – Fast mit jedem Brief werden neue Dichtungen ausgetauscht. Stettler sendet Fahrner zu Weihnachten 1975 „handgeschrieben und auf Büttenpapier“ (S. 133) drei Gedichte, darunter ‚Minusio‘, in dem es heißt: „Sie führt zu dir, die steile rebberggasse, / Zwei mauern zwischen trauben überm see, / … Und da der first, dein fenster, auch der garten – / So währt die knabenbangigkeit von eh / Sekundenlang im pochen und im warten? / Die glastür öffnet sich: ducit ad te“ (S. 133). Stettler verdichtet seinen Besuch in Minusio. Dass es nicht nur die Gasse ist, die „ad te ducit“, sondern Frank Mehnert, geht aus weiteren Briefstellen hervor (Stettler an Fahrner, Brief vom 18. Dezember 1985, S. 175: „ich lohte“; 3. März 1988, S. 188). In einem Brief kommt Fahrner auf Georges Nicht-Verhältnis zur Malerei zu sprechen, und er erinnert sich des abgründigen Zorns „des Meisters auf die Heckelschen Wandgemälde in Erfurt“. „Wenn einmal gemalt wird“, so George, sei „doch schon alles vorbei“ (Brief vom 1. Dezember 1976, S. 140). Der Ausspruch ist so unsinnig wie seine Umkehrung es wäre: Wenn einmal gedichtet wird, ist doch schon alles gesagt, führt aber einmal mehr vor Augen, dass George keinen eigentlichen Bezug
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zur Malerei hatte. Ganz anders als etwa Rilke, für den Tizian und Tintoretto, Picasso oder El Greco große Inspirationsquellen waren. – In einem anderen Brief Fahrners ist von Peter Hoffmanns Projekt die Rede, ein Buch über die Stauffenberg-Brüder zu schreiben (es erschien 1992). „Was denkst Du dazu?“ fragt er Stettler (Brief vom 31. Januar 1977, S. 144). Im Sommer 1977 fahren Fahrner und Gemma WoltersThiersch nach Berlin: „Du schweifst in Hellas und ich schick Dir jeden Tag neuen Reisesegen! Ich bin mit Gemma einige Tage in Berlin, wo wir lange nicht waren und wo doch so viel von unserem Leben innewohnt: Meisterliches, Fränkisches, Berthold-Clausisches. Kannst Dir denken, mit welchen Gefühlen wir am Frühmorgen am Wannsee, dem noch stumm unterm lichten Himmel daliegenden, aus dem Zuge stiegen! (Brief an Stettler vom 12. Juli 1977, S. 145). Es entsteht das Gedicht „Das Glück vom Sommer 77: Ein junger morgen hebt mit wonnen an …“ (S. 202). Zuletzt nimmt Fahrner an einer Gedenkfeier zum 80. Geburtstag Claus Graf Stauffenbergs im Bonner Bundeskanzleramt teil. Mit einem Augenzwinkern schreibt er: „Erstaunlich, was der Kanzler an unbedingtem Bekenntnis zu Claus ablegte. Müssen kluge Ghostwriter dahinter stehen“ (Brief an Stettler vom 24. November 1987, S. 186). Wenig später stirbt Rudolf Fahrner. Michael Stettler kann krankheitsbedingt nicht zur Beerdigung kommen. Ergreifend ist sein Trauerbrief an Gemma Wolters-Thiersch: „Es wird mir ob der Fülle von dichterischer Zuwendung bewusst, wie sehr unser Effendi ein Kreuzritter war zwischen West und Ost“ (Brief vom 3. März 1988, S. 188). Stettler stirbt 15 Jahre später am 18. Juni 2003. Das zur Erinnerung an Michael Stettler erschienene Buch, der am 1. Januar 2013 seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte (S. 214), schließt mit einem Nachwort des Herausgebers, in dem er u.a. „die jüngsten Blüten einer trivialen Sekundärliteratur über George und seinen Kreis“ beklagt (S. 212). Welche Autoren und Bücher gemeint sind, geht aus S. 217 Anm. 1 hervor. Dort heißt es: „Beide Werke“ (Karlaufs George-Biographie und Raulffs ‚Kreis ohne Meister‘, Anm. des Verf.) „zeichnen sich durch eine grosse feuilletonistische Brillanz aus – und ein ebenso grosses Unverständnis der Autoren für die geistigen Phänomene, deren Darstellung eigentlich zu leisten wäre“, vgl. auch noch S. 218 Anm. 23. Ob der Herausgeber sich und seinem Anliegen mit dieser Polemik einen Gefallen tut, sei dahin gestellt. Die von Bianca herausgegeben Briefe sind ein schönes Zeugnis für
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Kay Ehling
die gelebte Freundschaft zweier Wissenschaftskünstler, die in der jugendlichen Liebe zur Dichtung Georges und den freundschaftlichen Beziehungen innerhalb des Kreises gründete und weit über den Tod des ‚Meisters‘ hinaus menschlich lebendig geblieben und dichterisch gewachsen ist.
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Barbara Stiewe
Christian Weber: Max Kommerell. Eine intellektuelle Biographie. Berlin – New York: De Gruyter 2011, VIII und 598 S.
Für den Rezensenten stellt es ein gewagtes Unterfangen dar, in prägnanter Kürze zusammenzufassen, was Christian Weber in seiner fast 600 Seiten langen, inhalts- und lehrreichen Berliner Doktorarbeit, betreut von Peter-André Alt, über die geistige Biografie des nur 42 Jahre alt gewordenen Gelehrten und Künstlers Max Kommerell (1902–1944) herausgefunden hat. Es ist schon fast verwunderlich, dass im Zuge des wiedererwachten Interesses am George-Kreis und an seinen Mitgliedern in Literaturwissenschaft und Soziologie ausgerechnet Kommerell, der nach Gundolf zu dem Lieblingsjünger des ‚Meisters‘ aufgestiegen ist, vernachlässigt wurde. Gewiss hat dies mit dem frühen Ausscheiden aus dem Kreis zu tun und der imperativisch von George seinen ‚Jüngern‘ verordneten ‚damnatio memoriae‘ der Abtrünnigen. Auch innerhalb der Fachgeschichte der Germanistik nimmt Kommerell – wenn überhaupt – nur eine Randposition ein, weil er als untypischer Vertreter der Disziplin gilt. Weber legt sein Augenmerk auf den ‚intellektuellen‘ Kommerell – also auf die geistigen Facetten seines Lebens – und schreibt keine Biografie im landläufigen Sinne, die Auskunft über alle Stationen des Lebens gibt. Ausgehend von der Sozialisation im jugendbewegten Milieu, dem prägenden Einfluss des George-Kreises und schließlich der Entscheidung, eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen, interessiert sich Weber vor allem für Kommerells Positionierung im Wissenschaftssystem der Philosophischen Fakultät. Dabei kommen immer wieder Aspekte zur Sprache, die die Institutionengeschichte, Forschungslandschaft und Methodik der 1930er und frühen 1940er Jahre, also der Epoche, die schwerpunktmäßig betrachtet wird, betreffen. Wer jetzt erwartet, dass diese Studie dem George-Kenner wenig Nutzen bringt, dem sei gesagt, dass die Arbeit sehr wohl interessant zu lesen ist, weil Weber immer wieder auf die Prägung durch George und DOI 10.1515/george-2016/2017-0026
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Barbara Stiewe
den (Wolters-)Kreis zurückkommt und den Bruch mit dem ‚Meister‘ plausibel macht. Eine Rolle hierfür spielt nicht nur Kommerells Verständnis als hauptberuflicher Wissenschaftler, der nur in den Nebenstunden und zur Muße dichtet, sondern auch seine autonome Persönlichkeit, die nicht zur Unterordnung bereit ist. Um den Anspruch des Buches in die Tat umzusetzen, waren etliche Forschungsaufenthalte in Literatur-, Universitäts-, Akademie- und Staatsarchiven notwendig, bei denen Weber unveröffentlichtes Material – vor allem die Briefwechsel – gesichtet und ausgewertet hat. Zu loben ist, dass der Verfasser aus vielen noch so kleinen Puzzleteilen eine gut lesbare, gleichwohl anspruchsvolle Studie zusammengefügt hat. Das Verfahren, einerseits eine Chronologie zu bieten, andererseits aber auch thematische Schwerpunkte zu bilden, hat den Nachteil, dass (kleinere) Wiederholungen den ohnehin schon langen Text durchziehen. Hilfreich zur Orientierung sind die Zusammenfassungen am Ende jedes Kapitels, da nicht damit zu rechnen ist, dass sich jeder Leser die lohnenswerte Mühe macht, die langen Ausführungen in ihrer Gänze wahrzunehmen. Die Arbeit ist in zehn Kapitel gegliedert und versehen mit einem ausführlichen Anhang, bestehend aus Abkürzungs- und Siglenverzeichnis, der Bibliografie, die akribisch ungedruckte und gedruckte Quellentexte sowie Sekundärliteratur verzeichnet, und einem sehr hilfreichen Personenregister. Kapitel eins, die Einleitung, befasst sich mit der Fragestellung, dem Forschungsstand, der Methodik und dem Aufbau der Arbeit. Hier wird die Absicht der Untersuchung vorgestellt, das ‚intellektuelle‘ Bild von Max Kommerell als genialem Außenseiter zu konturieren, der mit seiner Doppelbegabung als Schriftsteller und Wissenschaftler nicht in das ‚Raster‘ des damaligen Universitätsbetriebs passe. Von der (fast ausschließlich) exakten, positivistisch orientierten Germanistik der Zeit wird Kommerell als ‚natürlicher Todfeind‘ betrachtet – oder, wenn man es etwas freundlicher formulieren will, in einer exklusiven Randposition des Faches wahrgenommen und mit dem despektierlich gemeinten Stempel ‚Mitglied des George-Kreises‘ versehen. Kapitel zwei widmet sich der frühen ideengeschichtlichen Prägung. Weber berichtet von Kommerells „bildungsbürgerliche[r] Herkunft“, den „humanistischen Erziehungstraditionen“ und der damit verbundenen „patriotische[n] Gesinnung vom Anfang des Jahrhunderts“ (S. 30). Einfluss auf ihn üben die Jugendbewegung und reformpädagogische
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Ansätze, namentlich der von Gustav Wyneken initiierte Gedanke einer freien Schulgemeinde, aus. Sein erster Mentor wird der Gymnasiallehrer Ernst Kayka in Ballenstedt (Harz), der dem jungen (und geisteswissenschaftlich interessierten) Kommerell Anregungen und Lektüreempfehlungen gibt. Außerdem weckt er in ihm das Interesse an „dichterischen Produktionen“ und am „geistigen Austausch im Medium des Briefes“ (S. 31f.). Die Begeisterung für den Schweizer Schriftsteller Carl Spitteler zu Schulzeiten weicht dem Interesse für die Dichtung Stefan Georges. An dieser Stelle wird die Zugehörigkeit zu dessen Kreis dargestellt, die in drei Phasen verläuft. Die erste Annäherung findet von 1921–1923 statt, während dessen Kommerell auch seine Dissertation über Jean Paul schreibt und sie von Wolters durchsehen lässt. 1924–1926 avanciert Kommerell zum ‚Lieblingsjünger‘. In diese Zeit fällt auch seine monumentale Gestalt-Studie ‚Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik‘. 1927 beginnt der allmähliche Prozess der Ablösung von George zur Wahrung der eigenen Unabhängigkeit und Selbstachtung. Den Kulminationspunkt dieser Phase bildet die provokante Antrittsvorlesung als Privatdozent in Frankfurt 1930 über Hugo von Hofmannsthal, den Antipoden Georges. Damit vollzieht er seine Abkehr vom ‚Meister‘ auch in der Öffentlichkeit. Kapitel drei nimmt die Zeit von 1930–1938 in den Blick, die durch den interdisziplinären Austausch im ‚Frankfurter Kreis‘ geprägt ist. Hier trifft Kommerell unter anderem auf die Altphilologen Karl Reinhardt und Walter F. Otto, die ähnliche „ästhetische Urteile in den Briefen und methodische Ansätze in den Publikationen“ (S. 129) aufweisen und auch direkt auf seine wissenschaftlichen Arbeiten Einfluss nehmen. Viele Fachgenossen hat er ‚verärgert‘ durch seine scharfe und überhebliche Forschungskritik, das Hinwegsetzen über Konventionen, die Distanz zum positivistischen Literaturbetrieb und seinen emphatischen Sprachduktus. Als Ersatzleistung für die ungedruckte Habilitationsschrift publiziert er, so Weber, seinen ‚Jean Paul‘, der – obwohl von dem essayistischen Charakter und suggestiven Stil der Gestalt-Monografien des George-Kreises inspiriert – Abstand nimmt von jeglicher Inszenierung als Führergestalt. Diese Studie, die die Grenzen zwischen Dichtung und Wissenschaft überschreitet, markiert „den Höhepunkt seiner quasi-poetischen Literaturgeschichte“ (S. 98). Kapitel vier steht unter einem inhaltlichen Schwerpunkt und behandelt die Hofmannsthal-Rezeption. Angeregt durch seinen Freund Hein-
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Barbara Stiewe
rich Zimmer, den Heidelberger Indologen, der als Hofmannsthals Nachlassverwalter fungiert, wendet sich Kommerell diesem zu. Für Kommerell wird Hofmannsthal „zum Antizipationsmodell seiner Emanzipation von George“ (S. 136). Diesen interpretiert er als ‚Eroberer‘, weil sein ‚Aufstieg erzwungen‘ sei. Dem gegenüber sei Hofmannsthal ‚Erbe‘, denn sein ‚Aufstieg ist natürlich‘ und sein Werk ‚öffne zum Leben‘. Hofmannsthals Auseinandersetzung mit Calderón – im Nachlass findet Kommerell fragmentarische Bearbeitungen von dessen Stücken – bewirkt ein Interesse für den Dichter des ‚Siglo de Oro‘ und die bisher vernachlässigte Gattung ‚Drama‘. Weber versteht Kommerells Calderón-Rezeption als Fortsetzung und Vollendung von Hofmannsthals Werk. Außerdem bietet sie ihm die Möglichkeit, sein eigenes Leben im Drama (‚Das kaiserliche Blut‘) zu reflektieren und Kritik an der Phokas-Figur zu üben, die laut Briefwechsel auf George zu beziehen ist. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, wie sich der Bruch mit George auf Kommerells Umgang mit Autoren und Dichtungen ausgewirkt hat. Nach Weber wechselt er sein Interpretationsverfahren und seine Interessenfelder. Ging es in der Zeit der Kreiszugehörigkeit darum, die Heroisierung des Dichters quasi-poetisch nachzuzeichnen, so ‚verwissenschaftlicht‘ Kommerell in den 1930er und 1940er Jahren seine Methodik. Nun stehen im Vordergrund die Hinwendung zum Text, Beobachtungen zu Inhalt und Form und auf dieser Grundlage die Auslegung beziehungsweise Deutung mit Bezug zum eigenen und gegenwärtigen Leben. Das Verfahren wird von Weber mit dem Label der ‚textnahen Beobachtungen‘ versehen, das sowohl auf hermeneutische Traditionen als auch ‚werkimmanente‘ und rezeptionsästhetische Positionen verweist beziehungsweise sie vorwegnimmt. Gleichbleibend ist jedoch Kommerells Wissenschaftsverständnis, das sich gegen den Positivismus richtet und Kunst und Wissenschaft essayistisch zu verbinden hofft. Der interdisziplinäre Austausch – vor allem mit Romanisten – steht im Zentrum von Kapitel sechs. Weber zeichnet nach, wie sich Kommerell über die engen Fachgrenzen der Germanistik hinwegsetzt und mit Weitblick die ‚Weltliteratur‘ behandelt, weil die erhoffte Berufung auf einen germanistischen Lehrstuhl ausbleibt. Wissenschaftler anderer Disziplinen – beispielsweise Ernst Robert Curtius, Fritz Schalk und Werner Krauss – fungieren als Vermittler und Impulsgeber. Ihnen legt er seine wissenschaftlichen Projekte im Gespräch oder Brief vor und
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bittet sie um ihre Meinung. Dass dieser Austausch nicht einseitig verläuft, zeigt die Tatsache, dass Curtius von Kommerell Anregungen erfährt, die in sein Standardwerk ‚Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter‘ eingehen. Für Kommerells Verfahren der ‚textnahen Beobachtungen‘ ist entscheidend – wie Weber überzeugend am Beispiel von dessen Calderón-Rezeption darlegt –, dass bei fremdsprachlichen Texten und ihrer Interpretation nicht nur der Inhalt Berücksichtigung findet, sondern auch ihre sprachliche und klangliche Beschaffenheit. Auch erinnert die Praxis, sich das Original zu vergegenwärtigen und einen Aktualitätsbezug herzustellen, an die Übersetzertätigkeit Georges und seiner Schüler. Das siebte Kapitel folgt wieder der Chronologie und gibt Auskunft über Kommerells akademische Karriere von der Habilitation 1930 bis zur (vergleichsweise spät erfolgenden) Berufung auf das Marburger Ordinariat 1941. Hier werden „individuelle Karrierestrategien, die universitären Entscheidungen und die Wirkungen und Gegenwirkungen wissenschaftspolitischer Vorgaben“ (S. 337) sowie der Einfluss von Netzwerken behandelt. Dabei versucht Kommerell, „von den politischen Verhältnissen der Zeit zu profitieren“ (S. 344); somit ist sein „Verhalten gegenüber dem nationalsozialistischen Regime […] durch ein Lavieren zwischen Annäherung und Distanz gekennzeichnet“ (S. 347). Kapitel acht beschäftigt sich mit der Hölderlin-Rezeption im Austausch mit Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer. Die Kontroverse mit den Philosophen entspinnt sich durch Kommerells Kritik an Heideggers „Konzept der Zwiesprache zwischen Dichter und Denker“ (S. 450). Mit einer Publikation reagiert er auf Heideggers Deutung, die dieser wiederum ‚akzeptiert‘ und in späteren Studien verarbeitet. Auch Gadamer trägt zur Diskussion des ‚Wissenschaftdreiecks‘ bei. Kommerells Begeisterung für Hölderlin hat bereits in der Jugend begonnen und ihn in der George-Zeit begleitet. Im Kreis fungiert dieser Dichter als Heros und findet schwärmerischen Eingang in Kommerells ‚Klassik‘-Studie; die Interpretation seiner hermetischen Dichtungen reizt ihn bis zu seinem frühen Tod. Die interdisziplinäre, enge Zusammenarbeit unter den Marburger Kollegen und ihr Austausch sowohl in Briefen als auch in der ‚Graeca‘ und dem allgemeinen Lesekreis behandelt das neunte Kapitel. Das Interesse an der Kreisbildung ist wohl auf Praktiken der Georgeaner zurückführen, die Kommerell als inspirierend und produktiv für alle
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Barbara Stiewe
Beteiligten erfahren hat. Im Dialog mit dem Philosophen Julius Ebbinghaus, dem Mathematiker Kurt Reidemeister und dem Theologen Rudolf Bultmann, die genau wie Kommerell einen „hermeneutischen und textnahen Zugang zum Werk“ (S. 482) verfolgen, werden Fragen diskutiert und kritisch reflektiert, die sich aus ihren aktuellen Forschungen ergeben. Nach eigener Darstellung waren für Kommerell Bultmann, dessen ‚Entmythisierungsprogamm‘ Parallelen zu Heidegger aufweist, und Reidemeister, der in seinen geisteswissenschaftlichen Schriften auch die Ansicht vertritt, „Dichtung [bestimme sich] über Empfindung, Klang und Ästhetik“ (S. 500), die am nächsten stehenden Kollegen. Unter den Marburger Gelehrten herrscht nach Weber ein ähnliches Verständnis einer theologischen, philosophischen und literaturwissenschaftlichen Hermeneutik, so dass man „von einer fächerübergreifenden Marburger Hermeneutik sprechen“ (S. 543) könne. Schließlich werden in einem ‚Ausblick‘ (Kapitel 10) wesentliche Ergebnisse der Untersuchung noch einmal komprimiert dargestellt. Kommerell ist singulär in seiner Doppelbegabung als Schriftsteller und Wissenschaftler. Auch ist es damals unüblich für einen Germanisten, Kontakte zu Fachfremden zu suchen, die er in Kreisen organisiert. Darüber hinaus spielt das Medium des Briefes eine besondere Rolle für Kommerell, weil er in ihm Gedanken entwickeln, erproben und reflektieren kann. Auch in diesen Charakteristika mag man nachwirkende Prägungen seiner George-Zeit erkennen.
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Markus Pahmeier
Katharina Meiser: Fliehendes Begreifen. Hugo von Hofmannsthals Auseinandersetzung mit der Moderne. Heidelberg: Winter 2014 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 322), 425 S.
Was kann man unter ‚modern‘ beziehungsweise unter ‚der Moderne‘ in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen verstehen? Wann beginnt ‚die Moderne‘ jeweils? Wie hängen die verschieden verstandenen ‚Modernen‘ zusammen? Und welche zustimmenden beziehungsweise ablehnenden Auseinandersetzungen mit ihnen gibt es? Diese Fragen werden gerade in den letzten Jahren wieder intensiv diskutiert und eröffnen angesichts des Umfangs und der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes noch immer ein äußerst weites Forschungsfeld.1 Katharina Meiser trägt zu dieser Diskussion eine Studie bei, in der sie untersucht, wie sich ein einzelner Dichter, nämlich Hugo von Hofmannsthal, mit der Moderne und deren Konsequenzen auseinandersetzt. In einer „Einleitung“ beschreibt Meiser konzise ihre Fragestellung, ihre methodischen Prämissen und ihre modernisierungstheoretische Kontextualisierung. Sie bezieht sich besonders auf Luhmanns These zur Entwicklung einer primär funktional ausdifferenzierten Gesellschaft, ohne aber mit einem streng systemtheoretischen Literaturbegriff zu argumentieren. In den umfangreichen Hauptkapiteln untersucht Meiser, wie sich Hofmannsthal mit drei Fragen auseinandersetzt, die sich ausgehend von der Moderne und deren Konsequenzen her stellen: An was kann sich das Individuum in einer funktional ausdifferenzierten beziehungsweise pluralisierten Gesellschaft orientieren, in der keine Werte und Normen mehr selbstverständlich gegeben sind, und wie kann es in 1
Vgl. beispielsweise den Schwerpunkt ‚Moderne/Literatur‘ in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 37, 2012; und den Sammelband Sabina Becker / Helmuth Kiesel (Hg.) unter Mitarbeit von Robert Krause: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen, Berlin – New York 2007.
DOI 10.1515/george-2016/2017-0027
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Markus Pahmeier
einer solchen Gesellschaft zu einem stabilen Identitätsgefühl gelangen? (Erstes Kapitel) Welche Bedeutung haben Dichter und ihre Werke in einer pluralisierten Gesellschaft, die ihnen kein Wahrheitsmonopol und keine synthetische Weltdeutung mehr ermöglicht? (Zweites Kapitel) Und wie kann in einer solchen Gesellschaft ein Einheitsgefühl entstehen, das deren Pluralität und Differenzen zusammenhält? (Drittes Kapitel) Meiser kommt nach ihren Analysen von Essays, Reden, Dramen und Paratexten von ‚Der Tor und der Tod‘ beziehungsweise ‚Der Tod des Tizian‘ bis hin zum ‚Turm‘ und der Schrifttums-Rede zu dem Fazit, dass Hofmannsthal „die Konsequenzen, die die Modernisierung für Individuum, Künstler und Gesellschaft“ habe, „äußerst präzise in den Blick“ nehme, sie aber „in seinen totalitätsorientierten Betrachtungen und poetischen Bildern als Zumutungen“ kennzeichne (S. 401). Er könne sie „weder ignorieren noch akzeptieren“ (ebd.). Wegen dieser Ambivalenz kann Hofmannsthal keine sicheren und dauerhaften Antworten geben: „Die Positionierungsoptionen, die er dem Individuum anbietet, sind ebenso fragil und vorläufig wie seine Verfahren künstlerischer Selbstlegitimation und seine heterogenen Konzepte gesellschaftlicher Einheitsbildung.“ (Ebd.) Meisers Studie ist sehr klar und stringent strukturiert und sie ist leicht verständlich geschrieben. Besonders überzeugt, dass Meiser die Ambivalenzen in Hofmannsthals Argumentationen beziehungsweise literarischen Darstellungen umsichtig, detailliert und präzise herausarbeitet. Die Studie regt dazu an, auch für weitere Dichter oder Kulturkritiker – und gerade für solche desselben Zeitraumes – ebenso detailliert zu untersuchen, in welcher Weise sie sich mit der Moderne auseinandersetzen. Für Stefan George und seinen Kreis, besonders aber für Georges lyrisches Werk, fehlt trotz einiger Ansätze2 noch eine umfassende und differenzierte Untersuchung, die zeigt, inwieweit welche Konsequenzen der Moderne hingenommen oder kritisiert werden, inwieweit die mit kritischen Auseinandersetzungen häufig verbundene Apodiktik beispielsweise melancholisch relativiert wird und inwieweit sich daher auch Stefan George und sein Kreis ambivalent mit der Moderne auseinandersetzen. Auf solchen Einzelstudien aufbauend könnte man die Ambivalenzen von Hofmannsthal und George – und auch von 2
Vgl. besonders Dirk von Petersdorff: Fliehkräfte der Moderne. Zur Ich-Konstitution in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005, Kap. II.
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anderen Dichtern oder Kulturkritikern – miteinander vergleichen und die Grade der Hinnahme beziehungsweise Ablehnung vielleicht noch präziser bestimmen. Aber unabhängig davon ist Meisers Studie für die Forschung zu Hugo von Hofmannsthal eine sehr große Bereicherung. Und sie zeigt beispielhaft, wie ergiebig und weiterführend es sein kann, ambivalente Auseinandersetzungen mit der Moderne sehr textnah zu beschreiben.
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Thomas Amos
Thomas Amos
Richard M. Meyer: Moral und Methode. Essays, Vorträge und Aphorismen. Herausgegeben von Nils Fiebig. Göttingen: Wallstein 2014, 320 S., 26 Abb.
Maßgeblich zu Georges Durchbruch in der literarisch-künstlerischen Szene der Hauptstadt trägt bekanntlich im Frühjahr 1897 der vielbeachtete, wenig später in den ‚Preußischen Jahrbüchern‘ veröffentlichte Vortrag ‚Ein neuer Dichterkreis‘ des Berliner Germanisten Richard M. Meyer bei – ein Meisterstreich unter Marketingesichtspunkten, wenngleich die Erwähnung Richard Dehmels, obendrein in einem Atemzug mit Mallarmé und Verlaine, sowie die extensive Würdigung Hofmannsthals bei George auf einiges Befremden gestoßen sein dürfte. Der vorliegende Band versammelt vierzehn literatur- bzw. kulturkritische Texte Meyers nebst einer Aphorismen-Auswahl; es fehlt der besagte George-Essay, den der Herausgeber bereits 2009 in einen Meyer gewidmeten Sammelband aufnahm. Aus den von Thematik und Methode her stark ihrer Zeit verhafteten Arbeiten, wie den vergleichend bzw. biographisch vorgehenden Aufsätzen ‚Helden des alten Testaments in der neueren Literatur‘ (1893; 59–73) und ‚Goethe in Venedig‘ (1897; 90–106), stechen mehrere Titel heraus. Einen kursorischen Überblick vom biblischen Tyrus bis zur vorletzten Jahrhundertwende offeriert ‚Großstadtpoesie‘ (1902; 132–154); Meyer erfasst hier durchaus die literarische Validität der von E. T. A. Hoffmann über Victor Hugo bis Zola dargestellten modernen Metropolen, ignoriert jedoch unmittelbar zeitgenössische Tendenzen, nämlich die nahe liegende Kabarettszene im Café des Westens. Die beiläufige Behauptung, Georges Lyrik spreche „von der Pracht unserer vergötterten Städte“ (148) verkennt, dass dessen bis dahin publizierte Gedichtsammlungen in Ablehnung der zeitgenössischen Metropolen durchgängig Gegen-Modelle nach Art des europäischen Symbolismus evozieren. Auch erstrebt George keineswegs eine „ästhetisch durchgebildete, Großstadt ohne Schornsteine und Mietskasernen“ (148) wie sie die Lebensreformbewegung um 1900 propagiert, vielmehr gilt seine Präferenz der kleinen Universitätsstadt, die Heidelberg für ihn spätestens mit der Berufung Gundolfs in Reinform DOI 10.1515/george-2016/2017-0028
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verkörpert. ‚Zur Terminologie der Reklame‘ (155–160) unterzieht Produktnamen einer linguistischen Analyse, ohne die ungleich interessantere Synthese der Ergebnisse unter soziologischen Aspekten anzugehen. Gleiches gilt für ‚Struwwelpeter‘ (1905; 161–176), wo das Symbol des langen Haares Anlass zu einer Art kulturwissenschaftlichem Exkurs gibt, während die didaktisch-pädagogische Vermittlung von Körperhygiene in einem Kinderbuch allenfalls am Rand Berücksichtigung findet. Insgesamt bleibt der Text von bescheidener Qualität und erreicht bei weitem nicht das Niveau Walter Benjamins, der 1926 anlässlich einer Rezension zu ‚Alte vergessene Kinderbücher‘ von Karl Hobrecker eine brillante Skizze der historischen Kinderliteratur samt den dazugehörigen Illustrationen entwirft. Die Sammelrezension ‚Vier große Romane‘ (1910; 224–236), ein Vergleich zwischen drei belletristischen Romanen heute vergessener Autoren und Thomas Manns ‚Königliche Hoheit‘ offenbart ein erstaunlich unsicheres Gespür für literarische Qualität. Wenn Meyer in seiner Würdigung des 50. Geburtstages von Gerhart Hauptmann im Jahre 1912 (257–273) gewunden schreibt, dieser sei „keineswegs eine ‚selbststilisierte‘ Gestalt, wie Stefan George es zu seiner Verehrer Bewunderung und zum Mißfallen seiner Gegner geworden ist“ (257), kündigt sich die bereits fortgeschrittene Entfremdung an. Einen derart gewichtigen Einfluss wie zeitweise Georg Simmel vermochte Meyer jedenfalls nie auf George auszuüben, standen hier doch Leichtfüßigkeit und feuilletonistischer Duktus einem strengeren Wissenschaftsverständnis diametral gegenüber. Wie bereits die Eloge auf George mit dem literarhistorischen Nachweis der Filiationen und flankierenden Kommentaren zu einzelnen Textbeispielen exemplarisch belegt, weisen Meyers Schriften bei methodisch traditioneller Ausrichtung zwei charakteristische, für die damalige Germanistik ganz unübliche Merkmale auf: den zum Feuilletonistischen tendierenden Stil und die Beschäftigung mit zeitgenössischer Literatur. An der um 1900 erfolgten Abkehr der Germanistik vom Positivismus, die u.a. geistesgeschichtliche Konzepte (wie sie in seinen Anfängen der von Wilhelm Dilthey angeregte Friedrich Gundolf übernimmt) bzw. interdisziplinäre Stil- und Formanalysen zeitigt, nimmt Meyer hingegen keinen Anteil. Zwar sind aus seinen Schriften, insbesondere aus der Themenauswahl, mittelbar Anzeichen einer Skepsis gegenüber der damaligen Germanistik herauslesbar, was ihn zu neuen Forschungsgebieten führt, doch vermeidet er die offene Konfrontation
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mit seinen Fachkollegen, die bereits im Begriff sind, eine deutsche Nationalphilologie im Wortsinne zu installieren und folgerichtig dem Juden Meyer das Ordinariat verweigern. Meyer, der, verdienstvoll genug, als erster Germanist auf George hingewiesen hat, steht wie sein Kollege aus der Romanistik, Victor Klemperer, wissenschaftsgeschichtlich gesehen am Übergang zu einer moderneren Literaturwissenschaft. Die mittelbar durch das Vorwort, die weitschweifige Lebensbeschreibung (11–56) und die umfänglichen Anmerkungen suggerierte Bedeutung trifft aber schwerlich zu.
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Wolfgang Braungart
Cristina Fossaluzza / Paolo Panizzo (Hg.): Literatur des Ausnahmezustands (1914–1945). Würzburg: Königshausen & Neumann 2015, 305 S.
Der vorliegende, wichtige Band, der auf eine Tagung zurückgeht, die 2013 an der Universität Ca’ Foscari Venedig stattgefunden hat, berührt zwar nur mit einem Beitrag Stefan George und seinen Kreis intensiver (Jan Andres: Zur Ideenwelt des Ausnahmezustandes im Juli 1944. Alexander von Stauffenbergs Gedichtband ‚Denkmal‘, S. 161–185). Aber er führt doch in ein Problemfeld hinein, das auch für den George-Kreis die größte Bedeutung hat. Mit der leitenden Kategorie des Ausnahmezustandes, die etwa seit der Jahrtausendwende nicht von ungefähr wieder neue Aufmerksamkeit der politik-, geschichts- und sozialwissenschaftlichen, aber auch der literaturwissenschaftlichen Forschung auf sich zieht, ist natürlich ein Name immer mit aufgerufen: der des Rechtsphilosophen Carl Schmitts. Giorgio Agamben hat diese Kategorie seit den 1990er Jahren wieder aufgegriffen und noch radikaler zu bestimmen versucht. Literatur ist nicht Politik; aber sie kann sich doch der Politik im engeren und dem Politischen im weiteren Sinne zuwenden, ihm sich womöglich sogar andienen. Vor allem: sie kann das politisch Imaginäre durch ihre spezifischen ästhetischen Mittel mitgestalten; besonders die Konstanzer Literaturwissenschaft um Albrecht Koschorke hat in den letzten zwei Jahrzehnten dazu einschlägige Untersuchungen vorgelegt. In der literarischen Fiktion wird das Imaginäre konkret gestaltet und erfahrbar (vgl. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, 1991). Genau darum hat die literarische Diskussion des Ausnahmezustandes besondere Aufmerksamkeit verdient. Den Herausgebern, beide auf diesem Themengebiet ausgezeichnet ausgewiesen, ist es gelungen, eine Gruppe von wirklichen Kennern zusammenzubringen, die sich u.a. mit Thomas Mann, Musil, Benn, Hofmannsthal, Robert Walser und Remarque befassen. Von George her kann man fragen, inwiefern Literatur selbst per se den ästhetischen Ausnahmezustand für sich beansprucht und was das dann für ihre kulturkritische Funktion und ihr Verhältnis zum Politischen besagt (dazu auch die informative Einführung der Hg.). DOI 10.1515/george-2016/2017-0029
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Barbara Stambolis (Hg.): Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen. Göttingen: V&R unipress 2015, 392 S., 25 Abb.
Vor wenigen Jahren hat Ulrich Raulff gezeigt, wie tief in die Geschichte der frühen Bundesrepublik hinein die Wirkung Stefan Georges und seines Kreises reicht.1 Eben dies gilt auch für die Jugendbewegung, deren sozial- und kulturgeschichtliche Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Mit Skepsis und Distanz beobachtete der GeorgeKreis die Jugendbewegung wohl nicht zuletzt deshalb, weil er ihr im Grunde doch sehr nahe war. Die Jugendbewegung selbst war deshalb gewissermaßen ein ‚natürlicher‘ Rezeptions- und Wirkungsraum für Georges Werk und seine pädagogischen Konzepte. „Wer je die flamme umschritt, bleibe der flamme trabant“: dieser Vers aus dem ‚Stern des Bundes‘, im vorliegenden Band immer wieder zitiert, trifft ins Zentrum des Selbstverständnisses des George-Kreises wie auch der Jugendbewegung, als deren Leitvers er verstanden werden kann, so häufig nehmen die Quellen Bezug auf ihn. Auch Georges Schlussgedicht des ‚Algabal‘-Zyklus ‚Weisse schwalben sah ich fliegen‘ hat es bis ans Lagerfeuer ‚bewegter Jugend‘ und bis in die ‚Mundorgel‘ geschafft; in diesem Sinne ist es ein Volkslied geworden.2 In dem hier anzuzeigenden Band, den eine große Kennerin der Geschichte der Jugendbewegung und der Jugendkultur überhaupt besorgt hat, gehen ausgewiesene Fachleute, die zum Teil selbst aus der Jugendbewegung stammen, deren Wirkungsgeschichte nach (genannt seien nur: Walter Laqueur, Arno Klönne, Micha Brumlik, Jürgen Reulecke, Meike G. Werner, Justus H. Ulbricht, Alphons Kenkmann, Hans-Ulrich 1
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Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009; besprochen im George-Jahrbuch 8, 2010/11 Vgl. Dieter Martin: „Wer je die Flamme umschritt“. Stefan George am Lagerfeuer. In: Ralf Bogner u.a. (Hg.): Realität als Herausforderung. Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten, Berlin – New York 2011, S. 427–446.
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Thamer und Barbara Stambolis selbst). Hin und wieder klingt ein persönlicher Ton an, der dem hohen wissenschaftlichen Niveau aber keinen Abbruch tut. Die intensivsten Bezugnahmen auf Stefan George finden sich im eindringlichen Beitrag Michael Philipps (Ein Strahl von Hellas. Werner Hundertmark, ein Dichter der ‚Verlorenen Generation‘, 195–231). Kurz: Die George-Forschung wird mit diesem wichtigen, sehr sorgfältig edierten und durch viele Abbildungen auch anschaulichen Sammelband daran erinnert, wie viel gerade in der Rezeptions- und Wirkungsforschung noch zu leisten ist. Die Jahrestagung der George-Gesellschaft im Herbst 2016 wird deshalb auch dem Thema ‚Stefan George und die Jugendbewegung‘ gewidmet sein.
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Aus der Stefan-George-Gesellschaft Gisela Eidemüller
Nachrichten Zu den Jahrestagungen 2014 und 2015 Am 25. und 26. Oktober 2014 fand die Jahrestagung ‚Stefan George und der Krieg‘ im Stefan-George-Haus in Bingen statt. Professor Dr. Wolfgang Braungart (Bielefeld), Vorsitzender der Stefan-George-Gesellschaft e. V. Bingen, begrüßte die Anwesenden und eröffnete die Tagung. In sechs Vorträgen wurde die Wirkung des Ersten Weltkriegs auf Stefan George und seinen Kreis betrachtet. Dr. Ute Oelmann (Stuttgart) eröffnete die Tagung mit einer Lesung von Gedanken und Briefen ‚„Zu jubeln ziemt nicht: kein triumf wird sein“‘. Professor Dr. Peter Sprengel (Berlin) erörterte das Thema in seinem Vortrag ‚„Die jugend ruft die Götter auf“ – Stefan Georges Gedicht ‚Der Krieg‘ und das Kriegserlebnis der nächsten Generation (Otto Braun)‘. Dr. Daniela Gretz (Bochum) führte die Thematik fort mit ‚Allerlei Krieg. Der George-Kreis, das ‚Jahrbuch für die geistige Bewegung‘ und der Erste Weltkrieg‘ und Professor Dr. Helmuth Kiesel (Heidelberg) sprach zu ‚Stefan Georges ‚Kriegstriptychon‘: ‚Der Krieg‘, ‚Der Dichter in Zeiten der Wirren‘ und ‚Einem jungen Führer im Ersten Weltkrieg‘‘. Dr. Gabriela Wacker (Tübingen) sprach am folgenden Tag über ‚„Ich werde heldengrab.“ ‚Georges Kriegs-Prophetie zwischen Heldenverdichtung und Selbstentzug‘ und Dr. Gabriele Guerra (Venedig) ‚„Herr der Wende“ und „erkrankte welten“. Wirklichkeit des Apokalyptischen und Erwartung des Eschatologischen bei George und in seinem Kreis 1914–1917‘. Alle Vorträge trafen auf einen interessierten und teilweise sichtlich bewegten Zuhörerkreis, zumal einige Tagungsteilnehmer den Zweiten Weltkrieg noch erlebt hatten und die Thematik umso besser nachempfinden konnten. Thema der George Jahrestagung, die am 7. und 8. November 2015 wiederum in Bingen im Stefan-George-Haus stattfand, war ‚Stefan George DOI 10.1515/george-2016/2017-0031
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und die Briefkommunikation im Kreis‘. Auch in diesem Jahr erfolgten Begrüßung und Tagungseröffnung durch Professor Dr. Wolfgang Braungart (Bielefeld). Insgesamt acht Vorträge und Lesungen bestimmten die Veranstaltung. Professorin Dr. Renate Stauf (Braunschweig) sprach über ‚„ … dass eines sein großes und edles ins andere hineinzutragen vermag“. Modulationen der Gefühle in der Liebesbriefkultur – das Beispiel Stefan George und Ida Coblenz‘. Es folgte Professor Dr. Dieter Burdorf (Leipzig) mit einem Vortrag zu ‚Lyrische Korrespondenzen. Überlegungen zum Verhältnis von Brief und Gedicht in der Literatur der Moderne.‘ Durch Professorin Dr. Christine Haug (München) ‚Der Brief als buchgeschichtliche Quelle – Briefkommunikation im Stefan George-Kreis‘ wurde die Diskussion erweitert. Die ‚Freundschaft nebst Briefen und Bildern – Sabine Lepsius: ‚Stefan George. Geschichte einer Freundschaft‘ (1935)‘ wurde von Professor Dr. Joachim Jacob (Gießen) behandelt. Dr. Ute Oelmann und Dr. Birgit Wägenbaur (beide Stuttgart) lasen aus dem jüngst erschienenen Briefwechsel zwischen Stefan George und Karl Wolfskehl und kommentierten diese für beide so wichtige Freundschaft. Janus Gudian (Frankfurt a. M.) sprach am nächsten Tag über ‚Die Briefedition ‚Ernst Kantorowicz‘‘, und Dr. Helmuth Mojem und Dr. Gunilla Eschenbach (beide Marbach a. N.) beendeten die Tagung mit Vortrag zu und Lesung aus ‚Gefährliche Liebschaft. Friedrich Gundolf und Elisabeth Salomon in ihren Briefen.‘ Anhaltender Beifall dankte in beiden Jahren den Vortragenden, und differenzierte Diskussionen bereicherten die Tagungen. Die Ergebnisse der Jahrestagung von 2014 werden im vorliegenden Jahrbuch veröffentlicht; die der Jahrestagung 2015 erscheinen im Jahrbuch 12. Wie nach jeder Jahrestagung fand auch 2014 und 2015 nach dem Abendvortrag ein Empfang für Mitglieder und Gäste statt, der jeweils recht zahlreich besucht war. Rechtzeitig zur Jahrestagung 2015 konnten drei Neuerscheinungen im De Gruyter Verlag vorgestellt werden. Es handelt sich um ‚Stefan George und die Religion‘, hrsg. von Wolfgang Braungart, ‚Gundolf, Friedrich / Salomon, Elisabeth, Briefwechsel (1914–1931)‘, hrsg. von Gunilla Eschenbach und Helmuth Mojem sowie die zweite Auflage von ‚Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch‘ in Broschur, hrsg. von Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer und Ute Oelmann. Die Mitglieder der Stefan-George-Gesellschaft e.V. Bingen
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konnten die drei Bücher bis Ende 2015 zu ermäßigten Preisen erhalten. Außerdem erschien im Beck Verlag passend zur Jahrestagung 2015 ‚„Von Menschen und Mächten“ Stefan George – Karl und Hanna Wolfskehl, der Briefwechsel 1892–1933‘, hrsg. von Birgit Wägenbaur und Ute Oelmann im Auftrag der Stefan George Stiftung. Zu den Mitgliederversammlungen 2014 und 2015 Bei den Mitgliederversammlungen 2014 und 2015 gedachten die Anwesenden zu Beginn der verstorbenen Mitglieder: Klaus Landfried (Kaiserslautern) in 2014 und Bruno Kondratzki (Bad Eilsen), Franz Toth (Bingen) sowie Richard von Weizsäcker (Berlin) in 2015. Danach trugen der Vorsitzende Professor Dr. Wolfgang Braungart und die Geschäftsführerin Gisela Eidemüller jeweils ihren Tätigkeitsbericht für die Jahre 2014 und 2015 vor. Nach den Berichten der Kassenprüfer Gudrun Hilsdorf, Apothekerin i. R., und Reiner Oschewsky, OStD. i. R., erfolgte in beiden Jahren einstimmig die Entlastung des Vorstands. Beide Rechnungsprüfer erklärten sich jeweils bereit, das Amt als Kassenprüfer für ein weiteres Jahr zu übernehmen; die Mitgliederversammlung dankte ihnen für ihre Bereitschaft. Bei der Mitgliederversammlung 2015 standen satzungsgemäß Vorstandswahlen an. Professor Dr. Wolfgang Braungart, Bielefeld (Vorsitzender) und Professorin Dr. Christine Haug, München (Stellvertretende Vorsitzende) kandidierten für weitere drei Jahre. Professor Dr. Dr. h.c. Wolfgang Graf Vitzthum, Tübingen, (Stellvertretender Vorsitzender) legte sein Amt nach neun Jahren nieder. Für das Amt der Stellvertretenden Vorsitzenden stellte sich Dr. Ute Oelmann, Stuttgart, Leiterin des Stefan George-Archivs i. R., zur Wahl. OStR. i. R. Gisela Eidemüller, seit 1988 Stellvertreterin in der Vorgängergesellschaft, dann seit 1994 im Vorstand der Stefan-George-Gesellschaft in der gleichen Funktion, und ab 1997 Geschäftsführerin, hatte bei der Mitgliederversammlung 2014 ihren Rücktritt für 2016 angekündigt. Um einen fließenden Übergang der Belange der Geschäftsführung und des Museums in Bingen zu ermöglichen, stellte sie sich für ein Jahr zur Wiederwahl. Als Nachfolgerin ab der Jahresversammlung im November 2016 wurde Dr. Gabriele von Bassermann-Jordan, München, vorgeschlagen. Der Versammlungsleiter Professor Dr. Dr. h.c. Wolfgang
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Graf Vitzthum schlug die Kandidaten vor; die Wahl erfolgte einstimmig. Sie wurde von den Betreffenden angenommen. Die angekündigte Beitragserhöhung von 35 € auf 45 € für den vollen Beitrag und von 15 € auf 20 € für den ermäßigten Beitrag (Studierende mit Studienausweis) wurde einstimmig angenommen. Im Jahr 2015 hatte die Gesellschaft 202 persönliche und 7 korporative Mitglieder. In beiden Jahren wurden wieder Abiturienten der Gymnasien in Bingen und St. Goarshausen mit dem Stefan-George-Schulpreis der Gesellschaft für die besten Deutscharbeiten ausgezeichnet. Zum Museum und den Sammlungen Im Stefan-George-Museum gab es keine Neuanschaffungen oder Veränderungen. Die Stefan-George-Gesellschaft dankt der ‚Stiftung zur Förderung begabter und bedürftiger Jugendlicher sowie junger Schriftsteller und Publizisten im Stefan-George-Haus in Bingen‘ für die Übernahme einer größeren Restauration an den beiden großen Schauvitrinen. Seit Sommer 2014 wird von der Geschäftsführerin eine sehr umfangreiche, detaillierte Bestandsaufnahme aller Bücher, Bilder und sonstiger Objekte neu erstellt, u.a. unter den Gesichtspunkten des Besitzes privater und öffentlicher Leihgeber (auf Dauer oder auf Zeit), Eigentums des Museums, der Übernahmen von der Vorgängergesellschaft, der Schenkungen von Mitgliedern und Bürgern der Stadt Bingen, des Eigentums der Stadt Bingen sowie der Anschaffung von Mobiliar mit fotografischen Belegen. Erfasst werden sollen auch der Zeitpunkt der Restaurierung von Gemälden, Grafiken und Büchern. Im Herbst 2016 wird die Stefan-George-Gesellschaft zum Thema ‚Stefan George und die Jugendbewegung‘ tagen. Dank In beiden Jahresversammlungen wurde seitens der Stefan-George-Gesellschaft vielfältig gedankt für Förderung und Unterstützung – den Mitgliedern für Spenden, der Stadt Bingen für Hilfe in den organisatorischen Bereichen und finanzielle Zuwendung. Besonderer Dank galt wie immer den Jahrbuchherausgebern Professor Dr. Wolfgang Braungart und Dr. Ute Oelmann.
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Die nächsten Vorstandswahlen finden bei der Mitgliederversammlung im Jahr 2018 statt. Weitere Informationen zur Gesellschaft und ihren Veranstaltungen erhalten die Mitglieder durch die ausführlichen Rundschreiben im Mai eines jeden Jahres. Nachtrag der Herausgeber zum vorstehenden Bericht: Aus juristischen Gründen musste die Vorstandswahl in einer außerordentlichen Mitgliederversammlung am 16. April 2016 wiederholt werden. Gewählt wurden Prof. Dr. Wolfgang Braungart, Bielefeld (Vorsitzender), Prof. Dr. Christine Haug, München (Stellvertretende Vorsitzende), Dr. Ute Oelmann, Stuttgart (Stellvertretende Vorsitzende), Dr. Gabriele von Bassermann-Jordan, München (Geschäftsführerin).
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Stefan-George-Gesellschaft e.V. Bingen Vorstand Professor Dr. Wolfgang Braungart Postfach 10 01 31 D-33501 Bielefeld Tel. 0521 – 106 52 64 E-Mail: [email protected] Professorin Dr. Christine Haug, Stellvertr. Vorsitzende Institut für Deutsche Philologie Schellingstr. 3 RGB D-80799 München Telefon: 0 89 – 21 80–24 97 E-Mail: [email protected] Dr. Ute Oelmann, Leiterin i.R. des Stefan George Archivs Stuttgart Stefan George Archiv Württembergische Landesbibliothek Postfach 105441 D-70173 Stuttgart E-Mail: [email protected] Gisela Eidemüller, OStR. i.R., Geschäftsführerin bis 16. 4. 2016 In den Rödern 46 D-64297 Darmstadt Tel. 0 61 51 – 59 25 03 E-Mail: [email protected] Dr. Gabriele von Bassermann-Jordan ab 16. 4. 2016 Institut für Deutsche Philologie Schellingstr. 3 VG D-80799 München Tel. 0 89 – 21 80 23 34 E-Mail: [email protected] Der Oberbürgermeister der Stadt Bingen gehört dem Vorstand kraft Amtes an. DOI 10.1515/george-2016/2017-0032
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Kuratorium Dr. Hans-Peter Geh (Bad Homburg), Präsident der Struktur- und Genehmigungsdirektion Süd Prof. Dr. Hans-Jürgen Seimetz (Neustadt an der Weinstraße).
Beirat Prof. Dr. Bernhard Böschenstein (Genf), Prof. Dr. Katharina Mommsen (Stanford / USA), Prof. Dr. Christoph Perels (Frankfurt am Main), Prof. Dr. Klaus Reichert (Frankfurt am Main), Prof. Dr. Reimar Schefold (Leiden / NL), Jutta Schloon (Bergen / N) Diana Richtsteiger (St. Goarshausen).
Stefan-George-Museum Stefan-George-Haus Freidhof 9 D-55411 Bingen am Rhein Ausstellung zu Leben und Werk Stefan Georges. Öffnungszeiten: Dienstag, Donnerstag und Samstag von 14 – 17 Uhr. Telefon nur während der Öffnungszeiten: 0 67 21 – 99 10 94 Telefon Tourist-Information: 0 67 21 – 184–205 Korrespondenzadresse für das Museum ist die Adresse der Geschäftsführerin.
Periodika: Stefan-George-Jahrbuch im Auftrag des Vorstandes herausgegeben von Professor Dr. Wolfgang Braungart (Bielefeld) und Dr. Ute Oelmann (Stuttgart); es erscheint seit 1996 alle zwei Jahre im De Gruyter Verlag (Berlin).
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Mitgliedschaft Die Mitgliedschaft wird durch schriftliche Beitrittserklärung gegenüber dem Vorstand (Brief an die Geschäftsführerin) erworben. Der Mitgliedsbeitrag beträgt z.Zt. 45 € jährlich, Studierende (mit Studienausweis) 20 €. Mitgliedern, die ihren Beitrag bezahlt haben, wird das Jahrbuch zugesandt. Bankverbindung Deutschland: Sparkasse Rhein-Nahe Int. Bank Account Number: DE88 5605 0180 0030 0447 70 SWIFT-BIC.: MALADE51KRE
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Anschriften der Beiträger Dr. Thomas Amos, Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Grüneburgplatz 1, 60323 Frankfurt Dr. Jan Andres, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld Prof. Dr. Friedmar Apel, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld Prof. Dr. Bernhard Böschenstein, Le Belvédère, 51 Chemin du GrandPin, 1802 Corseaux, Schweiz Prof. Dr. Wolfgang Braungart, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld Prof. Dr. Kay Ehling, Oberkonservator Staatliche Münzsammlung München, Residenzstraße 1, 80333 München Gisela Eidemüller, bis 16. 4. 2016 Geschäftsführerin der Stefan-GeorgeGesellschaft, In den Rödern 46, 64297 Darmstadt Dr. Robert Matthias Erdbeer, DFG-Graduiertenkolleg ‚Literarische Form. Geschichte und Kultur ästhetischer Modellbildung‘, Westfälische Wilhelms-Universität, Robert-Koch-Straße 29, 48149 Münster Dr. Carmen Gómez García, CES Felipe II (UCM), Traducción-Interpretación, Edificio del Gobernador, c/ Capitán, s/n, 28300 Aranjuez (Madrid), Spanien Dr. Daniela Gretz, Institut für Deutsche Sprache und Literatur I, Universität zu Köln, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln Prof. Dr. Gabriele Guerra, Dipartimento di Studi Europei, Americani e Interculturali, Università degli studi di Roma „La Sapienza“, Via Carlo Fea 2, 00161 Roma, Italien Prof. Dr. Kai Kauffmann, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld
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Prof. Dr. Helmuth Kiesel, Germanistisches Seminar, Universität Heidelberg, Hauptstraße 207 – 209, 69117 Heidelberg Prof. Dr. Manfred Koch, Bügl Süt 157, 7554 Sent/GR, Schweiz Dr. Sándor Komáromi, Ifjúság út 120, Somoskoújfalu 3121, Ungarn Prof. Dr. Robert E. Lerner, Department of History, Northwestern University, 1881 Sheridon Road, Evanston, IL 60208, USA PD Dr. Jörg Löffler, Fachbereich Germanistik, Universität Vechta, Driverstraße 22–26, 49377 Vechta Prof. Hiroshi Matsuo, Matsuyama Universität, Bunkyo 4–2, 790–8578 Matsuyama, Japan Dr. Ute Oelmann, Stefan George Archiv, Württembergische Landesbibliothek, Konrad-Adenauer-Straße 8, 70173 Stuttgart Dr. Markus Pahmeier, Dieselstraße 23, 32657 Lemgo Dr. Giulia Radaelli, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld Katharina Roettig, Institut für Klassische Philologie, Universität Bern, Länggassstrasse 49, 3012 Bern, Schweiz Prof. Dr. Peter Sprengel, Institut für deutsche und niederländische Philologie, Freie Universität Berlin, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin Dr. Barbara Stiewe, Brandestraße 28, 30519 Hannover Dr. Gabriela Wacker, Deutsches Seminar, Universität Tübingen, Mathildenstraße 32, 72070 Tübingen Franziska Walter, Samkestraße 5, 31832 Springe