Killy Literaturlexikon: Band 11 Si – Vi
 9783110220414, 9783110220407

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Killy Literaturlexikon

Band 11

Killy Literaturlexikon Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes 2., vollständig überarbeitete Auflage Herausgegeben von Wilhelm Kühlmann in Verbindung mit Achim Aurnhammer, Jürgen Egyptien, Karina Kellermann, Steffen Martus, Reimund B. Sdzuj Band 11 Si – Vi

De Gruyter

Die erste Auflage erschien unter dem Titel Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache im Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh/München, herausgegeben von Walther Killy unter Mitarbeit von Hans Fromm, Franz Josef Görtz, Gerhard Köpf, Wilhelm Kühlmann, Gisela Lindemann, Volker Meid, Nicolette Mout, Roger Paulin, Christoph Perels, Ferdinand Schmatz, Wilhelm Totok und Peter Utz. Die in diesem Lexikon gewählten Schreibweisen folgen dem Werk „WAHRIG – Die deutsche Rechtschreibung“ sowie den Empfehlungen der WAHRIG-Redaktion. Weitere Informationen unter www.wahrig.de Redaktion: Christine Henschel (Leitung) und Bruno Jahn Redaktionsschluss: 30. Juni 2011

ISBN 978-3-11-022040-7 e-ISBN 978-3-11-022041-4 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.  für die 1. Auflage by Bertelsmann Lexikon Verlag GmbH, Gütersloh/München 1988 – 1993 Alle Rechte vorbehalten  für die 2. Auflage 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen Satz: Process Media Consult, GmbH Druck: Hubert & Co., Göttingen 1 Gedruckt auf säurefreiem Papier * Printed in Germany www.degruyter.com

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Wolfgang Achnitz Gregor Ackermann Norman Ächtler Martin Albrecht Stefan Alker Claus Altmayer Alfred Anger Uta Angerer Klaus Arnold Marcel Atze Ilse Auer Friedhelm Auhuber Achim Aurnhammer Anton Austermann Michael Auwers Hans-Jürgen Bachorski András F. Balogh Eva-Maria Bangerter-Schmid J. Alexander Bareis Heiner Barz Bernd Bastert Stefan Bauer Günter Baumann Reinhard Baumann Peter von Becker Sabina Becker Michael Behnen Thomas Bein Arnd Beise Gustav Adolf Benrath Jill Bepler Clemens Bergstedt Rüdiger Bernhardt Christa Bertelsmeier-Kierst Ad den Besten Wolfgang Biesterfeld Dirk Blasius Dietrich Blaufuß Hartmut Bobzin Maria Böhmer Holger Böning Philipp Böttcher Gerhard Bolaender

Alexander Bormann Erika Bosl Michael Braun Wolfgang Braungart Gisela Brinker-Gabler Friedhelm Brusniak Birgit Buchholz Walter Buckl Rolf Bulang Hans Peter Buohler Karl Heinz Burmeister Gudrun Busch Volker Busch Monika Carbe Rémy Charbon Silvana Cimenti Eckehard Czucka Gesa Dane Mark-Georg Dehrmann Heinrich Detering Nicolas Detering Jutta Dick Ulrich Dierse Hartmut Dietz Steffen Dietzsch Jürgen Doll Misia Sophia Doms Ingeborg Dorchenas Horst Dreitzel Alfred Dreyer Constanze Drumm Reinhard Düchting Stephanie Düsterhöft Klaus Düwel Franz Dumont Michel Durand Sophia Ebert Willigis Eckermann Jürgen Egyptien Anke Ehlers Kristin Eichhorn Jost Eickmeyer Stefan Elit

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Teja Erb Karl Esselborn Michael Farin Christoph Fasbender Jörg-Ulrich Fechner Konrad Feilchenfeldt Detlef Felken Sascha Feuchert Ruth Finckh André Fischer Ernst Fischer Frank Fischer Peter Fischer Petra Fochler Konrad Franke Hartmut Freytag Hans-Edwin Friedrich Maria Frisé Cornelia Fritsch Hartmut Fröschle Waldemar Fromm Wolfgang Frühwald Ruth Fühner Frank Fürbeth Wilhelm Füßl Kurt Gärtner Iris Gareis Michael Geiger Guillaume van Gemert Uta Goerlitz Franz Josef Görtz Dirk Göttsche Nicola Götz Dagmar Gottschall Walter Grab Daniel Graf Friedrich Wilhelm Graf Wolfgang Griep Helmuth Grössing Christoph Groffy Klaus Grubmüller Eckhard Grunewald Karl S. Guthke Julei M. Habisreutinger Erich Hackl Wilhelm Haefs Claudia Händl Günter Häntzschel Hiltrud Häntzschel Lutz Hagestedt Andrea Hahn Peter-Henning Haischer Christiane Hansen Matthias Harder

Wolfgang Harms Heiko Hartmann Jan-Christoph Hauschild Christian Hauser Jens Haustein Richard Heckner Ingrid Heinrich-Jost Cornelia Heinsch Joachim Heinzle Ernst Hellgardt Mechthild Hellmig Wiebke Hemmerling Wolfhart Henckmann Gabriele Henkel Rainer Henrich Leonhard Herrmann Ulrich Herrmann Randall Herz Peter Heßelmann Walter Hettche Klaudia Hilgers Achim Hölter Stefan Höppner Nele Hoffmann Peter Hoffmann Heinz Holeczek Hans Otto Horch Christoph Huber Klaus Hübner Hans-Otto Hügel Adrian Hummel Stefan Iglhaut Wilfried Ihrig Julia Ilgner Ferdinand van Ingen Jürgen Jacobs Bruno Jahn Harald Jakobs Detlev Janik Herbert Jaumann Klaus Johann Ulrich Joost Renate Jürgensen Werner Jung Christian Juranek Herbert Kaden Peter Kallenberer Elke Kasper Rudolf W. Keck Karina Kellermann Dirk Kemper Christian Kiening Johannes Klaus Kipf Doris Kirchner

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VII André Kischel Detlef Klahr Elisabeth Klecker Hanna Klessinger Jacob Klingner Kathrin Klohs Arnulf Knafl Mathieu Knops Marion Kobelt-Groch Hans-Albrecht Koch Sven Koch Jörg Köhler Klaus Christian Köhnke Christoph König Peter König Barbara Könneker Maria Kohli-Kreß Catharina Koller Gisela Kornrumpf Fritz Krafft Thomas Kramer Hannes Krauss Helmut K. Krausse Wynfrid Kriegleder Hermann Krüssel Peter Krumme Primus-Heinz Kucher Ulla Britta Kuechen Wilhelm Kühlmann Jürgen Kühnel Hartmut Kugler Walther Kummerow Hans Peter Kunisch Susanne Lange Peter Langemeyer Ingo Langenbach Corinna Laude Felix Leibrock Gerald Leitner Stephan Lesker Pia-Elisabeth Leuschner Ulrike Leuschner Virginia L. Lewis Tino Licht Sandra Linden Joachim Linder Charles Linsmayer Gudrun Litz Dieter Lohmeier Sabine Lorenz Janine Ludwig Matthias Luserke Ulrich Maché Barbara Mahlmann-Bauer

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Hanspeter Marti Matías Martínez Monika Maruska Arno Matschiner Kjeld Matthiesen Michael Matzigkeit Beat Mazenauer Ewa Mazurkiewicz Christopher Meid Volker Meid Jörg Meidenbauer Andreas Meier Christoph Meinel Gert Melville Walter Methlagl Dietrich Meyer Jochen Meyer Eckhardt Meyer-Krentler Alain Michel Volker Michel Wolfgang Mieder Zygmunt Mielczarek Rita Mielke Fritz Mierau York-Gothart Mix Emmy Moepps Markus Mollitor Josef Morlo Dietz-Rüdiger Moser Elfriede Moser-Rath Mario Müller Oliver Müller Wolf-Dieter Müller-Jahncke Uta Müller-Koch Gunnar Müller-Waldeck Tanja Nause Andreas Nentwich Sven Neufert Volker Neuhaus Bernd Neumann Michael Neumann Gunther Nickel Jost Nickel Yvonne Nilges Hannes Obermair Klara Obermüller Walter Olma John Osborne Bernadette Ott Michael Ott Norbert H. Ott Sven Papcke Walter Pape Georg Patzer

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Ute Paukolat Ina Ulrike Paul Roger Paulin Rolf Paulus Helmut Pfanner Dietmar Peil Kristina Pfoser-Schewig Ewa Pietrzak Roland Pietsch Hans Pörnbacher Barbara Pogonowska Bernd Prätorius Gesine von Prittwitz Rosemarie Inge Prüfer Matthias Puhle Uwe Puschner Bettina Rabelhofer Jürgen Rathje Rachel Raumann Robert Rduch Martin Rector Philipp Redl Friederike Reents Pia Reinacher Heimo Reinitzer Hubert Reitterer Kaspar Renner Matthias Richter Joachim Rickes Ulfert Ricklefs Wolfgang Riedel Gerda Riedl Stefan W. Römmelt Friedel Helga Roolfs Andreas Roth Franz Rottensteiner Hartmut Ruddies Arnd Rühle Walter Ruprechter Stefan Christoph Saar Johannes Sachslehner Eda Sagarra Sascha Salatowsky Hans Sarkowicz Ingrid Sattel Bernardini Gerhard Sauder Eberhard Sauermann Walter E. Schäfer Uta Schäfer-Richter Christoph Schanze Frieder Schanze Astrid Schau Elisabeth Schawerda Michael Scheffel

Jörg Schilling Michael Schilling Wolfgang Schimpf Martin Schmeisser Christine Schmidjell Wolf Gerhard Schmidt Sabine Schmolinsky Ronald Schneider Barbara Schnetzler André Schnyder Rainer Schönhaar Detlev Schöttker Angela Schrameier Birgit Schreiber Gabriella Schubert Alexander Schüller Sonja Schüller Hans J. Schütz Saskia Schulte Johannes Schulz Thomas B. Schumann Gudrun Schury Hans-Rüdiger Schwab Christian Schwarz Dieter Schwarz Reimund B. Sdzuj Astrid Seele Wolfgang Seibel Rolf Selbmann Winfried Siebers Reinhart Siegert Christoph Siegrist Franz Günter Sieveke Rudolf Smend Johann Sonnleitner Björn Spiekermann Yara Staets Guido Stefani Johann Anselm Steiger Robert Steinborn Jacob Steiner Hajo Steinert Ralf-Henning Steinmetz Hans Stempel Volker Stolle Alfred Strasser Christoph Strohm Gerhard Stumpf Robert Stupperich Andreas Sturies Loris Sturlese Juliane Sucker Dieter Sudhoff Norbert Suhr

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IX Anette Syndikus Christian Teissl Oliver Tekolf Joachim Telle Reinhard Tenberg Hellmut Thomke Eva Maria Thüne Harry Timmermann Dieter Trauden Cord Christian Troebst Elke Ukena-Best Jürgen von Ungern-Sternberg Reinhard Urbach Theodor Verweyen Albrecht Viertel Klaus Völker Jochen Vogt Friedrich Voit Dominica Volkert Gisela Vollmann-Profe Hartmut Vollmer Karin Vorderstemann Lieselotte Voss Torsten Voß Falk Wagner Bernhard Walcher Gabriela Walde Luisa Wallenwein Jürgen P. Wallmann

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Klaus-Peter Walter Christiane Weber Ernst Weber Wolfgang Weismantel Bernd Weitemeier Horst Wenzel Norbert Wex Ursula Weyrer Joachim Whaley Heiner Widdig Hermann Wiegand Ulla Williams Werner Williams-Krapp Tina Winzen Gunther Witting Reinhard Wittmann Gerhard Wolf Jürgen Wolf Jean M. Woods Markus Wriedt Elisabeth Wunderle Werner Wunderlich Urs Martin Zahnd Mario Zanucchi Carsten Zelle Hans-Joachim Ziegeler Christian von Zimmermann Thomas Zwenger Marek Zybura

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Siber, Siberus, Adam, * 8.9.1516 Schönau bei Zwickau, † 24.9.1584 Grimma. – Protestantischer Humanist, Dichter u. Schulmann. Aus einer Familie der Böhmischen Brüder stammend, besuchte S. die Schule in Zwickau, dann, teilweise bereits als Hilfslehrer herangezogen, in Annaberg (1534) u. Schneeberg. Schon in diesen Jahren schloss er die lebenslange Freundschaft mit Georg Fabricius, dem bedeutenden Schulhumanisten u. späteren Rektor der Fürstenschule in Meißen. Mit Unterbrechungen studierte S. in Wittenberg (1536/37), wo er 1540 den Magistertitel erwarb u. Justus Jonas, Bugenhagen, Cruciger, Luther u. Melanchthon kennen lernte. Seine Schulkarriere führte über Freiberg (Rektor 1541–1545) u. Halle nach Chemnitz (1547), wo er auch Kontakt mit dem Stadtphysicus u. herausragenden Naturwissenschaftler Georg Agricola pflegte. Seit 1550 wirkte S. als erster Rektor an der dritten sächs. Fürstenschule zu Grimma. Die viel gerühmte Lyrik dieses »christlichen Vergil« wurde, nach vorhergehenden Teildrucken, v. a. in zwei großen Sammlungen publiziert (Poematum Sacrorum pars prima. Pars Altera. Basel 1565. Elektronisch lesbar in CAMENA): Sie entwickeln u. demonstrieren, auch in den Vorreden, das ästhetische u. moralisch-pädagog. Programm eines betont christl. Humanismus u. beziehen sich dabei u. a. auf Eobanus Hessus u. Georg Stigelius, dessen poetisches Werk S. herausgab (Jena 1577). Die christl. Epik der Spätantike, aber auch Lyriker wie Prudentius u. die ältere Hymnendichtung beeinflussten die von S. maßgeblich erneuerte geistl. Lyrik u. Bibelpoesie – letztere vornehmlich nach alttestamentarischen, von ihm auch für die Schule kommentierten Vorlagen (darunter lat. Nachdichtungen des Hohen Liedes u. des auch als Einzeldruck erschienenen Psalters). Titel der Gedichtgruppen u. verschiedene Bearbeitungen verweisen auf Anregungen ital. Dichterhumanisten (Strozzi, Bembo, Flaminius). Als Schulmann wirkte S. wie Georg Fabricius durch pädagog. Traktate, Textsammlungen u. Lehrordnungen, die sich von Melanchthon u. dem Straßburger Schulre-

Siber

formator Johann Sturm beeinflusst zeigen, aber auch durch eine Fülle alltagsweltlicher, deshalb kulturhistorisch aufschlussreicher Gebrauchslyrik, die den Tagesablauf u. die Mentalität des sächsischen gelehrten Schulwesens, nicht zuletzt autobiografisch wichtige Ereignisse u. Einstellungen illustrieren. S.s Preisgedichte auf Eobanus Hessus, Cruciger, Petrus Apian u. Justus Jonas wurden abgedruckt in den Icones sive Imagines virorum literis illustrium (Straßb. 1587) des Nikolaus Reusner; Gruter nahm Poesien von S. u. seinem Sohn Adam Theodor 1612 in die Delitiae poetarum Germanorum (Bd. 6, S. 117–205. Elektronisch lesbar in CAMENA) auf. Einlässliche neuere Forschungen bleiben ein Desiderat. Weitere Werke: Ludus literarum apud Chemnicium Misniae. Straßb. 1549 (weitere Drucke bis mindestens 1574). – Pietas puerilis ex diversis doctorum monumentis collecta. Lpz. 1551. – Poematum Sacrorum libri XVI. Basel 1556. – Psalterii seu Carminum Davidicorum libri V. Basel 1562 (mit Brief/Vorrede Melanchthons). – Poematum Libri V. Basel 1562 (auch in CAMENA). – Epigrammatum libellus. Basel 1566. – Libellus scholasticus educationi puerili confectus. Lpz. 1572. – In Davidis Isaei Prophetae et Regis Hebraeorum poenitentiam commentariolum scholasticum. Ebd. 1572. – Sionion seu Historiae sacrae Libri octo. Ebd. 1573 (auch in CAMENA). – Breviarium Christianum continens Doctrinam, Preces, Cantica et Hymnos ecclesiae. Ebd. 1575. – In Davidis [...] Psalterium Commentariorum scholasticorum Libri quinque. Wittenberg 1580. – Enchiridion pietatis puerilis. Lpz. 1580. – Passionale, seu cruenti sacrificii Dn. nostri Jesu Christi [...] historia. Ebd. 1589. Literatur: Bibliografien: VD 16. – William Jervis Jones: German lexicography in the european context. A descriptive bibliography [...]. Bln. u. a. 2000, Nr. 1053–1061. – Weitere Titel: Georg Müller: A. S. In: ADB. – K. Kirchner: A. S. u. das Chemnitzer Lyceum in der ersten Hälfte des 16. Jh. In. Mitt.en des Vereins für Chemnitzer Gesch. Jb. für 1884–86. Chemnitz 1887, S. 3–206 (grundlegend, mit Werkverz. u. Übers.en). – Georg Ellinger: Georg Fabricius u. A. S. Ein Beitr. zur nlat. Dichtung Dtschld.s im 16. Jh. In: Beiträge zur Lit.- u. Theatergesch. FS Ludwig Geiger. Hg. Gesellsch. für Theatergesch. Red.: Heinrich Stümcke. Bln. 1918, S. 1–12. – Ellinger 2, S. 157–162. – Walter Ludwig: Musenkult u. Gottesdienst. Evangelischer Humanismus der Reformationszeit. In: Ders. (Hg.): Die

Sibote Musen im Reformationszeitalter. Lpz. 2001, S. 9–51, bes. S. 46–50 u. ö. Auch in ders.: Miscella Neolatina. Hg. Astrid Steiner-Weber. Bd. 1, Hildesh. u. a. 2004, S. 249–294. Wilhelm Kühlmann

Sibote. – Märendichter des 13. Jh.

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dagegen nur bei S. u. als Hauptmotiv in der eng verwandten mhd. Erzählung Die gezähmte Widerspenstige. Ausgaben: Heinrich Niewöhner: Neues Gesamtabenteuer. 2. Aufl. hg. v. Werner Simon. Dublin/Zürich 1967, S. 1–11. – Cornelie Sonntag: S.s ›Frauenzucht‹. Krit. Text u. Untersuchungen. Hbg. 1969 (mit nhd. Übertragung). Literatur: Cornelie Sonntag: S.s ›Frauenzucht‹. a. a. O. – Frauke Frosch-Freiburg: Schwankmären u. Fabliaux. Göpp. 1971, S. 87–95. – Hanns Fischer: Studien zur dt. Märendichtung. Tüb. 21983, S. 180 f., 410 f. (Bibliogr.). – Hans-Joachim Ziegeler: S. In: VL. – Claudia Brinker-von der Heyde: Weiber-Herrschaft oder: Wer reitet wen? Zur Konstruktion u. Symbolik der Geschlechterbeziehung. In: Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ›Körper‹ u. ›Geschlecht‹ in der dt. Lit. des MA. Hg. Ingrid Bennewitz u. Helmut Tervooren. Bln. 1999, S. 47–65. – Noriaki Watanabe: Kriemhild als Widerspenstige: ›Rosengarten zu Worms A‹ u. ›Frauenzucht‹. In: Zwischenzeiten – Zwischenwelten. FS Kozo Hirao. Hg. Josef Fürnkäs u. a. Ffm. u. a. 2001, S. 105–119.

Am Anfang des Schwanks Frauenerziehung (auch: Frauenzucht, Die gezähmte Widerspenstige I; drei Fassungen, 806–984 Verse) wird in zwei der ältesten der insg. sieben die Reimpaarerzählung überliefernden Handschriften als Dichter S. genannt, den die Forschung mit dem Hofmusiker König Manfreds, Meister S. von Erfurt, zu identifizieren versucht hat. In einer Variation des Themas der Zähmung eines »übelen wibes« erzählt S. zunächst, wie ein Ritter sich 30 Jahre von seiner Frau tyrannisieren lässt. Die schöne Tochter wird von ihrer Mutter zu einer noch schlimmeren Furie erzogen, die niemand heiraten will, bis ein benachbarter Ritter Mut fasst. Zwar verspricht sie der Mutter, ihrem Gatten Ulla Williams / Red. das Leben schwer zu machen, doch gelingt dem Ritter schon beim Heimritt die Umerziehung: Grausam tötet er seinen Habicht, Sibutus, Georg Daripinus (vielleicht zu seinen Hund u. sein Pferd wegen angebl. griech. de´1ein – häuten, roden? u. lat. piUngehorsams, sattelt dann seine Braut u. nus, auf Tannroda/Thüringen weisend), zwingt sie, ihm als Pferd zu dienen, bis sie * ca. 1480, † nach 1528. – Humanist u. beteuert, ihm gefügig sein zu wollen. Beim neulateinischer Dichter. ersten elterl. Besuch wirft die Mutter ihrer Tochter Versagen im Machtkampf vor, wäh- Der Celtisschüler wurde auf dem Reichstag rend der Vater den Ritter bittet, auch seine zu Köln 1505 von Maximilian I. zum Dichter Gattin zu heilen. Mit zwei Schafsnieren geht gekrönt; das Diplom ist dem Lobgedicht auf dieser zur Schwiegermutter u. erklärt ihr, der Maximilians Einzug im Druck angeschlosGrund ihrer Bosheit läge in zwei in ihrem sen. Weitere Beigaben zeigen S. im FreunLeib befindl. »Zornbraten«, was diese mit deskreis des Celtis (Dietrich Ulsenius, Konrad Hohn quittiert. So lässt er sie von Knechten Peutinger, Willibald Pirckheimer) mit Bezieniederwerfen u. schneidet ihr eine tiefe hungen zur Umgebung des Herrschers (MatWunde in den Oberschenkel, aus der er den thäus Lang, Petrus Bonomus, Blasius Hölzel, »Zornbraten«, eine Schafsniere, herausholt. Jakob Spiegel). Im selben Jahr knüpfte S. Aus Angst vor der Beseitigung des zweiten Kontakt zu Hermann von dem Busche in Bratens verspricht die Frau, ihrem Mann ge- Leipzig u. ging an die 1502 gegründete Unihorsam zu sein. versität Wittenberg, wo ein humanistischer Aus dem Fundus der weltweit verbreiteten Kreis (u. a. Christoph Scheurl, Andreas Geschichten von der Widerspenstigen Zäh- Meinhardi, später Riccardo Sbruglio) die mung begegnen die Motive der Einschüch- Förderung der um Modernität bemühten terung der Frau durch Bestrafung von Un- Herzöge genoss. gehorsam sowie des Ausschneidens des Neben universitärer Lehre erfüllte S. Auf»Zornbratens« noch in der altfrz. Erzählung gaben als Hofdichter: Im Rahmen eines De la dame qui fu escoillée, die Frau als Reitpferd Huldigungsspiels rezitierte er sein Lob auf

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Sibylle Ursula

Wittenberg (Silvula in Albiorim illustratam, Akten des Kolloquiums zur Basler Cranach-Aus1507), über das er auch Vorlesung hielt. Das stellung 1974. Basel 1977, S. 36–52. Literatur: Karl Hartfelder: G. S. In: ADB. – Turnier der Herzöge von 1508 feiert S. unter Einsatz antiker Mythologie, indem er Fried- Ellinger, Bd. 2, S. 63 f. – Enchiridion, Bd. 5, 1982, richs u. Johanns Regierung als ideales Zu- S. 87 f. – Jan-Dirk Müller: Gedechtnus. Mchn 1982, sammenwirken von Mars u. Apoll preist (Fri- S. 169 f. – Franz Machilek: Georgius S. D. u. seine Bedeutung für den Humanismus in Mähren. In: derici et Ioannis [...] Saxoniae principum TorniaStudien zum Humanismus in den böhm. Ländern. menta, 1511). Der Druck wurde von Lucas Hg. Hans-Bernd Harder u. Hans Rothe. Köln/Wien Cranach illustriert (S.’ Porträt als poeta lau- 1988, S. 207–241. – Angelika Dörfler-Dierken: Die reatus), mit dem eine engere Zusammenar- Verehrung der hl. Anna in SpätMA u. früher Neubeit bestanden haben dürfte. Cranachs Lob zeit. Gött. 1992, S. 153. – Peter Wörster: Humaenthält auch das Scherzgedicht De musca Chi- nismus in Olmütz. Marburg 1994, S. 103–118. – lianea über die als Bravourstück täuschender Franz Matsche: Humanistische Ethik am Beispiel Lebensnähe gedachte Zeichnung einer Fliege, der mytholog. Darstellungen v. Lucas Cranach. In: die Kilian Reuter von Mellerstadt kläglich Humanismus u. Renaissance in Ostmitteleuropa vor der Reformation. Hg. Winfried Eberhard u. misslingt. Alfred A. Strnad. Köln/Wien 1996, S. 29–70. – AlIn den 1510er Jahren bricht S.’ Publikatibert Schirrmeister: Triumph des Dichters. Köln/ onstätigkeit ab; die spätere Lebensphase ist Wien 2003. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, nur spärlich dokumentiert: 1520 wurde er in S. 1950–1952. – Joachim Klaus Kipf: Zur EntsteRostock immatrikuliert; Ende 1522 erklärt hung der nlat. Komödie. In: Das lat. Drama der sich Luther bereit, für ihn einzutreten. Frühen Neuzeit. Hg. Reinhold F. Glei u. Robert Schließlich musste S. Wittenberg als Gegner Seidel. Tüb. 2008, S. 31–57. Elisabeth Klecker der Reformation verlassen. Er ging nach Mähren, wo er in Brünn als Arzt tätig war u. Sibylle Ursula, Herzogin von HolsteinKontakte nach Olmütz pflegte. S. suchte AnGlücksburg, geb. Herzogin von Braunschluss an die Umgebung des neuen habsschweig-Lüneburg, * 8.12.1629 Hitzburgischen Landesfürsten: Aus Anlass der acker, † 12.12.1671 Glücksburg. – Überböhm. Krönung Ferdinands I. (24.2.1527) setzerin u. Erbauungsschriftstellerin. publizierte er einen Panegyricus, der mit dem Vorgehen gegen Türken u. Wiedertäufer (Ex- Die Tochter von Herzog August d.J. u. seiner hortatio in Thurcum, Confutatio in Anabaptistas zweiten Frau Dorothea von Anhalt-Zerbst als integrale Bestandteile) aktuelle Anliegen genoss zusammen mit ihren Geschwistern des Herrschers thematisiert. In der Widmung eine sorgfältige Erziehung, geprägt durch die an Bernhard Cles, die durch Johann Fabri, musisch begabte Stiefmutter Herzogin Soden Verteidiger des Katholizismus auf dem phie Elisabeth u. den Hofpräzeptor Justus Landtag zu Znaim 1528, vermittelt wurde, Georg Schottelius. Das gemeinsame Dichten, schildert S. seinen erzwungenen Weggang Musizieren, Übersetzen u. Inszenieren von aus Wittenberg. Nach 1528 fehlen weitere Singspielen bestimmte das kulturelle Leben des Wolfenbütteler Hofs, an dem S. U. regen Nachrichten. Neben mytholog. Fürstenlob enthält S.’ Anteil nahm. Ihre lat. Übungsbriefe an JoŒuvre eine Ars memorativa, eine Vita der hl. hann Valentin Andreae wurden neben denen Anna (in Hexametern u. sapph. Strophen) ihrer Geschwister in dessen Seleniana Augussowie Beispiele für das beliebte Genus des talia (Ulm 1649) gedruckt. Neben zahlreichen gedruckten GelegenStädtelobs (Illustratio in Olomuncz; Silvula in Albiorim illustratam, Letztere wichtig für die heitsgedichten sind mehrere Handschriften Entwicklung der humanistischen Komödie). überliefert. 1649 fertigte S. U. eine dt. ÜberAls Exponent des Humanismus findet S. Er- setzung von Juan Luis Vives’ Ad sapientiam wähnung in den Epistolae obscurorum virorum. introductio an, ebenfalls 1649 schrieb sie ein Übersetzung: Das Gedicht des G. S. auf das dt. Prosaschauspiel ohne Titel, das den WiWittenberger Turnier v. 1508. Eingel., paraphra- derstreit zwischen Lust u. Tugend veransiert u. in Auszügen übers. v. Luzi Schucan. In: schaulicht. Außerdem übersetzte sie die hö-

Siderocrates

fisch-histor. Romane Cassandre (1665) u. Cléopatre von Gautier Coste de La Calprenède aus dem Französischen. Gemeinsam mit ihrem Bruder Herzog Anton Ulrich verfasste sie die ersten Teile von dessen Aramena. Daneben war S. U. auch Erbauungsschriftstellerin – postum wurde ihr 1655–1658 entstandenes Werk Himmlisches Kleeblatt (Nürnb. 1674) gedruckt. Nach dem Vorbild Sophie Elisabeths führte sie von 1647 bis 1668 ein geistl. Tagebuch mit Meditationen u. Gebeten, das von tief verinnerlichter Religiosität zeugt. 34jährig heiratete S. U. Herzog Christian von Holstein-Sonderburg u. wohnte fortan in Glücksburg. Sie starb im Kindbett, von einer durch ihren Mann übertragenen Syphiliserkrankung geschwächt. – Ihr Nachlass befindet sich in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Ausgaben: Internet-Ed. mehrerer Werke in: dünnhaupt digital. Literatur: Fürstl. Schleßwig-Holstein-Glücksburgische Gedächtniß-Seule, der [...] Frauen Siby¨llen Ursulen [...]. Hbg. 1672 (Leichenpredigt, Vita etc.). – Blake Lee Spahr: Anton Ulrich and ›Aramena‹. Berkeley 1966. – Ders.: Ar(t)amene: Anton Ulrich u. Fräulein v. Scudéry. In: Europ. Hofkultur im 16. u. 17. Jh. Hg. August Buck u. a. 3 Bde., Hbg. 1981, Bd. 1, S. 93–104. – Ders.: S. U. and her books. In: Ders.: Problems and Perspectives [...]. Ffm./Bern 1981, S. 85–110. – Jean M. Woods. u. Maria Fürstenwald: Schriftstellerinnen [...] des dt. Barock. Stgt. 1984, S. 53 f. – Dt. Lit. v. Frauen. Hg. Gisela Brinker-Gabler. Bd. 1, Mchn. 1988, S. 240–245. – Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 1025 f.; Tl. 2, S. 1285 f. Jill Bepler / Red.

Siderocrates, Samuel, eigentl.: Eisenmenger, auch: Isenmenger, * 29.9.1534 Bretten/Kurpfalz, † 28.2.1585 Bruchsal. – Alchemistisch bewegter Mediziner, Mathematiker u. religiöser Dissident. S. besuchte das Gymnasium in Straßburg (1551), wo er den streng luth. Theologen Johannes Marbach hörte, studierte in Wittenberg (Immatrikulation 24.11.1551), hielt sich dann – zeitweise zusammen mit seinem engen Freund Sigismund Melanchthon, dem Neffen des Reformators u. späteren Heidelberger Medizinprofessor (seit 1562) – in Heidelberg auf (Immatrikulation 17.7.1552),

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setzte aber (wieder mit S. Melanchthon) bald darauf das Studium in Tübingen fort (Immatrikulation 14.11.1552) u. erwarb die Magisterwürde (31.1.1554). Anschließend kehrte er zu einem etwa einjährigen Aufenthalt nach Wittenberg zurück. Dort befiel ihn eine lebensbedrohende Krankheit, von der er dank der Bemühungen u. a. von Caspar Peucer (1525–1602), Arzt u. Melanchthons Schwiegersohn, geheilt wurde. Peucer war es wahrscheinlich auch, der S. unter dem Einfluss Melanchthons vom Segen der iatromathematisch-astrolog. Medizin überzeugte. Von Wittenberg aus unternahm S. einen Abstecher nach Rostock. Nach Tübingen zurückgekehrt, erhielt er am 30.9.1557 die »lectio mathematices et astronomiae«; am 30.1.1558 wurde er in die Artistenfakultät aufgenommen u. am 31.10.1564 zum Doktor der Medizin promoviert. Wichtigstes autobiogr. Dokument für diese frühe Lebensphase ist S.’ Vorrede zu seiner Oratio de Methodo Iatromathematikon Syntaxeon (o. O. [Straßb.] 1563). S. propagiert hier die unumgängliche astronomisch-astrolog. Kompetenz des Mediziners u. Pharmazeuten, erwähnt auch die Quintessenz der Chemiker u. weitet den Kreis des medizinischen Wissens im Sinne einer kosmolog. Naturkunde aus: Dieser Fakultätsrede folgte eine vom 24.8.1563 datierte akadem. Rede (gedruckt wahrscheinlich 1564): De usu partium COELI. S.’ astrolog. Vorlieben schlugen sich auch in der Erarbeitung von Horoskopen nieder, darunter eines für Herzog Eberhard von Württemberg aus dem Jahre 1568 (Hauptstaatsarchiv Stuttgart). Während der Tübinger Jahre lernte S. auch Michael Toxites, den nachmals berühmten Paracelsisten, kennen. 1567 sah sich S. genötigt, vielleicht im offenen Streit mit dem Theologen Jacob Andreae, die Tübinger Universität wegen seiner häret., schwenkfeldian. Ansichten zu verlassen. Er gehörte demnach zu der gerade in Südwestdeutschland verbreiteten, von den Lutheranern erbittert bekämpften Schar jener religiösen Dissidenten, die sich auf den schles. Adligen Caspar Schwenckfeld (1489–1561) beriefen, mithin dessen Abkehr von der konfessionalistisch-aggressiven Staatskirche u. von mancherlei dogmat. Vorstellungen

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Sieben weise Meister

(etwa der Realpräsenz Christi im Abendmahl) vnn seiner Diener bezeuget/ vnnd gelehrt sollen teilten. Am Hof des Markgrafen Karl von werden (o. O. [Straßb.] 1585). Über u. um S. ist Baden-Durlach, also in Durlach (dort bis etwa in Einzelgestalten eine weite Gruppe religiö1572), von einem luth. Prediger attackiert, ser Dissidenten u. Paracelsisten zu fassen, trat S. als Leibarzt in den Dienst des Mar- unter ihnen Helisaeus Röslin, Oswald Crolliquard von Hattstein (1529–1581), Bischof us, Gerhard Dorn u. S.s Bruder David S.). S. hat zwar in der modernen Kultur- u. von Speyer, dies wohl auf Vermittlung der schwenkfeldischen Familie Streicher aus Wissenschaftsgeschichte bisher so gut wie Ulm. Daneben wurde er von mancherlei an- keine Spuren hinterlassen, war jedoch bei den deren Höfen u. Potentaten – etwa in Köln u. jüngeren Zeitgenossen nicht vergessen. Er Straßburg – herangezogen; zeitweise hielt er wird aufgeführt im Verzeichnis »spagyrischer Mediziner und anderer Künstler«, das um sich auch in der Heimatstadt Bretten auf. Genauerer Aufschluss über S.’ theolog. 1620/25 der Augsburger Arzt Karl Widemann Gedankengänge wäre zu erwarten von der anlegte. Die von S. herausgegebene Cyclopaenoch ausstehenden Analyse seines nur hand- dia Paracelsica Christiana gehörte bezeichnenschriftlich überlieferten bibelexegetischen derweise zum Buchbesitz des Tobias Hess Werks (LB Stuttgart) mit dem Titel Vom ersten (1568–1614), der neben Johann Valentin AnAdam Vor undt nach seinem Fall, Sündt und Erb- dreae als Gründerfigur der Rosenkreuzerbesündt [...] aus dem Besitz des bekannten, in wegung zu gelten hat. Straßburg lebenden schwenkfeldischen Literatur: Karl Sudhoff: Iatromathematiker Handschriftensammlers, Mystikers (in der vornehmlich im 15. u. 16. Jh. Breslau 1902, Nachfolge Taulers) u. frommen Publizisten S. 63–66. – Corpus Schwenckfeldianorum. Bd. 12, Daniel Sudermann (1550-ca. 1631). Ebenfalls Lpz. 1932, S. 351 f. – Will-Erich Peuckert: Panso3 in Sudermanns Besitz befand sich eine phie 1976 (Register). – Heinz-Peter Mielke: Schwenkfeldianer am Hofstaat Bischof Marquards Handschrift von S.’ Prognosticon oder Practica v. Speyer (1560–1581). In: Archiv für Mittelrhein. auff das Jahr nach Christi geburth 1569 und ettliche Kirchengesch. 28 (1976), S. 77–82. – Ders.: Die nachvolgende Jahr gestelt (Staatsbibl. Berlin). Niederadligen v. Hattstein, ihre polit. Rolle u. soHohen kulturgeschichtl. Indizwert als Do- ziale Stellung. Wiesb. 1977. – Norbert Hoffmann: kument der zeitgenöss. Oppositionsliteratur Die Artistenfakultät an der Univ. Tübingen besitzt ein in jeder Weise ungewöhnliches, 1534–1601. Tüb. 1982 (Register). – Wolf Dieter von S. herausgegebenes, einem bislang nicht Müller-Jahncke: Astrologisch-magische Theorie u. identifiziertem Verfasser zuzuschreibendes Praxis in der Heilkunde der frühen Neuzeit. Stgt. Werk, nämlich die erste deutschsprachige 1985. – Monica Pieper: Daniel Sudermann (1550»Enzyklopädie«, ein Werk ganz im Geiste u. ca. 1631) als Vertreter des myst. Spiritualismus. im aggressiven Ton des Paracelsus (wie schon Stgt. 1985. – Julian Paulus: Alchemie u. Paracelsismus um 1600. Siebzig Porträts. In: Analecta Pader Titel angibt), kaum zu übertreffen in der racelsica. Hg. Joachim Telle. Stgt. 1994, S. 351 f. – Härte u. der verbalen Gewalt der Angriffe Stefan Rhein: Die ›Cyclopaedia Paracelsica Christigegen die akademisch-lat. Gelehrsamkeit: ana‹ u. ihr Herausgeber S. S.: Enzyklopädie als antiCyclopaedia Paracelsica Christiana. Drey Bücher humanist. Kampfschrift. In: Enzyklopädien der von dem waren ursprung vnd herkommen der freyen Frühen Neuzeit. Hg. Franz M. Eybl, Wolfgang Künsten/ auch der Physiognomia, obern Wunder- Harms u. a. Tüb. 1995, S. 81–97. – CP II, wercken vnn Witterungen/ darinn auß der H. S. 879–915, 948–956 (mit Biogr. u. Ed. der VorreSchrift mit beständigen grund nach notturfft dar- den v. G. Dorn an S.). Wilhelm Kühlmann getahn würt/ daß alle freye Künst, als Schreiberey/ Rednerey/ Rechnung/ Singkunst/ Erdmesserey/ GeSieben weise Meister. – Erzählzyklus. stirnkunst sampt der Naturkündigkeit vnn Artzneykunst/ nit auß menschlichen vermeinten erfin- Nach einer langen Überlieferungsgeschichte, dungen/ sonder allein von Gott dem Allmächtigen/ die um 900 in Persien beginnt u. im hohen als vom reichen uberquellenden Bronnen herkom- MA über das Altfranzösische u. dann das men/ daß auch solche Künst allein bey Gott durch Mittellateinische führt, wurden die S. w. M. den Glauben gesucht/ vnd inn den Büchern Gottes spätestens seit der Mitte des 15. Jh. mehrfach

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Schon in den frühesten Versionen liegt ein ins Deutsche übersetzt. Der Stoff wurde dann in dt. Sprache als Versroman (so im 15. Jh. besonderer Reiz der S. w. M. in dem hier durch Hans’ von Bühel Dioclecianus Leben), in vorgeführten Mythos der WirkungsmächtigProsa (häufig zusammen mit den Gesta Ro- keit von Literatur: Geschichten können lemanorum) u. sogar als Drama bis ins 20. Jh. so bensgefährlich ausgedeutet werden, doch oft bearbeitet u. nachgedruckt, dass er seit durch überzeugendes Erzählen lässt sich Görres zu den »Deutschen Volksbüchern« auch Todesgefahr abwenden. Für die dt. Tradition am wichtigsten wird die seit 1342 gezählt wird. Der Rahmen erzählt von dem Kaisersohn überlieferte mlat. Historia septem sapientum. Diocletian, der sieben weisen Meistern zur Mit narrativen Mitteln zeigt sie kontrastiv, Ausbildung anvertraut wird. Vor der Rück- wie man mit Exempeln angemessen (Meister, kehr zu Vater u. Stiefmutter sagen ihm die Diocletian) u. unangemessen (Kaiserin) arguSterne, dass er sterben müsse, wenn er nicht mentieren kann. In einem Teil der dt. u. lat. sieben Tage schweige. Die Stiefmutter ver- Handschriften u. Drucke sind den Erzählunsucht vergeblich, ihn zu verführen, u. de- gen geistlich-moralische Ausdeutungen beinunziert ihn als Vergewaltiger. Siebenmal gegeben. Ob sie auch die inhaltl. Gestaltung bewirkt eine Erzählung der Kaiserin, dass er von Erzählrahmen u. Binnenerzählungen zum Galgen geführt wird; siebenmal bringen beeinflusst haben, ist umstritten. die Meister den Kaiser durch eine Geschichte Ausgaben: Die S. w. M. [nach dem Augsburger dazu, die Vollstreckung auszusetzen. Als er Druck 1473]. Hildesh. 1974 (mit Nachw. v. Günter wieder sprechen darf, offenbart der Sohn Schmitz). – Ralf-Henning Steinmetz: Der ›Libellus seine Unschuld u. entlarvt die Stiefmutter als muliebri nequitia plenus‹. Eine ungedruckte lat. Ehebrecherin; er wird in sein Erbe eingesetzt, Version der ›S. w. M.‹ u. ihre dt. Übers. aus dem 15. Jh. In: ZfdA 126 (1997), S. 397–446. – Die Hystorij sie hingerichtet. von Diocleciano. In Abb. aus dem Cod. 407 des Die Erzählungen selbst haben den ChaWiener Schottenstifts. Göpp. 1999 (mit Nachw. v. rakter von Exempeln, erinnern aber z.T. in R.-H. Steinmetz). – Die Historia v. den s. w. M. u. ihrer elaborierten Anlage an Novellen. Ihr dem Kaiser Diocletianus. Nach der Gießener Hs. zentrales Motiv sind Treue u. Untreue. So 104. Hg. R.-H. Steinmetz. Tüb. 2001. – S. w. M. wird von einem treuen Hund erzählt, der ein Eine bair. u. eine elsäss. Fassung der ›Historia Kind vor einer Schlange rettet, aber wegen septem sapientum‹. Hg. Detlef Roth. Bln. 2007. der Hysterie der Frauen von seinem Herrn Literatur: Udo Gerdes: S. w. M. In: VL u. VL getötet wird. In einer anderen Erzählung (Nachträge u. Korrekturen). – Ralf-Henning Steinwird ein Vater, der beim gemeinsamen metz: Die ›Hystorij von Diocleciano‹. Eine eigenDiebstahl in eine Falle geraten ist, von seinem ständige dt. Version der S. w. M. In: ZfdPh 118 Sohn, der sich retten will, getötet u. verleug- (1999), S. 372–390. – Ders.: Exempel u. Auslegung. net. Zum Standardbestand der Überlieferung Studien zu den ›S. w. M.‹. Freib./Schweiz 2000. – Bea Lundt: Weiser u. Weib. Weisheit u. Geschlecht gehören auch Motive wie der Tod des Hipam Beispiel der Erzähltradition v. den S. w. M. pokrates, nachdem er seinen Konkurrenten Mchn. 2002. – Detlef Roth: ›Historia septem sapiGalienus ermordet hat, u. die treue Freund- entum‹. Überlieferung u. textgeschichtl. Edition. schaft des Königs Alexander, die ihm groß- Tüb. 2004. zügig vergolten wird, sowie drast. Ehe- Hans-Jürgen Bachorski † / Ralf-Henning Steinmetz bruchserzählungen: Ein Marschall verkuppelt seine Frau an seinen Herrn u. wird darauf Siebenpfeiffer, Philipp Jakob, * 12.11. verjagt; ein Ehemann tötet auf Vorschlag 1789 Lahr/Baden, † 14.5.1845 Bümpliz seiner Frau drei Liebhaber wegen ihres Gelbei Bern/Schweiz. – Jurist, politischer des – doch zerstreitet sich das Paar nach der Publizist, Lyriker. mühsamen Beseitigung der Leichen, so dass alles herauskommt; eine Witwe verstümmelt Der Sohn eines Schneiders wurde nach dem die Leiche ihres vor inniger Liebe verstorbe- Tod der Eltern 1799 in die Obhut der Familie nen Mannes u. hängt sie an den Galgen, um einer Tante gegeben u. wuchs dort in beihren neuen Liebhaber zu retten. scheidenen Verhältnissen auf. Nur durch die

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finanzielle Förderung eines anderen Onkels, der S.s Sprachtalent erkannte, konnte der Vollwaise zunächst die Lateinschule, ab 1804 auch das Pädagogium in Lahr besuchen, wo er mit hervorragenden Leistungen im Französischen u. Lateinischen auffiel. Schon während der Schulzeit war S. gezwungen, Geld zu verdienen. Er arbeitete als Hilfskraft u. »Schreiberey-Incipiant« beim nassauischen Oberamtsverweser Wilhelm Bausch in Lahr, der auf S.s juristische Begabung aufmerksam wurde. 1808 wurde S. in die Oberverwaltung nach Freiburg beordert. Dort nahm er auch sein Studium der Rechtswissenschaften auf (Promotion 1813). Entscheidend für S.s stark von der Aufklärung geprägtes polit. Denken war die Freundschaft mit seinem Freiburger Lehrer Carl von Rotteck. Ab 1815 hatte S. verschiedene Stellen in der Landesverwaltung der linksrheinischen Besatzungsmächte inne (Trier, Ottweiler, Speyer). Er wurde Chef der österr. »Civiladministration« in Landau, bevor er im Mai 1816 als Kreisassessor in Frankenthal in den bayerischen Verwaltungsdienst übernommen u. im April 1818 als »Landcommissär« nach Homburg berufen wurde. Nach dem Wiener Kongress u. der territorialen Neuordnung Deutschlands war die Pfalz an das Königreich Bayern gefallen u. Homburg der Sitz eines von zwölf pfälzischen »Landcommissariaten«. S. war hier für die Verwaltung von 79 Gemeinden zuständig, deren Aufteilung in drei Kantone während seiner Amtszeit immer wieder zu Konflikten mit der pfälzischen Bevölkerung führte. In der tägl. Praxis sah sich S. zudem konfrontiert mit der Bewertung der noch aus der Zeit der frz. Herrschaft stammenden Gesetze u. deren Verhältnis zur 1818 verabschiedeten konstitutionellen (alt-)bayerischen Verfassung. In seiner juristischen Streitschrift Über die Frage unserer Zeit in Beziehung auf Gerechtigkeitspflege (Heidelb. 1823. 2., wohlfeilere Aufl. ebd. 1833) bewertet S. die zentralen Errungenschaften aus frz. Zeit (Prinzip der Mündlichkeit u. Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens, Friedensrichter, Geschworenengerichte) als mögl. Ausgangspunkt für eine neue dt. Gesetzgebung. Die Schrift wurde daher auch als Positionierung innerhalb des schon 1814

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zwischen den Rechtsgelehrten Carl von Savigny u. Anton Friedrich Justus Thibaut kontrovers geführten Streits um die Frage der Rechtseinheitlichkeit angesichts der dt. Kleinstaaterei gewertet. Trotz liberaler Ansätze stellen S.s Überlegungen zum »Rheinischen Recht« keineswegs die bestehende Ordnung in Frage, sondern sollen lediglich als aus der Verwaltungspraxis entstandene Verbesserungsvorschläge verstanden werden. Auf der anderen Seite wird S. von Zeitgenossen u. in den Quellen als ehrgeiziger, rechthaberischer u. ausgesprochen strenger Verwaltungsbeamter beschrieben, wovon Akten zahlreicher Prozesse der frühen 1820er Jahre zeugen, die Einwohner seiner Gemeinden gegen ihn anstrengten. In seinem über 400 Seiten umfassenden Versepos Baden-Baden oder Rudolph und Helmina. Episches Gedicht in zwölf Gesängen (Zweybrücken 1824) werden im Rahmen einer scheinbar harmlosen Liebes- u. Reisegeschichte auch zeitgenöss. Ereignisse wie der griech. Freiheitskampf oder die wirtschaftl. Situation der Weinbauern thematisiert. Gleichwohl zeugen die 1829 anlässlich der Pfalzreise König Ludwigs I. verfassten Gedichte (abgedruckt in Georg Jäger: Des Rheinkreises Jubelwoche oder geschichtliche Darstellung der Reise Ihrer Majestäten des Königs Ludwig und der Königin Therese von Bayern durch die Gaue des Rheinkreises vom 7ten bis zum 14ten Junius 1829. Speyer 1829, S. 149, 157–161) von S.s loyaler Gesinnung gegenüber dem seit 1825 regierenden u. liberalen Forderungen zunächst aufgeschlossen gegenüberstehenden Herrscher. Dessen restaurative Politik nach der Juli-Revolution kritisierte S. in den Beiträgen seiner seit Okt. 1830 erscheinenden Zeitschrift »Rheinbayern. Eine vergleichende Zeitschrift für Verfassung, Gesetzgebung, Justizpflege, gesammte Verwaltung und Volksleben des constiutionellen Inn- und Auslandes, zumal Frankreich« (insg. 5 Bde., Zweibrücken 1830/31. Forts. u. d. T. »Deutschland – Zeitschrift für allgemeine Politik und deutsches Bürgertum«, 4 Bde., 1832). Hier verteidigte er entschiedener als in seiner früheren Schrift die »Rheinischen Institutionen«. Besonders hob er die Pressefreiheit, bürgerl. Gleichheit, Trennung von

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Kirche u. Staat, Unabsetzbarkeit der Richter, die Kommunalverfassung u. Trennung von Justiz u. Verwaltung hervor (Die Institutionen Rheinbayerns. In: Rheinbayern 1, 1830, S. 26–48, 129–173). Vom pfälzischen Regierungspräsidenten Joseph von Stichaner wurde die polit. Haltung des Blatts als Angriff auf die bayerische Verfassung bewertet. Stichaner bewirkte eine Zwangsversetzung S.s nach Kaisheim, wo dieser als Zuchthausdirektor zwar dasselbe Gehalt erhielt, in der Beamtenhierarchie aber herabgestuft wurde. Aufgrund der Publikation weiterer, wegen ihrer demokratisch-republikan. Tendenzen auch schnell verbotener Tageszeitungen u. Zeitschriften (»Der Bote aus dem Westen«. Zweibrücken, März 1831 bis März 1832 [Forts. u. d. T. »Westbote – ein allgemein politisches und deutsches Volksblatt«. Oggersheim]. »Der Hausfreund. Ein Blatt für Bürger in Stadt und Land«. Hildburghausen 1832 [Forts. u. d. T. »Der Volksfreund«]) war das Ende von S.s Beamtenlaufbahn absehbar. Nach der Teilnahme als Hauptredner beim Hambacher Fest im Mai 1832 u. seinen Forderungen nach bürgerl. Freiheitsrechten u. »Volkshoheit« (Der Deutschen Mai. Eröffnungsrede, am ersten deutschen Nationalfeste [...] auf der Hambacher Schlossruine. Neustadt a. H. 1832. Wieder in: Reden von Siebenpfeiffer & J. G. A. Wirth gehalten bei dem Nationalfest der Deutschen zu Hambach, am 27. Mai 1832. Ein Erinnerungsblatt, veröffentlicht am vierzigjährigen Gedenktage. Kaiserlautern 1872. S. 3–12. Ferner in: Siebenpfeiffer vom Hambacher Fest 1832. Mchn. 1910 [Vorkämpfer deutscher Freiheit, H. 3]) wurde S. verhaftet. Vom Vorwurf der Anstiftung zum Umsturz wurde er im Aug. 1833 vor dem Assisengericht in Landau zwar freigesprochen (Zwei gerichtliche Vertheidigungsreden. Bern 1834). Die Verweisung des Verfahrens an das Zuchtpolizeigericht in Frankenthal war indessen schon während des Prozesses in Landau empfohlen worden. S. wurde dort im Nov. 1833 zu zwei Jahren Zuchthaus wegen Beleidigung verurteilt. In dieser Zeit erschien auch der letzte Band seines bereits 1831 begonnenen, offenbar als Auftragsarbeit des Zweibrücker Buchhändlers Ritter entstandenen Handbuchs der Verfassung, Gerichtsordnung und gesammten Verwaltung

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Rheinbayerns (5 Bde., Zweibrücken 1831–33. Eine weitere, erg. u. in 2 Bde. zusammengefasste Ausg. erschien in Speyer 1846). Anders als in seinen journalistischen Arbeiten tritt hier die Kommentierung u. polit. Wertung gegenüber dem Abdruck verschiedener, für den Rheinkreis wichtiger Gesetze zurück. Das aus der Praxis entstandene u. auch für die Praxis geschriebene Handbuch wurde aufgrund der dargebotenen Fülle von – auch älteren, aus frz. Zeit stammenden – Gesetzes- u. Verfassungstexten zu »allen Zweige[n] der Staatsverwaltung« breit rezipiert u. benutzt. Seiner Haft in Frankenthal entzog sich S. noch im Nov. 1833 durch Flucht in die Schweiz. An der Berner Universität hielt er als Extraordinarius für Jura Vorlesungen zu seinem Spezialgebiet, dem frz. Recht. Seine 1840 angetretene Stellung als 1. Sekretär des Berner Justizdepartements konnte S. nur bis zum Spätjahr 1842 ausüben, als eine unheilbare Geisteskrankheit bei ihm diagnostiziert wurde u. er in die Irrenanstalt in Bümpliz eingewiesen wurde, wo er bis zu seinem Tode lebte. Die 1989 gegründete S.-Stiftung widmet sich mit Ausstellungen u. Publikationen (»Schriften der Siebenpfeiffer-Stiftung«) dem polit. Erbe ihres Namengebers u. verleiht seit demselben Jahr in unregelmäßigen Abständen den S.-Preis an Journalisten, die mit ihren Arbeiten ein demokratisches Bewusstsein fördern. Weitere Werke: Über Gemeindegüter u. Gemeindeschulden. Eine rechtlich-polit. Abhandlung. Mainz 1818. – Ideen zu einer Grundreform der Erziehungs- u. Unterrichtsanstalten. 2 Bde., Bern 1834. Literatur: Ein Leben für die Freiheit. P. J. S. (1789–1845). Hg. vom Saarpfalz-Kreis. Konstanz 1989. – Elmar Wadle (Hg.): P. J. S. u. seine Zeit im Blickfeld der Rechtsgesch. Sigmaringen 1991. – Theophil Gallo: Die Verhandlungen des außerordentl. Assisengerichts zu Landau in der Pfalz im Jahre 1833. Verlauf, Grundlagen u. Hintergründe. Ebd. 1996. – Merve Finke: S.s Verwaltungshandbuch. Mannh. 1997. – Martin Baus: ›Mein Amt war mir längst eine Last ...‹. Homburg u. P. J. S. (1789.1845). In: Ders. (Bearb.): S. u. Homburg. Histor. Ausstellung im S.-Haus. Homburg 2000, S. 3–27. – E. Wadle: Das Rheinische Recht bei S. In: Ders.: Frz. Recht in Dtschld. Acht Beiträge zur

9 Gesch. des 19. Jh. Köln u. a. 2002, S. 63–76. – Joachim Kermann: Freiheit, Einheit u. Europa. Das Hambacher Fest v. 1832. Ursachen, Ziele, Wirkungen. Ludwigshafen/Rh. 2006. – Bernhard Becker: P. J. S. In: NDB. Bernhard Walcher

Von der Siebenzahl, auch: De septem sigillis. – Zahlensymbolisch strukturiertes Gedicht aus der Mitte des 12. Jh.

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Meditation über diese Zusammenhänge will der geistl. Autor seine Leser/Hörer führen. Ausgaben: Friedrich Maurer (Hg.): Die religiösen Dichtungen des 11. u. 12. Jh. Bd. 1, Tüb. 1964, S. 348–351. – Albert Waag u. Werner Schröder (Hg.): Kleinere dt. Gedichte des 11. u. 12. Jh. Bd. 1, ebd. 1972, S. 88–91. Literatur: Volker Schupp: Septenar u. Bauform. Bln. 1964. – Peter Ganz: V. d. S. In: VL. Gisela Vollmann-Profe / Red.

Das Gedicht V. d. S. – der Titel geht auf Müllenhoff/Scherer zurück – ist nur in der Sieber, Justus, * 7.3.1628 Einbeck, † 23.1. Innsbrucker Pergamenthandschrift 652 (12. 1695 Schandau. – Evangelischer Pfarrer, Jh.) erhalten. Es trägt dort die Überschrift De Verfasser geistlicher Lyrik u. Prosa. septem sigillis (Von den sieben Siegeln) u. folgt unmittelbar auf die sog. Auslegung des Vater- Der Sohn einer eingesessenen Einbecker unsers, mit der es so deutliche formale u. in- Bürgerfamilie wich 1640 den Kriegsfolgen in haltl. Gemeinsamkeiten verbinden, dass Ver- seiner Heimatstadt aus u. begab sich auf eine fasseridentität nicht auszuschließen ist. V. d. nahezu 20-jährige akadem. Wanderschaft im S. ist in Österreich entstanden, u. zwar an- mittel- u. norddt. Raum. Nach seiner Gymgesichts von 77 Prozent reinen Reimen kaum nasialzeit (u. a. in Hannover u. Celle) wurde er vor der Mitte des 12. Jh. Das 94 Kurzverse erstmals 1649/50 in Lüneburg als Hauslehrer (Maurer: 47 binnengereimte Langzeilen) tätig. Für zehn Jahre wechseln nun Hausumfassende Gedicht ist (bei Annahme einer lehrerstellen mit Studienaufenthalten in zwei Verse umfassenden Lücke am Ende von Helmstedt, Leipzig u. Wittenberg. Die zahlStrophe sechs) in acht gleichzeilige Strophen reichen Kontakte zu Freunden u. Gönnern gegliedert. Form u. Inhalt entsprechen sich, dieser Zeit spiegeln sich in seiner Gelegenda die insg. 28 Siebenergruppen (Septenare), heitsdichtung. Nach der Dichterkrönung die den Gegenstand des Gedichts bilden, so durch Johann Rist (spätestens 1654; vgl. auch angeordnet sind, dass jeweils zwei Strophen Rist: Rüstiges Vertrauen zu Gott [...]. o. O. 1658 zusammen sieben Septenare enthalten. So (Einblattdr. Internet-Ed. in: VD 17). u. dem nennt z.B. Strophe drei die sieben Wochen- Erwerb des Magistertitels in Wittenberg (Okt. tage, die sieben Lebensalter, die sieben Söhne 1659) erfüllte sich für S. der lang gehegte Jobs u. die sieben Jahre Jakobs, Strophe vier Wunsch nach einer Pfarrstelle in Schandau. die sieben Hörner u. die sieben Umgänge JeIm Vorwort seiner ersten großen Gedichtrichos sowie die sieben Engel der Apokalypse sammlung Poetisierende Jugend, oder allerhand (vollständige Gliederung bei Maurer). geist- und weltliche teutsche Getichte (Dresden Das Gedicht ist ein anschaul. Beispiel für 1658) stellt sich S. ganz in den Dienst der das symbolische Denken des 12. Jh., das alle neuen dt. Kunstdichtung der engeren OpitzDinge der geistigen u. materiellen Welt über Schule. Auf 900 Seiten bietet der Kleinokihren Schöpfer u. seinen Weltplan miteinan- tavband mit überwiegend religiöser u. ander verbunden sah. Es verdeutlicht diesen lassgebundener Dichtung einen Nachweis Plan, indem es Dinge aufzählt, die durch den seiner formalen Könnerschaft. KunstfertigBezug zur Zahl Sieben miteinander ver- keit u. religiöse Zuverlässigkeit machen S.s knüpft sind u. in dieser Verknüpfung die Ruf nun aus. Bereits in den 1660er Jahren Welt als strukturierten Kosmos erscheinen dürfte eine Mustersammlung mit Predigten lassen. Dabei ist mit der Sieben nicht eine entstanden sein, die S. mit ausdrückl. Gebeliebige Zahl gewählt; sie verweist vielmehr nehmigung der Dresdner Zensurbehörde als als »Kennzahl« des siebenfältigen Hl. Geistes Evangelische Spruch-Postill oder Erklärung der auf die vis unitiva schlechthin, die alles Sei- fürnehmsten Sprüche (Ffm. 1673) veröffentlichende verbindet. Zur glaubensvertiefenden te. Der voluminöse Band geleitet den Leser

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durch das Kirchenjahr u. ist über seine ausführl. Register zgl. als Nachschlagewerk u. Lehrbuch benutzbar. Mit Davids Harffen-Psalme (Pirna 1685) erreichte S. den Höhepunkt seines dichterischen Schaffens. Die Anregung zur Übersetzung des Psalters war schon in den 1650er Jahren vom Dresdner Hof gekommen, dem der von Cornelius Becker 1602 übersetzte längst nicht mehr genügte. Der Plan verzögerte sich jedoch, weil S. als selbstbewusster Dichter eine bloße Überarbeitung des Becker-Psalters ablehnte. Weitere Werke: Seelen-Küsse oder geistliche Liebs-Gedankken aus des hebreischen Königs Salomons Hohem Liede [...]. Lpz. 1653. – Iusti Siberi Einbeca-Saxonis P. L. Caes. Salibissa sive flammae poëticae [...]. Dresden 1654. – De salute christiana et philosophica [...] considerationes XXXIV. Dresden 1659. – Gottes Kirche u. des Teuffels Capelle [...]. Dresden 1666. – Ara portatilis votorum piorum destinata sacrificiis, in studiosorum peregrinantiumque compendium extructa. Dresden 1668. – Seneca, philosophus clarissimus, divinis oraculis quodammodo consonus. Dresden 1675. – Esau oder Neidhart zum Abscheu vorgestellet [...]. o. O. [Dresden] 1682. – Geistl. Oden, oder Lieder [...]. Pirna 1685. Ausgaben: Fischer/Tümpel 4, S. 156–169. – Ausw. in: Gedichte des Barock. Hg. Ulrich Maché u. Volker Meid. Stgt. 2005, S. 183 f. – Internet-Ed. etlicher Werke in: VD 17. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Fritz Erdmann-Klinger: J. S. [...]. In: Die Spinnstube 3 (1926), S. 244–246, 266–270. – Heiduk/ Neumeister, S. 103, 245, 475. – Jutta Weisz: Das dt. Epigramm des 17. Jh. Stgt. 1979. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 1955–1958. Bernd Prätorius / Red.

Siebold, Philipp Franz (Jonkheer) von (seit 1842), * 17.2.1776 Würzburg, † 18.10. 1866 München. – Japanforscher, Arzt, Diplomat. Der einer Würzburger Gelehrtenfamilie entstammende S. bereiste nach einem Medizinstudium (Promotion 1820) als Mitgl. der holländ. Gesandtschaft Japan (1826–1830). Mit seinem Hauptwerk Nippon. Archiv zur Beschreibung von Japan und dessen Neben- und Schutzländern (Leiden 1852) erweiterte S. nicht nur wesentlich die geografischen Kenntnisse von Ostasien, sondern berichtete auch erst-

mals ausführlich über Geschichte, Staat, Religion, Kunst, Wissenschaft, Landwirtschaft u. Handel Japans. Nach 1845 war er als Berater des holländ. Königs u. des russ. Kaisers in japanischen Angelegenheiten tätig. S. setzte seine Forschungen auf einer zweiten Japanreise (1859–1862) fort, während der er für einige Zeit eine Vertrauensstellung am Hof des Shogun innehatte. Seine Aufgabe war es, die Einführung der europ. Wissenschaften in Japan zu befördern u. als polit. Berater zu wirken. S.s Arbeiten über Japan sind immer noch von großem Wert, da er dieses Land vor seiner Öffnung zum Westen kennenlernte. Weitere Werke (alle im Selbstverlag): Fauna Japonica. 1833–51. – Thesaurus Linguae Japonicae. 1835–41. – Flora Japonica. 1835–53. – Catalogus Librorum Japonicorum. 1845. Literatur: Werner Dettelbacher: Verz. der Schr.en von u. über P. F. v. S. Würzb. 1961. – P. F. v. S. Gedenkschrift zur 100. Wiederkehr seines Todestages am 18. Okt. 1966. Mchn. 1966. – Hans Schneider: P. F. v. S. Der wiss. Entdecker Japans aus Würzburg. 1796–1866. Würzb. 1984. – W. Dettelbacher u. Wolfgang Jehmüller: P. F. v. S. Werke des Würzburger Japanforschers [Ausstellungskat.].Würzb. 1988. – Wolfgang Genschorek: Im Land der aufgehenden Sonne. Das Leben des Japanforschers P. F. v. S. Lpz. 1988. – Christine Bartholomäus: P. F. v. S. (1796–1866), Japanforscher in Würzburg [Ausstellungskat.]. Würzb. 1989. – Rainer Hofer: P. F. v. S. (1796–1866). Forscher u. Lehrer in Japan [Ausstellungskat.]. Düsseld. 1991. – Michael Henker: P. F. v. S. (1796–1866). Ein Bayer als Mittler zwischen Japan u. Europa [Ausstellungskat.]. Mchn. 1993. – W. Dettelbacher: P. F. v. S. Zwei Aufsätze zum Jubiläumsjahr 1996. Würzb. 1996. – Josef Kreiner (Hg.): Die Japansammlungen P. F. u. Heinrich v. S.s. Begleitheft zum Kat. der S.Ausstellung 1996. Bonn/Tokyo 1996. – Kim Braun, Wolfram Müller-Yokota u. Vera Schmidt: Dokumente zur S.-Ausstellung 1935. Wiesb. 1997. – Arnulf Thiede (Hg.): P. F. v. S. and his Era. Prerequisites, Development, Consequences and Perspectives. Bln. u. a. 2000. – Edgar Franz: P. F. v. S. and Russian Policy and Action on Opening Japan to the West in the Middle of the Nineteenth Century. Mchn. 2005. – Werner E. Gerabek: P. F. v. S. In: NDB. Nicola Götz / Red.

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Sieburg, Friedrich (Karl Maria), * 18.5. 1893 Altena, † 19.7.1964 Gärtringen bei Böblingen. – Journalist, Literaturkritiker, Essayist. Der Kaufmannssohn begann 1912 in Heidelberg bei Max Weber u. Friedrich Gundolf Geschichte, Philosophie u. Nationalökonomie zu studieren, kam 1914 an die Front, wurde 1916 Fliegeroffizier u. erlebte das Kriegsende als Verwundeter in Münster, wo er 1919 mit einer Arbeit über Die Grade der lyrischen Formung (Stgt. 1920) promoviert wurde. Im selben Jahr zog er als freier Schriftsteller nach Berlin, teilte vorübergehend das Revolutionspathos des Spätexpressionismus u. veröffentlichte außer Theater- u. Filmkritiken (seit 1921 neben Tucholsky in der »Weltbühne«) auch einen Rosa Luxemburg gewidmeten Gedichtband (Die Erlösung der Straße. Potsdam 1921) sowie Erzählungen (Oktoberlegende. Dresden 1924). Zu seinem charakterist. Metier u. Stil fand S. von 1924 an als Auslandskorrespondent der »Frankfurter Zeitung«, zunächst in Kopenhagen u. Oslo, dann in London u. Paris, wo er sich als ein Kenner der Geschichte, Kultur u. Literatur Frankreichs auswies (Gott in Frankreich. Ffm. 1929. 1995); seit 1929 schrieb er auch für Hans Zehrers »Tat«. In brillant pointierten, meist rigoros wertenden Buchbesprechungen, histor. Essays, literar. Porträts u. kulturgeschichtl. Feuilletons profilierte er sich als ein an Hölderlin, George, Benn u. Rilke orientierter Ästhet u. als konservativ-nationaler Ideologe. Daneben veröffentlichte er zwischen 1931 u. 1942 Reiseberichte u. a. über Japan, Spanien u. Portugal, deren neu etablierte autoritäre u. faschistische Regimes er begrüßte. In Distanz zu den äußeren Formen, aber mit innerer Sympathie unterstützte S. seit Ende der 1920er Jahre von Paris aus die konservative Reaktion gegen die Weimarer Republik. Hatte er in seiner 1932 abgeschlossenen Kampfschrift für eine nationale Erneuerung (Es werde Deutschland. Ffm. 1933) noch keine Namen genannt, so bekannte er sich in der nach Hitlers Machtübernahme erschienenen engl. Übersetzung öffentl. zum Nationalsozialismus; der NSDAP trat er erst

Sieburg

1942 bei. Nach 1933 warb er auch in seiner Tagespublizistik für das neue Deutschland im Ausland, was ihm die Feindschaft der dt. Emigrantenkreise u. nach der dt. Besetzung von Paris die Berufung in den kulturpolit. Koordinierungsstab der Okkupationsregierung – neben Ernst Jünger – eintrug. In einer Rede vor der Groupe Collaboration im März 1941 (übers. in: Franz Schonauer: Deutsche Literatur im Dritten Reich. Olten/Freib. i. Br. 1961) empfahl er Frankreich eine Faschisierung nach dt. Muster. Nach 1945 wurde S. von der frz. Militärregierung mit Schreibverbot belegt. Seit 1948 publizierte er wieder, zunächst in der von ihm mitherausgegebenen Wochenschrift »Die Gegenwart«, seit 1956 als Leiter des wöchentl. Literaturblatts der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Nahezu bruchlos an seine Publizistik der 1930er Jahre anknüpfend, avancierte er mit zeitgeschichtl. Betrachtungen (ges. in: Lauter letzte Tage. Stgt. 1961. Gemischte Gefühle. Ebd. 1964) u. Literaturkritiken (ges. in: Die Lust am Untergang. Hbg. 1954. Ffm. 2010. Nur für Leser. Stgt. 1955. Verloren ist kein Wort. Ebd. 1966. Nicht ohne Liebe. Ebd. 1967) zu einem der einflussreichsten Apologeten der Adenauer-Ära u. zum entschiedenen Widersacher der jungen Nachkriegsliteratur um die Gruppe 47, die er in z. T. beleidigenden, nie wieder gedruckten Polemiken als »literarischen Unfug« oder »Unternehmen Gartenzwerg« abqualifizierte (Nachweise in: Reinhard Lettau: Die Gruppe 47. Neuwied 1967). Mit seinem subjektivistischen Urteil, das in der Kunst wie im Leben nur die außergewöhnl. Tat gelten ließ, bewegte sich S. im Spektrum des dt. konservativen Ästhetizismus der ersten Jahrhunderthälfte zwischen der soldatischen Entschlossenheit Ernst Jüngers u. der anarch. Melancholie Gottfried Benns. Weitere Werke: Robespierre. Ffm. 1935. Ebd./ Bln. 1989. – Unsere schönsten Jahre. Stgt. 1950 (P.). – Hundertmal Gabriele. Ebd. 1953 (E.). – Napoleon. Ebd. 1956. 1989. – Chateaubriand. Ebd. 1959. Ffm./Bln. 1988. – Eine Maiwoche in Paris. Ffm. 1961. – Licht u. Schatten der Freiheit. Frankreich 1789–1848. Stgt. 1961. – Lebenslauf. Bln. um 1921. In: Hans Daiber: Vor Dtschld. wird gewarnt. 17

Siede exemplar. Lebensläufe. Gütersloh 1967, S. 78–82. – Werkausgabe. Stgt. 1981 ff. – Zur Literatur. Ebd. 1981. Ffm. 1987 (mit unvollst. Bibliogr.). Literatur: Horst Bienek: Werkstattgespräche mit Schriftstellern. Mchn. 1962, S. 179–191. – Franz Schonauer: Der Schöngeist als Kollaborateur oder Wer war F. S. In: Intellektuelle im Bann des Nationalsozialismus. Hg. Karl Corino. Hbg. 1980, S. 107–119. – Manfred Flügge: F. S. In: Vermittler. Dt.-frz. Jb. 1. Ffm. 1981, S. 197–218. – Fritz J. Raddatz: F. S. In: Die Nachgeborenen. Ffm. 1983, S. 73–97. – Margot Taureck: F. S. in Frankreich. Heidelb. 1987. – Tilman Krause: Mit Frankreich gegen das dt. Sonderbewußtsein. F. S.s Wege u. Wandlungen in diesem Jahrhundert. Bln. 1993. – Westf. Autorenlex. 3. – Gregor Streim: Junge Völker u. neue Technik. Zur Reisereportage im ›Dritten Reich‹, am Beispiel v. F. S., Heinrich Hauser u. Margret Boveri. In: ZfG N. F. 9 (1999), H. 2, S. 344–359. – Cecilia v. Buddenbrock: F. S., un journaliste allemand a` l’e´ preuve du sie` cle. Paris 1999 (Übers. u.d.T. F. S. Ein dt. Journalist vor der Herausforderung eines Jahrhunderts. Ffm. 2007). – Gunther Nickel: Des Teufels Publizist – ein ›höchst komplizierter u. fast trag. Fall‹: F. S., Carl Zuckmayer u. der Nationalsozialismus. Mit dem Briefw. zwischen S. u. Zuckmayer. In: Zuckmayer-Jb. 5 (2002), S. 247–295. – Hans-Christof Kraus: Als konservativer Intellektueller in der frühen Bundesrepublik – das Beispiel F. S. In: Die kupierte Alternative. Hg. Frank-Lothar Kroll. Bln. 2005, S. 267–297. – G. Nickel: Die Schwierigkeiten polit. Hermeneutik am Beispiel F. S.s. In: ›Gerettet u. zugleich v. Scham verschlungen‹. Hg. Michael Braun u. a. Ffm. u. a. 2007, S. 39–58. – Ders.: F. S. In: NDB. Martin Rector / Red.

Siede, Johann Christian, * 19.10.1765 Magdeburg, † 14.6.1806 Berlin. – Erzähler. Über S.s Herkunft ist nichts, über sein Leben wenig bekannt. Er war gelehrter Rat u. Geschäftsträger des Fürstentums Anhalt-Cöthen in Berlin. Viele seiner meist anonym erschienenen Werke sind heute verschollen. Die meisten Texte sind nicht, wie die oft schrill formulierten Titel vermuten lassen, der libertinen Literatur zuzurechnen, sondern stehen konsequent in der Tradition aufklärerischer Moraldidaxe (regelmäßige Leseranrede, moralistische Bewertung des Beschriebenen etc.); die zu Grunde liegenden Erzählmuster sind stereotyp. Ob S.s Werke

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bei seinen Zeitgenossen einen Unterhaltungswert hatten, ist heute nicht mehr auszumachen, für die Erforschung aufgeklärter Unterhaltungsliteratur sind sie jedenfalls wichtige Zeugnisse. In dem 1797 in Berlin erschienenen Handbuch für praktische Welt- und Menschenkenntniß vom Verfasser des Weltmanns hat S. seine moralistischen Ansichten zusammengefasst. Weitere Werke: Emilie, oder die verrathenen Geheimnisse. Ein Gemälde. Magdeb. 1789. – Der Weltmann u. die Dame v. feinem u. großem Ton. Halle 1790. – Vaterländ. Eichen. Eine Lektüre für Männer. Magdeb. 1791. – Altar der Grazien u. Musen. Bln. 1791–96. – Die Kunst sinnreich zu quälen. Aus dem Engl. Ebd. 1792. – Raritäten v. Berlin u. merkwürdige Gesch.n einiger Berlinischen Freudenmädchen, vom Mann im grauen Rocke. Ebd. 1792–99. – Wilhelmine Sterner, oder das blaue Maal. Eine Schweizergesch. 2 Tle., ebd. 1793. – Die Tyrannei der Liebe [...]. Görlitz 1794 (E.en). – Gemaelde des phys. Menschen oder Die Geheimnisse Der Mannbarkeit des GeschlechtsTriebes u. des Ehebetts. 4 Tle., Bln. 1794–98. – Zeichen u. Werth der Maennerkeuschheit [...] nebst einem Wort zu seiner Zeit an edle Jünglinge u. Mädchen. Ebd. 1794. – Die schöne Diana. Berlins erstes öffentl. Mädchen. 2 Tle., ebd. 1794 u. 1796. – Meine Gesch., eh’ ich geboren wurde. Bln., Hbg. 1795. Neudr. Bln. 1904. – Nonne u. Aebtissin im Wochenbette [...]. Meißen 1797. – Biographien einiger merkwürdigen Berlinischen Freudenmädchen. 2 Tle., Bln. 21798. Literatur: Goedeke 5, S. 517. – HKJL 1750–1800, Sp. 1244, 1528 f. – Lily Tonger-Erk: ›Selbst-Herrlichkeits-Training‹. Populäre Rhetorikratgeber für Frauen. In: Rhetorik Jb. 29 (2010), S. 35–50. Matthias Luserke / Red.

Siefkes, Wilhelmine, auch: Wilmke Anners, * 4.1.1890 Leer, † 28.8.1984 Leer. – Erzählerin, Lyrikerin. Aus einer ostfries. Bauernfamilie stammend, engagierte sich S. als Lehrerin in der Heimatbewegung u. stand den Ideen der Reformpädagogik nahe; nach dem Ersten Weltkrieg schloss sie sich der SPD an. 1933 verweigerte sie die Unterschrift unter eine Loyalitätserklärung für Hitler u. wurde aus dem Schuldienst entlassen. Seit den frühen 1920er Jahren schrieb S. hochdt. u. niederdt. Erzählungen u. übertrug

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Grimms Märchen ins Niederdeutsche. In ihrem Hauptwerk, dem niederdt. Roman Keerlke (Hbg. 1941. Revidiert Leer 31973), beschrieb sie das von Alkoholismus u. Gewalt gezeichnete Milieu verarmter ostfries. Industriearbeiter u. die allmähl. Auflösung traditioneller Familienstrukturen. Im Gegensatz zum Sozialrealismus des Romans steht S.’ Mundartlyrik (Tüschen Saat un Seise. Hbg. 1959. Erw. Leer 1971), epigonale Natur- u. Stimmungsdichtung im Stil Klaus Groths. Weitere Werke: Hör eenzig Eegen. Wilhelmshaven 1922. – Kasjen u. Amke. Leer 1952. Revidiert 2 1974. – Uke setzt sich durch. Hbg. 1957. – Van de Padd of. Ebd. 1961. Leer 21987. – Erinnerungen. Ebd. 1979. – Dat Ollske un de Bigge. En oll freesk Märchen. Vertellt van W. S. un tekent van Holger Fischer. Leer 1999. 22007. – Jan-Manntje in’t papieren Huuske: Ein ostfries. Märchen. Illustriert v. Holger Fischer. Hg. Theo Schuster. Leer 2008. Literatur: Erhard Brüchert: W. S. (1890–1984): Ostfriesin – Lehrerin – Demokratin – Schriftstellerin. In: Frauenwelten. Hg. Angela Dinghaus. Hildesh. u. a. 1993, S. 356–361. – Heide Braukmüller: W. S. Eine christl. soziale Demokratin (1890–1984). Weener (Ems) 1999. 2003. Jörg Schilling / Red.

Siegfried der Dörfer. – Mitteldeutscher Dichter eines Marienmirakels, zweite Hälfte des 13. Jh.

Siegfried

von einer Frau in grauem Mantel aufgehalten, die sie nicht als die Gottesmutter erkennt. Maria kann sie bewegen, der »lêre« von »Gotes marter« an der Wand ihrer Kemenate u. nicht den Einflüsterungen des Teufels zu folgen. Das Bild des Gekreuzigten belehrt sie, angesichts seiner realiter blutenden Wunden u. der für sie erlittenen »marter« um seinetwillen »kleinez herzenleit« (v. 431) zu ertragen. So nimmt sie am Abend willig alle Qualen hin, die ihr der Ritter zufügt, kann ihn damit zum Umdenken bewegen u. endlich von seiner »dorpikeit« (v. 603) heilen. Beide verdienen sich das ewige Leben. Ihr Beispiel bewahrt noch viele Frauen vor ewiger Reue. Eine lat. Parallele zu dieser Erzählung bietet die aus St. Michael bei Mainz stammende Londoner Handschrift (gleichfalls erste Hälfte des 14. Jh.) Ms. Arundel 506. Ausgaben: Franz Pfeiffer: Frauentrost v. S. dem Dorfer. In: ZfdA 7 (1849), S. 109–128. – Friedrich Heinrich v. der Hagen (Hg.): Gesammtabenteuer. Stgt./Tüb. 1850. Neudr. Bd. 3, Darmst. 1961, S. 429–450 (Nr. 72). – Übersetzung: Mutter der Barmherzigkeit. Mittelalterl. dt. Mirakelerzählungen v. der Gottesmutter [...] übertragen v. Manfred Lemmer. Lpz. 1986. Graz 1987, S. 124–135. Literatur: Margaret D. Howie: Studies in the Use of Exempla, with Special Reference to Middle High German Literature. Diss. London 1923, S. 43 ff., 118–121. – Konrad Kunze: S d. D. In: VL.

In drei Handschriften aus der ersten Hälfte des 14. Jh. sind 25 Marienmirakel aus dem Hans-Joachim Ziegeler / Red. ersten Buch des Passionals um vier Mirakel ergänzt, deren letztes als »buochelin« beSiegfried, Walther, * 20.3.1858 Zofingen/ zeichnet wird, das der vrouwen trôst (v. 640) Kt. Aargau, † 1.11.1947 Partenkirchen/ heiße. Als dessen »tihtaere« wird in den zwei Obb. – Romanschriftsteller u. Erzähler. weniger zuverlässigen Handschriften »Sîfrit der Dorfaere« (v. 638) genannt. Mit dieser Nach Kindheit u. Schulzeit in Zofingen u. Bezeichnung korrespondiert wohl der Er- Basel lebte der Sohn eines Aargauer Politikers zählerkommentar, der das Leben im Dorf, das u. Eisenbahndirektors 1880–1882 als Bankseinen Herrn ernährt, dem Leben in den kaufmann in Paris, ehe er begann, sich in St. »steten« (v. 26) gleichstellt. Gallen künstlerisch zu betätigen. 1886 zog S. In einem solchen Dorf lebt ein Ritter, der nach München, wo ihm mit dem Roman Tino seine Frau misshandelt u. die Ehe bricht. Als Moralt. Kampf und Ende eines Künstlers (Jena ihre Hoffnung zerschlagen wird, dass Gott u. 1890. Bln. 41911. Mchn. 61921) ein viel beMaria seinen Sinn ändern, beschließt die achtetes Debüt gelang. Die in der Münchner Frau, sich aus Rache an ihnen zu erhängen. Künstlerboheme angesiedelte, breit aufgefäSie wirft ihre Schlüssel als »kleinez rechelîn« cherte Geschichte des mit gewaltigen Visio(v. 166) an ihrem Mann in einen Teich, klagt nen ringenden, zunächst erfolgreichen, aber am Kirchhof noch einmal Maria ihr Leid, nach einer unglückl. Liebesbeziehung in wird aber dann dreimal in ihrem Vorhaben Verzweiflung u. Wahnsinn verfallenden Ma-

Siegmund

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lers Tino Moralt wurde von der zeitgenöss., Siegmund, Justina, geb. Dietrich, * 25.12. bes. auch der schweizerischen Kritik als ein 1636 Rohnstock/Schlesien, † 10.11.1705 Werk in der Nachfolge von Kellers Grünem Cölln/Spree. – Verfasserin eines HandHeinrich gesehen. Eine reiche Heirat erlaubte buchs zur Geburtshilfe. es S., 1890 als freier Schriftsteller nach Partenkirchen zu ziehen, wo er mit Ausnahme S., die Tochter eines Predigers, heiratete, der Jahre 1906–1913, die er in Wildegg bei noch nicht 19-jährig, den Schreiber Christian Siegmund. Nach einigen Monaten glaubte sie Aarau verbrachte, bis zu seinem Tod lebte. S.s zweiter Roman, Fermont (Mchn. 1893. sich schwanger u. suchte bei erfahrenen 6 1922), nahm das Thema des um sein Werk u. Hebammen Rat, die ihre Hoffnung bestätigseine Berufung ringenden Künstlers wieder ten u. nicht erkannten, dass sie in Wirklichauf, brachte es diesmal jedoch zu einem po- keit an einer großen Geschwulst litt. Durch sitiven Abschluss: Der Protagonist versöhnt diese Fehldiagnose u. die unsachgemäße Besich mit Gott u. der Welt u. findet in einem handlung geriet S. in Lebensgefahr. Obgleich unverkennbar von Nietzsche bestimmten sie sich erholte, konnte sie keine Kinder mehr pantheistischen Weltganzen einen neuen Le- bekommen. Sie begann, sich über weibl. benssinn. Nachdem S. mit den beiden für die Anatomie u. Geburtsschwierigkeiten zu inStimmung des Fin de siècle charakterist. Ro- formieren u. wurde selbst Hebamme: Nach manen offensichtlich seine eigene künstleri- 15-jähriger Tätigkeit in Liegnitz diente sie sche u. menschl. Entwicklung nachgezeich- acht Jahre als fürstl. Hebamme in Brieg. 1683 net hatte, beschränkte er sich in der Folge auf wurde sie als Hofhebamme nach Berlin bekürzere, vorwiegend schweizerische Themen rufen. Zwischen 1665 u. 1701 führte sie über gestaltende Erzählungen wie Um der Heimat 6000 Geburten durch. Ihre als Dialog zwischen der erfahrenen willen (Bln. 1898), Gritli (Mchn. 1904. Zus. mit Ein Wohltäter), Tag- und Nachtstücke (ebd. 1921) Hebamme Justine u. der Anfängerin Christioder Der berühmte Bruder (ebd. 1922), ehe er als ne abgefasste Chur-Brandenburgische Hoff-WeheErzähler ganz verstummte. Ähnlich wie der Mutter wurde mehrfach neu aufgelegt (Cölln ungleich bedeutendere Jakob Schaffner en- an der Spree 1690. 41715. 1756). S. besteht in gagierte sich der Schweizer S., der mit Paris dieser Anleitung zur Geburtshilfe auf einer vor dem Weltkrieg (Lpz. 1917) einen betrübl. gründl. Ausbildung (Anatomiekenntnisse); Beitrag zur antifrz. Kriegshysterie lieferte, in unqualifizierte Hebammen werden zur Zielbeiden Weltkriegen unzweideutig für die dt. scheibe scharfer Kritik. »Fürcht Gott, thue Sache. recht und scheue niemand«, ist der Rat, den Weitere Werke: Adolf Stäbli als Persönlichkeit. sie Hebammen mit auf den Weg gibt. Sie Zürich 1901. – Bilderbuch eines Lebens. 3 Bde., empfiehlt Zusammenarbeit mit Ärzten u. rät ebd. 1926–32 (Autobiogr.). – Frau Cosima Wagner. Schwangeren, sich lange vor der Geburt unStudie eines Lebens. Stgt. 1930. tersuchen zu lassen. S.s Stil ist nüchtern u. Literatur: Dora Gerber: Studien zum Problem unverblümt. Das Werk, mit zahlreichen Abdes Künstlers in der modernen deutschschweizer. bildungen u. Diagrammen ausgestattet, Literatur. Carl Spitteler, W. S., Paul Ilg, Albert zeichnet sich durch Fallstudien aus. Trotz Steffen. Diss. Bern 1948. – Alfred Huber: W. S. Leben, Werk, Persönlichkeit. Sarnen 1955. – Wer- »vielerley Verdrießlichkeit [...] sonderlich ner Günther: W. S. In: Ders.: Dichter der neueren von einem [...] bekanten Medicinae Doctore« (Vorrede zur 4. Aufl.) war S. die erfolgreichste Schweiz. Bd. 3, Bern 1986, S. 64–103. Charles Linsmayer dt. Hebamme ihrer Zeit. Weitere Werke: An Herrn D. Andream Petermann, Anat. et Chir. P. P. Extraord. wegen eines Corollarii, Multae hactenus insolitae laudatae enchireses in libro [...]: Die Chur-Brandenburgische Hof-Wehe-Mutter, nituntur vana speculatione [...]. Hinc iure miramur: quomodo liber sustinere potuerit censuram totius Collegii Medici [...] abge-

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Siemsen

lassenes Send-Schreiben. Cölln an der Spree 1692. – Wider Herrn D. Andreae Peterman, Anaton. & Chirurg. P. P. Ordin. auf der Universität Leipzig, von ihm also-genante gründliche Deduction vieler Handgriffe, die er aus dem Buche Die Chur-Brandenburgische Hoff-Weh-Mutter genant, als Speculationes u. ungereimt, ja gefährlich zu seyn, vermeinet zu erweisen, nöthiger Bericht [...]. Ebd. 1692. Internet-Ed. in: HAB Wolfenbüttel.

fachheit und Alltäglichkeit setzt« (Kolter) u. bei aller Bewusstheit u. Reflexionsfähigkeit auf kunstvolle Wortgebilde weitgehend verzichtet. Als typische Ausdrucksform S.s erscheint so die »beiläufige Mitteilung« (Braun), deren Zurückhaltung als Kontrast zum Lärm des Literaturbetriebs empfunden werden kann.

Ausgaben: Die königl. preuß. u. chur-brandenb. Hof-Wehe-Mutter [...]. Bln. 1752. Nachdr. Hann. 2000. – The court midwife. Hg. u. übers. v. Lynne Tatlock. Chicago u. a. 2005.

Literatur: Gerd Kolter: Das Eis der Diktaturen u. die ungesüßten Wörter. In: die horen 49 (2004) 4, S. 220–222. – Lothar Müller: Nicht zu vergessen die wippende Zunge. Sage niemand, Sprachhemmungen solle man sich abgewöhnen: V. S.s Gedichtband ›Postkarte für Nofrete‹. In: SZ, 21.2.2004, S. 16. – Michael Braun: Beiläufige Mitteilungen in diskretem Ton. In: der Freitag, 17.12.2009, S. 16. – Joachim Sartorius: Der BitterLuftige Bodensatz der Erfahrung. Zu den Gedichten v. V. S. In: Sprache im techn. Zeitalter 36 (1998), H. 148, S. 482 f. Stephanie Düsterhöft

Literatur: Daniel Bandeco: Die v. Gott zu Gott gezogene Kinder Gottes. Cölln/Spree 1705 (Leichenpredigt; Stolberg Nr. 7764). – Anton Hahn: De Justinae Sigmundin meritis in artem obstetriciam dissertatio [...]. Breslau 1849. – F. Winckel: Justine Siegemund: In: ADB. – Jean M. Woods u. Maria Fürstenwald: Schriftstellerinnen, Künstlerinnen u. gelehrte Frauen des dt. Barock. Ein Lexikon. Stgt. 1984, S. 118. – Waltraud Pulz: ›Nicht alles nach der Gelahrten Sinn geschrieben‹. Das Hebammenanleitungsbuch v. J. S. [...]. Mchn. 1994. Jean M. Woods / Red.

Sielaff, Volker, * 11.5.1966 Großröhrsdorf/Lausitz. – Lyriker, Essayist, Kulturjournalist. Der in der DDR aufgewachsene u. in Dresden lebende Autor publiziert seit 1990 Gedichte in literar. Zeitschriften u. Anthologien (z.B. in: Lyrik von JETZT. Hg. Björn Kuhligk u. Jan Wagner. Köln 2003, S. 225–229). Seine Essays u. Rezensionen u. a. für die »Frankfurter Rundschau« u. den »Tagesspiegel« beziehen sich vorwiegend auf lyr. Texte. 2003 erschien sein erster Gedichtband Postkarte für Nofretete (Springe) in der von Heinz Kattner edierten »Lyrik Edition«. 2007 erhielt S. den Förderpreis zum Lessing-Preis des Freistaates Sachsen. Einige der Gedichte von S. wurden in andere Sprachen übersetzt. Die überwiegend positiven Rezensionen seines Debütbandes stellen Anklänge an die Neue Subjektivität der siebziger Jahre fest u. sehen Gemeinsamkeiten mit Autoren wie Theobaldy u. Wondratschek. S. selbst hat den röm. Dichter Catull u. nordamerikan. Lyriker wie W. C. Williams, R. Creeley u. L. Ferlinghetti als Vorbilder bezeichnet. Bei S. dominiert eine Poetik, die »auf eine bewußte Ein-

Siemsen, Hans, auch: Pfarrer Silesius, * 27.3.1891 Mark bei Hamm, † 26.6.1969 Essen. – Erzähler, Journalist. Nach einer Buchhandelslehre studierte der Pfarrerssohn Kunstgeschichte in München u. Paris. Dort verkehrte er im Künstlerkreis des Café du Dôme um Wilhelm Ude. Seit 1914 veröffentlichte er Beiträge im »Pan« u. in der »Aktion«, 1915 übernahm er die Chefredaktion des »Zeit-Echo«. 1918 unterzeichnete S. gemeinsam mit Karl Otten, Franz Pfemfert u. Carl Zuckmayer einen Aufruf für die sozialistische Weltrevolution. In der Weimarer Republik schrieb S. Literatur-, Kunst- u. Filmkritiken für die »Weltbühne«, die »Literarische Welt« u. die »Frankfurter Zeitung« u. nahm in Feuilletons gegen die Diskriminierung der Homosexualität Stellung. S.s erstes, in der Reihe Der jüngste Tag erschienenes Buch Auch ich – auch du. Aufzeichnungen eines Irren (Lpz. 1919) schildert im Stil des Spätexpressionismus Kriegserlebnis u. Alpträume eines Soldaten. Die späteren Prosaskizzen Wo hast du dich denn herumgetrieben? (Mchn. 1920) u. Paul ist gut (Stgt. 1926) zeigen S.s Übergang zur realistischen, iron. Erzählweise. 1934 emigrierte S. nach Paris; 1941 floh er über Südfrankreich nach New York. Im frz.

Sievers

Exil schrieb er die antifaschistische Kampfschrift Die Geschichte des Hitlerjungen Adolf Goers (Düsseld. 1947. Neudr. Bln. 2000. Zuerst u. d. T. Hitler Youth. London 1940), in der er auf der Grundlage authent. Materials über die Machtstrukturen innerhalb der HitlerJugend aufklärte. In den USA war S. Rundfunkjournalist, konnte aber im literar. Leben nicht mehr Fuß fassen. Sein Gedichtband Wo willst du hin (New York 1946) erschien nur noch als Privatdruck. 1948 kehrte er vereinsamt nach Deutschland zurück. Weitere Werke: Die Gesch. meines Bruders. Stgt. 1923 (E.). – Das Tigerschiff. Jungensgesch.n. Ffm. 1923. 21982. – Charlie Chaplin. Lpz. 1924. – Verbotene Liebe. Briefe eines Unbekannten. Bln. 1927. – Russland ja u. nein. Ebd. 1931 (Reiseber.). – Schriften. 3 Bde., Essen 1986–88. – H.-S.-Lesebuch. Zusammengestellt u. mit einem Nachw. v. Dieter Sudhoff. Köln 2003. – Nein – langsam! Langsam! Ges. Erlebnisse, Feuilletons. Hg. u. mit einem Nachw. v. D. Sudhoff. Bln. 2008. Literatur: Michael Föster: Verbotene Liebe im Exil. Einige Schwierigkeiten beim Finden der Wahrheit über H. S. In: Homosexualitäten – literarisch. Hg. Maria Kalveram. Essen 1991, S. 37–51. – Jörn Meve: ›Homosexuelle Nazis‹. Zur literar. Gestaltung eines Stereotyps des Exils bei Ludwig Renn u. H. S. In: Forum Homosexualitat u. Lit. 11 (1991), S. 79–100. – Dieter Schiller: Döblin-Feier. Zu einem Briefw. Döblins mit H. S. In: ZfG, N. F. 1 (1991), H. 1, S. 145–155. – Susanne Alge: H. S. In: Dt. Exillit., Bd. 3, T. 2, 2001, S. 468–488. – D. Schiller: Alfred Döblin, H. S. u. der Bund Neues Dtschld. 1938/1939. In: Exil 22 (2002), H. 1, S. 44–62. – Dieter Sudhoff: H. war gut. Eine Erinnerung an H. S. (1891–1969). In: Lit. in Westfalen. Hg. Walter Gödden. Bielef. 2006, S. 133–186. – Wolfgang Delseit: H. S. In: NDB. Mechthild Hellmig / Red.

Sievers, Georg Ludwig Peter, * 1766 oder (wahrscheinlicher) 1775 Magdeburg, Braunschweig oder Hannover, † nach 1830 (Sterbeort unbekannt). – Dramatiker, Erzähler, Journalist, Musikkritiker. S. stammte wohl aus musikal. Elternhaus; sein Vater war wahrscheinlich Domorganist in Magdeburg. Nach Studium an unbekanntem Ort versuchte sich S., der zunächst eine Komponistenlaufbahn einschlagen wollte, als Romanautor u. Dramatiker: Zwischen 1798

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u. 1814 erschienen etliche (erfolglose) Dramen, in denen sich S. an frz. Vorbildern sowie Modellen der aufklärerischen Typenkomödie orientiert (so etwa das romant. Schauspiel Der weibliche Abälino, oder das Mädchen in vielerlei Gestalten. Lpz. 1802, oder Lessings Schädel. Original-Lustspiel in drei Aufzügen. Hbg. 1808, mit dem S. an Kotzebues Preisausschreiben teilnahm), u. Operntexte (etwa Betrug für Betrug, oder das vermeinte Frauenzimmer. Posse in gereimten Versen. Hbg./Altona 1805). Von den drei Romanen des Autors sind lediglich Die Zwillings-Schwestern oder der Sarg (4 Bde., Hbg./ Mainz 1805–1807) erhalten, ein in Italien spielender, mit erot. u. Schauder erregenden Elementen angereicherter Abenteuerroman, in dem S. versucht – wie er in der Vorrede erklärt –, eine Mittelstellung zwischen spätaufklärerischen u. romant. Positionen einzunehmen. Für kurze Zeit war S. 1814/15 in Altenburg als Redakteur bei Brockhaus tätig. Den Schwerpunkt seines Werks bilden jedoch journalistische Formen: Der äußerst mobile S. (belegt sind Aufenthalte in Dresden, Braunschweig, Kassel, Wien u. Rom, wo sich seine Spur verliert) arbeitete seit etwa 1805 als überaus produktiver Beiträger für Periodika wie »Der Freimüthige und Ernst und Scherz«, »Morgenblatt für gebildete Stände«, »Leipziger allgemeine musikalische Zeitung« u. »Caecilia«. S. berichtete dort zumeist über Kunst u. Musik, widmete sich aber auch dem Alltagsleben in Paris oder Italien. Als Mittler im deutsch-romanischen Kulturtransfer, v. a. aber als Musiktheoretiker kommt S. gewisse Bedeutung zu: In seinen späteren Lebensjahren setzte er sich zunehmend kritisch mit der romant. Musikästhetik auseinander, distanzierte sich von der schwärmerischen Absolutsetzung vorbildhafter Werke u. betonte demgegenüber die Historizität jegl. Kunstproduktion. Weitere Werke: Das Bauerngut. Lpz. 1798 (D.). – Die Narbe an der Stirn. Lpz. 1802 (D.). – Er u. Sie. Hbg./Altona 1805 (D.). – Der Citronenwald. Lpz. 1809 (D.). – Schauspieler-Studien. Ein unentbehrl. Handbuch für öffentl, u. Privat-Schauspieler so wie für sämmtl. Kunst-Freunde. Braunschw. 1813. – Der Eilfertige. Lpz. 1814 (D.). – Mozart u. Süssmayer, ein neues Plagiat, ersterm zur Last gelegt, u.

17 eine neue Vermuthung, die Entstehung des Requiems betreffend. Mainz 1829. Literatur: Christoph E. Hänggi: G. L. P. S. (1775–1830) u. seine Schriften. Eine Gesch. der romant. Musikästhetik. Bern u.a. 1993 (mit ausführl. Werkverzeichnis). Christopher Meid

Sigeher. – Sangspruchdichter der zweiten Hälfte des 13. Jh.

Sigel

während im Abgesang das Lob ausschließlich mit Hilfe teils traditioneller, teils neuer Epitheta ornantia zusammengesetzt ist: »Du cederboum, du balsemsmac, du rîchiu liljenouwe, du himelstroum, du saeldentac, gote liebiu spiegelschouwe.« Trotz S.s formalen Talents u. der häufigen themat. u. motivischen Reverenz vor den Vorgängern scheint sein Werk für die weitere Gattungsentwicklung keine Rolle gespielt zu haben.

Von S. sind 18 Sprüche u. ein Marienlied überliefert. Alle Texte stehen – vermutlich Ausgabe: Heinrich Peter Brodt (Hg.): Meister S. von einem Irrtum abgesehen – chronologisch Breslau 1913. Neudr. 1977. geordnet in der Großen Heidelberger LiederLiteratur: RSM 5, 1991, S. 368–372. – Jens handschrift; sie zeigt in der zugehörigen Mi- Haustein: S. In: VL (mit weiterer Lit.). niatur S. als Wandersänger, dem ein Mantel Jens Haustein / Red. als Lohn für seinen Vortrag geschenkt wird. Über S.s Herkunft ist nichts bekannt; der sprachl. Befund spricht für den oberdt. Sigel, Kurt, auch: René Legis, Hazie Raum. Nach 1350 wird er sich am Prager Hof Schiefer, * 3.8.1931 Frankfurt/M. – Lyriaufgehalten haben. ker, Erzähler, Hörspielautor, bildender Die Sprüche in fünf Tönen kommentieren Künstler. verschiedentlich die Lage des Reichs u. führen damit eine Tradition fort, die von S.s großem Nach einer Schriftsetzerlehre arbeitete S. als Vorbild Walther von der Vogelweide be- Grafiker u. Retuscheur u. war 1971–82 als gründet wurde. Im Vordergrund steht die Galerieleiter u. Kustos in Frankfurt/M. tätig. habgierige Handlungsweise des Papstes Seit 1982 lebt er dort als freier Schriftsteller u. während des Interregnums: Wie mit Puppen bildender Künstler (auf den Gebieten Malespielt er »mit tiutschen fürsten / er setzt si ûf, rei, Zeichnung u. Fotografie). er setzt si abe« (Nr. 2). Der Schwäche der dt. In S.s früher Lyrik kontrastiert die reiche Fürsten (Nr. 3, 6, 12, 15), die Rom dieses Verwendung von Metaphern in den Liebes- u. selbstsüchtige Handeln ermöglicht, wird die polit. Zeitgedichten (Traum und Speise. HeiMacht des Böhmerkönigs gegenübergestellt delb. 1958. Sperrzonen. Hbg. 1960) mit lakon. (Nr. 8, 18). Sprache u. Elementen des Bänkelsangs In Spruch 13 behandelt S. sprachspielend (Flammen und Gelächter. Mchn./Wien 1965). Stand u. Aufgabe der »herrn«, in deren Rolle Der (Frankfurter) Dialekt dient S. in seinen er sich im Minnespruch (Nr. 4) selbst imagi- Gedichten (Feuer, de Maa brennt. Allerlei kautzige niert: »Swenne ich wil hân fröuden vil, sô rîte Verse. Ffm. 1968. Uff Deiwelkommraus. Ebd. ich hin ze walde, daz ist ein herren site an 1975) u. Erzählungen (Zuschdänd in Frankfort mir.« un annerswo. Rothenb. o. d. T. 1975) als Mittel Religiöse Themen sind in Nr. 11 u. 14 zur Gesellschaftskritik. Durch die Gegen(Trinitätsspekulation) aufgegriffen sowie im überstellung von Hochsprache u. Dialekt in Marienspruch (Nr. 17), der die verwunderl. Verse gegen taube Ohren (Ffm. 1983) erzielte S. Tatsache hervorhebt, dass durch die Inkar- auch sprachkrit. Wirkung. Alltagssituationen nation Gottes, »der vater kint der tohter« bilden die Grundlage für Satiren, von wurde. schwarzem Humor geprägte Geschichten u. Das unter S.s Namen überlieferte Marien- »Nonsenstexte« (Knigge verkehrt. Ebd. 1970; lied ist wohl das früheste Gattungsbeispiel. mit Zeichnungen von Kurt Halbritter. KanDie sieben Strophen beschreiben im Aufge- nibalisches. Einschlafgeschichten für sensible Leser. sang die Süße, Licht u. (aufgrund ihrer In- Tüb./Basel 1972. Großes Hessenlamento. Gietercessio) Heil schenkende Gottesmutter, ßen 1994. Widerworte. Mchn. 2001).

Sigenot

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In den Romanen Kotilow oder Salto mortale nach innen (Düsseld. 1977) u. Kotilows Verwundungen (Ffm. 1989) zeichnet S. das psych. Elend eines schizophrenen Menschen nach, dessen Leben geprägt ist vom Wechsel zwischen der bedrückenden Normalität des Alltags u. der Welt des Wahns. Weitere Werke: Kurswechsel. Darmst. 1968 (E.en). – Lieder & Anschläge. Mchn. 1970 (L.). – Gegenreden, Quergebabbel. Düsseld. 1978 (L.). – Krumm de Schnawwel, grad de Kerl. Ebd. 1980 (E.en, L.). – Geifer-, Gift- un Suddelverse. Ffm. 1989 (L.). – Kündigungsgrund. Bericht, Erzählung, Groteske. Darmst. 2002. – Deine Träume sind meine Leuchtfeuer. Liebesgedichte 1958 bis 2004. Hochdt. & hess. Mchn. 2005. Literatur: K. S. Gedichte – Zeichnungen – Aufsätze – Fotos. Hg. Winfried Giesen. Ffm. 2007. Bruno Jahn

Sigenot. – Heldendichtung des 13. Jh. aus dem Stoffkreis um Dietrich von Bern. Im Codex Donaueschingen 74 der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe vom Anfang des 14. Jh. geht dem Eckenlied die Erzählung vom Kampf Dietrichs von Bern gegen den Riesen Sigenot voraus: Dietrich stößt im Wald auf den schlafenden Riesen. Der erkennt in ihm den Töter seines Verwandten Grine, will diesen rächen u. greift Dietrich an. Dietrich unterliegt u. wird von Sigenot in ein Verlies geworfen. Der Riese macht sich nach Bern auf, um sich auch an Dietrichs altem Waffenmeister Hildebrand zu rächen. Er trifft diesen noch im Wald, besiegt ihn im Kampf u. schleppt ihn zu Dietrichs Gefängnis. Doch kann Hildebrand sich befreien u. Sigenot erschlagen. Mit Hilfe des Zwergs Eggerich befreit er Dietrich, u. sie kehren nach Bern zurück. Diese älteste erhaltene Version, der sog. Ältere Sigenot, umfasst nur 44 Strophen im Bernerton. Sein letzter Vers verweist auf das ohne Zwischenraum oder Überschrift folgende Eckenlied: »sus hebt sich eggen liet«. Offenbar liegt die Kurzfassung eines älteren Textes vor, die zum Zweck der zykl. Verbindung mit dem Eckenlied hergestellt wurde. Dieser zu erschließende ältere Text dürfte auch die Grundlage des Jüngeren Sigenot gewesen sein, einer Version von um die 200

Strophen im Bernerton, die – im Einzelnen stark divergent – in sieben Handschriften des 15. Jh. u. in mindestens 21 Drucken von etwa 1487–1661 überliefert ist. Der Jüngere Sigenot unterscheidet sich vom Älteren Sigenot durch eine einlässlichere Erzählweise wie durch zusätzl. Handlungsmomente, insbes. einen ausführl. Bericht über Dietrichs Zug zu Sigenot, auf dem der Held eine Hinde erlegt u. einen Zwerg aus der Gewalt eines wilden Mannes befreit. Das textkonstituierende Motiv – Dietrich wird von einem Riesen gefangen genommen u. von einem seiner Gesellen befreit – gehört zum altüberlieferten Bestand der Dietrichsage: Schon der altengl. Waldere (Handschrift um 1000) kennt es, u. in der mhd. Virginal spielt es eine wichtige Rolle. So könnte die Sigenot-Fabel auf älterer Tradition beruhen, doch ist es wahrscheinlicher, dass sie erst im 13. Jh. (vielleicht auf der Basis der traditionellen Motivschablone) frei erfunden wurde. Wer der Erfinder – d.h. der Dichter des S. – war, weiß man nicht. (Sagengeschichtlich ist der S. im Übrigen noch von Interesse als Zeugnis der Überlieferung von Dietrichs Kampf mit dem Riesenpaar Grine [Grim] u. Hilde, von der es eine mhd. Dichtung gegeben haben muss, die verloren ist.) Künstlerisch belanglos, hat das Werk im späten MA u. in der frühen Neuzeit eine erstaunl. Resonanz gefunden. Die bis tief ins 17. Jh. reichende Drucküberlieferung stempelt es zum Bestseller auf dem sich entwickelnden Markt populärer Unterhaltungsliteratur. Ausgaben: Dt. Heldenbuch. Tl. 5. Hg. Julius Zupitza. Bln. 1870. Neudr. Dublin/Zürich 1968 (Älterer S.). – Der Jüngere S. Hg. A. Clemens Schoener. Heidelb. 1928. – Der ältere u. der jüngere S. Hg. Joachim Heinzle. Göpp. 1978 (Faks. des Älteren S. u. des Straßburger Drucks v. 1577 des Jüngeren S.). Literatur: Joachim Heinzle: Mhd. Dietrichepik. Mchn. 1978. – Ders.: S. In: VL. – Ders.: Einf. in die mhd. Dietrichepik. Bln./New York 1999 (Bibliogr.). – Victor Millet: German. Heldendichtung im MA. Eine Einf. Bln./New York 2008. Joachim Heinzle

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Simler

Silberstein, August (Karl), * 1.7.1827 Alt- Simler, Symler, Georg, * vor 1480 WimpOfen, † 7.3.1900 Wien. – Erzähler, Lyri- fen/Neckar, † 1535/36. – Humanist, Phiker, Herausgeber. lologe u. Jurist. Nach dem Tod des Vaters, eines reichen Kaufmanns, 1839 bei einer Überschwemmung wurde S. von Verwandten versorgt, die ihn zum kaufmänn. Beruf bestimmten. Als er sich dem Studium der Literatur an der Universität Wien widmete, verlor er deren Unterstützung u. musste von seiner schriftstellerischen Tätigkeit leben. Nach seiner Wahl 1848 in die Wiener akadem. Legion zwang ihn die Reaktion, Österreich zu verlassen. 1854 wegen unerlaubter Rückkehr zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, wurde S. nach einem Jahr begnadigt. 1868 ließ er sich zum Protestanten taufen. S.s Lyrik (Lieder. Mchn. 1864) u. Herausgebertätigkeit (u. a. des Vogl’schen »Volkskalenders« seit 1877) stehen im Schatten seiner die unverdorbene Lebensweise des Alpenvolks idealisierenden Dorfgeschichten (u. a. Dorfschwalben aus Österreich. 2 Bde., Mchn. 1862/63. N. F. 2 Bde., Breslau 1881) u. Romane (wie Die Alpenrose von Ischl. 2 Bde., Bln. 1866. Der Hallodri. Ebd. 1868). Weil die populären Erzählwerke des »österreichischen Auerbach« nicht auf persönl. Vertrautheit mit dem dörfl. Leben, sondern auf Lesefrüchten (neben Auerbach v. a. auch Meyr u. Rank) basieren, erreichen sie nicht die Lebensechtheit eines Gotthelf oder selbst eines Pichler. Weitere Werke: Trutz-Nachtigall: Lieder aus dem dt. Walde. Lpz. 1859. – Glänzende Bahnen. 3 Bde., Bln. 1872 (R.). Literatur: Gertrud Obpacher: Jung Roseggers Entwicklungsgang zur Dorfgesch. u. seine Beziehung zu A. S. Diss. Wien 1935. – Wolfgang Häusler: A. S., demokrat. Publizist in der Wiener Revolution v. 1848 u. Mentor Peter K. Roseggers. In: Jüd. Integration u. Identität in Dtschld. u. Österr. Hg. Walter Grab. Tel-Aviv 1983, S. 65–121. – Gunther Franz: Spee bei patriot. Dichtern des 19. Jh.: Nikolaus Hocker u. A. S. In: Spee-Jb. 1 (1994), S. 147–158. – Elisabeth Lebensaft: A. S. In: ÖBL. Virginia L. Lewis / Red.

Silvester ! Trierer Silvester

S. studierte möglicherweise unter Dringenberg in Schlettstadt u. wurde um 1500 Rektor der Lateinschule in Pforzheim. In Tübingen (Immatrikulation am 1.7.1510) avancierte er zum Professor der Rechtswissenschaft. Konrad Peutinger bezeichnet ihn als einen »virum ex Germanis nostris nunquam satis laudatum«; Beatus Rhenanus nennt S. in einem Atemzug mit Reuchlin, Peutinger u. Bebel. Der berühmteste Schüler S.s war Melanchthon, der ihm von Pforzheim nach Tübingen folgte. Als Schriftsteller wirkte S. – abgesehen von einem Kommentar (1507 u. ö.) zur Komödie Sergius seines Freundes Reuchlin – durch grammat. Werke (vgl. den Sammelband Quae hoc libro continentur [...] observationes de arte grammatica De literis grecis ac diphthongis [...] Abbreviationes [...] Erotemata Guarini [...] Isagogicum sive introductorium in literas graecas. Tüb. 1512). S.s Observationes de arte grammatica, eine lat. Grammatik für den Schulgebrauch, zählen mit den Grammatiken von Locher (1495), Heinrichmann (1506) u. Brassicanus (1506) zu den Vorläufern der lat. Grammatik Melanchthons (1518); das Isagogicum in literas graecas übte als eines der ersten in Deutschland erschienenen griech. Anfängerlehrbücher u. a. starken Einfluss auf Melanchthons griech. Grammatik aus. Ausgaben: J. Reuchlin: Sergius vel Capitis caput cum commentario Georgij Symler. Pforzheim 1507. Internet-Ed. in: VD 16 digital. – Quae hoc libro continentur [...] observationes de arte grammatica [...]. Tüb. 1512. Internet-Ed. in: ebd. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Karl Hartfelder: G. S. In: ADB. – Reuchlins Briefw. Hg. Ludwig Geiger. Tüb. 1875, Briefe Nr. 99 u. 108 (S. 112). – Adalbert Horawitz: Analecten zur Gesch. des Humanismus in Schwaben. In: Sitzungsber. der Wiener Akademie der Wiss.en (philolog.-histor. Klasse) 86 (1877), S. 217 ff., bes. S. 221–224. – Ders.: Griech. Studien I. Bln. 1884. – Hugo Holstein: Reuchlins Komödien. Halle 1888. – K. Hartfelder: Philipp Melanchthon als Praeceptor Germaniae. Bln. 1889. Nachdr. Nieuwkoop 1964. 1972. – Joh. Müller: Die Zwickauer Schulordnung v. 1523. In: Neue Jbb. für Philologie u. Paedagogik

Simler 49, Bd. 120 (1879), S. 476 ff., hier S. 526–528, 634. – Ilse Günther: G. S. In: Contemporaries. – Graecogermania. Griechischstudien dt. Humanisten. Die Editionstätigkeit der Griechen in der ital. Renaissance (1469–1523). Hg. Dieter Harlfinger. Weinheim 1989, S. 95 f., 101, 138 f. – Reinhard Pohlke: Melanchthon u. sein Griechischlehrer G. S., zwei Vermittler des Griechischen in Dtschld. In: Philipp Melanchthon in Südwestdeutschland [...]. Hg. Stefan Rhein. Karlsr. 1997, S. 39–62. – Wolfgang Schmitz: Ein Autograph G. S.s im Darmstädter Exemplar v. Hrabans ›Liber de laudibus sanctae crucis‹ (1503). In: Scrinium Berolinense. FS Tilo Brandis. Hg. Peter Jörg Becker. 2 Bde., Wiesb. 2000, Bd. 2, S. 763–767. Astrid Seele / Red.

Simler, Johann Wilhelm, * 6.9.1605 Zürich, † 14.3.1672 Zürich. – Verfasser geistlicher Poesie u. Lehrdichtung.

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der auch die von S. 1642–1672 herausgebrachten Neujahrsblätter der Zürcher Bürgerbibliothek illustrierte. Diese reich mit Grafiken ausgestattete Sammlung didakt. Dichtungen war v. a. zur Erbauung der Jugend bestimmt. Trotz seines Bemühens um einen Anschluss an die Opitz’sche Regelpoetik wirkt S.s Sprache meist schwerfällig; inhaltlich bleibt er den traditionellen Themenkreisen des 16. Jh. verhaftet. Die Rezeption seines Werks in Deutschland war u. ist äußerst gering. Ausgaben: Fischer/Tümpel 5, S. 579–583. – Thomas, 1967/1988. – Ausw. in: Wir vergehn wie Rauch v. starken Winden. Dt. Gedichte des 17. Jh. Hg. Eberhard Haufe. 2 Bde., Bln. 1985, Register. – Ausw. in: Gedichte des Barock. Hg. Ulrich Maché u. Volker Meid. Stgt. 2005, S. 176–178.

Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. S. entstammte einer angesehenen Zürcher Theologenfamilie. Sein Großvater Josias u. Bd. 5, S. 3905–3908. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 29, S. 291 f. – VD 17. – Weitere Titel: Roethe: J. sein Vater Rudolf haben zahlreiche Schriften W. S. In: ADB. – Joachim Schumacher: J. W. S. [...]. hinterlassen. S. studierte Theologie in Genf Diss. Heidelb. 1934. – Ernst Nägeli: J. W. S. Diss. (Dr. theol. 1627), Paris u. Sedan. Ab 1629 war Zürich 1936. – James C. Thomas: An Edition of J. er Pfarrer in Uetikon, ab 1631 in Herliberg. W. S’s ›Teutsche Gedichte‹ with an orthography 1638–1670 hatte er das Amt eines Inspektors and morphology of his language. 2 Bde., Diss. u. Zuchtherrn an der theolog. Vorschule Chapel Hill 1967. Ann Arbor 1988. – Heiduk/ (Collegium Alumnorum) in Zürich inne. Sein Neumeister, S. 103 f., 245 f., 476. – Regula WeberSohn Rudolf wurde als Maler u. Radierer be- Steiner: Glükwünschende Ruhm- u. Ehrengetichte. Casualcarmina zu Zürcher Bürgermeisterwahlen kannt. S. war der erste schweizerische Dichter, der des 17. Jh. Bern u. a. 2006. – Martina Sulmoni: ›Einer kunst- u. tugendliebenden Jugend verehrt‹. sich zu den von Opitz vertretenen metr. u. Die Bild-Text-Kombinationen in den Neujahrsstilistischen Grundsätzen bekannte. Die v. a. blättern der Bürgerbibl. Zürich v. 1645 bis 1672. geistl. Poesie u. Lehrdichtung enthaltenden Bern 2007. Eva-Maria Bangerter-Schmid / Red. Teutschen Gedichte (Zürich 1648. 41688) überliefern auch die in der Hauptsache von dem Zürcher Kirchen- u. Schuldiener Andreas Simler, Simmler, Josias, * 6.11.1530 KapSchwilge stammenden Kompositionen von pel/Albis, † 2.7.1576 Zürich. – ReforS.s Liedern. Den Auftakt bilden Vierzeiler mierter Theologe, Historiker. über die Psalmen Davids, es folgen ein gereimter Katechismus sowie Bitt-, Lob- u. S. wurde als Sohn eines Pfarrers, Schulleiters Festgesänge. Epigramme zu bibl. Gleichnis- u. ehemaligen Priors des Klosters Kappel gesen sowie zur christlich-moralischen Beleh- boren. Gefördert von seinem Paten u. späterung – z.B. Tischzucht (auch separat 1645 ren Schwiegervater Heinrich Bullinger, stuu. ö.), Kinderzucht, Ehelehren, Regentenspie- dierte er ab 1544 in Zürich, Basel u. Straßgel – schließen den Band ab. Einen großen burg (1547–1549). Mehr als der Theologie Teil seiner erbaul. Gebrauchslyrik veröffent- galt sein Interesse den freien Künsten; denlichte S. in Einzeldrucken, die sich heute in noch trat er nach seiner Rückkehr in den der Zentralbibliothek Zürich befinden. Die kirchl. Dienst. 22-jährig wurde er Professor grafische Ausgestaltung übernahm der Zür- für Neues, 1563 für Altes Testament am cher Maler u. Kupferstecher Conrad Meyer, Zürcher Carolinum. Daneben widmete sich

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der an schwerer Gicht Leidende hauptsäch- Wyß: J. S., Prof. der Theologie in Zürich [...]. Zürich 1855 (Neujahrsblatt zum Besten des Waisenlich histor. Studien. Bekannt war S. zunächst als Übersetzer von hauses, 18. St.; mit Bibliogr.). – Georg v. Wyß: J. S. Schriften Bullingers u. anderer ins Lateini- In: ADB. – William Augustus Brevoort Coolidge: J. S. et les origines de l’alpinisme jusqu’en 1600. sche, dann als Verfasser teils umfangreicher Grenoble 1904. Internet-Ed. in: UB Innsbruck. – theologisch-apologetischer Werke sowie der Richard Feller u. Edgar Bonjour: GeschichtsNekrologe von Peter Martyr Vermigli, Kon- schreibung der Schweiz [...]. Bd. 2, Basel/Stgt. rad Gessner u. Bullinger (Zürich 1563, 1566 21979, S. 160–163. – Hans Ulrich Bächtold: J. S. In: u. 1575). Vom Fleiß S.s zeugen Bearbeitungen Bautz (Lit.). – Emidio Campi: Le preces sacrae di von Gessners Bibliotheca universalis (Epitome Pietro Martire Vermigli. In: Oratio. Das Gebet in [...]. Ebd. 1555. Nachdr. Osnabr. 1966), von patrist. u. reformator. Sicht. Gött. 1999, naturwissenschaftl. Interesse die Abhand- S. 197–210. – Hans Ulrich Bächtold: J. S., vielseitiger Humanist, Theologe u. Historiker. In: Schola lung De principiis astronomiae libri duo (ebd. Tigurina. Hg. Institut für schweizer. Reformati1559. Internet-Ed. in: VD 16). onsgesch. Zürich u. a. 1999, S. 32 f. – Die Zürcher Bleibende Bedeutung erlangte S. durch Reformation. Ausstrahlungen u. Rückwirkungen. seine historisch-geografischen Studien. So Hg. Alfred Schindler u. a. Bern 2001, Register. – edierte er als erster die Cosmographia des Kurt Jakob Rüetschi: Gwalther, Wolf u. S. als HerAethicus (Basel 1575). Da Ägidius Tschudi vor ausgeber v. Vermigli-Werken. In: Peter Martyr Vollendung der von S. mitangeregten Ge- Vermigli. Humanism, republicanism, reformation. schichte der Eidgenossen starb, ging dieser Hg. Emidio Campi. Genf 2002, S. 251–274. – Thomas Maissen: Die Geburt der Republic. Staatsselbst ans Werk u. ließ 1574 seine Vallesiae verständnis u. Repräsentation in der frühneuzeitl. descriptio libri duo erscheinen, der er einen De Eidgenossenschaft. Gött. 2006 (2., veränd. Aufl. Alpibus commentarius (dt. Mchn. 1931. Pforz- 2008). – Michael Baumann: J. S.’s hagiography. In: heim 1984) beigab. Auch S.s Hauptwerk De A companion to Peter Martyr Vermigli. Hg. Torrrepublica Helvetiorum libri duo (Zürich 1576; dt. ance Kirby. Leiden/Boston 2009, S. 459–465. – H. u. d. T. Regiment gemeiner loblicher Eydtgnoschafft U. Bächtold: J. S. In: NDB. Rainer Henrich / Red. [...]. Ebd. 1576) ist nur ein Auszug aus der geplanten Landesbeschreibung. Um das eidgenöss. Staatswesen gegen den Vorwurf der Simmel, (Friedrich Eduard) Georg, * 1.3. Anarchie zu verteidigen, bietet S. neben ei- 1858 Berlin, † 26.9.1918 Straßburg; nem geschichtl. Abriss eine handbuchartige Grabstätte: ebd., Westfriedhof. – PhiloÜbersicht über die Verfassung des kompli- soph u. Soziologe; Essayist. zierten Bündnissystems. Sein Plädoyer für Als siebtes Kind des Kaufmanns jüd. Hereine föderale Republik wurde bis ins 18. Jh. kunft Edward Simmel (Felix & Sarotti) veraufgelegt u. übersetzt. Wie kaum ein anderes brachte S. fast sein ganzes Leben in Berlin. Werk prägte es das Bild der Alten Eidgenos- Erst 1914 erhielt er einen Ruf nach Straßsenschaft bei den Gebildeten Europas. burg, wo er bis zu seinem Tod neben PhiloAusgaben: De aeterno dei filio domino [...] Iesu sophie auch Pädagogik lehrte. Christo [...] adversus veteres et novos antitrinitarios S. besuchte das Friedrichswerdersche [...] libri quatuor [...]. Zürich 1568. Internet-Ed. in: Gymnasium u. studierte zunächst bei DroyThe Digital Library of Classical Protestant Texts. – sen, Mommsen u. Treitschke, Herman Übers.: H. Bullinger: Compendium christianae reGrimm u. Adolf Bastian u. schließlich Philoligionis decem libris comprehensum [...] a studioso quodam [= J. S.] e germanica lingua in latinam sophie bei Friedrich Harms, Moritz Lazarus conversum. Zürich 1556. Internet-Ed. in: Slg. u. Eduard Zeller. Promoviert wurde er mit Hardenberg. – De Alpibus. Commentario delle einer als Preisschrift gekrönten Arbeit über Alpi. Trad. a cura di Carlo Carena. Florenz 1990. – Das Wesen der Materie nach Kant’s Physischer Internet-Ed. mehrerer Werke bzw. Übers.en in: VD Monadologie (Bln. 1881). Die zur Habilitation 16 digital. eingereichten Kantischen Studien (1883; nicht Literatur: Bibliografien: Schmidt, Quellenlexi- erhalten) wurden akzeptiert, aber das Kollokon, Bd. 29, S. 292. – VD 16. – Weitere Titel: Georg v. quium musste er wiederholen (1885).

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S. begann mit Vorlesungen über Kantische Ethik, Pessimismus u. Darwinismus, wozu unter dem Einfluss Schmollers seit dem Sommersemester 1887 soziolog. Themen traten. Sie bezeichnen den theoret. Umkreis seiner Frühschriften: Ungefähr gleichzeitig abgefasst, erschienen kurz hintereinander sein soziolog. Erstlingswerk Über sociale Differenzierung (Lpz. 1890), seine Kritik der eth. Grundbegriffe Einleitung in die Moralwissenschaft (2 Bde., Bln. 1892 u. 1893. 21904) u. die erkenntnistheoret. Studie Die Probleme der Geschichtsphilosophie (Lpz. 1892. Vollst. revidiert 1905. Erw. 1907), die einzige seiner Frühschriften, die S. später, nach seiner transzendentalphilosophischen Wende, völlig umgearbeitet als Kritik der realistischen Geschichtsauffassung neu herausgab. Die im Frühwerk noch vorherrschende krit. Auflösung alles Substantiellen u. Absoluten in den Fluss der Dinge u. Beziehungen wurde um 1900 durch eine Betonung der relativen Festigkeit der Gebilde des objektiven Geistes überwunden. S.s Theorie der Moderne, die er auf der Grundlage einer relativistischen Werttheorie in der Philosophie des Geldes (Lpz. 1900. Erw. 1907) als Phänomenologie der modernen Geldwirtschaft entfaltete, beeinflusste v. a. seine Schüler Ernst Cassirer, Ernst Bloch, Georg Lukács u. Siegfried Kracauer. Parallel zu dieser Theorie der Werte entstand seit dem programmat. Aufsatz Das Problem der Soziologie (in: Schmollers Jb. 18, 1894, S. 1301–1307) in einer Vielzahl von Abhandlungen, Aufsätzen u. Artikeln u. schließlich umfassend in seiner Soziologie (Lpz. 1908. Bln. 61983) ein eigenständiges Konzept von Soziologie, das die Formen der Vergesellschaftung als Resultat der Wechselwirkung zwischen Individuen auffasst u. so gleichzeitig die gesellschaftl. Dynamik wie die relativ festen Formen zu beschreiben imstande war. Der diesem soziolog. Ansatz zugängl. phänomenolog. Breite verdanken sich zahlreiche Essays u. Monografien: Philosophie der Mode (Bln. 1905), Die Religion (Ffm. 1906. 2 1912) u. die Sammlung Philosophische Kultur (Lpz. 1911. 21919). Sie haben, wie S.s aus Vorlesungen hervorgegangenen Vergegenwärtigungen histor. Gestalten (Kant. Ebd. 1904. Erw. 31913. Erw. 41918. Kant und Goe-

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the. Bln. 1906. Erw. 31916. Schopenhauer und Nietzsche. Lpz. 1907. Bremen 2010. Goethe. Ebd. 1913. 51921), viele Leser gefunden. Als akadem. Lehrer war der »Soziologe« bereits in den 1890er Jahren eine internat. Berühmtheit, obwohl »ewiger Privatdozent« u. erst seit 1900 (unbesoldeter) a. o. Professor. Er gehörte 1909/10 zu den Begründern der Deutschen Gesellschaft für Soziologie u. war die einflussreichste Persönlichkeit des Kreises um die Zeitschrift »Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur« (1910 ff.), in der S.s metaphys. Spätphilosophie ihre Erstveröffentlichung erlebte. Einsetzend mit den Hauptproblemen der Philosophie (Lpz. 1910. Bln. 91989) bestimmten Fragen der Philosophie des Lebens (Lebensanschauung. Mchn. 1918) u. eine seit 1902 entstehende Kunstphilosophie (Rembrandt. Lpz. 1916) S.s Interesse, obwohl auch ihn die Kriegsereignisse in mehreren Reden u. Aufsätzen (Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Mchn. 1917) noch einmal auf das Problem der Geschichte u. die Grundlagen der Moderne zurückführten (Das Problem der historischen Zeit. Bln. 1916. Der Konflikt der modernen Kultur. Mchn. 1918. Vom Wesen des historischen Verstehens. Bln. 1918). Die von Gertrud Kantorowicz veröffentlichten Fragmente und Aufsätze aus dem Nachlaß (Mchn. 1923. Neudr. Hildesh. 1967) geben Einblick in die nicht mehr vollendeten Schriften über die Philosophie der Liebe u. einer Philosophie des Schauspielers. Weitere Werke: Grundfragen der Soziologie. Lpz. 1917. – Ausgaben: Zur Philosophie der Kunst. Potsdam 1922. – Brücke u. Tür. Stgt. 1957. – Das individuelle Gesetz. Ffm. 1968. – Schr.en zur Philosophie u. Soziologie der Geschlechter. Ebd. 1985. – Gesamtausg. 24 Bde., ebd. 1989 ff. Literatur: Kurt Gassen u. a. (Hg.): Buch des Dankes an G. S. Bln. 1958 (Bibliogr., Briefe, Biografisches). – Hannes Böhringer u. a. (Hg.): Ästhetik u. Soziologie um die Jahrhundertwende. Ffm. 1976. – Heinz-Jürgen Dahme: Soziologie als exakte Wiss. 2 Bde., Stgt. 1981. – David Frisby: G. S. Chichester 1984. – H.-J. Dahme u. a. (Hg.): G. S. u. die Moderne. Ffm. 1984. – D. Frisby: Fragments of Modernity. Cambridge 1985. Dt. Rheda-Wiedenbrück 1989. – Otthein Ramstett (Hg.): S. u. die frühen Soziologen. Ffm. 1988. – Klaus Christian Köhnke: G. S. als Jude. In: Juden in der Soziologie.

23 Hg. Erhard R. Wiehn. Konstanz 1989, S. 175–193. – Raimond Boudon: L’art de se persuader des idées douteuses fragiles ou fausses. Paris 1990. – Werner Jung: G. S. zur Einf. Hbg. 1990. – Paschen von Flotow: Geld, Wirtschaft und Gesellschaft. Georg Simmels Philosophie des Geldes. Ffm. 1995. – Klaus Christian Köhnke: Der junge S. in Theoriebeziehungen u. sozialen Bewegungen. Ffm. 1996. – Jürgen Backhaus u. Hans-Joachim Stadermann (Hg.): G. S.s Philosophie des Geldes. Einhundert Jahre danach. Marburg 2000. – Heinrich Adolf: Erkenntnistheorie auf dem Weg zur Metaphysik. Interpr., Modifikation u. Überschreitung des Kantischen Apriorikonzepts bei G. S. Mchn. 2002. – David Frisby: G. S. Rev. ed. London/New York 2002. – Stephan Moebiu: S. lesen. Moderne, dekonstruktive u. postmoderne Lektüren der Soziologie v. G. S. Stgt. 2002. – Birgitta Nedelmann: G. S. (1858–1918). In: Klassiker der Soziologie. Hg. Dirk Kaesler. Bd. 1, Mchn 52006, S. 128–150. – Luise Schramm: Das Verhältnis v. Religion u. Individualität bei G. S. Lpz. 2006. – Lars Steinmann: Geselligkeit u. ›Formale Soziologie‹. Die lebensphilosoph. Perspektive in G. S.s ›Grundfragen der Soziologie‹. In Jb. für Soziologiegesch. 2007, S. 9 - 29. – D. Kaesler: G. S. In: NDB. – Monika Tokarzewska: Der feste Grund des Unberechenbaren. G. S. zwischen Soziologie u. Lit. Wiesb. 2010. Klaus Christian Köhnke / Red.

Simmel, Johannes Mario, auch: Michael Mohr, * 7.4.1924 Wien, † 1.1.2009 Luzern. – Romancier, Drehbuchautor. Der Sohn eines Chemikers verbrachte seine Kindheit in Österreich u. Großbritannien, bevor er in Wien das Abitur ablegte u. Chemieingenieur wurde. Von 1943 an war S. als Heilmittelchemiker tätig. Nach dem Krieg arbeitete er als Dolmetscher der US-amerikan. Militärregierung für Österreich u. als Übersetzer für die militärische Abwehrorganisation »Counter Intelligence Corps« (CIC). 1948 wurde S. Kulturredakteur bei der französisch lizenzierten »Welt am Abend«. 1950 übersiedelte er nach München, wo er Reportagen u. Serien für die Illustrierte »Quick« schrieb. Daneben verfasste er bis 1962 nach eigenen u. fremden Stoffen über 30 Drehbücher. Seit 1963 war S. als freier Schriftsteller tätig. S. wurde bereits mit seinem ersten Roman, Mich wundert, daß ich so fröhlich bin (Wien

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1949), bekannt. Der eigentl. Durchbruch zum »Bestseller-Mechaniker« (»Der Spiegel«) stellte sich mit dem Doppelerfolg des Jahres 1960 ein: Während S.s Roman Es muß nicht immer Kaviar sein (Zürich 1960) ein internat. Verkaufsschlager wurde, reüssierte sein Drama Der Schulfreund (Bühnenmanuskript Hbg. 1958) an in- u. ausländ. Bühnen. Seither schrieb er in regelmäßigen Abständen über 30 durchgängig erfolgreiche Romane, die in 35 Ländern publiziert wurden u. bis 2009 eine Auflage von rund 73 Mio. Exemplaren erreichten. Die Mehrzahl seiner Romane wurde zudem verfilmt. S. verarbeitete in seinen Romanen stets aktuelle Themen (Neonazismus, Krieg, Fremdenhass, Spionage, Umweltkatastrophen), die er mit den Mitteln der Spannung u. des »sex and crime« in einer massenwirksamen Story »verpackte«. Er intendierte dabei, als »demokratisch engagierter Gebrauchsschriftsteller« (»Frankfurter Allgemeine Zeitung«), Aufklärer u. Antifaschist zu wirken. Während die deutschsprachige Literaturkritik S.s Werk lange Zeit mit der Kategorie des sog. Trivialen abqualifizierte, lösten die Romane Doch mit den Clowns kamen die Tränen (Mchn. 1987) u. Im Frühling singt zum letztenmal die Lerche (ebd. 1990) eine Neubewertung seines Wirkens aus. Weitere Werke: Bis zur bitteren Neige. Mchn./ Zürich 1962. – Liebe ist nur ein Wort. Ebd. 1963. – Lieb Vaterland magst ruhig sein. Ebd. 1965. – Alle Menschen werden Brüder. Ebd. 1967. – Und Jimmy ging zum Regenbogen. Ebd. 1970. – Der Stoff aus dem die Träume sind. Ebd. 1971. – Die Antwort kennt nur der Wind. Ebd. 1973. – Niemand ist eine Insel. Ebd. 1975. – Hurra, wir leben noch. Locarno 1978. – Wir heißen euch hoffen. Mchn. 1980. – Bitte, laßt die Blumen leben. Ebd. 1983. – Die im Dunkeln sieht man nicht. Ebd. 1985. – Auch wenn ich lache, muß ich weinen. Ebd. 1993. – Liebe ist die letzte Brücke. Ebd. 1999. Literatur: Bernd Neumann: Rebellion u. Unterwerfung. Versuch, J. M. S. u. seinen Erfolg zu verstehen. In: Basis, H. 7 (Ffm. 1977), S. 156–181. – Wolfgang R. Langenbucher (Hg.): ›Berichte über die Zeit, in der ich lebe ...‹. J. M. S. u. seine Romane. Mchn. 1978. – Monika Schmiedt-Schomaker: J. M. S. als Bestseller-Autor. Königst./Taunus 1979. – Peter Glotz: Die verwerfl. Heringe in den Stilleben der Niederländer oder Versuch über J. M. S. In: FH

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34 (1987), S. 970–975. – Katharina Schlicht: Die Figur des Erzählers bei J. M. S. Ein Beitr. zur narrativen Gestaltung des modernen Unterhaltungsromans. Marburg 1989. – Jacek Rzeszotnik: Literar. Kommunikationsstrategien. Zum Bestsellerroman u. dessen Autoren in der zweiten Hälfte des 19. u. 20. Jh. am Beispiel v. Karl May u. J. M. S. Meitingen 2000. – Jürgen Koepp: J. M. S. In: KLG. Matthias Harder

zeitraffende Satzreihungen charakteristisch sind. S. erhielt verschiedene Auszeichnungen, u. a. den Arbeiterliteraturpreis (1986), ein Werkjahr der Stadt Zürich u. die Ehrengabe des Kantons Zürich (beide 1991), den Anerkennungspreis des Zolliker Kunstpreises (1993), den Werkbeitrag Pro Helvetia (1994), ein Werkjahr (1995) u. einen Werkbeitrag (1999) des Kantons Aargau.

Simmen, Andrea, * 15.12.1960 Zürich, † 19.7.2005 Flaach/Kt. Zürich. – Prosaschriftstellerin.

Weitere Werke: Landschaft mit Schäfer u. anderen Reizen. Zürich/Frauenfeld 1993. – Der eingeschneite Hund. Ffm. 2001. Literatur: Beatrice v. Matt: Frauen schreiben

Die Tochter eines Gastrojournalisten u. einer die Schweiz. Aus der Literaturgesch. der GegenBuchhändlerin wechselte in ihren Jugend- wart. Frauenfeld u. a. 1998. – Susann Rehlein: A. S. jahren mehrfach die Schule u. verließ diese In: LGL. – Wilhelm Kühlmann: Fäden im Labyvorzeitig; sie bewarb sich darauf erfolglos an rinth. Literarkrit. Streifzüge 1984–2004. Heidelb. 2009, S. 84–87. Philipp Böttcher der Journalistenschule in Hamburg u. arbeitete u. a. als Dekorateurin, Bauführerin, Köchin, Gärtnerin sowie in der Landwirtschaft, Simons, Menno, * 1495/96 Witmarsum/ ehe sie sich seit 1990 hauptberuflich der Friesland, † 31.1.1561 Wüstenfelde bei Schriftstellerei widmete. Oldesloe/Holstein. – Katholischer TheoNach ihrem von der Kritik positiv aufgeloge, dann Täuferführer. nommenen Debüt, dem Erzählband Ich bin ein Opfer des Doppelpunkts (Ffm. 1991), als Vertre- Über das Leben S.’ ist wenig bekannt: Er terin einer neuen Schweizer Autorinnenge- stammte aus einfachen, wahrscheinlich bäuneration (mit Ruth Schweikert, Milena Mo- erl. Verhältnissen u. hatte einen Bruder, Anser, Nicole Müller) wahrgenommen, schrieb hänger radikaler täuferischer Ideen, der 1535 S. regelmäßig Kolumnen für die Wochen- im Zusammenhang mit der Besetzung des bei zeitschrift »Schweizer Familie« u. nahm 1994 Witmarsum gelegenen Oldekloosters den am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teil, wo Tod fand. Die Schule hat S. in einem Kloster ihr Text Versuch ein Plappermaul zu werden besucht; wo er seine theolog. Ausbildung erüberwiegend auf Ablehnung stieß (»vitale hielt, ist nicht bekannt. 1524 empfing er in Saftwurzelprosa«, »überdrehter Spätsurrea- Utrecht die Priesterweihe, danach war er Vilismus«; A. Isenschmid). S.s schriftstelleri- kar in Pingjum u. später (1532/33) Pastor in sche Entwicklung ist gekennzeichnet durch Witmarsum. Der röm. Kirche in zentralen die zunehmende Hinwendung zu längeren Glaubenslehren (Transsubstantiation, KinTextformen, als deren ambitionierteste dertaufe) entfremdet u. von Selbstzweifeln Spielart Vielleicht heißt er Paul (Ffm. 1995) geplagt, legte er das Amt im Jan. 1536 nieder, gelten kann. Gleichwohl weisen auch die ließ sich von Obbe Philips, dem Ältesten der umfangreicheren Prosatexte episod. Struktu- friesischen Täufergemeinde, taufen, heiratete ren auf, die der Auffassung S.s Rechnung u. schloss sich den Täufern an, denen er dann tragen, dass es »auf der Welt keine Ge- selbst fast 25 Jahre als Ältester diente. S. hat schichten mit Anfang und Ende« gebe, Ge- diese Entwicklung in seinem umfangreichsschichten vielmehr »immer in Bewegung« ten Werk, Een klare beantwoordinge, over een seien. Diese Welt sich drehender Geschichten schrift Gellii Fabri, prediker tot Emden. o. O. bildet S. mittels einer temporeichen, humo- 1554), ausführlich beschrieben (vgl. ›Uitgang ristisch die Stilebenen wechselnden Sprache uit het Pausdom‹, dt. bei Fast, S. 149–162, ab, für die neben Helvetismen, Neologismen einer postum seit ca. 1565 u. d. T. Uytgangh u. originellen morpholog. Konversionen v. a. ofte bekeeringe van M. S. separat erschienenen

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autobiogr. Passage dieser Streitschrift gegen Gellius Faber). S. führte als Verfolgter mit seiner Familie im holländisch-niederdt. Raum ein rastloses Leben, das reich an inneren u. äußeren Auseinandersetzungen war (u. a. um die Führung der Täufer mit David Joris, um die Reinheit der Gemeinde u. die Bannpraxis; 1544 Religionsgespräch mit dem reformierten Superintendenten Johannes a Lasko in Emden über Inkarnation, Taufe u. Berufung der Prediger; vgl. S.’ Een korte ende klare belijdinge [...] van de mensch-werdinge [...]. Emden (?) 1544, u. Laskos Defensio verae [...] doctrinae de Christi domini incarnatione, adversus Mennonem Simonis Anabaptistarum doctorem. Bonn 1545. Internet-Ed. in: Slg. Hardenberg). S. gehört zu den literarisch produktivsten Täuferführern des 16. Jh. Neben seinem Hauptwerk Dat fundament des christelycken leers. o. O. 1539/40; überarb. Fass. Fresenburg 1558; dt. o. O. 1575), in dem er in den schwierigen Jahren des nachmünster. Täufertums seine religiösen Vorstellungen nicht schultheologisch, sondern in Gestalt einer »Mischung aus Agitations- und Erbauungsliteratur« (Goertz 1992, S. 448) zusammenfasste, veröffentlichte er weitere theolog. Schriften, darunter Een corte vermaninghe vth Godes woort [...] van die wedergeboorte (o. O. ca. 1539), u. ein Buch über Kinderzucht (Kindertucht [...]. o. O. ca. 1557) sowie zahlreiche Briefe. Umstritten ist, ob die gegen das Täuferreich in Münster u. speziell gegen Rothmanns Werk Van der Wrake gerichtete Schrift Een [...] bewijs [...] dat Jesus Christus, is de rechte belovede David inden geest [...]. Tegens de [...] blasphemie van Jan van Leyden (angebl. 1535 entstanden; Druck: o. O. 1627) von S. stammt. Allein auf die Bibel u. Jesus Christus bauend, ging es ihm v. a. um die Besserung des Menschen, den er eindringlich zur Umkehr mahnte, u. um die wahre Gemeinde, deren rigorose Reinerhaltung sein Denken in späteren Jahren völlig beherrschte. Obwohl selbst aus einem von Melchior Hoffman inspirierten, militant-apokalypt. Täufermilieu erwachsen, trat S., der die nach ihm benannte freikirchl. Glaubensgemeinschaft der Mennoniten stark beeinflusst hat, für ein friedfertiges Täufertum ein. Seine urspr. holländisch verfassten Schriften wur-

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den mehrfach übersetzt u. immer wieder neu aufgelegt. Ausgaben: Opera omnia theologica, of alle de godtgeleerde wercken van M. S. Amsterd. 1681. Nachdr. Amsterd. 1989. – Die vollständigen Werke M. Simon’s [...]. 2 Tle., Elkhart, Ind. 1876–81. Nachdr. Aylmer, Ont. u. a. 1971. 1982. – The complete writings of M. S. c. 1496–1561. Hg. John Christian Wenger. Scottdale 1956 u. ö., zuletzt 1992. – Der linke Flügel der Reformation: Glaubenszeugnisse der Täufer [...]. Hg. Heinold Fast. Bremen 1962, S. 147–169 (Textauszüge in dt. Übers.). – Dat Fundament des Christelycken Leers [...]. Hg. Hendrik W. Meihuizen. Den Haag 1967. – Die Schriften v. M. S. Bearb. Johann Richert. 2 Bde., Lage 1996 (gekürzte Texte). Literatur: Bibliografie: Irvin B. Horst: A bibliography of M. S. [...]. Nieuwkoop 1962. – Weitere Titel: Johannes Moller: Cimbria literata. Bd. 2, Kopenhagen 1744, S. 835–842. – Cornelius Krahn: M. S. (1496–1561). Ein Beitr. zur Gesch. u. Theologie der Taufgesinnten. Karlsr. 1936. – Christoph Bornhäuser: Leben u. Lehre M. S.’ [...]. Neukirchen-Vluyn 1973. – Menno Smid: Ostfries. Kirchengesch. Pewsum 1974, Register. – James M. Stayer: Oldeklooster and M. In: Sixteenth Century Journal 9 (1978), S. 51–67. – Hans-Jürgen Goertz: Die Täufer [...]. Mchn. 21988. – Samme Zijlstra: M. S. and David Joris. In: The Mennonite Quarterly Review 62 (1988), S. 249–256. – George K. Epp: The Premonstratensian connection of M. S. Confirmations, revisions and new evidence. In: ebd., S. 349–355. – H.-J. Goertz: M. S. In: TRE (unter: Menno). – Marion Kobelt-Groch: M. S. In: NDB (unter: Menno). – Johannes Reimer: M. S., ein Leben im Dienst. Lage 1996. – Sjouke Voolstra: M. S., his image and message. North Newton 1997. – Hanspeter Jecker: M. S. Reformator im Untergrund. In: Theologen des 16. Jh. Humanismus, Reformation, kath. Erneuerung. Hg. Martin H. Jung u. a. Darmst. 2002, S. 209–226. – H.-J. Goertz: Das schwierige Erbe der Mennoniten. Aufsätze u. Reden. Hg. M. Kobelt-Groch u. Christoph Wiebe. Lpz. 2002, S. 39–55. – Nicole Grochowina: Indifferenz u. Dissens in der Grafschaft Ostfriesland im 16. u. 17. Jh. Ffm. 2003. – Helmut Isaak: M. S. and the New Jerusalem. Kitchener, Ont. 2006. – KlaasDieter Voß: M. S. In: Biogr. Lex. für Ostfriesland. Hg. Martin Tielke. Bd. 4, Aurich 2007, S. 305–310 (mit Lit.). – Derek C. Hatch: Autobiography as theology. M. S.’s ›Confession of my enlightenment, conversion and calling‹. In: The Mennonite quarterly review 81 (2007), S. 515–529. – Myron S.

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Simrock, Karl (Joseph), * 28.8.1802 Bonn, † 18.7.1876 Bonn; Grabstätte: ebd., Alter Marion Kobelt-Groch / Reimund B. Sdzuj Friedhof. – Germanist u. Volkskundler; Dichter. Simpson, William von, * 19.4.1881 Nettienen (Kr. Insterburg/Ostpreußen), Von Haus aus rheinisch-liberal u. aufgeklärt† 11.5.1945 Scharbeutz bei Timmendorf/ frankophil, widmete sich S., Sohn des MusiHolstein; Grabstätte: Timmendorfer kalienhändlers u. Musikverlegers Nikolaus Strand, Waldfriedhof. – Romanautor, Simrock, während seines Jurastudiums an der neu gegründeten Universität Bonn Reiseschriftsteller. Augsburger: The fugitive. M. S., spiritual leader in the Free Church movement. Scottdale 2008.

Auf dem Rittergut Georgenburg geboren, erhielt S. eine traditionelle landwirtschaftl. Ausbildung. Als Offizier war er zeitweilig in Deutsch-Südwestafrika. 1913 verließ er Ostpreußen u. wurde Landstallmeister des Sennergestüts Lopshorn im Teutoburger Wald. Als Kolonialoffizier bereiste er den Balkan u. den Orient (Im Sattel vom Ostseestrand zum Bosporus. Bln. o. J. [1915]). Nach dem Ersten Weltkrieg lebte S. fünf Jahre in Brasilien, später in Berlin u. Graz u. seit 1934 in der Rominter Heide. 1935 ließ er sich in Scharbeutz an der Ostsee nieder. In seinen beiden zur Trivialliteratur zu zählenden Familienromanen gibt S. eine ausführl. Darstellung des Lebens u. der Kultur ostpreuß. Großgrundbesitzer zwischen 1875 u. 1914: Die Barrings (Potsdam 1937. Neuaufl. Hbg. 1949. U. d. T.: Die Barrings. Der große Ostpreußen-Roman. Mchn. 1974) vermitteln die Ideale »Tüchtigkeit und Sinn für Besitz, Instinkt für die Unantastbarkeit des ererbten Grund und Bodens und sicheres Gefühl für das, was der Familie frommt«, u. schildern den Verfall des Besitzes, als diese Ideale durch das Verhalten der Familienmitglieder untergraben werden. In dritter Generation (Der Enkel. Ebd. 1939. Neuaufl. Hbg. 1949) leben die alten Tugenden jedoch wieder auf u. führen zum erneuten Aufstieg des Hauses Barring. Die Fortsetzung der Familiengeschichte Das Erbe der Barrings (Hbg. 1956) schrieb Hubertus William von Simpson. Literatur: Westf. Autorenlex. 3.

Bruno Jahn

(1818–1822) unter dem Einfluss August Wilhelm Schlegels u. 1822/23 in Berlin als Schüler Friedrich Heinrich von der Hagens u. Karl Lachmanns der Erforschung der altdt. Nationalliteratur. 1824 wurde er Mitgl. der von Julius Eduard Hitzig begründeten »Mittwochsgesellschaft». 1827 legte S. mit seiner – auf der krit. Textausgabe Lachmanns von 1820 fußenden – metr. Übertragung des Nibelungenlieds (Bln.), die im 19. Jh. mehr als 50 Auflagen erreichte u. noch heute nachgedruckt wird, den Grundstein zu seinem der mittelalterl. Dichtung gewidmeten Lebenswerk. Nachdem er 1830 wegen einer von der Zensur als revolutionär eingeschätzten Gedichtpublikation (Drei Tage und drei Farben) zur Aufgabe seiner juristischen Laufbahn (seit 1826 war er als Referendar am kgl. Kammergericht in Berlin tätig) gezwungen u. aus dem preuß. Staatsdienst entlassen worden war, führte S. in Bonn das Leben eines Privatgelehrten. Er war u. a. Ferdinand Freiligrath, Emanuel Geibel u. Levin Schücking freundschaftlich verbunden, gehörte 1844–1847 Kinkels »Maikäferbund« an u. pflegte enge fachl. u. persönl. Beziehungen zu den Brüdern Grimm. 1842–1846 war er Mitgl. des Bonner Stadtrats. S. veröffentlichte eigene, vorwiegend lyr. Dichtungen – das bekannteste Gedicht in seiner Zeit war die Warnung vor dem Rhein (1838); es wurde u. a. von Felix Mendelssohn Bartholdy vertont –, v. a. aber Übersetzungen u. Bearbeitungen altdt. Literatur: Der arme Heinrich, ein erzählendes Gedicht des Hartmann von Aue (Bln. 1830), Gedichte Walthers von der Vogelweide (ebd. 1833), Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel (2 Bde., Stgt. 1842), Gudrun (ebd. 1843) u. Tristan und Isolde (2 Bde., Lpz. 1855). Daneben

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entstanden freie Um- u. Nachdichtungen wie Das Amelungenlied (3 Bde., Stgt. 1843–49). Von S.s Beschäftigung mit german. Dichtung im weiteren Sinne zeugen die Übersetzungen altnord., altsächs. u. angelsächs. Stabreimdichtung: Die Edda (Stgt. 1851), Heliand (Elberfeld 1856) u. Beowulf (Stgt. 1859). Die volkskundl. Interessen S.s dokumentieren die Übertragungen der Deutschen Volksbücher (58 Bde., Bln., ab Bd. 6 Ffm. 1839–67) u. die Ausgaben von Volksliedern (Martinslieder. Bonn 1846. Das deutsche Kinderbuch. Altherkömmliche Reime, Lieder, Erzählungen, Uebungen, Rätsel und Scherze für Kinder. Ffm. 1848. 21856. Die deutschen Sprichwörter. Ebd. 1846. Neuausg. mit einer Einl. von Wolfgang Mieder. Stgt. 1991. Ausw. von Nikolaus Heidelbach u. d. T. Deutsche Sprichwörter. Stgt. 2011. Rheinsagen aus dem Munde des Volks und deutscher Dichter. Bonn 1837. 101891. Neuausg. u. d. T. Rheinsagen. Ein poetischer Rheinführer. Neu erzählt von Walther Ottendorff-Simrock. Bonn [1950]. [21970]. Die geschichtlichen deutschen Sagen. Ffm. 1850. Das deutsche Räthselbuch. Ebd. 1850. Nachdr. Dortm. 1979. Faks.Ausg. Bln. 2004. Deutsche Märchen. Stgt. 1864). 1850 wurde S., der 1834 von der Universität Tübingen aufgrund seiner Übersetzungen aus dem Mittelhochdeutschen promoviert worden war, a. o. Prof. für Geschichte der dt. Literatur in Bonn, 1852 o. Prof. für Dt. Sprache u. Literatur, ein Amt, das er (nur 1859–1862 durch Krankheit unterbrochen) bis zu seinem Tod engagiert u. gewissenhaft ausübte. S. wusste eine beachtl. Schar interessierter Hörer an sich zu binden, es gelang ihm jedoch nicht, eine eigentl. Schule zu begründen. Hierzu fehlten ihm die Neigung zum streng Philologischen u. der Sinn für wissenschaftl. Programmatik. Die Zahl seiner fachwissenschaftl. Abhandlungen nimmt sich neben den Übersetzungen bescheiden aus. Zu nennen sind hier das Handbuch der deutschen Mythologie mit Einschluß der nordischen (3 Bde., Bonn 1853–55. Nachdr. der 4., verm. Aufl.: Genf 1979) u. die handschriftl. Materialsammlung zum Bonner Idioticon aus den 1870er Jahren. Von seinen Editionen mhd. Texte – Der Wartburgkrieg (Stgt. 1858), Der Nibelunge liet (ebd. 1868), Walther von der Vogel-

Simrock

weide (Bonn 1870) – vermochte allein der Wartburgkrieg die Zeiten zu überdauern. S.s Bedeutung für die Wissenschafts- u. Bildungsgeschichte des 19. Jh. liegt in seinem ebenso beharrl. wie erfolgreichen Bemühen um die Popularisierung der mittelalterl. Literatur durch Übersetzungen u. Bearbeitungen, die durch philolog. Zuverlässigkeit u. poetische Sensibilität sowohl den altdt. Texten als auch den Erwartungen des zeitgenöss. Publikums weithin gerecht wurden. Aufgrund seiner konsequenten Ausrichtung auf das damalige Publikum kann S.s Werk freilich – auch wenn einzelne Texte bis in unsere Zeit nachgedruckt werden – heute nur noch histor. Interesse für sich beanspruchen. Weitere Werke: Die Quellen des Shakspeare in Novellen, Märchen u. Sagen (hg. zus. mit Theodor Echtermeyer u. Ludwig Henschel). 3 Tle., Bln. 1831. 2. Aufl. u. d. T. Die Quellen des Shakspeare in Novellen, Märchen u. Sagen mit sagengeschichtl. Nachweisungen. 2 Bde., Bonn 1870. – Das maler. u. romant. Rheinland Lpz. o. J. [ca. 1840]. 41865. Nachdr. Hildesh./New York 1975. – Gedichte. Lpz. 1844. – Doctor Johannes Faust. Puppenspiel in vier Aufzügen. Ffm. 1846. Neuausg. mit dem Text des Ulmer Puppenspiels hg. v. Günter Mahal. Stgt. 1991. – Legenden. Bonn 1855. 21869. – Der gute Gerhard u. die dankbaren Todten. Ein Beitr. zur dt. Mythologie u. Sagenkunde. Bonn 1856. – Die Nibelungenstrophe u. ihr Ursprung. Beitr. zur dt. Metrik. Bonn 1858. – Gedichte. Neue Ausw. Stgt. 1863. Ausgaben: K. S.s ausgew. Werke in zwölf Bdn. Mit Einl. u. einer Biogr. des Dichters hg. v. Gotthold Klee. Lpz. o. J. [1907]. – Werke. Kleine Ausw. in 7 Bdn. Hg. ders. Lpz. o. J. [1909]. Literatur: Bibliografien: Goedeke 13 (1938) S. 553–577; 14 (1959) 769–772. – Michael Zeller (Bearb.), in: Hugo Moser: K. S. Universitätslehrer u. Poet. Germanist u. Erneuerer v. ›Volkspoesie‹ u. älterer ›Nationalliteratur‹. Bonn 1976, S. 400–404 (unvollst.). – Weitere Titel: Gottfried Kinkel: K. S. In: Vom Rhein. Leben, Kunst u. Deutung. Jg. 1847. Essen 1847, S. 249–282. – Matthias Lempertz: Verz. der v. K. S. nachgelassenen Bibl. Bonn 1876. – Heinrich Düntzer: Erinnerungen an K. S. In: Monatsschr. für rheinisch-westfäl. Geschichtsforsch. u. Alterthumskunde 2 (1876), S. 321–345, 501–531. 3 (1877), S. 1–18, 159–186. – Nikolaus Hocker: Carl S. Sein Leben u. seine Werke. Lpz. 1877. Neudr. Walluf 1971. – Walther Ottendorff-Simrock: Das Haus Simrock. Beiträge zur Gesch. einer kultur-

Sinclair tragenden Familie des Rheinlandes. Ratingen 1944. 2 1954. Rev. u. stark erw. Neuausg., bearb. u. hg. v. Ingrid Bodsch. Bonn 2003. – Ders.: Die Grimms u. die Simrocks in Briefen. 1830 bis 1864. Bonn 1966. – Lothar Voetz: K. S.s Bonner Idioticon. Eine quellenkrit. Untersuchung. Ebd. 1973. – K. S. (1802–1878 [!]). Bonner Bürger, Dichter u. Professor. Dokumentation einer Ausstellung. Bearb. v. Doris Pinkwart. Ebd. 1979. – Elke Brüggen: K. S. als Übersetzer mittelalterl. Lit. Bonn 2002. – K. S. 1802–1876. Einblicke in Leben u. Werk. Wiss. Beiträge u. Dokumentarisches anläßlich S.s 200. Geburtstag am 28. August 2002. Hg. Karl-SimrockForschung Bonn. Bonn 2002. – Wolfgang Behschnitt: K. S. In: IGL. – Johannes Barth: K. S. In: NDB. Eckhard Grunewald / Bruno Jahn

Sinclair, Isaak von, auch: Crisalin, * 3.10. 1775 Homburg v. d. Höhe, † 29.4.1815 Wien; Grabstätte: ebd. – Jurist, Diplomat, Schriftsteller.

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In der Literaturgeschichte lebt S. eigentlich nurmehr durch seine Freundschaft mit Hölderlin fort, der ihn in seinem Briefroman Hyperion (1797–99) in der Gestalt des Alabanda literarisch verewigte; zweimal, 1798–1800 u. 1804–1806, bot er dem in eine materielle u. psych. Krise Geratenen Unterstützung u. Schutz in seinem Haus. S.s eigenes (unter Anagramm publiziertes) literar. Schaffen, eklektisch in der Anlage u. unselbstständig in der Ausführung, stand unter starkem Einfluss Klopstocks, Schillers u. Hölderlins. Die aus antinapoleonisch-patriotischer Gesinnung geschriebene Trauerspieltrilogie Der Anfang, Der Gipfel u. schließlich Das Ende des Cevennenkrieges (Heidelb. 1806/ 1807) regte Tiecks Novelle Der Aufruhr in den Cevennen (1826) an. Künstlerisch wertvoller sind S.s lyr. Dichtungen (Gedichte. 2 Bde., Ffm. 1811 u. 1813), unter denen histor. Balladen u. Romanzen dominieren, die meist den schott. u. altengl. Vorbildern verpflichtet sind. Beliebt waren bes. seine Trink- u. Kriegslieder: so Die Trommel ruft, die Fahne weht... im preuß. Krieg gegen Napoleon.

Der Nachkomme einer um die Wende des 17./ 18. Jh. aus Schottland eingewanderten Familie studierte 1792–1795 Jura in Tübingen u. Philosophie in Jena. 1796 trat er – wie schon sein als Prinzenerzieher u. Diplomat Literatur: Werner Kirchner: Der Hochverratswirkender Vater – in Homburg in landgräfl. prozeß gegen S. Ein Beitr. zum Leben Hölderlins. Dienste. 1805 – S. hatte als Geheimer Rat die Ffm. 1969. – Christoph Jamme: I. v. S. Bonn 1988. – Führung der Regierungsgeschäfte übernom- Ursula Brauer: I. v. S. Eine Biogr. Stgt. 1993. – men – wurde er einer Verschwörung gegen Hannelore Hegel:2I. v. S. zwischen Fichte, Hölderden Kurfürsten von Württemberg u. dessen lin u. Hegel. Ffm. 1999. – Ursula Brauer: I. v. S. In: Bautz 26 (2006), Sp. 1372–1389. – Dies.: I. v. S. In: ersten Minister angeklagt u. kam für fünf NDB. Marek Zybura Monate ins Gefängnis. Freigesprochen, widmete er sich dem Studium der Philosophie u. literar. Tätigkeit. Von der jugendl. BegeisteSinger, Irma, eigentl.: I. Mirjam Berkorung für die Ideale der Französischen Revowitsch, * 1.3.1898 Prag, † 1989 Deganya/ lution wandte er sich später ab u. fand zu Israel. – Märchen- u. Kinderbuchautorin, festen vaterländ. Überzeugungen. Während Lyrikerin. des Wiener Kongresses vertrat er aufs Neue die Interessen des Hessen-Homburgischen Als Kind jüd. Eltern wuchs S. in Prag auf, wo Hofs u. erwirkte für seinen Landgrafen die sie u. a. mit Brod u. Kafka bekannt wurde. Wiedererrichtung des 1806 mediatisierten 1920 ging sie mit den ersten Einwanderern Ländchens. nach Palästina u. lebte mit ihrem Mann Jakob Aus S.s dilettierendem Umgang mit der Berkowski, einem der Gründer der Siedlung Philosophie Fichtes, den er in Jena hörte, er- Deganya, u. zwei Söhnen im Kibbuz, zuwuchsen Wahrheit und Gewißheit (3 Bde., Ffm. nächst als Arbeiterin, dann als Kindergärt1811) u. Versuch einer durch Metaphysik begrün- nerin. deten Physik (ebd. 1813), beides Werke, in deDer dokumentarische Wert von S.s literar. nen sich auch die Einflüsse Hegels, S.s Stu- Werk steht über dem künstlerischen Andienfreund aus Tübingen, bemerkbar ma- spruch. S.s Mitarbeit 1915/16 in einem Prager chen. Heim für ostjüd. Flüchtlingskinder gab den

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Anstoß für ihre erste literar. Betätigung: Die für die Kinder erfundenen u. nachträglich notierten Märchen erschienen 1918 als Das verschlossene Buch (Nachw. von Max Brod. Wien/Bln. 21920. 31925). Die Themen Abschied von der Mutter, Suche nach neuer Heimat u. die Auseinandersetzung mit jüd. Tradition bestimmen auch ihren einzigen Lyrikband Licht im Lager (Wien/Lpz. 1930). Zu ihren weiteren Kinderbüchern zählt Benni fliegt ins Gelobte Land (Wien/Jerusalem 1936. Ital. u. d. T. Le Cicogne. Rom 1960). Weitere Werke: Die Sage v. Dilb. Zeichnungen v. G. Wolf Krakauer. Jerusalem 1935. – Kelle u. Schwert. Aus den Heldentagen v. Dagania. Ebd. 1935. – Übersetzung: Elieser Jeruschalmi: Das jüd. Märtyrerkind. Nach Tagebuchaufzeichnungen aus dem Ghetto v. Schaulen 1941–44. Darmst.-Eberstadt 1960. Literatur: Gisela Brinkler-Gabler (Hg.): Dt. Lit. v. Frauen. Bd. 2: 19. u. 20. Jh. Mchn. 1988, S. 319 f. – Rahel Rosa Neubauer: Kafka auf der Kohlenkiste. Die dt.-jüd. Autorin I. (Miriam) S., Franz Kafka u. Max Brod. In: praesent. Das österr. Literaturjb. 7 (2008), S. 51–62. Birgit Schreiber / Red.

Sinold gen. von Schütz, Philipp Balthasar, auch: Ludwig Ernst von Faramond, Faramund (Mitgliedsname der Fruchtbringenden Gesellschaft), Amadeus Creutzberg, Irenicus Ehrenkron, Constantinus von Wahrenberg, * 5.5.1657 SolmsKönigsberg (heute Gem. Biebertal-Königsberg, bei Gießen), † 6.3.1742 Laubach (Lkr. Gießen). – Journalist, Übersetzer, politischer u. geistlicher Schriftsteller. Der Sohn des Hofbeamten Johann Helwig Sinold in Hessen-Darmstadt (Grafschaft Solms) u. Professor für Staatsrecht an der Universität Gießen, der zum Reichshofrat ernannt wurde u. seit 1670 in Celle als Kanzler des Herzogs von Braunschweig-Lüneburg amtierte, stammte aus einer v. a. im Hessischen u. Fränkischen weit verzweigten Adelsfamilie. Nach dem Besuch des Gymnasium illustre im sächs. Weißenfels, wo er bereits 1674 unter dem Rektor Christian Weise über Karl den Großen disputierte, studierte er die Rechte in Jena. Nach kurzen Hofmeisterdiensten beim Landgrafen von Hessen-

Sinold gen. von Schütz

Darmstadt führte die Kavalierstour den jungen Adligen 1681 nach Italien, aber nicht an Universitäten u. Bibliotheken, vielmehr diente S. 1683–1685 standesgemäß als Gardekavallerist des Großherzogs von Toskana in Florenz. Seit ca. 1686 wieder in Deutschland, lebte er als Schriftsteller in Erfurt, Halle u. vor allem in Leipzig. Die Zuschreibung einiger der politisch-›curieusen‹ Journale u. journalartigen, aber kurzlebigen Fortsetzungswerke, die dort seit 1697 anonym oder unter seinem Namen erschienen, ist durchaus unsicher: Des träumenden Pasquini kluge StaatsPhantasien (Freystadt, d. i. Lpz. 1697, 1.–3. Erscheinung), Des unermüdeten Pasquino mit seinem getreuen Compagnon Marforio nächtliche Unterredungen (ebd. 1698/99, 1.–2. Unterredung), Der fliehende Passagier durch Europa, welcher die remarquabelsten Staats- und PrivatHändel, nebst einigen darüber geführten Raisonnements, mittheilet (ebd. 1698–1701, 1.–10. Promenade), Das courieuse Caffee-Haus zu Venedig (ebd. 1698, 1.–3. Wasser-Debauche) samt der pseudonymen Gegenschrift eines Johann Michael Teutschmunds: Das ausgefegte CaffeeHaus zu Venedig (ebd. 1699, 3 Tle.). Gesichert ist dagegen die Gründung u. Herausgabe des polit. Journals »Die europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket« (ebd. 1702–33, wohl nur in den ersten Jahren unter S.s Leitung). Die viel gelesene Zeitschrift bringt Nachrichten, auch Dokumente, über Vorgänge u. Ereignisse der ›großen‹ Politik, deren ausführl. Erörterungen deutlich auf ein adliges Publikum berechnet sind. Wiederum ungewiss ist die Zuschreibung des etwas bunter gestalteten Journals »Der Europäische Niemand, welcher Niemanden zu beleidigen, Jedermann aber nützlich zu seyn beflissen ist« (Nürnb. 1717–21); mit der Gründung des Realen Staats-, Zeitungs- und Conversations-Lexicons ist S. jedoch in die Geschichte des Journalismus u. der Enzyklopädien eingegangen (zuerst an. Lpz. 1704, mit einer Vorrede von Johann Hübner, Schüler von Weise u. Nachfolger des gelehrten Fabricius am Hamburger Johanneum, unter dessen Namen die zahlreichen verb. u. erw. Aufl.n des Werks bis Lpz. 1844 erschienen sind; Mikrofiche-Ausg. 1993).

Sinold gen. von Schütz

Um 1703/1704 muss S. eine geistige Neuorientierung vollzogen haben. Vielleicht schon 1704 begab er sich als Hofmeister in den Dienst des Grafen Heinrich von ReußKöstritz, die erste Station einer langen Karriere als Fürstenberater, die S. an eine Reihe kleinerer dt. Adelsresidenzen führte. Schon 1705 ging er nach Forst in der Lausitz an den Hof der Herzogin von Sachsen-Merseburg; 1711 wurde er als Regierungsrat nach Bernstadt in Schlesien berufen, das zum Herzogtum Württemberg-Oels gehörte; seit 1718 amtierte er beim Grafen von Hohenlohe in Pfedelbach bei Öhringen als Geheimer Rat u. Aufseher über die ›Kollegien‹, d. h. die Bildungseinrichtungen dieser seit langem als Zentrum des Pietismus bekannten Grafschaft, u. nach 1727 bis zu seinem Tod wirkte er hochbetagt im hess. Laubach in der Nähe des heimatl. Gießen im Dienste der dortigen Linie der Grafen von Solms. Alle diese Höfe haben eines gemeinsam: Sie waren von Spener u. danach vom Halleschen Pietismus beeinflusst, der nicht nur in den größeren Städten u. den protestantischen Universitäten, sondern v. a. von den kleinen, weitgestreuten landadligen Zentren aus wirkte. Schriftsteller wie S. fanden hier ein weites Betätigungsfeld, u. so gesehen erhält die bekannte Formel von den ›Stillen im Lande‹ einen sehr konkreten Inhalt. S. selbst war von Spener beeinflusst u. mit den weitreichenden u. nachhaltigen Aktivitäten August Hermann Franckes in Kontakt gekommen. Graf Heinrich von Köstritz war mit Francke befreundet, u. zu dessen weitblickender Reformpädagogik am ›Waisenhaus‹ in Halle gehörte auch, fast in erster Linie, die Unterweisung junger Adliger aus ganz Europa. Nach seiner Leipziger Zeit ist S. mit großem Erfolg als sog. Erbauungsschriftsteller hervorgetreten (meist unter dem Pseud. Amadeus Creutzberg), als Historiograf (Schlesische Kirchenhistorie. 2 Bde., Ffm. 1708/09, Pseud. Irenicus Ehrencron), als Übersetzer bes. aus dem Französischen, Lateinischen u. Englischen (u. a. von Morvan de Bellegarde, Fénelon, J. Esprit, H. Grotius; wahrscheinlich auch des 1. Teils von B. Graciáns Roman Criticón nach der frz. Version von G. de Maunory; der Moralischen Wochenschrift »Guardian«)

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sowie als Verfasser milde satir. Schriften. Noch heute bekannt ist der in Hohenlohe entstandene utop. Roman Die glückseeligste Insul auf der gantzen Welt, oder das Land der Zufriedenheit (Pseud. L. E. von Faramond, zuerst Nürnb. 1723. 1728. Nachdr. Ffm. 1970). Ähnlich dem bürgerlich-protestantisch geprägten Königreich Ophir (Lpz. 1699) ist S.s Insul eine Tugend-Utopie, nun aber aus erkennbar pietistischem Geist. Die dt. Utopie um 1700 ist nicht politisch-oppositionell wie die radikale Sozialutopie seit Morus, ihr schwebt vielmehr eine Monarchie mit tugendhafter adliger Elite u. einem politisch erstarkten, noch tugendhafteren Bürgertum vor. Die Brüdergemeinschaften bei S. illustrieren nicht etwa eine güterkommunistische Lebensform, sondern sind reine Tugendkommunen zur verinnerlichten Pflege schlichter Frömmigkeit. Ebenso herausragend ist der zweiteilige Roman Das unchristliche Christenthum (Pseud. L. E. v. Faramond, zuerst o. O. 1715 u. erw. Ffm. 1718). Die vorgebl. Übersetzung aus dem Chinesischen bietet den Briefwechsel eines in Europa reisenden Chinesen mit seinem Freund. Dieses Schema der Kritik der eigenen Kultur (hier v. a. der christl. Religion u. der Kirchen) in einer fiktiven exotischen Optik ist wenig später durch Montesquieus Lettres persanes (zuerst 1721) zu einer literar. Mode im Europa der Aufklärung geworden. Weitere Werke: Discursus politici de Carolo Magno. Christian Weise (Präses); P. B. S. (Respondent). Lpz. 1674. – Übers.: Hugo Grotius: Drey Bücher vom Rechte des Krieges u. des Friedens [...]. Nebst einer Vorr. Herrn Christian Thomasii. Ebd. 1707. – Übers.: Schrifften des Abbé Morvan de Bellegarde. 4 Bde., Lpz. 1709–23. – Übers.: Jacques Esprit: Falschheit derer menschlichen Tugenden. Lpz. 1710. – L. E. von Faramond (Pseud.): Der weise u. tugendhaffte Epictetus in der Sauer-BrunnenCur zu Schwalbach. Nebst der kleinen Görgel in Lebensgröße vorgestellet. Lpz. 1719. – Kurtze u. erbaul. Lebens-Regeln [...]. Nebst dem Bildniß eines Christlichen Regenten. Lpz. 1719. – Amadeus Creutzbergs geistl. u. andere erbaul. Poesien, Lieder, Sonnette u. Epigrammata. Nürnb. 1720. – Der getreue Hofmeister [...], oder einige Discurse über die Sitten der gegenwärtigen Zeit, welche unter dem Namen ›Guardian‹ von Herrn Addison, Steele u. a. Verf. in engl. Sprache vorgestellet worden.

31 Ffm. 1725. – A. Creutzberg (Pseud.): Heilige Betrachtungen auf alle Tage des gantzen Jahres. 2 Bde., Nürnb. 1728. – L. E. von Faramond (Pseud.): Das Reich der Eitelkeit u. Thorheit. Ffm. 1731. 1733. – Übers.: Fénelon: Die seltsamen Begebenheiten des Telemach. Ffm. 1733. – L. E. von Faramond (Pseud.): Die Wissenschafft zu leben, welche einen jeden vernünfftigen Menschen, noch mehr aber einen wahren Christen lehret, wie er den Wohlstand in Worten u. Wercken gegen andere Menschen beobachten solle. Ffm. 1739. – Aufrichtiges Protocoll der Unterredungen einiger vertrauter Freunde, welche einander alles sagen, was sie denken. Amsterd. 1740. – Amadeus Creutzbergs Gottseelige Betrachtung über die allerheilsamste Jesus-Schule. Ffm. 1748 [enth.: Kurtze Nachricht von Leben u. Schrifften des weyland hochwohlgebohrnen Herrn Ph. B. S. gen. Schütz]. Literatur: Franz Brümmer: B. P. S. gen. v. S. In: ADB. – Friedrich Wilhelm Barthold: Die Erweckten im protestant. Dtschld. während des Ausgangs des 17. u. der ersten Hälfte des 18. Jh., bes. die frommen Grafenhöfe. In: Histor. Taschenbuch. Hg. Friedrich v. Raumer. Bd. 3 (1852), S. 129–320; Bd. 4 (1853), S. 169–390. – Fritz Brüggemann: Utopie u. Robinsonade [...]. Weimar 1914. Nachdr. Hildesh. 1978. – Marce Blassneck: Frankreich als Vermittler engl.-dt. Einflüsse im 17. u. 18. Jh. Lpz. 1934. Nachdr. New York 1966. – Curt v. Faber du Faur: German Baroque Literature. Bd. 1, New Haven 1958, S. 417. – Horst Brunner: Die poet. Insel. Stgt. 1967. – Hans Wagener: Faramonds ›Glückseeligste Insul‹. In: Symposium 26 (1972), S. 78–89. – Michael Winter: Compendium Utopiarum. Bd. 1, Stgt. 1978, S. 161–65. – Ludwig Stockinger: Ficta Respublica. Tüb. 1981, S. 185–304. – Wolfgang Braungart: Die Kunst der Utopie. Vom Späthumanismus zur frühen Aufklärung. Stgt. 1989, S. 211–216. – Götz Müller: Gegenwelten. Die Utopie in der dt. Lit. Stgt. 1989, S. 63–70. – Gesch. des Pietismus. 4 Bde. Hg. Martin Brecht. Gött. 1993–2004 (bes. Bd. 1). Herbert Jaumann

Sintenis

Kammerspiele, 1919–1923 Kritiker bei den »Münchener Neuesten Nachrichten«, anschließend Chefredakteur des »Simplicissimus« (1923–1929) u. 1930–1933 Redakteur u. Feuilletonchef des »Berliner Tageblatts«. Neben S.s stilsicheren Theaterkritiken sind sein naturalistischer Roman über einen dumpf u. gewalttätig ausgetragenen Generationenkonflikt, Peter Wildangers Sohn (Mchn. 1919), u. die in der gleichnamigen Anthologie erschienene pfälz. Erzählung An den Wassern von Babylon (ebd. 1920) hervorzuheben. Eine Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus ist S.s Shylock-Studie (London 1947. Erw. dt. Ausg. Mchn. 1960). Weitere Werke: Der Schauspieler Peter Unglaub. Lpz. 1930 (R.). – Maria Nunnez. Bln. 1934 (E.). – Spatz in den Kirschen. Neustadt/Weinstr. 1963 (E.). – Die Welt meines Dorfes. Freinsheimer E.en u. Pfälzer Erinnerungen. Komm. u. mit einem Nachw. v. Josef Kaiser. Ludwigshafen/Rhein 2009. Literatur: Gert Weber u. Rolf Paulus (Hg.): H. S. Schriftsteller u. Theaterkritiker zwischen Heimat u. Exil. Landau/Pfalz 1986. – Lisa Lampert: ›O My Daughter!‹: ›Die schöne Jüdin‹ and ›Der neue Jude‹ in H. S.’s ›Maria Nunnez‹. In: GQ 71 (1998), S. 254–270. – Jonathan Skolnik: Dissimilation and the Historical Novel: H. S.’s ›Maria Nunnez‹. In: Leo Baeck Institute Yearbook 43 (1998), S. 225–237. – Christa Wolf: Vom freien Willen gegen Verführung. H. S., ›Deutscher u. Jude‹. In: Dies.: Der Worte Adernetz. Ffm. 2006, S. 95–102. – Barbara Hartlage-Laufenberg: H. S. In: NDB. – Deborah Vietor-Engländer: H. S.s dt.-jüd. Schicksal. In: Zwischen Rassenhass u. Identitätssuche. Hg. Kerstin Schoor. Gött. 2010, S. 285–303. Rolf Paulus / Red.

Sintenis, Christian Friedrich, * 12.3.1750 Zerbst, † 31.1.1820 Zerbst. – Evangelischer Theologe, Erbauungsschriftsteller, Sinsheimer, Hermann, * 6.3.1883 Freins- Erzähler. heim/Pfalz, † 29.8.1950 London. – TheaDer Sohn des Konsistorialrats u. Superintenterkritiker, Essayist, Erzähler. Die Autobiografie Gelebt im Paradies (Mchn. 1953) schildert den Weg des dt. Juden S. vom pfälz. Heimatdorf bis zur Emigration 1938 nach London: Der Rechtsanwalt war zunächst Theaterkritiker für lokale Blätter, schrieb zwischen 1905 u. 1913 auch für die »Schaubühne«, war 1916/17 Leiter der Münchner

denten Johann Christian Sintenis († 1771) ging in Zerbst zur Schule, studierte 1767–1770 in Wittenberg Theologie u. Philosophie u. erhielt 1771 die Ordination. 1772 wurde S. Hilfsprediger in Niederlepte, 1773 Pastor in Bornum, dann Diakon an St. Trinitatis in Zerbst u. 1791 daselbst Pastor. Er war zudem 1784–1787 in der Verwaltung der

Sir Galahad

Probstei u. Superintendentur in Lindau tätig u. hatte bis 1798 eine Professur der luth. Theologie u. Metaphysik am Akademischen Gymnasium in Zerbst inne. S., der ein beliebter Prediger war u. sich Verdienste um die Organisation des Armenwesens erwarb, schrieb Erbauungsliteratur (Elpizon, oder über meine Fortdauer im Tode. Tl. 1, Danzig 1795. Tle. 2 u. 3, Zerbst/Lpz. 1804 u. 1806), Sachinformation in der Tradition der Hausväterliteratur (Der Mensch im Umkreis seiner Pflichten. 2 Bde., Lpz. 1804 u. 1807) u. den bürgerl. Tugendspiegel Vater Roderich unter seinen Kindern (Wittenb. 1783. Lpz. 41817). Das Thema der Fürstenerziehung wird romanhaft in Theodor (2 Bde., Bln. 1786) abgehandelt; politisch bedeutsam ist die Utopie Trakimor, oder das goldene Land (2 Bde., Lpz. 1787/88; vermutlich eine Übersetzung). Weitere Werke: Menschenfreuden aus meinem Garten vor Zerbst. Ffm./Lpz. 1778 u. ö. – Hallo’s glückl. Abend. Lpz. 1783. 41787. – Robert u. Elise. 2 Tle., ebd. 1786. – Flemmings Gesch. 3 Tle., ebd. 1789–92. – Stunden für die Ewigkeit gelebt. 2 Tle., Bln. 1791/92. – Briefe über die wichtigsten Gegenstände der Menschheit. 4 Bde., Lpz. 1794–98. – Sonntagsbuch zur Beförderung wahrer Erbauung zu Hause. 5 Tle., ebd. 1801–1803. 21813. – Oswald, der Greis. Oder Mein letzter Glaube [...]. Ebd. 1813. 31820.

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wiegend Stoffen aus der lokalen Geschichte, so in dem verschollenen autobiogr. Roman über die Stadtgeschichte Klagenfurts, Die Geschichte der blonden Dorothee, oder in der Erzählung über die Protestantismusbewegung in Wien um 1520, Der Bekenner (Klagenf. 1959). Die mehrfach aufgelegte, u. a. von Paul Heyse geschätzte Tagebuchnovelle Scholastica Bergamin (Wien 1898) behandelt die Liebesbeziehung Napoleons zu einer Klagenfurter Bürgerstochter u. gibt Einblick in das Leben einer Provinzstadt während der Napoleonischen Kriege. Weitere Werke: Die Wahrheit auf der Bühne. Wien 1893 (Ess.). – Das Evangelium des Teufels. Ebd. 1897 (D.). – Studien zur Dramaturgie der Gegenwart. Mchn. 1898 (nur Tl. 1 ersch.). – Grillparzer. Sein Leben u. Wirken. Bln. 1904. – Die Untreue der Frau Felizitas. Wien 1910 (R.). – Kaspar Hauser der Findling v. Nürnberg. Bln. 1925. – Schubert. Zürich 1928 (Biogr.). – Der Clagenfurther Galgenkrieg. Klagenf. 1959 (E.en). Literatur: Erich Nußbaumer: Geistiges Kärnten. Klagenf. 1956, S. 421 ff. – Gotthart Wunberg (Hg.): Die Wiener Moderne. Stgt. 1981, S. 715 f. – Karin Gradwohl-Schlacher: H. S. In: ÖBL. Arnulf Knafl / Red.

Sivers, He(i)nrich Jakob, * 8.4.1708 (oder 1709) Lübeck, † 8.8.1758 Tryserum/ Literatur: Friedrich Wilhelm v. Schütz: C. F. S.’ Schweden. – Evangelischer Theologe, Leben u. Wirken [...]. Zerbst 1820. – Helmut Möl- Naturforscher, Verfasser satirischer Geler: C. F. S. Ein vergessener Autor am Ausgang der dichte. ›Hausväter‹-Zeit. In: ZfdPh 78 (1959), S. 164–180. – Friedrich Wilhelm Graf: C. F. S. In: Bautz. Wolfgang Biesterfeld / Red.

Sir Galahad ! Galahad Sittenberger, Hans, * 20.4.1863 Klagenfurt, † 2.11.1943 Eisgrub/Mähren. – Erzähler, Dramatiker. S. war nach dem Studium der Germanistik u. Altphilologie in Graz u. Wien (Dr. phil.) als Mittelschullerer tätig u. verfasste in dieser Zeit eine Einführung in die Geschichte der deutschen Literatur (Wien/Lpz. 1909), die durch ihre Konzentration auf die zeitgenöss. Literatur bemerkenswert ist. 1917 wurde S. zum Dramaturgen des Wiener Burgtheaters bestellt. In seiner Prosa widmete er sich vor-

Bis 1725 besuchte S. das Lübecker Katharineum, an dem sein Vater Kantor war. Am 1.5.1726 nahm er das Studium an der Universität Kiel auf; er ging dann nach Rostock, wo er sich im Okt. 1727 als Theologiestudent immatrikulieren ließ. Dort wurde S. am 21.9.1728 zum Magister promoviert u. wenig später in die Philosophische Fakultät rezipiert. 1730 verfasste u. edierte er hier die Wochenschrift »Der satyrische Patriot« (6 Tle., Rostock 1730), wobei er erstmals in literar. Streitigkeiten geriet. Ende 1730 kehrte S. als kaiserlich gekrönter Poet u. theolog. Kandidat nach Lübeck zurück. Hier stellte ihn Liscow in drei Satiren als »elenden Scribenten« bloß. Aufgrund seines Curiosorum Niendorpiensium specimen primum [-sextum] (Lübeck 1732–34; am Ende des Specimen pri-

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mum ein 26 Nummern umfassendes Ver- Skowronnek, Richard, * 12.3.1862 zeichnis der «Scripta Autoris edita«) wurde Schuiken bei Goldap/Ostpreußen, S. 1731 Mitgl. der Preußischen Akademie der † 17.10.1932 Höckenberg bei Maldewin/ Wissenschaften. Seit 1735 war er an wech- Pommern. – Lustspielautor u. Erzähler. selnden Orten in Schweden Prediger. Am Der Sohn eines Försters besuchte das Gym19.11.1756 erwarb er an der Universität nasium in Lyck/Ostpreußen u. studierte seit Greifswald (Immatrikulation am 16.10.1756) 1880 an der Universität Königsberg Geograden Grad des Dr. theol. fie. Mit dem Berufsziel Forschungsreisender Während seiner schwed. Zeit veröffentsiedelte S. 1885 nach Berlin über, um Anlichte S. zahlreiche Gelegenheitsdichtungen, schluss an eine Expedition zu gewinnen. Als Predigten u. Festreden in dt., schwed. u. lat. der Plan scheiterte, wandte er sich dem Sprache. Daneben widmete er sich der GeoJournalismus zu; 1887 wurde er Feuilletonlogie, Medizin u. Pharmazie. Ein Teil seiner redakteur der »Frankfurter Zeitung«. 1892 Petrefakten- u. Mineraliensammlung befinnach Berlin zurückgekehrt, wurde er als det sich im Besitz der Universität Lund. Lustspielautor rasch bekannt. 1897/98 war S. Weitere Werke: Opuscula academica VarnoDramaturg des Königlichen SchauspielhauBalthica, quibus variae dissertationes curiosi arguses. menti et alia scripta academica continentur [...]. In dem Lustspiel Die Generalsecke (Bln. 1912) Vorr. v. Johann Heinrich Seelen. Altona/Lübeck 1730. – Vermischte u. satyr. Gedichte. Altona 1730. verbietet ein konservativer Oberst den OffiInternet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul ziersfrauen die neue Hutmode. Ihr offener Raabe. Mchn. 2007. – Descriptio lapidis musicalis Widerstand erregt Aufsehen; seine BefördeEchinitae cordati et stellae Marinae. Lübeck 1731. – rung zum General steht in Frage. Seine EheDie Gesch. des Leidens u. Sterbens, der Auferste- frau beendet mit diplomatischem Geschick hung u. Himmelfahrt Jesu Christi. Ebd. 1732. – die Komplikationen. – Auch in S.s LustspieKurtzer Ber. v. dem schwed. Marmor [...]. Norr- len aus dem bürgerl. Milieu (Eine Palast-Revoköping 1738. – Merkwürdige Stücke aus der Gesch. lution. Ebd. 1892) scheitern machtlose EheKönig Gustav des Ersten. Lübeck 1775 (zuerst schmänner schematisch an ihren dominierenden wed.: Ett merkwärdigt Stycke af Konung Gustafs Frauen. Daneben schrieb S. Unterhaltungs-, then Förstes historia [...]. Stockholm 1754). Heimat- u. Kriegsromane. Sie erschienen bis Literatur: Biographiskt Lexicon öfver namnkunnige svenska män. Bd. 14, Uppsala 1847, 1931 in rascher Folge u. erlebten z. T. mehS. 285 f. (Schriftenverz.). – Heinrich Klenz: H. J. S. rere Auflagen. In: ADB. – Paul Range: Ein Petrefaktensammler aus dem Beginn des 18. Jh. In: Geolog. Rundschau 36 (1951), S. 315–318. – Christian Schwarz: Spötter u. Scribenten. Untersuchung zu Strategie u. Struktur frühaufklärer. Satire bei Christian Ludwig Liscow. Würzb. 1976. – Alken Bruns: Christian Ludwig Liscows Lübecker Satiren. In: Ztschr. des Vereins für Lübecker Gesch. u. Altertumskunde 61 (1981), S. 95–127. – Ders.: H. J. S. In: BLSHL, Bd. 7, S. 295–298. – Lübecker Lebensläufe aus neun Jahrhunderten. Hg. ders. Neumünster 1993 (22009), S. 368–372. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 1962 f. Erika Bosl / Red.

Weitere Werke: Der Erste seines Stammes. Bln. 1893 (Lustsp.). – Die stille Wache. Ebd. 1895 (Schwank). – Husarenfieber (zus. mit Gustav Kadelburg). Ebd. 1906 (Lustsp.). – Sturmzeichen. Ebd. 1914 (R.). – Das große Feuer. Ebd. 1915 (R.). – Die schwere Not. Ebd. 1916 (R.). Literatur: Roswitha Flatz: Krieg im Frieden. Das aktuelle Militärstück auf dem Theater des Kaiserreichs. Ffm. 1976. – Alain Michel: Der Militärschwank des kaiserl. Dtschld. Stgt. 1982. Alain Michel

Skwara, Erich Wolfgang, * 4.11.1948 Salzburg. – Lyriker, Essayist, Romancier, Übersetzer. S. veröffentlichte schon im Laufe seines Studiums in Paris, Salzburg, Italien u. den USA erste Gedichtbände (Am Feuer deines Lachens. Hünfeld 1971. lotverschlossen. Karlsr. 1973.

Skwara

schlage mich aus. Ebd. 1973. blindheit schwester. Ebd. 1975), in denen sich bereits die für sein Werk charakterist. Motive (erotische) Liebe, Schönheit u. Vergänglichkeit zeigen. Der eleg. Grundton, die Innerlichkeit u. die an den frühen Symbolismus erinnernden Bilder bleiben auch in seiner Prosa erhalten. Nach der Übersiedelung in die USA 1975 erschien S.s erster Roman Pest in Siena (ebd. 1976. Überarb. Neufassung Ffm. 1983. Neuausg. Wien 2001 zusammen mit Tagebuch zur Probe), der am Beispiel des sterbenden Don Juan den »Traum der europäischen letzten Atemzüge« vorführt. S.s weit reichender kulturhistor. Horizont zeigt sich in zahlreichen intertextuellen Bezügen u. mythopoetischen Reflexionen auch im zweiten Roman Schwarze Segelschiffe (Düsseld. 1979), der den TristanStoff weiterschreibt, u. in Der Totenengel und andere Prosa (Ffm./Berlin/Wien 1981). Parallel zur Monografie Hans Sahl: Leben und Werk (New York u. a. 1986), die aus S.s Dissertation hervorging, erschien 1986 der einzige satir. Roman Bankrottidylle (Mchn.), in dem S. das Motiv des Scheiterns zu einer Kulturkritik an der Oberflächlichkeit der Neuen Welt wendet, die mit der Alten Welt kontrastiert wird. 1986 wurde S. Professor für Humanities, Comparative Literature and German in San Diego, Kalifornien. Die folgenden Romane Eis auf der Brücke (Ffm. 1991), Tristan Island (Ffm. 1992) u. Die heimlichen Könige (Ffm./Lpz. 1995) kreisen um Schuld, Verstrickung, Isolation, Verlust u. Liebe. Die pathet. Sprache wirkt klassisch, die Handlung wird von innerem Erleben, Erinnerungsbildern, Sehnsuchtsfantasien überlagert u. das zerfallende Europa dient als Kulisse u. Erinnerungsträger. In Versuch einer Heimkehr (Ffm. 1998) analysiert u. verurteilt S. sein Heimatland Österreich, in das der schuldbeladene »Mörder, Versager, Verführer« nicht zurückkehren kann. Die späte Lyrik in Nach dem Norden. Gedichte 1987–1997 (Eisingen 1998) erscheint weniger hermetisch, das Entsetzen über die Auswirkungen der Liebe in nüchternen Worten verdichtet. In Anruf aus Rom. Eine Zwischengeschichte (Ffm. 1999) bricht S. die Genres auch im Formalen auf, was in Träumeerzählen. Eine Suite (Wien 2002) u. der Prosa Entwurf einer Wüste (Wels 2008) weitergeführt

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wird. Dass S. von 1986 bis zu seiner Emeritierung u. Rückkehr nach Europa 2010 zwischen den USA u. Schreibaufenthalten in Paris u. Rom pendelte, zeigt sich am deutlichsten im Roman Zerbrechlichkeit oder Die Toten der Place Baudoyer (Ffm./Lpz. 2002), der als ein Hauptwerk gilt: Die Schauplätze sind gleichzeitig Erinnerungswelten, die in übereinander geschobenen, sich auflösenden Zeitebenen strukturiert werden. In einer eigenständigen Novelle im Innenteil erzählt S. die Ur-Geschichte einer ersten Liebe. S. führt in Im freien Fall (Hbg. 2010) das Lieben als ewiges Scheitern vor. Dieser Roman ist aus Erzählungsfragmenten komponiert, die kaleidoskopartig angeordnet sind: »Zeit, die aus der Zeit gefallen schien«, löst die Chronologie auf u. steigert das Sehnsuchtsmotiv ins Extreme. S. lebt seit 2010 in Florenz. S. löst widersprüchl. Reaktionen in der Literaturkritik aus; er gilt als Autor, der gegen den literar. Mainstream anschreibt. Übersetzt ins Englische u. Französische wurden bisher v. a. S.s Romane. S. erhielt den Lyrikpreis für Junge Poesie der Stadt Karlsruhe (1972) u. den Hermann-Lenz-Preis (2002); vom österr. Bundespräsidenten wurde ihm der Professorentitel verliehen. In Anerkennung seiner ins Französische übersetzten Lyrik ist er seit 2005 Ehrenbürger der Stadt Trois-Rivières, Kanada. Weitere Werke: Den Abschied proben. Karlsr. 1987. – Eine Wirklichkeit des Sirenengesangs. Wels 2010. – Übersetzungen: Tennessee Williams: Acht Damen, besessen u. sterblich. Ffm. 1977. – JeanJacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag. Ffm. u. a. 1996. – Thomas Wolfe: Der verlorene Knabe. Ffm. 1998. – Gustave Flaubert: November. Ffm. 2001. – Ders.: Bouvard u. Pécuchet. Bln. 2010. Literatur: Klaus Zeyringer: Etüden für einen Linkshänder. Zur Lit. v. E. W. S. In: manuskripte 38 (1998), H. 140, S. 125–130. – Peter Kampits: Abschiedlichkeit. Ein Versuch zum Werk E. W. S.s. In: ÖGL 44 (2000), H. 4, S. 236–242. – Saskia Schulte: E. W. S. In: LGL. – Martin Walser: Der Untergeher, der Hinreißer. Unser aller Maudit: Über den Erzähler E. W. S. In: Ders.: Winterblume. Hg. Martin Zingg. Eggingen 2007, S. 103–106. – Joseph P. Strelka: E. W. S. u. ›Die Toten der Place Baudoyer‹. In: Ders.: Vergessene u. verkannte österr. Autoren. Tüb. 2008, S. 199–211. – Alfred Kolleritsch: Laudatio zur Verleihung des Hermann-Lenz-Preises

35 2002 an E. W. S. In: Ein Fest der Poesie. Hg. Hubert Burda u. Michael Krüger. Mchn. 2009, S. 92–100. – Irene Heidelberger-Leonard: E. W. S. In: KLG. Saskia Schulte

Slang, Fritz, eigentl.: Fritz Hampel, auch: Halep, Friha, * 28.4.1895 Crimmitschau, † 10.8.1932 Koserow. – Journalist u. Karikaturist. Der Sohn eines Maschinenmeisters war zunächst Volksschullehrer in Leipzig. Im Ersten Weltkrieg Soldat, schloss sich S. 1922 der KPD an. Er arbeitete für die »Sächsische Arbeiterzeitung« u. seit seinem Umzug nach Berlin für die »Rote Fahne« sowie die »Arbeiter-Illustrierte-Zeitung«. S., auch Mitbegründer des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, wurde während der Weimarer Republik mehrfach verhaftet u. verurteilt. – Neben literar. Porträts, Bildgedichten u. Glossen vom Tage (Wien 1932. Ausw. wiederveröffentl. in: Slang. Eine Auswahl Lyrik und Prosa. Bln./DDR 1958) verfasste S. nach der dt. Uraufführung des Eisenstein-Films die AgitProp-Schrift Panzerkreuzer Potemkin (Bln. 1926. Neudr. Königst./Taunus 1981). Literatur: Franz Hammer: S. Schriftsteller des roten Dtschld. In: Der Bibliothekar 36 (1982), S. 376–378. Matthias Harder

Sleidanus, Johannes, eigentl.: Johannes Philippi, auch: Baptista Lasdenus, * 1506 Schleiden/Eifel, † 31.10.1556 Straßburg. – Politischer Korrespondent u. Geschichtsschreiber. Nach Studienjahren in Lüttich, Köln, Paris u. Orléans (Lic. iur.) trat S., seinem Freund Johann Sturm folgend, 1537 in den Dienst der Brüder Guillaume u. Jean du Bellay, die jahrelang ein Bündnis zwischen der frz. Krone u. den dt. protestantischen Fürsten gegen Karl V. zustandezubringen suchten. Bewunderer Melanchthons, Korrespondent Calvins u. überzeugter Anhänger der Reformation, mahnte S. in seinen beiden dt. Reden (lat. unter S.’ Namen. Straßb. 1544. Zuvor dt. anonym u. pseud.) mit histor. Argumenten die dt. Stände zur Einigkeit wider das unverbesserliche antichristl. Papsttum, den

Sleidanus

tück. Erbfeind der Deutschen u. des Konzils (1541), während er den Kaiser von jeder Verpflichtung gegenüber dem tyrannischen Papst lossprach (1544). Seit 1544 ständig in Straßburg ansässig u. durch die Vermittlung Bucers zum offiziellen Geschichtsschreiber des Schmalkaldischen Bundes bestellt, verfasste S. innerhalb eines Jahrzehnts sein erstes Hauptwerk, De statu religionis et reipublicae Carolo V. Caesare commentarii (Straßb. 1555), die berühmte aktenmäßige Geschichte der Regierungszeit Karls V., die, ungeachtet anfängl. Kritik beider Religionsparteien, weiteste Verbreitung fand u. bis zum Ende des 18. Jh. Kenntnis u. Verständnis der dt. Reformationsgeschichte in ganz Europa maßgeblich bestimmt hat. Obschon vom Recht u. von der umwälzenden Bedeutung der Reformation Luthers überzeugt, beschränkte er sich auf die annalistische Reihung u. stilistische Glättung seiner Exzerpte u. brachte seinen Standpunkt einzig in der Auswahl der Quellen zur Geltung. Deutlicher ließ er seine Parteinahme in seinem zweiten Hauptwerk, De quattuor summis imperiis (»Chronik der vier Weltreiche«; im Anschluss an Dan 2), hervortreten (Straßb. 1556), wo er Papst u. Türken als die Feinde der Menschheit bezeichnete, die dem zwar nicht datierbaren, aber unaufhaltsam nahenden Weltende den Weg bereiten. Für den akadem. Unterricht bestimmt, hat dieses universalgeschichtl. Kompendium, vielfach übersetzt u. bearbeitet (66 Auflagen bis 1701), die Breitenwirkung der Reformationsgeschichte noch übertroffen, bis es nach dem Zerbrechen der mittelalterl. Geschichtstheorie überholt war. Ausgaben: De statu religionis et reipublicae, Carolo Quinto Caesare, commentarii [...]. Adiecta [...] appendix [...] ab anno Christi 1556 [...] usque ad praesentem 1568 annum [...]. Hg. Justin Göbler. Ffm. 1568. Internet-Ed. in: CAMENA (Abt. Historica & Politica). – De statu religionis et reipublicae Carolo Quinto Caesare. Hg. Johann Gottlob Boehmer. 1785/86. Neudr. Osnabr. 1968. – Zwei Reden an Kaiser u. Reich v. J. S. Hg. Eduard Böhmer. Tüb. 1879. – S.’ Briefw. Hg. Hermann Baumgarten. Straßb. 1881. Literatur: Bibliografie: Emil van der Vekene: J. S. Bibliogr. Stgt. 1996. – Weitere Titel: Hermann Baumgarten: J. S. In: ADB. – Franz Schnabel:

Sling Deutschlands geschichtl. Quellen u. Darstellungen in der Neuzeit 1. Lpz./Bln. 1931. Neudr. Darmst. 1972, S. 257–273. – Donald R. Kelly: J. S. and the Origins of History as a Profession. In: The Journal of Modern History 52 (1980), S. 573–598. – Martin Häusler: Das Ende der mittelalterl. Weltchronistik. Köln/Wien 1980. – Laurence Druez: J. S. In: NDBA 35 (2000), S. 3662–3665. – Alexandra Kess, J. S. and the Protestant vision of history. Aldershot (GB) 2008. – Johannes Süßmann: J. S. In: NDB. Gustav Adolf Benrath

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kratisch verankerten Justiz, da für ihn die »Vertrauenskrise der Justiz« die Republik insg. gefährdete. Weitere Werke: Das S.-Buch. Bln. 1924. – Tausch im Ring. Bln. 1927 (R.). – Richter u. Gerichtete. Hg. Robert W. Kempner. Vorw. v. Gustav Radbruch. Bln. 1929. Neudr. Mchn. 1969. Zuletzt ebd. 1977. – Der Fassadenkletterer vom ›Kaiserhof‹. Berliner Kriminalfälle aus den zwanziger Jahren. Bln./DDR 1990. Literatur: Gustav Radbruch: S. †. In: Die Justiz 3 (1927/28), H. 5/6, S. 537 f. Joachim Linder / Red.

Sling, eigentl.: Paul Felix Schlesinger, * 11.5.1878 Berlin, † 23.5.1928 Berlin. – Gerichtsreporter; Erzähler, Dramatiker. Sloterdijk, Peter, * 26.6.1947 Karlsruhe. – Philosoph, Kulturwissenschaftler, EssayIn Berlin aufgewachsen, machte S. lustlos ist, Herausgeber; Fernsehmoderator. eine Lehre in einer Textilfabrik, ging literar. u. musikal. Interessen nach u. arbeitete als Musiker u. Schauspieler. Er gehörte dem Münchener Kabarett »Die Elf Scharfrichter« an u. veröffentlichte in der »Schaubühne« u. im »Simplicissimus«. Neben Romanen (Urlaub von der Liebe. Bln. 1917. Stefan und Elsa Hirrlinger. Ebd. 1922) schrieb er ein Theaterstück nach einem kuriosen Kriminalfall des Pitaval, Der dreimal tote Peter (ebd. 1927), sowie Märchen u. Lustspiele. Als Journalist war S. Kriegsberichterstatter; danach etablierte er sich als Redakteur der »Vossischen Zeitung« in Berlin u. wurde einer der bekanntesten Gerichtsreporter in den 1920er Jahren, geschätzt von Tucholsky u. Gustav Radbruch. S.s Berichte u. Glossen richteten sich an ein heterogenes Publikum von Zeitungslesern u. waren neuartig darin, dass S. sich darauf beschränkte, das zu notieren, was er im Gerichtssaal sah u. hörte. S. fingierte nicht die »Geschichte des Verbrechens« als Wahrheit, die hinter der »Verfahrensgeschichte« zum Vorschein komme. So entwickelte sich seine Kritik an der Justizpraxis dann, wenn die Richter ihre Vorurteile exekutierten. Dabei beobachtete S. nicht bloß die Sensationsprozesse, sondern auch die gewöhnl. Verfahren vor Zivil- u. Strafgerichten. Über diese aktuelle Berichterstattung hinaus veröffentlichte S. Artikel zu Fragen der Rechtspraxis u. der Rechtspolitik in der »Weltbühne« oder der Zeitschrift des Republikanischen Richterbundes »Die Justiz«. S. engagierte sich für den Aufbau einer demo-

S. wurde 1947 als Sohn einer Deutschen u. eines Niederländers in Karlsruhe geboren. Seine Eltern hatten sich in den Nachkriegswirren kennengelernt u. geheiratet. Sie trennten sich bald, u. S. wuchs bei seiner Mutter auf. 1968–1974 studierte er in München u. Hamburg Philosophie, Germanistik u. Geschichte. Bereits 1971 erstellte S. seine Magisterarbeit mit dem Titel Strukturalismus als poetische Hermeneutik. 1972 folgte ein Essay über Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte, 1973 eine Studie über Die Ökonomie der Sprachspiele. Zur Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution. 1976 wurde S. bei Klaus Briegleb am Fachbereich Sprachwissenschaften der Universität Hamburg über das Thema Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographie der Weimarer Republik zum Dr. phil. promoviert. Zwischen 1978 u. 1980 hielt sich S. im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh (später Osho) im indischen Pune auf; die dort gesammelten Erfahrungen u. Kenntnisse beeinflussten sein Leben u. Denken nachhaltig. Seit 1980 arbeitet er als freier Schriftsteller. S.s ebenso umfangreiches wie vielfältiges Werk bezieht zu Fragen der Zeitdiagnostik, zur Kultur- u. Religionsphilosophie, zur Kunsttheorie u. Psychologie Stellung. Bekannt wurde S. 1983 mit seiner zweibändigen Kritik der zynischen Vernunft (Ffm.), deren Titel bewusst Anleihe bei Kants Kritik der reinen Vernunft nimmt. S. folgt darin dem Phänomen des Zynismus durch die europ.

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Ideen- u. Kulturgeschichte u. zeigt, wie aufklärerische Kritik durch Gegenstrategien umgelenkt wird u. in den modernen Zynismus mündet. Der Autor selbst stellt sich dabei in die Tradition des »Kynismus« von Diogenes von Sinope, der sich mit Respektlosigkeit u. Witz gegen Anmaßungen Anderer verteidigte. Ausgangspunkt für S.s Denkens ist die Kritische Theorie, doch zeigt er sich offen für die vielfältigsten Einflüsse u. bezieht auch die Werke antipod. Philosophen wie Nietzsche u. Heidegger mit ein u. denkt sie weiter. Grundthema seiner Philosophie u. Absicht all seiner »Versuche des Denkens« ist die Neubestimmung der gegenwärtigen »condition humaine«. Seine Vorgehensweise, aktuelle Phänomene zu beschreiben, indem er ihrer langfristigen Entwicklungsgeschichte nachgeht u. unbeachtete Hintergründe sowie überraschende Zusammenhänge aufzeigt, positioniert ihn außerhalb der akadem. Philosophie, gleichfalls sein metaphernreicher Denk- u. Schreibstil, der Pointen, Verkürzungen u. Übertreibungen bevorzugt u. gern mit Wortneuschöpfungen arbeitet. Den Anspruch, in seinem Werk Philosophie u. Poesie zu verschmelzen, unterstrich S. 1988 mit seinen Poetik-Vorlesungen Zur Welt kommen – zur Sprache kommen als Gastdozent am Lehrstuhl für Poetik der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/M. Im dreibändigen Hauptwerk Sphären wagt S., eine Geschichte der Menschheit von ihrer raumbildenden u. -gestaltenden Fähigkeit her zu erzählen. Sphären I – Blasen, Mikrosphärologie (Ffm. 1998) zeigt auf, wie der Einzelne von seinem Fötusstadium bis in die Kindheit stets den Anderen in sich einbezieht, sich auf ihn ausrichtet u. mit ihm ein »gemeinsames Innen« bildet. Sphären II – Globen, Makrosphärologie (Ffm. 1999) vollzieht die Geschichte der Globalisierung von der Geometrisierung des Himmels bei den Griechen bis zur Umrundung der Erde durch Schiffe, Kapitale u. schließlich elektronische Signale nach. In Sphären III – Schäume, Plurale Sphärologie (Ffm. 2004) entwirft S. eine philosophisch-konstruktivistische Theorie, welche die gegenwärtigen, von Individualismus u. Pluralismus geprägten »Gesellschaften« anhand des Denkbildes »Schaum« erklärt. Weitere zen-

Sloterdijk

trale Werke S.s sind Zorn und Zeit. Politischpsychologischer Versuch (Ffm. 2006) u. Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik (Ffm. 2009). Im ersten untersucht S. den Zorn als einen entscheidenden Faktor für den Verlauf der abendländ. Geschichte u. forscht nach dessen Bedeutung für die Idee sozialer Gerechtigkeit. In Du mußt dein Leben ändern entwirft S. ein Modell des Menschen als »Übender«: Nur durch fortlaufende Übungen erzeuge sich der Mensch als Mensch selbst. Neben der Arbeit an seinem stetig wachsenden publizistischen Werk begann S. in der 1990er Jahren eine akadem. Karriere. Seit 1992 hat er den Lehrstuhl für Philosophie u. Ästhetik an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe inne; 1993 wurde er Leiter des Instituts für Kulturphilosophie an der Akademie der bildenden Künste in Wien. 1995 war S. Gastdozent am Bard College, New York, am Collège International de Philosophie, Paris, u. an der Eidgenössischen Technischen Hochschule, Zürich, 2000 am Kolleg Friedrich Nietzsche der Klassik Stiftung Weimar. 2001 übernahm er eine Vertragsprofessur am Ordinariat für Kulturphilosophie u. Medientheorie in Wien u. wurde zum Rektor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe gewählt. Seit Jan. 2002 moderiert S. zusammen mit dem Schriftsteller u. Philosophen Rüdiger Safranski die Gesprächsrunde »Im Glashaus: Das Philosophische Quartett« im ZDF. Zudem ist er beisitzendes Mitgl. des 2008 gegründeten Frankfurter Zukunftsrats. S. lebt mit seiner dritten Ehefrau, der Kulturwissenschaftlerin Regina Haslinger, u. ihrer gemeinsamen Tochter in Karlsruhe, Wien u. Südfrankreich. Ungeachtet seiner Nichtakzeptanz in der akadem. Philosophie ist S. zu einem der bekanntesten zeitgenöss. dt. Philosophen aufgestiegen. Dazu trugen u. tragen auch öffentl. Debatten bei, die S. mit seinen Thesen immer wieder auslöst, die größte bisher 1999 mit seiner Rede über Eugenik, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus (Ffm.), die als Plädoyer für Züchtungsideologie missverstanden wird. S. hat zahlreiche Preise erhalten, u. a. 1993 den Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik, 2005 den Sigmund-Freud-Preis

Smetius a Leda

für wissenschaftliche Prosa u. 2008 den Lessing-Preis für Kritik. Weitere Werke: Lit. u. Organisation v. Lebenserfahrung. Autobiogr.n der Zwanziger Jahre. Mchn. 1978. Zugl. Diss. Univ. Hbg. 1976. – Der Zauberbaum. Die Entstehung der Psychoanalyse im Jahr 1785. Ein epischer Versuch zur Philosophie der Psychologie. Ffm. 1985. – Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus. Ffm. 1986. – Kopernikan. Mobilmachung u. ptolemäische Abrüstung. Ästhetischer Versuch. Ffm. 1987. – Eurotaoismus. Zur Kritik der polit. Kinetik. Ffm. 1989. – Versprechen auf Deutsch. Rede über das eigene Land. Ffm. 1990. – Im selben Boot. Versuch über die Hyperpolitik. Ffm. 1993. – Selbstversuch. Ein Gespräch mit Carlos Oliveira. Mchn. 1993. – Weltfremdheit. Ffm. 1993. – Medienzeit. Drei gegenwartsdiagnost. Versuche. Stgt. 1993. – Falls Europa erwacht. Gedanken zum Programm einer Weltmacht am Ende des Zeitalters ihrer polit. Absence. Ffm. 1994. – Das soziale Band u. die Audiophonie. Anmerkungen zur Anthropologie im digitalen Zeitalter. Wiesb. 1994. – Der starke Grund, zusammen zu sein. Erinnerungen an die Erfindung des Volkes. Ffm. 1998. – Die Verachtung der Massen. Versuch über Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft. Ffm. 2000. – Über die Verbesserung der guten Nachricht. Nietzsches fünftes ›Evangelium‹. Rede zum 100. Todestag v. Friedrich Nietzsche, gehalten in Weimar am 25. August 2000. Ffm. 2001. – Die Sonne u. der Tod. Dialogische Untersuchungen (zus. mit Hans-Jürgen Heinrichs). Ffm. 2001. – Das Menschentreibhaus. Stichworte zur histor. u. prophet. Anthropologie. Vier große Vorlesungen. Weimar 2001. – Tau von den Bermudas. Über einige Regime der Einbildungskraft. Ffm. 2001. – Nicht gerettet. Versuche über Heidegger. Ffm. 2001. – Von Terror u. von Genen. Mit einem Vorw. v. Jürgen Richter. Bln. 2001. – Luftbeben. An den Wurzeln des Terrors. Ffm. 2002. – Architekturen des Schaums. Aachen 2004. – Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosoph. Theorie der Globalisierung. Ffm. 2005. – Was zählt, kehrt wieder. Zeitdiagnostische Gespräche (zus. mit Alain Finkielkraut). Ffm. 2007. – Der ästhet. Imperativ. Schriften zur Kunst. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Peter Weibel. Hbg. 2007. – Derrida ein Ägypter. Über das Problem der jüd. Pyramide. Ffm. 2007. – Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen. Ffm./Lpz. 2007. – Theorie der Nachkriegszeiten. Bemerkungen zu den dt.-frz. Beziehungen seit 1945. Ffm. 2008. – Philosophische Temperamente. Von Platon bis Foucault. Mchn. 2009. – Scheintod im Denken. Von Philosophie u. Wiss. als Übung. Ffm. 2010. – Der Welt

38 über die Straße helfen. Designstudien im Anschluss an eine philosoph. Überlegung (zus. mit Sven Voelker). Paderb./Mchn. 2010. – Herausgeber: Vor der Jahrtausendwende. Berichte zur Lage der Zukunft. 2 Bde., Ffm. 1990. – Myst. Zeugnisse aller Zeiten u. Völker. Ges. v. Martin Buber. Mchn. 1993. – Weltrevolution der Seele. Ein Lese- u. Arbeitsbuch der Gnosis v. der Spätantike bis zur Gegenwart (zus. mit Thomas Macho). 2 Bde., Mchn./Zürich 1993. – Philosophie jetzt! [20-bändige Reihe mit Porträts u. Werkauszügen berühmter Denker v. Platon bis Foucault]. Mchn. 1995 ff. Literatur: P. S.s ›Kritik der zyn. Vernunft‹. Ffm. 1987. – Wulf Noll: S. auf der ›Bühne‹. Zur philosoph. u. zur philosophiekrit. Positionsbestimmung des Werkes von P. S. im Zeitraum v. 1978–1991. Essen 1993. – Sjoerd van Tuinen: P. S. Ein Profil. Paderb. 2006. – Holger Frhr. v. Dobeneck: Das S.-Alphabet. Eine lexikal. Einführung in S.s Gedankenkosmos. Würzb. 2002. 2., stark erw. Aufl. 2006. – Koenraad Hemelsoet, Marc Jongen u. Sjoerd van Tuinen (Hg.): Die Vermessung des Ungeheuren. Philosophie nach P. S. Paderb. 2009. – Jan Rehmann u. Thomas Wagner: Angriff der Leistungsträger? Das Buch zur S.-Debatte. Hbg. 2010. – Hans-Jürgen Heinrichs: P. S. Die Kunst des Philosophierens. Mchn. 2011. Robert Steinborn

Smetius a Leda, Henricus, eigentl.: de Smet, * 29.6.1537 Alost/Flandern, † 15.3. 1614 Heidelberg. – Späthumanistischer Mediziner u. Dichter. Der Sohn des Senators u. Mediziners Robert de Smet besuchte die Schule in Gent. Er studierte in Löwen u. Rostock (1557) sowie bei Thomas Erastus, Petrus Lotichius Secundus u. Jacob Curio in Heidelberg (1558–1560) u. promovierte in Bologna zum Dr. med. (23.1.1561). Als sich nach der Rückkehr nach Antwerpen die konfessionspolit. Situation zuspitzte, ging S. als lipp. Leibarzt nach Lemgo (1573). Von Kurfürst Friedrich III. nach Heidelberg berufen (1574), gesellte er sich zu den Calvinisten, die während der luth. Gegenreform an das neue akadem. Gymnasium in Neustadt an der Hardt auswichen (dort Rektor 1582–85). Nach der Rückberufung auf den medizinischen Lehrstuhl (1585) gehörte S. zu den namhaften Repräsentanten der pfälz. Gelehrtenwelt, in die er auch als Schwiegervater Janus Gruters (verheiratet mit der frühverstorbenen Johanna Smetia,

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Smets

1570–1594) integriert war. An der Heidel- Smend: Jan Gruter [...]. Bonn 1939, passim. – Reberger Universität hatte S. hohe Ämter inne nate Neumüllers-Klauser: Die Inschriften der Stadt (mehrfach Rektor seit 1587) u. gründete dort u. des Landkreises Heidelberg. Stgt. 1970, Nr. 587. den ersten botan. Garten (beschrieben in – Gabriele Woska: Medizingesch. u. Epigraphik. Heidelberger Inschriften v. 1500–1650. Diss. med. Stephan Sprenger: Horti medici Heidelbergensis Bln. 1977, S. 209–215. – Wilhelm Kühlmann u. catalogus. Heidelb. 1597). Joachim Telle: Humanismus u. Medizin an der Schon früh widmete sich S. der Dichtung, Univ. Heidelberg im 16. Jh. In: Semper Apertus. FS v. a. mit bibl. Bezug, dazu lat. Übersetzungen Univ. Heidelberg. Bd. 1, Bln. 1985, S. 255–289, bes. griech. Werke (Phocylides: Batrachomyoma- S. 277 ff. – Dagmar Drüll: Heidelberger Gelehrchia, neben Elegien und Oden in Iuvenilia tenlexikon 1386–1651. Bln./Heidelb. 2002, Miscella. Heidelb. 1594). Ein umfangreiches S. 505 f. – Universitätsbibl. Heidelberg. Die humaLehrepos (ebd.), De antiquitate & praestantia nist. Triviums- u. Reformationshandschriften der medicinae (auch in Miscellanea Medica. Ffm. Codices Palatini latini in der vatikan. Bibl. (Cod. 1611; Hs. Cod. Lat. Pal. 1905; Auszug in Parn. Pal. lat. 1461–1914) beschrieben v. Wolfgang Metzger mit Beiträgen v. Veit Probst. Wiesb. 2002 Pal., S. 138–147), später Friedrich IV. gewid(Register). – EH 4 (in Vorb.). Wilhelm Kühlmann met, entwirft das Bild des medizinischen Berufs mit wichtigen Exkursen u. a. zu Qualifikation u. Ethos des Arztes. Das wissenSmets, (Philipp Karl Joseph Anton Johann) schaftl. Lebenswerk, mit Teilen der KorreWilhelm, auch: Lenz von Prag, Theobald, spondenz zusammengefasst in den zwölfteiJustus Walther, Wilhelm von Reval, ligen Miscellanea Medica, ist von bedeutendem * 15.9.1796 Reval/Estland, † 14.10.1848 kulturgeschichtl. Wert, dies auch durch S.’ im Aachen. – Prediger, Lyriker, Dramatiker. Ton gemäßigte Auseinandersetzung mit den Gegnern u. Befürwortern des Paracelsismus Nachdem sich seine Eltern schon drei Jahre (Thomas Erastus, Henricus Brucaeus, Levinus nach seiner Geburt scheiden ließen, wuchs S. Battus). Internationale Verbreitung fand S.’ getrennt von seiner Mutter, der hochbeprosod. Handbuch zur lat. Verslehre. Als Poet rühmten Schauspielerin Sophie Schröder, vertrat S. die enzyklopäd. Einheit des spät- zunächst in Breslau bei einer Pflegemutter humanistischen Bildungideals; als Arzt auf. Seit 1802 nahm ihn sein Vater, ein Jurist, wusste er: »Nicht durch Eloquenz, sondern zu sich nach Aachen u. erteilte ihm Privatdurch die nötigen Hilfsmittel der medizini- unterricht. Schon früh engagierte sich S. schen Kunst werden die Krankheiten besei- poetisch u. politisch gegen die frz. Besatzung tigt.« Der umfangreiche, handschriftlich er- u. fiel seinem Lehrer, dem Heimatforscher haltene Briefwechsel ist bisher nicht hinrei- Christian Quix, wegen patriotischer Gesinnung auf. Nach Napoleons Rückkehr aus Elba chend erschlossen u. ausgewertet. Weitere Werke: Juvenilia sacra, ut regnum ju- wurde S. Kriegsfreiwilliger u. avancierte wedaicorum lib. III, elegiarum lib. II, odarum lib. I, gen seiner patriotischen Zeitungsbeiträge Suzannae lib. I. Heidelb. 1594. – Parentalia [vor- zum Offizier. Aus der Zeit des Krieges stamnehmlich Dichtungen auf Familienangehörige]. men die meisten der Gedichte (Köln 1816). In Ebd. 1594. – Prosodia [...] promptissima, quae Wien begegnete er seiner tot geglaubten syllabarum [...] quantitates [...] sola veterum po- Mutter, als sie im Burgtheater auftrat. Dieses etarum auctoritate [...] demonstrat. Ffm. 1599. rührende Wiedersehen hielt er in dem GeLeiden 1603 u. ö. Ffm. 71611. London 1603. 1615. dicht Sophie Schroeder fest. S. versuchte sich auf 1628. 1640. Genf 1635. Amsterd. 1648 (in novam Anraten der Mutter auch als Schauspieler, formam digesta). – Ueber Alter u. Vortrefflichkeit der Medizin. Übers. v. Gustav Waltz (mit beigege- scheiterte jedoch u. kehrte an den Rhein zurück, wo er in Koblenz durch Fürsprache von benem lat. Text). Heidelb. [1889]. Literatur: Biogr. Nationale de Belgique 5 Joseph Görres eine Anstellung als Lehrer er(1876), Sp. 761 f. – Richard Hoche: H. de S. In: hielt. Nach einer platonischen Liebe entADB. – Eberhard Stübler: Gesch. der medizin. Fa- schied er sich für ein Philosophie- u. Theokultät der Univ. Heidelberg. Heidelb. 1926, logiestudium in Münster u. Bonn, wo er S. 67–71. – Ellinger 3,1, S. 296 ff. – Gottfried Heinrich Heine traf. 1821 wurde zum Doktor

Smidt

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der Philosophie promoviert u. 1822 in Köln mus nicht immer überzeugen. S. kann ohne zum Priester geweiht. 1828–1837 wirkte S. Zweifel als einer der bedeutendsten kath. als Dorfpfarrer im Großraum Köln. Seine Autoren u. Publizisten des 19. Jh. gelten, der Gesammelten Gedichte (Aachen 1824) wurden ein genaueres Studium verdiente. wegen der amourösen Lyrik der Jugendzeit Weitere Werke: Iffland’s Totenopfer. Aachen scharf kritisiert. In seinen Neuen Dichtungen 1814. – Die Blutbraut. Koblenz 1818 (Trauersp.). – aus den Jahren 1824–1830 (Bonn 1831) beruft Poetische Fragmente. Ebd. 1818.  Tb. für Rheinsich S. auf einen kath. Dichterkanon, zu dem reisende. Ebd. 1820.  Gedichte. Aachen 1824. – er Dante, Tasso, Calderón u. Lamartine rech- Ferdinand Franz Wallraff. Ein biogr.-panegyr. net u. an dem er sich zeitlebens formal u. Versuch. Köln 1825. – Epheukränze. Neueste Dichtungen. Aachen 1838. – Maria Hilf! Kath. Geinhaltlich orientierte. Auch wenn in der relibet- u. Erbauungsb. Einsiedeln 1844. – Gedichte. giösen Lyrik der Gestus des Bußpredigers Neue Sammlung. Ffm. 1847. – Joseph v. Görres. dominiert, überwiegt die typisch biedermei- Eine biogr. Skizze. Aachen 1848. erl. Allegorese: Elemente der Natur u. histor. Literatur: Joseph Müllermeister: W. S. in Leben Ereignisse werden zu Symbolen des Lebens u. Schr.en. Aachen 1877.  Haagen: W. S. In: ADB. stilisiert u. zu Zeichen einer Transzendenz  Goedeke.  Franz Alfred Muth: W. S. In: Dichverklärt. Außerdem erweist sich S. als Meister terbilder u. Dichterstudien aus der neueren u. der kleinen versepischen Form wie des Epyl- neuesten Lit. Ffm./Luzern 1887, S. 245–264.  lions, der Ballade u. Legende, wie in den Heinrich Stümcke: Kanonikus u. Tragödin. Mit Kleineren epischen Dichtungen (Köln 1835). Eine Briefen v. W. S. u. Sophie Schröder. In: Dt. RundBilanz seines lyr. Schaffens zieht S. in seiner schau 178 (1919), S. 105–114. – Albert Portmann»vollst. Sammlung« der Gedichte (Stgt./Tüb. Tinguely: W. S. In: Bautz.  Thomas Plagwitz: Zerreißproben aufs Exempel. Der Dichter als 1840), seinen Lebenslauf resümiert er in den Weltschmerzler in Tasso-Dramen nach Goethe. In: mehrfach überarbeiteten Lebensbildern (ebd., Torquato Tasso in Dtschld. Hg. Achim AurnhamS. 3–7). Sein breites u. vielfältiges Werk (15 mer. Bln./New York 1995, S. 172–204. – August Seiten im Goedeke!), das alle Gattungen der Brecher: Dr. W. S. 1796–1848. Seelsorger, Theologe ausgehenden Romantik umfasst, prägt das u. Dichter der Spätromantik. In: Ztschr. des zeittypische Moment der Zerrissenheit. Es Aachener Geschichtsvereins 103 (2001), S. 191–322. zeigt sich im empathet. Gedicht Paganini Achim Hölter / Achim Aurnhammer ebenso wie in dem fünfaktigen Trauerspiel Tasso’s Tod (Koblenz 1819), das als krit. SupSmidt, Heinrich, auch: S. von Altona, plement zu Goethes Künstlerdrama konzi* 18.12.1798 Altona, † 3.9.1867 Berlin. – piert ist. Romancier, Dramatiker, Komödienautor. Nach literar. Wirken im Ruhestand u. diversen Reisen wurde S. Kanonikus in Aachen, Nach zehnjähriger Seefahrt, die er als Steubald berühmt als Kanzelredner. 1848 ließ ermann beendete, studierte S. erst in Altona, sich der mildtätige u. tolerante Geistliche, der seit 1824 dann in Kiel u. Berlin die Rechte u. sich schon nach 1815 für ein einiges »schönen Wissenschaften«. Danach wurde er Deutschland eingesetzt hatte, in das Frank- Redakteur der »Staatszeitung« u. 1848 Mitgl. furter Paulskirchen-Parlament wählen. Ne- der Marineabteilung des Kriegsministeriums ben der erbaul. Prosa harrt auch die reiche in Berlin, für das S., der auch in Verbindung Publizistik noch genauerer literarhistor. Er- zu Devrient (Devrient-Novellen. Bln. 1857. forschung. Sein Einsatz für die kath. Kirche 31882), Fontane u. dem »Tunnel über der bestimmt das Spätwerk. Exemplarisch er- Spree« stand, zuletzt als Archivar arbeitete. wähnt sei S.’ literarhistorisch bedeutsame Schon während seiner Zeit zur See u. auch Einmischung in den späten Streit der Brüder noch im Studium verfasste S. Gedichte. Die Schlegel. So hat er August Wilhelm von Schlegel’s einzige gedruckte Sammlung Poetische Versuin Berlin erschienene Schrift: ›Berichtigung einiger che (Altona 1826) bietet einen Querschnitt Missdeutungen‹ hin und wieder berichtigt und be- durch das lyr. Œuvre. Sie enthält neben einileuchtet (Köln 1829), auch wenn die histor. gen Kasualgedichten (z.B. Bei Gelegenheit der Rückgriffe zur Verteidigung des Katholizis- Gegenwart des Prinzen Christian Hoheit in Alto-

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Snell

na), einem kleinen Romanzenzyklus u. we- Snell, Bruno, * 18.6.1896 Hildesheim, nigen erlebnishaften Naturgedichten über- † 31.10.1986 Hamburg. – Klassischer wiegend Gedankenlyrik, die von starker Na- Philologe. turverbundenheit u. persönl. Frömmigkeit zeugt u. gelegentlich in religiöse Dichtung Der Arztsohn besuchte das Lüneburger Joübergeht (z.B. Das Vater-Unser). Die für S.s hanneum, studierte Jura u. Volkswirtschaft in Schaffen zentrale Seefahrtsthematik klingt in Edinburgh u. Oxford, wurde 1914 interniert, Gedichten wie Der ewige Segler oder Schiffers Tod begann 1918 das Studium der Klassischen Philologie in Leiden u. setzte es fort in Berlin, bereits an. Von da an blieb sein literar. Medium die München u. Göttingen, wo er 1922 promoErzählprosa. Der Vielschreiber S. verfasste viert wurde (Die Ausdrücke für den Begriff des reine Seefahrts- u. Schiffsromane u. entdeckte Wissens in der vorplatonischen Philosophie. Bln. damit für die dt. Literatur als autonomes 1924. Nachdr. Hildesh./Zürich 1992). Nach Thema das Leben zur See jenseits von Reise- Habilitation in Hamburg 1925 (Aischylos und bericht u. romant. Adaptionen (Seegemälde. das Handeln im Drama. Lpz. 1928) wurde Lpz. 1828. Mein Seeleben. Bln. 1837. Seenovel- S. 1931 o. Prof. in Hamburg, wo er über seine len. 2 Bde., Ffm. 1838). Die oft autobiogra- Emeritierung 1959 hinaus lehrte. Als entfisch orientierten Romane schildern mit gro- schiedener Gegner des Nationalsozialismus ßer, nautische Fachtermini verwendender u. als glänzender Wissenschaftsorganisator Detailtreue das Seefahrermilieu in einem konnte er sich nach 1945 große Verdienste bei unsentimentalen, oft sachlich-nüchternen, der Wiederanknüpfung der internationalen oft heroischen Ton, wobei die Grausamkeit wissenschaftl. Beziehungen u. beim Wiederder Elemente u. die Torheit romant. u. idea- aufbau u. Ausbau der Universität Hamburg listischer Seefahrtsbilder leitende Motive (Rektor 1951–1953) erwerben. S. war eine der sind; S. mahnt auch eine der polit. Bedeutung führenden Persönlichkeiten des Hamburger Preußens entsprechende Marine an. Am be- Geisteslebens u. ein Förderer der Künste, kanntesten wurden Jan Blaufink (2 Bde., Bln. Ehrenpräsident der Deutschen Akademie für 1864) sowie Michael de Ruyter (4 Bde., ebd. Sprache und Dichtung u. Mitgl. des Ordens 1846), ein Roman über das Leben des nie- Pour le mérite. Internationales Ansehen gewann S. besonderländ. Admirals aus dem 17. Jh. bis zum Schlachtentod. Kritische Zugänge u. man- ders durch seine Editionen griech. Texte cherlei Details zu S. bieten Fontanes Briefe u. (Pindari carmina cum fragmentis. 2 Bde., Lpz. 3–4 1964. Bakchylides. Lpz. 81961. Fragmenta seine Berichte über den »Tunnel über der Tragicorum Graecorum. 2 Bde., Gött. 1971 u. Spree«. Weitere Werke: Das Schlachtengemälde v. 1981. 2007). Seine größte Leistung aber waFehrbellin. Lpz. 1829. – Der Dominikaner. Bln. ren – neben den beiden frühen Schriften – die 1831 (E.). – Kaufmann u. Seefahrer. In: Jb. dt. sprachphilosophisch u. philologisch fundierBühnenstücke 23 (1844) (D.). – Schleswig-Holsteins ten, allgemeinverständlich formulierten EsFreiheitskampf im 13. Jh. 3 Bde., Bln. 1851 (histor. says über die Entwicklung des griech. DenR.e). – Der Verstoßene. In: Jb. dt. Bühnenstücke 30 kens von der Zeit Homers bis zu den Tragi(1851) (D.). – Alles Maske. In: ebd. 43 (1864) kern u. Philosophen, die in Entdeckung des (Schwank). Geistes (Hbg. 1946. Revidiert u. erw. Gött. Literatur: [Carsten Erich] Carstens: H. S. In: 9 2009) gesammelt vorliegen. S. zeigte, wie ADB. – Wolfgang Biesterfeld: Der Fliegende Holsich mit der Entwicklung der griech. Sprache länder im Gedicht Der ewige Segler v. H. S. In: auch das Denken entwickelt, wie ein BeFabula 51 (2010), 3/4, S. 295–299. wusstsein der eigenen Individualität u. der Richard Heckner / Björn Spiekermann Besonderheit des eigenen Fühlens entsteht u. sich der Einzelne aus der Gebundenheit an die sozialen Normen löst u. zu einer Wahl zwischen alternativen Handlungsmöglichkeiten fähig wird. Die Erforschung dieses

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Entwicklungsprozesses, durch den die Griechen zu Begründern abendländ. Denkens u. Fühlens wurden, sah S. als seine Lebensaufgabe an. Durch Vorträge, auch im Rundfunk, machte S. Gegenstände u. Fragestellungen seines Fachs auch der nichtakadem. Öffentlichkeit bekannt (Neun Tage Latein. Gött. 1955. 6 1968. Die alten Griechen und wir. Ebd. 1962). Weitere Werke: Ausgabe: Ges. Schr.en. Gött. 1966. – Einzeltitel: Der Aufbau der Sprache. Hbg. 1952. – Griech. Metrik. Gött. 1955. 52010. – Poetry and Society. Bloomington/Indiana 1961. Dt. Hbg. 1965. – Scenes from Greek Drama. Berkeley 1964. Dt. Bln. 1971. – Tyrtaios u. die Sprache des Epos. Gött. 1969. – Der Weg zum Denken u. zur Wahrheit. Ebd. 1978. Nachdr. Gött. 1990. Literatur: Hans-Georg Gadamer: Ein Gelehrter, der ein Weltmann war. Zum Tode v. B. S. In: Jb. der dt. Akademie für Sprache u. Dichtung (1986), S. 216 f. – Hartmut Erbse: B. S. In: Gnomon 59 (1987), S. 770–775. – Zum Gedenken an B. S. Hamburger Universitätsreden 46. Hbg. 1988. – Ernst Vogt: B. S. In: Jb. der Bayer. Akademie der Wiss.en (1989/90), S. 188–202. – John Michael Krois u. a.: Die Wissenschaftler Ernst Cassirer, B. S., Siegfried Landshut. Hbg. 1994. – Gerhard Lohse: Geistesgesch. u. Politik. B. S. als Mittler zwischen Wiss. u. Gesellsch. In: Antike u. Abendland 43 (1997), S. 1–21. – Dorothea Frede: B. S. u. die Gründung der Joachim-Jungius-Gesellsch. der Wiss.en. Gött. 2001. – Gerhard Lohse: B. S. Denken u. Handeln im Brennpunkt Europa. In: 50 Jahre Europa-Kolleg Hamburg. Hbg. 2003, S. 30–35. – Rainer Nicolaysen: B. S. In: Hamburgische Biogr. Hg. Franklin Kopitzsch u. Dirk Brietzke. Bd. 5, Gött. 2010, S. 346–348. – E. Vogt: B. S. In: NDB. Kjeld Matthiessen / Red.

Sochaczewer, Hans ! Orabuena, José Soden, (Friedrich) Julius (Heinrich) von, * 4.12.1754 Ansbach, † 13.7.1831 Nürnberg. – Erzähler, Dramatiker, Publizist, Historiker, Nationalökonom. S., Sohn eines Offiziers, verlor 1761 den Vater, fünf Jahre später die Mutter. Ersten literar. Erfolg hatte der 14-Jährige mit der Operette Lindor und Ismene (Ansbach 1771). 1771 nahm er ein Jurastudium in Erlangen auf, floh aber nach verschiedenen Ehrenhändeln nach Jena. Als Beamter im Dienst des Markgrafen avancierte er 1775 in Ansbach zum

Hof- u. Regierungsrat. Angeregt vom empfindsamen Freundschaftskult, traf er sich mit Gleichgesinnten, unter ihnen Uz, zu »traulichen Zirkeln«. 1779 starb seine Frau Luise von Pfeil nach nur einjähriger Ehe im Kindbett. Sie wurde zum Vorbild der idealen Frauengestalten seiner Dichtungen. Seit 1781 hatte S. den einflussreichen Posten des Gesandten beim fränk. Kreis in Nürnberg inne. Seine zweite Ehe verlief unglücklich. Trost fand er bei ausgedehnten literar. Produktionen, in denen er persönl. Konflikte in sentimentaler Überhöhung verarbeitete. Sein erstes publiziertes Schauspiel, Ignez de Castro (Dessau, Lpz. 1784), enthält bereits die Konstellation seiner folgenden zahlreichen Dramen: ein labiler Held, ein »Schutzgeist« als personifiziertes Gewissen, eine unbedingt liebende, empfindsame Protagonistin. S. schrieb bevorzugt Dramen über Ehen, die an der Untreue des Gatten zerbrechen, darunter, nach klass. Urbild, Medea (in: Theater, Bd. 2). Seine »Jasongestalten«, deren poetischen Wert er verteidigte (Vorrede zu Leben und Tod Kaiser Heinrichs IV. Dessau 1784), haben über den autobiogr. Anteil hinaus ein reales Vorbild in der Person des Ansbacher Markgrafen Alexander. Das Thema Bigamie, das er in dem Aufsatzband Alethia oder Ideen (Lpz. 1796) ernsthafter Erörterung würdigte, behandelte er »con amore« in dem Schauspiel Ernst Graf von Gleichen oder Gatte zweier Weiber (in: Schauspiele, Bd. 4). Autobiografische Bezüge finden sich auch in Doktor Faust (Augsb. 1797); der Teufelsbündner ist bei S. ein patriotischer Reformer, den sein Eifer ins Verderben stürzt. S. schrieb ohne ästhetische Sorgfalt. Seine damals z. T. erfolgreichen Stücke wurden bes. in den von S. gegründeten u. zeitweise geleiteten Theatern in Bamberg (gegründet 1802) u. Würzburg (gegründet 1804) aufgeführt; so die von E. T. A. Hoffmann, den S. 1809 nach Bamberg berufen hatte, vertonte Oper Dirna (Erstdruck hg. von Rudolf Herd in: Mitteilungen der E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft 15, 1969, S. 7–30). Das fantastische Drama Aurore oder das Kind der Hölle (Chemnitz 1795) löste eine regelrechte Modewelle aus. S.s Persönlichkeit ist widersprüchlich; er war ein Adliger mit bürgerl. Geschäftssinn u. bürgerl. Gefühlskultur, doch voller Standes-

Söhle

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dünkel. Durch geschickte finanzielle Trans- Söhle, Karl, * 1.3.1861 Uelzen, † 16.12. aktionen erwarb er sich ansehnl. Grundbe- 1947 Dresden. – Erzähler, Musiker. sitz, darunter sein »Elysium« Sassanfahrt bei S.s Vater entstammte einem Harzer BauernBamberg, das er mit einem romant. Landgeschlecht, seine Mutter war polnisch-frz. schaftspark schmückte u. nach aufkläreriHerkunft. Aufgewachsen in Hankensbüttel in schen Maximen leiten wollte. Doch nur notder Lüneburger Heide, besuchte er das Lehdürftig verbrämte S. dabei Profitinteresse mit rerseminar in Wunstorf, wurde Volksschulphilanthropischen Ideen: Die skrupellose lehrer u. bildete sich autodidaktisch zum Peuplierung des Weilers führte zur VerelenMusiker aus. Von 1885 an studierte S. als dung der Bewohner. Stipendiat eines Gönners am Musikkonser1790 wurde S. in den Reichsgrafenstand vatorium in Dresden. Hier wandelte er sich erhoben, 1794 nach zehnjährigem Insistieren vom Bachianer zum Wagnerianer, der »nur in die Reichsritterschaft inkorporiert. Nach noch in Stabreimen sprach« (Der verdorbene dem Anschluss Ansbachs an Preußen 1792 Musikant. Lpz. 1918). Ferdinand Avenarius stand S. in preuß. Diensten, die er 1795 machte den freien Musikkritiker zum Requittierte, enttäuscht vom preuß. Partikuladakteur seines »Kunstwarts« u. förderte sein rismus, der seinem regressiven ReichspatrioWerk öffentlich (»ihr Freunde der deutschen tismus zuwiderlief. Neben der TheatertätigArt, die ihr aus dem internationalen Literakeit widmete er sich der Nationalökonomie (9 tursalon heim in die Gotteswelt wollt, geht zu Bde., Lpz. 1805–25), in der er widersprüchSöhle«). Schließlich lebte S. – als Professor lich zwischen kameralistischen u. physiokrageehrt u. zurückgekehrt »zur Stille, zu tischen Prämissen u. frühliberalen Ideen laBrahms, dem Keller-, Storm- und Thomavierte. Daneben entstanden weiterhin zahlVerwandten« (Musikant) – als freier Schriftreiche Dramen, Romane u. Erzählungen, steller in Dresden. »flüchtige Kinder der Erholungs-Stunden Mit seinen stimmungsvollen Landschaftsvon ernsten Geschäften« (Vorw. zu Erzählunskizzen (Schummerstunde. Lpz. 1903) gehörte gen. 2 Bde., Bamberg/Würzb. 1823). S. zu den zahlreichen Gestaltern niederdt. Weitere Werke: Schauspiele. 4 Bde., Bln. Volks- u. Bauernmotive um die Jahrhundert1788–91. – Psyche. Philosophie der Empfindung wende. Seine bis zum Ersten Weltkrieg viel [...]. [Nürnb.] 1794. – Die Spanier in Peru u. Mexiko. 2 Bde., Bln. 1794 u. 1796. – Die dt. Haus- gelesenen Musikererzählungen (Musikantenmutter. Augsb. 1797 (D.). – Die Franzosen in geschichten. Ebd. 1898) sind eine gemütvolle, Franken, im Jahre 1796. Nürnb. 1797. – Bianka psychologisch vereinfachende Variante der Kapello. Lpz. [1802] (D.). – Virginia. Bln. 1804 (D.). im 19. Jh. populären Künstlernovelle. Beide – Zoé. Ein hohes Ideal zarter Weiblichkeit. Ebd. Genres zeigen die exakte Kenntnis der 1805 (R.). – Theater. 2 Bde., Aarau 1814. Bd. 3. ebd. norddt. Heide- u. Moorlandschaft u. die 1819. musikal. u. musikgeschichtl. Bildung des Literatur: Otto Hachtmann: Graf J. H. v. S. als Autors. Dramatiker. Diss. Gött. 1902. – Peter Hanke: Ein Bürger v. Adel. Leben u. Werk des J. v. S. Würzb. 1988 (Bibliogr. S. 347–354). – Hans Schumm u. Harry Walter: J. v. S., Theatergründer u. Theaterdirektor. In: Heimatbote aus dem Reichen Ebrachgrund 11 (1998), S. 173–179. – Sabine Henze-Döhring: J. Reichsgraf v. S. (1754–1831). Vom Reichsritter zum Sozialutopisten. In: Dies.: Adel mit Bürgersinn [...]. Bamberg 2007, S. 15–33. Ulrike Leuschner / Red.

Weitere Werke: Musikanten u. Sonderlinge. Bln. 1900. – Sebastian Bach in Arnstadt. Ebd. 1902 (E.). – Mozart. Lpz. 1907 (D.). – Der hl. Gral. Ebd. 1911 (L.). – Die letzte Perfektionierung. Ebd. 1924 (Ess.). Literatur: Hans C. Kaergel: K. S. In: Die schöne Lit. 7 (1928), S. 321–326. – Walter Schöne: K. S. zum Gedenken. In: Raabe-Jb. (1950), S. 147–151. Christian Schwarz

Söllner

Söllner, Werner, * 10.11.1951 Horia/Rumänien. – Lyriker u. Übersetzer. Die Mutter S.s stammt aus Siebenbürgen, der Vater aus dem Banat. Im Okt. 1970 begann er, im siebenbürg. Cluj (Klausenburg) Physik zu studieren, u. wechselte im folgenden Jahr zu Germanistik u. Anglistik. Franz Hodjak, Lektor der dt. Abteilung des neu gegründeten Dacia Verlags, erkannte u. förderte das lyr. Talent S.s. Seit 1972 war S. redaktionell verantwortlich für die dt. Seiten der dreisprachigen (Rumänisch, Ungarisch, Deutsch) Kulturzeitschrift »Echinox«. In Akten des rumän. Geheimdiensts Securitate aus diesen Jahren taucht S. als Informant »Walter« auf. Er hatte Werke, die im Umfeld der 1972 in Timis¸ oara (Temeswar) gegründeten »Aktionsgruppe Banat« entstanden sind, ins Rumänische übersetzt u. für den Geheimdienst interpretiert. Im Juni 1975 schloss er das Germanistikstudium mit einer Magisterarbeit über das Frühwerk Paul Celans ab. Kurze Zeit später erschien sein Debütband wetterberichte (Cluj-Napoca). Im selben Jahr zog er nach Bukarest. Dort arbeitete er als Deutschu. Englischlehrer, seit 1976 als Lektor im Kinderbuchverlag Ion Creanga˘. S. veröffentlichte regelmäßig Gedichte, Übersetzungen sowie Rezensionen u. unterhielt Kontakte zu rumän. Autoren. 1982 kehrte er von einer Lesereise in die BR Deutschland nicht zurück u. ließ sich in Frankfurt/M. nieder. Viel Beachtung fand der 1988 erschienene Gedichtband Kopfland. Passagen (Ffm.), der Arbeiten aus den Jahren 1976–1988 enthält. Thematisch kreisen sie um das Herkunftsmilieu u. dessen Prägung durch den Nationalsozialismus, das Leben in der kommunistischen Diktatur sowie die Übersiedlung nach Deutschland. Dies geschieht in intensiven intertextuellen Auseinandersetzungen mit dem Werk Paul Celans u. über eine Vielzahl literar. u. kultureller Verweise. 1989 übersetzte S. Manuskripte des unter Hausarrest stehenden rumän. Dissidenten Mircea Dinescu u. erreichte deren Veröffentlichung in der FAZ sowie in Radio Free Europe. Er trat als Nachdichter der Werke Dinescus hervor, erhielt zahlreiche Preise (Friedrich-Hölderlin-Förderpreis 1989, Preis der Henning-

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Kaufmann-Stiftung 1989, Stadtschreiber der Stadt Zug 1991, Förderpreis des Kulturkreises im Bundesverband der deutschen Industrie 1992, Medienpreis der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat 1994, Eugen Viehof-Ehrengabe der deutschen Schillerstiftung Weimar 1996) u. war 1993 Poetikdozent an der Universität Frankfurt. 1992 erschien Der Schlaf des Trommlers (Zürich), S.s zweiter u. letzter bedeutender Gedichtband seit seinem Aufenthalt in Deutschland. Er bezieht sich auf die deutschsprachige Lyrik des 20. Jh. (Ingeborg Bachmann, Peter Huchel, Gottfried Benn), um sich seiner Identität zu vergewissern, wobei er Zweifel an der Ausdruckskraft der Sprache hegt (»Ach Sprache, meine stumme Braut, / sag mir, wo ich zuhause bin«, S. 78). Im Dez. 2009 bekannte S. sich zu seiner Vergangenheit als Informant der Securitate u. löste damit heftige Reaktionen aus. In der Folge trat er im Jan. 2010 nach sechs Jahren als Leiter des Hessischen Literaturforums zurück. Weitere Werke: Verdunkelung. Büdingen 1985. – Es ist nicht alles in Ordnung, aber ok. Ein Monolog. Assenheim 1985. – Übersetzungen: Mircea Dinescu: Gedichte. Büdingen 1982. – Ders.: Exil im Pfefferkorn. Ffm. 1989 (L.). – Ders.: Ein Maulkorb fürs Gras. Zürich 1990 (L.). Literatur: René Kegelmann: ›An den Grenzen des Nichts, dieser Sprache ...‹. Zur Situation rumäniendt. Lit. der achtziger Jahre in der BR Dtschld. Bielef. 1995. – Heinrich Detering: W. S. In: KLG. – Thomas Kraft: W. S. In: LGL. – Astrid Schau: Leben ohne Grund. Konstruktion kultureller Identität bei W. S., Rolf Bossert u. Herta Müller. Bielef. 2003. – Diana Schuster: Die Banater Autorengruppe: Selbstdarstellung u. Rezeption in Rumänien u. Dtschld. Konstanz 2004. – Peter Motzan: ›Denn bleiben ist nirgends‹. Der Lyriker W. S. im Kontext seiner Generation. In: Ztschr. der Germanistik Rumäniens 13–14 (2004–2005), S. 440–455. – Gerhard Bauer: Dichten u. Aufhören. Vielleicht Rimbaud. Kronzeuge: S. In: IABLIS. Jb. für europ. Prozesse 7 (2008). Astrid Schau

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Soemmerring, Sömmerring, Sömering, Samuel Thomas von (seit 1808), * 28.1.1755 Thorn, † 2.3.1830 Frankfurt/M.; Grabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – Anatom, Naturforscher; Literat. Als neuntes Kind des Stadtarztes Johann Thomas Soemmerring (1701–1781) u. der Pfarrerstochter Regine Geret (1721–1782) entstammte S. der evang.-dt. Oberschicht des poln. Thorn. Er studierte 1774–1778 in Göttingen Medizin, u. a. bei Blumenbach u. Lichtenberg. Seine neuroanatomische Dissertation machte ihn in der Fachwelt rasch bekannt. So war er 1778/79 auf seiner Studienreise durch Holland u. Großbritannien bei Koryphäen der Medizin ein anerkannter Gast. In London lernte er Georg Forster kennen, der bald sein intimster Freund wurde u. ihn 1779 nach Kassel nachzog, wo S. die Anatomieprofessur am Carolinum erhielt. An Publikationen wenig ertragreich, legten die Kasseler Jahre doch den Grund für viele anatomische, anthropolog. u. paläontolog. Studien S.s; außerdem kam er mit der dt. Geisteselite in Berührung: neben Merck u. der Fürstin Gallitzin mit Goethe, der ihn 1783 in Kassel besuchte u. mit dem S. bis 1828 immer wieder korrespondierte. Dabei ging es v. a. um Goethes naturwissenschaftl. Überlegungen, die S. teils unterstützte (Farbenlehre), teils kritisch ablehnte (Zwischenkiefer). Mit Herder u. Friedrich Heinrich Jacobi diskutierte er von Kassel aus Grenzfragen der Philosophie, Anthropologie, Medizin u. Religion. Überschattet wurden S.s (wie Forsters) Kasseler Jahre durch die Zugehörigkeit zum Geheimbund der Rosenkreuzer. 1784 ging Forster nach Wilna, S. im Herbst als Anatomieprofessor nach Mainz, dessen Universität gerade erneuert u. eine Hochburg der kath. Aufklärung wurde. Als Anatom empirisch vorgehend u. subtil beschreibend, in der Terminologie kritisch-schöpferisch, im Rassenvergleich schon physisch-anthropologisch tätig, begründete S. den Ruhm der Mainzer Medizin zwischen 1784 u. 1792. Zudem stand er in diesen Jahren durch Briefwechsel u. Begegnungen mit Goethe, Jacobi, Lichtenberg, Christian Gottlieb Hey-

Soemmerring

ne, Johannes von Müller, den Humboldts u. Lavater im Schnittpunkt der geistigen Strömungen Deutschlands. Er lernte Therese Forster (vgl. Therese Huber) u. Caroline Schlegel-Schelling kennen. Forsters Wilnaer Briefwechsel (1784–1787) mit S. hat auch literaturhistorisch hohen Rang. Ende 1788 waren die beiden am Rhein wieder vereint, nachdem Forsters Plan einer weiteren Weltreise (mit S. als Begleiter) gescheitert war. Aus nächster Nähe verfolgte S. Entstehen u. Wirken dt. Literatur zwischen Aufklärung, Klassik u. Romantik. Diese dem wissenschaftlichliterar. Austausch so günstige Konstellation zerbrach, als die frz. Besetzung 1792/93 zur Mainzer Republik führte. Forsters Engagement für den jakobin. Demokratismus war für den liberalen, am engl. Modell orientierten S. inakzeptabel. Sein bester Freund nach Forsters Tod (1794) wurde Wilhelm Heinse, als Protestant u. Freigeist am Mainzer Hof in ähnl. Außenseiterrolle wie S. selbst. Zu Heinses musiktheoret. Roman Hildegard von Hohenthal (1795/ 96) lieferte S. anatomisch-physiolog. Realien. Mit Heinse diskutierte er auch sein Werk Organ der Seele (Königsb. 1796), das diese im Liquor cerebrospinalis zu lokalisieren versucht. Kant schrieb dazu ein – freilich recht distanziertes – Nachwort, u. Goethe kritisierte, dass S. hier Physiologie u. Philosophie unzulässig vermische. Unterdessen löste sich S. von dem immer wieder umkämpften Mainz (endgültig 1797). Er hielt sich zunehmend in Frankfurt/ M. auf, wo er 1792 die Kaufmannstochter Margarethe Elisabeth Grunelius (1768–1802) geheiratet hatte. Schon bald gehörten führende Frankfurter Handels- u. Bankiersfamilien (u. a. die Brentanos) zu S.s Bekannten- u. Patientenkreis (er war seit 1795 Stadtarzt), auch Hölderlin, zumal Susette Gontard mit S.s Frau befreundet war. 1805 ging S. an die Bayerische Akademie der Wissenschaften nach München. Mit Montgelas war S. bald ebenso vertraut wie mit führenden bayerischen Reformern (u. a. Immanuel Niethammer), u. bis 1812 war S.s Freund Jacobi Präsident der Akademie. Die Berufung der vielen, meist protestantischen Fremden stieß in konservativ-kath. Kreisen auf Widerspruch; so wurde auch S. 1810/11

Soester Fehde

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in den Münchener Akademiestreit verwi- den Korrespondenzen zwischen Goethe, Alexander ckelt. Gleichwohl war er wissenschaftlich v. Humboldt u. S. T. S. In: Das Allgemeine u. das produktiv, nun aber mehr als Paläontologe u. Einzelne – Johann Wolfgang v. Goethe u. AlexanPhysiker (1809 Erfindung eines elektrochem. der v. Humboldt im Gespräch. Hg. Ilse Jahn u. Andreas Kleinert. Stgt. 2003, S. 47–62. – F. DuTelegrafen). Altersbeschwerden, aber auch mont: S. T. S. In: NDB. Franz Dumont / Red. Montgelas’ Sturz u. Jacobis Tod veranlassten ihn 1819/20, nach Frankfurt zurückzukehren. Dort verbrachte er, weiter wissenschaftSoester Fehde, 1444–1449. – Publizistilich tätig, sein letztes Lebensjahrzehnt. sche u. chronikalische Nachrichten u. S. war v. a. einer der fähigsten dt. AnatoLieder. men, ein Pionier der Paläontologie u. Anthropologie. Aber als Freund, Brief- u. Ge- Die Soester Fehde (1444–1449) entbrannte sprächspartner, als Berater u. Kritiker vieler infolge des beispiellosen Wechsels der Stadt bedeutender Schriftsteller hat er auch in der Soest von einem Landesherrn zum anderen. Veranlasst durch von Soest nicht anerkannte dt. Literaturgeschichte seinen Platz. Ausgabe: S. T. S.s Werke. Im Auftrag der Aka- Steueransprüche des Kölner Erzbischofs demie der Wiss.en u. der Lit., Mainz, hg. v. Gunter Dietrich von Moers eskalierte ein schwelenMann u. Werner F. Kümmel. Mainz/Stgt. 1990 ff. der Konflikt zwischen der erfolgreichen, auf Literatur: Rudolph Wagner: S. T. v. S.s Leben ihre Rechte bedachten Stadt u. dem Fürsten, [...]. Lpz. 1844. Neudr. hg. v. Franz Dumont. der seine Herrschaft grundlegend moderniMainz u. a. 1986. – Friedrich Strack: S.s Seelenor- sieren wollte. Im lokalen Geschehen kulmigan u. die dt. Dichter. In: ›Frankfurt aber ist der nierte eine Konfliktkonstellation als Folge Nabel dieser Erde‹. Hg. Christoph Jamme u. Otto eines gesamteurop. TransformationsprozesPöggeler. Stgt. 1983, S. 185–205. – Gunter Mann u. ses – der Herausbildung des frühmodernen F. Dumont (Hg.): S. T. S. u. die Gelehrten der institutionellen Staates. Nach langjährigem Goethezeit. Bibliogr. bearb. v. Gabriele WenzelInteressenausgleich suchten beide Seiten den Naß. Mainz u. a. 1985. – F. Dumont: Naturerkenntnis – Welterkenntnis. Das ›Seelenbündnis‹ Grundsatzkonflikt u. steuerten auf die milizwischen Georg Forster u. S. T. S. In: Gehirn – tärische Auseinandersetzung zu. Soest zog Nerven – Seele. Anatomie u. Physiologie im Umfeld seine alte Option u. verbündete sich mit dem S. T. S.s. Hg. ders. u. G. Mann. Mainz u. a. 1988, regionalen Konkurrenten des Kölners, dem S. 381–440. – Manfred Wenzel (Hg.): Goethe u. S. Herzog von Kleve-Mark. Am 23.6.1444 verBriefw. 1784–1828. Mainz u. a. 1988. – Ders.: S. T. briefte Jungherzog Johann der Stadt ihre S. Naturforscher der Goethezeit in Kassel. Kassel Privilegien u. nahm die Huldigung entgegen; 1988. – Ders. (Hg.): S. T. S. in Kassel (1779–1784). am 25.6. erklärte Soest dem Erzbischof die Beiträge zur Wissenschaftsgesch. der Goethezeit. Absage u. die Fehde. Hinter den KontrahenStgt. u. a. 1994. – Manfred Dick: Der Literat u. der ten standen Verbündete u. Koalitionen: Naturforscher: Wilhelm Heinse u. S. T. S. In: Das Maß des Bacchanten: Wilhelm Heinses Über-Le- Papst, Reformkonzil u. Kaiser waren ebenso benskunst. Hg. v. Gert Theile. Mchn. 1998, beteiligt wie die Hanse, Sachsen u. Burgund; S. 185–212. – Rolf Siemon: S. T. S. (1755–1830) aus verschiedene Konflikte überlagerten sich u. Thorn an der Weichsel. Bedeutender Anatom, Arzt, verliehen der Fehde eine überregionale DiNaturforscher u. Erfinder des elektr. Telegraphen. mension. Zeittypisch wurde der Krieg als In: Beiträge zur Gesch. Westpreußens 17 (2000), Verheerungsgeplänkel geführt, bis Dietrich S. 47–138. – Ders.: S. T. S. Frankfurter Anatom, 1447 ein 10–12.000 Mann starkes böhmischPhysiologe u. Physiker. In: Natur u. Museum 130 hussitisch-sächs. Heer unter Führung Wil(2000), S. 238–258. – Lothar Hyss (Red.): S. T. S. helms von Sachsen gegen Soest führte. Am (1755–1830), Mediziner u. Naturwissenschaftler 19.7.1447 wehrte die Stadt dessen Ansturm aus Thorn [Ausstellungskat.]. Münster 2001. – R. Siemon (Hg.): S. T. S. (1755–1830). Mediziner u. ab. Bezahlung u. Versorgung der Söldner Naturwissenschaftler aus Thorn [Ausstellungskat.]. brachen zusammen. Die desaströse FinanzMünster-Wolbeck 2001. – M. Wenzel: ›Ich werde lage Kurkölns sicherte den Soester Sieg. Die mit mehr Lust arbeiten in Hoffnung Ihrer Theil- anschließenden Friedensverhandlungen zonahme‹. Galvanismus u. vergleichende Anatomie in gen sich bis zum vorläufigen Schiedsspruch

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von Maastricht vom 27.4.1449 hin, der die 1465) des langjährigen Ratsherrn Johann Fehde ohne Friedensvertrag beendete u. den Kerkhoerde ein. Vergleichsweise unbeteiligt berichtet allein die bis 1482 geführte Lübecker Verbleib Soests bei Kleve-Mark festschrieb. Der Rang der Beteiligten, der spektakuläre Chronik, ebenfalls mit einem Schwerpunkt auf Konflikt u. das dramat. Kriegsgeschehen lös- den sächsisch-böhmischen Heerzug. Die literar. Bearbeitungen des Fehde-Stoften ein breites chronikalisches u. publizistisches, vielfach von politisch-historiografi- fes reißen nicht ab u. reichen bis zum Drama schen Positionen geprägtes Echo aus. Vor al- Michael Zellers Die Soester Fehde (2009) als lem der Einsatz hussitischer Söldner auf Mittelpunkt einer regelmäßigen Festwoche Kölner Seite fand außerordentl. Niederschlag in Soest. in der Publizistik. Wichtigstes Zeugnis ist die Ausgabe: Die Chroniken der dt. Städte vom 14. während u. nach den Ereignissen entstandene bis ins 16. Jh. Bd. 21: Soest. Hg. Joseph Hansen. Fehdechronik des Soester Stadtschreibers Lpz. 1889. Bartholomäus van der Lake. Nachdem die Literatur: Wolf-Herbert Deus: Die S. F. Soest Forschung lange eine reformatorische Über- 1949. – Thomas Sandfuchs: Bartholomäus van der arbeitung von 1533, welche die kölnfeindl. Lake. In: VL. Harmut Beckers u. Robert Peters: Gert Ausrichtung des Textes noch verstärkte, für van der Schüren. In: VL. – Franz Josef Worstbrock: die Grundlage aller überlieferten Fassungen Johann v. Lünen. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Hubert Herkommer: Johann Kerkhielt, sprechen neuerdings überzeugende hörde. In: VL. – Heiko Droste: Die Soester FehdeArgumente dafür, dass eine der fünf Hand- chronik u. ihre Überarbeitung in der Reformation. schriftengruppen dem verlorenen Original In: Soester Ztschr. 103 (1991) S. 39–63. – Hansdes Bartholomäus nahesteht. Die übrigen vier Joachim Ziegeler: Vrischemei. In: VL. – Carl August brechen mit dem 30.6.1447 ab u. werden Lückerath: Werler Reimchronik der S. F. In: VL. – anschließend aus der Koelhoffschen Chronik er- Christian Fischer: Die Soester Fehdechronik des gänzt. Drei dieser Handschriftengruppen Bartholomäus v. der Lake. In: Niederdt. Wort 46 überliefern, vom reformatorischen Überar- (2006) S. 45–58. – Heinz-Dieter Heimann: Die S. F. beiter hinzugefügt, vier Lieder zu Fehde- Soest 2003. Norbert Wex ereignissen der Jahre 1446 u. 1447, wie die Chronik selbst vom Soester Standpunkt aus; Sohnrey, Heinrich, * 19.6.1859 Jühnde bei in der letzten Strophe des zweiten u. des Münden, † 26.1.1948 Neuhaus bei Holzdritten Liedes nennt sich der Dichter Vriminden; Grabstätte: Jühnde, St. Martinsschemei bzw. Ruterknecht. Bartholomäus’ kirchhof. – Publizist, Erzähler, DramatiAufzeichnung liegt der freien Übertragung ker, Sozialreformer. ins Lateinische durch den Liesborner Mönch Bernhard Witte (Succinata elucidatio, ca. 1515) S., uneheliches Kind einer Tagelöhnerin u. zugrunde, die wenige Jahre später in der eines Gutsherrn, wuchs in ärml. VerhältnisLippstädter Reimchronik ins Deutsche zurück- sen auf. Nach Besuch der Präparandenanstalt übertragen wurde. Unabhängig von dieser in Ahlden/Aller u. des Seminars in Hannover Tradition berichtet die lateinische Narracio – war er seit 1879 für sechs Jahre Lehrer in aus Kleve-Soester Perspektive Siegeslied ge- Nienhagen, dann, nach kurzem Studium in nannt – des Johann von Lünen (1448) über die Göttingen, seit 1886 in Möllensen. gescheiterte Erstürmung vom 19.7.1447. Die 1888–1894 war er Chefredakteur der »FreiTendenz der Verherrlichung des Klever burger Zeitung«. 1893 gründete er die Fürstenhauses bestimmt die Klever Chronik Halbmonatsschrift »Das Land« (Bln.; bis (vor 1489) des Gert van der Schüren. Den ge- 1934), die für die Heimatkunst eintrat, gensätzlichen, prokölnischen, Standpunkt Brauchtumsthemen u. soziale Fragen behannehmen die anonym überlieferte Werler delte u. als Organ für ländl. Wohlfahrtspflege Reimchronik (vor 1463) mit z. T. nur hier diente. 1894 ging S. als freier Schriftsteller überlieferten Details u. die zuverlässige, aus nach Berlin, wo er mit ministerieller Beihilfe Sicht der mit Köln verbündeten Stadt Dort- den Deutschen Verein für ländliche Wohlmund verfasste Dortmunder Chronik (nach fahrts- und Heimatpflege ins Leben rief (S.s

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Wegweiser hierfür erschien 1900 in Berlin, Zwischen Dorn u. Korn. Ebd. 1934 (Autobiogr.). – überarbeitet letztmals 1939). 1904 gründete Bauernfaust u. Bauerngeist. Hann. 1937. Literatur: Bibliografie: Ernst Metelmann. In: er mit der Deutschen Landbuchhandlung seinen eigenen Verlag, der sich für Heimat- Die Neue Lit. 43 (1942), S. 176–180. – Weitere Titel: literatur, die evang. Dorfkirchenbewegung Karl Schöpke: H. S. Holzminden 1949. – Hermann Fricke: H. S.s Lebenswerk. Neuhaus 1950. – H. S. (Hg. der Monatsschrift »Die Dorfkirche«, zum 125. Geburtstag. Jühnde 1984. – Gerd Busse: 1907–39) u. die stärkere Besiedelung der dt. Zwischen Hütte u. Schloss. H. S. Schriftsteller, SoOstgebiete (»Archiv für innere Kolonisation«, zialreformer, Volkskundler. Holzminden 2009. – 1908–33; »Neues Bauerntum«, 1934–40) Hubertus Menke: H. S. In: NDB. einsetzte. Neben einer Reihe von niedersächs. Susanne Lange / Sven Neufert Dorfgeschichten u. Romanen (u. a. Die Leute aus der Lindenhütte. 2 Bde., Hann. 1886 u. Bernburg 1887. Neudr. Gött. 1984. Wulf Alke. Soik, Helmut Maria, eigentl.: Hellmuth Bln. 1933) schrieb S. Volksstücke wie die Robert S., auch: Thomas Michael Malan, Dorftragödie Die Dorfmusikanten (Lpz. 1902) * 12.7.1911 Schwenningen, † 14.6.1989 u. das Bauerndrama Düwels (Bln. 1904). Celle; Grabstätte: München, NordfriedS. kann neben Adolf Bartels u. Ernst hof. – Lyriker, Biograf. Wachler als journalistischer Vorkämpfer der Nach dem Studium der Literatur- u. TheaHeimatkunstbewegung gelten, die sich für terwissenschaften an der Universität in eine am heimatl. Raum orientierte VolksMünchen war S. 1934–1939 Verlagslektor u. dichtung aussprach u. gegen die intellektuRedakteur. Im Zweiten Weltkrieg Soldat, gealisierte Großstadtkultur Stellung bezog. S.s riet er gegen Kriegsende in poln. Gefangenliterar. Texte sind einem Realismus (Verschaft u. kam 1950 als Spätheimkehrer zuwendung des Dialekts) verpflichtet, der die rück. Danach lebte er in Celle. ländl. Gemeinschaft verklärt u. ländl. Mit seinen ersten Gedichtbänden Gesänge Brauchtum in detaillierten Schilderungen (Pasing 1932) u. Die Botschaft (Chemnitz 1935) wachzuhalten versucht, die heute nur noch stellte sich S. in die idealistisch-pathet. Travon volkskundl. Interesse sind. Viele seiner dition der Verkündigungsdichtung. 1952 erzeitgenössisch z. T. beliebten Dorfromane u. hielt er den Förderungspreis der niedersächs. Geschichten (Friedesinchens Lebenslauf. 1887, Landesregierung, doch seine zunehmend sobis 1947: 120.000) sind autobiografisch ge- zialkrit. Gedichte fanden keine größere Öffärbt u. treten zwischen Hütte und Schloss (R., fentlichkeit mehr. Lange Jahre des SchweiBernburg 1886, bis 1948: 83.000) für die gens wurden erst durch den zweisprachigen Versöhnung von ländl. Arbeiterschaft u. Band Rimbaud under the Steel Helmet / Rimbaud Gutsbesitzern ein, die in den Texten etwa unterm Stahlhelm (San Francisco 1976) beendurch die Sozialdemokratie gefährdet wird. det. In der Folge gelangte S. mit dem Exkurs Die literar. Texte sind in ihrem konservativen über die mögliche Existenz der Hölle (Ffm. 1980), Impetus bestimmt von S.s Engagement für für den Jörg Fauser das Vorwort verfasste, zu die ländl. Wohlfahrtspflege u. den Kampf später Anerkennung. Als Long-Poems betigegen Landflucht u. Verstädterung. S. fügte telt, durchforschen die Gedichte die Vergansich mit Schriften wie Landflucht ist Volkstod genheit aus der Perspektive der Nachgebore(Bln. 1939) in die Ideologie des National- nen, mit iron. Anspielung auf Brecht: »Zu sozialismus ein u. erleichterte so die natio- warten auf der Nachgeborenen Antwort war nalsozialistische Vereinnahmung seines Ge- ihm nicht gegeben.« S. wollte Material für die samtwerks. – 1949 wurde in Jühnde die H.-S.- Antwort weitergeben. Zentrale Themen sind Gesellschaft gegründet, die eine Gedenkstätte Nationalsozialismus u. Restauration, polit. Gewalt, Entlarvung der Helden u. Lob der u. ein Archiv verwaltet Weitere Werke: Der Bruderhof. Bln. 1898 (R.). unbekannten Unschuldigen. – Rosmarin u. Häckerling. Ebd. 1900 (E.en). – Die Sollinger. Ebd. 1924. – Gewitter. Ebd. 1929 (D.). –

Weitere Werke: Oswald v. Wolkenstein. Mchn. 1939 (Ess.). – Jean Artur Rimbaud. Ebd. 1939 (Ess.).

49 – Die zerbrochene Balalaika. Celle 1950 (L.). – Oktoberlaub hat tausend Augen. Ebd. 1957 (L.). Literatur: Sˇa¯lôm Ben-Choˆ rıˆn: ›Es ist besser, ein Gedicht zu schreiben, als auf den Tod zu warten‹. In memoriam H. M. S. In: Der Literat 31 (1989), S. 229. Wilfried Ihrig / Red.

Solger, Karl Wilhelm Ferdinand, * 28.11. 1780 Schwedt/Oder, † 25.10.1819 Berlin; Grabstätte: ebd., Friedhof von Oranienburg. – Philosoph. S., drittes Kind des markgräflich-brandenburgischen Kammerdirektors, besuchte 1795–1799 das Gymnasium Zum Grauen Kloster in Berlin, wo seine Liebe zu den klass. Sprachen geweckt wurde. Dem Wunsch des Vaters folgend, studierte er 1799–1802 die Rechte in Halle. Daneben hörte er Friedrich August Wolf u. beschäftigte sich mit der engl., ital., span. Literatur u. der neuesten nachkantischen Philosophie. Er gründete mit gleichaltrigen Studenten einen Zirkel (»Freitagskreis«), in dem neu erschienene oder eigene literar., histor., philosophische u. Übersetzungsarbeiten besprochen wurden. Mitglieder waren u. a. Abeken, von der Hagen, Heinrich Voß d.J. u. Karl von Raumer. 1801/1802 ging S. für ein Semester nach Jena zu Schelling. Die Begegnung übte nachhaltigen Einfluss auf sein Denken aus. 1803 begann er seine Referendarsausbildung an der Kriegs- u. Domänenkammer in Berlin, die er aber 1806 abbrach, um sich ganz seinen philolog. u. philosophischen Studien widmen zu können. Fichtes Vorlesungen über die Wissenschaftslehre von 1804 veranlassten ihn zu eingehendem Studium der Werke Spinozas u. zur Auseinandersetzung mit dem Streit zwischen Schelling u. Fichte. Die philolog. Studien weiteten sich zur Beschäftigung mit mytholog. u. religionsgeschichtl. Forschungen aus, die durch Wolf, die Jenaer u. Heidelberger Romantik aktuell geworden waren. 1808 erschien mit einer umfangreichen Einleitung seine vollständige Übersetzung der Tragödien des Sophokles (2 Bde., Bln. 31837. Neudr. Mchn. 1958. Mikrofiche Mchn. u. a. 1990–94), die eine genaue Nachbildung des antiken Versmaßes anstrebte; aufgrund ihrer wurde er 1808 in Jena promoviert. 1809 er-

Solger

hielt S. eine Professur für Philosophie u. Klassische Philologie in Frankfurt/Oder. Hier versuchte er das System der Philosophie, das er zuerst seinen Freitags-Freunden in Berlin vorgetragen hatte, als eine über Fichte u. Schelling hinausführende Variante der spekulativen Philosophie weiter auszuführen. 1811 wurde er als Professor für Philosophie u. Mythologie an die neu errichtete Universität Berlin berufen. Während der Freiheitskriege arbeitete er seine Kunstphilosophie aus, die zgl. einen Vorgriff auf sein inzwischen modifiziertes System der Philosophie darstellte. Ihr Titel Erwin. Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst (2 Bde., Bln. 1815. Neudr. der Neuausg., Bln. 1907. Mchn. 1971. Mikrofiche Mchn. u. a. 1990–94) zeigt, dass die Gesprächsform an die Stelle einer lehrbuchartigen Darstellung getreten ist. Durch sie sollte das philosophische Denken in die Lebenspraxis eingeführt u. dadurch die Esoterik einer Absolutheitsphilosophie von der Art Schellings überwunden werden. In krit. Auseinandersetzung mit Baumgarten, Burke, Fichte u. Kant versucht S. zu zeigen, dass sich eine Theorie des Schönen prinzipiell nicht widerspruchsfrei denken lasse, weil sich das Schöne nur durch das künstlerische Schaffen offenbare. Die »Phantasie« in ihrer inneren produktiven Tätigkeit zu begreifen, müsse deshalb die zentrale Aufgabe der Ästhetik sein. S. unterscheidet eine Vielzahl von Tätigkeitsformen, durch die sich die komplexe Symbolform des Kunstwerks als vollkommene Durchdringung von Erscheinung u. Idee, von Irdischem u. Göttlichem konstituiert. Die höchste u. letzte Offenbarungs- u. Vermittlungsleistung des künstlerischen Schaffens, den »wahren Sitz der Kunst«, sieht S. in der »Ironie«: »Hier also muß der Geist des Künstlers alle Richtungen in einen, alles überschauenden Blick zusammenfassen, und diesen über allem schwebenden, alles vernichtenden Blick nennen wir Ironie.« Die Ironie wird nicht als ein Stilmittel, sondern als ontolog. Prinzip aufgefasst, das die Seinsweise der Kunst im Augenblick ihrer Manifestation bestimmt. Weil S. dieses Prinzip mit dem von Schlegels »Athenaeum«Fragment her bekannten Begriff der Ironie bezeichnet hat, ist ihm der zweifelhafte

Solitaire

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Literatur: Josef Elias Heller: S.s Philosophie Ruhm des Systematikers der romant. Kunsttheorie zuteil geworden. Als ontolog. Prinzip der iron. Dialektik. Bln. 1928. – Maurice Boucher: soll es sich jedoch auf alle Formen u. Stile des K. W. F. S. Esthétique et philosophie de la présence. Kunstseins beziehen. Tieck, seit 1811 mit S. Paris 1934. – Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Über S.s nachgelassene Schr.en u. Briefw. (1828). In: befreundet, hat das Entstehen des Erwin mit Ders.: Theorie-Werkausg. Bd. 11, Ffm. 1970, produktiver Kritik begleitet u. S.s Lehre zgl. S. 205–274. – Hermann Fricke: K. W. F. S. Bln. als Entschlüsselung seines eigenen Kunst- 1972. – Ingrid Strohschneider-Kohrs: Die romant. strebens empfunden, die ihm den Übergang Ironie in Theorie u. Gestaltung. Tüb. 21977, zu seiner späten realistischen Novellenkunst S. 185–214. – Wolfhart Henckmann: S. u. die Berebnete. liner Kunstszene. In: Kunsterfahrung u. KulturNach dem Erscheinen des Erwin – in den politik im Berlin Hegels. Hg. Otto Pöggeler u. AnGethmann-Siefert. Bonn 1983, Wirren der Kriegszeit u. der beginnenden nemarie Restauration fast unbemerkt geblieben – S. 199–228. – Ders.: Symbol. u. allegor. Kunst bei wandte sich S. der Entfaltung seiner Prinzi- K. W. F. S. In: Früher Idealismus u. Frühromantik. Hg. Walter Jaeschke u. Helmut Holzhey. Hbg. pienlehre u. seiner prakt. Philosophie zu. Im 1990, S. 214–240. – Anne Baillot: Aktualität des letzten der fünf Philosophischen Gespräche (Bln. Sophokles. Zur Übers. u. Inszenierung der ›Anti1817. Neudr. Darmst. 1972. Mikrofiche gone‹. Ein unveröffentlichter Brief v. Rudolf AbeMchn. u. a. 1990–94) entwarf er die Grund- ken an K. S. (Weimar, 1809). In: ZfdPh 120 (2001), züge seiner Philosophie. Religion, Philoso- 2, S. 161–182. – Dies.: Wie rehabilitiert man einen phie, Kunst, Sittlichkeit, also die grundle- Schriftsteller u. wozu? Das Beispiel unerschlossegenden Verhaltensweisen des Menschen in ner Briefwechsel aus dem Umkreis des Dichters der Welt, konvergieren in dem einen Prinzip Ludwig Tieck, des Philosophen K. S. u. des Histoder Offenbarung Gottes. Sie unterscheiden rikers Friedrich v. Raumer. In: Dokument / Mosich nur in der Art u. Weise, wie sie ihm nument. Textvarianz in den verschiedenen Disziplinen der europ. Germanistik. Hg. Françoise LarAusdruck u. Geltung verschaffen. Wegen der tillot u. Axel Gellhaus. Bern u. a. 2008, S. 103–126. Rückführung aller wesentl. Tätigkeiten des – Markus Ophälders: K. S. In: NDB. Menschen auf die Offenbarung ist S.s PhiloWolfhart Henckmann / Red. sophie als »Theosophie« bezeichnet worden; spekulative Theisten wie Christian Hermann Solitaire, M., eigentl.: Woldemar NürnWeisse haben sich auch ausdrücklich auf ihn berger, auch: Hilarius Bierfreund, * 1.10. berufen. In der Tat versuchte S., obwohl er 1818 Sorau/Niederlausitz, † 17.4.1869 sich als strenger Lutheraner verstand, Mystik Landsberg/Warthe. – Erzähler. u. Philosophie miteinander zu verbinden, doch sollte dies strikt methodisch durch eine S. stammt aus einer Hugenottenfamilie. Sein Dialektik erfolgen, die seiner Auffassung Vater war der preuß. Oberpostdirektor Joseph nach mit Hegels Dialektik übereinstimmte, Emil Nürnberger (1779–1848), der neben die sich nach Hegel aber in unendl. Negati- mathemat. u. physikal. Abhandlungen auch vität verlor. Als S. erkannte, dass die Philoso- Übersetzungen (Vergil, Tibull, Ovid), Erzähphischen Gespräche auf Unverständnis stießen, lungen sowie einen philosophischen Roman versuchte er seine Philosophie in einem Ma- (Still-Leben. Kempten 1839) veröffentlichte u. nifest kurz u. kunstlos zusammenzufassen. Es eine idealistische Lebensauffassung vertrat. sollte in einem zusammen mit Tieck geplan- Schon während der Gymnasialzeit in Stettin ten Journal erscheinen, aber S.s plötzl. Tod fiel S. durch poetische Versuche auf. (Diphtherie) verhinderte die method. Ent- 1838–1843 studierte er in Berlin, Leipzig u. wicklung seines Systems. Von S.s Nachgelasse- Halle Medizin (Promotion 1843). Einfluss auf nen Schriften und Briefwechsel (Hg. Ludwig sein literar. Schaffen nahmen ausgedehnte Tieck u. Friedrich von Raumer, 2 Bde., Lpz. Reisen – durch Deutschland, Holland, die 1826. Neudr. Heidelb. 1973) konnte Hegel Schweiz, Italien, Südfrankreich u. Nordafrimit Recht sagen, sie brächten S.s philosophi- ka. 1844 ließ S. sich als Arzt in Landsberg/ sche Intentionen am deutlichsten zum Aus- Warthe nieder. Fernab des literar. Betriebs druck. publizierte er in rascher Folge v. a. Novellen,

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Soltau

daneben Gedichte, Humoresken, Balladen, Soltau, Dietrich Wilhelm, * 15.3.1745 ein Lustspiel u. einen Roman. Bergedorf bei Hamburg, † 13.2.1827 LüS. steht in der Tradition nachromant. neburg. – Schriftsteller, Übersetzer. Weltschmerzdichtung. Die zeitgenöss. Kritik Der Sohn aus Bergedorfs Bürgermeisterfaschätzte seine Neigung zum Fantastischen, milie wurde zunächst in öffentl. Schulen, stieß sich jedoch an Bizarrerien des Stils, am später von Privatlehrern unterrichtet u. kam Grellen u. Schaurigen, am mitunter bis ins 1761, als Lehrling im Wollhandel, durch die Groteske gesteigerten Humor, auch an soziumfängl. Bibliothek seines Dienstherrn zualkrit. Tönen. S. galt als Nachfahre E. T. A. erst in engen Kontakt mit der schönen LiteHoffmanns u. Poes. Sein krasses Abweichen ratur. Wie später auch Goethe verliebte sich von den Darstellungsprinzipien des Poetider junge Theatergänger leidenschaftlich in schen Realismus u. ein stark pessimistischer Karoline Schulze, die Erste Schauspielerin der Zug verhinderten eine anhaltende Rezeption. Ackermann’schen Truppe Hamburg. Von InWeitere Werke: Josephus Faust. Ein Gedicht. trigen u. Gerüchten begleiteten HeiratspläBln. 1842. 21846. – Die Erben v. Schloß Sternennen begegnete der Vater 1766 mit der Enthorst / Signor Satans erste Liebe. Landsberg 1846 sendung S.s nach London, von wo aus dieser (N.n). – Charitinnen. Phantasiestücke u. Humobald nach St. Petersburg weiterreiste u. dank resken. Ebd. 1847. – Physiologie der Taverne. Ebd. 1848 (Humoreske). – Die beiden Finkenstein. Ebd. einer außerordentl. Sprachbegabung erfolg1851 (Lustsp.). – Bilder der Nacht. Balladen, Not- reich im Handel tätig wurde. Eine Teilhabe turnos, Romanzen. Ebd. 1851. – Die Tragödie auf brachte 1787 den wirtschaftl. u. gesellschaftl. der Klippe. Ebd. 1853 (N.). – Die Fahrt zur Königin Aufstieg: Als Mitgl. mehrerer Gesellschaften, v. Britania. Ebd. 1854 (N.). – Celestens Hochzeits- Clubs u. Logen gründete S. durch Heirat mit nacht. Ein ländl. Gemälde. Lpz. 1854. – Alte Bilder der jungen Rigaerin Agathe König einen in neuen Rahmen. Landsberg 1855. – Der Gang wohlhabenden Hausstand. Nach dem Tod zum Leman. Lpz. 1855 (Reisebilder). – Dunkler Katharinas der Großen kehrte das Ehepaar Wald u. gelbe Düne. Zwei N.n. Ebd. 1855. – Ko- nach Deutschland zurück, wo sich S., seit ralla. Eine humorist. Stadtgesch. Ebd. 1856. – 1798 als Privatier, seit 1801 als Dr. phil., seit Trauter Heerd u. fremde Woge. Ebd. 1856 (Seeno1814 als Ratmann in Lüneburg ausschließlich vellen). – E.en bei Nacht. Ebd. 1858. – Das braune literar. Tätigkeiten widmete. Buch. Ebd. 1859 (Reiseerzählungen). – E.en bei S.s Bedeutung verdankt sich vornehmlich Licht. Ebd. 1860. – Diana Diaphana oder die Gesch. seinen Leistungen als Übersetzer; er »muß als des Alchymisten Imbecill Kätzlein. Roman in drei Bdn. Nordhausen 1863. – E.en bei Mondenschein. solcher neben August Wilhelm v. Schlegel [...] mit Ehren genannt werden« (Friedrich Lpz. 1865. Literatur: Adolf Stern: M. S. Eine krit. Skizze. Brandes). S. machte zahlreiche, z.T. zentrale Lpz. 1865. – Edgar Hampe: Der Pessimismus M. S.s Texte aus dem Spanischen (nach Cervantes: (1818–69). Diss. Bln. 1937. Neudr. Nendeln/Liech- Der sinnreiche Junker Don Quixote von La Mancha. tenstein 1967. – Eckhardt Meyer-Krentler: ›Unterm Königsb. 1800. Lehrreiche Erzählungen. Ebd. Strich‹. Literar. Markt, Trivialität u. Romankunst 1801), Italienischen (Das Decameron des Boccain Raabes ›Der Lar‹. Paderb. 1986, S. 38–43. – Eric ccio. 3 Bde., Bln. 1803) u. Englischen (nach Blackall: Woldemar Nürnberger and his ›Faust‹. In: Samuel Butler: Hudibras frey verteutscht. Riga London German Studies 4 (1992), S. 166–182. – 1787) neu zugänglich. Seine – in der NachMartin A. Völker: Das bürgerl. Haus u. seine folge von Bearbeitungen durch Gottsched u. monströsen Dependancen. Raumphantasien bei Joseph Emil Nürnberger u. Woldemar Nürnberger. Goethe stehende – Übertragung des 1498 in In: Utop. Räume [...]. Hg. Thomas Le Blanc. Lübeck gedruckten mittelniederdt. Tierepos Wetzlar 2008, S. 139–158. – Robert Piotrowski: Reinke de Voss ins Hochdeutsche (Reineke Fuchs. Znamienitos´ci Landsbergu / Landsberger Be- Bln. 1803. Zuletzt u. d. T. Reinke der Fuchs. Hg. rühmtheiten: Joseph Emil Nürnberger Kurt Batt. Augsb. 2003) ist noch heute (1779–1848), Woldemar Nürnberger (1817–1869). Richtschnur u. Anregung (etwa für Heinz Gorzów Wielkopolski 2009. Pantziers Reinke de Voss [...] in hüt sproken Platt Eckhardt Meyer-Krentler † / Red. nadicht [...]. Bln. 2009).

Sombart

Zu S.s insgesamt weniger erfolgreichen Eigenproduktionen zählen u. a. der Gedichtband Pfauenfedern (Hbg. 1800), die Beyträge zur Berichtigung des Adelungschen grammatisch-kritischen Wörterbuchs (Lpz. 1806; Adelung selbst hatte bei der Neuauflage auf vorangegangene Anregungen nicht reagiert) sowie die Briefe über Rußland und dessen Bewohner (Bln. 1811). Die Bibliothek des Museums für Bergedorf und die Vierlande beherbergt S.s unveröffentlichte Lebenserinnerungen. Weitere Werke (Auswahl): Übersetzungen: John Macdonald: Reise durch Schottland, seine Inseln, Dänemark u. einen Theil v. Dtschld. Lpz. 1808. – Charles James Fox: Gesch. der früheren Regierungszeit James des Zweyten. Hbg. 1810. – Gesch. der Entdeckungen u. Eroberungen der Portugiesen im Orient, vom Jahr 1415 bis 1539 nach Anleitung der Asia des João de Barros. Braunschw. 1821. – Robert Dodsley: Lebensweisheit für alle Stände. Ebd. 1822. Literatur: Umfangreiche Dokumentation von Leben u. Werk, ferner Hyperlinks zu Volltextversionen unter www.soltauhaus.de. – Goedeke. – Friedrich Brandes: D. W. S. In: ADB. – John L. Flood: D. W. S. u. seine Übers.en des ›Reynke de Vos‹. Ein Beitr. zur Erforschung der dt.-engl. Literaturbeziehungen um 1800. In: AGB 45 (1996), S. 283–336. – Bardo Metzger: D. W. S. Zwischen Ratio u. Leidenschaft. In: Neuer Schlosskalender 9 (2010), S. 13–18. Kathrin Klohs

Sombart, Werner, * 19.1.1863 Ermsleben/ Harz, † 18.5.1941 Berlin. – Nationalökonom. Der Sohn des evang. Rittergutsbesitzers u. Zuckerindustriellen, Nationalliberalen u. Mitbegründers des Vereins für Socialpolitik, Anton Sombart, promovierte 1888 in Berlin bei Gustav Schmoller mit der sozialökonomischen Studie Die römische Campagna (Lpz. 1888). S. war zwei Jahre Syndikus der Handelskammer in Bremen, dann a. o. Prof. für Wirtschaftswissenschaften in Breslau; 1906–1940 lehrte er an der Handelshochschule in Berlin, seit 1917 zusätzlich als Ordinarius an der Berliner Universität. 1909 war er Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. S.s wissenschaftl. Werk lässt sich nicht einer einzigen Disziplin zuordnen. Zeitlebens

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galt sein Hauptinteresse der Entwicklung u. dem aktuellen Stand des Verhältnisses von Wirtschaft u. Gesellschaftsstruktur. In dem aus Vorträgen entstandenen u. mehrfach umgearbeiteten Werk Socialismus und sociale Bewegung im 19. Jahrhundert (Jena 1896. Zuletzt u. d. T. Deutscher Sozialismus. Bln. 1934) beschäftigte sich S. als erster Nichtsozialist – wenngleich anfangs mit den Marx’schen Ideen sympathisierend u. mit Friedrich Engels korrespondierend – mit Marx’ Werk. In seiner Darstellung der treibenden Kräfte, der Organisationsformen u. der Ziele der Arbeiterbewegung fand S. zu eindrucksvollen Formulierungen zum Solidaritätsgefühl, zur Agitation der Parteiführer u. zur Massenpsychologie. In seiner Auseinandersetzung mit dem zentralen Strukturmerkmal der europ. Geschichte, dem Kapitalismus, gab S. seinen urspr. Ansatz von der Grundrentenakkumulation bald auf, betonte das »kapitalistische Interesse« u. das »Verwertungsstreben des Kapitals« als die wichtigsten Impulse der ökonomischen Entwicklung u. gelangte schließlich zu einer imponierenden historisch-systemat. Darstellung des europ. Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart (Der moderne Kapitalismus. 2 Bde., Lpz. 1902. Bd. 3, Mchn. 1927. Neudr. 1987). Zum »kapitalistischen Geist« gehörte für S. außer der innovationsorientierten Figur des Unternehmers u. der sich immer mehr rationalen Ansprüchen öffnenden Umwelt v. a. der »Bürgergeist« als Chiffre für einen unerlässl. ökonomisch-gesellschaftl. Tugendkatalog. S. übersah die Einbindung der Wirtschaft in den allg. polit. Kontext. Ihm lag wenig an den modernen Wirtschaftswissenschaften, da er aufgrund seines Methodenverständnisses die Wirtschaft als Gebiet der Kultur begriff u. den Kapitalismus als Studienobjekt den Geisteswissenschaften zuordnete. In der Weimarer Republik wandelte er sich zum Sozialreformer. Die von ihm favorisierte Mittelstandsideologie u. sein Bekenntnis zum Führertum, zum Bauernstand u. zur Volksgemeinschaft machten ihn für die Nationalsozialisten interessant, von denen er sich jedoch bald distanzierte. Er konnte aber nicht verhindern, dass sein Buch Die Juden und

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das Wirtschaftsleben (Mchn. 1911) für antisemitische Propaganda benutzt wurde. Weitere Werke: Die dt. Volkswirtschaft im 19. Jh. Bln. 1903. Darmst. 81954. – Das Lebenswerk v. Karl Marx. Jena 1909. – Der Bourgeois. Mchn. 1913. Neudr. Reinb. 1988. – Luxus u. Kapitalismus. Mchn. 1922. – Die drei Nationalökonomien. Ebd. 1930. Literatur: Bibliografie/Materialien/Aufsätze in: S.s ›Moderner Kapitalismus‹. Hg. Bernhard vom Brocke. Mchn. 1987. – Weitere Titel: Werner Krause: W. S.s Weg vom Kathedersozialismus zum Faschismus. Bln./DDR 1962. – Leopold v. Wiese u. a.: W. S. In: Lebensbilder großer Nationalökonomen. Hg. Horst Claus Recktenwald. Köln 1965, S. 449–465. – B. vom Brocke: W. S. In: Dt. Historiker. Hg. HansUlrich Wehler. Bd. 5. Gött. 1972, S. 130–148. – Claus Dieter Krohn: Wirtschaftstheorien als polit. Interessen. Die akadem. Nationalökonomie in Dtschld. 1918–33. Ffm. 1981. – Dieter Krüger: Nationalökonomen im wilhelmin. Dtschld. Gött. 1983. – Alfred E. Ott u. a.: Gesch. der theoret. Volkswirtschaftslehre. Ebd. 1985. – Michael Appel: W. S. Historiker u. Theoretiker des modernen Kapitalismus. Marburg 1992. – Friedrich Lenger: W. S. 1863–1941. Eine Biogr. Mchn. 1994. – Konrad Fuchs: W. S. In: Bautz. – Jürgen G. Backhaus (Hg.): W. S. (1863–1941) – Social Scientist. 3 Bde., Marburg 1996. – Tim Genett: Comeback des ersten Starsoziologen? Reflexionen zu W. S. In: Initial 9 (1998), 1, S. 90–104. – J. Backhaus (Hg.): W. S. (1863–1941) – Klassiker der Sozialwiss.en. Eine krit. Bestandsaufnahme. Marburg 2000. – Joachim Zweynert u. Daniel Riniker: W. S. in Rußland. Ein vergessenes Kapitel seiner Lebens- u. Wirkungsgesch. Marburg 2004. – Robin Archer: Labour Politics in the New World: W. S. and the United States. In: The Journal of Industrial Relations 49 (2007), 4, S. 459–482. – F. Lenger: Sozialwiss. um 1900. Studien zu W. S. u. einigen seiner Zeitgenossen. Ffm. u. a. 2009. – Ders.: W. S. In: NDB. Michael Behnen / Red.

Sommer

Tante wahrgenommen hatte, aufgegeben, damit S. den kranken Vater pflegen konnte; sehr jung wurde sie mit dem seyn-berleburgischen Kabinettsrat Sommer in Berleburg verheiratet u. war bald Mutter von zehn Kindern, von denen drei früh starben. Neben ihrer Arbeit im Haushalt schrieb sie nachts die ihr oft unverständl. Akten ihres Mannes ab, um Kosten für einen Schreiber zu sparen. Verwitwet konnte sie nur durch die Wohltätigkeit von Verwandten u. Freunden überleben. 1806 heiratete S. den Regierungsrat Friedrich August Jost, trennte sich jedoch nach kurzer Zeit von ihm u. lebte bei ihren Kindern v. a. in Marburg u. Frankfurt/O. S. veröffentlichte u. a. in Wielands »Neuem Teutschen Merkur« u. im »Morgenblatt« Miszellen u. Gedichte, in denen sie sich vorrangig religiösen Themen u. Naturbetrachtungen widmete. Sie selbst sah in ihren poetischen Versuchen, zu denen sie von Schubart u. Goeckingk ermuntert wurde, einen Ausweg aus ihrem mit Arbeit u. Trostlosigkeit erfüllten Dasein. Weitere Werke: Poetische Versuche. Marburg 1806. – Gedichte. Ffm. 1813. Literatur: Carl Wilhelm Otto August Schindel: Die dt. Schriftstellerinnen des 19. Jh. Bd. 3, Lpz. 1825. – Franz Brümmer: Dt. Dichterlexikon. Bd. 2. Eichstätt/Stgt. 1877. – Westf. Autorenlex. 1 (1993), S. 365 f. – Regina Hartmann: Schreiben an die Heimat. E. S. – eine Dichterin aus Pommern. In: Balt. Studien 80 (1994), S. 93–104. – E. S. In: Marieta Nößler: Frauen in der Stralsunder Stadtgesch. Stralsund 1998, S. 101 f. – Kosch. – Claudia Buffagni u. Renata Gambino (Hg.): Poetesse tedesche del tempo romantico. Firenze 2004. Sabine Lorenz / Red.

Sommer, Elise, geb. Brandenburg, * 1767 Stralsund, Todesjahr u. -ort unbekannt. – Verfasserin von Gedichten u. Prosatexten.

Sommer, Ernst, auch: Erich Simm, Max Morse, * 29.10.1888 Iglau/Mähren, † 20.10.1955 London. – Erzähler, Romancier.

S.s Lebensbeschreibung, die sie ihrer letzten Veröffentlichung, Gedichte und prosaische Aufsätze (mit einem Vorw. von Karl Wilhelm Justi. Züllichau 1833), vorangestellt hat, vermittelt den typischen Lebensweg einer Frau ihrer Herkunft u. Ausbildung im 18. u. frühen 19. Jh.: Nach dem Tod der Mutter wurde ihre Erziehung, die eine in Stralsund lebende

Als Jurastudent in Wien (1909–1912) setzte sich S. in seinem autobiogr. Roman Gideons Auszug (Wien [1912]) mit dem Zionismus auseinander. Von Karl Kraus beeinflusst ist seine justizkrit. Groteske Der Fall des Bezirksrichters Fröhlich (1913. Reichenberg 1922). Nach seiner Militärzeit erschien 1919 in der Zeitschrift »Der Jude« S.s Essay Sieg der Seele,

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in dem er die Philosophie Martin Bubers re- Stimmen aus Böhmen. Die deutschsprachige Emizipiert. Die Novelle Der Aufruhr (Wien/Prag/ gration aus der Tschechoslowakei in GroßbritanLpz. 1920), die das Phänomen der Massen- nien nach 1938. In: Drehscheibe Prag. Hg. Peter hysterie behandelt, ist ein wichtiger Beitrag Becher. Mchn. 1992, S. 165–180. – Stefan Bauer: Ein böhm. Jude im Exil. Der Schriftsteller E. S. zum literar. Expressionismus. Seit 1920 war Mchn. 1995. – Christoph Haacker: Kampf ums S. Anwalt in Karlsbad u. beschäftigte sich mit Recht. Widerstand gegen staatl. Unrecht und jurist. kulturpolit. Fragen. Der Versuch, durch die Willkür in Leben u. Werk v. E. S. In: Dt. Autoren Zeitschrift »Die Provinz« (hg. 1924 zus. mit des Ostens als Gegner u. Opfer des NationalsoziaBruno Adler u. Ernst Bergauer) die dt.- lismus. Hg. Frank-Lothar Kroll. Bln. 2000, tschech. Freundschaft zu stärken, scheiterte. S. 239–267. – Jürgen C. Thöming: Polit. Signale in Zu Beginn der 1930er Jahre begann S. an- E. S.s Erzähltexten während der Ersten tschechosspruchsvolle histor. Romane zu schreiben, die lowak. Republik. In: Deutschböhm. Lit. Hg. Ingeverdeckt die Zeitgeschichte kommentierten borg Fiala-Fürst. Olmütz 2001, S. 297–306. – Andreas Herzog: Ludwig Strauß u. E. S. als Vertreter (Die Templer. Bln. 1935. Wuppertal 2006. Botder jüd. Renaissance. Ein Beitr. zur Buber-Rezepschaft aus Granada. Mährisch-Ostrau 1937. tion. In: Jüd. Identitäten in Mitteleuropa. Hg. ArWien 1987). Als Jude u. Sozialdemokrat nach min A. Wallas. Tüb. 2002, S. 47–60. – C. Haacker: dem Münchner Abkommen doppelt gefähr- E. S. – Dt. Jude, tschech. Patriot u. Anti-Österreidet, ging er 1938 ins Exil nach England. Dort cher? Zu E. S.s Bild v. Österr. im engl. Exil. In: Jb. versuchte er, die tschechoslowak. Exilregie- Dokumentationsarchiv des österr. Widerstandes rung mit historisch-literar. Werken (Into Exile. (2003), S. 83–95. – Ders.: E. S. In: NDB. Stefan Bauer / Red. London 1943) u. publizistischen Beiträgen zu unterstützen. S.s berühmtester Roman Revolte der Heiligen (Mexiko 1944. Bln./SBZ 1946. Bln. Sommer, Harald, * 12.12.1935 Graz. – 2005. U. d. T. Revolte der Wehrlosen. Wien 1948) Dramatiker u. Hörspielautor. entstand aufgrund der ersten Meldungen vom Schicksal der Juden im sog. General- S. begann 1953, zunächst erfolglos, Hörspiele gouvernement. Er beschreibt den heldenhaf- zu schreiben u. arbeitete, unter finanziellem ten, aber aussichtslosen Aufstand in einem Druck stehend, in verschiedenen Berufen. S.s dramat. Konzeption, die ihre Wurzeln Konzentrationslager. Der Roman wurde in bei Ödön von Horváth, Ludwig Anzengruber, zahlreiche Sprachen übersetzt u. erreichte in Ibsen, O’Neill u. Karl Kraus hat, ist poleder SBZ/DDR hohe Auflagen. Dort fanden misch-agitatorische Ideologiekritik. Die Traauch S.s histor. Werke Beachtung (Die Sendung Thomas Münzers. Bln./SBZ 1948. Villon. Bln./ dition der österr. Sprachkritik u. -skepsis, DDR 1949), während in Westdeutschland Elemente des Naturalismus, des Volksstücks seine literar. Anerkennung ausblieb. S. war werden auf der Ebene einer z. T. bis ins Sureiner der ersten deutschsprachigen Autoren, reale gesteigerten, durch Dialektgestaltung forcierten Dramatik verarbeitet. Die Zersetderen Werke nach 1945 ins Tschechische zung von Sprache als Spiegel eines »falschen« übersetzt wurden; dennoch scheiterte die Bewusstseins sowie Sprachklischees u. -schageplante Rückkehr in die Tschechoslowakei. blonen sind der Hauptgrund der Kommuni1951 wurde S. brit. Staatsbürger. kationsstörung, der die Figuren unterliegen. Weitere Werke: Erpresser aus Verirrung. Wien S.s umstrittenstes Dialekt- u. Milieudrama, 1947 (R.). – Das Fräulein v. Paradis. Nürnb. 1951 Ein unheimlich starker Abgang (A unhamlich (R.). – Doktor Rabelais. Ebd. 1953. – Antinous oder Die Reise eines Kaisers. Rudolstadt 1955. Bln. 2005 schtorka Obgaung. Urauff. Graz 1970. Mchn. (R.). – Das Leben ist die Fülle, nicht die Zeit. Por- 1974), erarbeitet aus dem bereits 1959 entträtstudie Ulrich v. Huttens. Bln. 1955. – Der Auf- standenen Einakter Die Leut (Die Leit. Urauff. Graz 1969; Dramatikerpreis des Steirischen ruhr u. a. ausgew. Prosa. Wiesb. 1976. Literatur: Veˇra Machácˇková-Riegerová: E. S. Herbstes), zeichnet die Entwicklung der AuLeben u. Werk. Prag 1969. – Hans J. Schütz: E. S. ßenseiterin Sonja, die von der Mutter ins In: Ders.: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen‹. Heim abgeschoben, vom Freund ausgenutzt, Mchn. 1988, S. 245–250, 328 f. – Jennifer Taylor: betrogen u. zur Prostitution getrieben wird.

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Mord wird zum einzig mögl. Akt der Befreiung. Auch in dem ironisch betitelten Stück Ich betone, daß ich nicht das geringste an der Regierung auszusetzen habe (Urauff. Wien 1973. In: manuskripte, H. 42, 1974) zeigt sich der Verlust menschl. Kommunikation als Verlust von Humanität. Weitere Werke: Stücke: Die Hure Gerhild. Urauff. Ffm. 1971. In: manuskripte. H. 29 (1970). – Triki-Traki. Urauff. Ffm. 1971. – Der Sommer am Neusiedler See. Urauff. Mchn. 1971. – Das Stück mit dem Hammer. Urauff. Köln 1973. – Scheiß Napoleon. Mchn. 1975. – Die Gemeindewohnung. Urauff. Graz 1984. – Hörspiele: Wahnsinnig traurig. ORF 1984. – Alles im Eimer. ORF 1987. – Alles in Butter. ORF 1989. – RES PUBLIKA. ORF 1990. Literatur: J. Mathias Waberschek: H. S. In: KLG. – Jutta Landa: Bürgerl. Schocktheater. Ffm. 1988. Gabriela Walde

Sommer, Johannes, * 1542 Pirna/Sachsen, † 8.8.1574 Klausenburg (Cluj/Siebenbürgen. – Neulateinischer Dichter u. religiöser Dissident (Antitrinitarier).

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er sich fortan in Schriften u. Stellungnahmen, auch in der Umarbeitung (1566) eines Buches des ital. Humanisten Jacobus Acontius, bekannte. Im Kreis der publizistisch produktiven Antitrinitarier von Klausenburg (dort seit 1570) wandte sich S. auch gegen die orthodoxe Prädestinationslehre u. das Dogma der Erbsünde. Sein Werk u. Wirken gehören zum großen Erbe der unitar. Strömungen u. repräsentieren den in Ungarn weiterentwickelten, auch heute noch vitalen Flügel des Reformationshumanismus. In diesem Kontext wurde S. auch in Gottfried Arnolds wegweisender Unpartheiischer Kirchen- und Ketzerhistorie (1741) behandelt. Als Dichter verkörpert er den mittlerweile oft vergessenen Kreis des siebenbürg. Humanismus – zusammen mit Autoren wie z.B. Johannes Honter (1498–1549) u. Christian Schesaeus (ca. 1535–1585). Ausgabe: De Clade Moldavica Elegiae XV. Vita Jacobi Basilici Heraclidis Despotae. Hg., übers., komm. u. eingel. v. Lore Poelchau. Heidelb. 2001. Literatur: Johannes Petrus Lotichius: Bibliotheca Poetica. Pars Quarta. Ffm. 1628, S. 118–120. – Joseph Trausch: Schriftsteller-Lexikon der Siebenbürger Deutschen. Bd. 3, Kronstadt 1871, S. 319–324. – Hans Petri: J. S., ein sächs. Humanist u. Theologe des 16. Jh. In: Siebenbürgische Vjs. 58 (1935), S. 296–304. – Hermann Schuller: J. S. (1542–1574). Leben u. Wirken eines südostdt. Humanisten. In: ebd. 64 (1941), S. 38–60, 126–135. – Antal Pirnát: Der antitrinitar. Humanist J. S. u. seine Tätigkeit in Klausenburg. In: Renaissance u. Humanismus in Osteuropa. Hg. Johannes Irmscher. Bln. 1962, S. 49–60. – János Kaldos u. Mihály Balázs (Bearb.): Ungarländ. Antitrinitarier. 2 Bde., Baden-Baden/Bouxwiller 1990–93. – M. Balázs: Early Transsylvanian Antitrinitarism (1566–1571). From Servet to Palaeologus. Baden-Baden 1996, S. 191–216. – Lore Poelchau: J. S. (1542–1574). In: Humanistica Lovaniensia 46 (1997), S. 182–239. – Die dt. Lit. Siebenbürgens v. den Anfängen bis 1848. 1. Halbbd. Hg. Joachim Wittstock u. a. Mchn. 1997, bes. S. 177–187. Wilhelm Kühlmann

S. besuchte die Fürstenschule von St. Afra zu Meißen, studierte kurzfristig (Sommersemester 1562) in Frankfurt/Oder, trat dann als Sekretär in den Dienst des Fürsten der Moldau, Jacobus Basilicus Heraclides, der ihn 1563 mit der Leitung der Lateinschule in Cotnari betraute. Nach der Vertreibung des Fürsten wirkte er 1565–67 als Rektor des Gymnasiums im siebenbürg. Kronstadt (Bras¸ ov), wo als sein erstes größeres poetisches Werk ein Zyklus mit literar. Porträts der ungarischen Könige entstand (Reges Hungarici). In Bistritz (Bistrit¸ a, Nordsiebenbürgen), dort Schulrektor 1567, bedichtete er das Schicksal des Heraclides u. der Region in einem ästhetisch anspruchsvollen Zyklus von 15 Elegien (De Clade Moldavica. Postum Wittenb. 1580). Seines früheren Dienstherren, des Fürsten Heraclides, gedachte S. auch in einer umfassenden Lebensbeschreibung (Vita. Wittenb. Sommer, Johannes, auch: Huldrichus 1572. Hg. Petrus Albinus. Nachdr. Budapest Therander, J. Olorinus Variscus, * 1559 1987). Schon bald näherte sich S. in seinen Zwickau, † 16.10.1622 Osterweddingen. religiösen Überzeugungen den von allen – Pastor, Übersetzer, Schriftsteller. Konfessionen verketzerten, jedoch von Johann Sigismund, dem Fürsten von Sieben- Nach dem Studium wurde S. Konventuale u. bürgen, tolerierten Antitrinitariern, zu denen Lehrer im Kloster Berge bei Magdeburg. Ab

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1598 verwaltete er die zum Kloster gehörende Ralf-Georg Bogner: Übers. als Ent-Distanzierung. Johann Gerhards ›Meditationes sacrae‹ in der dt. Pfarre zu Osterweddingen. S. trat zunächst als Übersetzer vor allem lat. Version v. J. S. (Olorinus Variscus). In: Jb. Int. Germ. Dramen hervor. Ein zweiter Schwerpunkt 29 (1997), S. 159–175. – Hans-Jürgen Bachorski: Ersticktes Lachen. Johann S.s Fazetiensammlung seines Schaffens lag auf literar. Kleinformen. ›Emplastrum Cornelianum‹. In: Kom. GegenwelEr gab u. a. Sammlungen von Leberreimen ten. Lachen u. Lit. in MA u. Früher Neuzeit. Hg. (Hepatologia Hieroglyphia rhythmica. Magdeb. Werner Röcke u. Helga Neumann. Paderb. u. a. 1605), Schwänken (Emplastrum Cornelianum. 1999, S. 103–122. – Michael Schilling: Hose oder o. O. 1605), Sprichwörtern (Paroemiologia Ger- Schürze. Der Streit der Geschlechter u. seine Inmanica. Magdeb. 1606) u. Rätseln (Aenigmato- szenierung in J. S.s ›Ethographia Mundi‹. In: Leben graphia rhythmica. o. O. u. J.) heraus. In seiner in der Stadt. Eine Kultur- u. Geschlechtergesch. satir. Predigt über die Martins Ganß (Magdeb. Magdeburgs. Hg. Eva Labouvie. Köln u. a. 2004, 1609; nach dem Vorbild Wolfhart Spangen- S. 137–149. – Magdalena Drexl: Weiberfeinde – Weiberfreunde? Die Querelle des femmes im Konbergs) parodiert S. kath. Heiligenlegenden u. text konfessioneller Konflikte um 1600. Ffm. u. a. prangert die Völlerei an. Die satir. Auseinan- 2006. – Nikola Roßbach: Der böse Frau. Wissensdersetzung mit Missständen bestimmt auch poetik u. Geschlecht in der Frühen Neuzeit. SulzS.s Hauptwerk Ethographia Mundi (ebd. bach (Taunus) 2009. Michael Schilling 1609–13). In der Nachfolge des Grobianus Dedekinds, der Teufelbücher u. der Geschichtklitterung Fischarts, der er zahlreiche Sommer, Sigi, eigentl.: Siegfried S., auch: Entlehnungen, v. a. aber das stilistische Blasius, * 23.8.1914 München, † 25.1. Muster mit seinen Exkursen, Häufungen, 1996 München. – Feuilletonist u. ErzähAllusionen u. Wortspielen verdankt, hält er ler. seinen Lesern einen krit. »Zeit Spiegel« vor. Der Erfolg des ersten Teils veranlasste S., drei Der Sohn eines Möbelrestaurators verbrachte weitere Teile zu veröffentlichen, deren zwei die ersten Jahre seines Lebens bei einer in Steinkirchen/Niederbayern. satirisch die geschlechterspezif. Stereotypen Familie ihrer Zeit vorführen, während die abschlie- 1928–1931 machte er eine Lehre als Elektroßende Geldklage das Laster der Habgier be- techniker. Im Dez. 1937 erschien seine erste Veröffentlichung, die Kurzgeschichte Der handelt. Bart, in der Zeitschrift »Jugend«. Nach der Weitere Werke: Bul- oder Bindbrieff. o. O. Teilnahme am Zweiten Weltkrieg publizierte 1606. – Pragmatologia: Gründtl. Ber. v. der löbl. Kauffmannschafft. Magdeb. 1607. – Hertzl. S. seit Nov. 1945 in der »Süddeutschen ZeiGlückwünschung [...] Christian Wilhelms [...] tung«, für die er später als Lokalreporter Ertzbischoffs zu Magdeburgk. Ebd. 1608. – Acros- u. Sportberichterstatter tätig war. Am tichis Augusta [...] Archiepiscoporum Magdebur- 21.11.1949 veröffentlichte er in ihr als »Blagensium. Ebd. 1609. – Übersetzungen: Daniel Cra- sius Blinzl« die ersten Lokalspitze u. war mer: Areteugenia. Ebd. 1602. – Ders.: Plagium. nach dem Wechsel zur »Abendzeitung« seit Ebd. 1605. – Albert Wichgreve: Cornelius Relega- 2.12.1949 Autor der Kolumne Blasius, der tus. Ebd. 1605. – Heinrich Julius v. Braunschweig- Spaziergänger, mit der er über München hinaus Lüneburg: Tragoedia H. I. B. A. L. D. E. H. A. Ebd. bekannt wurde; die letzte Kolumne erschien 1605. – Christoph Hegendorff: Encomium Ebrieam 2.1.1987 u. d. T. Schatten an der Wand. Mit tatis. Ebd. 1611. – Théodore de Bèze: Von dem seinen Lokalglossen schilderte er als erster – Recht u. Gewalt der Hohen Obrigkeit. Ebd. 1615. vor August Kühn – das unbekannte kleinLiteratur: Waldemar Kawerau: J. S.s ›Ethograbürgerl. Münchner Milieu u. zeigte, dass der phia Mundi‹. In: Vjs. für Litteraturgesch. 5 (1892), Sprachwitz der Münchner dem der Wiener S. 161–201. – Johannes Bolte: J. S. In: ADB. – Albert Wesselski: J. S.s ›Emplastrum Cornelianum‹ u. oder Berliner durchaus ebenbürtig ist. – S.s seine Quellen. In: Euph. 15 (1908), S. 1–19. – Karl Roman Und keiner weint mir nach (Mchn. 1953. Barth: J. S. Diss. Greifsw. 1922. – Winfried Schulze: Neudr. Ffm. 1987. Verfilmt 1996, Regie: JoEine dt. Übers. v. Bezas ›De jure magistratuum in seph Vilsmeier), eine Satire auf das Kleinsubditos‹ [...]. In: ARG 70 (1979), S. 302–308. – bürgertum der Vorstadt, zerstört das Klischee

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vom gemütl. Münchner. Er beschreibt den Lebensweg eines begabten Jungen u. seine aussichtslosen Versuche, aus Armut u. geistiger Enge auszubrechen. Mit den Abenteuern eines Vorstadt-Casanova, Meine 99 Bräute (ebd. 1956), versuchte S., ein optimistisches Gegenstück zu schreiben. S. erhielt u. a. den Karl-Valentin-Orden (1975) u. den Ernst-Hoferichter-Preis (1983, zus. mit Carl Borro Schwerla u. Ernst Wendt). Der vom Verleger Rolf S. Schulz gestiftete Sigi-Sommer-Literaturpreis wurde bis zu S.s Tod verliehen. 2001 stiftete die Münchner Faschingsgesellschaft Narhalla den SigiSommer-Taler als Auszeichnung für Künstler. Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Mchn.): Blasius geht durch die Stadt. 4 Bde., 1950–53. – Das Beste v. Blasius. 1953. – Das Letzte v. Blasius. 1955. – München für Anfänger. 1958. – Blasius, der letzte Fußgänger. 1960. – Ein Jahr geht durch die Stadt. 1961. – Meine 99 Stories. 1965. – Sommersprossen. 1969. – Der jüngste Tag u. weitere 63 G’schichterl. 1986. – Marile Kosemund. Ein Vorstadtstück. 1968. Urauff. 1969. – Der große Blasius. Sprüche, Aussprüche u. Reflexionen. Hg. Werner Meyer. 1996. – Erinnerungen. Hg. W. Meyer. 1996. Literatur: Werner Meyer (Hg.): Wie rasend verfliegen die Jahr. S. S. – Chronist, Journalist, Spaziergänger. Mchn. 2004 (mit Texten S.s). Christian Schwarz / Bruno Jahn

Soner, Ernst, auch: Philetus, * 1572/73 Nürnberg, † 28.9.1612 Altdorf. – Verfasser philosophischer, medizinischer u. sozinianischer Schriften. S. studierte als Sohn eines angesehenen Nürnberger Kaufmanns in Altdorf Philosophie u. Medizin, wobei seine wichtigsten akadem. Lehrer Philipp Scherbe u. Nikolaus Taurellus waren. Nachdem er 1595 unter Scherbe zum Magister promoviert worden war, tat er sich durch außergewöhnl. Leistungen hervor, weshalb er bereits 1596 kurzzeitig an der Akademie Rhetorik lehrte. Um seine Studien weiterzuführen, begab sich S. bald nach der abgeschlossenen Ausbildung auf Bildungsreise. S., der während seiner peregrinatio academica u. a. bei Joseph Justus Scaliger studierte,

erlangte bald großes Ansehen an der Leidener Hochschule. Dies führte dazu, dass sich Andreas Voidovius (ca. 1550-ca. 1622) u. Christoph Ostorod (ca. 1575–1611), die 1598 als sozinian. Missionare von Polen nach Holland gereist waren, um seine Bekanntschaft bemühten. Vermutlich war es Voidovius, der S. für den Sozinianismus gewinnen konnte. S. immatrikulierte sich auch an der Hochschule von Padua, die im ausgehenden 16. Jh. eine Hochburg des religionsfernen ital. Aristotelismus darstellte. Dass S. durch diesen beeinflusst war, zeigt seine Rezeption der Philosophie Andrea Cesalpinos (1519–1603): Auf seiner Heimreise nach Deutschland wurde S. 1601 in Basel zum Doktor der Medizin promoviert. Bereits in seiner Disputationsschrift De melancholia (Basel 1601) zitierte er den »doctissimus Caesalpinus« als Autorität. Kurz nachdem er in seine Vaterstadt Nürnberg zurückgekehrt war, um sich dort als Stadtphysikus zu etablieren, tat sich S. als Herausgeber der Bücher De metallicis (Nürnb. 1602) des Cesalpino hervor. S. hatte die Lehren Cesalpinos allerdings nicht erst in Italien kennen gelernt. Sein Lehrer Taurellus war ein verbissener Gegner Cesalpinos. Taurellus’ Kollege u. Rivale Scherbe, der S. nach seinem Tod im Juli 1605 seinen Lehrstuhl an der Altdorfer Akademie weitergab, war hingegen der Philosophie des Cesalpino verpflichtet. Der Einfluss Cesalpinos ist insbes. in S.s philosophischer Hauptschrift festzustellen, dem erst 1657 in Jena publizierten Kommentar zur Metaphysik In libros XII metaphysicos Aristotelis commentarius. Die Schrift zählt zu den bedeutendsten Leistungen der Altdorfer Scherbius-Schule. S. war zudem ein verbissener Paracelsus-Gegner. 1605 trat er sein Amt mit einer Oratio de Theophrasto Paracelso eiusque perniciosa medicina (Altdorf 1605) an. In dieser sehr polemisch gehaltenen Rede bezieht S., der die antike Humoralpathologie verteidigte, einen konservativen Standpunkt. Durch das Wirken S.s bildete sich an der Academia Norica zu Altdorf ein weitgehend studentischer Sozinianer-Zirkel, aus dem einige der bedeutendsten antitrinitar. Theologen des 17. Jh. hervorgingen. Altdorf gilt daher als eines der Zentren des Antitrinita-

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rismus im Reichsgebiet. Die Gruppierung ner in Altdorf u. Danzig im Zeitalter der Orthodowurde um 1615 durch die Obrigkeit gewalt- xie. In: Ztschr. für Ostforsch. (1970), S. 42–78. – Philosophie in Dtschld. sam aufgelöst. Zu S.s heterodoxen Werken Siegfried Wollgast: 1550–1650. Bln. 21993, Register. – Ueberweg, zählt etwa die Demonstratio Theologica & PhiloBd. 4/1–2, S. 874–879 u. Register. sophica. Quod aeterna impiorum supplicia non arMartin Schmeisser guant Dei justitiam, sed injustitiam (›Eleutheropoli‹ 1654). Dieser gegen die Lehre von der Sonka ! Sonnenschein, Hugo Ewigkeit der Höllenstrafen argumentierende Text war bes. wirkmächtig. Leibniz wollte Sonnenberg, Franz Anton Joseph Ignaz ihn veröffentlichen. Dessen Vorrede zur DeMaria Frhr. von, * 5.9.1779 Münster/ monstratio wurde erst durch Lessing in den Westfalen, † 22.11.1805 Jena. – Lyriker, Beständen der Wolfenbütteler Herzog AuEpiker. gust Bibliothek wiederentdeckt. Zudem wird S. ein deutschsprachiger »Catechismus So- Schon 1794, noch in seinen Schuljahren, entwarf S., Sohn eines Hauptmanns, nach cinianus« zugeschrieben. Weitere Werke: Disputationes de materia pri- dem Vorbild von Klopstocks Messias sein ma duae. Nürnb. 1607. – Oratio de vita contem- christl. Epos Das Weltende (Wien 1801) u. beplativa. Altdorf 1609. – Disputatio de morbis for- absichtigte, ein »Dichter der Religion zu mae sive totius substantiae. Nürnb. 1610. – Dis- werden«. Nach einem widerwillig absolvierputatio physica de motu. Altdorf 1610. – Disputatio ten Rechtsstudium in Jena führte er zunächst de morbis materiae. Nürnb. 1610. – Theses de iride ein unstetes Leben u. gelangte auf seinen coelesti. o. O. 1610. Reisen auch nach Frankreich u. in die Ausgabe: Philosophia Altdorphina, hoc est, ce- Schweiz. Wilhelm Tell u. Winkelried, die leberrimorum quorundam, in incluta Universitate Helden der eidgenöss. Befreiungsgeschichte, Altdorphina professorum, nominatim, Philippi übten eine starke Anziehungskraft auf ihn Scherbi, Ernesti Soneri, Michaelis Piccarti, dispu- aus. Wegen einer unglückl. Liebe konnte S. tationes philosophicae. Hg. Johann Paul Felwinger. kein ruhiges Leben mehr führen. Er beging Nürnb. 1644. aus Verzweiflung über sein persönl. Geschick Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – u. wohl auch aus Enttäuschung über die frz. Christophorus Sandius: Bibliotheca Anti-TrinitaSiege in den Koalitionskriegen Selbstmord. riorum [...]. Freistadt 1684. Nachdr. Warschau S. hat sich in seinem lyr. Werk mit ver1967, S. 96 f. – Georg Andreas Will: Nürnbergischiedenen Stoffen beschäftigt u. mit Vorliesches Gelehrten-Lexicon oder Beschreibung aller Nuernbergischen Gelehrten [...]. Bd. 3, Nürnb./ be die Odenform an ihnen erprobt. Er schrieb Altdorf 1757, S. 713–718. – Friedrich Samuel Bock: Liebes-, Huldigungs- u. Naturgedichte, oft Historia Antitrinitariorum [...]. Tom. 1, pars 2, mit autobiogr. Einschlag, u. fand in der phiKönigsb./Lpz. 1774, S. 894–903. – Robert Wallace: losophischen Gedankenlyrik die seinen geisAntitrinitarian Biography: sketches of the lives and tigen Bestrebungen angemessene Auswritings of distinguished antitrinitarians. Bd. 2, drucksweise. In der polit. Ode Frankreich und London 1850, S. 437–440. – Wolfgang Mährle: Teutschland, ein Basrelief an der Wiege des JahrAcademia Norica. Wissenschaft u. Bildung an der hunderts (1802) u. in Teutschlands AufersteNürnberger Hohen Schule in Altdorf (1575–1623). hungstag (1804. Beide in: Gedichte. Rudolstadt Stgt. 2000, S. 563 f. – Weitere Titel: Gustav Georg 1808) besingt er, unter Berufung auf die Zeltner: Historia Crypto-Socinismi Altorfinae mythisch überhöhte Hermannsgestalt, in eiquondam Academiae infesti Arcana. [...]. Lpz. nem patriotisch-feierl. Ton die Einheit einer 1729. 1744. Internet-Ed. in: CAMENA (Abt. CERA). – Otto Fock: Der Socinianismus nach seiner Stel- starken dt. Nation. Mit Donatoa (2 Tle., Halle lung in der Gesammtentwicklung des christl. 1806/1807) schuf S., wieder von Klopstock Geistes, nach seinem histor. Verlauf u. nach seinem abhängig, ein umfangreiches christl. Epos, Lehrbegriff. 2 Tle., Kiel 1847. Nachdr. Aalen 1970. das zwölf Gesänge in Hexametern umfasst. – Karl Braun: Der Socinianismus in Altdorf 1616. [2 Es ist ganz von eschatolog. Inhalten geprägt, Tle.]. In: Ztschr. für bayr. Kirchengesch. 1 (1933), S. 65–81, 129–150. – Domenico Caccamo: Sozinia-

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denn für S. stellte der Weltuntergang den Höhepunkt der christl. Offenbarung dar. Weitere Werke: S. Neue Miniatur-Bibl. der Dt. Classiker. Bd. 47, Hildburghausen/Philadelphia 1841. – Anth. aus den Gedichten v. J. v. S. u. Langbein. In: Familienbibl. der Dt. Classiker. 7. Supplementbd. Hildburghausen/Amsterd. 1845. Literatur: Westf. Autorenlex. 1. Hanspeter Marti / Red.

Sonnenfels, Joseph von, * wahrscheinlich 1733 Nikolsburg/Mähren, † 25.4.1817 Wien. – Kameralwissenschaftler, Justiz- u. Verwaltungsreformer, Publizist, Theatertheoretiker. S. stammte aus einer jüd. Gelehrtenfamilie: Der Großvater war Oberrabbiner in Berlin, der Vater, der sich Lipman Perlin nannte, trat 1733 als Lehrer der hebräischen Sprache in die Dienste des Fürsten Dietrichstein in Nikolsburg (heute: Mikulov). Einige Jahre später konvertierte er mit seinen drei Söhnen zum Katholizismus u. führte nun den Namen Aloys Wienner. Seit 1745 hatte er eine Magisterstelle für oriental. Sprachen an der Universität Wien inne; im Jahr darauf erhielt er den erbl. Adel mit dem Prädikat »von Sonnenfels«. Der Sohn Joseph besuchte zunächst die Lateinschule der Piaristen in Nikolsburg. In Wien musste er seine Ausbildung wegen der dürftigen Lebensverhältnisse der Familie abbrechen u. diente fünf Jahre in der österr. Armee. Während dieser Zeit trieb S. ausgedehnte autodidaktische Studien, sodass er, als er 1754 auf Fürsprache eines Gönners aus dem Militärdienst entlassen wurde, ein juristisches Studium beginnen konnte. Der literar. u. kulturpolit. Ehrgeiz S.’ zeigte sich zu Beginn der 1760er Jahre in seiner Tätigkeit für die Deutsche Gesellschaft in Wien u. in der (erfolglosen) Bewerbung um eine Dozentenstelle für Rhetorik. Aufgrund einer Denkschrift über die Förderung der Kameralwissenschaften übertrug ihm Maria Theresia 1763 eine neu begründete Professur an der Wiener Universität. In diesem Amt entfaltete S. eine umfangreiche Tätigkeit, deren bedeutendstes Zeugnis das dreibändige Lehrbuch Grundsätze der Polizey, Handlung und

Finanzwissenschaft (zuerst Wien 1765–76. Bis 1819 acht Auflagen) ist. Die staatswissenschaftl. u. ökonomischen Lehren S.’ sind weniger Resultat theoretisch-systemat. Ehrgeizes als Dokument eines politisch-prakt. Denkens, das sich in den Bahnen des aufgeklärten Absolutismus bewegt. Der pragmat. Ansatz von S.’ Staatsphilosophie zeigt sich darin, dass sie die Vergesellschaftung des Menschen auf dessen Interesse an der Verbesserung seiner materiellen Lebensumstände zurückführt. Das Verhältnis zwischen Individuum u. Staat interpretiert S. harmonistisch: »Wir suchen unser eignes Beste, indem wir das Beste des Vaterlandes suchen, wir lieben in dem Vaterlande uns selbst« (Über die Liebe des Vaterlandes. Wien 1771. Neudr. Königst. 1979, S. 13 f. Mikrofiche Mchn. u. a. 1990–94). Durch seine Lehrtätigkeit u. Publikationen, aber auch durch seine Arbeit in hohen Ämtern u. Kommissionen übte S. breiten Einfluss auf die Verwaltungspraxis u. auf die Reformbemühungen in Österreich aus. Am bekanntesten sind wohl seine Aktivitäten auf dem Feld des Strafrechts geworden, v. a. sein Kampf gegen die Folter (Über die Abschaffung der Tortur. Zürich 1775. Neudr. Ffm. 1970. Mikrofiche Mchn. u. a. 1990–94). Der Überlieferung nach hat sich Maria Theresia durch ein leidenschaftlich vorgetragenes Plädoyer S.’ zur Aufbebung der Tortur bewegen lassen. Seine administrativen Talente bewies er, als er innerhalb zweier Jahre Wien mit einer brauchbaren Straßenbeleuchtung ausstattete. 1781 übernahm S. neben seinen zahlreichen anderen Ämtern eine neu errichtete Professur für »Geschäftsstil«, deren Aufgabe es war, die in Verwaltung u. Gesetzgebung verwendete Sprache zu reinigen. Aufgrund bes. Anordnung hat S. den Texten der kaiserl. Gesetze u. Patente ihre endgültige sprachl. Form gegeben. Die im engeren Sinn literar. Ambitionen S.’ zeigen sich in seinen Wochenschriften, v. a. in den Briefen über die wienerische Schaubühne (Wien 1768. Neudr. hg. u. mit einem Nachw. von Hilde Haider-Pregler. Graz 1988. Zuletzt Münster 2009). S. bemühte sich, die volkstüml. Theatertradition Wiens zurückzudrängen u. eine gereinigte »Nationalschaubühne« durchzusetzen. Hanswurst u. Harlekin fan-

Sonnenfels

den daher vor seinen Augen keine Gnade. Um einer starken affektiven u. moralischen Wirkung willen sollte das ernste Drama seine Helden im bürgerl. Stand suchen (8. Stück, 24. Schreiben). Unverkennbar orientierte sich S. in seinen Briefen an der Hamburgischen Dramaturgie, er suchte aber wohl gerade deshalb bisweilen krit. Distanz zu Lessing, über den er sich auch in Briefen an Klotz sehr negativ äußerte. Bei seinen Bemühungen um eine Theaterreform blieb S. von stürm. Konflikten nicht verschont: Auf der Bühne des Kärntnertor-Theaters wurde er in Klemms Hanswurstiade Der auf den Parnaß versetzte grüne Hut verspottet, u. die Zensur hinderte ihn, sich dagegen öffentlich zur Wehr zu setzen. – Die wichtigste unter S.’ Moralischen Wochenschriften, ja die bedeutendste in Wien erschienene überhaupt, ist »Der Mann ohne Vorurtheil« (1765–67). Auch hier finden sich Bemerkungen zur Theaterreform u. scharfe Kritik an dem in Wien herrschenden literar. Geschmack. Daneben stehen satir. Ausfälle gegen moralische Fehlhaltungen, gegen Standesdünkel u. klerikale Machtansprüche. Ganz ungewöhnlich für Blätter dieser Art sind die Kritik an der zunftmäßigen Organisation des Handwerks (II/1, 6. Stück) u. die schonungslose Schilderung des Elends der bäuerl. Bevölkerung (II/1, 1. Stück). Es kann nicht verwundern, dass S. auch hier mit der Zensur in Konflikt geriet. So mag es paradox erscheinen, dass S. selbst wenig später das Amt des Zensors übernahm u. dass er stets ein Befürworter der staatl. Zensur blieb (vgl. z. B. »Mann ohne Vorurtheil«, II/2, 16. Stück). Grund dafür ist, dass S. in der Literatur u. im Theater ein wichtiges Instrument des Staates zur moralischen u. sprachl. Erziehung des Publikums sah. An dieser Stelle zeigt sich eine Ambivalenz, die S. als Anwalt des aufgeklärten Absolutismus mit dem System im ganzen teilte: Einerseits forderte er Rechtssicherheit, religiöse Toleranz, Humanisierung der Justiz, Hebung des Massenwohlstands u. Förderung der Künste. Andererseits hielt er an der Bevormundung der Bürger durch einen patriarchal. Obrigkeitsstaat fest. Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Wien): Ausgabe: Ges. Schr.en. 10 Bde., 1783–87. – Einzeltitel: Ankündigung einer teutschen Gesellsch. in

60 Wien. 1761. – Rede v. der Nothwendigkeit, seine Muttersprache zu bearbeiten. 1761. – Der Vertraute. Eine Wochenschr. 1765. – Theresie u. Eleonore. Eine Wochenschr. 1767. – Das weibl. Orakel. Eine Wochenschr. 1767. – Versuche in polit. u. ökonom. Ausarbeitungen. 1768. – Das Bild des Adels. Eine Rede. 1768. – Ermunterung zur Lectüre an junge Künstler. Eine Rede. 1768. – Von der Urbanität eines Künstlers. Eine Rede. 1772. – Polit. Abh.en. 1777. Neudr. Aalen 1964. – Versuch über die Grundsätze des Styls [...]. 1781. – Neuester Briefsteller auf alle Fälle, nebst einem Titularbuche. 1786. – Abh. über die Aufbebung der Wuchergesetze. 1791. – Betrachtungen [...], veranlaßt durch das Schreiben des Herrn M. an Abbé Sabatier über die frz. Republik. 1793. – Über die Ursachen der frz. Revolution [...]. In: Der Neue Teutsche Merkur, 1797, 7. Stück, S. 237–271. – Hdb. der inneren Staatsverwaltung [...]. 1798. Literatur: Karl v. Görner: Der Hanswurststreit in Wien u. J. v. S. Wien 1884. – Robert A. Kann: Kanzel u. Katheder. Studien zur österr. Geistesgesch. vom Spätbarock zur Frühromantik. Ebd. 1962. – Karl-Heinz Osterloh: J. v. S. u. die österr. Reformbewegung [...]. Lübeck/Hbg. 1970. – Leslie Bodi: Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österr. Aufklärung 1781–95. Ffm. 1977. – Barbara BeckerCantarino: J. v. S. and the development of secular education in eighteenth-century Austria. In: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 167 (1977), S. 29 ff. – Hubert Lengauer: Zur Stellung der ›Briefe über die wienerische Schaubühne‹ in der aufklärer. Dramentheorie. In: Zeman 2, S. 587–621. – Roland Kress: Une revue de l’Aufklärung viennoise: ›L’homme sans préjugés‹ de J. v. S. 1765–67. In: L’Allemagne des lumières. Hg. Pierre Grappin. Paris 1982, S. 215 ff. – Jean-Marie Valentin: J. v. S. u. das frz. Theater. In: Gallo-Germanica. Hg. ders. u. Eckhard Heftrich. Nancy 1986, S. 29 ff. – Helmut Reinalter (Hg.): J. v. S. Wien 1988. – Christopher Duffy: The military world of J. v. S. In: Das achtzehnte Jh. u. Österr. 6 (1990/91), S. 138–143. – Gerald Grimm: Die Staats- u. Bildungskonzeption J. v. S.’ u. deren Einfluß auf die österr. Schul- u. Bildungspolitik im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus. In: Staat u. Erziehung in Aufklärungsphilosophie u. Aufklärungszeit. Hg. Fritz-Peter Hager u. Dieter Jedan. Bochum 1993, S. 53–66. – Rainer Godel: Der Wilde als Aufklärer? Kulturanthropologisch vermittelte Rezeptionssteuerung in J. v. S.’ ›Mann ohne Vorurtheil‹. In: Aufklärung 14 (2002), S. 205–232. – H. Reinalter: J. v. S. In: NDB. Jürgen Jacobs / Red.

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Sonnenschein, Hugo, auch: Sonka, * 25.5.1889 Kyjov (Gaya) bei Brünn, † 20.7.1953 Mírov/CˇSSR. – Lyriker.

Sonner weltverkommenen Sonka. Lpz./Wien/Zürich 1920 (L.). – Die goldenen Ritter der Freiheit. Tgb. meiner Kuttenberger Haft. Wien 1921. – Der Bruder Sonka [...]. Bln./Wien/Lpz. 1930 (L., P.). – Nichts als Brot u. Freiheit. Prag 1935 (L.). – Zeitgeister. Ebd. 1935 (L.). – Meine slovak. Fibel. Ebd. 1935. – Der Bruder Sonka wandert nach Kalkutta. Ebd. 1937. – Schritte des Todes. Traumgedichte. Zürich 1964. Neuaufl. mit dem Untertitel: Traumgedichte aus Auschwitz. Wien 1993. – Die Fesseln meiner Brüder. Ausw. u. Nachw. v. Karl-Markus Gauß u. Josef Haslinger. Mchn. 1984. – Terrhan [...]. Nachw. v. Jürgen Serke. Aus dem Nachl. Wien/Darmst. 1988. Literatur: Jürgen Serke: Böhm. Dörfer. Wien/ Hbg. 1987, S. 344–375. – Arno Maierbrugger: Das Wort gegen die Ordnung. H. S., der vergessene Dichter. Wien 1992. – Wolf Raul: Vorschein u. Nachwehen. H. S. – Ein Dichter gerät in die Politik. In: Archiv für die Gesch. des Widerstandes u. der Arbeit 12 (1992), S. 131–139. – Dieter Wilde: Die Kategorie ›Heimat‹ im lyr. Frühwerk H. S.s. In: Brünner Beiträge zur Germanistik u. Nordistik 10 (1996), S. 55–67. – Ders.: Der Aspekt des Politischen in der frühen Lyrik H. S.s. Ffm. 2002. – Claudia Schmidhofer: ›Bruder Sonka‹. Die Figur des Vagabunden bei H. S. In: Neue Beiträge zur Germanistik 1 (2002), H. 1, S. 217–233. – Walter Fähnders u. Henning Zimpel (Hg.): Die Epoche der Vagabunden. Texte u. Bilder 1900–1945. Essen 2009. – Stefan Jordan: H. S. In: NDB. Walter Ruprechter / Red.

Die ersten Lyrikbände S.s, Närrisches Büchel (Paris 1909) u. Ichgott, Massenrausch und Ohnmacht (Paris/Wien 1910), wurden unter dem Vorwurf der Blasphemie konfisziert. Und wie seine Werke wurde auch er, deutschsprachiger mähr. Jude, der auch Tschechisch konnte, zeit seines Lebens verfolgt, unterdrückt, verleugnet u. verdrängt. Er war freilich auch ein Unbequemer, der mit Trotzki in Kontakt stand, dessen Idee der permanenten Revolution verfocht u. sich mit keiner Macht arrangieren konnte. So zog S. zwischen 1911 u. 1914 als Vagabund durch Europa. Nach dem Ersten Weltkrieg schloss er sich der kommunistischen Bewegung an, nahm an der Bildung der »Roten Garde« in Wien teil u. war Mitgl. der tschech. u. österr. KP. 1940 von der Gestapo inhaftiert, wurde er 1943 nach Auschwitz deportiert. 1945 befreit, kehrte S. nach Prag zurück, wo er von den tschech. Behörden wegen angebl. Kollaboration zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, die er nicht überlebte. Die polit. Rolle, die ihn stets auszeichnete, hat S. auch im Kulturbetrieb gespielt. So gehörte er zu den Begründern des Wiener Sonner, Franz-Maria, * 4.5.1953 Tutzing/ »Genossenschaftsverlags« 1919 u. war seit Kreis Starnberg. – Autor v. Romanen u. 1929 Geschäftsführer des Schutzverbandes Hörspielen, Herausgeber, Hörbuch-Verdeutscher Schriftsteller in Österreich. Das leger. überwiegend lyr. Werk S.s zeichnet sich durch anarchistischen Subjektivismus u. S. studierte an der Ludwig-MaximiliansSelbststilisierung aus – im Frühwerk noch als Universität München Soziologie (Diplom), Vagabund in der Nachfolge Christi, später dann Neuere dt. Literatur u. wurde mit einer bescheidener als »Bruder Sonka«. Er war ra- Arbeit über Thomas Mann promoviert (Ethik dikaler Utopist, der von einem brüderl. Reich und Körperbeherrschung. Die Verflechtung von der Vagabunden, von einer freien sozialisti- Thomas Manns Novelle ›Der Tod in Venedig‹ mit schen Gesellschaft träumte. In seinen kämp- dem zeitgenössischen intellektuellen Kräftefeld. ferischen, anklagenden, aber auch einfühlsa- Opladen 1984). Er war zeitweise Redakteur u. men Gedichten wechselt expressive Sprach- Geschäftsführer eines EDV-Verlags. Seit 1982 ist S. freier Autor u. gibt seit 1993 Multimegestik mit volksliedhaften Tönen. diaproduktionen heraus: Für die CD-ROM Weitere Werke: Ad solem. Dresden 1907 (L.). – Slovak. Lieder. Wien 1909. Wien/Bln. 1919 (L.). – Die Weiße Rose erhielt er 1995 den Spezialpreis Geuse Einsam v. Unterwegs. Wien/Lpz. 1912. – der Jury des Prix Möbius International, für Mein Becher wider die Schwere der Welt. Heidelb. Romantik u. Zeitgenössische Literatur 2001 bzw. 1914 (L.). – Erde auf Erden. Privatdr. 1915. Wien/ 2003 die Comenius-Medaille. Prag/Lpz. 1920. Neudr. Nendeln 1973 (L.). – Slovak. Heimat. Prag 1920 (L.). – Die Legende vom

Sophie Eleonore von Brauschweig-Bevern

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Ein zentrales Thema für S. ist die 68er-Be- – Früh-Stück. HR 1985. – Der Galgenvogel. BR wegung. In seinem Romandebüt Als die Beatles 1988. – Stirb, Kindchen, stirb! BR/WDR 1993 (nach Rudi Dutschke erschossen (Mchn. 1996) erlebt Ed McBains Roman ›Lullaby‹). – Moskau mon der Schüler Adrian Berlenberg die Studen- amour. BR 1994 (nach Robert Littell). – Klare Verhältnisse. BR 1997. – Die Bibliothek des Attentätenbewegung als unübersichtlichen, fasziters. BR 2004. – Herausgaben: Robert Gernhardt: nierenden gesellschaftl. Aufbruch, der mit Gernhardts ewiger Kalender. CD-ROM. Mchn. seiner Adoleszenz zusammenfällt. Als er um 1998. – Kindlers neues Literatur-Lexikon. CD1972 das Abitur ablegt, scheint beides abge- ROM. Mchn. 2000. – Kinder-Brockhaus. CD-ROM. schlossen, doch die Zukunft bleibt unüber- Mannh. 2003. – Thomas Mann: Bekenntnisse des schaubar. Die kindl. Figurenperspektive des Hochstaplers Felix Krull (zus. mit Thomas SpreIch-Erzählers erlaubt einen vordergründig cher). Mchn. 2003. – Epochenumbruch 1900. CDnaiven, jedoch authentisch-präzisen Blick, ROM. Bln./Mchn. 2004. – Werktätiger sucht üppider sich jeder auktorialen bzw. historisch ge Partnerin. Die Szene der 70er Jahre in ihren urteilenden Bewertung enthält. Die Folgeer- Kleinanzeigen. Mit Zeichnungen v. Gerhard Seyfried. Mchn. 2005. – Was war, was bleibt. Die 68er zählung Kakapo (Mchn. 1998) spielt gut 30 u. ihre Theoretiker. CD-ROM. Mchn. 2008. Jahre später auf der Geburtstagsfeier des Literatur: Hermann Ruch: F.-M. S. In: LGL. Verlegers u. Altachtundsechzigers Hagen AlJanine Ludwig feri. Die krachlederne Selbstgefälligkeit des Connaisseurs mit der dynam. Stakkato-Sprache, die oft auf Personalpronomina verzich- Sophie Eleonore von Brauschweigtet, kann kaum verbergen, dass er u. seine Bevern, * 5.3.1674 Bevern, † 14.1.1711 Gäste am Leben u. in ihren Beziehungen ge- Gandersheim. – Dichterin geistlicher Liescheitert sind. So sieht er sich als Kakapo, eine der; Kanonissin des hochadligen u. degenerierte, flugunfähige, aussterbende Pa- reichsunmittelbaren evangelischen Dapageienart. menstiftes Gandersheim. In Die Bibliothek des Attentäters (Mchn. 2001) treffen 14 Jahre nach einem Anschlag Täter u. S. E., Tochter des Herzogs Ferdinand AlJäger aufeinander: der Mörder wider Willen brecht von Braunschweig-Bevern u. Enkelin Jakob Amon u. der RAF-Spezialist Bärloch, der dichtenden u. komponierenden Herzogin Wiedergänger des einstigen BKA-Chefs Horst Sopie Elisabeth von Braunschweig-WolfenHerold. Beide sind Außenseiter u. hoffen büttel, erbte deren Interesse am geistl. Lied u. nach der Auflösung der RAF 1998 auf ein machte sich schon als Neunjährige während neues Leben. Doch Amon wird ermordet, eines längeren Aufenthalts in Bremen wodurch eine Parallelhandlung u. die Wen- (1681–1685) mit der Praxis der Kontrafaktur, dung zum Kriminalroman einsetzt. Trotz der d.h. der Dichtung auf bekannte Kirchenliedengen Realitätsbezüge – die Tatumstände des melodien, vertraut. Nach dem Tod des Vaters Anschlags gleichen dem ungeklärten Mord (1687) kam sie zur weiteren Erziehung in das am ehemaligen hess. Wirtschaftsminister Stift Gandersheim, wo sie mit dem beginHeinz Herbert Karry – ist das Buch eine fik- nenden Pietismus in Gestalt des Theologen u. tive Reflexion über Schuld u. Sühne: Wie ein späteren Gesangbuchherausgebers Johann Kaleidoskop spiegelt die durch mehrere Anastasius Freylinghausen bekannt wurde. Zeitebenen u. Textsorten springende Collage 1694 wurde sie offiziell als Kanonissin eindie Frage nach der moralischen Begründung geführt. Im Kreis ihrer Familie schrieb sie von Attentaten, der sich ausgerechnet Konrad zahlreiche in Briefen verbreitete geistl. Lieder. Im Druck erschienen anonym 1696 ihre Bärloch stellt. Geistlichen Lieder über die sieben Blutvergiessungen Weitere Werke: Mythen. Die Fünf-Minuten2 3 Enzyklopädie (zus. mit Elmar Franke). Mchn. 2005. Christi Jesu ( 1713. 1735). 1697–1699 be– Skandale. Die Fünf-Minuten-Enzyklopädie (zus. suchte sie mit ihrer Mutter Bremen u. Skanmit dems.). Mchn. 2005. – Das gute Leben. Mchn. dinavien (Reisetagebuch, Ms.). 1701–1705 ver2005 (R.). – Hörspiele: Botschaft an die Nachwelt. trat sie als Stiftsverwalterin die Dekanissin HR 1983. – Suchen Sie Paul Koslowski. WDR 1983. Marie Elisabeth von Mecklenburg-Güstrow

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Sophie Elisabeth

(Diarium, Ms.). Ihre fortgeführten geistl. Sophie Elisabeth, Herzogin von BraunLieddichtungen dienten auch stiftsinternen schweig-Lüneburg, auch: die Befreyende Gottesdiensten, z.T. mit eigenen Melodien. S. (Fruchtbringende Gesellschaft), geb. HerE. findet sich unter den drei leitenden Gan- zogin von Mecklenburg-Güstrow, * 20.8. dersheimer Stiftsdamen, denen Freylinghau- 1613 Güstrow, † 12.7.1676 Lüchow; sen sein berühmtes pietistisches Geist-reiches Grabstätte: Wolfenbüttel, Hauptkirche Gesang-Buch (Halle 1704) widmete, dessen Beatae Mariae Virginis. – Komponistin u. strikte Autoren-Anonymität eine eventuelle Schriftstellerin. Beteiligung von ihr bisher nur andeutungsAls Tochter des 1617 zum reformierten weise preisgab. Nach ihrem frühen Tod 1711 Glauben übergetretenen Herzogs Johann Algab Eberhard Finen, der Autor der ihr gebrecht von Mecklenburg-Güstrow teilte S. E. widmeten Leichenpredigt, 1713 ihre Lieddas Schicksal ihres 1629 nach der Achterklädichtungen unter ihrem Namen in Druck (Die rung u. der Belehnung Wallensteins mit den Rechte des HErrn Ein Lied im Hause Der weyland mecklenburgischen Herzogtümern exilierten Durchlauchtigsten Fürstin und Frauen Sophia Vaters. Prägend war der Einfluss der StiefEleonora Hertzogin zu Braunschweig und Lünemütter – die erste war die musik- u. sprach2 burg. Braunschw. 1713. 1735). Ihre Nähe begabte Elisabeth geb. Landgräfin von Heszum Pietismus beweisen nicht nur die Texte, sen-Kassel, Tochter von Moritz dem Gelehrsondern auch einige der angezeigten Meloten, die zweite Eleonora Maria geb. Prinzesdieverweise. G. C. Lehms (1715) verzeichnet sin von Anhalt-Bernburg, Vorsitzende der sie bereits namentlich unter den »galanten« adligen Damensozietät La Noble Académie (d.h. modernen) Poetinnen. – Der hand- des Loyales. 1629 wurde S. E. in diese Geschriftl. Nachlass befindet sich im Nieder- sellschaft aufgenommen; um 1630 trat sie der sächsischen Staatsarchiv Wolfenbüttel u. in Tugendlichen Gesellschaft als »die Gutwillider Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. ge« bei, der ihre Stiefmutter ebenfalls angeLiteratur: Johann Georg Leuckfeld: Antiquita- hörte. Von Jugend auf dichtete u. kompotes Gandersheimenses. Wolfenb. 1709. – Georg nierte S. E., sie lernte Latein, Französisch u. Christian Lehms: Teutschlands Galante Poetinnen Italienisch. 1635 heiratete sie Herzog August Mit ihren sinnreichen u. netten Proben [...]. Ffm. d.J. von Braunschweig-Lüneburg, der erst 1715. – Johann Caspar Wetzel: Histor. Lebens-Beschreibung Der berühmtesten Lieder-Dichter. 3. 1634 an die Regierung gekommen war (vgl. Tl., Herrnstadt 1724. – Johann Christoph Haren- Johann Appel: HochzeitPredigt [...]. o. O. 1636). Zunächst in Braunschweig u. seit 1643 in berg: Historia ecclesiae Gandersheimensis [...]. Hann. 1734. – Hans Goetting: Das Bistum Hildes- Wolfenbüttel nahm S. E. regen Anteil an der heim. Bd. 1: Das reichsunmttelbare Kanonissenstift Herausbildung der Hofkultur u. der ErzieGandersheim. Bln./New York 1973. – Jean M. hung der drei aus der früheren Ehe des HerWoods u. Maria Fürstenwald: Schriftstellerinnen, zogs stammenden wie auch der zwei eigenen Künstlerinnen u. gelehrte Frauen des dt. Barock. Kinder. Das bes. Interesse S. E.s galt der Stgt. 1984. – Johann Anastasius Freylinghausen Hofmusik u. der Hofkapelle. Sie korrespon(1670 Gandersheim – 1739 Halle). Lebens-Lauf eidierte mit Schütz, der ihr als Berater diente. nes pietist. Theologen u. Gesangbuchherausgebers. Die musischen Aktivitäten S. E.s waren fast Hg. Wolfgang Miersemann. Halle 2004. – Linda Maria Koldau: Frauen – Musik – Kultur. Köln u. a. immer Teil einer Gemeinschaftsarbeit. 2005. – Judith P. Aikin: Beteiligung v. Frauen am 1641–1656 arbeitete sie mit anderen Mit›geist-reichen‹ Gesang um 1700 [...]. In: ›Singt dem gliedern des Hofes an einer handschriftlich Herrn nah und fern‹. 300 Jahre Freylinghausen- überlieferten dt. Übersetzung von Teilen des sches Gesangbuch. Hg. W. Miersemann u. Gudrun frz. Schäferromans L’Astrée von Honoré Busch. Tüb. 2008. – G. Busch: Gandersheimer d’Urfé, Die Histori der Dorinde (HAB Wolfenb. ›geist-reicher Gesang‹. Das Liedschaffen der Kano- 12 Noviss 28). Auch das Verfassen bzw. nissin S. E. v. B.-B. (1674–1711). In: Pietismus im Übersetzen erbaul. Gelegenheitsgedichte war Hzgt. Wolfenbüttel. Hg. W. Miersemann u. Dieter Teil der Hofkultur, wie sie von S. E. geprägt Merzbacher (im Druck). Gudrun Busch wurde. Die handschriftl., tagebuchartigen

Sorge

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Gedichtsammlungen, die S. E. bis zu ihrem HAB Wolfenb. – Ballet der Zeit [...]. Ebd. 1655. – Tod schrieb, enthalten viele Vertonungen von Glükwünschende Waarsagung u. Ankunft der KöWerken der fürstl. Kinder u. der Mitglieder nigin Nicaulae [...]. Ebd. 1656. Ausgaben: Dichtungen. Hg. Hans-Gert Roloff. des Hofes. Der polit. Repräsentationspflicht kam S. E. in ihren Beiträgen für die Gratula- Bd. 1: Spiele. Ffm. 1980. – Internet-Ed. mehrerer tionsdrucke nach, die zu den Geburtstagen u. Werke in: dünnhaupt digital. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: zu Neujahr für Herzog August gedruckt Brandanus Daetrius: Königes Davids Hertzens-Lust wurden. Gelegenheitsgedichte lieferte S. E. u. Liebe [...]. Wolfenb. 1677 (Leichenpredigt). Inebenfalls für Publikationen aus dem Umkreis ternet-Ed. in: HAB Wolfenb. – Sammler Fürst Geder Fruchtbringenden Gesellschaft, z. B. für lehrter. Hzg. August zu Braunschweig-Lüneburg. Carl Gustav von Hilles Der teutsche Palmbaum Ebd. 1979 (Ausstellungskat.). – Hans-Gert Roloff: (Nürnb. 1647. Nachdr. Mchn. 1970) u. für Absolutismus u. Hoftheater. Das ›Freudenspiel‹ der Werke Harsdörffers. Herzogin S. E. In: Daphnis 10 (1981), S. 735–753. – Zusammen mit dem Prinzenerzieher Jus- Ders.: Die höf. Maskeraden der S. E. [...]. In: Europ. tus Georg Schottelius u. ihrem Hofmeister Hofkultur im 16. u. 17. Jh. Hg. August Buck u. a. 3 von Hille organisierte S. E. Maskeraden u. Bde., Hbg. 1981, Bd. 3, S. 489–496. – Joseph Singspiele, die in Braunschweig u. Wolfen- Leighton: Die literar. Tätigkeit der Herzogin S. E. [...]. In: ebd., S. 483–488. – Monika Hueck: Gelebüttel von der Hofgesellschaft inszeniert genheitsgedichte auf Hzg. August v. Braunwurden u. maßgeblich zur Repräsentation schweig-Lüneburg u. seine Familie. Wolfenb. 1982. Herzog Augusts als »Friedensfürsten« u. – Jean M. Woods u. Maria Fürstenwald: SchriftWolfenbüttels als Musenhof beitrugen. Die stellerinnen [...] des dt. Barock. Stgt. 1984, aktive Teilnahme der fürstl. Kinder an diesen S. 16–18. – Klaus Conermann: Die Tugendl. GeFestlichkeiten ist als Teil ihrer Erziehung zu sellsch. u. ihr Verhältnis zur Fruchtbringenden werten. Das handschriftlich überlieferte alle- Gesellsch. In: Daphnis 17 (1988), S. 513–626. – Dt. gor. Schauspiel Ein Frewden Spiell. Von dem it- Lit. v. Frauen. Hg. Gisela Brinker-Gabler. Bd. 1, zigen betrieglichen Zustande in der Welt (1656) Mchn. 1988, S. 236–240. – Sara Smart: ›Doppelte spiegelt den Widerstreit der machiavellisti- Freude der Musen‹. Wiesb. 1989, S. 51–95. – Karl Wilhelm Geck: S. E. [...] als Musikerin. Saarbr. schen u. der tugendorientierten Strömungen 1992. – Silke Ahrens: S. E. v. Braunschweig-Lüneim absolutistischen Staat. Mit ihren kultu- burg. In: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit rellen Aktivitäten übte S. E. bes. großen [...]. Hg. H.-G. Roloff. 2 Bde., Amsterd. u. a. 1997, Einfluss auf die literar. Entwicklung ihres Bd. 1, S. 291–294. – Horst Walter: S. E. In: New Stiefsohns Anton Ulrich aus, der sie mit sei- Grove, Bd. 23, S. 730 f. – Stephanie M. Hilger: She nen Singspielen u. Romanübersetzungen seit is the moon and the sun. Transgressive gender etwa 1656 als Mittelpunkt des höf. Kulturle- performances in the work of S. E. [...]. In: CG 34 (2001), S. 195–211. – Die dt. Akad. des 17. Jh. bens in Wolfenbüttel ablöste. Als Herzog August 1666 starb, zog S. E. auf Fruchtbringende Gesellsch. [...]. Hg. Klaus Conermann. R. I, Abt. A, Bd. 3, Tüb. 2003, S. 513 f. u. ihren Witwensitz nach Lüchow, wo sie sich Register. – Linda Maria Koldau: Frauen, Musik, vornehmlich ihren erbaul. Schriften u. ihren Kultur. Ein Hdb. zum dt. Sprachgebiet. Köln 2005, Kompositionen widmete. Von der Forschung Register. – K. W. Geck: S. E. In: MGG 2. Aufl. ist S. E. lange nur als Komponistin zur (Personenteil), Bd. 15 (2006), Sp. 1063–1065. Kenntnis genommen worden. Das Interesse Jill Bepler / Red. für höf. Festkultur u. Formen literar. Geselligkeit erweckt ein neues Interesse für ihre Sorge, Reinhard Johannes, * 29.1.1892 schriftstellerischen Leistungen. – Ihr Nach- Rixdorf bei Berlin, † 20.7.1916 Ablainlass befindet sich in der Herzog August Bi- court/Somme. – Dramatiker, Lyriker. bliothek in Wolfenbüttel. Weitere Werke: Glückwünschende Freüden- S. ist mit seinem Stück Der Bettler als Bedarstellung dem [...] Fürsten [...] Augusten [...]. gründer der expressionistischen Dramatik in Lüneb. 1652. Wolfenb. 21655. – Beschreibung des die Literaturgeschichte eingegangen, blieb Freuden-Festins [...]. Wolfenb. 1654. – Der Mi- aber sonst ohne Wirkung. Er wuchs zunächst nervae Banquet [...]. Ebd. 1655. Internet-Ed. in: in gutbürgerl. Verhältnissen auf, doch geriet

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die Familie nach der Erkrankung von S.s Vater in Not, sodass S. das Gymnasium verlassen musste. Er begann eine kaufmänn. Lehre, kehrte aber nach einem Zusammenbruch 1908 auf die Schule zurück. 1909 zog die Familie nach Jena, wo S. ein Jahr später das Gymnasium verließ, um als Schriftsteller zu leben. In den folgenden sechs Jahren bis zu seinem Tod entstanden in hekt. Produktion zahlreiche Werke, von denen S. zu Lebzeiten nur vier Dramen veröffentlichte; die übrigen Arbeiten erschienen postum. Das Frühwerk der Jahre 1910 u. 1911 gab S.s Frau Susanne 1925 u. d. T. Der Jüngling (Kempten) heraus. Dazu gehören neben Gedichten die von Nietzsche u. George beeinflussten szen. Skizzen Der Jüngling, Odysseus, Guntwar, Zarathustra, Prometheus u. Antichrist. In denselben Jahren schrieb S. die von Ernst Hardt beeinflussten neuromant. Gedichte Eines Narren Narrenlieder. Weitere, religiös inspirierte Jugendwerke wurden im ersten Band der Werke in drei Bänden (Hg. Hans Gerd Rötzer. Nürnb. 1962–67) veröffentlicht: die episch-dramat. Dichtung Kinder der Erde von 1908, das Trauerspiel Das Unbekannte von 1909 u. eine Ergänzung zu Lessings dramat. Fragment Spartacus von 1910. Alle frühen Arbeiten mündeten im Drama Der Bettler, Höhepunkt u. Wendepunkt in S.s Leben. Es entstand 1911, erschien 1912 bei S. Fischer (Bln. 71928. Neudr. Stgt. 1985; mit Dokumenten) u. wurde auf Vorschlag von Richard Dehmel mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet. 1917 wurde das Stück unter der Regie von Max Reinhardt am Deutschen Theater in Berlin uraufgeführt. Wie in den übrigen Werken von S. vermischen sich die Grenzen zwischen Vers u. Prosa, Realität u. Vision. Einflüsse von Strindbergs Szenentechnik u. Alfred Momberts Kosmosgefühl sind deutlich. Die Handlung u. die in drei Rollen auftretende Hauptfigur tragen autobiogr. Züge, die symbolisch überhöht werden. Der geisteskranke Vater wird vom »Sohn«, der vom eigenen Sendungsbewusstsein überzeugt ist u. als »Dichter« der Verkünder einer neuen Welt sein will, mit Gift getötet, an dem auch die Mutter stirbt. Zugleich verliebt sich der Junge als »Jüngling«

Sorge

in ein Mädchen, das ihn bedingungslos verehrt. Die ekstat. Sprache, das bekenntnishafte Streben nach Erneuerung von Kunst u. Welt, der im Elternmord auf die Spitze getriebene Generationenkonflikt: das sind die wichtigsten expressionistischen Elemente des Bettlers, die andere Autoren aufgriffen u. weiterentwickelten. Die Überwindung der Philosophie Nietzsches während der Arbeit am Bettler wurde durch den Einfluss des theosophisch orientierten Ehepaars Grönvold, das S. 1912 auf der Reise zu seinem Verleger nach Berlin kennen lernte, u. durch ein angeblich visionäres Erlebnis während eines Ferienaufenthalts auf Norderney gefördert. 1913 fuhr S. mit seiner Frau nach Rom, konvertierte zum Katholizismus u. zog nach Flüelen/Schweiz. S.s neue Religiosität wurde bereits in zwei 1913 verfassten Werken deutlich: einem weiteren Guntwar-Drama (Kempten 1914), das den Bettler autobiografisch fortsetzt, u. dem Gericht über Zarathustra (ebd. 1921). 1914 entstanden in rascher Folge hymn. Werke, in denen sich der Autor als Mittler zwischen Mensch u. Gott sieht. Von ihnen wurde nur das Schauspiel König David bei S. Fischer (Bln. 1916) zum Druck angenommen. Drei andere erschienen bei Kösel in Kempten: noch zu Lebzeiten die Mysterien Metanoeite (1915. 4 1940), postum die Gesänge Mutter der Himmel (1917) u. die Mystische Zwiesprache (1922). Das Drama Der Sieg des Christos (1924) u. die lyr. Folge Preis der Unbefleckten (1924) wurden im Leipziger Vier Quellen Verlag veröffentlicht. 1915 fasste S. den Entschluss, Priester zu werden, wurde aber als Soldat eingezogen. Verwundet, starb er auf dem Verbandsplatz Ablaincourt. Weitere Werke: R. J. S. Ausw. u. Einf. v. Martin Rockenbach. München-Gladbach 1924. – Nachgelassene Gedichte. Lpz. 1925. – Bekenntnisse u. Lobpreisungen. Mchn. 1960. Literatur: Wilhelm Spael: R. J. S. Eine erste Einf. Essen 1920. – Susanne Maria Sorge: R. J. S. Unser Weg. Mchn. 1927. – Maria Scholastika Humfeld: R. J. S. Ein Gralssucher unserer Tage. Paderb. 1929. – Hans Gerd Rötzer: R. J. S. Theorie u. Dichtung. Diss. Erlangen 1961 (mit Bibliogr. der Primär- u. Sekundärlit.). – Ders.: R. J. S. Der Dichter u. sein Auftrag. In: Stimmen der Zeit 172 (1962/63),

Soria S. 334–345. – Hans Schumacher: R. J. S. In: Expressionismus als Lit. Bern 1969, S. 560–571. – Walter Hinck: Das moderne Drama in Dtschld. Gött. 1973, S. 31–38. – Franz Norbert Mennemeier: Modernes Dt. Drama. Bd. 1, Mchn. 1973, S. 12–18. – Konrad Fuchs: R. J. S. In: Bautz. – Susanne Götz: Bettler des Wortes. Irritationen des Dramatischen bei S., Hofmannsthal u. Horváth. Ffm. u. a. 1998. Detlev Schöttker / Red.

Soria, Corinna (Pseudonym, Klarname nicht bekannt), * 1962 Salzburg. – Erzählerin, Lyrikerin.

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›lebenden‹ Autorin entsteht ein dritter, intertextueller Kommunikationsraum: »mir geht es noch immer / ich lebe / Viele Grüße über die Zeiten und Wasser hinweg / sende ich herzlich / durch das tanzende Wortgewühl«. Der Erzählband Klingen. Die Kunst über den Bogen zu springen (Klagenf. u. a. 2001) versammelt neun Geschichten um Eros u. Tod. Sprache hat sich hier insbes. am Ge- u. Misslingen der Liebe abzuarbeiten u. zu bewähren. ORTEN (Alpnach Dorf 2001) stellt sich schließlich als ein gemeinsames »lyrisches Land-Karten-Projekt« von Michael Donhauser, Jan Koneffke, Raphael Urweider, Niklaus Lenherr u. S. vor.

S. besuchte die Volksschule u. die berufsbildende höhere Schule in Kärnten; die Matura Literatur: Günther Stocker: Von der Lebenslegte sie 1987 am Gymnasium für Berufstä- notwendigkeit der Bücher. Zur kindl. Leselust in C. tige in Klagenfurt ab. An der Universität S.s ›Leben zwischen den Seiten‹. In: Lynkeus 5 Wien nahm sie das Studium der Romanistik, (2003), S. 147–155. – Bettina Rabelhofer: Der Germanistik u. Politikwissenschaft auf, das Hunger nach Wahnsinn. Zur Subkultur des psysie 1991 abschloss. Seitdem ist sie in diversen chopatholog. Unterschlupfs: Franzobel, S., Hochgatterer. In: Leiden ... Genießen. Zu Lebensformen Berufsfeldern tätig. S. lebt derzeit in Wien. u. -kulissen in der Gegenwartslit. Hg. Friedbert Mit ihrer Erstveröffentlichung Leben zwi- Aspetsberger u. Gerda E. Moser. Innsbr. u. a. 2005, schen den Seiten (Klagenf. u. a. 2000) erregte S. S. 164–182. Bettina Rabelhofer großes Aufsehen bei der Literaturkritik; 2001 erhielt sie den Rauriser Literaturpreis. Die Schilderung einer Kindheit lotet in einer ans Souchy, Augustin, eigentl.: Suchi, * 28.8. Lyrische grenzenden Sprache aus der Dop1892 Ratibor/Schlesien, † 1.1.1984 Münpelperspektive des kleinen Mädchens u. der chen. – Publizist, Journalist. späteren Erwachsenen das entbehrungsreiche Leben mit der psychotisch versehrten Mutter S., dessen Vater, ein Drechsler, zu den ersten aus. Lesen wird zum Lebenselexier – »nur Sozialdemokraten in Schlesien gehörte, zum Rhythmus der Sprache bin ich für eine durchlief in Berlin eine Ausbildung als chem. Weile aufgehoben in der Phantasie« –, u. im Laborant. 1911 lernte er Gustav Landauer Raum der eigenen Worte bildet sich Sprache kennen u. trat dessen »Sozialistischem Bund« zum Übergangsobjekt aus. Ihr ebenfalls bei. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs floh er preisgekröntes Lyrikdebut feierte S. mit dem als Kriegsdienstgegner zunächst nach ÖsterGedichtband Briefe nach Welfare Island. Lyrik reich, nach der Ausweisung 1915 nach 1985–1999 (Klagenf. 2000), dessen poetischer Schweden; 1917 wurde er wegen antimilitaSprachvollzug einer Anrufung von Sprache ristischer Propaganda ausgewiesen. Nach eigleichkommt: »Wort / Ausgesöhntestes Wort ner Odyssee durch andere skandinav. Staaten / mit Unantastbarkeiten verwandt«. Briefe, wurde er 1918 in Schweden wegen illegaler Minnelieder, Nacht- u. Taggedichte, Be- Einreise inhaftiert; während dieser Zeit verschwörungen, letzte Briefe, Liebesgedichte, fasste er u. a. Diktatur och socialism (Stockholm ›keine Gedichte‹ skandieren Orte u. Zeiten im 1919). Sehnsuchtsrhythmus einer bis in die Nischen 1919 nach Deutschland zurückgekehrt, des Unsagbaren gedehnten Sprache. Als war S. einer der führenden Köpfe der »Freien Hommage an Albert Ehrenstein bilden die Arbeiter-Union Deutschlands« (FAUD) u. arBriefe nach Welfare Island I u. II das Herzstück beitete für deren Wochenzeitung »Der Syndes Lyrikbandes. Aus der Sprache des toten dikalist«. 1920 vertrat er die FAUD beim Emigranten u. den lyr. Briefen der in Wien Komintern-Treffen in Russland, hielt sich

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Soumagne

1921 vorwiegend in Frankreich auf u. gehörte [1977]. – Erich Mühsam – su vida, su obra, su zu den Gründern der Internationalen Arbei- martirio. Barcelona 1934. Dt. Reutl. 1984. – beter Assoziation (Syndikalistische Internatio- trifft: LATEINAMERIKA. Zwischen Generälen. nale), deren Sekretär er bis 1933 war. Ende Campesinos u. Revolutionären. 20 Jahre Erfahrungen u. Lehren. Ebd. 1974. – Anarchistischer Sozia1921 aus Frankreich ausgewiesen, wurde er lismus. Hg. Hans Jürgen Degen u. Jochen KnobRedakteur des »Syndikalist«. Nach dem lauch. Münster 2010. – Übersetzung: Han Ryner: Reichstagsbrand 1933 floh er nach Frank- Nelti. Bln. 1930. Neuausg. Mit einem Nachw. von reich, unternahm Vortragsreisen nach Jürgen Mümken. Lich 2008. Schweden u. Spanien u. war 1936–1939 in Literatur: Ulrich Klan u. Dieter Nelles: ›Es lebt Spanien Leiter der Außeninformationsstelle noch eine Flamme‹. Rheinische Anarcho-Syndikader Confederación Nacional del Trabajo. Der listen/-innen in der Weimarer Republik u. im FaErlebnisbericht Nacht über Spanien. Bürgerkrieg schismus. 2., überarb. Aufl. Grafenau-Döffingen und Revolution in Spanien (Darmst. o. J. [ca. 1990. – Hans Manfred Bock: Syndikalismus u. 1953]. Überarb. Neuausg. Aschaffenburg Linkskommunismus v. 1918 bis 1923. Ein Beitr. 2007. U. d. T. Anarcho-Syndikalisten über Bür- zur Sozial- u. Ideengesch. der frühen Weimarer Republik. Darmst. 1993. – Hartmut Rübner: Freigerkrieg und Revolution in Spanien. Darmst. heit u. Brot. Die Freie Arbeiter-Union Deutsch1969) zeugt von seiner genauen Kenntnis lands. Eine Studie zur Gesch. des AnarchosyndiSpaniens u. ist eine unentbehrl. Darstellung kalismus. Bln./Köln 1994. – Wolfgang Haug: ›Ohne des Spanischen Bürgerkriegs aus anarchisti- Toleranz gibt es keine Freiheit‹. In: A. S.: Nacht scher Sicht. über Spanien, 2007 (s. o.), S. 3–10. – Hans DiefenBei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bacher: A. S. In: NDB. Bruno Jahn wurde S. in Frankreich interniert. 1941 aus einem Internierungslager in der Bretagne Soumagne, Ludwig, * 11.6.1927 Norf bei entkommen, führte ihn der Weg in sein neues Neuss, † 22.10.2003 Neuss. – Lyriker, Exil 1942 nach Mexiko, wo er als Journalist u. Hörspielautor. als Beauftragter des Unterrichtsministeriums arbeitete (Mexiko – Land der Revolutionen. Mit- Nach Oberrealschule, Arbeitsdienst, Kriegsteilungen von 1942 bis 1976. Hg. Jochen Knob- einsatz u. Gefangenschaft lebte S. als Bälauch. Bln. 2008). Seit 1949 unternahm S. ckermeister in seinem Heimatdorf. Als zahlreiche Studien- u. Vortragsreisen in Län- Schriftsteller trat er, der selbst Hochdeutsch dern Amerikas, Europas u. in Israel, ehe er als Umgangssprache sprach, durch Gedichte nach Mexiko zurückkehrte, wo er bis 1966 im landkölnischen (ripuarischen) Dialekt lebte. 1963 bereiste er als Bildungsexperte hervor. Nach den ersten Gedichtbänden Ech des Internationalen Arbeitsamts die Karibik, an mech (Krefeld 1966) u. Onger ungs jesait Büffee (RoLateinamerika u. Afrika. 1966 kehrte er nach (Köln 1967) fand er mit Dat kalde 2 thenb. o. d. T. 1972. Krefeld 1973. 4. Aufl. Deutschland zurück u. ließ sich in München nieder. Seine Autobiografie ›Vorsicht Anar- mit Schallplatte. Ebd. 1981) einen eigenen chist!‹ Ein Leben für die Freiheit (Darmst. 1977. literar. Stil, der sich durch pointiert zugeÜberarb. Neuausg. Aschaffenburg 2008) ver- spitzte Verfremdung von Sprachklischees u. fasste S., neben Rudolf Rocker u. Alexander Redensarten mittels Variation oder KontexSchapiro ein wichtiger Theoretiker des An- tualisierung auszeichnet. 1994 bezog S. seine Dichterklause auf der Museumsinsel Homarchismus in seiner syndikalistischen Ausbroich, wo sein letzter Lyrikband Rief für die prägung, als »politische Erinnerungen«. Insel (Krefeld 1999; mit CD) entstand. Sein Weitere Werke: Wie lebt der Arbeiter u. Bauer bekanntestes Werk ist Die Litanei, ein Gedicht, in Rußland u. in der Ukraine? Resultat einer Stuin dem der Herrgott gebeten wird, die »Doldienreise v. April bis Okt. 1920. Bln. [1921]. U. d. T. Reise nach Rußland 1920. Mit einem aktuellen le« zu beschützen, die für »uns« mühselige Vorw. ›59 Jahre danach‹, Erinnerungen an Lenin u. Arbeit verrichten; es wurde in zahlreiche einem Gespräch, hg. v. A[ndreas] W. Mytze. Ebd. Sprachen u. Dialekte übersetzt (Die Litanei. 1979. – Sacco u. Vanzetti: Zwei Opfer amerikan. 6 Bde., Krefeld 1988–97). – S. schrieb auch Dollarjustiz. Ebd. 1927. Überarb. Ausg. Ffm. Theaterstücke (Sielig die Armsielige. Urlesung

Sous

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Köln 1976. Jetz bloß net de Nerve verliere. 1990) u. Hörspiele für den WDR. 1989 wurde das Internationale Mundartarchiv des Rhein-Kreises Neuss in DormagenZons nach S. benannt. Er war auch Gründungsmitglied des Internationalen Dialektinstituts Wien. Weitere Werke: Minsche! Minsche? Neues in landköln. Mundart. Köln 1970 (L.). – Möt angere Wöert jedaiht jedonn. Düsseld./Krefeld 1975 (L.). – Lyrik. Dialoge. Hörspiele. Neuss 1981. – Sargnääl möt Köpp. Krefeld 1981 (L.; mit Schallplatte). – Brut vom Bäcker. Nachw. v. Jörg Splett. Ebd. 1984 (P.). – En’t Jebett jenomme. Mit einem Nachw. v. Hans H. Reich. Ebd. 1987 (L., P.). – Läve un sterve lote. Dialoge, Szenen u. Monologe. Ebd. 1992. – Opjeläse ongerm Schrievdösch. Ebd. 1994 (L.). Literatur: Fernand Hoffmann/Josef Berlinger: Die neue dt. Mundartdichtung. Tendenzen u. Autoren. Hildesh. 1978. – Hans H. Reich: L. S. Krefeld 1990. – Winfried Hönes: L. S. In: KLG. Matías Martínez / Bruno Jahn

Sous, Dietmar, * 30.1.1954 Rheinland. – Erzähler.

Stolberg/

S. bestand sein Abitur 1973. Danach arbeitete er zwei Jahre als Hilfsarbeiter. Seinen Zivildienst leistete er als Krankenpfleger. 1977 begann er ein Germanistik- u. Politologiestudium an der RWTH Aachen. S. lebt in Hergenrath (Belgien). B-Film (Bln. 1986) wurde 1985 mit dem Förderpreis für Literatur der Stadt Aachen ausgezeichnet. Bereits in seinem ersten Roman Glasdreck (Bln. 1981) stellt S. die gesellschaftl. Verlierer in den Mittelpunkt seines Interesses. Die Kindheit des Protagonisten Brunno Mölldärs ähnelt einer Gefangenschaft; ungeliebt wächst er unter der Fuchtel seiner rabiaten Großmutter auf. Schule u. Arbeitsplatz präsentieren sich als Orte der Demütigung. Er spricht die Sprache der armen u. ungebildeten Menschen; der rheinische Dialekt ist weniger Kommunikationsmittel als Ausdruck einer bildungsfernen u. intellektuellen Notsituation. Auch im zweiten Roman Moll (Bln. 1982) macht die Sprache deutlich, wie schwer die Bewältigung des Alltags für den arbeitslosen Protagonisten ist. Wortungetüme wie »mattgetöntes Glühbirnenhalbhell« oder »montagmorgensverschminkt«, Inversionen,

Topikalisierungen u. Präpositionalphrasen türmen sich zu unüberwindbaren Barrieren auf. Als S.’ literar. Vorbilder können Büchners Woyzeck u. Döblins Berlin Alexanderplatz gesehen werden. Musik u. Fußball bilden die Rettungsanker der Figuren. Mölldärs fantasiert sich als John Lennon oder als Mitglied der Rolling Stones. Am leichtesten lassen sich die Bedürfnisse der Helden im Musikermilieu zufrieden stellen: Bewunderung, willige Frauen u. Alkohol. In Abschied vom Mittelstürmer (Hbg. 1997) gerät die blutjunge Ulla in den Sog der Musiker. Der Vater ihres Kindes ist Rory Gallagher. Dass für den Vornamen des Jungen ein Rolling Stone Pate stand, nutzt dem kleinen Keith im Rheinland, wo Kies Käse heißt, gar nichts. Das musikal. Talent der rheinischen Provinz-Rockstars reicht jedoch meist nicht aus. Typisch für S.’ Protagonisten ist, dass, wenn sich wirklich das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden scheint, sie gerade beschlossen haben, ihrem Leben eine andere Richtung zu geben. Als Verkäufer von Second-Hand-Platten (z. B. Second Hand 2 in Weekend. Bln. 2008) quälen sie sich mit dem schlechten Musikgeschmack ihrer Kunden. In der Titelerzählung Vormittag eines Rock’n’Roll-Beraters (Hbg. 2004) geht ein angebl. Frauenkenner von der falschen Prämisse aus, dass eine mit der richtigen Musik aufgenommene Kassette die Frauen verzaubern könnte. Zu den Randgruppen der Gesellschaft zählen aber auch Kleinkriminelle u. das Rotlichtmilieu. In der Titelstory aus Filme mit Studentinnen und einer Hausfrau (Hbg. 2006) verdient sich ein Barkeeper mit dem Drehen von Pornofilmen ein Zubrot u. prellt die betrunkenen Studentinnen auch schon mal um ihr Geld. Trotz ihrer Schlitzohrigkeit haben S.’ Verlierer-Typen oft ein gutes Herz. Doch S. verharmlost u. idealisiert nicht. Wie gering die Frustrationstoleranz in diesem oft alkoholgetränkten Milieu ist u. wie schnell Gutmütigkeit in Gewalt umschlagen kann, zeigt die Erzählung Benni & Rudy aus Weekend. Als die schwangere Andrea in einem Anfall von Eifersucht den Saxophonkoffer des Ich-Erzählers mit einem Messer malträtiert, verliert der völlig die Kontrolle. Benni, sein Sohn, kommt stark behindert auf die Welt. Der

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Roman Das Haus am Bahndamm (Hbg. 2002) lässt das 20. Jh. aus der Perspektive von Prostituierten, Freiern u. Zuhältern Revue passieren. Bei dem behinderten Stummel findet der Erste Weltkrieg völlige Zustimmung, denn mit jeder Gefallenenmeldung gibt es für ihn einen Peiniger weniger. Es handelt sich um ein kurzes Glück, denn mit der lakon. Bemerkung »ich hab dem Krüppel keine Träne nachgeweint« ist der Leser bereits im »Dritten Reich« angekommen. Political correctness ist keine moralische Kategorie im Werk von S. Sein Erzählstil kennt die gesamte Bandbreite von Komik über (Selbst-)Ironie (Vorlesen in Merzig in Weekend) bis hin zum Sarkasmus (Ins Blaue in Schöne Frauen. Ein rheinischer Reigen. Hbg. 2000). Weitere Werke: Alles Lüge. Reinb. 1990 (E.). – Gagarin. Hbg. 1994 (R.). – Der Himmel der Liebe. Hbg. 1996 (E.). Literatur: Werner Jung: Alles Lüge, oder was? Der Erzähler D. S. In: Juni 24 (1996), S. 127–129. Elke Kasper

Soyfer, Jura, * 8.12.1912 Charkow, † 16.2. 1939 Konzentrationslager Buchenwald. – Lyriker, Dramatiker u. Prosaautor. S. kam 1921 mit acht Jahren als Sohn eines russisch-jüd. Industriellen nach Wien. Im großbürgerlich-liberalen Elternhaus sprach man Russisch u. Französisch; Deutsch lernte S. in der Schule. Mit 15 Jahren schloss sich der vom sozialen Aufbauwerk des Roten Wien faszinierte S. den sozialistischen Mittelschülern an. Seit 1929 arbeitete er maßgeblich am sozialistischen Politischen Kabarett mit, das sich vornahm, mit Witz u. Satire den konservativen Gegner zu bekämpfen. Im Rückgriff auf das Altwiener Volkstheater u. durch Anleihen bei der polit. Revue Piscators entwickelte das Parteikabarett eine rudimentäre episch-didakt. Dramaturgie, an die S. später anknüpfte. Sein satir. Talent entfaltete sich in den mehr als hundert, marxistisch inspirierten Zeitgedichten, die zwischen 1931 u. 1933 in der sozialdemokratischen Presse erschienen. Mit diesen, stark von Heine beeinflussten spöttisch-aggressiven Gedichten, die den Vergleich mit den Satiren Tucholskys, Weinerts oder Kästners nicht zu scheuen brau-

chen, erneuerte S. die in Österreich seit dem Vormärz kaum mehr gepflegte polit. Dichtung. Nach der Niederlage der Sozialdemokraten im Febr. 1934 u. der Errichtung des autoritären Ständestaats durch Dollfuß näherte er sich aus Enttäuschung über das Versagen der SDAP der verbotenen KPÖ an. Sofort nach dieser Niederlage unternahm es S., deren Ursachen in seinem Roman So starb eine Partei zu analysieren, der trotz seines fragmentar. Charakters als einer der bedeutendsten polit. Romane Österreichs gilt. In diesem mehrperspektivisch angelegten Roman zeichnet S. klarsichtig u. mit sanfter Ironie das interne Leben der Partei aus der Sicht der verschiedenen Protagonisten nach u. führt deren Niedergang auf ihre dogmatisch verhärteten ideolog. u. polit. Traditionen zurück. Anfang 1936 gelang es S., in der Wiener Kleinkunstszene Fuß zu fassen, die ein Publikum oppositionell gesinnter Intellektueller anzog. Fünf seiner 1936 u. 1937 aufgeführten Stücke sind erhalten, wobei jedoch die Textgestalt wegen der Zensur- u. Aufführungsbedingungen nicht gesichert ist. S.s Standpunkt ist der eines unorthodoxen, krit. Marxisten, sein Ziel die Belehrung des Publikums, jedoch nicht im Sinne der Übermittlung eines fertigen Weltbildes, sondern in dessen Hinführung zum dialektischen Denken, worin er sich mit Brecht trifft. Sein dramaturgischer Kunstgriff besteht darin, Helden auf die Bühne zu stellen, die Fehler über Fehler begehen, wobei sie selber u. mit ihnen die Zuschauer aus diesen Fehlern lernen sollen. S.s Dramaturgie speist sich aus dem Fundus der polit. Revue, des Kabaretts u. bes. des Altwiener Zauber- u. Besserungsstücks mit seinen Couplets, Rahmenhandlungen, Traumallegorien u. Zeitreisen. Wie dieses zeichnen sich S.s polit.-didakt. Stücke durch Humor, Satire, Situationskomik u. einen an Nestroy u. Karl Kraus geschulten Sprachwitz aus. S. war überzeugt, dass es kein besseres Mittel als das Lachen gibt, um das Denken zu befördern. Inhaltlich dominiert die umfassende Kritik des österr. u. dt. Faschismus, wobei sein konsequent dialekt. Ansatz es S. erlaubt, die Mitverantwortung der Linken an

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dessen Aufstieg mitzudenken, immer in der 1938 erneut verhaftet, nach Dachau eingeÜberzeugung, dass es nicht zu spät ist, aus liefert, wo er das bekannte »Dachaulied«, früheren Fehlern zu lernen. In seinem ersten eine Hymne auf die Menschenwürde der Stück Der Weltuntergang, in dem ein naiver Opfer, verfasste. Im Sept. wurde S. ins KZ Wissenschaftler vergeblich versucht, seine Buchenwald überstellt, wo er mit 26 Jahren gleichgültigen Zeitgenossen vor der drohen- an Typhus starb. den Katastrophe zu warnen, kritisiert er die Ausgaben: Das Gesamtwerk. Hg. Horst Jarka. in der Linken verbreitete Wissenschaftsgläu- Wien 1980. – Werkausg. Hg. ders. 4 Bde., Wien bigkeit u. ihren abstrakten Zukunftsopti- 2002. mismus. In seinem volkstüml. Zauberspiel Literatur: Bibliogr. u. Daten zur Rezeption Der Lechner Edi schaut ins Paradies hingegen siehe Homepage der J. S. Gesellschaft: www.soymacht der arbeitslose Protagonist den Fort- fer.at. – Peter Langmann: Sozialismus u. Lit. J. S. schritt der Technik für seine Situation ver- Ffm. 1986. – Horst Jarka: J. S. Leben, Werk, Zeit. antwortlich u. versucht diesen mit Hilfe einer Wien 1987. – Gerhard Scheit: Theater u. revolutionärer Humanismus. Eine Studie zu J. S. Wien Zeitmaschine rückgängig zu machen. Am 1988. – Herbert Arlt u. Evelyn Deutsch-Schreiner: Ende erkennt Edi, dass er seine Lage durch J. S. u. Theater. Ffm. 1992. – Jürgen Doll: Ein neues persönl. Engagement verändern kann, wobei Lied, ein besseres Lied? Zum Einfluss Heines auf seine intellektuelle Konversion auf amüsante die Zeitgedichte J. S.s. In: J. S., Europa, multikulWeise durch seine Liebe zu seiner ihm kon- turelle Existenz. Hg. Herbert Arlt. St. Ingbert 1993, stant widersprechenden Freundin Fritzi er- S. 123–143. – Donald G. Daviau (Hg.): J. S. and His möglicht wird. Auch das Traumstück Astoria, Time. Riverside 1995. – J. Doll: Theater im Roten das die Gründung eines fiktiven Staates zum Wien. Vom sozialdemokrat. Agitprop zum dialekt. Zweck der Ausbeutung der kleinen Leute Theater J. S.s. Wien/Köln/Weimar 1997. – Hermann zum Thema hat u. satirisch die Entwicklung Dorowin: J. S. u. das Wiener Volkstheater. In: ›Sprach-Wunder‹. Il contributo ebraico alla letvon Hindenburg zu Hitler nachzeichnet, teratura austriaca. Hg. Fausto Cercignani u. Miklingt im Aufruf zur verändernden Tat aus. chaela Bürger-Koftis. Milano 2002, S. 95–112. – Zugleich versucht S. in Astoria, die Mecha- Primus-Heinz Kucher: J. S. In: ÖBL. – Johann nismen zu analysieren, die es den National- Holzner: J. S. In: NDB. Jürgen Doll sozialisten erlaubten, sich die Hoffnungen u. utop. Wünsche des Volkes anzueignen. Vineta, die versunkene Stadt spielt nicht mehr Soyka, Otto, * 9.5.1881 Wien, † 2.12.1955 im Wiener Milieu, statt des VolkstheaterwitWien. – Erzähler, Dramatiker, Feuilletozes dominiert die düstere Groteske. Mit dienist, Journalist. sem Stück, das viele Züge des absurden Theaters vorwegnimmt, in dem Erinnerung Der Sohn eines jüd. Hof- u. Gerichtsadvokaund Zeit abgeschafft u. die Menschen tot ten studierte nach der Realschule an der TH sind, ohne es zu wissen, brachte S. auf be- Wien, wandte sich aber frühzeitig journalisklemmende Weise seine Vision einer dem tisch-schriftstellerischer Tätigkeit zu. Menschlichen entfremdeten (faschistischen) 1905–1909 war er Mitarbeiter der »Fackel«. Gesellschaft auf die Bühne. In seinem letzten Mit dem moralkrit. Essay Jenseits der SittlichStück Broadway-Melodie 1492, einer polit. ra- keitsgrenze (Wien 1906) trat er für eine neue dikalisierten u. durch zahlreiche Songs be- Sexualethik ein. reicherten Bearbeitung des Christoph Kolumbus Neben wenig erfolgreichen Versuchen mit von Hasenclever u. Tucholsky, denunziert S. Komödien (Revanche. Mchn. 1911. Geldzauber. am Beispiel der span. Eroberer die expansio- Ebd. 1913) erregte S. durch die geschickte nistischen Ziele der Nationalsozialisten. Drei Verbindung von Elementen des Kriminal- u. Tage vor der Premiere dieser Komödie, am Detektivromans mit fantastisch-abenteuerl. 17.11.1937, wurde S. wegen kommunisti- Motiven Aufsehen beim zeitgenöss. Lesepuscher Betätigung verhaftet, im Febr. 1938 im blikum; neue techn. Errungenschaften u. Rahmen einer Amnestie freigelassen. Nach Spekulationen über die Möglichkeiten des der Annexion Österreichs wurde er im März »neuen« Menschen des 20. Jh. bilden dabei

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die Folie zum nüchtern erzählten Kriminal- (Kriminalroman). – Der Detektiv des Königs. Lpz. fall. Mit dem »Zukunfts-Detektivroman« Die 1935 (Detektivroman). Literatur: Reinhard Urbach: Ist die Macht Söhne der Macht (ebd. 1911) u. Das Herbarium der Ehre (ebd. 1911. Neuaufl. u. d. T. Käufer der böse? Machtutopien in der österr. Triviallit. des 20. Ehre. Bln. 1922) kreierte S. einen neuen Typ Jh. In: Macht u. Gewalt in der Politik u. Lit. des 20. Jh. Hg. Norbert Leser. Wien 1985, S. 249–261. – des Spannungsromans, der für die österr. LiClemens Ruthner: Droge Macht. Zu O. S.s Traumteratur nach 1918 als Vorbild wirkte. Zuneh- arbeit. Nachw. zu: O. S.: Die Traumpeitsche. Ffm. mend auch Einflüssen des Expressionismus 1995, S. 195–212. – Robert N. Bloch u. R. Urbach: u. Aktivismus verpflichtet, verstand er es, das O. S. In: Biobliogr. Lexikon der utopisch-phantast. Lebensgefühl der Zeit in prägnanter Weise Lit. Hg. Joachim Körber. Meitingen 1999 (56. Erg.sichtbar zu machen, so in den Romanen Der Lfg.). Johannes Sachslehner / Reinhard Urbach entfesselte Mensch (Bln. 1919), Im Joch der Zeit (Wien 1919) u. Die Traumpeitsche (Wien/Bln. Späth, Gerold, * 16.10.1939 Rapperswil. – 1921. Neuaufl. Ffm. 1995), seinem größten Erzähler, Dramatiker, Hörspielautor. Erfolg: In der Horrorvision einer Welt, welche die Träume der Menschen in einer S. wuchs als Sohn eines Orgelbauers in Rap»Traumverwertungsgesellschaft« auch in- perswil, einer Kleinstadt am Oberen Zürichdustriell ausbeuten will, reagierte er auf die see, auf u. war im Orgelbaubetrieb seines aktuelle Diskussion um Erkenntnisse der Vaters tätig. Auf die Ausbildung zum KaufPsychoanalyse. S.s spätere Romane nähern mann folgten mehrere Reisen u. längere sich dem modernen Kriminalroman, wobei Aufenthalte in Vevey, Zürich, London, Frisich der Autor durchaus in der Nachfolge bourg, Rom u. Irland. S. lebt u. arbeitet heute Poes sah – etwa mit Bob Kreit sieht alles voraus als freier Schriftsteller wieder in Rapperswil. (Wien u. Bln. 1931. Neuaufl. u. d. T. Der Edel- Er ist korrespondierendes Mitgl. der Bayeristeinsucher. Lpz. 1936) – u. die Mechanik der schen Akademie der Schönen Künste. S.s. Werke liegen in ital., frz. u. poln. ÜbersetEnthüllung in den Vordergrund rückt. zung vor. 1939 ging S. völlig mittellos ins Exil nach S. gründet sein Wirklichkeitsverständnis Frankreich, aus dem er 1948 nach Wien zuauf Angst vor dem Prinzip des allmächtigen rückkehrte; er starb einsam u. verarmt. Utilitarismus, dem Unmaß des Sinnlosen im Weitere Werke: Herr im Spiel. Mchn. 1910 (R.). spießbürgerl. Alltag. In seinem Romanerst– Der Fremdling. Ebd. 1910 (R.) . – Das Glück der ling Unschlecht (Zürich 1970. Neuausg. mit Edith Hilge. Mchn. 1913 (Kriminalroman). – Die geringfügigen formal-stilist. Änderungen: Liebesfalle u. a. Novellen. Ebd. 1916. – Der Seelenschmied. Bln. 1921 (R.). – Eva Morsini, die Frau, Gött. 2002), das den Autor mit einem Schlag die war ... Mchn. 1923 (R.). – Der Geldfeind. Bln. bekannt gemacht u. als einen wortgewalti1923 (R.). – Das heißere Leben. Hbg. 1924 (R.). – gen, in der Tradition des Schelmenromans Das Experiment. Stgt. 1924 (Kriminalroman). – Im stehenden Stilisten profiliert hat, wird eine Bann der Welle. Stgt. 1924 (R.). – Der Mann in der burleske Entwicklungsgeschichte erzählt. Kulisse. Bln. 1926 (R.). – Die Erfolge Philipp Son- Ein Tölpel namens Johann Ferdinand Unlos. Bln. 1926 (Detektiv-Grotesken). – Überwinder. schlecht, dem eine ansehnl. Erbschaft zuteil Stgt. 1926 (N.n). – Der Tribun. Bln. 1928 wird, sieht sich mit schlauen Rapperswiler (Schausp.). – Die Sensationellen. In: Neue Freie Stadtbürgern konfrontiert; diese setzen sich Presse, 9.4.-6.7.1929 (Zeitroman). – Der Schach- nämlich zum Ziel, das Vermögen des Naivspieler Jörre. Wien 1930 (E.). – Das Gefühl. Eine lings rücksichtslos zu minimieren. Im Gefolsexualpsycholog. u. physiolog. Darstellung der ge seiner seltsamen Erfahrung u. EntwickRolle u. Bedeutung des Tastsinnes für das Trieblelung wird er letzten Endes – nach allerlei ben des Menschen (zus. mit Oskar Franz Scheuer). Wien/Lpz. 1930. – Fünf Gramm Liebeszauber. fulminanten Abenteuern – zum Gescheiten, Wien u. Bln. 1931 (Kriminalroman) . – Der Men- der mit Erfolg Geschäfte zu tätigen weiß. Mit schenfilm. Wien u. Bln. 1931 (Abenteuerroman). – maßlosem sprachgewandtem Schreiben u. Hans Zellorin ist dagegen. Wien 1932 (Kriminal- dicht geflochtenem Wortschatz befindet sich roman). – Das Geheimnis der Akte K. Lpz. 1934 S. in guter Gesellschaft, in der eines Rabelais

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u. Grimmelshausen, eines Jean Paul, eines Günter Grass. Unter Schweizer Schriftstellern ist er schon dadurch ein Sonderfall, dass er jeweils vor dem Hintergrund sinnentleerter bürgerl. Gegenwart die systemat. Ausgelassenheit des Spiels inszeniert – sei es ein Saufgelage, dionys. Rausch oder eine Zeugung auf dem Hochseil. In seinen im Farcenton gehaltenen Romanen verwendet S. konsequent eine lockere, episod. Struktur mit wechselnden Figurenperspektiven. Zwischen seinen Einzelwerken stellt sich eine deutlich erkennbare Verwandtschaft her; im Grunde sind sie alle Varianten u. Parodien bürgerl. Trivialität, u. die in ihnen auftretenden Akteure werden im fantasie- u. wortreichen Erzählen heimisch. Nach einem analogen Prinzip wie Unschlecht sind S.s weitere Romane aufgebaut. In Stimmgänge (Zürich 1972) zeichnet der Orgelbaumeister Jakob Hasslocher, der von Kirche zu Kirche ging u. beschädigte Orgeln intonierte, seine Geschichte als eine kaum fassbare Fülle von Episoden nach, u. das Paradoxe daran ist, dass sein Fuß infolge eines durch Orgelspiel verursachten Einsturzes der Kirche Sankt Bombast zerdrückt wurde. Hasslochers Sprachfluss, eine Unmenge narrativer Details, ist mit dem Aufbruch aus der Monotonie des Alltags gleichbedeutend. Ein anders gedachter Text ist Die heile Hölle (Zürich 1974. Neuausg. Basel 2010), ein Bild von Familienverhältnissen u. individuellen Befindlichkeiten, die – unter der Oberfläche des angebl. Anstands – titelhaftes Inferno, obsessive Geschlechtslust u. Gewalttaten produzieren. Gemessen an S.s frühen Werken verschieben sich diesmal die Akzente zugunsten des sozialkrit. Werts des menschl. Verhaltens. Auf die Poetik der Schelmenprosa greift der Schriftsteller wieder einmal im Roman Balzapf oder Als ich auftauchte (Zürich/ Ffm. 1977) zurück, indem er Balz Zapf, einen eigentl. Antihelden u. ungebrochenen Schelm, in einer Flut von Bruchstücken sich selbst porträtieren u. Paradoxa bürgerl. Existenz u. Mentalität offenlegen lässt. In diesem Werk treibt der Verfasser die Ästhetik der Üppigkeit an die äußersten Grenzen. Die Freude am Wortspiel, die parodistische, simplizian. Schärfe scheint sich jedoch zu ver-

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selbstständigen, sie nimmt das Ausmaß des allgegenwärtigen Philiströsen u. Exzentrischen an, geht – Szene für Szene – in Karikatur auf u. wird zum wirkungslosen Überdruss. Einen spött. Standpunkt zum Erzählten bezieht S. auch im Roman Barbarswila (Ffm. 1988), einer ebenso inkohärent strukturierten Parodie kleinstädt. Kuriositäten. Ein ganz besonderes Interesse verdient das Prosawerk Commedia (Ffm. 1980), das sich in zwei Großabschnitte teilt. Der erste ist ein Panorama von über zweihundert nebeneinander her unverbunden laufenden Menschenporträts, in denen Charaktere aller Spielarten als eine Metapher für das Episodische u. Groteske des Daseins präsentiert werden. Die dargestellten Figuren sind durch gleiche Herkunft verbunden; sie kommen aus einer Kleinstadt am See, einem in S.s Schaffen wiederkehrenden, orthaft gedachten Raum – bald unter dem satirisch überhöhten Namen ›Barbarswil‹, bald wieder als ›Spiessbünzen‹ oder auch als ›Molchgüllen‹. Im zweiten Teil wird in einem Heimatmuseum eine kunstindifferente Besuchergruppe gezeigt, die sich am Ende der Führung in einen fenster- u. hoffnungslosen Saal begibt. Nur ganz wenige, die dem Ruf der Kunst zu folgen wissen, finden Befreiung aus diesem Eingesperrtsein. S.s fragmentarisch orientierte Poetik hat ihre Fortsetzung in Sindbadland (Ffm. 1984), einem umfangreichen fiktiven Reisebericht. Eingebettet in abenteuerl. Ereignisse auf verschiedenen Kontinenten, führt der Selbstfindungsweg eines Reisenden zu Begegnungen mit seltsamen Personen, u. a. notorisch Unangepassten, die – dem Prinzip aufeinander folgender Momentbilder u. offener Komposition entsprechend – ihre individuellen Geschichten redselig erzählen, ihrer Gelöstheit u. inneren Heiterkeit Ausdruck geben u. sich zgl. nicht scheuen, zeitgeschichtl. Bezugnahmen, auch auf den Nationalsozialismus, zu verwenden, was übrigens auch in S.s anderen Werken hier u. da der Fall ist. In dem possenhaften Paradigma des Schelmenromans wird hingegen Stilles Gelände am See (Ffm. 1991), die Geschichte eines auf einmal spurlos verschollenen Baumkletterers, nicht mehr geschrieben. Ein grundlegender Wesenszug des neuen Werks von S. ist

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in erster Linie der Versuch, die Unfassbarkeit eines Einzelschicksals, eines unerwartet eintretenden Vorkommnisses, im Kontext der Naturmagie zum Ausdruck zu bringen – der poetische Aufbau dieser großangelegten Prosa gestaltet sich nach dem Rhythmus der Jahreszeiten. In Das Spiel des Sommers neunundneunzig (Ffm. 1993) wird ein Schweizer dargestellt, der vor dem Hintergrund irischer Sommerlandschaft Reflexionen über sich selbst u. andere, die ihm auf seinem Lebensweg begegnet sind, anstellt – auch aus der Sicht der Endlichkeit der menschl. Existenz. In den genrefreien Prosawerken neueren Datums bleibt S. dem Erzählen von zusammenhanglos konzipierten Geschichten treu, die verästelte Struktur nach Art des Schelmenromans zieht sich jedoch zurück. Die gloriose WHITE QUEEN. Ein Abenteuer (Gött. 2001) gibt sich noch als ein komödiantisches Maskenspiel an Bord eines verkommenen Raddampfers, der zum Narrenschiff stilisiert wird – sein Kapitän u. einige um ihn versammelte Originale treten eine wunderl. Reise an, u. an ihrem Habitus ist zuallererst der manisch-iron. Sprachwitz auffällig; die übrigen Werke S.s sind aber schon anders geartet. In Aufzeichnungen eines Fischers (das erste Jahr) (Basel 2006) wird das Angeln von Fischen zu einem literar. Angeln, zum Spaß am Schreiben selbst, einer Einübung in gelöste, im Plauderton optimierte Erlebnisberichte. Die Rolle des Erzählers übernimmt Jeanot, ein am Ufer des Rapperswiler Sees Fischender, der sich das Gewesene u. Erlebte vergegenwärtigt, in seinen Erinnerungen u. Aufzeichnungen die Realität von Barbarswila humorvoll vorüberziehen lässt. Seiner Freude am Spiel mit Wort u. Erzählen gibt S.s Fischer auch in der Fortsetzung seiner Notate u. d. T. Mein Lac de Triomphe. Aufzeichnungen eines Fischers (das zweite Jahr) (Basel 2007) Ausdruck. Mich lockte die Welt (Basel 2009) dagegen ist eine Sammlung von Reisebildern, in denen der Autor auf seine Erkundungsfahrten in verschiedene Weltregionen, nach Italien, Frankreich, Alaska als eine Verlockung zum Neuen u. Erkenntniswerten Bezug nimmt. S. erhielt den Conrad-Ferdinand-MeyerPreis (1970), den Alfred-Döblin-Preis (1979), den Preis der Schweizerischen Schillerstif-

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tung (1983, 1992), den Internationalen Pressepreis der Stadt Rom (1983), den GeorgMackensen-Literaturpreis (1984), den Hörspielpreis der Stiftung Radio Basel (1987), den Preis für Schweizer Theatermacher (1990), die Ehrengabe der Stadt Zürich (2001) u. den Kulturpreis des Kantons St. Gallen (2002). Weitere Werke: Heisser Sonntag. Zürich 1971 (E.en). – Zwölf Gesch.n. Zürich 1973. – Die Schwiegersöhne (Kalendergesch.). In: Taschenbuch der Gruppe Olten. Hg. Dieter Fringeli u. a. Zürich/ Köln 1974, S. 199–205. – Schnelle Reisen. Eine Kalendergesch. Zollikon 1976. – Phönix. Die Reise in den Tag. Pfaffenweiler 1978 (E.en). – Ende der Nacht. Pfaffenweiler 1979 (E.en). – Von Rom bis Kotzebue. Fünfzehn Reisebilder. Zürich/Mchn. 1982. – Sacramento. Neun Gesch.n. Ffm. 1983. – Verschwinden in Venedig. Gesch.n. Pfaffenweiler 1985. – Unser Wilhelm! Unser Tell! Ffm. 1980. Urauff. Genf 1985 (D.). – Die Witwe. Urauff. Linth 1986 (D.). – Früher am See. Frühling, Sommer. Mit Illustrationen v. Klaus Born. Pfaffenweiler 1988 (P.). – Früher am See. Herbst, Winter. Mit Illustrationen v. Ralph (Rafael) Benazzi. Ebd. 1989 (P.). – Tausend Dinge. Mit Zeichnungen v. Hanny Fries. Zollikon/Zürich 1989. – Ein Nobelpreis wird angekündigt. Mit Zeichnungen v. Heidelore Goldammer. Pfaffenweiler 1999 (E.en). – Eis u. Wasser. Ebd. 1999 (P.). – Familienpapiere. Ges. Gesch.n. Gött. 2003. – Hörspiele (Auswahl): Mein Oktober höllisch. 1972. – Schattentanz. 1975. – In der Ferne eine Stadt. 1979. – Kalter Tag. 1980. – Masken. 1980. – Eine alte Gesch. 1982. – Der See am Morgen. 1986. – Lasst hören aus alter Zeit. 1990. (Alle Schweizer Radio DRS). Literatur: Bruno Bolliger: G. S.s dichter. Welt. In: Schweizer Monatshefte 3 (1975), S. 233–239. – Wolfgang Hildesheimer: Pandämonisches Welttheater. In: Der Spiegel, 24.3.1980. – Jürgen Jacobs: Der dt. Schelmenroman. Zürich/Mchn. 1983. – Anton Krättli: Jetzt ist jetzt. In: Schweizer Monatshefte 10 (1984), S. 840–845. – Neva SlibarHojker: ›Ich bin ein Orgelbauer, der gern Geschichten erzählt‹. Zur Prosa G. S.s. In: Deutschsprachige Lit. der Schweiz in den sechziger u. siebziger Jahren. Hg. Klaus Pezold. Lpz. 1984, S. 140–152. – Todd C. Hanlin: Individuality and Tradition in the Works of G. S. In: Blick auf die Schweiz. Zur Frage der Eigenständigkeit der Schweizer Lit. seit 1970. Hg. Robert Acker u. Marianne Burkhard. Amsterd. 1987, S. 81–94. – Martin Lüdke: Das Einverständnis ist immer schon vorausgesetzt. G. S.s ›Commedia‹: Form als ›nega-

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tive Totalität‹. Eine Argumentationsskizze. In: Aspekte der Verweigerung in der neueren Lit. aus der Schweiz. Hg. Peter Grotzer. Zürich 1988, S. 83–100. – Matthias Bauer: Lesen als spieler. Welterzeugung. Anmerkungen zu G. S.s ›Commedia‹ u. anderen Lexikon-Romanen. In: WW 39 (1989), S. 123–135. – Hansjörg Graf: Von Rapperswil nach Barbarswil. In: Merkur 44 (1990), S. 596–600. – Beatrice v. Matt: G. S. ›Commedia‹. In: Antworten. Die Lit. der deutschsprachigen Schweiz in den achtziger Jahren. Hg. dies. Zürich 1991, S. 27–31. – Klaus Isele u. Franz Loquai: G. S. Eggingen 1993. – Andreas Olbrich: Was verschwieg Dominik Thothenruh. Etwas über G. S. u. Rapperswil. In: Lit. für Leser. 1994, S. 119–130. – Isabel Hernández: La critica social en la nueva novela regional alemana. El mondo de G. S. Madrid 1999. – Charlotte E. Aske: G. S. u. die Rapperswiler Texte. Untersuchungen zu Intertextualität u. kultureller Identität. Bern u. a. 2002. – Stefan Iglhaut: G. S. In: LGL. – Jürgen Egyptien: G. S. Mein Stundenplan. In: Dt. Kurzprosa der Gegenwart. Hg. Werner Bellmann u. Christine Hummel. Stgt. 2006, S. 43–51. – Dorota Sos´ nicka: Den Rhythmus der Zeit einfangen. Erzählexperimente in der Deutschschweizer Gegenwartslit. unter bes. Berücksichtigung der Werke v. Otto F. Walter, G. S. u. Zsuzsanna Gahse. Würzb. 2007. – Bruno H. Weder u. Ingrid Laurien: G. S. In: KLG. – Beatrice Sandberg: Der Fischer u. sein Beobachtungsraum. Vom Spiel des Sommers neunundneunzig zu den Aufzeichnungen eines Fischers v. G. S. In: Jenseits v. Frisch u. Dürrenmatt. Raumgestaltung in der gegenwärtigen Deutschschweizer Lit. Hg. Dariusz Komorowski. Würzb. 2009, S. 201–212. Zygmunt Mielczarek

Spalatin, Georg, eigentl.: G. Burckhardt, * 17.1.1484 Spalt, † 16.1.1545 Altenburg; Grabstätte: ebd., St. Bartholomäi. – Humanist, Historiograf, Übersetzer. Der außerehel. Sohn eines fränk. Rotgerbers absolvierte die bedeutende Lateinschule an St. Sebald in Nürnberg, ehe er sich 1498 zum Studium der Artes in Erfurt immatrikulierte, wo er von Nikolaus Marschalk an den philolog. Humanismus herangeführt wurde. Unzufrieden mit dem in Wittenberg 1502 aufgenommenen Studium der Rechte, kehrte er 1504 zurück nach Erfurt, wo er in den Einflussbereich des Gothaer Humanisten Konrad Muth (Mutianus Rufus) geriet. 1505 wurde S. durch Mutians Vermittlung Bibliothekar im

Kloster Georgenthal bei Gotha u. 1508 Prinzenerzieher am kursächs. Hof in Wittenberg; dort war er bis 1525 als Bibliothekar, Historiograf, Sekretär, Hofprediger u. Sachwalter der Universität u. des Doktor Martin Luther tätig. Mit dem Tod Friedrichs des Weisen (1525) siedelte S. nach Altenburg über, heiratete 1532 die Bürgerstochter Katharina Heidenreich u. beteiligte sich maßgeblich an der landesherrl. Kirchenreform, wirkte an der Confessio Augustana (1530) u. den Schmalkaldischen Artikeln (1536/37) mit. Nicht alles gelang dem zierlichen, leicht reizbaren u. rasch in Händel verwickelten Intellektuellen dabei so gut wie die Handhabung der schwierigen »causa Lutheri«. S. war ein gewandter Lateiner u. geistvoller Stegreifdichter, doch ein Zauderer, der als »Gelegenheitsschriftsteller« agierte u. oft nur umständehalber publizierte. So erschienen etwa zwischen 1520 u. 1522 sechs ErasmusVerdeutschungen, die teilweise bis 1513 zurückdatieren, u. zwar bei demselben Verleger, der zeitgleich auch seine Augustinus-Übertragungen druckte. Die ihm durch Zufall halbfertig angetragene, 1521 fertiggestellte Übertragung von Petrarcas Glücksbuch kam erst 1532 auf den Markt. 1535 schrieb er für die Schöne Magelone seines verstorbenen Freundes Veit Warbeck (um 1490–1534) das Vorwort. Im selben Jahr kompilierte er gelegentlich einer kurfürstl. Reise in den Teutoburger Wald eine Abhandlung über den von vielen Humanisten traktierten Cherusker Armin, die dessen Greueltaten verurteilt. Sein im elitären Mutian-Kreis erworbener humanistischer Habitus, seine enge Zusammenarbeit mit sächs. Adligen, für die er Stamm- u. Wappenbücher anlegte, sowie seine tiefgreifende Prägung durch den Vielschreiber Luther mögen das die Werkchronologie erschwerende Schwanken erklären. Dass seine heterogene literar. Hinterlassenschaft (ca. 100 Nummern) zudem allein auf der Basis der gedruckten Schriften beurteilt wird, erschwert ihre Einordnung bis heute. Das Gedruckte macht nur etwa 50 Prozent des Gesamten aus. Hier tritt v. a. der Kirchenschriftsteller (16 Nummern), Übersetzer (27) u. Humanist (8) zutage, während von den über 40 historiografischen Studien u.

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genealog. Arbeiten nur zwei zu Lebzeiten Gesicht der Fortuna. Petrarcas De remediis utriusveröffentlicht wurden. Neufunde zeugen zu- que fortunae in dt. Übers.en. In: JOWG 16 (2006/ dem von Übersetzungsversuchen mittelalterl. 2007), S. 395–412. – Conradus Mutianus Rufus u. Frömmigkeitsliteratur (Ps.-Bernhard von der Humanismus in Erfurt. Gotha 2009 (Register). – Christopher Spehr: G. S. In: NDB. – Christoph Clairvaux, Johannes Gerson). Ein GesamtFasbender: G. S. In: VL Dt. Hum. konzept, das dem Schrifttum Œuvre-ChaChristoph Fasbender rakter verliehe, ist nicht rekonstruierbar. Zwischen 1510 u. 1516 mühte sich S. mit Vorstudien zu seinem auf sechs Bände ange- Spalding, Johann Joachim, * 1.11.1714 legten Hauptwerk, der in Friedrichs des Tribsees/Schwedisch-Pommern, † 22.5. Weisen Auftrag entstehenden, dessen Erban- 1804 Berlin. – Protestantischer Theologe sprüche legitimierenden Chronik der Sachsen u. Moralphilosoph. und Thüringer. Es präsentiert die Geschichte als Abfolge der über die Stämme Herrschen- S. gehört zu den wichtigsten protestantischen den von Widukind (Bd. 1) über dessen Nach- Theologen der Aufklärungszeit. Neben A. F. kommen (2), die Liudolfinger (3), die frühen W. Sack, J. F. W. Jerusalem u. J. S. Semler wird Wettiner (4), die Landgrafen von Thüringen er zu den sog. Neologen gezählt, die das u. Markgrafen von Meißen (5) hin zu den Profil der luth. Theologie im 18. Jh. tiefgreiHerzögen von Sachsen bis auf Johann Fried- fend transformierten. Sie trugen entscheirich I. (gest. 1547). Die strenge Gliederung dend dazu bei, dass die Aufklärung in den aller Abschnitte kulminiert in »zufälligen protestantischen Teilen Deutschlands sich in Geschichten«, in denen S. umlaufende An- einem Schulterschluss von Theologie, Philoekdoten zusammenstellte. In den flankie- sophie, den anderen Wissenschaften u. den renden, noch keineswegs ausgeschöpften Künsten vollzog. S.s Leistung liegt v. a. darin, Materialsammlungen fand man zuletzt eine dass er entschieden die Ethik ins Zentrum u. Prosaauflösung des Guten Gerhard Rudolfs von das Dogma in den Hintergrund der theolog. Ems (um 1215) u. eine dt. Fassung der Ge- Reflexion gerückt hat. S. beschäftigte sich bereits während seines roldslegende Albrechts von Bonstetten (um 1442-um 1504). Das von der Cranach-Werk- Theologiestudiums in Rostock u. Greifswald statt aufwändig illustrierte genealog. Groß- (bis 1734) mit der Aufklärungsphilosophie C. projekt wurde 1535 in drei Bänden notdürf- Wolffs. In einer Satire mokierte er sich über tig abgeschlossen; es blieb ein vierbändiger den Konservativismus der Rostocker Universität (Der Wolffischen Philosophie Bittschrift. Torso. Ffm./Lpz. 1738). Nach der Promotion 1736 Literatur: Irmgard Höss: G. S. 1484–1545. trat er erst 1749 ein Pastorat in Lassahn an. In 2 Weimar 1989. – Martin Treu: Die dt. Übers. der ›Querela pacis‹ des Erasmus durch G. S. Ein Beispiel der Zwischenzeit lernte er die engl. Sprache für die volkssprachl. Rezeption des humanist. u. übersetzte Schriften des engl. Philosophen Friedensgedankens. In: Der Buchstab tödt – der Shaftesbury u. des Theologen J. Butler. Geist macht lebendig. FS Hans-Gert Roloff. Hg. Gleichzeitig war er eng mit J. W. L. Gleim, E. James Hardin u. a. Bern u. a. 1992, S. 519–532. – von Kleist, J. G. Sulzer u. K. W. Ramler verChristiane Andersson: Die S.-Chronik u. ihre Il- bunden. Seine Freundschaft mit diesen auflustrationen aus der Cranach-Werkstatt. In: Lucas strebenden jungen Dichtern u. Philosophen Cranach. Ein Maler-Unternehmer aus Franken. Hg. ist bezeichnend für die Öffnung von S.s ReClaus Grimm u. a. Regensb. 1994, S. 208–217. – ligionsverständnis zur Moralphilosophie u. Christina Meckelnborg u. Anna-Beate Riecke: Die den Künsten hin. ›Chronik der Sachsen u. Thüringer‹ v. G. S. In: Fata Zentral ist seine Betrachtung über die BestimLibellorum. FS Franzjosef Pensel. Hg. Rudolf mung des Menschen (Greifsw. 1748). Sie entwiBentzinger u. Ulrich-Dieter Oppitz. Göpp. 1999, S. 131–162. – R. Bentzinger: Bedeutsame Funde im ckelt ein ethisches Modell für das Leben des Nachlass v. G. S. im Thüring. Hauptstaatsarchiv Einzelnen u. skizziert seine Pflichten gegenWeimar. In: Mitteldt. Jb. für Kultur u. Gesch. 10 über sich selbst, den anderen Menschen u. (2003), S. 320–323. – Cora Dietl: Das wandelbare Gott. Allerdings rekurriert S. dabei weder auf

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Ausgabe: J. J. S.: Krit. Ausg. Abt. 1: Schr.en. Abt. protestantische Dogmen noch selbst explizit auf die Heilige Schrift. Stattdessen zeigt er in 2: Predigten. 12 Bde. geplant. Hg. Albrecht Beutel. der literarisierten Form des Selbstgesprächs Tüb. 2001 ff. Literatur: Schlichtegroll 19. Jh., Bd. 5, paradigmatisch, wie ein Ich, das sich nach seiner Natur u. seiner Bestimmung befragt, S. 99–207. – Joseph Schollmeier: J. J. S. Ein Beitr. in sich selbst den Leitfaden für sein Denken u. zur Theologie der Aufklärung. Gütersloh 1967. – Giuseppe D’Alessandro: Die Wiederkehr eines Handeln findet. Selbsterkenntnis führt auf Leitworts. Die ›Bestimmung des Menschen‹ als die moralische Empfindung (engl. ›Moral theolog., anthropolog. u. geschichtsphilosoph. Sense‹), durch die sich Gott in der Natur des Frage der dt. Spätaufklärung. In: Aufklärung 11 Menschen selbst kundgebe. S. reflektiert da- (1999), S. 21–47. – Fotis Jannidis: Die ›Bestimmung bei auch eingehend die Rolle von Kunst u. des Menschen‹. Kultursemiot. Beschreibung einer schöner Natur für die Suche des Menschen sprachl. Formel. In: Aufklärung 14 (2002), S. 75–95. – Albrecht Beutel: J. J. S. Populartheolonach seiner Bestimmung. In der Dichtung u. Philosophie der fol- gie u. Kirchenreform im Zeitalter der Aufklärung. genden 50 Jahre entfaltete diese optimisti- In: Theologie des 17. u. 18. Jh. Hg. Peter Walter u. sche Anthropologie eine Wirkung, die kaum Martin H. Jung. Darmst. 2003, S. 226–243. – Ders.: Reflektierte Religion. Beiträge zur Gesch. des Proüberschätzt werden kann. S.s Schrift erschien testantismus. Tüb. 2007. – Mark-Georg Dehrmann: bis 1794 in 11 Auflagen (u. d. T. Die Bestim- Die problemat. Bestimmung des Menschen. Kleists mung des Menschen). Das Denkmodell u. das Auseinandersetzung mit einer Gedankenfigur der Schlagwort der ›Bestimmung‹ wurden viel- Aufklärung. In: DVjs 81 (2007), S. 193–227. – fach aufgegriffen u. variiert, beispielsweise Ders.: ›Das Orakel der Deisten‹. Shaftesbury u. die von Sulzer, C. M. Wieland, J. G. Fichte; noch dt. Aufklärung. Gött. 2008. – A. Beutel: J. J. S. In: NDB. für H. von Kleist ist es bedeutend. Mark-Georg Dehrmann S. wurde 1764 als Oberkonsistorialrat nach Berlin berufen. Er spielte eine wichtige Rolle Span (seit 1558, von Kaiser Ferdinand I. in der preuß. Kirchenverwaltung, die er erst geadelt, mit dem Namenszusatz: von mit dem Religionsedikt 1788 niederlegte. In Spanau), Laurentius (Lorenz), * 1529 oder den großen Berliner Kirchen hielt S. zahlrei- 1530 Saaz/Böhmen, † 24.2.1575 ebd.; che wirkungsmächtige Predigten, die von der Grabstätte: ebd., Stadtkirche. – HumaForschung erst erschlossen werden. In Über nistischer Dichterarzt u. Fachschriftsteldie Nutzbarkeit des Predigtamtes (Bln. 1772) ler. plädiert er dafür, die Tätigkeit des Predigers als sittlich-seelsorgerisch zu verstehen u. sie S. besuchte die renommierte Gelehrtenschule beispielsweise von dogmat. Fragen freizu- seiner Heimatstadt u. studierte in Wittenberg halten – auch hier ist er entschiedener Auf- (Immatrikulation 1545), wo er Melanchthon klärer, der die Ethik als Kern der Religion näher trat u. auch den Magistertitel erwarb versteht. Dies zeigt sich auch in seiner für die (1550). Anschließend widmete er sich dem dt. Aufklärung insg. typischen ›Zweifron- Medizinstudium u. bezeichnete sich seit tenstellung‹: S. kritisiert ein fundamentalis- 1560, ohne dass man den Ort seiner Promotischeres pietistisches Religionsverständnis tion wüsste, als ›Dr. med.‹. Um 1560 finden (Gedanken über den Werth der Gefühle in dem wir S. in Prag, wo er offenbar Kontakt mit Christenthum. Lpz. 1761) genauso wie den Pietro Andrea Matthioli (1500–1577), dem Materialismus der radikalen Aufklärung Verfasser eines berühmten Kräuterbuches, (Vertraute Briefe, die Religion betreffend. Breslau hatte. Seit der Wittenberger Zeit präsentierte 1784). In Religion, eine Angelegenheit des Men- sich S. auch als gewandter lat. Dichter, zuschen (Lpz. 1797) zieht er dann noch einmal nächst mit gelegentl. Kasuallyrik, bald auch mit eigenen poetischen Büchern (zuerst ein eine Summe seines Denkens. Weitere Werke: Briefe v. Herrn S. an Herrn Elegiarum liber. Prag 1554). Spätestens seit Gleim. Ffm./Lpz. 1771. – Lebensbeschreibung v. 1562 wirkte er v. a. in Olmütz/Mähren; 1566 ihm selbst aufgesetzt. Hg. Georg Ludewig Spal- wurde er vom dortigen Bischof Wilhelm Prusinowsky (Bischof seit 1565) zum Leibarzt ding. Halle 1804.

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ernannt. Reisen führten S. offenbar des Öf- sich kritisch, ironisch u. satirisch mit dem um teren nach Schlesien (1565 nach Glatz, 1566 sich greifenden Paracelsismus, auch mit den nach Neisse), wohin er um 1568 übersiedelte, Ambitionen u. Bizarrerien der Alchemie doch lebte er zeitweise auch in Breslau (?), in auseinandersetzt (Teilabdruck mit Übers. u. Lauban bei Görlitz u. in Görlitz. Wahr- Komm. in CP II, Nr. 74). scheinlich 1574 kehrte er nach Saaz zurück, Literatur: Tabulae Codicum Manu Scriptorum wo sein Tod in Gedichten u. Nachrufen be- [...] in Bibliotheca Palatina Vindobonensi asservatorum, ed. Academia Caesarea Vindobonensis. trauert wurde. S. verkörpert den Typus des vom melan- Bd. 6, Wien 1873, S. 287, 289. – Enchiridion renachthonschen Humanismus geprägten Dich- tae poesis Latinae in Bohemia et Moravia cultae. terarztes. Er hielt sich in seinen medizini- Bd. 5, Prag 1982, S. 289–296 (Werkverz. mit Hinweisen auf Erwähnungen in der älteren, auch der schen Veröffentlichungen zumeist in den tschech. Lit.). – Eduard Wondrák: Der Arzt u. Grenzen der mit den Namen Hippokrates u. Dichter Laurentius S. (1530–1575). In: MedizinGalen assoziierten akadem. Medizin. Dafür histor. Journal 18 (1983), S. 238- 255 (Werkverz., sprechen – innerhalb seines mehr als 30 Titel S. 241 f., ergänzende Hinweise auf Handschriftliumfassenden Œuvres – ein an Galens Diätetik ches; Abb.en dreier zeitgenöss. Porträts, angelehntes Hypomnema ad conservandam bo- S. 251–253). – CP II, Nr. 73–74, S. 562–583. – nam valetudinem (Neisse o. J. [1575]) oder auch Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 1966 f. die in eleg. Distichen poetisierten AphorisWilhelm Kühlmann men des Hippokrates (Aphorismorum Hippocratis paraphrasis carmine Elegiaco scripta. Breslau Spangenberg, August Gottlieb, * 15. (16.) 1570). Dazu kamen diverse, in Vers u. Prosa, 7.1704 Klettenberg/Harz, † 18.9.1792 auch in dt. Sprache verfasste Pestregimente, Herrnhut. – Bischof u. Organisator der darunter die in Hexametern gedichteten De Herrnhuter Brüdergemeine. peste libri duo. Heroico carmine descripti (Olmütz 1561. Hs. in ÖNB, Cod. 11162 [Med. 155]; Nr. Der Pfarrerssohn studierte in Jena Theologie 4, u. ebd. 11202 [Med. 129]). Der beachtl. (Magisterabschluss), wurde Adjunkt der Bestand der in Einzeldrucken, aber auch in theologischen Fakultät in Halle u. Aufseher Handschriften überlieferten Gelegenheitsge- der Schulen des Waisenhauses. Nach seiner dichte wird ergänzt durch Corpora v. a. geistl. »Vertreibung« schloss er sich 1733 Herrnhut Lyrik, darunter Sacrorum poematum libri tres an, wo er insbes. die Missionsarbeit in Nord(o. O. 1565), ein Band mit Perikopenlyrik amerika (1735–1739, 1744–1749, (Piarum meditationum in annua dominicalia 1751–1753, 1754–1762), vorübergehend evangelica liber elegiaco carmine scriptus. auch in England (1741–1744), organisierte. Schmalkalden 1574) u. die Anabiosis sive de 1744 wurde er zum Bischof ordiniert u. war mortuorum resurrectione libri duo, carmine elegiaco seit 1762 Mitgl. der Unitätsleitung, seit 1769 scripti (Görlitz 1574). Naturkundliche, auch Vorsitzender ihrer Synoden. Seine Gabe zu anthropolog. Interessen S.s lassen sich aus- kollegialer Leitung ließ ihn zum Führer der machen in seinem Werk über die menschl. Unität nach Zinzendorfs Tod werden. S. war Lebensalter (Liber de homine. Prag 1560. Hs. in ihr bedeutendster Apologet (z. B. Apologetische ÖNB, Cod. 11213 [Med. 188]), wieder aufge- Schluß-Schrifft, Worinn über tausend Beschuldigriffen u. mit astrolog. Meditationen ange- gungen gegen die Brüder-Gemeinen beantwortet reichert in S.s De aetatibus hominis iuxta ordi- werden. Lpz./Görlitz 1752. Nachdr. Hildesh. nem planetarum liber (Neisse 1566). Als ›Gele- 1964). In der Idea fidei fratrum (Barby 1779) genheitsparacelsist‹ betätigte sich S. in der fasste er die Lehre der Brüder zusammen, in Herausgabe eines Paracelsus zugeschriebenen der Schrift Von der Arbeit der Evangelischen BrüWerks über die Urin- u. Pulsdiagnostik der unter den Heiden (ebd. 1782) ihr Missions(Neisse 1566. Abdruck der Vorrede in CP II, verständnis. Er war ein Mann der Praxis, der Nr. 73). Bedeutenderen kulturgeschichtl. sich um die Unterweisung der Kinder ebenso Wert besitzt ein in eleg. Distichen abgefasses wie um die der Missionare sorgte. Er gab ein Lehrgedicht (Spagirologia. Görlitz 1573), das Gesangbüchlein für die Kinder in den Brüderge-

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meinen (Barby 1789) u. Kinderreden (1797) heraus u. verfasste einzelne Lieder, die noch heute gesungen werden, z. B. Heil’ge Einfalt! Gnadenwunder (in: Gesangbuch der Evangelischen Brüdergemeine. Hbg. 1967, Nr. 547). Weitere Werke: Declaration über die Zeither gegen Uns ausgegangene Beschuldigungen. Lpz./ Görlitz 1751. – Leben des Herrn [...] v. Zinzendorf u. Pottendorf. 8 Tle., Barby 1773–75. Nachdr. Hildesh. 1971. – Anmerkungen zu Herrn Prior Aegidii Sexstetters Schr. gegen die evang. Brüder. Prag/Wien 1784. – Unterricht für die Brüder u. Schwestern, welche unter den Heiden am Evangelio dienen. Barby 1784. Literatur: Gerhard Reichel: A. G. S. Tüb. 1906. – Gesch. Piet. Bd. 2, passim (Register).  ›We have come to Georgia with pure intentions‹. Mor. Bishop A. G. S.’s letters from Savannah 1735, transl. and ed. by George Fenwick Jones and P. M. Peucker. In: The Georgia Historical Quarterly 82 (1998), S. 84–120. – Katherine Carté Engel: Br. Joseph’s Sermon on the Oeconomie Febr. 11, 1758. In: The Distinctiveness of Moravian Culture. Hg. Craig D. Atwood u. Peter Vogt. Nazareth 2003, S. 121–140. – C. D. Atwood: S. A Radical Pietist in Colonial America. In: Journal of Moravian History 4 (2008), S. 7–28. – Unitas Fratrum 61/62 (2009) (Vorträge anlässlich des S.-Symposiums 2004). – Friedrich Wilhelm Graf: A. G. S. In: NDB. Dietrich Meyer

Spangenberg, Cyriakus, * 7.6.1528 Nordhausen, † 10.2.1604 Straßburg. – Theologe u. Historiker. Der Sohn des durch pastoraltheolog. Schriften hervortretenden Pfarrers Johann Spangenberg (1484–1550) besuchte die Schule in Nordhausen u. studierte von 1542 an Theologie in Wittenberg (Magister 1550). Seit 1550 Prediger in Eisleben, erhielt er 1559 das Generaldekanat der Grafschaft Mansfeld. Während eines Aufenthalts in Antwerpen lernte er Flacius Illyricus kennen. S.s Eintreten für dessen Erbsündenlehre bestimmte seinen weiteren Lebensweg. Nach einer Serie von Disputationen u. einem sich sukzessiv verschärfenden Flugschriftenstreit (v. a. gegen Hieronymus Menzel, Tilmann Heßhusen u. Johannes Wigand) wurde S. 1574/75 aus Mansfeld ausgewiesen. Über Sangerhausen ging er nach Straßburg. Erst 1581 erhielt S. erneut ein Amt: die Pfarrstelle im oberhess.

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Schlitz. 1590 wiederum entlassen, verbrachte er die letzten Lebensjahre in Straßburg. Der Gnesiolutheraner u. harsche Gegner des Augsburger »Interims« (1548) verfasste bis zu seiner Vertreibung v. a. theolog. Schriften: rund 20 Streitschriften im Erbsündenstreit, zahlreiche kontroverstheolog. Traktate, in denen reformatorische Positionen kompromisslos u. sprachgewandt vertreten werden, u. ein reiches Auslegungs- u. Predigtwerk. Zu seinen 21 Predigten über Luther (gehalten 1563–74, vereint in der Sammlung Theander Lutherus. Ursel 1589) zählen, angeregt von Johannes Mathesius, auch sog. Bergpredigten, die sich, kulturgeschichtlich sehr aufschlussreich, an die Mansfelder Knappen wandten. S. verfolgte nicht Luthers Lebensweg, sondern stellte den Reformator, den er noch persönlich kennen gelernt hatte, als »Sprachrohr Gottes in den letzten Tagen« dar, zgl. als den »grössten und höchste Propheten / den die Welt sind der Apostel zeit gehabt«, als »treuen Haushalter, geistlichen Ritter, Elias, Engel des Herrn, Märtyrer Christi und Pilger Gottes«. Zusätzlich lieferte S. in der Sammlung Cithara Lutheri (4 Bde., Eisleben 1571) eine Auslegung der Lieder Luthers in Predigtform. Dazu traten ein umfängl. Liedschaffen u. ein oft nachgedruckter u. konzeptionell wegweisender Beitrag zur sog. Teufelsliteratur (Der Jagteuffel [sic], 16 Ausgaben seit dem Erstdruck: Eisleben 1560. Neuausg. 1980). Mit bemerkenswerter Schärfe, die deutlich Töne des Bauernkriegs anklingen lässt, u. in polyhistor. Einbindung sowohl des antiken wie auch des frühneuzeitlichen, dabei auch des lat. Schrifttums wendet sich S. hier unter Berufung auf die Bibel, aber auch auf das ›Naturrecht‹ gegen die schrankenlose Willkür des Adels, dessen Jagdleidenschaft die Bauern verelenden lässt (Ed. 1980, S. 220): »Daher es kömpt / das die Thiere / so nach natürlichem Recht gemein / und nach andern rechten des sind / der sie fehet / nu allein die Herrn und Junckern Tyrannischer weise / mit freveln geboten / unter sich reissen / Denn da nimpt man den bawren ihre Gütter und Ecker / müssen sich ihrer gründe und boden verzeihen / man verbeut Wald und Weide den Hirten / das nur das Wild desser mehr ab-

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zufretzen habe / und sich denselben Junckern zur wollust mesten möge.« Passagen wie diese legen es nahe, dass keinesfalls nur theolog. Streitigkeiten S.s Lebensweg erschwerten. Abgesehen von der Mansfeldischen Chronica (Eisleben 1572) entstammen S.s histor. Werke, teilweise auf Vorarbeiten des Vaters zurückgehend, der Zeit in Schlitz u. vor allem dem Straßburger Exil: Sächsische Chronica (Frankfurt 1585), Quernfurter Chronica (1590), Hennebergische Chronica (Straßb. 1599). Im zeittypisch kompilatorischen Charakter dieser Werke wird das Bestreben deutlich, den Geschichtsprozess als Summe seiner Einzelelemente darzustellen, die allesamt dem Verständnis der eigenen Gegenwart dienen u. dieser auch moralische Maßstäbe vorgeben. S.s umfangreicher Adels Spiegel (2 Tle., Schmalkalden 1591 u. 1594), »das ambitionierteste frühneuzeitliche Kompendium zum Thema ›Adel‹« (Horst Carl), entwickelt kritisch nicht nur die Geschichte des weltlichen, sondern auch des »geistlichen« Adels, ja sogar des »Weiber-Adels« samt den »streitbaren Weibern« (I. Teil, 13. Buch) seit der Antike. Sehr deutlich setzt sich S. dabei sowohl mit Sebastian Francks Adelskritik als auch mit Nicodemus Frischlins berühmter Rede über den Landadel auseinander, akzentuiert zgl., durchaus auf dem Boden der luth. Obrigkeitslehre, das Thema ›Adel und Reformation‹. S.s vier geistl. Dramen (Schmalkalden 1589/90) sollen v. a. der Gotteserfahrung der eigenen Kinder dienen u. so auch die reformatorische Auffassung zum Ausdruck bringen, dass »das Evangelium [...] in den Heusern durch die Hausväter [...] erhalten werden« müsse. Der 1597 neu gegründeten Straßburger Meistersingergesellschaft ist als Höhepunkt meistersängerischer Literaturgeschichtsschreibung die Schrift Von der Edlen unnd Hochberüembten Kunst der Musica (1598. U. d. T. Von der Musica und den Meistersängern. Hg. Adelbert von Keller. Stgt. 1861. Neudr. Hildesh. 1966) gewidmet. Das Schaffen der Meistersinger wird zum einen dadurch in einen universalhistor. Rahmen eingefügt, dass es bis auf die alttestamentl. Sänger Mose u. David zurückgeführt wird, zum anderen

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durch die Aufnahme des Meistersingers Luther aktualisierend in den Zusammenhang reformatorischen Liederschaffens u. Musikverständnisses gestellt. Ausgaben, Briefe und weitere Werke: Jag[d]teufel. Eisleben 1560. In: Theatrum Diabolorum. Ffm.: Sigismund Feyerabend 1569. Neuausg. in: Teufelbücher in Auswahl. Hg. Ria Stambaugh. Bd. 5, Bln./New York 1980, S. 164–303. – Warhafftiger Bericht von den wolthaten die Gott durch D. Martin Luther seligen fürnemlich Deudschland erzeiget. Jena 1561. – Wider die Bösen Sieben. Eisleben 1562. – Wider die Unchristl. Ermanung / so Julius Pflug [...] hat ausgehen lassen. Ebd. 1562. – Die fünff Hauptstück der christl. Lehre samt der Haustaffel u. dem Morgen u. Abendtgebet. Eisleben 1565. – Gegenbericht [...] / Auff das lange Lügenbuch M. Christopheri Raspergers. Ebd. 1567. – Christlichs Gesangbüchlein. Ebd. 1568. – Der gantze Psalter Dauids [...] Gesangsweise gefasset. Ffm. 1582. Literatur: Bibliografie: VD 16, S. 7465–7748. – Weitere Titel: Johann Georg Leuckfeld: Historia Spangenbergensis. Quedlinb. 1712. – Max Osborn: Die Teufelslit. des 16. Jh. Bln. 1893. – Heinrich Rembe: Der Briefw. des C. S. Dresden 1887. – Wilhelm Hotz: C. S.s Leben u. Schicksale als Pfarrer in Schlitz (1580–90). In: Beiträge zur Hess. Kirchengesch. Erg.-Bd. 3 (1907/08), S. 207–234, 267–296. – Wolfgang Hermann: Die Lutherpredigten des C. S. Eisleben 1935. – Fritz Behrend: Die Spangenbergs. In: ZKG N.F. 56 (1937), S. 114–123. – Walter Blank: Straßburger Meistergesang u. C. S.s Traktat ›Von der Musica u. den Meistersängern‹. In: Alemann. Jb. 1973/75 (1976), S. 355–372. – Martin Rössler: Die Liedpredigt. Geschichte einer Predigtgattung. Gött. 1976, S. 145–150 u. ö. – Robert Kolb: C. S.s Adelsspiegel. A Theologian’s view of a nobleman. In: Social Groups and Ideas in the 16th Century. Hg. Miriam Usher Chrisman u. Otto Gründler. Kalamazoo 1978, S. 12–21. – Jens Haustein: Der Helden Buch. Tüb. 1989, bes. S. 119–124. – R. Kolb: Die Umgestaltung u. theolog. Bedeutung des Lutherbildes im späten 16. Jh. In: Die luth. Konfessionalisierung in Dtschld. Hg. Hans-Christoph Rublack. Gütersloh 1992, S. 202–231. – Helmut Neumaier: Jakob Andreae im Streit mit C. S. Quellen zur Disputation v. Sangerhausen 1577. In: Bl. für württemberg. Kirchengesch. 95 (1995), S. 49–88. – Wilhelm Kühlmann: Akadem. Humanismus u. revolutionäres Erbe. Zu Nicodemus Frischlins Rede ›De vita rustica‹. In: Nicodemus Frischlin (1547–1590). Hg. Sabine Holtz u. Dieter Mertens. Stgt.-Bad Cannstatt 1999, S. 423–443, bes. S. 427 f. – Susan R. Boettcher:

Spangenberg Martin Luthers Leben u. Predigten. C. S. u. Johannes Mathesius. In: Martin Luther u. der Bergbau im Mansfelder Land. Hg. Rosemarie Knape. Eisleben 2000, S. 163–188. – Lothar Berndorff: ›... und da habe ich müssen nach ihrer Sprach reden‹. Einsichten in die luth. Bergmannspredigten des C. S. In: ebd., S. 189–203. – Beat A. Föllmi u. Frank Muller: C. S. In: NDBA, 35. Lfg. (2000). S. 3679 f. – Jaumann Hdb. – Horst Carl: Die Haltung des reichunmittelbaren Adels zum Interim. In: Das Interim 1548/50. Herrschaftskrise u. Glaubenskonflikt. Hg. Luise Schorn-Schütte. Gütersloh 2005, S. 147–165, bes. S. 147–151. – Stefan Rhein u. Günther Wartenberg (Hg.): Reformatoren im Mansfelder Land. Erasmus Sarcerius u. C. S. Lpz. 2006, S. 135–316 (diverse Aufsätze). – Siegfried Bräuer: Die Stadt Mansfeld in der Chronik des C. S. In: Martin Luther u. Eisleben. Hg. R. Knape. Lpz. 2007, S. 307–341. – Thomas Kaufmann: C. S. (auch zu Johann u. Wolfhart S.). In: NDB. – L. Berndorff: Die Prediger der Grafschaft Mansfeld. Eine Untersuchung zum geistl. Sonderbewusstsein in der zweiten Hälfte des 16. Jh. Potsdam 2010, S. 76–83 u.ö. Jens Haustein / Wilhelm Kühlmann

Spangenberg, Johann, * 29.3.1484 Hardegsen, † 13.6.1550 Eisleben. – Theologe, Schulreformer, Musiktheoretiker. S. studierte nach Schulbesuch in Göttingen (1501) u. Einbeck (1502) seit Herbst 1508 in Erfurt u. gehörte dem Dichterkreis um Eobanus Hessus an. Er korrespondierte u. a. mit Melanchthon u. Johannes Manlius. Humanistische Ideale bestimmten ihn, als er nach dem Erwerb des Bakkalaureats u. Magistergrades (1511) die Lateinschule in Stolberg/ Harz leitete (1520). Nach Nordhausen wurde S. 1524 als Pfarrer an St. Blasii berufen. Er spielte eine bedeutende Rolle bei der Durchsetzung der Reformation im Südharz nach dem Bauernkrieg (Bericht darüber in: Von den worten Christi, Matthej. XIII. Lasset es beides mit einander auffwachsen, bis zu der Erndte. Wittenb. 1541. Auch Augsb. 1541). Aus seinen intensiven Bemühungen um eine Verbesserung des Schulwesens erwuchsen mehrere Lehrbücher für den Lateinunterricht, u. a. eine Verslehre u. eine Grammatik. Der katechetischen Unterweisung dienten die Postilla teutsch [...]. Für die jungen Christen, Knaben und Meydlein, in Fragstücke verfasset, zu der Luther ein Vorwort schrieb (Nürnb. 1544.

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Neuaufl.en u. Übersetzungen bis ins 18. Jh.) u. Der groß Catechismus und Kinder Lere (Wittenb. 1541 u. ö.; auch lat. u. niederdt.). U. d. T. Explicationes Evangeliorum et Epistolarum edierte S.s Sohn Cyriacus postum die für Prediger bestimmten Perikopentafeln (Basel 1555 u. ö.). 1546 wurde S. von den Mansfelder Grafen auf Anraten Luthers nach Eisleben berufen; als Generalinspektor führte er Aufsicht über sämtl. Kirchen u. Schulen der Grafschaft Mansfeld. Weitere Werke: Xenophon: Hercules. Carmine redditus a Ioanne Spangenbergo [...]. Ffm. 1533. – Grammaticae latinae etymologia, in commodum et usum iuventutis Northusianae congesta [...]. Accessere syntaxis et prosodia. Wittenb. 1535 u. ö. – Artificiosae memoriae libellus [...]. Lpz. 1539. – Margarita theologica, continens praecipuos locos doctrinae christianae [...]. Vorrede v. Caspar Cruciger. Lpz. 1540 u. ö. (dt.: Heubtartickel reiner christlicher lere [...]. Übers. Johannes Gigas [Heune]. Wittenb. 1540). – Ain new Trostbüchlin, mit [...] underrichtung, wie sich ain Mensch berayten soll, zu ainem seligen sterben [...]. Augsb. 1542. Internet-Ed. in: VD 16. – Alte u. newe geistl. Lieder u. Lob-gesenge, von der Geburt Christi [...]. Erfurt 1544. – Des ehel. Ordens Spiegel u. Regel [...]. Magdeb. 1545. – Cantiones ecclesiasticae latinae [...]. Kirchengesenge deusch [...] durchs gantze Jar [...]. Magdeb. 1545. Ausgaben: Wackernagel 3, S. 923–934. – Von dem Leiden u. Auferstehen Jesu Christi. Groß Oesingen 1999. – A booklet of comfort for the sick u. On the Christian knight. Translated, edited and introduced by Robert Kolb. Milwaukee 2007. – Internet-Ed. mehrerer Werke in: VD 16. Literatur: Bibliografien: Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. Übersetzungen aus dem Italien. v. den Anfängen bis 1730. Bd. 1, Tüb. 1992, Nr. 0529, 1037, 1039. – Kosch, Bd. 18, Sp. 391–394. – VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Paul Tschackert: J. S. In: ADB. – Gustav Kawerau: J. S. In: RE (mit Werkverz.). – Andrea Guarnas Bellum Grammaticale u. seine Nachahmungen. Hg. Johannes Bolte. Bln. 1908 (Monumenta Germaniae Paedagogica, 43). – Gerhard Schmidt: Die Reformation in Nordhausen. Diss. Gött. 1924. – Ellinger, Bd. 2, Register. – Lebensbilder der Liederdichter u. Melodisten. Bearb. v. Wilhelm Lueken. (Hdb. zum Evang. Kirchengesangsbuch, Bd. II, 1). Bln. (auch Gött.) 1957, S. 36 f. – Irmgard Höß: Duldung, Glaubenszwang u. Widerstand. Eine Stellungnahme J. S.s aus dem Jahre 1541. In: ARG 61 (1970),

81 S. 234–248. – Ernst Koch: Kirchl. Probleme in Nordhausen zur Zeit Thomas Müntzers. In: Beiträge zur Heimatkunde aus der Stadt u. Kreis Nordhausen 14 (1989), S. 6–14. – HKJL, Bd. 1, Register. – Dieter Fauth: J. S. In: Bautz (Lit.). – Ken Sundet Jones: Promissio and death. Luther and God’s word for the end of life. Ann Arbor 2004. – R. Kolb: J. S.s ›Christlicher Ritter‹ als Beispiel der frühluth. Erbauungsliteratur. In: Luth. Theologie u. Kirche 28 (2004), S. 57–80. – Günther Wartenberg: Georg Major in den polit.-theolog. Auseinandersetzungen in Kursachsen zwischen 1546 u. 1552. In: Georg Major (1502–1574). Ein Theologe der Wittenberger Reformation. Hg. Irene Dingel u. a. Lpz. 2005, S. 207–231. – Albrecht Classen: Der Liebes- u. Ehediskurs vom hohen MA bis zum frühen 17. Jh. Münster u. a. 2005, S. 165–70. – Michael Zywietz: J. S: In: MGG 2. Aufl. Bd. 15 (Pers.), Sp. 1139 f. – Reformatoren im Mansfelder Land. Erasmus Sarcerius u. Cyriakus Spangenberg. Hg. Stefan Rhein u. a. Lpz. 2006, Register. – Ernst Koch: Typographus incuriosus? Zur Druckgesch. der ›Cantiones ecclesiasticae‹ v. J. S. (1545). In: Buchwesen in SpätMA u. Früher Neuzeit. FS Helmut Claus. Hg. Ulman Weiß. Epfendorf 2008, S. 267–275. – Thomas Kaufmann: J. S. In: NDB. Jörg Köhler / Red.

Spangenberg, Wolfhart, auch: Lycostenes Psellionoros Andropediacus, Adolph Rose von Creutzheim, * 6.11.1567 Mansfeld, † um 1636 Buchenbach/Jagst. – Theologe, vielseitiger Dichter u. Meistersänger, Übersetzer. Der Nachkomme einer bekannten Theologenfamilie u. sechste Sohn des Cyriakus Spangenberg teilte in der Jugend die Schicksale seines Vaters. Den Flacianern angehörend, wurden die Spangenbergs 1575 aus Mansfeld vertrieben u. fanden 1577 in Straßburg, 1581 in Schlitz/Oberhessen Zuflucht. 1586 bezog S. die Universität Tübingen (1588 Baccalaureus, 1591 Magister). Spätestens 1595, als der Vater mit Unterstützung des Grafen Ernst von Mansfeld nach Straßburg zurückkehrte, ließ sich auch S. dort nieder u. lebte in dürftigen Umständen von literar. Auftragsarbeiten u. als Korrektor der Verleger Bernhard u. Tobias Jobin u. Johann Carolus. 1600 erwarb er durch Heirat mit Judith Gart, geb. Span, das Bürgerrecht Straßburgs. 1601 wurde er dort in die Meis-

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tersingerzunft aufgenommen u. machte sich wie schon sein Vater durch Schriften zur Geschichte u. zu den Regularien der Meistersinger (Von der Musica. Singekunst oder Meister Gesang. Singschul. Nürnb. o. J. [1615]) verdient. Auch schrieb er mehr als 30 Meisterlieder für die Zunft. Für die Dramenaufführungen des Gymnasiums übersetzte S. 1603–1609 alljährlich die nlat. Textfassungen ins Deutsche (Jeremia nach Naogeorgus. 1603. Alcestis nach Euripides. 1604. Hecuba nach Euripides. 1605. Simson u. Saul. 1606. Conflagratio Sodomae nach Andreas Saurius. 1607. Amphitruo nach Plautus. 1607. Aiax Lorarius nach Sophokles auf der Basis einer lat. Fassung von Joseph Scaliger. 1608. Balsazar nach Hirtzwig. 1609. Alle Straßb. Die Erscheinungsdaten der verlorenen Dramen Hercules Furens u. Lucretia sind unbekannt). Ein ergiebiges Feld literar. Tätigkeit fand S. im Verfassen von Glückwunschgedichten in Knittelversen auf Namens- u. Geburtstage (Anbind oder Fang-Briefe. o. O. 1611), die histor. Themen oder Legendenstoffe verwerten u. als Fundgrube für Gelegenheitsgedichte 1623 u. 1636 neu aufgelegt wurden. Seinen literar. Ruhm begründete S. mit den Tierepen GanßKönig (Straßb. 1607) u. EselKönig (1608 konzipiert, um 1617 aktualisiert. Ersch. ebd. 1625). In dem in Knittelversen abgefassten GanßKönig dient die Fabel von der Königswahl der Gans, ihrem Märtyrertod, ihrer Heiligsprechung u. Transfiguration dazu, die Schilderung von Volksbräuchen mit Exempeln u. Annotationen aus humanistischer Bildungstradition zu verknüpfen. Das Vorbild Fischarts (Flœh Haz) macht sich in Parodien u. der satir. Darstellung des Stadtbürgertums bemerkbar. Der umfangreichere EselKönig ist in Prosa abgefasst. In einer der Vorreden berichtet der Esel von einem Göttersymposion nach Art von Boccalinis Relation aus Parnasso, bei dem das Tierepos Von des Esels Adel und der Sau Triumph von Georg Friedrich Messerschmid (1617) nach Opitzschen Kriterien einer Prüfung unterzogen wird. Die unter der Fülle enzyklopäd. Stoffe zurücktretende Fabel erzählt die Bedrohung der Herrschaft des Löwengeschlechts durch intrigante Cliquen, v. a. durch »Kreuzfuchs« u. »Bruder Esel vom Rosenkreuz«, aber auch durch die

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Dummheit des Volkes, ihre Ablösung durch die Herrschaft des Esels Simplicius u. ihre Wiederherstellung. Der Roman enthält satir. Anspielungen auf die Rosenkreuzer, deren Hauptschriften um 1617 erschienen, u. auf gesellschaftl. u. polit. Vorgänge im Böhmischen Krieg, die nur ein akadem. Publikum verstehen konnte. Ein erhaltenes Exemplar des EselKönig ist mit Randnoten eines zeitgenöss. Lesers versehen, welche die Namen der Tierfiguren auf histor. Personen beziehen. Eine Neuauflage von Fischarts Flœh Haz (1610) nutzte S. dazu, eine eigene Versdichtung, Deß Flohes Strauß mit der Lauß u. Lob der Mucken (nach Lukian), einzufügen. 1611 nahm S. ein Angebot des Flacianers u. Grundherrn von Buchenbach/Jagst, Wolf von Stetten, an, in Buchenbach zunächst als Pfarrvertreter, ab 1615 als Pfarrherr Anstellung zu finden. Dort heiratete er zum zweiten Mal. Die Verbindungen nach Straßburg blieben erhalten. Das erweisen die Dramen Glückswechsel, Wie gewunnen so zerrunnen (beide Nürnb. 1613) u. Mammons Sold (Erfurt 1614), die, für die Meistersingerbühne bestimmt, jetzt erst gedruckt wurden. S. verfasste noch Gelegenheitsgedichte auf Angehörige der Familie von Stetten u. seiner eigenen Familie. Die letzten Einträge von seiner Hand in den Kirchenbüchern von Buchenbach datieren von 1636. Wirkungen gingen v. a. von den Anbind oder Fang-Briefen u. vom GanßKönig aus. 1609 erschien die Martins Ganß von Johannes Sommer, um 1640 schrieb Jacob Balde den Clangor anseris. Weitere Werke: Künstl. Wolgerissene Figuren. Straßb. 1605. – Geist u. Fleisch. Ebd. 1608. – Beschreibung des Glückhafens. Ebd. 1609. – Der Kgl. Majestät zu Ungarn Matthiae des Andern [...] Krönung. Ebd. 1609. – Das Gericht Salomonis. o. O. u. J. [Nürnb. 1615?]. – Anmütiger Weißheit Lust Garten. Straßb. 1621 (dt. Bearb. des ›Hortulus philosophicus‹ v. Martin Mylius). Ausgaben: Ausgew. Dichtungen. Hg. Ernst Martin. Straßb. 1887. – Griech. Dramen in dt. Bearbeitungen. Hg. Oskar Dähnhardt. Stgt. 1896. – Anbind- oder Fangbriefe. Hg. Fritz Behrend. Tüb. 1914. – Sämtl. Werke. Hg. András Vizkelety. 6 Bde., Bln./New York 1971–82. – Wilhelm Kühlmann: W. S. In: Daphnis 16 (1987), S. 387–401 (nicht bei Vizkelety aufgeführte Kasualgedichte u. Briefe an Michael Maestlin). – Martin Bircher: Lobspruch der

82 Tugend. Eine unbekannte Dichtung W. S.s zu Ehren des österr. Protestanten Karl Jörger v. Tollet, Straßburg 1605. In: ›Der Buchstab tödt – der Geist macht lebendig‹. FS Hans-Gert Roloff. Hg. James Hardin u. Jörg Jungmayr. Bd. 2, Bern u. a. 1992, S. 645–695. Literatur: Werk- und Literaturverzeichnis: Dünnhaupt, Bd 5, S. 3909–3927. – Weitere Titel: Gustav Bossert: W. S. In: ADB. – Fritz Behrend: Über den Verf. des ›Eselkönigs‹. Diss. Bln. 1905. – Ders.: Die Spangenbergs. In: Ztschr. für Kirchengesch. N. F. 56 (1937), S. 114–123. – Hans Müller: W. S. In: ZfdPh 81 (1962), S. 129–168, 385–401. 82 (1963), S. 454–471. – Ders: Zur Blütezeit des Straßburger Meistersangs. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 71 (1962), S. 151–169. – András Vizkelety: W. S.s ›Singschul‹. In: Euph. 58 (1964), S. 153–185. – Martin Bircher: ›Das Gericht Salomonis‹ – ein unbekanntes Drama v. W. S. In: WBN 2 (1975), H. 2, S. 144 f. – Walter Blanck: Straßburger Meistersang u. S.s ›Von der Musica‹. In: Alemannica. FS Bruno Boesch. Bühl 1976, S. 355–372. – Erich Kleinschmidt: Stadt u. Lit. in der frühen Neuzeit. Köln/Wien 1982, S. 330–340 u. ö. (Register). – Klaus Conermann: Rosenkeuzerischer ›EselKönig‹ u. bäur. ›Legation Oder Abschickung der Esell in Parnassum‹, zwei Tiersatiren des frühen 17. Jh. In: Daphnis 14 (1985), S. 721–757. – RSM, Bd. 12, S. 84–95. – Walter E. Schäfer: S.s ›Ganskönig‹. In: Simpliciana 18 (1996), S. 29–43. – Ders.: Die satir. Schr.en W. S.s. Tüb. 1998. – Anastasia Daskarolis: Die Wiedergeburt des Sophokles aus dem Geist des Humanismus. Tüb. 2000, bes. S. 311. – Beat A. Föllmi u. Frank Muller: W. S. In: NDBA, Lfg. 35 (2000), S. 3681. – Thomas Kaufmann: W. S. In: NDB. Walter E. Schäfer / Red.

Spanheim, Ezechiel Frh. von, Ezechielius Spanhemius, * 7.12.1629 Genf, † 25.11. 1710 London. – Diplomat, Gelehrter, Philologe u. Numismatiker. Er war der zu seiner Zeit europaweit prominenteste u. noch heute sicherlich der interessanteste der unter dem Namen S. bekannten Gelehrten. In der aus der Oberen Pfalz stammenden Familie war die Verbindung von reformiertem Bekenntnis u. frz. Orientierung bestimmend. Schon der Großvater Wigand Spanheim († 1620), Theologe u. Kirchenrat Friedrichs V. von der Pfalz, des ›Winterkönigs‹, im oberpfälz. Amberg, war mit einer Tochter des aus Frankreich stammenden kalvinist. Theologen Daniel Tos-

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sanus d.Ä. (1541–1602), Renata, verheiratet. Die Ehefrau des Vaters Friedrich Spanheim d.Ä. (1600–1649), der noch in Amberg geboren ist, war Charlotte du Port aus einer nach Genf emigrierten frz. Hugenottenfamilie. Der Vater hatte jeweils die erste theolog. Professur an der Hochschule in Genf u. an der Universität in Leiden inne. Die europ. Gelehrtenrepublik war um 1600 u. (mit stark rückläufiger Tendenz) im 17. Jh. (krypto-)kalvinistisch dominiert, u. die neue, moderne Universität Leiden war führend nicht nur im protestantischen Europa (vgl. Leiden University, 1975). S. wurde in Genf durch Privatlehrer französisch erzogen. 1642 ging er mit der Familie nach Leiden u. studierte dort seit 1644 die klass. u. oriental. Sprachen u. Philologie, besonders bei den Koryphäen Claudius Salmasius u. Daniel Heinsius, später auch Theologie. In seiner einzigen gedruckten theolog. Disputation, die zusammen mit der Streitschrift des früh verstorbenen Vaters im Jahr von dessen Tod von André Rivet herausgegeben wurde (Vindiciae, partes duae posthumae. 1649), verteidigt er die orthodoxe Lehre des Vaters gegen Moïse Amyraut (Amyraldus), einen Theologen an der Hochschule von Saumur, der mit seiner Auslegung des dogmat. Hauptthemas von der Prädestination u. Gnadenwahl (De gratia universali, in: Dissertationes theologicae quatuor [...]. Saumur 1645) den Arminianern zu weit entgegengekommen war. Von einer anderen Disputation, den Theses contra Ludovicum Cappellum pro antiquitate literarum hebraicarum gegen die Ansichten des Louis Cappel von Alter u. Bedeutung der hebr. Vokalzeichen, die er bereits 1645 mit 16 Jahren spektakulär »sine praeside« u. im Übrigen wohl ganz im Sinne seines konservativen Vaters verteidigt haben soll, ist jedoch kein Druck bekannt (vgl. Danneberg, 2003). Der dem ›kalvinistischen Vatikan‹ in Genf als sehr brauchbar aufgefallene junge Mann wurde bereits 1651 als Professor der Rhetorik an die Hochschule berufen, wurde im Jahr darauf zum Mitgl. des Großen Rats bestellt u. unternahm 1656 im Auftrag der Genfer Stadtrepublik eine längere Reise in die Niederlande. In diesen Jahren einer sehr erfolgreichen Lehrtätigkeit trug er auch seinen

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Panegyricus (zus. mit einem Sonett) auf die Königin Christine (Kristina) von Schweden vor (1651), die berühmte Förderin der Wissenschaften, die drei Jahre später auf den Thron verzichtete, zur röm. Kirche konvertierte u. nach Rom übersiedelte (seit 1655 im Palazzo Farnese, † 1689). Wie die Huldigung an Christine ist wohl auch die geistl. Rede über die Weihnachtskrippe (Sur la crèche de notre Seigneur. 1655) im Kontext seiner Tätigkeit als Professor der Beredsamkeit zu sehen. 1657 gab S. seine Professur auf u. folgte einer Einladung aus dem reformierten Heidelberg als Erzieher des Kurprinzen Karl von der Pfalz u. seiner jüngeren Schwester Elisabeth Charlotte (* 1652), der Liselotte von der Pfalz, die später mit Philippe von Orléans verheiratet wurde u. die er als Schwägerin des Königs in den 1680er Jahren als Gesandter in Paris wiedersehen sollte. Bald wurde S. auch zu politisch-diplomatischen Diensten herangezogen u. hielt sich 1661–1665 in Italien auf, besonders in Florenz u. Rom, wo er im Gelehrtenkreis um die konvertierte Christine von Schweden verkehrte u. sich (vergeblich) auch um die Rückführung der 1622 nach Rom transportierten Heidelberger ›Bibliotheca Palatina‹ bemühte. Mit Christines Hilfe wurde dort auch sein numismat. Hauptwerk De praestantia et usu numismatum antiquorum gedruckt (1664, in mehreren, immer prächtigeren Ausg.n bis 1717), u. es ergaben sich Kontakte zum Abbé Nicaise u. zu Athanasius Kircher. Seit 1666 amtierte S. als Erzieher u. kurpfälz. Rat bzw. Gesandter in Paris u. an den Höfen in Wien, Venedig, Florenz, Den Haag, auf dem Friedenskongress in Nimwegen, in Stockholm u. Hannover, 1669 als Resident in Köln; mehrere Reisen führen ihn nach London. 1672–1675 war er zudem Oberaufseher der Heidelberger Bibliothek. Schließlich wechselte S., der schon in Köln auch die Interessen Brandenburgs mit vertreten hatte, ganz in brandenburgische Dienste. Aus London begab er sich 1680 nach Paris, wo er bis 1689, dem Beginn des Pfälzischen Krieges, als Sonderbotschafter residierte, in engem Kontakt zum König u. regem Austausch mit Gelehrten wie Pierre Daniel Huet, dem Abbé Bignon, dem Père la Chaise u. jener Liselotte von Orléans, deren

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Erzieher er vor mehr als zwei Jahrzehnten in Heidelberg gewesen war. S. bemühte sich in diesen Jahren des widerrufenen Toleranzedikts auch um Unterstützung für verfolgte Hugenotten, etwa bei der Ausreise besonders nach Brandenburg (vgl. über dieses Jahrzehnt seine Relation de la cour de France von 1690, in Ausg.n von 1882 u. ö.). Nach dem Abbruch der Beziehungen wurde S. 1689 nach Berlin zurückberufen. Dort war er neben diplomatischer Arbeit v. a. als Beauftragter für alle kirchlichen, kulturellen, rechtl., polit. u. finanziellen Fragen der hugenottischen Réfugiés in Brandenburg tätig. In der sog. »Spanheim-Conferenz«, einem wöchentl. Gelehrtenzirkel in seinem Haus, sorgte er im Geist der europ. ›République des lettres‹ v. a. für Kontakte der Hugenotten zu einheim. Gelehrten; unter den Teilnehmern waren Daniel Ernst Jablonski, Etienne Chauvin, David u. Charles Ancillon. Er hat maßgebl. Anteil an Gründung u. Aufbau des Französischen Gymnasiums in Berlin (Collège français, 1689, mit dem jüngeren Ancillon als erstem Direktor) sowie der brandenburgischen Reformuniversität Halle (1694). Die Kontakte zu Christian Thomasius, einem ihrer wichtigsten Köpfe der ersten Stunde, waren nur sporadisch; der Gelehrte in den Hauptstädten der Diplomatie u. der philosophische Jurist als Universitätslehrer u. Autor, so ›weltmännisch‹ gerade er auch sein wollte, waren doch durch Dimensionen getrennt. Seit 1693 war S. Wirklicher Geheimer Staatsrat. Die bedeutenden Briefwechsel v. a. mit Hermann Conring, Samuel Pufendorf u. besonders G. W. Leibniz, dem die Verbindung der Rollen des Staatsmanns u. des Gelehrten weniger befriedigend gelang, unterrichten über die weit gestreuten gelehrten Interessen, Pläne u. Aktivitäten. Noch in dem für diese Zeit sehr hohen Alter blieb S. von Krankheit verschont. Er kann als ein dt. Vertreter des vornehmlich engl. Typus des gelehrten ›antiquarian‹ betrachtet werden. 1698–1701 war S. wieder (nun königlich-preußischer) Gesandter bei Ludwig XIV. in Paris, 1701–1710 in gleicher Funktion in London, wo er gestorben u. in Westminster Abbey begraben ist. 1702 wurde seine Privatbibliothek von 9000 Bänden an die Königliche Bibliothek in Berlin verkauft.

84 Weitere Werke: Diatriba de lingua Hebraeorum. Diatriba II De litteris Hebraeorum. Constantijn L’Empereur ab Oppyck (Präses); E. S. (Respondent). Leiden 1648. – Ad criticen Salmuriensem, et grammaticas tricas. In: Friedrich Spanheim d.Ä.: Vindiciae pro exercitationibus suis, de gratia universali, partes duae posthumae: Adversus specimen animadversionum Mosis Amyraldi. Hg. u. Vorrede v. Andreas Rivetus. Amsterd./Leiden 1649. – F. Spanheim d.Ä.: Disputationes theologicae miscellaneae. Hg. E. S. 2 Tle., Genf 1652. – Panegyricus [...] Christinae [...] reginae: Dictus in alma Genevensi academia [...] 1651. Genf 1652. Frz.: Panégyrique de la reine de Suède. Ebd. 1652. – Beitr. (Elegia) in: Jacques Godefroy: Fontes quatuor iuris civilis in unum collecti. Ebd. 1653. – Discours sur la crèche de nostre Seigneur. Ebd. 1655. Erw. Köln 1677. Bln. 1695. – Les césars de l’empereur Julien [Julian Apostata]. Traduits du grec avec des remarques. Heidelb. 1660. Erw. mit Illustrationen. Paris 1683. 1696. – Dissertatio de praestantia et usu numismatum antiquorum. Rom 1664. Erw. mit Abb.en Amsterd. 1671. Erw., 2 Bde., London/ Amsterd. 1706–17. – Lettre à un amy où l’on rend compte d’un livre, qui a pour titre, Histoire critique du Vieux Testament [...]. Amsterd. 1679. Zuerst in: Richard Simon: Histoire critique du Vieux Testament. Paris 1678. Erw. Rotterdam 1685, S. 563–622 (vgl. dazu R. Simon: Réponse à la lettre de Mr. Spanheim. Ebd., S. 623–667). Lat. Version in: Ders.: Historia critica Veteris Testamenti. Irenopolis 1700. – Duae epistolae. In: Lorenz Beger: Observationes et coniecturae in numismata quaedam antiqua. Cölln [Neukölln] 1691. – Ad eximium virum Andream Morellium epistolae quinque. Lpz. 1695. – In Callimachi hymnos observationes. Utrecht 1697 u. ö. – Beitr. in: Charles Patin: Imperatorum Romanorum numismata ex aere mediae et minimae formae. Amsterd. 1697. – Orbis Romanus. In: Johann Georg Graevius: Thesaurus antiquitatum romanarum. Bd. 11, Utrecht 1699. Venedig 1735. – Komm. in: Strabon von Amaseia: [griech. Titel] Rerum geographicarum libri XVII. Amsterd. 1707. – Anmerkungen zu: Aristophanes: Comoediae undecim, graece et latine [...]. Hg. Ludolf Küster. Amsterd./Lpz. 1710. – Notae et emendationes in: Aelius Aristides: Opera omnia graece et latine [...]. 2 Bde., Oxford 1722. – Anmerkungen zu: Flavius Josephus: Opera omnia gaece et latine. 2 Bde., Amsterd. u. a. 1726. – Beitr. in: Isaac Casaubon: De satyrica Graecorum poesi et Romanorum satira libri duo [...]. Hg. Johann Jakob Rambach. Halle 1774. Ausgaben: Relation de la cour de France en 1690. Hg. Charles Schefer. Paris 1882 (Einl.

85 S. I–LVII). Erw. hg. v. Émile Bourgeois. Lyon/Paris 1900. Nachdr. hg. v. Michel Richard. Paris 1973. – Lettres de divers savants à l’abbé Claude Nicaise. Hg. Étienne Caillemer. Lyon 1885. – C. Schefer: La Rosière. État de la cour de Brandenbourg en 1694. In: Revue d’histoire diplomatique 1 (1887), S. 267–292, 411–424. – Richard Döbner: S.’s account of the english court. In: The english historical review 2 (Oxford 1887), S. 757–773. – Les correspondants de l’abbé Nicaise. I: Un diplomat érudit au XVIIe siècle: E. S. Lettres inédites (1681–1701). Hg. Émile DuBoys. Paris 1889. – Samuel Pufendorf: Briefw. Hg. Detlef Döring (= Ges. Werke. Hg. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Bd. 1). Bln. 1996. Literatur: Claude Nicaise: De nummo pantheo Hadriani imperatoris, ad illustrissimum Spanhemium dissertatio. Lyon 1689. Internet-Ed. in: BSB München. – Pierre Bayle: Dictionnaire historique et critique. 2 Bde., Rotterdam (1696) 1697 u. ö. – Jean Pierre Niceron: Mémoires pour servir à l’histoire des hommes illustres dans la république des lettres. Bd. 2, Paris 1729. – Zedler, Bd. 38 (1743), Sp. 1104–1106. – Jean Pierre Erman u. Peter Christian Reclam: Mémores pour servir à l’histoire des réfugiés françois. 9 Bde., Bln. 1782–99, bes. Bde. 1–3 (1782–84). – Eduard Muret: Gesch. der frz. Kolonie in Brandenburg-Preußen. Bln. 1885. Nachdr. Bln. 1990. – Herman v. Petersdorff: E. S. In: ADB. – Adolf v. den Velden: Über die hugenott. Abkunft des Frh. E. v. S. In: Die frz. Kolonie 7 (1893), S. 184–188. – Friedrich v. Weck: Zur Gesch. der Erziehung des Kurfürsten Karl v. der Pfalz u. seiner Schwester Elisabeth Charlotte. In: Zeitschr. für die Gesch. des Oberrheins N. F. 8 (1893), S. 101–119. – Johannes Kvacˇala: Die S.-Conferenz in Berlin. In: Monatshefte der Comenius-Gesellsch. 9 (1900), S. 22–43. – Ferdinand Petri: Die Spanheimgesellsch. in Berlin. 1689–1697. In: Das königl. Wilhelmsgymnasium in den Jahren 1858 bis 1908. Hg. Emil Schmiele. Bln. 1908, S. 123–142. – Viktor Loewe: Ein Diplomat u. Gelehrter des 17. Jh. E. S. in pfälz. Diensten. In: Zeitschr. für die Gesch. des Oberrheins N. F. 29 (1914). – Walter Kurenbach: Hof u. Staat Ludwig XIV. um 1690 nach der ›Relation de la Cour de France‹ v. E. S. Diss. Jena 1921. – Victor Loewe: Ein Diplomat u. Gelehrter: E. S. Mit Anhang: Aus dem Briefw. zwischen S. u. Leibniz. Bln. 1924. Nachdr. Vaduz 1965. – Heinz Schneppen: Niederländ. Univ.en u. dt. Geistesleben. Von der Gründung der Univ. Leiden bis ins späte 18. Jh. Münster 1960. – Leiden University in the 17th century. Hg. Th. H. Lunsingh Scheurleer u. G. H. M. Posthumus Meyjes. Leiden 1975. – Eduard Winter: Der brandenburg. Ketzerkreis: der Natur-

Spanheim rechtler Samuel Pufendorf, [Spener, G. Arnold, G. W. Leibniz, La Croze], der schöpfer. Diplomat E. S. In: Ders.: Ketzerschicksale. Unter Mitarb. v. Günter Mühlpfordt. Bln./DDR 21983. – Andreas Selling: Dt. Gelehrten-Reisen nach England 1660–1714. Ffm. 1990. – Ines Böger: Der Spanheimkreis u. seine Bedeutung für Leibniz’ Akademiepläne. In: Leibniz in Berlin. Hg. Hans Poser u. Albert Heinekamp. Stgt. 1990, S. 202–217. – Lucien Bély: Espions et ambassadeurs au temps de Louis XIV. Paris 1990. – Susanna Åkerman: Queen Christina of Sweden and her circle. The transformation of a seventeenth-century philosophical libertine. Leiden 1991. – Iiro Kajanto: A rhetorical analysis of E. S.’s ›Panegyricus‹ of Queen Christina. In: Arctos 26 (1992), S. 63–78. – Ders.: Christina heroina. Mythological and historical exemplification in the Latin panegyrics on Christina Queen of Sweden. Helsinki 1993. – Numismat. Lit. 1500–1864. Die Entwicklung der Methoden einer Wiss. Hg. Peter Berghaus. Wiesb. 1995. – Noack/Splett, Bd. 2, S. 436–50. – Peter Bahl: Der Hof des Großen Kurfürsten. Köln 2001. – Lutz Danneberg: E. S.’s dispute with Richard Simon. On the Biblical Philology at the end of the 17th century. In: The Berlin Refuge, 1680–1780. Learning and Science in European Context. Leiden 2003, S. 49–88. – Stefan Lorenz: E. S. u. das höhere Bildungswesen in Brandenburg-Preußen um 1700. In: Vom Kurfürstentum zum ›Königreich der Landstriche‹. Brandenburg-Preußen im Zeitalter von Absolutismus u. Aufklärung. Hg. Günther Lottes. Bln. 2004, S. 85–136. – Internat. Beziehungen in der Frühen Neuzeit. Hg. Heidrun Kugeler u. a. Münster 2006. – Sven Externbrink: Diplomatie u. République des lettres. E. S. (1629–1710). In: Francia 34 (2007), S. 27–59. – Ders.: ›Internationaler Calvinismus‹ als Familiengesch.: Die Spanheims (ca. 1550–1710). In: Grenzüberschreitende Familienbeziehungen. Akteure u. Medien des Kulturtransfers in der Frühen Neuzeit. Hg. Dorothea Nolde u. Claudia Opitz. Köln 2008, S. 137–156. – Hendrick Ziegler: Der Sonnenkönig u. seine Feinde. Die Bildpropaganda Ludwigs XIV. in der Kritik. Hbg. 2008. Mit einem Vorw. v. Martin Warnke. Petersberg 2010. Herbert Jaumann

Spanheim, Friedrich d.Ä., * 1.1.1600 Amberg/Oberpfalz, † 30.4.1649 Leiden. – Reformierter Theologe. Der Sohn des kurpfälz. Kirchenrats in der Oberen Pfalz, Wigand Spanheim, u. Renatas, einer Tochter des aus Frankreich stammenden kalvinist. Theologen Daniel Tossanus,

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besuchte bis 1613 das Gymnasium in Amberg, studierte danach in Heidelberg die Artes u. seit 1619 die reformierte Theologie an der Hochschule in Genf. Nach dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges mit den Verwüstungen der Pfalz u. dem Abtransport der »Bibliotheca Palatina« aus Heidelberg nach Rom (1622, dort noch heute in der »Vaticana«) durch die kaiserl. Armee u. dem Tod des Vaters 1620 musste er das Studium abbrechen u. arbeitete drei Jahre als Hauslehrer in der Dauphiné. Anschließend reiste er von Genf aus nach Paris, dann nach England u. über Paris zurück. 1626 erhielt er eine Professur für Philosophie an der reformierten Akademie; 1631 wurde er dort als Nachfolger von Bénédict Turrettini d.Ä. Prof. der Theologie. 1635 hielt er die Festrede zum 100-jährigen Jahrestag der Genfer Reformation Calvins: Geneva restituta. Eines der in diesen Jahren entstandenen u. bes. erfolgreichen Bücher, Le soldat suédois (zuerst 1633), handelt vom Dreißigjährigen Krieg seit dem als göttl. Fügung gefeierten Eingreifen Gustav Adolfs von Schweden. S., dessen Leben ganz vom Krieg überschattet war, publizierte davon mehrere Fortsetzungen bis in die 1640er Jahre hinein, u. das Werk wurde sogleich ins Italienische (1634), später (1649) noch ins Niederländische übersetzt. 1642 folgte er einem ehrenvollen Ruf nach Leiden u. musste auf der Reise in Basel noch den theolog. Doktorgrad erwerben, ehe er seine Lehrtätigkeit an der führenden protestantischen Universität Europas aufnehmen konnte. Als theolog. u. religionspolit. Berater stand er in Beziehung zum Prinzen von Oranien, zur Exkönigin von Böhmen Elisabeth Stuart u. zu Königin Christine von Schweden. Er gehörte zu den entschiedenen Vertretern der strengen kalvinistischen Dogmatik u. trat noch kurz vor seinem frühen Tod Moïse Amyraut (Amyraldus) entgegen, einem Theologen an der reformierten Hochschule von Saumur, wo später auch Bayle gelehrt hat. Amyraut war mit seiner hypothet. Auslegung des dogmat. Hauptthemas von der Prädestination u. Gnadenwahl (De gratia universali. In: Dissertationes theologicae IV. Saumur 1645) den Arminianern nach S.s Meinung zu weit entgegengekommen. Die letzte Schrift

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S.s, die Vindiciae pro exercitationibus suis [...]: Adversus specimen animadversionum Mosis Amyraldi, wurde 1649 von André Rivet mit dessen Vorrede u. einer Dissertation des Sohnes Ezechiel herausgegeben. Weitere Werke: Dubia evangelica: discussa et vindicata tum a cavillis atheorum, tum a corruptelis sectariorum. 3 Tle., Genève 1634–39. 1654. – Le soldat suédois. Genève/Rouen 1633. Mit Forts. in verschiedenen Ausg.n bis Rouen 1642. Ital. Übers. Venezia 1634. Niederländ. Übers. Amsterd. 1649 [über den Dreißigjährigen Krieg seit dem Eingreifen Gustav Adolfs v. Schweden]. – Le Mercure Suisse. Genève/Rouen 1634. – Geneva restituta. Genève 1635. 1636. – Commentaire historique de la vie et de la mort des Messire Christofle vicomte de Dohna. Ebd. 1639. – De officio theologi. Leiden 1642 [Antrittsrede]. – Epistola ad Dav. Buchananum super controversiis quibusdam quae in ecclesiis Anglicanis agitantur. Ebd. 1645. – Diatribe historica de origine, progressu, sectis et nomine Anabaptistarum. In: Johannes Cloppenburg: Gangraena theologiae anabaptisticae. Franeker 1645. – Exercitationes de gratia universali. 3 Tle., ebd. 1646. – Dissertationum theologico-historicarum trias. Heidelb. 1648. – Vindiciae pro exercitationibus suis de gratia universali partes duae posthumae: Adversus specimen animadversionum Mosis Amyraldi. Hg. mit Praefatio v. Andreas Rivetus u. Appendix v. Ezechiel Spanheim: Ad critice¯n Salmuriensem et Grammaticas tricas [...]. Amsterd./Leiden 1649. – Disputationes theologiae miscellaneae. Genève 1652. Literatur: Abraham Heidanus: Oratio funebris in obitum [...] Friderici Spanhemii. Leiden 1649. – Zedler, Bd. 38 (1743), Sp. 1099–1101. – Paul Tschackert: F. S. In: ADB. – Friedrich W. Cuno: Daniel Tossanus der Ältere. Prof. der Theologie u. Pastor (1541–1602). 2 Bde., Amsterd. 1898. – Victor Loewe: Ein Diplomat u. Gelehrter: Ezechiel Spanheim 1629–1710. Bln. 1924. Nachdr. Vaduz 1965. – H. J. de Jonge: The study of the New Testament. In: Leiden University in the 17th Century. Hg. Th. H. Lunsingh Scheurleer u. G. H. M. Posthumus Meyjes. Leiden 1975, S. 65–109. – Ulrich im Hof: Dt. Studenten u. Dozenten an den Hohen Schulen der reformierten Schweiz. In: Das Reich u. die Eidgenossenschaft 1580–1650. Hg. ders. u. Suzanne Stehelin. Fribourg 1986, S. 33–54. – Erich Wenneker: F. S. In: Bautz. – Sven Externbrink: ›Internationaler Calvinismus‹ als Familiengesch.: die Spanheims (ca. 1550–1710). In: Grenzüberschreitende Familienbeziehungen. Akteure u. Medien des Kulturtransfers in der Frühen Neuzeit. Hg. Dorothea Nolde u. Claudia Opitz. Köln u. a. 2008,

87 S. 137–156. – Volker Hartmann u. Björn Spiekermann: Zwischen Kanzel u. Reichspolitik. Die Autobiogr.n des Heidelberger Theologen Paulus Tossanus (1572-ca. 1634). In: Früchte vom Baum des Wissens [...]. Hg. Ditte Bandini u. a. Heidelb. 2009 (100 Jahre Heidelb. Akad. der Wiss.), S. 281–300. – Yi Nam-gyu: Die Prädestinationslehre der Heidelberger Theologen 1583–1622: G. Sohn, H. Rennecherus, J. Kimedocius, Daniel Tossanus. Gött. 2009. Herbert Jaumann

Spanheim, Friedrich d.J., * 1.5.1632 Genf, † 18.5.1701 Leiden. – Reformierter Theologe u. Kirchenhistoriker. Der Sohn des 1626–1642 in Genf u. während seiner letzten Jahre in Leiden lehrenden Theologen Friedrich Spanheim d.Ä. (1600–1649) u. jüngere Bruder des Diplomaten u. Philologen Ezechiel von Spanheim (1629–1710) besuchte in Leiden die Schulen u. studierte an der Universität, wo sein Vater Theologie lehrte. Seine Ehefrau Charlotte war die Tochter der aus Frankreich geflohenen hugenottischen Familie von Pierre du Port, Baron de Mouillepied et de Boismasson. 1655 berief ihn Kurfürst Karl Ludwig von der Pfalz als Professor der Dogmatik nach Heidelberg, wo S. vor allem Vorlesungen über Kontroversu. Moraltheologie hielt. Seit 1659 las er auch über das NT u. übernahm 1660 die Professur für NT. Die Gunst des Fürsten hinderte ihn nicht, sich gegen dessen Ehescheidung zu erklären. Seit 1670 lehrte er in Leiden als Nachfolger von Johannes Coccejus als Professor der Theologie u. an der Philosophischen Fakultät Kirchengeschichte; seit 1684 war er Professor primarius u. wegen seiner publizistischen Tätigkeit von der Lehre befreit. Sein Werk Brevis introductio ad historiam sacram utriusque testamenti war nicht nur in Leiden als Lehrbuch der Kirchengeschichte in Gebrauch. Er amtierte immer auch als Prediger, ging als Kontroverstheologe keinem Streit aus dem Weg u. war mehrere Jahre Vorsteher der Universitätsbibliothek. Wie sein Vater war der jüngere S. ein konservativer Vertreter der reformierten Orthodoxie. Er stand auf der Seite von Gijsbert Voetius, u. seine Gegner waren sowohl der Vorgänger Coccejus u. die Vertreter des Cartesianismus als auch Thomas Hobbes u. der Religions-

Spanheim

philosoph Edward Herbert of Cherbury (1683–1748). Seine Unterscheidung von fundamentalen u. nichtfundamentalen Glaubensartikeln war jedoch ein bedeutender Schritt zur Einhegung u. Überwindung der Orthodoxie. Auch argumentierte er in einer Dissertation (1679/1702) dagegen, dass der Apostel u. Begründer des Papsttums Petrus eine Reise nach Rom unternommen habe u. jemals in Rom gewesen sei (dazu Danneberg 2003). Weitere Werke: De divina scripturarum origine et autoritate. Heidelb. 1655. – Pro parente suo, adversus Johannis Dallaei pseudo-apologiam. Defensio prima. [Widmung an Samuel Desmarets (Maresius)]. Ebd. 1658. – De aequalitate veterum metropoleon cum romana seu de canone VI Concilii Nicaeni Primi. Ebd. 1664. Leiden 1673. – Lettre de consolation à son Altesse Électorale de Brandenbourg sur le decès de la Serenissime Épouse. Heidelb. 1667. – De antiquitate et obscuris historiae Jobi. Genève 1670. Leiden 1672. – Geographia sacra et ecclesiastica. Ebd. 1670. – De sacrarum antiquitatum praestantia. Ebd. 1671. – Bibliothecae Lugduno-Batavae nova auspicia. Ebd. 1674. – Catalogus bibliothecae publicae Lugduno-Batavae noviter recognitus. Ebd. 1674. – Introductio ad antiquitates sacras cum appendice chorographica et critica maioris operis epitome, in usum academicae juventutis. Ebd. 1675 u. ö. Halle 1770. – L’athée convaincu, en quatre sermons sur les paroles du Pseaume XIV. vers 1: ›L’insensé a dit en son cœur, il n’y a point de Dieu‹ [...]. Leiden 1676. – De novissimis circa res sacras in Belgio dissidiis epistola ad amicum responsoria. Ebd. 1677. – Dissertationum historici argumenti quaternio. Ebd. 1679. – De aera conversionis Paulinae et annexis. Ebd. 1679. – Introductio ad chronologiam et historiam sacram ac praecipue christianam. Ebd. 1683. 1687. – Summa historiae ecclesiasticae ab Christo nato ad saeculum XVI inchoatum. Ebd. 1689. – Controversiarum de religione cum dissidentibus hodie Christianis, prolixe et cum Judaeis elenchus historico-theologicus. Amsterdam 1694. – Brevis introductio ad historiam sacram utriusque testamenti ac praecipue christianum ad annum MDXVI inchoata jam reformatione. Ebd. 1694. – Geographia sacra utriusque testamenti ac praecipue Christiana. Ebd. 1694. – Dissertatio de ficta profectione Petri apostoli in urbem Romam deque non una traditionis origine [1679]. In: Opera. 3 Bde., ebd. 1701–1703, hier: Bd. 2, S. 331–388. Literatur: Zedler, Bd. 38 (1743), Sp. 1101–1104. – Friedrich W. Cuno: F. S. d.J. In: ADB.

Sparschuh – Victor Loewe: Ein Diplomat u. Gelehrter: Ezechiel S. 1629–1710. Bln. 1924. Nachdr. Vaduz 1965. – Emil Clemens Scherer: Gesch. u. Kirchengesch. an den dt. Universitäten. Freib. i. Br. 1927. – Heinz Schneppen: Niederländ. Universitäten u. dt. Geistesleben. Von der Gründung der Univ. Leiden bis ins späte 18. Jh. Münster 1960. – Gustav Adolf Benrath: Reformierte Kirchengeschichtsschreibung an der Univ. Heidelberg im 16. u. 17. Jh. Speyer 1963, S. 105–126. – Leiden University in the 17th century. Hg. Th. H. Lunsingh Scheurleer u. G. H. M. Posthumus Meyjes. Leiden 1975. – Klaus Wetzel: Theolog. Kirchengeschichtsschreibung im dt. Protestantismus 1660–1760. Gießen 1983. – Otto Merk: Von Jean-Alphonse Turrettini zu Johann Jakob Wettstein. In: Histor. Kritik u. bibl. Kanon in der dt. Aufklärung. Hg. Henning Graf Reventlow u. a. Wiesb. 1988, S. 89–112. – Erich Wenneker: F. S. In: Bautz. – Lutz Danneberg: E. S.’s dispute with Richard Simon. On the Biblical Philology at the end of the 17th century. In: The Berlin Refuge, 1680–1780. Learning and Science in European Context. Leiden 2003, S. 49–88. – Sven Externbrink: ›Internationaler Calvinismus‹ als Familiengesch.: die Spanheims (ca. 1550–1710). In: Grenzüberschreitende Familienbeziehungen. Akteure u. Medien des Kulturtransfers in der Frühen Neuzeit. Hg. Dorothea Nolde u. Claudia Opitz. Köln 2008, S. 137–156. Herbert Jaumann

Sparschuh, Jens, * 14.5.1955 Karl-MarxStadt (Chemnitz). – Erzähler u. Hörspielautor. S. studierte 1973–1978 Philosophie u. Logik in Leningrad u. übernahm 1978 eine Assistenz an der Humboldt-Universität in (Ost-)Berlin, die 1983 nach seiner Promotion (Erkenntnistheoretisch-methodologische Untersuchungen zur heuristischen Ausdrucksfähigkeit aussagenlogischer Beweisbegriffe. 2 Bde., Bln. 1983) »auslief«, als sein Chef im Westen blieb. Seitdem ist S. freiberuflich tätig. 1999 sowie 2007/2008 nahm er Gastprofessuren am Leipziger Literaturinstitut wahr. S. trat zunächst mit Hörspielen (Es ist Zeit. Rundfunk DDR 1978. Der Geisterseher. Ebd. 1979) u. experimentell-spielerischen Gedichten hervor. Waldwärts (Bln./DDR 1985), ein »Reiseroman von A bis Z erlogen«, der konsequent durchs Alphabet führt, steht in Heine’scher Tradition. Dass die Reise im DDRKontext mehr meint als ein keckes Buchsta-

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benspiel, zeigt spätestens der Schluss: »Zurück zum Zimmer. // Zuriegeln. // Zuziehen. / Zappenduster!« In seinem ersten Roman, Der große Coup. Aus den geheimen Tage- und Nachtbüchern des Johann Peter Eckermann (ebd. 1987. Neuausg. Köln 1996. Hörsp. MDR 1998), wird von S. die Dienstbarkeit des unglückl. Goethe-Sekretärs vieldimensional ausgemessen u. problematisiert; die Klassik ist nicht nur durch »reine Menschlichkeit«, sondern auch durch den Aufbau von Hierarchien, durch Ich-Panzerung u. scheiternde Befreiungsversuche gekennzeichnet. An Sterne u. Jean Paul geschult, stellt der zweite Roman, KopfSprung. Aus den Memoiren des letzten deutschen Gedankenlesers (ebd. 1989), einen unmögl. Helden in den Mittelpunkt, einen Wiederkehrer aus dem Reich der Toten, dessen Reinkarnation v. a. die Wirklichkeitskonzepte der DDR stört: eine treffsichere Satire auf den »verzweifelt notorischen Wirklichkeitstrieb derer, die sich weiter von Wirklichkeit entfernt haben als sie überhaupt ahnen können«. Mit Der Schneemensch (Köln 1993) folgt der letzte Teil der von S. später in Anlehnung an Flaubert als »Lehrjahre der Galle« bezeichneten Romantrilogie. In Form eines Erinnerungsprotokolls zeigt S. den fortschreitenden Identitätsverlust des Erzählers, der im Auftrag des SS-»Ahnenerbes« im tibetischen Himalaya auf der Suche nach dem »germanischen Urahnen« ist. S. fragt nach den histor. u. sozialen Bedingungen der »Vernunft«, warnt vor einer ins Absurde u. Inhumane ausgreifenden Verabsolutierung, spürt ihren Deformationen nach. Dieser Grundgestus bestimmt auch die nachfolgenden Romane Der Zimmerspringbrunnen. Ein Heimatroman (ebd. 1995. Bühnenfassung v. Oliver Reese 1996. Urauff. Bln. 1996, Gorki-Theater. Hörsp. MDR/BR 1997. Verfilmt 2001, Regie: Peter Timm) u. Lavaters Maske (ebd. 1999). Beide führen ostdt. Protagonisten vor, deren Identität höchst prekär ist, die schwere Identitätskrisen durchlaufen, scheitern. Ihre Gesichts- u. Geschichtslosigkeit, ihre Gefühlsarmut u. Unfähigkeit, sich tiefgreifend mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen zu können, weisen auf eine grundsätzlich gestörte Kommunikation im dt.-dt. Einigungsprozess hin. S.s Roman

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Eins zu eins (ebd. 2003) führt diesen Aspekt fort; eine nahezu fontaneske Wanderung führt auf der Suche nach einem verschwundenen Kartografen durch das Brandenburg der neunziger Jahre, durch ostdt. Lebensgeschichten u. Befindlichkeiten, kleinere u. größere persönl. Tragödien, die mit der Geschichte der Westslawen, der »Wenden«, u. deren Verschwinden überblendet werden. Eine verfehlte Liebesgeschichte führt im Roman Schwarze Dame (ebd. 2007) dagegen in das Leningrad der siebziger Jahre. Nicht nur die »russische Seele«, auch die Philosophie Hegels sucht der Logikstudent Alexander hier zu verstehen. Doch erst das Verlassen der eingefahrenen Denkwege, so der Roman, führt zu Erkenntnis. – Vollkommen gegenläufig zu S.s maßgebenden Themen Identität u. Ich-Verlust, Regression u. Verstummen, Analyse herrschender Rationalitätsstrukturen, seel. Labyrinth, innere Leere u. Orientierungslosigkeit steht in allen Romanen stets ein leichter, anspielungsreicher Erzählton voller Sprachwitz, Humor, Parodie, Groteske. Auch die Erzählungen u. weithin erzählerisch orientierten, monologisch aufgebauten Hörspiele (Ein Nebulo bist du. 1980. SR 1989. Hörspielpreis der Kriegsblinden für 1990) weisen S. als einen Autor aus, der die Worte, Diskurse u. Wirklichkeitsebenen souverän überschneidet. 1991 erhielt S. den ErnstReuter-Hörspielpreis, 1996 den Literaturförderpreis der Freien Hansestadt Bremen. Weitere Werke: Ich dachte, sie finden uns nicht. Zerstreute Prosa. Köln 1997. – Die Elbe (zus. mit Walter Kempowski. Fotos v. Jörn Vanhöfen). Lpz. 2000. – Silberblick. Zwei Unterhaltungen. Illustriert v. Reinhard Minkewitz. Köln 2004. – Ich glaube, sie haben uns nicht gesucht. Zerstreute Prosa. Köln 2005. – Putz- u. Flickstunde. Zwei kalte Krieger erinnern sich (zus. mit Sten Nadolny). Mchn./Zürich 2009. – Hörspiele und Features: Adieu, mein König Salomo. Rundfunk DDR 1980. – Und führe uns nicht in Versuchung. Rundfunk DDR 1983. – Schönhauser. Rundfunk DDR 1985. – Der Koloß. Rundfunk DDR 1986. – Inwendig. Labyrinthgeschichte für Fortgeschrittene. NDR 1987. Erstsendung 24.2.1988. Textbuch Winsen/Luhe 1990. – Nikolaschka. Zur Rehabilitierung Nikolaj Iwanowitsch Bucharins. RB/DLF/SFB 1988. – Perpetuum mobile. NDR 1989. – Bahnhof Friedrichstraße – ein Museum. RB/DLF/SFB 1989. – Die

Spazier Konquistadoren. NDR/HR 1990. – Kyffhäuser. SFB/WDR/MDR 1992. – Ein seltener Knabe. SFB/ RB 1994. – Rückzu. SR/MDR 1994. – Drei Kometen. WDR 1996. – Das Lamadrama. MDR 2000. – Der letzte Elch. SFB/ORB/WDR/SWR 2001. – Herzblut. MDR 2004. – Zwischen den Zeilen. MDR 2005. – Kinderbücher: Parzival Pechvogel. Ein Kinderroman. Mit Bildern v. Manfred Bofinger. Zürich/Frauenfeld 1994. – Die schöne Belinda u. ihr Erfinder. Kinderroman. Mit Bildern v. dems. Ebd. 1997. – Stinkstiefel. Kinderroman. Mit Bildern v. dems. Zürich 2000. – Mit Lieschen Müller muß man rechnen. Eine Gesch. mit Zahlen. Mit Bildern v. Sandra Kretzmann. Mchn./Wien 2006. – Paulines Reise. Mit Original-Farblinolschnitten v. Ingrid Jörg. Bln. 2007. – Morgens früh um sechs ... Die Gesch. v. der kleinen Hexe u. dem dicken Heinz (Illustriert v. Julia Neuhaus). Rostock 2009. Literatur: Jürgen Engler: Philosophie, Lit., Witz u. Aberwitz. Werkstattgespräch mit J. S. In: Temperamente (1988), H. 1, S. 37–41. – Alexander v. Bormann: J. S. ›Der große Coup. [...]‹. In: Jb. des Wiener Goethe-Vereins 92/93 (1988/89) S. 360–362 (Rez.). – Hubert Spiegel: Lehrjahre der Galle. In: die tageszeitung, 8.12.1990. – Heinrich Vormweg: Rechtzeitige Entdeckung eines Autors. In: SZ, 29.3.1990. – J. Engler: Aus der Eis-Zeit. In: NDL 41 (1993), H. 5, S. 147–150 (zu ›Der Schneemensch‹). – A. v. Bormann: Ein leise plätscherndes Nein. Über J. S.s Roman ›Der Zimmerspringbrunnen‹. In: Gegenwart 29 (1996), S. 4–6. – Frank Thomas Grub: Gestürzte Denkmäler – ratlose Helden: Autorenporträt J. S. In: DU 52 (2000), H. 1, S. 87–95. – Tanja Nause: Helden ohne Vergangenheit. In: Dies.: Inszenierung v. Naivität. Tendenzen u. Ausprägungen einer Erzählstrategie der Nachwendeliteratur. Lpz. 2002, S. 170–191. – Thomas Kraft: J. S. In: LGL. – Elena Agazzi: Geschichtsbesessen. Die dritte Generation. In: Dies.: Erinnerte u. rekonstruierte Gesch. Gött. 2005, S. 134–165. – Chloe M. Paver: Lavater fictionalized. In: Physiognomy in profile. Hg. Melissa Percival u. Graeme Tytler. Newark 2005, S. 217–229. – Peter Peters u. Sven Robert Arnold: J. S. In: KLG. Alexander von Bormann † / Tanja Nause

Spazier, Johann Gottlieb Karl, * 20.4.1761 Berlin, † 19.1.1805 Leipzig. – Verfasser philosophischer, theologischer u. pädagogischer Schriften. S. war zunächst Kirchen- u. Opernsänger, u. a. am Hof Prinz Heinrichs von Preußen in Rheinsberg, studierte dann in Halle u. Göttingen Philosophie u. Theologie, wurde pro-

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moviert u. wirkte als Lehrer, Hofmeister u. ADB. – Werner Krauss: Eine Verteidigungsschr. des Professor in Gießen, Neuwied u. Berlin. Materialismus in der dt. Aufklärung. In: Ders.: 1783–1787 war er Mitarbeiter an Johann Studien zur dt. u. frz. Aufklärung. Bln. 1963, Bernhard Basedows Philanthropin in Dessau S. 455–468. – Erich Wege: Der Liederkomponist u. Musikschriftsteller J. G. K. S. In: Beiträge zur Mu(Einige Bemerkungen über deutsche Schulen, besikwiss. 5 (1963), 2, S. 113–116. – Roland Mortier: sonders über das Dessauer Erziehungsinstitut. Lpz. Diderot in Dtschld. Stgt. 1967, S. 216–218. 1786) u. ganz Rousseauist. Peter Fischer / Red. S.s Freymüthige Gedanken über die Gottesverehrung der Protestanten (Gotha 1788) waren der Specht, Kerstin, * 5.6.1956 Kronach/ paradoxe Versuch, in der Kirche den Atheis- Oberfranken. – Dramatikerin u. Hörmus zu verbreiten. In der nächsten Schrift, spielautorin. Wanderungen durch die Schweiz (ebd. 1790), trat S. gemäßigt auf; er schwor gewissen Büchern Nach dem Magisterstudium der Germanistik ab, so seiner Kampfschrift von 1785 Anti- u. der evang. Theologie begann S. ein StudiPhädon oder Prüfung einiger Hauptbeweise für die um an der Hochschule für Film und FernseEinfachheit und Unsterblichkeit der menschlichen hen in München. Praktische Erfahrungen Seele (Lpz. Hg. von Werner Krauss. Bln. 1961), sammelte sie in der zweiten Hälfte der 1980er in der er gegen Mendelssohns Phaedon offen Jahre durch drei Kurzfilme (Die stille Frau, für Atheismus u. Materialismus Stellung ge- Afrika u. Wilgefort) u. als Regieassistentin beim nommen hatte. Der Radikalismus des Stand- Bayerischen Rundfunk. Zwischen 1988 u. punkts ging in wohlwollenden Rezensionen 1990 erschienen ihre ersten, sehr positiv unter. Er sollte erst bei Ludwig Feuerbach aufgenommenen Stücke Das glühend Männla, (dann bei Engels u. Marx) wieder auftauchen. Lila u. Amiwiesen. »Theater heute« (12/90) S. gab noch nicht auf. In Der neue Origenes [...] nannte sie daraufhin »die ›Nachwuchs‹-Dra(Bln. 1792) wird Religionskritik radikal for- matikerin des Jahres 1990«. S. lebt in Münmuliert. Seine bemerkenswerte Biografie Carl chen. Bezeichnend für das bisherige Werk S.s Pilger’s Roman seines Lebens (3 Bde., Bln. 1792/ sind drei Entwicklungsstufen: Düster-realis93 u. 1796) fiel durch, weil sie an der Diktion frz. Vorbilder orientiert ist u. über psycholog. tischen Volksstücken wie Das glühend Männla Tiefsicht verfügt, die auch dem dt. Roman des (Urauff. Bonn 1990) folgte die sprachlich experimentellere Phase mit Stücken auf Hoch19. Jh. noch fremd bleiben sollte. deutsch wie Carceri (Urauff. München 1996). 1796 wurde S. wieder am Philanthropin Die Dramen der dritten Phase sind ironischtätig; 1800 siedelte er nach Leipzig über, wo komödienhaft u. voller Sprachwitz; in ihrem er sich hauptsächlich musikal. Arbeiten widZentrum stehen aktive Frauenfiguren. Deutmete. Seine letzte wichtige Arbeit war die lich wird dies insbes. im Zyklus KöniginnenÜbersetzung Diderots Erzählungen (Magdeb. dramen (Ffm. 1998), der aus den Stücken Die 1799). S. war Gründer u. Herausgeber der Froschkönigin (Urauff. Stuttgart 1998), Die »Zeitung für die elegante Welt« (Lpz. Schneeköniginnen (Urauff. Schwerin/Graz 1801 ff.). 2001) u. Die Herzkönigin (Frankfurt/O. 1998) Weitere Werke: Lieder u. a. Gesänge [...]. Gera besteht. S. verfasst auch Kinderstücke wie das 1782. – Wanderungen durch die Schweiz. Gotha Märchen Das kalte Herz (Urauff. München 1790. – Versuch einer kurzen u. faßl. Darstellung 2000) oder Wieland (Urauff. Münster 2003). der theolog. Prinzipien. Neuwied 1791. – Melodien Eines der bekanntesten Schauspiele ist Mazu Hartung’s Liederslg. Bln. 1793. – (Hg.): Berlinisch musikal. Ztg. 1793/94. – Etwas über Glucki- rieluise. Ein Bericht (Urauff. München 2001), sche Musik u. die Oper ›Iphigenia‹ [...]. Ebd. 1795. das S. als Auftragsarbeit zum 100. Geburtstag – Ueber Kants ›Kritik der Urteilskraft‹. Neuwied von Marieluise Fleißer schrieb, als deren 1798. – Gretry’s Versuche über den Geist der Mu- ›Enkelin im Geiste‹ sie oft in Rezensionen sik. Lpz. 1800. bezeichnet wird. Sie steht wegen ihrer frühen Literatur: Karl Dielitz: Karl Pilger: Kein Ro- krit. Volksstücke in der Traditionslinie von man. Bln. 1837. – Friedrich Brandes: J. G. K. S. In: Fleißer, Horváth, Fassbinder u. Kroetz.

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Die auch international erfolgreichen Ar- goldene Kind. Urauff. München 2002 (D.). – Der beiten S.s wurden seit dem Beginn ihres Zoo / Zeit der Schildkröten. Ffm. 2009. Literatur: Entlang der Biographie: Die Enkelin Schreibens mit einer Vielzahl von Preisen ausgezeichnet, etwa dem Else-Lasker-Schüler Fleißers. K. S. im Gespräch mit Anika Wiesbeck. In: Preis (1993, für Mond auf dem Rücken. Urauff. Transitträume. Hg. Andrea Bartl unter Mitarb. v. Kaiserslautern 1994), dem Deutschen Kin- Hanna Viktoria Becker. Augsb. 2009, S. 437–458. – ›Ich hab’ keine menschlichen Utopien‹. K. S. (geb. dertheaterpreis (2002) u. dem Marieluise1956). In: Ingeborg Gleichauf: Was für ein SchauFleißer-Preis (2005). spiel! Deutschsprachige Dramatikerinnen des 20. Neben dem Interesse für mundartl. Jh. u. der Gegenwart. Bln./Grambin 2003. – Carola Sprechweisen wie etwa im frühen, in einem v. Gradulewski: K. S. In: LGL. Christiane Weber fränk. Kunstdialekt gehaltenen Monolog Amiwiesen (Urauff. München 1990) ist für ihre Texte oft die »Verwischung der Grenzen zur Specht, Richard, * 7.12.1870 Wien, † 19.3. Lyrik« (Transitträume, S. 438) typisch. Der 1932 Wien. – Lyriker, Dramatiker, MuSchwerpunkt der Stücke liegt dabei auf den sikschriftsteller. kleinbürgerl. Figuren u. deren Handlungen S. stammte aus einer wohlhabenden Textilinnerhalb schlaglichtartig beleuchteter Sze- kaufmannsfamilie, wandte sich, nachdem er nen; Einleitungen oder paratextuelle Anwei- wegen eines Augenleidens sein Architektursungen – etwa zu Zeitabständen zwischen studium an der TH in Wien abbrechen den einzelnen knappen u. oft nur einige Sätze musste, selbst dem Kaufmannsstand zu, ehe umfassenden Szenen – finden sich nur weni- er seit 1891 zunächst als Lyriker (Gedichte. ge. Wichtig ist dabei die Grenzerfahrung Wien 1893), später als Musikschriftsteller tä(sowohl topografisch als Handlungsort wie tig wurde. Sein Hauslehrer war Rudolf Steiauch psychologisch), in der die Figuren agie- ner; Freundschaft verband ihn auch mit ren. Lila (Urauff. Nürnberg 1990) themati- Schnitzler (vgl. seine Biografie Arthur Schnitzsiert das Zerbrechen der Illusion von Nor- ler. Bln. 1922). Während S.s literar. Arbeit malität u. traditionellen Familienbildern. über eine epigonale Nachfolge der Dichtung Handlungsorte in den Stücken S.s sind im- Ferdinand von Saars nicht hinauskam, seine mer wieder dörfl. Gemeinschaften, deren Zugehörigkeit zum Dichterkreis »JungStrukturen in ihrer krankhaften Überholtheit Wien« nicht zu bleibenden Resultaten führte, aufgezeigt werden. Die Sprache spiegelt da- war seine Laufbahn als musikal. »Betrachter« bei in ihrer teilweise drast. Derbheit die (Eduard Castle) sehr erfolgreich. Als solcher klaustrophob. Szenen; ein Entkommen war S. Mitarbeiter bei der »Wiener Allgescheint für die Figuren hier, im Unterschied meinen Zeitung«, der »Zeit«, der »Arbeiterzu den späteren Theaterstücken, nicht mög- Zeitung«, dem »Wiener Illustrirten Extrablatt« u. bei Zeitschriften, als deren Herauslich. In all ihren Werken nimmt sich S. aktueller geber er zeitweilig auch fungierte (»Wiener Themen an. Leitmotivisch werden (innerfa- Zeitschrift für Musik«, 1. Jg., 1908. »Der miliäre) Gewalt, gesellschaftl. Abhängigkei- Merker«, 1. Jg., 1909). Seine Einführungen in ten, das Scheitern von Lebensentwürfen u. die musikal. Werke seiner Zeit, insbes. sein gegebenenfalls ihre Neubewertung sowie die pionierhaftes Engagement für das Werk von Diskrepanz zwischen Moderne u. Tradition Mahler (Gustav Mahler. Bln. 1905. Mehrfach wiederaufgelegt), weisen S. als führenden behandelt. Weitere Werke: Lila / Das glühend Männla / Musikpublizisten in der Nachfolge Eduard Amiwiesen. Ffm. 1990. – Amiwiesen. SDR 1990 Hanslicks aus. (Hörsp.). – Das glühend Männla oder Der Füürbühnibock. SWF Freiburg 1990 (Hörsp.). – Der Flieger. Urauff. Ulm 1993 (D.). – Carceri / Mond auf dem Rücken / Der Flieger. Ffm. 1996. – Die Froschkönigin. MDR 2000 (Hörsp.). – Marieluise / Das goldene Kind / Solitude. Ffm. 2002. – Das

Weitere Werke: Das Gastmahl des Plato. Wien 1895 (Kom.). – Pierrot bossu. Dresden 1896 (Kom.). – Mozart. Wien 1914 (L.). – Franz Werfel. Ebd. 1926. – Die Nase des Herrn Valentin Berger. Ebd. 1929 (Tragikom.). – Florestan Kestners Erfolg. Lpz. 1929.

Speckmann

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Literatur: Walter Obermaier: Ein Tgb. v. R. S. aus dem Jahr 1931. In: Österr. Musik – Musik in Österr. Hg. Elisabeth Th. Hilscher. Tutzing 1998, S. 477–497. – Rainhard Wiesinger: R. S. als Musikkritiker u. Musikschriftsteller. 3 Bde. Diss. Wien 2005. – Peter Michael Braunwarth: R. S. In: ÖBL. Arnulf Knafl / Red.

Speckmann, Diedrich Wilhelm Gotthilf, * 12.2.1874 Hermannsburg bei Celle, † 28.5.1938 Fischerhude bei Bremen. – Erzähler. Der aus einer Pastorenfamilie stammende S. war nach dem Abitur in Celle u. dem Studium der evang. Theologie in Tübingen, Leipzig, Erlangen u. Göttingen Hauslehrer, Hilfsprediger u. Erzieher, u. a. am »Rauhen Haus«, 1902–1908 Pastor in Grasberg/OsterholzScharmbek. Seine erste Erzählung, Heidjers Heimkehr (Bln. 1904. Neudr. Bremen 1954), die Geschichte eines Malers, der in der Welt scheitert, aber in seinem Heimatdorf Anerkennung findet, wurde bes. von der Heimatbewegung positiv aufgenommen. Nach den erfolgreichen Erzählungen Heidehof Lohe (Bln. 1906. Bremen 1954) u. Das goldene Tor (Bln. 1907. Bremen 1955) lebte S. als freier Schriftsteller in Bremen u. seit 1910 in Fischerhude. Er schrieb 14 weitere Bücher, zumeist Romane, in denen er in schlichter Sprache christlich-soziale Ideen Friedrich Naumanns in die bäuerl. Welt seiner niedersächs. Heimat zu transponieren suchte. 1915–1918 war S. Soldat. 1933 warb er öffentlich für die NS-Ideologie. Ein Tagebuch seiner Jugend erschien auszugsweise postum (Kindheit in der Heide. Hg. Leo Mielke. Hermannsburg 2006). Weitere Werke: Jan Murken. Bln. 1922. Neudr. Fischerhude 1985 (R.). – Wir pflügen ein Neues. Bln. 1937 (E.). – Kriegstagebücher des Heidedichters D. S. 1915–1918. Hg. Leo Mielke. Hermannsburg 2005. Literatur: Kurd Schulz: D. S. In: Bremische Biogr.n. Bremen 1969, S. 490 f. – Wolfgang Brandes: Der ›Heidedichter‹ Pastor D. S. u. seine Erzählung ›Wir pflügen ein Neues‹. In: Jb. der Gesellsch. für niedersächs. Kirchengesch. 104 (2006), S. 243–255. Hans-Albrecht Koch

Speculum ecclesiae. – Deutsche Predigtsammlung des 12. Jh. Das S. e. ist in einer sprachlich u. paläografisch westbair./ostschwäb. Handschrift aus dem letzten Viertel des 12. Jh. (cgm 39) erhalten. Die einzelnen ihrer Stücke zugrundeliegenden lat. Quellen lassen eine Entstehung der Sammlung oder ihrer Vorstufe(n) schon in der ersten Hälfte des 12. Jh. als möglich erscheinen. Die Sammlung wird durch Benediktbeurer Glaube und Beichte III eröffnet. Der dt. Gebrauchstyp »Glaube und Beichte« begegnet auch anderwärts immer im Zusammenhang von Predigthandschriften. Mitten unter den Predigten des S. e. steht das dt. Gedicht Deutung der Meßgebräuche. Die letzten Predigten bieten Vaterunserauslegungen, am Schluss steht eine Übersetzung des Vaterunsers. Dieser Aufbau der Sammlung bezeugt ihren Charakter als liturg. Gebrauchsbuch, das man sich gut in der Verwendung beim Gottesdienst für eine laikale Pfarrgemeinde vorstellen kann. Die Predigten selbst bieten in einer ersten Serie (Nr. 1–48) Stücke zu den wichtigsten Feiertagen des Kirchenjahrs von Advent bis Martini. Gewöhnliche Sonntage sind nur ausnahmsweise berücksichtigt. Eine zweite Serie (Nr. 49–55) bringt Heiligenpredigten: zunächst eine für einen beliebigen Heiligen verwendbare, dann litaneiartig gereiht Predigten auf verschiedene Heiligentypen u. eine Allerheiligenpredigt. Es folgen Kirchweihstücke u. eine Ständepredigt (Nr. 56–60). Die letzten Nummern gelten neben den Vaterunserauslegungen der Thematik von Jüngstem Gericht u. Tod (Nr. 61–71). Die einzelnen Predigten schwanken zwischen langem, mittlerem u. kurzem Umfang, oft indem sie zum gleichen Anlass Alternativen anbieten. Der Funktion nach lässt sich ein zu christl. Leben ermahnender Typ von einem den lat. Quellen näheren, gelehrt belehrenden unterscheiden. Ein dritter, durch Legendenerzählung, Exempel, Predigtmärlein u. Anekdote unterhaltsam aufgelockerter Typ fehlt nicht ganz, ist aber nur schwach vertreten. Ausgaben: S. e. Eine frühmhd. Predigtslg. Hg. Gert Mellbourn. Lund 1944. – Hans Ulrich Schmid:

93 Ahd. u. frühmhd. Bearb.en lat. Predigten des ›Bairischen Homiliars‹ (Ahd. Predigtslg.en B, Nr. 2, 3 u. 4 u. C, Nr. 1, 2 u. 3, Speculum Ecclesiae, Nr. 51, 52, 53 u. 56). Tl. 1: Unters.en zu Textgesch., Syntax u. Bearbeitungstechnik. Tl. 2: Die dt. u. lat. Texte in synopt. Darbietung mit einem textbegleitenden Kommentar. Ffm. u. a. 1986. Literatur: H. U. Schmid (s. Ausgaben). – Karin Schneider: Got. Schr.en in dt. Sprache I. Wiesb. 1987, S. 44–47. – Evelyn Frey: Wortteilung u. Silbenstruktur im Ahd. Mit einem Anhang zur mhd ›S. e.‹-Hs. Mchn. 1988. – Gisela Vollmann-Profe: Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen MA (1050/60–1160/70) (= Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 1. Tl. 2). Tüb. 21994, S. 122–125. – Volker Mertens: S. e. dt. In: VL. – Thomas Buske: Tradition u. Überlieferungsformen. Zur Gesch. der kirchl. Verkündigung u. ihrer Predigtsprache. Neustadt an der Aisch 1997. Ernst Hellgardt / Red.

Speculum humanae salvationis. – Bebildertes Andachts- u. Lehrbuch über Sündenfall u. Erlösung aus der ersten Hälfte des 14. Jh. Weder Autor noch Entstehungsdatum des S. h. s. sind bekannt. Die früher angenommene Verfasserschaft Ludolfs von Sachsen ist nur Hypothese. Auch die Erwähnung des Jahres 1324 als Entstehungsjahr in zwei aus Italien stammenden S.-h.-s.-Handschriften des 14. Jh. kann nur als Anhaltspunkt dienen. Als Entstehungsraum lässt sich heute, zumindest für die Vulgatfassung, Italien wahrscheinlich machen, da eine Reihe sehr früher Handschriften von dort stammt. Die Erschließung der Entstehungsgeschichte wird dadurch weiter erschwert, dass der Text in zwei verschiedenen Fassungen vorliegt. Nach den Ergebnissen der neueren Forschung ist davon auszugehen, dass die urspr. Fassung 34 Kapitel in lat. Reimprosa zu je 100 Zeilen mit insg. 136 Miniaturen (vier Bilder je Kapitel) umfasste. Diese Kurzfassung ist nur in vier Handschriften überliefert, während die auf 45 Kapitel mit 4824 Zeilen u. 192 Miniaturen erweiterte Fassung in über 300 Textzeugen vorliegt. Die schmale Tradierung der Kurzfassung war der Grund dafür, dass diese nur wenig beachtet u. als sekundäre Einkürzung angesehen wurde.

Speculum humanae salvationis

Wichtig ist jedoch, dass die urspr. 34 Kapitel des S. h. s. genau mit der Kapitelzahl der sog. Biblia pauperum übereinstimmen, die das Vorbild für das S. h. s. darstellt. Wie die Biblia pauperum arbeitet auch das S. h. s. nach dem Muster der Typologie bzw. Präfiguration, wonach das ird. Geschehen vom Sündenfall bis zu Christi Geburt nur eine »Vor-Bildung« (praefiguratio) des Heilsgeschehens ist. Nach diesem System stellt das S. h. s. je einem Ereignis des NT (Antitypus) drei alttestamentl. Szenen (Typen) gegenüber. Die auf je einer linken u. einer rechten Seite des aufgeschlagenen Buchs zusammengehörenden Miniaturen werden durch die darunterstehenden vier Textkolumnen erläutert. Im Mittelpunkt steht das Erlösungsgeschehen. Die Erweiterung auf 45 Kapitel beruht auf Zusätzen aus dem Marienleben u. drei myst. Traktaten über die sieben Leidensstationen Christi, die sieben Schmerzen u. die sieben Freuden Marias. Aus dieser erweiterten Fassung zitiert Ludolf von Sachsen mehrere Passagen in seiner Vita Christi. Ludolf kann also, wenn er überhaupt mit der Entstehung des S. h. s. in Verbindung zu bringen ist, nur für die Erweiterung u. Bearbeitung des Originals in Frage kommen. Die erweiterte Fassung lässt textimmanente Hinweise auf dominikan. Ursprung erkennen. Da nur die Langfassung von der älteren Forschung als Originalversion angesehen wurde, setzte sich die Hypothese vom dominikan. Ursprung des S. h. s. im Straßburger Umkreis allg. durch. Neuerdings werden auch franziskan. Herkunft (Thomas) u. Verbindungen zum Deutschen Orden (Appuhn) angenommen. Das S. h. s. stützt sich u. a. auf die Summa theologiae des Thomas von Aquin u. das Compendium theologicae veritatis des Hugo Ripelin von Straßburg, auf die Historia scholastica des Petrus Comestor, die Legenda aurea des Jacobus de Voragine, die Gesta Romanorum sowie auf die Facta et dicta memorabilia des Valerius Maximus. Mit seiner prägnanten u. eindringl. Darstellungsweise wurde das S. h. s. bald zu einem beliebten Erbauungsbuch, das über den Buchdruck bis ins 16. Jh. weiterwirkte. Der Autor, der sein Werk als »nova compilacio« bezeichnet u. sich an die »pauperes prae-

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dicatores« wendet, versteht sein Buch als Predigthilfe u. populartheolog. Nachschlagewerk. Sein Inhalt war jedoch auch für Nichtkleriker interessant, wie zahlreiche Übersetzungen in Volkssprachen zeigen. Allein in Deutschland gibt es vier Versübertragungen aus dem 14. u. 15. Jh. sowie mehrere Prosaübersetzungen mit den Titeln Spiegel menschlicher gesuntheit, Spiegel der menschlichen seligkeit, Spiegel menschliches hails u. Spiegel menschlicher behaltnis als der häufigsten Version. Einen bedeutenden Einfluss übte das S. h. s. auch auf die christl. Ikonografie aus. Ausgaben: S. h. S., Texte critique. Mit der frz. Übers. v. Jean Mielot (1448). Hg. Jules Lutz u. Paul Perdrizet. 2 Bde., Lpz./Mülhausen 1907 u. 1909. – Heilsspiegel. Die Bilder des mittelalterl. Andachtsbuches S. h. s. Mit Nachw. u. Erläuterungen v. Horst Appuhn. Dortm. 1981 (mit Lit.). Literatur: Edgar Breitenbach: S. h. s. Eine typengeschichtl. Untersuchung. Straßb. 1930. – Josef Klapper: Spiegel der menschl. Seligkeit. In: VL1. – Gerhard Schmidt: Die Armenbibeln des 14. Jh. Köln/Graz 1959. – Hans Michael Thomas: Zur kulturgeschichtl. Einordnung der Armenbibel mit S. h. S. unter Berücksichtigung des ›Liber Figurarum‹ in der Joachim-de-Fiore-Hs. der Sächs. Landesbibl. Dresden (Mscr. Dresden A 121). In: AKG 52 (1970), S. 192–225. – L. H. D. van Looveren: S. h. s. In: LCI 4 (1972), Sp. 182–185. – H. M. Thomas: Franziskan. Geschichtsvision u. europ. Bildentfaltung. Wiesb. 1989, S. 29–43. – Hans-Walter Stork u. Burghart Wachinger: S. h. s. In: VL2. Dagmar Gottschall

Spee, Friedrich, Fridericus, eigentl.: F. Spe(e) von Langenfeld, auch: Incertus Theologus Orthodoxus, Incertus Theologus Romanus, * 25.2.1591 Kaiserswerth (heute zu Düsseldorf), † 9.8.1635 Trier. – Jesuit, Seelsorger, Lyriker. S., Sohn des Amtmanns u. Burgvogts Peter Spee von Langenfeld, erhielt seine Schulausbildung am Gymnasium Tricoronatum in Köln (1603–1608). 1610 erlangte er an der Artistenfakultät der Univ. Köln das Baccalaureat u. trat am 22. Sept. in Trier in den Jesuitenorden ein. Wegen des Ausbruchs der Pest legte er die ersten Ordensgelübde 1612 in Fulda ab u. beschloss 1615 sein Philosophiestudium mit der Promotion in Würz-

burg. Anschließend war er bis 1619 als Gymnasiallehrer in Speyer, Worms u. Mainz tätig; ein Gesuch, als Missionar in Indien wirken zu dürfen, wurde 1618 abgelehnt. In Mainz nahm S. auch das Theologiestudium auf (Ordination 1622). Erste Würzburger Lieddrucke erschienen 1621 unter den Titeln Bell’ Vedre Oder Herbipolis Wurtzgärtlein u. Latte di Gallina Peter Oel vnnd Berl Wasser. 1622 kam Das allerschönste Kind in der Welt (Würzb.) heraus. Einige Lieder S.s (u. a. O Heiland, reiß die Himmel auf, Die ganze Welt, Herr Jesu Christ) finden sich auch in dem Jesuitengesangbuch Außerlesene Catholische Geistliche Kirchengesäng. 1623–1626 wirkte S. in Paderborn als Philosophieprofessor an der Universität, ab 1625 auch als Domprediger; gleichzeitig unternahm er Rekatholisierungsversuche beim dortigen Adel. Nach der Schließung des Paderborner Kollegs wegen des Ausbruchs der Pest wurde S. zur Ableistung des Tertiats nach Speyer versetzt. 1627 war er ein Jahr lang an Kölner Gymnasien u. an der Universität tätig. 1628 zur Rekatholisierung nach Peine geschickt, wurde er dort 1629 bei einem Attentat lebensgefährlich verletzt. Nach der Genesung wurde er an der Universität Paderborn Professor für Moraltheologie. Deren System legte er in seiner Medulla theologiae moralis nieder, die sein Nachfolger auf dem Kölner Lehrstuhl für dieses Fach, Hermann Busenbaum, 1654 veröffentlichte (häufig nachgedruckt). Vorwürfe des Rektors des Paderborner Kollegs, S. übe schlechten Einfluss auf die Studenten aus, wurden vom Ordensgeneral zurückgewiesen. Dennoch wurde S. 1631 die Lehrerlaubnis entzogen. Im April desselben Jahres erschien dann anonym u. ohne Druckerlaubnis des Ordens in Rinteln die Cautio CRIMINALIS, die ihm viele Anfeindungen einbrachte. Der Ordensgeneral u. bes. der neue Provinzial in Köln, Goswin Nickel, nahmen ihn jedoch in Schutz; S. erhielt 1631 die Lehrerlaubnis für Kasuistik in Köln. Als jedoch 1632 eine zweite Aufl. (lat. Titelblatt. Ffm., mit hoher Wahrscheinlichkeit aber Köln) erschien, wurde S., dessen Entlassung aus dem Orden der Ordensgeneral nun vorschlug, als Professor für Moraltheologie nach Trier versetzt. Seit 1634 lehrte er dort auch Bibelexegese. S. starb infolge einer Infektion,

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die er sich bei der Pflege kranker Soldaten zugezogen hatte. Sicher haben S. die grauenhaften Erfahrungen, die er schon als Student in Würzburg u. später als Beichtvater verurteilter Hexen machte, zur Abfassung der Cautio CRIMINALIS, DE PROCESSIBUS CONTRA SAGAS Liber veranlasst (Neudr. der 2. Aufl. 1647. Sulzbach 1695. 1718. Augsb. 1731. Dt. Übers.: Gewissens-Buch. Von Prozessen gegen die Hexen. Bremen 1647. Cautio criminalis. Ffm. 1649). S. entlarvt hier in 50 Fragen u. Antworten v. a. die üblen Praktiken der Prozessführung. Das Buch wendet sich an alle, die mit der Durchführung von Hexenprozessen zu tun hatten: an Inquisitoren, Richter, Advokaten, Denunzianten, aber auch an die Fürsten, welche die Augen vor diesem Unwesen verschließen u. sich der Verantwortung entziehen würden. Besonders gegen die Folter als untaugl. Mittel der Beweisermittlung wird argumentiert: S. wusste aus eigener Erfahrung, dass die Geständnisse, Selbstbezichtigungen u. Beschuldigungen anderer nur mit Hilfe der Folter erzielt werden konnten. Widerstand jemand der Folter, so war dies ebenfalls ein Indiz dafür, mit dem Teufel im Bunde zu stehen. S. behauptet demgegenüber, alle Hexen, die er kennen gelernt habe, seien unschuldig gewesen, stellt jedoch die Existenz von Hexen nicht prinzipiell in Frage. Die Argumentation der Cautio CRIMINALIS ist fast in modernem Sinne juristisch – jedenfalls nicht rein theologisch, auch wenn sich S. auf die Ansichten seiner Ordensbrüder Laymann u. Tanner berief. Seine Forderungen für die allg. Rechtsprechung lesen sich teilweise wie Passagen der Charta der Menschenrechte. Das Buch hat wesentlich zur Abschaffung der Hexenverfolgungen beigetragen. So folgten bald viele Landesfürsten dem Beispiel des Erzbischofs u. Kurfürsten von Mainz, Philipp von Schönborns, der Hexenprozesse verboten hatte. Die TRVTZ NACHTIGAL, Oder Geistlichs-Poetisch LUST-WÆLDLEIN (Köln 1649. 1654. 1660. 1664. 1672. 1683. 1709) erschien erst postum, obwohl die Entstehungszeit bis in das Jahr 1632 u. früher zurückreicht. In der Vorred deß Authoris erklärt S. den Titel seiner Sammlung (»weiln es trutz allen Nachtigalen

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süß / unnd lieblich singet«), betont die Literaturfähigkeit der dt. Sprache (im Vergleich zur lateinischen) u. entwirft eine Poetik, woraus hervorgeht, dass seine Gedichte in Konkurrenz zur lat. Lyrik standen. Die Poetik verwirft, unabhängig von Opitz, wie dieser das silbenzählende Prinzip u. fordert statt dessen die Übereinstimmung von Vers-, Wort- u. Satzakzent. S. bevorzugte Jamben und Trochäen als der dt. Prosodie am meisten entgegenkommende Versmaße. Die Gedichte sind als Pendant zur protestantischen Lieddichtung gedacht. Auffällig sind die Anspielungen auf die Schäferwelt Vergils u. Theokrits, die antik-klass. Entsprechung der Szenerie des Hohen Liedes, in der die Seele als Braut Christi beheimatet ist, sowie die Nähe zum Petrarkismus. Die Themen sind religiös: Suche nach Gott, Lob des Schöpfers, Auferstehungsfreude, Jenseitssehnsucht usw. Die Leistung dieser Texte liegt im Schnittfeld von Dichtung u. Theologie. Dabei orientiert sich S. nicht an kirchl. Festen, sondern es geht ihm darum, den Menschen näher zu Gott zu führen – eingedenk der Distanz zum Numinosen u. der dennoch bestehenden Sehnsucht nach dem Unerreichbaren. Als Ausdrucksmittel bedient sich der Autor des allegor. Verweises. Auf die Zusammenstellung der Gedichte zu einem Zyklus wirkt sich formbildend die theologisch fundierte Zahlensymbolik des 17. Jh. aus. Besonderer Wertschätzung erfreute sich die TRVTZ NACHTIGAL bei den Romantikern; einzelne Lieder wurden in Des Knaben Wunderhorn aufgenommen. Clemens von Brentano edierte dieses Werk 1817 u. ö. Aufgrund des bukol. Kolorits übte das Werk auch Einfluss auf Autoren des 17. Jh. aus – z.B. auf Laurentius von Schnüffis oder auch die Nürnberger. Ein weiteres postum veröffentlichtes Werk trägt den Titel Güldenes TVGEND-BVCH, das ist / Werk vnnd übung der dreyen Göttlichen Tugenden (Köln 1649. 1656. 1666. 1688. 1748). Es geht zurück auf S.s seelsorgerische Tätigkeit für eine Kölner Frauengemeinschaft, die sich bes. um die Ausbildung junger Mädchen bemühte. Die Aufgaben, die S. hier zu bewältigen hatte (Unterweisung in Glaubenssachen, Beichte usw.) haben die Form des Werks bestimmt. Die poetische Bildlichkeit dient ganz

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der Didaxe, wobei die Seele im Sinne aristotelisch-thomistischer Kategorien als Raum der Imagination, als Bildersaal der Seele, gesehen wird u. somit imaginatio, memoria u. compassio unterstützt, also theologisch-pastorale Absichten ins Auge fasst. Die drei Hauptteile sind den göttl. Tugenden – Glaube, Hoffnung u. Liebe – gewidmet. S. wollte hier Glaubensinhalte in Form eines kontemplativen Andachts- oder besser: Übungsbuchs vermitteln. Der erste, auf dem Glaubensbekenntnis basierende Teil, greift auf Thomas von Aquin zurück, ähnelt aber mehr einer prakt. Katechismusvermittlung. Geschichten aus dem AT dienen als argumentativ zu verstehende Belege. Ähnlich verfährt S. in den anderen Hauptteilen des Buchs, wobei der dritte über die Liebe den Schwerpunkt bildet: Die Liebe zu Gott findet ihr Pendant in der Nächstenliebe. Formal bemerkenswert sind die immer wieder auftretenden Dialoge zwischen Beichtvater u. Tochter, Christus u. dem Menschen sowie die Gespräche der Seele mit sich selbst. Schon Leibniz gehörte zu den Bewunderern des TVGEND-BVCHS, Brentano veranlasste 1829 u. 1850 eine hochdt., überarbeitete Ausg. 1981 wurde das Grab dieses mutigen u. schließlich auch erfolgreichen Kämpfers gegen den Hexenwahn unter der Jesuitenkirche in Trier wiederentdeckt. In einem dreiteiligen histor. Roman hat Wolfgang Lohmeyer S.s Vita verarbeitet: Die Hexe (Mchn. 1976), Der Hexenanwalt (ebd. 1979), Das Kölner Tribunal (ebd. 1981). Ausgaben: Drei Briefe des P. F. v. S. [...]. (Mitgeteilt) Von Johannes Baptist Diel. In: Stimmen aus Maria-Laach 6 (1874), S. 177–187, 268–276. – Neue Daten u. Briefe zum Leben des P. F. S. In: Histor. Jb. 21 (1900), S. 328–352. – Trutznachtigall. Mit Einl. u. krit. Apparat hg. v. Gustave Otto Arlt. Halle 1936. Unveränderter Nachdr. 1967. – Cautio Criminalis [...]. Erste vollst. dt. Übers. v. JoachimFriedrich Ritter. Weimar 1939. Mchn. 82007. – Güldenes Tugend-Buch. Hg. Theodorus Gerardus Maria van Oorschot. Mchn. 1968 (= F. S. Sämtl. Schr.en. Hist.-krit. Ausg., Bd. 2). – Cautio criminalis [...]. Nachdr. der Ausg. Rinteln 1631. Ffm. 1971. – Die Anonymen geistl. Lieder vor 1623. Unter Mitwirkung v. T. G. M. van Oorschot hg. v. Michael Härting. Bln. 1979. – Trutz-Nachtigall. Hg. Richard G(eorg) Dimler (Faks.-Nachdr.). Wa-

96 shington 1981. – Dass. Hg. T. G. M. van Oorschot. Bern 1985 (= F. S. Sämtl. Schr.en. Hist.-krit. Ausg., Bd. 1). – Dass. Krit. Ausg. nach der Trierer Hs. Hg. ders. Stgt. 1985. – Güldenes Tugend-Buch. Ausw., Bearb. u. Einf. v. Anton Arens. Freib. i. Br. 1991. – Cautio Criminalis. Hg. T. G. M. van Oorschot mit einem Beitr. v. Gunther Franz. Tüb./Basel 1992. 2. überarb. u. erw. Aufl. 2005 (= F. S. Sämtl. Schr.en. Hist.-krit. Ausg. Bd. 3). – ›Ausserlesene, Catholische, Geistliche Kirchengesäng‹. Hg. T. G. M. van Oorschot. u. Mitarb. v. Alexandra Herke. Tüb./Basel 2005 (= F. S. Sämtl. Schr.en. Hist.-krit. Ausg. Bd. 4). – Geistl. Lieder. Hg. T. G. M. van Oorschot. Bern/Tüb. 2007. Literatur: Bibliografien: Goedeke 3 (1887), S. 194 f. – Backer/Sommervogel 7, Sp. 1424–1431. 9, Sp. 857. – Richard G. Dimler: F. S. Eine beschreibende Bibliogr. In: Daphnis 13 (1984), S. 637–722. 15 (1986), S. 649–703. – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 5, S. 3928–3937. – Siehe auch: F. S. Sämtl. Schr.en. Hist.-krit. Ausg. a. a. O. – Karl-Jürgen Miesen: Die S.-Forsch. seit 1950. In: Bücher für die Wiss. 1994, S. 89–97. – Sammelbände: Anton Arens (Hg.): F. v. S. im Lichte der Wiss.en. Mainz 1984. – Michael Sievernich (Hg.): F. S. [...]. Ffm. 1986. – Italo Michele Battafarano (Hg.): F. v. S. [...]. Trento 1988. – Gunther Franz (Hg.): F. S. Dichter, Seelsorger, Bekämpfer des Hexenwahns. Trier 1991 (Ausstellungskat. Düsseld. 1991); darin: Bibliogr. S. 271–297, 298–303. – Eckhard Grunewald u. Nikolaus Gussone (Hg.): Von S. zu Eichendorff [...]. Bln. 1991. – K.-J. Miesen (Hg.). F. S. v. L. (1591–1635). Ein Dichter u. Aufklärer vom Niederrhein. Düsseld. 1991. – T. G. M. van Oorschot (Hg.): F. S. (1591–1635). Düsseldorfer Symposion zum 400. Geburtstag. [...]. Bielef. 1993. – G. Franz (Hg.): F. S. zum 400. Geburtstag. Kolloquium der F.-S.-Gesellsch. Trier. Paderb. 1995; darin: Michael Embach: Neuerschienene S.-Lit. Eine Auswahlbibliogr. der Erscheinungsjahre 1991–1993, S. 377–385. – Norbert Henrichs u. a. (Hg.): Kaiserswerther Vorträge zu F. S. 1985–1993. Düsseld.Kaiserswerth 1995. – F. S. Priester, Mahner u. Poet (1591–1635). Köln 2008 (Ausstellungskat. Köln 2008). – Spee-Jb. 1 ff. (1994 ff.). – Weitere Titel: Wilhelm Kosch: F. S. Mönchen-Gladbach 1914 u. ö. – Edward Schröder: Die ›Cauto Criminalis‹ [...]. In: LitJb 3 (1928), S. 134–150. – Marie-Luise Wolfskehl: Die Jesusminne in der Lyrik des dt. Barock. Diss. Gießen 1934. – Karl Schwarz: F. v. S. Düsseld. 2 1948. – Eric Jacobsen: Die Metamorphosen der Liebe u. F. S.s ›Trutz-nachtigall‹. Kopenhagen 1954. – Hugo Jacobus Josephus Zwetsloot: F. S. u. die Hexenprozesse. Trier 1954. – Emmy Rosenfeld: F. S. v. L. Bln. 1958. – E. Rosenfeld: Neue Studien

97 zur Lyrik v. F. v. S. Mailand/Varese 1963. – Frederick Rener: F. S. and Virgil’s Fourth Georgic. In: Comparative Literature 24 (1972), S. 118–135. – Gerhard Schaub: Die S.-Rezeption Clemens v. Brentanos. In: LitJb N.F. 13 (1972), S. 151–179. – R. G. Dimler: F. S.s ›Trutznachtigall‹. Bern/Ffm. 1973. – Ders.: ›The Genesis and Development of F. S.’s. Love-Imagery in the ›Trutznachtigall‹«. In: GR 48 (1973), S. 87–98. – Alois Haas: Geistl. Zeitvertreib. F. S.s Echogedichte. In: Dt. Barocklyrik. Hg. Martin Bircher u. a. Bern/Mchn. 1973, S. 11–47. – G. Schaub: F. S.: ›Ein Dichter mehr als mancher Minnesänger‹. In: Verführung u. Gesch. Trier 1973, S. 323–346. – T. G. M. van Oorschot: F. S.s. ›Magdalenenlied‹. In: FS Paul Wessels. Nijmegen 1974, S. 98–109. – Frederick M. Rener: F. S.’s. ›Arcadia‹ Revisited. In: PMLA 89 (1974), S. 967–979. – Joachim-Friedrich Ritter: F. v. S. 1591–1635. Ein Edelmann, Mahner u. Dichter. Trier. 1977. – T. G. M. van Oorschot: Drei Übers.en von F. S.s. ›Cautio Criminalis‹. In: Ars & ingenium. Studien zum Übersetzen. Festg. für Frans Stoks. Hg. Hans Ester. Amsterd./Maarssen 1983, S. 139–153. – Heribert Waider: S.s. Auseinandersetzung mit der Tortur in der ›Cautio Criminalis‹. In: Jb. des Kölnischen Geschichtsvereins 54 (1983), S. 167–188. – Hans-Georg Kemper: F. S. In: Dt. Dichter des 17. Jh. Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. 1984, S. 90–115. – Heinz Meyer: Zur Bedeutung der Zahlen in den Werken F. S.s. In: Geistl. Denkformen in der Lit. des MA. Hg. Klaus Grubmüller u. a. Mchn. 1984, S. 257–281. – H.-G. Kemper: Dämonie u. Einbildungskraft. Das Werk F. v. S.s [...]. In: Wege der Literaturwiss. Hg. Jutta Kolkenbrock-Netz u. a. Bonn 1985, S. 45–64. – I. M. Battafarano: Hexen, Richter u. Dämonologen im Urteil des Jesuiten F. v. S. In: Akten des VII. Internat. Germanisten-Kongresses, Göttingen 1985. Bd. 7: Bildungsexklusivität u. volksprachl. Lit.; Lit. vor Lessing – nur für Experten. Hg. K. Grubmüller u. Günter Hess. Tüb. 1986, S. 176–184. – Walter Rupp: F. S. [...]. Mainz 1986. – Wilhelm Kühlmann: Aufgeklärtes Befremden. F. v. S.s. ›Güldenes Tugendbuch‹ in einer Besprechung Isaak Iselins. In: LitJb N.F. 29 (1988), S. 35–42. – Valentin Probst (Hg.): F. S.-Gedächtnis. Dokumentation anläßlich des 350. Todesjahres. Trier 1988. – Helmut Weber: Ist F. S.s Moraltheologie gefunden? In: Trierer Theolog. Ztschr. 97 (1988), S. 85–105. – Joachim Vennebusch: Die ›Theologia moralis‹ des Jesuiten Johannes Schücking u. F. S.s verschollene ›Summa casuum‹. In: Rheinische Vierteljahrsbl. 53 (1989), S. 38–51. – A. Arens: F. S. u. die ›Jesuitinnen‹ v. Köln. In: Du führest mich hinaus ins Weite. Hg. Karl Hillebrand u. Medard Kehl. Würzb. 1990, S. 405–436. – Ders.: F. S. Ein dramat. Leben. Aach/

Spee Trier 1990. – K. J. Miesen: Das S.-Bildnis im Lauf der Jahrhunderte. Bestandsaufnahme 1.2. In: SpeePost 1 (1990), H. 1, S. 3–22. H. 2, S. 13–29. – T. G. M. van Oorschot: Nicolaes Borremans. Übersetzer v. F. S.s. ›Cautio Criminalis‹. In: Grenzgänge. 1990, S. 65–83. – Martina Eicheldinger: F. S. – Seelsorger u. poeta doctus. Tüb. 1991. – Balthasar Fischer: F. S. als Erzieher zur Schöpfungsfrömmigkeit. Paderb. 1991. – T. G. M. van Oorschot: F. S. v. L. Zwischen Zorn u. Zärtlichkeit. Gött. 1992. – I. M. Battafarano: S.s. Cautio criminalis. Kritik der Hexenprozesse u. ihre Rezeption. Trento 1993. – Christian Feldmann: F. S. Hexenanwalt u. Prophet. Freib. i. Br. u. a. 1993. – Josef Grünbeck: F. v. S. als Dichter v. Kirchenliedern in der Bamberger Gesangbuch-Tradition. In: Histor. Verein Bamberg für die Pflege der Gesch. des ehem. Fürstbistums: Bericht 129 (1993), S. 157–169. – Elmar Locher: Der Bildersaal der Seele bei F. S. [...]. In: Ars memorativa. [...]. Hg. Jörg Jochen Berns. Tüb. 1993, S. 206–221. – Stefan Rieger: Der gute Hirte oder die Mikrophysik der Macht (F. S. v. L.). In: DVjs 67 (1993), 4, S. 585–606. – Bernhard Schneider: Die Lieder F. S.s in der Gesangbuchtradition der mittelrhein. Diözesen. In: Archiv für mittelrhein. Kirchengesch. 45 (1993), S. 259–317. – I. M. Battafarano: Contra auctoritates et loci communes – das Ich u. die Literarizität v. S.s ›Cautio Criminalis‹. In: Ders.: Glanz des Barock. Bern u. a. 1994, S. 213–237. – Ders.: Hexen, Hexenlehre, Kritik der Hexenverfolgung. [...]. In: ebd., S. 338–358. – Ders.: Barocke Typologie feminist. Negativität u. ihre Kritik bei S., Grimmelshausen u. Harsdörffer. In: ebd., S. 392–412. – Guillaume van Gemert: Die Nürnberger u. S. Frühe protestant. Auseinandersetzung mit seiner Frömmigkeit. In: MorgenGlantz 4 (1994), S. 119–154. – Anja Meinke: ›In Gott ist alle Wollust‹. Zur Mystik F. S.s. Ffm. u. a. 1994. – I. M. Battafarano: Mit S. gegen Remigius. Grimmelshausens antidämonopath. Simpliciana im Strom nieder-ober-rhein. Vernunft. In: Simpliciana 18 (1996), S. 139–164. – J. J. Berns: Ahá, ahá, ahá. Unsägliches u. Unsagbares in einem Weihnachtsgedicht F. S.s. In: Wahrheit u. Wort. FS Rolf Tarot. Hg. Gabriela Scherer u. Beatrice Wehrli. Bern u. a. 1996, S. 73–90. – K. J. Miesen: F. S. Priester, Dichter, Hexenanwalt. Düsseld. 1996. – Andrea Rösler: Vom Gotteslob zum Gottesdank. Bedeutungswandel in der Lyrik von F. S. zu Joseph v. Eichendorff u. Annette v. Droste-Hülshoff. Paderb. 1997. – Wilhelm Gössmann: Artistik als Zugang zur Welt der Seele. Die geistl. Lyrik F. S.s. In: Ders.: Lit. als Lebensnerv. Düsseld. 1999, S. 65–83. – Joachim Pritzkat: ›O Heiland reiß die Himmel auf‹. Zur 374jährigen Gesch. eines Liedes v. F. S. In: Kirchenlied interdisziplinär [...]. Hg. Hermann

Speer Kurzke u. Hermann Uhlein. Ffm. u. a. 1999, S. 131–172. – Friedmann Harzer: ›Bilde dir für ...‹. Meditation u. Imagination in F. S.s ›Güldenem Tugend-Buch‹. In: Meditation u. Erinnerung in der Frühen Neuzeit. 2000, S. 291–305. – I. M. Battafarano: Didaxe in der Übersetzung. Meyfarts, Seiferts u. Schmidts Verdeutschungen v. S.s. ›Cautio criminalis‹ u. Knorrs v. Rosenroth Übers. v. Della Portas ›Magia naturalis‹. In: Morgen-Glantz 12 (2002), S. 279–340. – W. Kühlmann: Das Werk F. S.s im Horizont der dt. Aufklärung. In: Spee-Jb. 9 (2002), S. 29–54, auch in: Kühlmann (2006), S. 669–687. – Christiane Schäfer: ›Liebe führt Jhn ins Leyd‹. Das Motiv des Guten Hirten in der ›Trvtz-Nachtigal‹ v. F. S. In: Das Motiv des Guten Hirten in Theologie, Lit. u. Musik. Hg. Michael Fischer u. Diana Rothaug. Tüb./Basel 2002, S. 99–116. – Frank Rustemeyer: Nur zun Himmelspforten Verweisets allen ton. Allegorie im Werk F. S.s. Paderb. 2003. – J. J. Berns: Inneres Theater u. Mnemonik in Antike u. Früher Neuzeit. In: Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung u. Probehandeln in virtuellen Welten. Hg. Christina Lechtermann u. Carsten Morsch. Bern u. a. 2004, S. 23–43. – Herman Lohausen: P. F. S. SJ (1591–1635). Name, Nimbus, Herkunft, Verwandtschaft. Düsseld. 2004. – H. Weber u. G. Franz: F. S. – Leben u. Werk u. sein Andenken in Trier. 3., überarb. Aufl. Trier 2004. – Christoph Böhr: F. S. u. Christian Thomasius über Vernunft u. Vorurteil. [...]. Trier. 2005. – Young-Hee Yu: Feurige Dichtkunst. Die Lyrik v. Andreas Gryphius u. F. v. S. im Spannungsfeld der Feuertheorien des 17. Jh. Ffm. 2005. – Cornelia Rémi: Philomela mediatrix. F. S.s ›Trutznachtigall‹ zwischen poet. Theologie u. geistl. Poetik. Ffm. 2006. – Alexander Weber: F. S. aus der Sicht des viktorian. England. In: LitJb 47 (2006), S. 225–251. – B. Schneider: F. S. In: NDB. Franz Günter Sieveke

Speer, Georg Daniel, getauft 2.7.1636 Breslau, † 5.10.1707 Göppingen. – Komponist, Verfasser simplicianischer Romane. Der Sohn des Kürschner- u. Zirklermeisters Georg Speer verlor beide Eltern im Kindesalter. Für die Zeit zwischen 1644 (Besuch des Maria-Magdalenen-Gymnasiums in Breslau) u. etwa 1665 fehlen verlässl. Angaben. Wenn man aus dem Werk auf das Leben schließen darf, kämpfte S. als ungarischer Soldat gegen die Türken, wurde Hoftrompeter u. machte mit seinem adligen Herrn eine Reise nach

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Konstantinopel u. in den Orient. Nach seiner Rückkehr wurde er wieder in den Krieg verwickelt, der ihn in mehrere Länder Europas führte. Bezeugt ist seine Musikertätigkeit ab 1667 in Göppingen u. Großbottwar. 1670 bis 1673 war S. Provisor in Leonberg, dann, mit Ausnahme der Jahre 1689–1694, in denen er sich wegen einer Flugschrift strafversetzt in Waiblingen aufhielt, Provisor u. Kantor an der Lateinschule in Göppingen. Die Musikgeschichte kennt S. unter anderem als Komponist von drei Büchern geistl. Konzerte (Stgt./Ulm 1681/82. Venedig [?] 1688. Stgt. 1692) u. von zwei Werken, deren Inhalt schon den Bereich des Romans berührt: Musicalischer Leuthe Spiegel (o. O. 1687) u. Musikalisch-Türckischer Eulen-Spiegel (Güntz [recte Ulm] 1688). Seine Bedeutung für die Literaturgeschichte sowie seine Autorschaft »simplicianischer« Werke wurde erst spät erkannt (Moser). In der Nachfolge Grimmelshausens u. des Frantzösischen Kriegs-Simplicissimus (1683) erzählt der Roman Ungarischer oder Dacianischer Simplicissimus (o. O. 1683. Hg. Marian Szyrocki u. Konrad Gajek. Wien 1973. Hg. Herbert Greiner-Mai u. Erika Weber. Bln. 1978) vor dem aktuellen Hintergrund der Türkenkriege von Soldatenabenteuern in Ungarn u. erlebte wohl deshalb zwei Neuauflagen (o. O. 1683. 1684). Der Türckische Vagant (o. O. [Ulm] 1683) schildert in 24 Kapiteln eine Reise in den Orient bis nach Babylon u. Bagdad, die nach drei Jahren in der schles. Heimat endet. Trotz des authent. Charakters der Reiseberichte schöpfte S. reichlich aus gedruckten Quellen; das Simplicianische ist lediglich modebewusste Publikumsempfehlung. Im dritten pikaresken Abenteuerroman, Simplicianischer lustigpolitischer Haspel-Hannß (o. O. [Ulm] 1684), besucht der Ich-Erzähler 15 Universitäten; seine krit. Wanderschaft endet in Schwaben. – Daneben werden S. einige Flugschriften zur Ungarnfrage, zum Türkenkrieg u. zum Pfälzischen Erbfolgekrieg zugeschrieben, letztere gegen die Aggressionspolitik Frankreichs gerichtet. S. erreichte hier die sprachl. Höhe jedoch nicht mehr, die seine wohl aus persönl. Erfahrung schöpfenden »simplicianischen« Romane auszeichnet.

99 Weitere Werke: Ungar. Wahrheits-Geige [...]. Freyburg [recte Ulm] 1683. – Zwey nachdänckl. Traum-Gesichte, von deß Türcken Untergang [...]. o. O. [Ulm] 1684. – Simplician. Pfaffen-Gehätz [...]. o. O. [Ulm] 1684. – Warhafftes Nacht-Gesichte, zweyer sonderbaren am Himmel gestandenen Wetter [...]. o. O. [Ulm] 1689. – Der durch das Schorndorffische u. Göppingische Weiber-Volck geschüchterte Hahn [...]. o. O. [Ulm] 1689. Nachdr. in: Frauenprotest 1688. [...]. Schorndorf 1988, S. 85–114 (Ausstellungskat.). – Der neu-aufgewachte Mord-Brenner La Broche [...]. o. O. [Ulm] 1689. – Der Frz. Grosse L. [...] o. O. [Ulm] 1689. Ausgaben: Internet-Ed. mehrerer Werke in: HAB Wolfenbüttel (dünnhaupt digital). Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 6, S. 3939–3950. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 29, S. 403–405. – Kosch, Bd. 18, Sp. 456–60. – VD 17. – Weitere Titel: Hans Joachim Moser: Der Musiker D. S. als Barockdichter. In: Euph. 34 (1933), S. 293–305. – Anna Hofer: D. S.s Nachahmungen des Simplicissimus. Diss. masch. Wien 1940. – Joachim G. Boekh: Der Tököly-Appendix des ›Ungar. oder Dacian. Simplicissimus‹. In: Forsch. u. Fortschritte 33 (1959), S. 336–339. – Karl Mollay: Ungar. oder Dacian. Simplicissimus [...]. In: Annales Universitatis Budapestinensis, Sectio Philologica 3 (1961), S. 37–45. – Felix Burckhardt: D. S. [...]. In: Lebensbilder aus Schwaben u. Franken. Hg. Max Miller u. Robert Uhland. Bd. 11, Stgt. 1969, S. 48–68. – Ders.: Das ›Nachtgesicht‹ v. D. S. [...]. In: Alt-Württemberg 15,1 (1969). – Ders.: Eine gereimte Flugschrift v. D. S. [...]. In: ebd. 17,4 (1971). – Manfred Koschlig: D. S. u. die Ulmer Bücherzensur. In: AGB 15 (1975), Sp. 1201–1288. – Alexander Mózˇi: D. S.s Ungar. Simplicissimus u. Musical.-Türck. Eulen-Spiegel. In: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae 17 (1975), S. 167 ff. – Konrad Gajek: D. S.s ›Ungar. Wahrheits-Geige‹. In: Germanica Wratislaviensia 67 (1985), S. 156 ff. – Ders.: D. S.s ›Simplicianisches Pfaffen-Gehätz‹ (1684) contra Dionysius v. Lützenburgs ›Prädicanten-Geschwätz‹ (1683). In: ebd. 69 (1986), S. 181–195. – Ders.: D. S.s romanhafte u. publizist. Schr.en. Wrocl/aw 1988. – Dieter-Lienhard Döring: D. S. In: Schles. Lebensbilder. Bd. 6, Sigmaringen 1990, S. 77–84. – Cornelia Preißinger: D. S. vertont Texte v. Abraham a Sancta Clara. In: Lit. in Bayern 38 (1994), S. 69–83. – Elke Huber u. Ulrich Müller: ›Musicalisch-Türckischer EulenSpiegel‹. Ein ›Musikalischer Roman‹ v. D. S. (1688) [...]. In: ›Durch aubenteuer muess man wagen vil‹. FS Anton Schwob. Hg. Wernfried Hofmeister u. a. Innsbr. 1997, S. 183–207. – Helmuth Fiedler: D. S. (1636–1707), Musiker, Schriftsteller u. Pädagoge

Speidel aus Breslau. In: Weit in die Welt hinaus. Histor. Beziehungen zwischen Südwestdeutschland u. Schlesien [...]. Bearb. Annemarie Röder. Stgt. 1998 (Ausstellungskat.), S. 89–94. – Das Ungarnbild in der dt. Lit. der frühen Neuzeit [...]. Hg. Dieter Breuer u. a. Bern 2005, passim. – Thomas Synofzik: (G.) D. S. In: MGG 2. Aufl. Bd. 15 (Pers.), Sp. 1161–1163. – Stefan Jordan: G. D. S. In: NDB. Ferdinand van Ingen / Red.

Speidel, (Johann Georg) Ludwig, * 11.4. 1830 Ulm, † 3.2.1906 Wien. – Feuilletonist u. Theaterkritiker. S. stammte aus einer armen Musikerfamilie. Sein Studium der Philosophie in München musste er als Gasthörer betreiben. Im Auftrag u. auf Vermittlung Cottas übersiedelte er 1853 nach Wien. Er war zunächst Korrespondent der Augsburger »Allgemeinen Zeitung«, daneben freier Mitarbeiter der Zeitungen »Vaterland«, »Die Donau«, »Österreichische Zeitung« u. »Fremdenblatt«. 1864 wurde er Feuilletonist u. Theaterkritiker der »Neuen Freien Presse«, u. es gelang ihm, zu einer der geachtetsten Persönlichkeiten des großbürgerl. Kulturbetriebs im ausgehenden 19. Jh. aufzusteigen. Neben Daniel Spitzer gilt S. als der wichtigste Repräsentant des Wiener Feuilletons, eines Genres, das er selbst als die »Unsterblichkeit des Tages« definierte. Sein Stil, »ausgereifte Improvisation« u. »durchdachte Augenblicksreagenz« (Otto Stoessl), beruht auf einer germanistisch-philolog. Bildung. In seiner theatralisch-ästhetischen Konzeption war S. klassizistisch ausgerichtet; das entschiedene Eintreten für die Dramatik Ibsens etwa belegt jedoch seine Offenheit für die »Moderne«. Seine biogr. Essays, erst postum als Schriften (4 Bde., Bln. 1910/11) gesammelt erschienen, zeichnen sich durch eine Porträtierkunst aus, die physiognom. Details in literar. Bildhaftigkeit zu übersetzen weiß. Sie gelten bevorzugt Malern (Anselm Feuerbach, Wilhelm Leibl), sind jedoch auch philosophie- (Vischer), religions(Luther, Zwingli), sprach- u. literaturgeschichtlich (Brüder Grimm, Andreas Schmeller, Wilhelm Scherer) bedeutsam. Weitere Werke: Bilder aus der Schillerzeit (zus. mit Hugo Wittmann). Wien 1885. – Ausgew. Schr.en. Hg. Sigismund v. Radecki. Wedel 1947. –

Spelsberg Krit. Schr.en. Hg. Julius Rütsch. Zürich 1963. – Fanny Elsslers Fuß. Wiener Feuilletons. Hg. u. Nachw. v. Joachim Schreck. Bln. 1989. Wien 1990 (mit Otto Stoessls Nekrolog v. 1906). Literatur: Ludwig Hevesi: L. S. Bln. 1910. – Hermann Uhde-Bernays: L. S. In: Ders.: Mittler u. Meister. Mchn. 1948. – Otto Heuschele: L. S. Redakteur u. Theaterkritiker 1830–1906. In: Lebensbilder aus Schwaben u. Franken 12 (1972), S. 276–283. – Gerhard Sprenger: Über die Unsterblichkeit des Tages. In: Dt. Hefte 28 (1981), S. 333–343. – Dietmar Grieser: Von der Unsterblichkeit eines Tages. Der Kritiker L. S. In: Ein Stück Österreich. 150 Jahre ›Die Presse‹. Hg. Julius Kainz. Wien 1998, S. 168–173. – Günther Haller: ›Man muß den Genius des Burgtheaters ehren‹. Theaterkritik in der NFP am Beispiel von L. S. In: ebd., S. 41–43. – Emmerich Kolovic: L. S. (1830–1906) u. Max Kalbeck. In: Max Kalbeck zum 150. Geburtstag: Skizzen einer Persönlichkeit. Hg. Uwe Harten. Tutzing 2007, S. 342–347. – Walter Obermaier: L. S. In: ÖBL. – Josef Seethaler u. Ingrid Serini: L. S. In: NDB. Arnulf Knafl / Red.

Spelsberg, Dirk, * 5.5.1954 Altena/Westfalen. – Stückeschreiber u. Hörspielautor. Kaum ein zeitgenöss. Autor setzt sich so konsequent wie S. mit den Widersprüchen von Macht, Machtmissbrauch, Glaube u. Aberglaube auseinander. S.s Radiostücke stehen in der Nachfolge von Georg W. Pijet, dessen Mietskaserne 1931 Aufsehen erregte, u. von Günter Eich, dem Nestor der Hörspielkunst der frühen Jahre der BR Deutschland. Komplexer noch als seine Vorgänger arbeitet S. mit akust. Signalen u. setzt einander überlagernde Bewusstseinsströme u. Assoziationen von Haupt- u. Nebenpersonen als Parallelmontage ein. S. wuchs im Ruhrgebiet auf u. ging bis 1970 zur Schule; als Jugendlicher war er geschockt vom Albtraum der nationalsozialistischen Vergangenheit. Dieses Erschrecken schlägt sich deutlich in seinem Werk nieder, wenn es z.B. bei ihm statt Nun singen sie wieder (Max Frisch, 1946) heißt: »Jetzt grillen sie wieder« (Forever Sport. Urauff. Münster/Westf. 2000). In den 1970er Jahren arbeitete S. u. a. als Bierkutscher u. Lagerist, wurde zur Bundeswehr eingezogen u. verweigerte den Militärdienst nach sechs Monaten. Seit 1978 schrieb er als freier Journalist u. a. für die »taz«; seit 1985 verdient er

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seinen Lebensunterhalt als Stückeschreiber u. Hörspielautor; zeitweise engagierte er sich als Regisseur in der freien Theaterszene. S. gehört derselben Generation an wie Ralf Rothmann, u. dessen »magischer Realismus« (Charlotte Harder) ist auch in S.s Theaterstücken u. Hörspielen zu finden. Abgesehen von den frühen Dramen, basieren die meisten seiner Stücke auf zuvor erarbeiteten Hörspielen. In Fouché (Urauff. Duisburg 1989), einem Kammerspiel zwischen Albtraum u. Farce, das die Nachwehen der Frz. Revolution in den Jahren 1794–1799 thematisiert, steht die raffinierte Überlebensstrategie der einstigen Revolutionäre u. ihrer Kontrahenten im Mittelpunkt. S.s Hörspiele leben von einem begnadeten Voyeurismus; immer ist da eine sonore Stimme im Hintergrund, die beobachtet u. das oft mörderische Geschehen kommentiert u. reflektiert. Von Sexomanie, Nekrophilie u. der Gier nach Leben sind manche seiner Helden besessen. S. stellt deutlich heraus, wie Menschen in einem kleinbürgerlichen, frustrierenden Milieu zu Psychopathen u. Mördern werden (Bonte. SWR 2002; Hörspiel des Monats, Mai 2002). Die »Metapher des Kanal- oder Röhrensystems« (Frank Kaspar) stellt – nicht nur in diesem Hörspiel – den Hades, die Unterwelt dar, die Kloaken unter Biederkeit u. dem Schein der Bürgerlichkeit bzw. der Perfektion des (klein-)städt. Systems. In Gottes Wege (SWR 2009), einem Kriminalhörspiel mit wechselnden Schauplätzen (Paris, London, Antalya), steht der Begriff der Familienehre im Zentrum: Ein junger Türke rächt sich an einem Immobilienmakler, verfolgt ihn u. versucht ihn zu ermorden. Janet (SWR 2009) hingegen greift den Mordfall wieder auf, den Bonte in den 1980er Jahren untersuchte, wieder auf u. löst mit den Mitteln der Psychoanalyse das Rätsel um einen über zwei Jahrzehnte zuvor zu Unrecht angeklagten Mörder. Kriminalkommissar Bonte ist Patient in der Psychiatrie, u. seine Kollegin Janet, selbst seelisch schwer beschädigt, lässt ihn sich erinnern – in einem Strom aneinander gereihter Hörszenen aus der Jugend des Beamten in den 1960er Jahren. Nur vordergründig geht es um den Kriminalfall; auf den Prüfstand gestellt werden die Strukturen des Verdrän-

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gens u. Verschweigens der dt. Vergangenheit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Das gesprochene Wort, das Schreien u. Stöhnen der Sprecher korrespondiert – generell in S.s Hörspielen – mit den akust. Einsatzmitteln, seien es Einblendungen von Instrumentalmusik u. Gesang oder Geräusche der hoch technisierten Umwelt. S.s Hörspiele u. Dramen sind in der Absicht verfasst, aufzurütteln u. zu provozieren. Weitere Werke: Theaterstücke: Herz der Freiheit. Urauff. Münster/Westf. 1985. – Keuschheit u. Vernunft. Urauff. Bochum 1986. – Die Wölfe. Urauff. Münster/Westf. 1987. – History. Urauff. ebd. 1990. – Drei Schritte zum Himmel. Urauff. ebd. 1999. – Enter Liebe. Von Menschen u. Maschinen. Urauff. Billerbeck 2002. – Hörspiele: History. RB 1990. – Listen to me. RB 1994. – Tschistka oder Die sibir. Himmelfahrt. RB 1995. – Atlantis oder Sörfin Börd. BR 1995. – Horologium nocturnum. HR 1995. – Der Sturz. HR 1996 (Hörsp. des Monats, Nov. 1996). – Going Home. SDR 1997 (Hörsp. des Monats, Okt. 1997). – Drei Schritte zum Himmel. HR 1997. – Einer v. diesen Tagen oder Sweet Home Alabama. SWR 1999. – Singular oder der Garten aus Stein. HR 1999. – High. SWR 2001. – Die mitteleurop. Zeit. SWR 2004. – Nachts in meinem Garten. SWR 2008. – Passenger. SWR (in Vorb.). Literatur: Frank Kaspar: D. S. In: LGL. – Thomas Bräutigam: Hörspiel-Lexikon. Konstanz 2005, S. 73 (zu ›Bonte‹), 513. Monika Carbe

Spener, Philipp Jacob, auch: S. M. E. F. (Senior Ministrii Evangelici Francofurtensis), * 13.1.1635 Rappoltsweiler, † 5.2. 1705 Berlin. – Lutherischer Theologe, Heraldiker, Begründer des lutherischen Pietismus. Der Sohn des Rappoltsteinischen Rats u. Registrators Johann Philipp Spener wuchs unter der Anleitung frommer adliger Frauen auf. Hier begegnete ihm tiefe, auch aus engl. Quellen gespeiste, persönl. Frömmigkeit. Schulphilosophisches Grundwissen eignete sich S. aus der Literatur an, Lipsius u. Grotius wurden ihm bekannt; eine Schule hat er nie besucht, die Straßburger Universität bezog er 16-jährig. Nach weniger als zwei Jahren wurde S. mit einer Dissertation zu Hobbes Magister u. konnte das Theologiestudium

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beginnen. Seine intensiven histor. Studien begleitete Johann Heinrich Boecler; die theolog. Lehrer waren Dannhauer u. Sebastian Schmidt. Großen Eindruck machte auf S. der Straßburger Kirchenpräsident Johann Schmidt, der Arndt’sche Anliegen u. puritan. Frömmigkeit vertrat. Weniger in theolog. Fragen als in Bereichen des Frömmigkeitsverständnisses ging S. über Dannhauer hinaus, indem er Luther u. Arndt zusammensah u. in Andersgläubigen nicht mehr Gegner, sondern Irrende erblickte. Auf einer Studienreise seit 1659 baute er in Basel seine hebraistischen Kenntnisse aus, lernte er in Lyon den großen Heraldiker Claude Menestrier SJ kennen, begegnete er in Genf dem auf kirchl. Reformen drängenden Jean de Labadie u. konnte Beziehungen nach Tübingen festigen. Bald hatte S. dort geknüpfte Verbindungen ins reformierte Lager zu verteidigen (Schriften 1, S. 918, 936–969). Im Juni 1664 wurde S. in Straßburg zum Dr. theol. promoviert mit einem Thema aus der Offenbarung Johannis, mit der er sich weit über das allgemein übl. Maß hinaus beschäftigt hat. Nach knapp zwei Jahren ungestörter wissenschaftl. Tätigkeit u. im Amt des Freipredigers erreichte ihn ziemlich überraschend 1666 der Ruf auf die erste Stelle der luth. Geistlichkeit in Frankfurt/M. Dort gewann S. das Vertrauen der Geistlichen, war mit Reformen zurückhaltend, gewissenhaft in der Amtsführung, bei Katechisationen über das vorgeschriebene Maß hinaus tätig; dort verfasste er auch eines seiner am meisten aufgelegten Werke, die Einfältige Erklärung der christlichen Lehr Catechismi Lutheri (Ffm. 1677. Schriften 2,1, 1982). Die schließlich gescheiterte Auftragsarbeit einer Kommentierung der Bibel aus Luther (sie machte S. zu einem der besten Lutherkenner des Jahrhunderts), das Unbehagen am »äußeren Gottesdienst«, verbunden mit dem Scheitern der Bemühungen um strengere Ordnungen beim Magistrat, ließen S. die Sammlung der »Willigen« anstreben, weil das Christentum des »gemeinen hauffens nicht höher komme als zu einer pharisäischen Gerechtigkeit«. Eine Anregung S.s, den Sonntag durch gemeinsame Lektüre von Erbauungsbüchern zu heiligen, wurde – unter starkem Einfluss des

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später sich separierenden Johann Jakob Schütz – aufgenommen u. Mitte 1670 entscheidend in Richtung der Bildung »pietistischer« Konventikel vorangetrieben: die Gegenwart eines Geistlichen sollte der Gefahr einer Separation vorbeugen. Das Collegium pietatis (Konventikel) war bereits viereinhalb Jahre alt, als S. in der Vorrede einer Neuausgabe von Arndts Evangelienpostille seine Reformideen programmatisch formulierte (separat u. ergänzt u. d. T. PIA DESIDERIA [...]. Ffm. 1675. Ausg. letzter Hand 1680 in: Schriften 1, 1979. Krit. Ausg. 71990. Dt.-lat. Studienausg. Gießen 2005. Engl. 1963. 1964. 1974. Ital. 1986. Portugies. 1996). Hier drücken sich lange erwogene Überlegungen aus, aber auch seit Mitte 1674 vermittelte Ideen Labadies bezüglich der Konventikel im Sinne von 1 Kor 14. Hinzu kommt S.s nun öffentlich ausgesprochene mild chiliastische Lehre einer »Hoffnung besserer Zeiten für die Kirche auf Erden« vor dem Ende der Welt, mit der die Hoffnungen auf eine Bekehrung Israels u. den Fall Roms verknüpft waren – sogleich im Anhang durch J. H. Horb u. J. Stoll kritisiert (Schriften 1, S. 470 f., 371) u. fernerhin in breiter Kontroverse behandelt. Konservativ ist diese »Programmschrift des Pietismus« in fast allen Einzelkritiken an den drei Ständen u. -vorschlägen zur Besserung. Nach vorwärts weisen hingegen der Verzicht auf die Hilfe der Obrigkeit zur Kirchenreform u. der damit vollzogene Abschied von dem Willen zur Reform der ganzen Kirche: »ecclesiola in ecclesia« wird 1676 schnell die Formel (Schriften 16,2, 1989, S. 129; Briefe 1675–76, 1996, Nr. 93 Z. 45). Eine breite briefl. u. literar. Diskussion über dieses Programm brachte viel Zustimmung (bei Distanz in Straßburg), war aber auch begleitet von aus dem Baltikum eintreffenden misstrauischen Stimmen wegen Gerüchten über separatistische Tendenzen, die – trotz einer scharfen Schrift S.s über Der Klagen Mißbrauch (Schriften 4, 1984) – um 1684 den kirchl. Pietismus in Frankfurt zu seinem äußerl. Ende führten. 1686 erreichte S. der Ruf auf die Oberhofpredigerstelle in Dresden, das höchste vom Luthertum zu vergebende Amt, am Hof des Führers des Corpus Evangelicorum, Kurfürst

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Johann Georg III. Aus dort gehaltenen Predigten entstand eines der grundlegenden Werke S.s, die auch als Dogmatik zu verstehende Evangelische Glaubens-Lehre (Ffm. 1688. Schriften 3,1, 1986), in zwei Jahrgängen fortgesetzt, 1687/88 als Evangelische Lebens-Pflichten. Ffm. 1692. Schriften 3,2, 1991 (Ethik) u. 1688/89 als Evangelischer Glaubens-Trost (Ffm. 1695. Schriften 3,3, 2010). Die andere, kaum zu überschätzende Bedeutung der Dresdner Jahre bestand in S.s äußerlich zurückhaltender, aber wirksamer Unterstützung der in Leipzig vital aufbrechenden pietistischen Bewegung (u. a. August Hermann Francke). In einem äußerst aufschlussreichen pastoraltheolog. Anspruch an die sächs. Geistlichkeit (Schriften 4, S. 401–454) legte S. sein Amtsverständnis in gewinnender Weise nieder, konnte aber Bedenken der Geistlichkeit u. an den orthodoxen Universitäten Leipzig u. Wittenberg nicht endgültig zerstreuen. Ein Amtskonflikt S.s mit Johann Georg III. wurde erst durch die Entlassung aus sächs. Diensten gelöst, ermöglicht durch die in Aussicht stehende Berufung nach Berlin als Konsistorialrat, Propst u. Inspektor an St. Nicolai, wo S. 1691–1705 wirkte. Beteiligungen an wissenschaftlich-kulturellen Unternehmungen in Berlin haben in den Unterlagen der Akademie der Wissenschaften keinen Niederschlag gefunden. Die Berliner Jahre waren aber wohl die einflussreichsten seines Lebens. Als souveräner Polemiker wehrte er eine Fülle von Angriffen auf seine Werke ab. Mit einer großen Anzahl Adeliger trat er in persönl. Kontakt u. briefl. Verkehr – von herausragender Bedeutung wurde hier Carl Hildebrand von Canstein. Eine Fülle von Personalentscheidungen fädelte S. in »pietistischem« Sinne ein, was bei der Entstehung der luth. Universität Halle – gerade im Blick auf die Pfarrerausbildung – vielleicht am wirkungsvollsten war. Bei aller Milde ließ sich S. nicht für dogmat. Gleichgültigkeit, schon gar nicht für ernsthafte Reunionsbemühungen gewinnen. Er wahrte hinsichtlich der reformierten Lehre von der Prädestination das Recht auf öffentl. Widerspruch, bezüglich des Katholizismus eine grundsätzl. Ablehnung (Die Evangelische Glaubens-Gerechtigkeit. Ffm. 1684) u. gegenüber dem Sozi-

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nianismus eine tiefreichende Distanz, aus der sein letztes Werk, Verteidigung des Zeugnisses von der Ewigen Gottheit Jesu Christi (ebd. 1706), entstand. S.s prakt. Tätigkeit in Berlin – begleitet durch Schades Beichtstuhlstreit – war mehr als bisher durch die Pflicht zum Predigen, z. T. im Sinne von Arndts Schriftgebrauch in dessen Wahres Christentum (1–4, 1610, Schriften. Sonderreihe, 5, 2007) bestimmt (Predigten Uber des seeligen Johann Arnds Geistreiche Bücher. Ebd. 1706. 21711). Zwei Dresdner Predigtreihen u. Der hochwichtige Articul von der Wiedergeburt (ebd. 1696. 21715, Schriften 7, 1994) hat S. in dieser Zeit publiziert, daneben die Ausgabe von verstreut erschienenen Schriften u. Vorreden veranlasst (Erste Geistliche Schrifften. Ebd. 1699. Schriften 8, 2002). Mit der Publikation eigner dt. Briefe u. Gutachten von großer Vielfalt (Schriften 15,1, S. 22*; 16,1, S. 11*-12*) als Theologische Bedencken (3 [u. 1] Bde., Halle 1700–1702. Schriften 11–14, 1999) hat er noch selbst eine seiner wirkungsvollsten Tätigkeiten zu dokumentieren begonnen (was postum 1709 [lat.] u. 1711 [21721] fortgesetzt wurde, Schriften 15 u. 16, 1987, 1989). Darauf fußend werden aus dem Briefwechsel seit 1985 die Briefe S.s kritisch bearbeitet (1992–2010 sieben Bde.). S. erweist sich hier als unermüdlicher u. standes-, weniger konfessionsübergreifend auch wissenschaftlich u. (kirchen-)politisch tätiger Berater, Gutachter, Seelsorger, Anreger, Mahner u. Vermittler. Die Wirkung S.s reicht räumlich weit u. sachlich tief. Umfassend gebildet u. informiert (s. Bibliotheca in Aedibus Spenerianis cedet. Bln. 1709), von großer Ausdauer, stupendem Fleiß u. Gedächtnis, hat S. in vielfacher Hinsicht unauslöschl. Spuren in der Geschichte des neueren Protestantismus hinterlassen. Er hat dem Pietismus nicht zuletzt dadurch Zukunft gesichert, dass er ihm mit der Einbindung kirchenkrit. Kräfte ein in hohem Maße integratives Wirken ermöglichte. An entscheidenden Punkten vertrat S. moderne Positionen (Atheismus-Problem, Naturverständnis; vgl. Schriften 3,1, S. 870–889). Er blieb Mann der Kirche, Gruppen legte er immer die Pflicht zur Gesamtverantwortung für die Kirche auf. Allerdings war für ihn persönlich erfahrener Glaube (»Wiederge-

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burt«) der entschiedene Abschied von normaler Kirchlichkeit: »[...] den Kopff in das Hertz« war die S. hier überzeugende Formel (Schriften 16,1, S. 16*). Viele Vorwürfe an den Pietismus, wie etwa Theologieverdrossenheit, Weltflucht, Kultur- u. Wissenschaftsfeindlichkeit, treffen S. nicht. Literarisch war er unermüdlich tätig. Seine großen Werke bedürfen eindringender Einzelanalye (Lee 1999, Kim 2003). Oft wurde er von Anhängern zum Publizieren gedrängt, einige Male gegen seinen Willen auf den Kampfplatz gebracht (Schriften 1, 86–102, 853–899). Lieddichtungen S.s setzten sich nicht durch. In seinen manchmal von leichten Skrupeln begleiteten bahnbrechenden genealog. Studien unterstützte ihn Christian Friedrich Franckenstein. Vor allem die auch unter rhetorischen Fragestellungen erfolgende Erforschung des Predigtwerks S.s ist eine Herausforderung an die Literatur-, Theologie- u. Geistesgeschichte (Vollständiger Catalogus aller Predigten Speners. Lpz. 1715. Schriften. Sonderreihe 2, 1999). Ausgaben: Schr.en. Hg. Erich Beyreuther u. Dietrich Blaufuß. Hildesh. 1979 ff. (vgl. Dietrich Blaufuß [Hg.]: Pietismus-Forsch.en. Ffm./Bern/ New York 1986, S. 28 f. u. ö. [Übersicht]; Lutz E. v. Padberg: Zur Ed. der Schr.en v. P. J.S. In: Jb. für evangelikale Theologie 8, 1994, S. 85–118). – Die Werke P. J. S.s. Hg. Kurt Aland u. Beate Köster. Gießen 1996 ff. – Kleine Geistl. Schr.en (Magdeb./ Lpz. 1741/42), Schr.en Bd. 9,1–2 (in 5 Teilbdn.). – Leibniz-Akademie-Ausg. in Reihe 1, Bd. 1–9, Darmst. 1923. Nachdr. Hildesh. 1970. – Schr.en 11–16 (in 12 Teilbdn.), a. a. O. 1987/99. – Briefe. Hg. Johannes Wallmann u. Udo Sträter. Tüb. 1992 ff. [vgl. Blaufuß (unten Sammelbde.) 2003, 387–411]. – P. J. S.: Briefw. mit Aug. Herm. Francke 1689–1704. Hg. Johannes Wallmann [...]. Tüb. 2006 [vgl. Editionen in der Kritik 3, 2009, S. 213–233]. Literatur: Bibliografien: Paul Grünberg: P. J. S. 3. Bde., Gött. 1893–1906. Nachdr. Hildesh. 1988, Bd. 3, S. 207–263, 424; S. 242–247, 265 ff.; S. 268–338 (bis 1906). – Schr.en. a. a. O. Bd. 15,1, S. 53*-79*. Bd. 16,1, S. 29*-78*. – D. Blaufuß: S.Arbeiten. Bern [1975]. 21980, S. 75–100. – Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 1036–1091; Tl. 2, 1311–1330. – Pyritz 2, S. 649–652. – Dietrich Blaufuß. a. a. O. 21980, S. 256 (1893–1970). – Schmidt, Quellenlexikon. – Pietismus Bibliogr. ab 1971, jew. Abt. VIII, ab 1992 Abt. II.02. In: PuN ab 1, 1974 (hier auch zahlreiche S.-Aufsätze). – Sam-

Spengler melbände (jeweils [mit] S.-Beiträge[n]): Martin Schmidt: Ges. Studien 1–2. Witten 1969, Gött. 1984. – William Reginald Ward: Faith and Faction. London 1993. – Johannes Wallmann: Ges. Aufsätze 1–3. Tüb. 1995/2010. – Martin Brecht: Ausgew. Aufsätze 2. Stgt. 1997. – Dietrich Blaufuß: Korrespondierender Pietismus [...]. Lpz. 2003. – Hoffnung besserer Zeiten. P. J. S. u. die Gesch. des Pietismus. Halle 2005. – P. J. S. Leben, Werk, Bedeutung [...]. Hg. Dorothea Wendebourg. Halle/Tüb. 2007. – Weitere Titel: Grünberg: P. J. S. 1–3, a. a. O. – J. Wallmann: P. J. S. [...]. Tüb. [1970]. 21986. – D. Blaufuß: S.-Arbeiten [...]. [1975]. 21980. – Ders.: Reichsstadt u. Pietismus. P. J. S. u. G. Spizel in Augsburg. Neustadt/Aisch 1977. – Jan Olaf Rüttgardt: Hl. Leben in der Welt. [...] Sittlichkeit nach [...] S. Bielef. 1978. – James K. Stein: P. J. S. Chicago 1986. – Wolfgang Sommer: Gottesfurcht u. Fürstenherrschaft. [...] Obrigkeitsverständnis [...] zur Zeit der altprotestant. Orthodoxie. Gött. 1988, S. 206–218. – Gesch. Piet. Bd. 1 (1993), S. 278–389. – Reinhard Breymayer: Der ›Vater des dt. Pietismus‹ u. seine Bücher. Zur Privatbibl. P. J. S.s. In: Lessico Intellettuale Europeo 58 (Firenze 1993), S. 299–331. – Albrecht Haizmann: Erbauung als Aufgabe der Seelsorge bei P. J. S. Gött. 1997. – EunJae Lee: P. J. S. als Bibelausleger [...] Römerbriefauslegung (1677). Seoul 1999. – Chi Won Kang: Frömmigkeit u. Gelehrsamkeit. Reform des Theologiestudiums im luth. Pietismus des 17. u. frühen 18. Jh. Gießen 2001. – Moonkee Kim: Gemeinde der Wiedergeborenen. Das Kirchenverständnis in S.s Evang. Glaubenslehre. Mchn. 2003. – D. Blaufuß: ›Scibile et pie‹. Adam Rechenbergs u. P. J. S.s theolog. Studienanleitungen. In: Die Univ. Leipzig [...]. Hg. Hanspeter Marti u.a. Basel 2004, S. 329–358. – Jaumann Hdb. Bd. 1, S. 625–627. – Heike Krauter-Dierolf: Die Eschatologie P. J. S.s. [...]. Tüb. 2005. – Wolfgang Sommer: Der Konflikt zwischen S. u. Kurfürst Johann Georg III. in der Sicht des sächs. Pietismus. In: FS Inge Mager. Hg. Rainer Hering. Hann. 2005, S. 257–271. – Hans J. Urban: P. J. S. Zum 300. Todestag. In: Theolog. Revue 101 (2005), Sp. 179–188 [kath. Sicht]. – D. Blaufuß: Wider ›papentzende‹ Theologie. Ein Gutachten S.s im Zusammenhang der Konversion v. Elisabeth Christine v. Wolfenbüttel. In: FS Klaus Garber. Hg. Axel E. Walter. Amsterd. 2005, S. 91–115. – Ders.: ›Pietismus est impius‹? P. J. S.s Abwehr des Heterodoxieverdachts. In: FS Paul Mai. Regensb. 2005, S. 285–303. – W. Sommer: Die luth. Hofpredigt in Dresden. [...] Gesch. u. Verkündigung [...]. Stgt. 2006, S. 211–237. – D. Blaufuß: Concordia-Confessio-Conversio. Königsberger Synkretismus u. Kryptokatholizismus im Urteil P. J. S.s. In: Die Univ. Königsberg in der Frühen Neu-

104 zeit. Hg. H. Marti u. Manfred Komorowski. Köln/ Weimar 2008, S. 224–246 (mit S. 247–263, hg. Reimund B. Sdzuj). – Ernst Koch: Johann Benedikt Carpzov u. P. J. S. Zur Gesch. einer erbitterten Gegnerschaft. In: Eruditio – Confessio – Pietas. [...]. Hg. Stefan Michel u. Andres Straßberger. Lpz. 2009, S. 161–182. – J. Wallmann: P. J. S. In: NDB. Dietrich Blaufuß

Spengler, Lazarus, * 13.3.1479 Nürnberg, † 7.9.1534 Nürnberg; Grabstätte: ebd., Johnnisfriedhof. – Ratsschreiber, Verfasser juristischer, humanistischer u. theologischer Schriften. Der in eine Ratsschreiberfamilie in Nürnberg geborene S. zog nach dem Besuch der Lateinschule 1494 nach Leipzig, um sich in der Artes-Fakultät der Universität zu immatrikulieren. Bereits nach drei Semestern brach er sein Studium ab u. übernahm nach dem Tod seines Vaters 1495 Verantwortung für die Familie. S. trat in die Dienste seiner Heimatstadt, 1496 als Gehilfe des Gerichtsschreibers u. 1504 als Registrator in der Ratskanzlei, wo er vom Kanzleischreiber (1505) u. Verweser des Ratsschreiberamts (1506) schließlich bis zur Leitung dieser für die wichtigen polit. Belange der Reichsstadt zuständigen Behörde aufstieg. Das Amt des Ratsschreibers hatte er von Ostern 1507 bis zu seinem Tod inne. In dieser Funktion oblag ihm die amtl. Korrespondenz u. fielen ihm auch gutachterl. Tätigkeiten u. diplomatische Missionen zu Reichsstagen u. Bündnisverhandlungen mit Fürsten u. Reichsständen zu. Die daraus resultierende Beteiligung an der Nürnberger Außen- u. Innenpolitik sollte den kirchl. Kurs der Reichsstadt im frühen 16. Jh. wesentlich beeinflussen. Am Anfang des Jahrhunderts wandte sich der »von einer persönlichen Gewissensfrömmigkeit, einem kirchlichen Reformeifer und rastlose[n] Bildungsstreben« (B. Hamm) erfüllte S. erst einem sehr stark an der Grundnorm der Vernunft geprägten stoischen Humanismus zu. Eine stärker religiöse Ausrichtung gewannen die humanistischen Studien in den Jahren 1510–1515 durch die Orientierung am Kirchenvater Hieronymus – eine Begeisterung, die S. mit seinem Nachbarn u. Freund Albrecht Dürer teilte. 1516/17 ge-

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Ausgaben: L. S. Schr.en. Hg. Berndt Hamm u. a. hörte S. – neben Christoph Scheurl, Wenzeslaus Linck, Dürer u. a. – zu den begeisterten Gütersloh 1995 ff., Bd. 1 1995, Bd. 2 1999, Bd. 3 Zuhörern des Augustinereremiten Johannes 2010 [krit. Ed. der v. S. selbstständig verfassten von Staupitz (Sodalitas Staupitziana; Nach- Schriften; derzeit bis März 1530]. – Editionen, welche die Werkausgabe ergänzen: Dt. Reichstagsakten. Jünschriften der Predigten von S.), der mit seigere Reihe. Bde. 2, 3, 7 u. 8. – Willibald Pirckheinem gnadentheolog. Augustinismus die mers Briefw. Hg. Emil Reicke, Heinz Scheible u.a. 8 Leitbegriffe Liebe u. Vertrauen, verstanden Bde., Mchn. 1940–2009. – Jürgen Uwe Ohlau: als Wirkungen des göttl. Erbarmens, in den Neue Quellen zur Familiengesch. der Spengler. L. Vordergrund rückte. Seit 1518 konnten so die S. u. seine Söhne. In: Mitt.en des Vereins für Gesch. Lehren des Staupitzschülers Martin Luther S. der Stadt Nürnberg 52 (1962), S. 232–255. – Quelrasch überzeugen u. machten ihn seit 1519 zu len zur Nürnberger Reformationsgesch. Von der einem gewichtigen Wortführer der Reforma- Duldung liturg. Änderungen bis zur Ausübung des tion. In seiner Schutzrede für Luthers Lehre von Kirchenregiments durch den Rat (Juni 1524–Juni 1519 formulierte er programmatisch die Be- 1525). Hg. Gerhard Pfeiffer. Nürnberg 1968. – Gottfried Seebaß: Apologia Reformationis. Eine rufung auf die Hl. Schrift als neue Norm allen bisher unbekannte Verteidigungsschrift Nürnbergs Glaubens u. Handelns. Bescherte ihm diese aus dem Jahre 1528. In: Ztschr. für Bayerische erste deutschsprachige Reformationsflug- Kirchengesch. 39 (1970), S. 20–74. – Andreas Osischrift eines Laien auch die Aufnahme in die ander d.Ä. Gesamtausg. Hg. Gerhard Müller u. G. päpstl. Bannbulle vom 3.1.1521, bildete sie Seebaß. Bde. 1–5, Gütersloh 1975–83. – L. S. als jedoch erst den Auftakt weiterer apologeti- Übersetzer. (Ps.-)Eusebius ›De morte Hieronymi‹, scher Schriften: S. orientierte sich in zahlrei- Nürnberg 1514. Hg. Erika Bauer. Heidelb. 1997. – chen Flugschriften, Liedern (Durch Adams Fall Gudrun Litz: Familienbüchlein Spengler. In: B. ist ganz verderbt, 1524), in seinem Glaubens- Hamm: L. S. (1479–1534), S. 349–409. Literatur: Urban Gottlieb Haußdorff: Lebensbekenntnis (1527/1529/1533), diversen ›Trostschriften‹, ›Denkzetteln‹ u. Briefen v. a. Beschreibung eines christl. Politici, vornehmlich an Luther, griff aber auch Gedanken Zwing- Lazari Spenglers [...]. Nürnb. 1740. – [Adolf] Brecher: L. S. In: ADB. – Hans v. Schubert: L. S. u. die lis, Melanchthons u. Osianders auf u. verteiReformation in Nürnberg. Hg. u. eingel. v. Hajo digte die vorgenommenen reformatorischen Holborn. Lpz. 1934. Nachdr. New York/London Änderungen. Auch mit seiner großen Apolo- 1971. – Gerhard Pfeiffer: L. S. In: Fränk. Lebensgie Ein kurzer Auszug aus den päpstlichen Recht bilder 11 (1984), S. 61–79. – Wolfgang Huber: Der der Dekrete und Dekretalen (1529/30) suchte er Nürnberger Ratsschreiber L. S. als Apologet der die Legitimität dieser Maßnahmen vom mit- Reformation. In: Ztschr. für Bayerische Kirchentelalterl. Kirchen- u. Reichsrecht her nachzu- gesch. 66 (1997), S. 1–11. – Berndt Hamm: L. S. weisen. Erwähnt seien von den Schriften mit (1479–1534). Der Nürnberger Ratsschreiber im privatem Charakter noch sein Testament Spannungsfeld v. Humanismus u. Reformation, (1529/33) u. das Familienbüchlein mit genea- Politik u. Glaube. Tüb. 2004. – TRE 31. – Gudrun Litz: L. S. In: NDB 24. – Der Nachlass der Familie log. Aufzeichnungen. Spengler befindet sich im Stadtarchiv Nürnberg (E S. Einsatz für die reformatorische Sache Spengler). Gudrun Litz erfuhr bereits in einer Tischrede Martin Luthers 1542 höchstes Lob, wäre ohne S. in Nürnberg doch »das evangelion so bald nicht Spengler, Oswald (Arnold Gottfried), auff gangen. Die stadtschreiber thun, wie es * 29.5.1880 Blankenburg/Harz, † 8.5. die propheten vorzceitten thetten bey den 1936 München; Grabstätte: ebd., Nordkonigen« (WA.TR 5,132,30–133,2). Durch die friedhof. – Geschichtsphilosoph, politiVerbindung der humanistischen u. theolog. scher Schriftsteller. Interessen mit seinen polit. u. juristischen Kompetenzen darf man S. zu Recht als »den Als Sohn eines Postsekretärs wuchs S. in Theologen unter den Politikern der frühen Blankenburg, Soest (1887–1890) u. Halle auf. Reformation« (B. Hamm) bezeichnen. Er besuchte die Latina der Francke’schen Stiftungen u. begann 1899 das Studium der Mathematik u. Naturwissenschaften in Halle.

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Nach Semestern in München u. Berlin wurde er dort 1904 mit einer Arbeit über Heraklit promoviert. Zunächst in Düsseldorf u. Hamburg im Schuldienst, übersiedelte er – durch ein Erbteil der Mutter finanziell unabhängig geworden – 1911 nach München, wo er bis zu seinem Tod als Privatgelehrter lebte. Unter dem Eindruck der Zweiten Marokkokrise 1911 entstand im selben Jahr die Grundidee für sein philosophisches Hauptwerk, an dessen erstem, bedeutenderem Teil er bis 1917 arbeitete. Im Sept. 1918, also noch vor dem Ende des Weltkriegs, erschien Der Untergang des Abendlandes im Verlag Braumüller in Wien; die dritte u. zahlreiche weiteren Auflagen erschienen von Mai 1919 an im Verlag C. H. Beck in München, der auch alle anderen Schriften S.s veröffentlichte. Das Ziel der Geschichtsphilosophie S.s ist es, die (europäische) Geschichte prognostizierbar zu machen. Auf der Grundlage einer Analyse von acht Hochkulturen, unter denen allerdings Antike u. Abendland den weitaus größten Raum der Darstellung einnehmen, entwarf S. eine »Morphologie der Weltgeschichte« mit dem Anspruch, die allg. Entwicklungsgesetze der Geschichte u. ihre »biographischen Urformen« freizulegen. Unter Rückgriff auf die Morphologie Goethes, deren method. Grundgedanken S. von der Naturerkenntnis auf die Geschichtsforschung zu übertragen suchte, beschreibt der Untergang des Abendlandes eine histor. Formenlehre, nach der alle Hochkulturen analog zu Pflanze, Tier u. Mensch zyklisch bestimmte Entwicklungsstadien – »Jugend, Aufstieg, Blütezeit, Verfall« – durchlaufen. Sind die Prinzipien dieser »organischen Logik« einmal erkannt, so ist nach S. auch eine historisch genaue Standortbestimmung der Gegenwart u. Zukunft der abendländ. Kultur möglich: Wenn die Verlaufsgeschichte der Hochkulturen ungeachtet aller histor. u. geografischen Unterschiede im Einzelnen grundsätzlich gleich ist, dann erlaubt ein Vergleich den Analogieschluss von den Kulturen der Vergangenheit auf die Kultur der Gegenwart. Die materiale – vorwiegend kulturhistorische – Durchführung dieses geschichtsphilosophischen Programms, das in allen wesentl. Zügen in der Einleitung des

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Werks umrissen wird, bestimmt den ersten Band des Untergangs des Abendlandes. Die spektakuläre These des Buchtitels gibt S.s Gegenwartsdiagnose bereits deutlich zu erkennen. Die abendländ., als »faustisch« apostrophierte Kultur habe im 19. Jh. den Zenit ihrer Entwicklung überschritten u. befinde sich nun im Stadium des Verfalls, das »Zivilisation« genannt wird. Ist die method. Ausrichtung seiner Geschichtsphilosophie Goethe verpflichtet, so wird bei der vergleichenden Analyse der Gegenwart der Einfluss Nietzsches auf S. erkennbar. Zugleich zeigt S.s Charakteristik der zeitgenöss. »Dekadenz« seine Verhaftung in konservativen, von antimodernen Affekten überlagerten Wertekategorien. Die antithet. Gegenüberstellung von Kultur u. Zivilisation, Instinkt u. Intellekt, Weltstadt u. Heimat, Gemeinschaft u. Gesellschaft usw. bewegt sich in den Bahnen der damals gängigen Kulturkritik, gewinnt aber durch die fatalistische Bejahung der Zivilisation als »Schicksal« des modernen Menschen eine überraschende Pointe. Die polit. Dimension dieser Geschichtsphilosophie eröffnet sich im zweiten Band des Untergangs des Abendlandes (1922). Der Auflösung der traditionellen Formen staatl. Herrschaft, die S. aus der Perspektive einer konservativen Liberalismus- u. Kapitalismuskritik schilderte, werde schon bald ein Zeitalter der »Cäsaren« folgen, das durch diktatorische Herrschaft nach innen u. Kriege um die Weltherrschaft nach außen gekennzeichnet sei. Gegenüber dieser prophetisch wirkenden Zukunftsbeschreibung fiel die Demokratie auf ein welthistorisch funktionsloses Interregnum zwischen monarchischer u. diktatorischer Herrschaft zurück. Die Weimarer Republik wurde damit, ohne explizit zur Sprache zu kommen, gleichsam geschichtsphilosophisch aus den Angeln gehoben. Der Untergang des Abendlandes wurde das meistgelesene geschichtsphilosophische Werk der Weimarer Republik, sein Autor ihr bekanntester Philosoph. Die sensationelle Wirkung, die unter den bes. Bedingungen der Nachkriegszeit in Deutschland von S.s Untergangstheorie ausging, fand in einer breiten nationalen Rezeption ihren Niederschlag.

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Thomas Mann, Musil, Hesse, Rilke, Benn, aber auch Wittgenstein u. Albert Einstein – um nur einige zu nennen – gehörten zu den zeitgenöss. Lesern des Werks. Auch im Ausland, bes. in den USA, fand das Buch ein gewisses modisches Echo. In der heftig geführten Kontroverse um die histor. Stichhaltigkeit u. geschichtsphilosophische Relevanz des Untergangs des Abendlandes, die nicht zuletzt von den – von S. oft scharf attackierten – Fachgelehrten getragen wurde, überwog die sachlich zumeist gerechtfertigte Kritik. Die Anziehungskraft von S.s Thesen blieb davon jedoch unberührt. Ende 1919 bekannte sich S. in dem polit. Pamphlet Preußentum und Sozialismus (Lpz. 2007) unverhüllt zu den Gegnern der Weimarer Republik, der er unter Hinweis auf den »Verrat an der Heimatfront« (Dolchstoßlegende) u. die vermeintlich missachteten Traditionen eines »preußischen Sozialismus« die staatl. Legitimität absprach. In den folgenden Jahren bemühte er sich hinter der polit. Bühne selbst aktiv um den Sturz der Regierung Stresemann u. um Einfluss auf die Staatsstreichpläne der Republikgegner. Obwohl seine dezidiert antidemokratische u. antiparlamentar. Gesinnung zahlreiche Affinitäten zum Nationalsozialismus aufweist, sprach sich S. weder vor noch nach der Machtergreifung für Hitler u. seine Partei aus. Im Gegenteil: In seiner letzten, im Aug. 1933 erschienenen Schrift Jahre der Entscheidung (Graz 2007) übte er indirekt Kritik an den neuen Machthabern, deren primitives geistiges Niveau – gerade auch ihr Antisemitismus – ihm zutiefst zuwider war. Seine Weigerung zur Zusammenarbeit führte zu einer gelenkten Pressekampagne gegen S., der sich nach dem 30.6.1934 (sog. RöhmPutsch) aus Furcht vor persönl. Verfolgung völlig aus dem öffentl. Leben zurückzog. Die präfaschistischen Tendenzen im Werk S.s, zumal in seinen polit. Schriften, haben nach 1945 eine unvoreingenommene Würdigung seiner Philosophie stark beeinträchtigt. Bedeutsamer für das Ausbleiben einer produktiven Rezeption (von Ausnahmen wie Hans Freyer oder Hans Sedlmayr abgesehen) ist jedoch das Fehlen einer wissenschaftlich aussagefähigen Theorie der Geschichte,

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durch die der Untergang des Abendlandes philosophische oder histor. Leitfunktionen übernehmen könnte. Weitere Werke: Der metaphys. Grundgedanke der Heraklitischen Philosophie. Halle 1904. – Neubau des Dt. Reiches. Mchn. 1924. Viöl/Nordfriesland 1998. – Der Mensch u. die Technik. Mchn. 1931. Wien/Lpz. 2006. – Polit. Schriften. Mchn. 1932. Lpz. 2009. – Nachlass: Briefe 1913–36. Mchn. 1963. – Urfragen. Ebd. 1965. – Frühzeit der Weltgesch. Ebd. 1966. – Ich beneide jeden, der lebt. Die Aufzeichnungen ›Eis heauton‹ aus dem Nachl. Mit einem Nachw. v. Gilbert Merlio. Düsseld. 2007. Literatur: Manfred Schröter: Der Streit um S. Mchn. 1922. – Friedrich Meinecke: Über S.s Geschichtsbetrachtung (1923). In: Ders.: Werke. Bd. 4, Stgt. 1959, S. 181–195. – Thomas Mann: Über die Lehre S.s (1924). In: Ders.: Altes u. Neues. Ffm. 1953, S. 142–150. – Ernst Bloch: S.s Raubtiere u. relative Kulturgärten (1935). In: Ders.: Erbschaft dieser Zeit. Ffm. 1962, S. 318–329. – Theodor W. Adorno: S. nach dem Untergang. In: Ders.: Prismen. Ffm. 1955, S. 45–71. – Anton M. Koktanek: O. S. Mchn. 1968. – Peter Christian Ludz (Hg.): S. heute. Mchn. 1980. – Gilbert Merlio: O. S. Stgt. 1982. – Detlef Felken: O. S. Mchn. 1988. – Werner Konrad: Max Frischs ›Die chines. Mauer‹. Ein Paradigma für seine O.-S.-Rezeption. Ffm. u. a. 1990. – Ingo Kaiserreiner: Kunst u. Weltgefühl. Die bildende Kunst in der Sicht O. S.s. Darstellung u. Kritik. Ebd. 1994. – Alexander Demandt u. John Farrenkopf (Hg.): Der Fall S. Eine krit. Bilanz. Köln/Weimar/Wien 1994. – Rolf Peter Sieferle: Die konservative Revolution. Fünf biogr. Skizzen (Paul Lensch, Werner Sombart, O. S., Ernst Jünger, Hans Freyer). Ffm. 1995. – Massimo Ferrari Zumbini: Untergänge u. Morgenröten. Nietzsche – S. – Antisemitismus. Würzb. 1999. – Frits Boterman: O. S. u. sein ›Untergang des Abendlandes‹. Köln 2000. – Domenico Conte: O. S. Eine Einf. Lpz. 2004. – Frank Lisson: O. S. Philosoph des Schicksals. Schnellroda 2005. – Sandra Pott: Lesen, poet. Lesen u. poet. Text. Rainer Maria Rilkes Auseinandersetzung mit O. S.s ›Untergang des Abendlandes‹ (I, 1918). In: IASL 30 (2005), H. 1, S. 188–213. – Aldo Venturelli: Kulturkritik u. Projekt. Musils Auseinandersetzung mit O. S. In: Linke u. rechte Kulturkritik. Hg. G. Merlio u. Ge´ rard Raulet. Ffm. u. a. 2005, S. 257–266. – Uwe Janensch: Goethe u. Nietzsche bei S. Bln. 2006. – G. Merlio: Die mythenlose Mythologie des O. S. In: Moderne u. Mythos. Hg. Silvio Vietta u. Herbert Uerlings. Paderb./ Mchn. 2006, S. 207–225. – Samir Osmancˇ evic´ : O. S. u. das Ende der Gesch. Wien 2007. – Wolfgang Krebs: Die imperiale Endzeit. O. S. u. die Zukunft

Spengler der abendländ. Zivilisation. Bln. 2008. – Eberhard v. Lochner: ›Gottessorge‹ u. ›üble Erlösung‹. Geschichts- u. Religionsphilosophie bei Thomas Mann u. O. S. in Mchn. 1918–1933. In: Thomas Mann in München IV. Hg. Dirk Heißerer. Mchn. 2008, S. 37–69. – Manfred Gangl, G. Merlio u. Markus Ophälders (Hg.): S. – Ein Denker der Zeitenwende. Ffm. 2009. – Mario M. Bosincu: ›Glauben-Wollen an höhere Gewalten‹. Die Rezeption der Schicksalsphilosophie O. S.s beim frühen Ernst Jünger. In: Ästhetik – Religion – Säkularisierung. Hg. S. Vietta u. H. Uerlings. Bd. 2, Paderb./Mchn. 2009, S. 139–150. – Michael Thöndl: O. S. in Italien. Kulturexport polit. Ideen der ›Konservativen Revolution‹. Lpz. 2010. Detlef Felken / Red.

Spengler, Tilman, * 2. 3. 1947 Oberhausen. – Verfasser von Romanen, Kurzgeschichten, Reportagen u. Essays, Journalist. S. studierte Sinologie, Soziologie/Politikwissenschaft u. Geschichte in Heidelberg, München u. Taipeh. 1972 wurde er mit einer Arbeit über intellektuelle Auseinandersetzungen im China gegen Ende des letzten Kaiserreiches (veröffentlicht u. d. T. Sozialismus für ein neues China. Mchn. 1983) promoviert. Er war Stipendiat des Contemporary China Institute in London u. 1974–1980 Mitarbeiter am Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlichtechn. Welt (Max-Planck-Institut für Sozialwissenschaften) in Starnberg. Es folgten Forschungs- u. Lehraufenthalte an der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking u. am Wissenschaftskolleg in Berlin sowie eine Reihe wissenschaftl. Publikationen, u. a. zur chines. (Wissenschafts-)Geschichte. Daneben ist S. seit Mitte der 1970er Jahre als freier Journalist, Drehbuchautor, Redenschreiber etc. tätig. 1992/93 leitete er das Feuilleton der Wochenzeitung »Die Woche« u. war von 1980 bis zu ihrer Einstellung 2008 Mitherausgeber der kultur- u. gesellschaftskrit. Zeitschrift »Kursbuch«. S. lebt mit seiner Familie in Ambach am Starnberger See u. Berlin. S.s erster Roman Lenins Hirn (Reinb. 1991) rund um den Berliner Neurologen Oskar Vogt (1870–1959) u. seine Bemühungen, das Phänomen der Genialität am Gehirn Lenins

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nachzuweisen, wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die Verbindung von histor. Fakten u. Fiktion wurde zgl. als humoristische Wissenschafts- u. Fortschrittssatire wie als kolportagehafter Gesellschaftsroman gelesen. Wie in anderen seiner Werke wechseln die Perspektiven, folgen Episoden u. Beobachtungen einander fragmentarisch mit wechselnden Zusammenhängen. Poetologisch wird dieser Umgang mit Perspektive in Der Maler von Peking (Reinb. 1993), in dem S. sein Wissen um die Kulturgeschichte Chinas in der gebrochenen Erzählung um die Mission des Jesuitenordens – sie sollte im 18. Jh. China bzw. dem Kaiser die Zentralperspektive als Grundlage monotheistischer Kunst bringen – zum atmosphär. Roman gestaltet. Chinabilder, -geschichten u. -anekdoten quer durch die Epochen prägen auch S.s Reportagen, Essays u. Kurzgeschichten, die er u. a. regelmäßig in »Die Zeit« u. »Geo« veröffentlichte. In seinen Bänden mit Reportagen u. Erzählungen, etwa in Das Glück wartet draußen vor der Stadt (Bln. 2002), geht es um eigene Reiseerlebnisse wie um mündlich Tradiertes. Seine Erfahrungen als politisch engagierter Redenschreiber u. Begleiter dt. Politiker, u. a. des Bundeskanzlers Gerhard Schröder, bei Chinareisen sind wiederholtes Motiv in S.s gesellschaftskrit. Schriften. Das Spiel mit der Fiktion eigener Erfahrung prägt bereits den Band Wenn Männer sich verheben (Bln. 1996), eine »Leidensgeschichte in 24 Wirbeln« über gesellschaftl. u. psychosomat. Symptomatik männl. Rückenbeschwerden. Der als »Kursbuch eines Unfertigen« untertitelte Band Meine Gesellschaft (Bln. 2001) mischt als semifiktionale Intellektuellenautobiografie kaleidoskopartig Episoden aus S.s öffentl. Leben mit allg. Betrachtungen zur gesellschaftl. Momentaufnahme u. wirft Schlaglichter auf S.s literar. Œuvre. Sind Sie öfter hier? (Bln. 2009) geht anekdotischdeskriptiv der Kunst gelingender Konversation nach, zeigt die stete Verbindung von gesellschaftl. Stellungnahme u. Erzähllust, von Satire u. moralinfreiem krit. Witz, die S. in den Augen vieler eine Sonderstellung unter den dt. Schriftstellern der Gegenwart sichern.

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S. war 1999 Stadtschreiber in Mainz; 2003 erhielt er den Ernst-Hoferichter-Preis u. 2008 den Literaturpreis der Stadt München. Weitere Werke: Geplantes Bevölkerungswachstum im Entscheidungsprozeß der Wirtschafts- u. Sozialpolitik der Volksrepublik China. Hbg. 1975. – Der Sturz v. Lin Piao. Paradigma für militärisch-zivile Konflikte in der VR China? Hbg. 1976. – Geistermauern. Chinesische Piktogramme. Bln. 1989. – Chinesische Reisebilder. Reinb. 1996. – Die Stirn, die Augen, der Mund. Reinb. 1999 (R.). – Zu Gast bei Wagner (zus. mit Daphne Wagner u. Barbara Lutterbeck). Mchn. 2002. – Mallorca. Von schwarzen Schweinen u. Madonnen. Mit Zeichnungen v. Ioannes Llabres u. einem Schaf v. Jörg Immendorff. Mchn./Wien 2003. – 15 Affen für Ida, die einmal eine sehr kluge Frage stellte (zus. mit J. Immendorff). Bln./Köln 2005 (Kinderb.). – Herausgeber: Joseph Needham: Wissenschaftlicher Universalismus. Ffm. 1977. – Alexej Chanjutin u. Boris Rawdin: Lenins letzte Tage. Bln. 1994. – Moskau – Berlin. Stereogramme. Bln. 2001. – Werke Gregor v. Rezzoris (zus. mit Gerhard Köpf u. Heinz Schumacher). Bln. 2004 ff. Literatur: Ulrich Rüdenauer: T. S. In: LGL. Stefan Alker

Speratus, Paul, eigentl.: P. Hoffer oder Offer, * 13.12.1484 Rötlen bei Ellwangen, † 12.8.1551 Marienwerder (heute: Kwidzyn). – Theologe; Kirchenlieddichter, Übersetzer. Aus einer wohlhabenden Bürgerfamilie stammend, studierte S. in Deutschland (Freiburg 1503), Frankreich, Österreich u. Italien Philosophie, Theologie u. Recht. 1506 zum Priester ordiniert, wurde er 1512 kaiserl. u. päpstl. Notar in Salzburg. Dort wirkte er ab 1516 als Domprediger; 1519 wandte er sich in Würzburg der Reformation zu. Nach heiml. Eheschließung (1520) wurde er seines Amtes als Domprediger enthoben. Auf dem Weg nach Ofen kam S. 1522 in Wien an. Nach einer Aufsehen erregenden reformatorischen Predigt im Stephansdom (am 12. Januar) wurde er exkommuniziert u. begab sich nach Iglau (Verbindung zu den Böhmischen Brüdern). 1523 zum Bischof von Olmütz zitiert, wurde er gefangen gesetzt, verurteilt u. entkam nur knapp dem Feuertod. In der Haft entstand S.’ bekanntestes Lied, »Es ist das hayl uns kumen her« (EKG 242),

das er, Ende 1523 in Wittenberg angekommen, Luther für das Achtliederbuch (1523/24) überließ, dazu die Lieder »In Got / gelaub ich das er hat« u. »Hilff got / wie ist der menschen not«. Er übersetzte lat. Schriften Luthers, darunter die Formula missae. Auf Empfehlung Luthers berief ihn Herzog Albrecht 1524 zum Schlossprediger in Königsberg; ab 1530 hatte er das Bischofsamt von Pomesanien inne. S. hat Bedeutendes für die Reformation im Herzogtum Preußen geleistet. Aus dieser Zeit (1527) stammen sein Psalmlied »Erczürn dich nicht« u. »Gelobet sey Got«. Sein Anteil an zwei Königsberger Gesangbüchern (1527) ist umstritten. Zum Augsburger Reichstag (1530) dichtete er »Ein lied mit klagendem hertzen«. Vor allem in seiner Jugend verfasste S. auch lat. Gedichte. Ihm werden 49 Kirchenlieder zugeschrieben, acht Melodien stammen von ihm. Sein Liedschaffen ist dem Meistersang verpflichtet. S. gilt als bedeutender frühreformatorischer Kirchenlieddichter, der mit »Es ist das hayl« eines der »Kernlieder der evangelischen Kirche« geschaffen hat. Weitere Werke: Von dem hohen gelübd der Tauff, sampt andern ein Sermon czu Wienn ynn Osterreych geprediget. Königsb. 1524. – Martin Luther: Offenbarung des Endtchrists, auß dem Propheten Daniel, wider Catharinum. Übers. P. S. Augsb. 1524. Internet-Ed. in: VD 16. Ausgaben: Wackernagel 3, S. 31–41. – Wie man trotzen sol auffs Creutz widder alle wellt zu stehen bei dem Euangelio, an die Jgler. Wittenb. 1524. Internet-Ed. in: VD 16. – Das Achtliederbuch (Nürnb. 1523/24). Nachdr. hg. v. Konrad Ameln. Kassel 1958. – Early protestant spirituality. Edited and translated by Scott H. Hendrix. New York 2009 (›Only Son from heaven‹, 1524). Literatur: Bibliografien: Kosch, Bd. 18, Sp. 484–486. – VD 16. – Weitere Titel: Carl J. Cosack: P. S. Leben u. Lieder [...]. Braunschw. 1861. – Paul Tschackert: P. S. v. Rötlen, evang. Bischof v. Pomesanien in Marienwerder. Halle 1891. – Ders.: P. S. In: ADB. – Ders.: P. S. In: RE. – Hdb. zum EKG. Bd. II, 1, S. 45 f; Bd. I, 2, S. 377–383; Sonderbd. Gött. (auch Bln.) 1958, S. 375–379. – Bruno Schumacher: P. S. In: Altpr. Biogr., Bd. 2, S. 685. – Sigrid Fillies-Reuter: P. S. In: Bautz. – Klaus Burba: ›Es ist das Heil uns kommen her‹. Von S. selbst der Gemeinde erläutert. In: Bl. für württemberg. Kirchengesch. 95 (1995), S. 27–48. – Bernd Moeller u.

Der Sperber Karl Stackmann: Städt. Predigt in der Frühzeit der Reformation. Eine Untersuchung dt. Flugschr.en der Jahre 1522 bis 1529. Gött. 1996, passim. – K. Burba: Das Rastenburger Religionsgespräch 1531. Bischof S. u. die Schwärmer im Widerstreit über ›Das gepredigte Wort Gottes‹. In: Beiträge zur ostdt. Kirchengesch. 2 (1997), S. 53–83. – Joachim Stalmann: P. S. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 1999 (22001), S. 305 f. – Kulturgesch. Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. Hg. Klaus Garber u. a. Tüb. 2001, Register. – Martin Brecht: Erinnerung an P. S. (1484–1551), ein enger Anhänger Luthers in den Anfängen der Reformation. In: ARG 94 (2003), S. 105–133. – Königsberger Buch- u. Bibliotheksgesch. Hg. Axel E. Walter. Weimar/Köln 2004, Register. – Thomas Schmidt-Beste: P. S. In: MGG 2. Aufl. Bd. 15 (Pers.), Sp. 1170–1172. Klaus Düwel / Red.

Der Sperber. – Mittelhochdeutsches Schwankmäre, erste Hälfte des 13. Jh.

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me von der Begegnung. Diese erkennt, dass die Schuld in ihrer Erziehung liegt, die das Mädchen in Unwissenheit ließ. Das Märe zeichnet sich durch Einfachheit in Darstellung u. Satzbau sowie durch Sparsamkeit in der Verwendung rhetorischer Mittel aus. In der Motivik, teils auch in der Wortwahl, wird die enge Verwandtschaft mit den mhd. Mären Dulceflorie u. Häslein, aber auch mit den frz. Fabliaux La Grue u. Le Héron deutlich. Mit dem Gänslein verbinden es ähnl. Formulierungen bei der Wahl eines männl. Protagonisten. Ausgaben: Heinrich Niewöhner: Der S. u. verwandte mhd. Novellen. Bln. 1913, S. 15–44. – Novellistik des MA. Märendichtung. Hg., übers. u. komm. v. Klaus Grubmüller. Ffm. 1996, S. 568–589, 1210–1221. Literatur: Niewöhner, a. a. O., S. 1–68, 127–171. – Frauke Frosch-Freiburg: Schwankmären u. Fabliaux. Göpp. 1971, S. 23–42. – Hanns Fischer: Studien zur dt. Märendichtung. Tüb. 2 1983, S. 403 f. (weitere Ausg.n u. Lit.), S. 521, s. auch Register. – Monika Jonas: Der spätmittelalterl. Versschwank. Innsbr. 1987, S. 42–47. – Rolf Max Kully: Der S. In: VL. – Hedda Ragotzky: ›Der S.‹ u. ›Das Häslein‹. Zum Gattungsbewußtsein im Märe Ende des 13., Anfang des 14. Jh. In: PBB 120 (1998), S. 36–52. – Monika Schausten: Wissen, Naivität u. Begehren. Zur poetolog. Signifikanz der Tierfigur im Märe vom ›S.‹. In: Mittelalterl. Novellistik im europ. Kontext. Hg. Mark Chinca u. a. Bln. 2006, S. 170–191. Elisabeth Wunderle / Red.

Das in Paarreimen abgefasste Märe, entstanden in der ersten Hälfte des 13. Jh. auf alemann. Gebiet, war, wie die breite, in Umfang (316–378 Verse) u. Formulierungen divergierende Überlieferung (11 Handschriften) zeigt, im MA sehr beliebt. Behandelt wird das in der Märendichtung häufig aufgegriffene Thema ›Verführung und erotische Naivität‹ (Fischer): Ein junges Mädchen wächst abgeschirmt von der Welt im Kloster auf. Als die junge Nonne bei einem Spaziergang von der Ringmauer des Klosters herabschaut, sieht sie auf der Landstraße einen Ritter mit einem Sperber, Manès, auch: Jan Heger, N. A. Sperber. Da sie den Vogel sehr bewundert, Menlos, * 12.12.1905 Zabl/otów/Galizien, bietet ihr der Ritter das Tier zum Kauf an; als † 5.2.1984 Paris; Grabstätte: ebd., FriedKaufpreis verlangt er ihre Minne. Als sie erhof Montparnasse. – Erzähler, Essayist; klärt, diese nicht zu kennen, schlägt ihr der Sozialpsychologe, Philosoph. Ritter vor, selbst nach ihr zu suchen. Er führt sie in einen Garten u. nimmt sich dort den Aus einer wohlhabenden Rabbinerfamilie Kaufpreis. Ins Kloster zurückgekehrt, erzählt stammend, wuchs S. in der Tradition des das Mädchen einer Verwandten, offensicht- Chassidismus auf. Die Welt des »Städtels« lich der Priorin, freudig von ihrem günstigen prägte die Kindheit des Autors, der sich zu Kauf. Diese beschimpft das Mädchen wegen den letzten Überlebenden dieser Existenzdes Verlustes der Jungfräulichkeit u. schlägt form zählte. Aufgrund der Kriegswirren im Zorn auf es ein. In der Absicht, ihre flüchtete die Familie im Sommer 1916 nach Jungfräulichkeit wieder herstellen zu lassen, Wien, wo S. sich der kommunistischen Juhält die junge Nonne nach dem Ritter Aus- gendbewegung anschloss; die Lektüre Kroschau, der nach drei Tagen wieder kommt. potkins, Nietzsches, Dostojewskijs u. die Dieser erfüllt ihre Bitte, ihr ihre Minne zu- Ideen des Zionismus formen sein jugendl. rückzugeben. Wieder erzählt sie ihrer Muh- Weltbild. Entscheidend wird jedoch die Be-

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gegnung mit Alfred Adler, dem Begründer der vergleichenden Individualpsychologie, dessen Schüler u. Mitarbeiter er wird. In seinem ersten Buch, dem monografischen Essay Alfred Adler (Mchn. 1926), bekennt er sich trotz aller Meinungsverschiedenheiten zu dessen Lehre, bricht aber 1932 doch mit Adler, der S.s Verknüpfung von Individualpsychologie u. Marxismus nicht dulden kann. Seit 1927 in Berlin u. Mitgl. der KPD, hält S. Vorträge u. Kurse in der Berliner Gesellschaft für Individualpsychologie; später arbeitet er im Auftrag der Stadt Berlin als Therapeut u. Ausbilder von Fürsorgern. Nach der Machtübernahme Hitlers im Untergrund aktiv, wird S. in »Schutzhaft« genommen, als österr. Staatsbürger aber schließlich freigelassen. Über Zagreb u. Wien emigriert S. im Auftrag der Partei, für die er zum Propagandisten internat. Maßstabs werden soll, nach Paris. 1937, unter dem Eindruck der stalinistischen Säuberungen, trennt er sich jedoch von der KP, u. es beginnt die schriftstellerische Auseinandersetzung mit den zeitgenöss. totalitären Ideologien: In den sozialpsycholog. Essays Zur Analyse der Tyrannis (Paris 1939. Neuaufl. Wien 1975. Graz 2006. Zuerst in »Die Zukunft«, Paris 1939/40) versucht er mit individualpsycholog. Kategorien eine Beschreibung autoritärer Systeme sowie der Rolle des einzelnen »Kämpfers gegen die Zeit«, der zwangsläufig zum Vereinsamten u. Schuldigen werden müsse. Im Dez. 1939 meldete sich S. als Freiwilliger zur frz. Armee; nach deren Niederlage flüchtete er in die Schweiz. 1945 kehrte er nach Paris zurück, war als »Chargé de Mission« in der frz. Besatzungszone im Einsatz u. lebte dann in Paris, u. a. als Verlagslektor u. als Kulturphilosoph an der Sorbonne. Sein erzählerisches Hauptwerk schuf S. mit der histor. Romantrilogie Wie eine Träne im Ozean (Gesamtausg. Köln/Bln. 1961. 21965. Mchn. 102000), bestehend aus den Bänden Der verbrannte Dornbusch (Mainz 1949), Tiefer als der Abgrund (Köln/Bln. 1950) u. Die verlorne Bucht (ebd. 1955), die z. T. autobiografisch das Scheitern der Komintern 1931–1945 aufgreift u. an die Stelle der »ideologischen Verzerrungen« Wahrheit u. Menschenwürde

Sperber

setzen will. Zum Schlüsselbegriff seines von essayistischen Analysen durchsetzten Erzählens wählt er das Gewissen, das die freie Entscheidung des mündigen Menschen garantieren u. die neuerl. Entwicklung diktatorisch-totalitärer Herrschaftsformen verhindern soll. Seine in dem Essayband Zur täglichen Weltgeschichte (Köln/Bln. 1967. Neuaufl. Wien 1981) gesammelten geschichtsphilosophischen Überlegungen rücken diese subjektive Position angesichts von Gewalt u. Zerstörung als Notwendigkeit in den Vordergrund. Der Welt seiner galiz. Heimat u. der Jugendjahre in Wien setzte S. in Die Wasserträger Gottes (Wien 1974. Ffm. 1994) ein eindrucksvolles Denkmal, dem ersten Teil seiner dreiteiligen Autobiografie All das Vergangene. Den weiteren Lebensweg schildern die Bände Die vergebliche Warnung (Wien 1975. Ffm. 1993) u. Bis man mir Scherben auf die Augen legt (Wien 1977. Ffm. 1994). Für sein Schaffen erhielt S. unter anderem den Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 1971, den Büchner-Preis 1975 u. den Franz-Nabl-Preis sowie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1983. Weitere Werke: Charlatan u. seine Zeit. 1924. Neuausg. hg. v. Mirjana Stancic. Graz 2004 (R.). – Die Achillesferse. Köln/Bln. 1960. Erstmals u. d. T. Le Talon d’Achille. Paris 1957 (Ess.). – Alfred Adler oder Das Elend der Psychologie. Wien/Zürich/ Mchn. 1970 (Ess.). – Leben in dieser Zeit. Wien 1972. U. d. T. Sieben Fragen zur Gewalt. Mchn. 1978 (Ess.). – Wir u. Dostojewski: eine Debatte mit Heinrich Böll [u. a.] geführt v. M. S. Hbg. 1972. – Individuum u. Gemeinschaft. Stgt. 1978 (Ess.). – Churban oder die unfaßbare Gewißheit. Wien/ Mchn./Zürich 1979 (Ess.). – Der freie Mensch. Zürich 1980. – Nur eine Brücke zwischen gestern u. morgen. Wien/Mchn./Zürich 1980 (autobiogr. Aufzeichnungen). – Ansprache aus Anlaß der Verleihung des Friedenspreises des dt. Buchhandels. Ffm. 1983. – Wolyna. Wien 1984 (E.; Urfassung eines Textteils v. ›Wie eine Träne im Ozean‹). – Geteilte Einsamkeit. Ebd. 1985 (Ess.). – Der schwarze Zaun. Ebd. 1986 (R.). – Sokrates. Roman, Drama, Essay. Wien 1988 (Ess.). – Wie mächtig ist die Macht? Ebd. 1991. – Anpassung u. Widerstand. Über den unvernünftigen u. vernünftigen Gebrauch der Vernunft. Hg. u. eingel. v. Wilhelm v. Sternburg. Ebd. 1994. – Kultur ist Mittel, kein Zweck. Hg. M. Stancic. St. Pölten 2010.

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Literatur: Wolfgang Kraus (Hg.): Schreiben in dieser Zeit. Für M. S. Wien 1976. – Handeln für ein unerreichbares Ziel. Siegfried Lenz im Gespräch mit M. S. In: S. Lenz: Gespräche mit M. S. u. Leszek Kol/akowski. Hg. u. mit einem Vorw. v. Alfred Mensak. Hbg. 1980. – Werner Müller: M. S.s Romantrilogie ›Wie eine Träne im Ozean‹. Diss. Graz 1981. – M. S. Ein polit. Leben. Gespräche mit Leonhard Reinisch. Stgt. 1984. – Alfred Pfaffenholz: M. S. zur Einf. Hann. 1984. – M. S. 1905–84. Eine Ausstellung der Österr. Nationalbibl. Wien 1987. – Monika Schneider: Das Joch der Gesch. M. S. als Prophet einer polit. Religion. Pfaffenweiler 1991. – Thomas Schmidt: Die Macht der Bilder u. Strukturen. M. S.s literar. System. Egelsbach u. a. 1994. – Ste´ phane Moses u. a. (Hg.): M. S. als Europäer. Eine Ethik des Widerstands. Bln. 1996. – Katarzyna Jas´tal: Erzählte Zeiträume. Kindheitserinnerungen aus den Randgebieten der Habsburgermonarchie v. M. S., Elias Canetti u. Gregor v. Rezzori. Krakau 1998. – Wilhelm Hemecker u. Mirjana Stancic (Hg.): Ein treuer Ketzer. M. S. – der Schriftsteller als Ideologe. Wien 2000. – M. Stancic: M. S. Leben u. Werk. Ffm./Basel 2003. – Peter Stenberg: M. S. In: LGL. – Rudolf Isler: M. S. Zeuge des 20. Jh. – eine Lebensgesch. Aarau 2003. 22004. – Robert G. Weigel: Vier große galiz. Erzähler im Exil. W. H. Katz, Soma Morgenstern, M. S. u. Joseph Roth. Ffm. u. a. 2005. – Marcus G. Patka u. M. Stancic (Hg.): Die Analyse der Tyrannis. M. S. 1905–1984. Wien 2005. – Thomas Köhler u. Christian Mertens (Hg.): Justizpalast in Flammen. Ein brennender Dornbusch. Das Werk v. M. S., Heimito v. Doderer u. Elias Canetti angesichts des 15. Juli 1927. Wien/Mchn. 2006. – M. G. Patka (Hg.): M. S. Ein polit. Moralist. Wien 2006. – Sophia Ihle: Das heimatlose Ich. Die autobiogr. Selbstverortung M. S.s. In: Exil ohne Rückkehr. Lit. als Medium der Akkulturation nach 1933. Hg. Sabina Becker u. Robert Krause. Mchn. 2010, S. 19–37. – R. Isler: M. S. In: NDB. Johannes Sachslehner / Red.

Sperl, August (Karl Alexander), * 5.9.1862 Fürth, † 7.4.1926 Würzburg. – Erzähler, Dramatiker. Nach dem Studium der Klassischen Philologie u. Geschichte in Erlangen, Tübingen u. München war der Sohn eines Realschuldirektors 1887–1910 Archivar in Amberg, Nürnberg u. Castell u. wurde 1910 Kreisarchivrat in Würzburg. In Freytags Nachfolge schrieb S. histor. Erzählwerke mit dem Anspruch eines Volkserziehers, der Familiensinn, Heimat- u. Vaterlandsliebe, Frömmig-

keit u. dt. Sittlichkeit beim Lesepublikum fördert. Modernen Strömungen stand er ablehnend gegenüber; S. pflegte eine gemütvolle Erzählweise, die ihn rasch bekannt machte. Schon in Die Fahrt nach der alten Urkunde (Mchn. 1893) ließ er in einem erzählerischen Bilderbogen Vater u. Sohn nach dem eigenen Ursprung forschen. Entscheidungssituationen, oft »eiserne Zeiten« wie der Dreißigjährige Krieg (Hans Georg Portner. Stgt. 1902) oder die ersten Kreuzzüge (Richiza. Ebd. 1909), werden bevorzugt. Allgemein gerühmt wurde die packende u. farbige Darstellung kulturhistor. Details. Weitere Werke: Die Söhne des Herren Budiwoj. Mchn. 1896 (R.). – So war’s. Ernst u. Scherz. Stgt. 1903 (N.). – Dramat. Werke. Ebd. 1907. – Burschen heraus! Mchn. 1913 (R.). – Der Bildschnitzer v. Würzburg. Ebd. 1925 (R.). Literatur: Helene Hoffmann: A. S. u. seine Quellen. Diss. Mchn. 1934. Tl. 2. 1939. – Manfred Mümmler: A. S. Archivar u. Schriftsteller. In: Ders.: Dichter, Denker, Demokraten [...]. Emskirchen 1991, S. 115–120. – Walter Scherzer: A. S. 1862–1926. In: Veröffentlichungen der Gesellsch. für Fränk. Gesch. 15 (1993), S. 251–264. – Walther Könenkamp: A. S. – Denker, Dichter u. Archivar. In: Frankenland 46 (1994), S. 257–261. – Ders.: A. S.’s Verbundenheit mit dem Frankenbund. In: ebd. 51 (1999), S. 312–316. – Walter Pöschl: A. S. 1862–1926. In: Ders.: Kindheit u. Jugend in Landshut. Autobiogr. Zeugnisse. Straubing 2006, S. 29 f. Wolfgang Weismantel / Red.

Sperr, Martin, * 14.9.1944 Steinberg/Niederbayern, † 6.4. 2002 Landshut. – Dramatiker. Nach Erlangung der Mittleren Reife 1961 nahm S. Schauspielunterricht in München. Sein Debut war das Theaterstück Jagdszenen aus Niederbayern (in: Spectaculum Bd 9, 1966, S. 141–190; Buchausg. Ffm. 1980), das am 25.4.1966 uraufgeführt wurde, S.s Ruhm begründete u. Schullektüre wurde. Es ist eines der ersten Beispiele des an Horváth u. Fleisser anknüpfenden neuen Volksstücks, das die Theater der sechziger u. siebziger Jahre des 20. Jh. in der BR Deutschland bestimmen sollte. Das im Jahr 1949 spielende Stück zeigt die »Jagd von Menschen auf Menschen«, die Ausgrenzung von Außensei-

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tern als Normalität des Dorflebens; es hält der tivität erreichte er nicht wieder. Sein letztes Heimatidyllik das krit. Korrektiv entgegen. Buch Willst Du Giraffen ohrfeigen, musst Du ihr Die niederbayerische Provinz als Modell einer Niveau haben! Ein Sperrbuch (Mchn. 1979) entüberschaubaren soziolog. Einheit zeigt die hält neben dem Drehbuch Olympio. Eine LeKontinuität des »fruchtbaren Bodens«, wie S. gende eine Auswahl von Gedichten u. kleiner auf Brecht anspielend ausführte. Sein zweites Prosa, blieb aber wenig beachtet. Stück, die am 4.10.1967 uraufgeführten Weitere Werke: Herr Bertolt Brecht sagt. Landshuter Erzählungen (Bln. 1968), handelt Mchn. 1970. – Die Kunst der Zähmung. Ebd. 1971. vom Konkurrenzkampf zweier örtl. Bau- – Jagd auf Außenseiter. Ebd. 1971. unternehmer in der Stadt, der mit der Literatur: Wend Kässens u. Michael Töteberg: Hochzeit der jeweiligen Erben als scheinba- Fortschritt im Realismus? In: Basis 6 (1976), rem Happy End ausgeht. S. entwirft ein sati- S. 30–47. – Uta Ganschow: Von Lessing bis Kroetz. risch karikierendes, entlarvend negatives Bild Kronberg 1976. – Hellmuth Karasek: Die Erneuevon Familie u. Milieu. Das am 20.2.1971 ur- rung des Volksstücks. In: Positionen des Dramas. Hg. Heinz Ludwig Arnold u. Theo Buck. Mchn. aufgeführte Stück Münchner Freiheit (Ffm. 1977, S. 137–169. – Gerd Müller: Das Volksstück v. 1969) schließlich erweitert die Themenpalet- Raimund bis Kroetz. Mchn. 1979. – Otto F. Riete u. konfrontiert städt. Filz u. Grund- woldt: M. S. In: KLG. – Ernest W. Hess-Lüttich: Die stücksspekulation in München mit der Pro- Sprache der Sprachlosen. S.s ›Jagdszenen aus Nietestbewegung der sechziger Jahre. Die drei derbayern‹. In. Das zeitgenöss. deutschsprachige Stücke bilden die Bayrische Trilogie (Ffm. 1972. Volksstück. Hg. Ursula Hassel u. Herbert Herz17 2006), welche die drei Nachkriegsdekaden mann. Tüb. 1992, S. 151–166. – Urs Jenny: M. S. auf die Kontinuität der nationalsozialisti- In: LGL. Hans-Edwin Friedrich schen Vergangenheit hin beleuchtet u. vor allem die kleinbürgerl. Familie als Träger Sperr, (Anna Johanna) Monika, geb. problemat. Kontinuität identifiziert. Koralle Koegler, * 27.8.1941 Berlin, † 18.11.1984 Meier, uraufgeführt am 7.2.1971 (Ffm. 1970), Berlin (Freitod). – Verfasserin von Romaist eine bayerische Hure, die sich in den nen, Sach-, Kinder- u. Jugendbüchern; dreißiger Jahren eine Existenz als KleinJournalistin. händlerin u. Gastronomin aufbauen will u. an den Verhältnissen scheitert. Die Spann- S. arbeitete als Dramaturgin am Bremer weite zwischen Modellhaftigkeit u. Realis- Stadttheater u. als Buchhändlerin, war 1964/ mus bestimmt die Anlage der ersten Stücke 65 mit Martin Sperr verheiratet u. lebte seit S.s; sie sind erfolgreich gewesen, aber auch 1968 als freie Schriftstellerin in München. aus ideologiekrit. Perspektive kritisiert worDie gesellschaftskrit. Journalistin wurde den. bekannt durch ihre Biografie Therese Giehse. Seit 1970 konzentrierte sich S. auf Fern- Ich hab nichts zum Sagen. Gespräche mit Monika seharbeiten. Die beiden Filme Der Räuber Sperr (Mchn. 1973. Erw. 1975. 1982). S.s erster Matthias Kneißl (Mchn. 1971, Regie: Reinhard Roman, Die Freundin (ebd. 1980. Als Tb. Hauff) u. Adele Spitzeder (u. d. T. Die Spitzeder. 1983), erzählt eine Woche im Leben der 38Ffm. 1977, Regie: Peer Raben) zeigen eine jährigen Kindergärtnerin Anna Pannewitz, Verlagerung des stoffl. Interesses, indem sie die sich in einer Welt der sozialen Kälte weinunmehr bayerische Volkshelden des 19. Jh., gert, sich zu verhärten, u. ihren Freundinnen wiederum scheiternde Außenseiter, in den u. Freunden eine Freundin bleibt. Anna, die Mittelpunkt stellen. Am 31.1.1972 erlitt S. Liebesbeziehungen mit Frauen hat u. sich in eine Gehirnblutung, von der er sich erst nach der Protest- u. Frauenbewegung engagiert langer Rekonvaleszenz erholte. Er arbeitete hat, erweckt wegen ihrer linken Vergangenwieder als Schauspieler, gehörte seit 1983 heit bei der bayerischen Regierung Zweifel an zum Ensemble des Münchner Volkstheaters, ihrer Verfassungstreue. Mit diesem Roman u. für das er bayerische Fassungen von Stücken zwei weiteren (Der Tag beginnt mit der Dämvon Karl Wittlinger, Fitzgerald Kusz, Molière merung. Ebd. 1983. Reise zu Cathleen McCoy. u. anderen erarbeitete. Die frühere Produk- Ebd. 1985; postum) hat S. teil an dem durch

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die Frauenbewegung inganggesetzten Prozess, der Frauen in größerem Umfang dazu verhalf, eine Stimme in der Literatur zu gewinnen.

schrieb. Der Name ›Herger‹ ist allerdings keine philolog. Erfindung, sondern erscheint in einer der Spervogel-Strophen (II, 2), wo ein Mann namens Herger, von sich in der dritten Person redend, über die Last des Alterns räsoniert (ähnlich eine Spervogel-Selbstnennung in VI, 3). Die philolog. Konstruktion des Herger-Œuvres war sehr ›erfolgreich‹, sodass selbst im Verfasserlexikon ein Eintrag ›Herger‹ zu finden ist. Bis heute ist die editorische Aufarbeitung unübersichtlich u. unbefriedigend; die Strophen wurden teilweise aus ihrem Überlieferungszusammenhang gerissen, zwei bzw. drei Autoren zugeordnet u. auf mehrere Editionen (MFMT, KLD) verteilt. Die Überlieferung legt nahe, sich von einem eigenen Herger-Werk zu verabschieden; die Motive u. Indizien, die man dafür geltend machte (v. a. Wechsel der Thematik u. des Stils innerhalb der überlieferten Textblöcke), sind argumentativ wenig überzeugend u. intersubjektiv kaum haltbar. Es mag sein, dass nicht alle Strophen einem (biografisch ohnehin nicht fassbaren) ›Spervogel‹ oder gar ›Jüngeren Spervogel‹ gehören, sondern dass mit den Chiffren ›Spervogel‹/›Jüngerer Spervogel‹ Rhapsoden bezeichnet sind, die Strophengut gesammelt u. vorgetragen haben. Die überlieferten Texte sind schwer zu datieren. Wir finden zwar eine Reihe von Eigennamen, die möglicherweise auf Gönner verweisen, doch einigermaßen sicher können wir nur ›von Hûsen Walther‹ (VII, I, 2) als den Vater des Dichters Friedrich von Hausen greifen; terminus ante quem wären die 1170er Jahre. Fast alle unter ›Spervogel‹/›Der Junge Spervogel‹ überlieferten Strophen gehören der gnomischen, didakt. Lyrik an (eine Ausnahme bilden nur sechs Strophen im Sammelkomplex ›Jüngerer Spervogel‹). Sie zeichnen sich durch einen hohen Grad an Formvirtuosität u. Sinnkomplexität aus u. sind aufgrund ihres teilweise bewusst rätselhaften Charakters nicht leicht zu verstehen (insbes. die häufig anzutreffenden u. der Emblematik ähnl. ›Epigramme‹ am Schluss vieler Strophen sind sicher auch den mittelalterl. Rezipienten eine Herausforderung gewesen). Fast alle Strophen stehen im Dienst der Vermittlung rechter Lebensmaximen. Es

Weitere Werke: Was wir v. unseren Eltern halten. 6–16jährige sagen ihre Meinung. Mchn. 1971. – Treffpunkt Froschweiher oder Die Sache mit dem Fahrrad. Ebd. 1982 (Kinderbuch). – Petra Kelly. Politikerin aus Betroffenheit. Ebd. 1983. Lieselotte Voss

Spervogel / [Herger] / Der Junge Spervogel. – Sangspruchdichter, zweite Hälfte 12. Jh. Die drei Namen dieses Artikels verweisen auf eine überlieferungs- u. forschungsgeschichtl. Kuriosität: Drei Handschriften (A, C u. J) überliefern eine größere Anzahl von Sangspruchstrophen, denen als Autorchiffren die Namen ›Spervogel‹ bzw. ›Junger Spervogel‹ zugeordnet sind. Im Laufe der Geschichte der Erforschung dieser Strophenkomplexe wurde – ohne handschriftl. Stütze – für einen Teil der Texte ein weiterer Autor ›erschaffen‹: Herger. Die Überlieferungssituation stellt sich im Detail folgendermaßen dar: In der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift A sind in einem Textblock, der mit dem Namen ›Spervogel‹ überschrieben ist, 25 abwechselnd rot u. blau initialisierte Strophen notiert. In der Großen Heidelberger Liederhandschrift C werden, ebenfalls unter dem Namen ›Spervogel‹, 54 Strophen tradiert, die auf 9 Töne verteilt sind. Die Jenaer Liederhandschrift J schließlich überliefert 13 Strophen, auch sie überschrieben mit dem Namen ›Spervoghel‹. Von den 54 in C überlieferten Strophen finden sich 20 in A unter der Signatur ›Der iunge Spervogel‹ (Textblock im Anschluss an ›Spervogel‹ mit insg. 26 Strophen). Von der Signaturpraxis der Handschriften her gesehen gibt es also nur einen Dichter ›Spervogel‹ u. einen ›Jungen Spervogel‹ – keinen Autor namens ›Herger‹. Bereits im 19. Jh. aber hat man aus dem (formal u. thematisch) disparaten Sangspruchstrophenkomplex zwei bzw. drei Œuvres konstruiert: eines, das man dem Autor ›Spervogel‹ sowie dem ›Jungen Spervogel‹ u. eines, das man einem Autor ›Herger‹ zu-

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bietet sich hier an, die Strophenkomplexe in teilweise unter anderen Autoren gesammelt). A, C u. J (mit teilweise großen Textüber- Die anschließend notierten 13 Strophen (ein schneidungen) in ihrer Thematik u. Zusam- Ton) stimmen wieder mit C überein. Ungeachtet der komplizierten u. verwirmenstellung knapp zu umreißen. Die A-Überlieferung (Spervogel): Eine erste renden Überlieferungssituation nehmen die Strophensequenz handelt u. a. von Ratge- Sangspruchtöne unter den Chiffren Spervobern, vom Pflegen von Freundschaft, Reich- gel/Junger Spervogel in der zweiten Hälfte tum u. Armut; ihm folgen Strophen mit des 12. Jh. einen exponierten Platz im Lyrikrealhistor. Anspielungen (Wernhart von genre ein. Sowohl die Form als insbes. auch Steinberg, Stamm der Öttinger u. a.), die ab- die umgesetzten Themen weisen voraus auf geschlossen werden mit wieder allgemeine- die erst im 13. Jh. immer selbstständiger ren Reflexionen über rechtes, maßvolles u. werdende gnomische Textsorte, deren intertextuelles Netzwerk noch manches Forweitsichtiges Leben. Die J-Überlieferung (Spervogel): Die Stro- schungsdesiderat birgt. phen konzentrieren sich auf die Themen Ausgaben: Minnesangs Frühling (MFMT) I, ›Freundschaft‹, ›Armut‹, ›Schein und Sein‹, S. 38–55. – KLD I, S. 268–274. ›Ratgeber‹, ›Gottvertrauen‹ u. ›WeitsichtigLiteratur: Bibliografie: Tervooren, S. 59–61. – keit‹. Weitere Titel: Joachim Teschner: Das bispel in der Die C-Überlieferung (Spervogel, hier auch mhd. Spruchdichtung des 12. u. 13. Jh. Diss. Bonn die in A unter ›Der Junge Spervogel‹ über- 1970, S. 17–57. – Klaus Grubmüller: Meister Eslieferten Strophen, s. u.): Am Beginn der opus. Mchn. 1979, S. 112–123. – Martin LiechtenSammlung stehen diejenigen 25 Strophen, hahn: Die Strophengruppen Hergers im Urteil der Forschung. Bonn 1980. – Volker Honemann: H. In: die auch in A überliefert sind. Darauf folgen VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Burkhart vier weitere, die sich der Thematik ›Freund- Wachinger: Der J. S. In: VL. – Ulrich Müller: schaft‹ annehmen; eine Einzelstrophe befasst ›Herger‹. Ein Sangspruch-Sänger aus ›Minnesangs sich mit der Klage darüber, dass die Rat- Frühling‹, aus ›Minnesangs Winter‹ oder aus schläge der Alten nicht mehr ernst genom- ›Minnesangs zweitem Frühling‹. In: FS Günther men werden; isoliert wirken die nächsten Schweikle. Hg. Rüdiger Krohn. Stgt./Lpz. 1995, zwei Strophen: die eine befasst sich mit ein- S. 139–145. – Helmut Tervooren: S. In: VL. – ander Schaden zufügenden Prinzipien, die Reinhard Bleck: Mhd. Bittlieder I. Die Lieder Herandere nimmt sich der Problematik ›Zwei gers, Spervogels u. des Jungen Spervogel/Jungen Männer dienen einer Frau‹ an. Daran schließt Stolle. Göpp. 2000. – Karin Brem: ›Herger‹/Spervogel. Die ältere Sangspruchdichtung im Spanein neuer Ton von 13 Strophen an, die alle nungsfeld v. Konsenszwang u. Profilierung, Koneinen religiösen Grundton tragen; es geht um formität u. Autorität. In: Neue Forsch.en zur mhd. Sünde, Hölle, Himmel, gottgefälliges Leben, Sangspruchdichtung. Hg. Horst Brunner u. HelEhebruch, Leiden u. Auferstehung Christi. mut Tervooren (= ZfdPh 119, 2000, Sonderheft), Den Schluss der C-Sammlung bilden zu- S. 10–37. Thomas Bein nächst sieben weitere Strophen, die als neuer Ton ausgezeichnet sind (u. teilweise mit den Speyer, Wilhelm, * 21.2.1887 Berlin, J-Strophen identisch sind), eine letzte Strophe † 21.2.1952 Basel. – Verfasser von Romaist als wieder wechselnder Ton farbig marnen, Erzählungen u. Theaterstücken. kiert; Themen: Freundschaft, Ehrlichkeit, Weitsicht, Armut, Gottgefälligkeit. Die A- S. war einer der bekanntesten UnterhalÜberlieferung (Der Junge Spervogel): Ein tungsschriftsteller der Weimarer Republik. erster vierstrophiger Ton befasst sich mit den Vor allem seine Jugendbücher Der Kampf der Themen Freundschaft u. Besonnenheit; es Tertia (Bln. 1927) u. die Fortsetzung Die Golfolgen drei Einzelstrophen gnomischen In- dene Horde (Bln. 1931) erreichten hohe Auflahalts – bis hierher identisch mit C. Die genzahlen. Der Kampf der Tertia wurde in sienächsten sechs Strophen, die eher dem Min- ben Sprachen übersetzt u. zweimal verfilmt. nesang zuzurechnen sind, sind nicht im CDer aus einer jüd. Fabrikantenfamilie Teil vertreten (in anderen Handschriften stammende S. wurde wie seine Geschwister

Speyer

protestantisch getauft. Seine Schulzeit verbrachte er u. a. im Landerziehungsheim Haubinda; nach einem abgebrochenen Jurastudium arbeitete er als Schriftsteller. Als Freiwilliger nahm S. am Ersten Weltkrieg teil. Ab 1918 lebte er in Feldafing am Starnberger See, später in Berlin. In dieser Zeit entstanden neben seinen erfolgreichen Jugendbüchern auch die Großstadt-Erzählungen Charlott etwas verrückt (Bln. 1927. Neuausg. Bielef. 2008) u. Ich geh aus und du bleibst da (Bln. 1930), zudem mehrere Abenteuer-, Liebes- u. Kriminalromane, darunter Mynheer van Heedens große Reise (Bln. 1921) u. Frau von Hanka (Bln. 1924). S. schrieb ferner Theaterstücke – drei davon gemeinsam mit Walter Benjamin –, die allerdings nicht an den Erfolg seiner Prosawerke heranreichten. Zeitgenossen würdigten S.s Kunst, »das sogenannte Mondäne als ein Märchenkleid um Urgestalten zu legen« (Franz Hessel). Insbesondere bei den starken u. selbstbestimmten Frauenfiguren in S.s Romanen falle dies auf: »Das Rüstzeug aus dem modernen Arsenal der Frau wird dem dichtenden Blick [...] zum mythologischen Attribut. Damen werden zur Galathea und ägyptischen Helena.« S. emigrierte 1933 u. verbrachte die ersten Monate des Exils in Lugano; später lebte er mit seiner Frau in Parsch bei Salzburg. Kurz vor der Besetzung Österreichs flüchtete er allein nach Frankreich. 1941 gelangte er über Lissabon in die USA. Dort erhielt er wie viele dt. Exilautoren für das erste Jahr eine Stelle als Drehbuchautor bei Metro-GoldwynMayer. Berufliche Erfolglosigkeit zwang S. 1949 jedoch zur Rückkehr nach Europa. Allerdings fand er im Nachkriegsdeutschland kein Publikum mehr, weder für seine heiteren Erzählungen der 1920er Jahre noch für seine ernsteren, nachdenklicheren Romane aus der Exilzeit. Zu vermuten ist, dass insbes. sein autobiografisch inspirierter Roman Das Glück der Andernachs (Zürich 1947), der den Antisemitismus im dt. Kaiserreich thematisiert, nicht in das restaurative Klima der Nachkriegszeit passte. Nach seinem Tod wurde S. höchstens noch als Autor der Jugendbücher Der Kampf der Tertia u. Die Goldene Horde wahrgenommen, die Anfang der 1950er in der Taschenbuch-

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reihe des Rowohlt Verlags neu aufgelegt wurden. S., der sich selbst als Unterhaltungsschriftsteller verstand, der bewusst keine Hochliteratur verfasste, sondern von einem breiten Publikum gelesen werden wollte, fiel lange Zeit durch sämtl. Raster: Den Verfechtern der Hochliteratur blieb er als Unterhaltungsschriftsteller suspekt, der ideologiekrit. Literaturwissenschaft der 1970er Jahre erschien er zu konservativ, zu wenig radikal. Erst in jüngster Zeit gibt es Ansätze, sich wissenschaftlich mit S. zu befassen. Weitere Werke: Oedipus. Bln. 1907 (R.). – Wie wir einst so glücklich waren. Mchn. 1909 (E.). – Gnade. Mchn. 1911 (D.). – Der Herzog, die Kokotte u. der Kellner. Mchn. 1912 (E.en). – Das fürstl. Haus Herfurth. Mchn. 1913. Neue Fassung u.d.T. ›Sybyllenlust‹. Bln. 1928 (R.). – Der Revolutionär. Lpz. 1918 (D.). – Der Aufstieg. Mchn. 1919 (D.). – Er kann nicht befehlen. Mchn. 1919 (D.). – Karl der Fünfte. Mchn. 1919 (D.). – Rugby. Bln./Mchn. 1921 (D.). – Schwermut der Jahreszeiten. Bln. 1922 (E.). – Südsee. Bln. 1923 (D.). – Das Mädchen mit dem Löwenhaupt. Bln. 1925 (R.). – Nachtgesichte. Erzählungen u. Visionen. Lpz. 1928. – Es geht. Aber es ist auch danach! Mchn./Bln. 1929 (D.). – Sonderlinge. Bln. 1929 (E.en). – Jeder einmal in Berlin! Bln. 1930 (D.). – Napoleon. Bln. 1930 (D.). – Roman einer Nacht. Bln. 1932. – Sommer in Italien. Bln. 1932 (E.). – Ein Mantel, ein Hut, ein Handschuh. Bln. 1933 (D.). – Kreuzfahrer. Zürich/Lpz. 1934 (R.). – Der Hof der schönen Mädchen. Amsterd. 1935 (R.). – Die zweite Liebe. Amsterd. 1936 (R.). – Die Stunde des Tigers. Amsterd. 1939 (R.). – Andrai u. der Fisch. Köln/Bln. 1951 (R.). – Senorita Maria Teresa. Zürich 1951 (E.). Literatur: Franz Hessel: W. S.: Sommer in Italien. In: Ders.: Sämtl. Werke in fünf Bdn. Hg. Hartmut Vollmer u. Bernd Witte. Bd. 5, Oldenb. 1999, S. 250 f. – Klaus Doderer: Solidarität oder Untertanengeist. In: Ders.: Klass. Kinder- u. Jugendbücher. Weinheim 1969, S. 35–54. – Johanna W. Roden: W. S. In: Dt. Exillit. Bd. 1, Tl. 1, S. 606–615. – Walter Fähnders u. Helga Karrenbrock: ›Charlott etwas verrückt‹. W. S.s Flirt mit der Neuen Sachlichkeit. Mit dem Erstdruck ›In Memoriam Wilhelm Speyer‹ v. Kadidja Wedekind. In: Jb. zur Lit. der Weimarer Republik 5 (1999/ 2000), S. 283–312. – Dies. (Hg.): W. S. (1887–1952). Zehn Beiträge zu seiner Wiederentdeckung. Bielef. 2009. Sophia Ebert

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Spiegel, Jakob, * um 1483 Schlettstadt, † nach dem 17.10.1547 Schlettstadt. – Humanist, Jurist, Büchersammler.

Der Spiegel / Spiegel und Igel littéraire de l’Alsace [...]. 2 Bde., Paris 1879. Nachdr. Hildesh. 1966, Register. – Gustav C. Knod: J. S. aus Schlettstadt [...]. 2 Tle., Straßb. 1884–86. – Hans Winterberg: Die Schüler v. Ulrich Zasius. Stgt. 1961, S. 69 f. – Thomas Burger: J. S., ein humanist. Jurist des 16. Jh. Diss. Freiburg/Br. 1973. – Karl Heinz Burmeister: Die Bibl. des J. S. In: Das Verhältnis der Humanisten zum Buch. Hg. Fritz Krafft u. Dieter Wuttke. Boppard 1977, S. 163–183. – Peter Schäffer: Zur Menschlichkeit der Humanisten: [...]. In: Annuaire des amis de la bibliothèque humaniste de Sélestat 28 (1978), S. 17–24. – Conradin Bonorand: Joachim Vadian u. der Humanismus im Bereich des Erzbistums Salzburg. St. Gallen 1980, S. 207 f. – Jan-Dirk Müller: Gedechtnus [...]. Mchn. 1982, Register. – Miriam Usher Chrisman: J. S. In: Contemporaries. – Gerhild Scholz Williams: Vergil in Wien. Bartholinis ›Austriados Libri XII‹ u. J. S.s Kommentar. In: Acta conventus neo-latini Guelpherbytani. Hg. Stella P. Revard u. a. Binghamton, N. Y. 1988, S. 171–180. – Hubert Meyer: J. S. In: NDBA, Lfg. 35 (2000), S. 3690 f. – Albert Schirrmeister: Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jh. Köln 2003, Register. Karl Heinz Burmeister / Red.

Der Bäckerssohn studierte nach Schulbesuchen in Schlettstadt u. Speyer, gefördert durch seinen Onkel Jacob Wimpfeling, seit Okt. 1497 in Heidelberg (20.1.1500 Bakkalaureat), Tübingen (Aug. 1511 als M. A.) u. Freiburg i. Br. (Mai 1512; um 1513 Lic. leg.). Zunächst Kleriker, heiratete er 1512 u. 1543. 1513/14 lehrte er Kirchenrecht in Wien (1526 Dr. utr. iur. durch päpstl. Gnadenakt). 1504 in die kaiserl. Kanzlei eingetreten, war S. 1505/1506 Sekretär des Bischofs von Trient, Pietro Bonomo, wirkte bis 1519 als lat. Sekretär Maximilians I., wurde auf Empfehlung des Erasmus 1520 Sekretär Karls V. u. 1522 Ferdinands I. 1529 zog er sich nach Schlettstadt zurück, blieb aber in Hofdiensten, unterstützte, zgl. im Sold der Kurie, als extremer Gegner Luthers die päpstl. Politik u. vertrat diplomatisch den elsäss. Zehnstädtebund. Seit 1532 war er kaiserl., später auch päpstl. Pfalzgraf. In S.s Werk dominieren mit kurzen Scho- Der Spiegel / Spiegel und Igel (Der lien versehene Editionen nlat. Autoren, etwa Spiegel mit dem Pech). – SpätmittelalterReuchlins Scaenica progymnasmata (Tüb. 1512. liche Kurzerzählung (14./15. Jh.). Internet-Ed. in: VD 16). Größere Kommen- Die schwankhafte, anonyme Kurzerzählung tare schrieb er zu der Doppelausgabe des Li- Spiegel und Igel, die in fünf Handschriften gegurinus von Günther de Pairis u. der Austrias meinsam mit Werken Hans Rosenplüts des Richardus Bartholinus (Straßb. 1531). überliefert ist, bietet in zwei sich kaum unSein Hauptwerk, das mehr als zwölfmal auf- terscheidenden Fassungen (I: 136 Verse; II: gelegte Iuris civilis lexicon (ebd. 1538), stand im 142 Verse) den um eine weitere Episode beZeichen der Reform des Rechtsunterrichts. reicherten Stoff der unikal tradierten, älteren Seine hervorragende Bibliothek mit den Kurzerzählung Der Spiegel (114 Verse). Hier Schwerpunkten Poetik, Theologie u. Juris- wirbt der Bauernknecht Herolt vergeblich um prudenz schenkte er 1543 dem Bischof von die ihn hinhaltende Magd Demud. Eines Straßburg, der ihm dafür eine Rente aus- Morgens schläft sie vor dem frisch entfachten setzte. Der sprachgewandte u. diplomatisch Feuer ein u. entblößt ihre Scham. Herolt wird versierte S. repräsentiert den zeitgenöss. Zeuge der Szene, wagt aber die sexuelle AnHöfling, der durch seine Beziehungen zur näherung nicht aus Angst, sie könne ihn in Gelehrtenwelt eine führende Stellung in der die Flammen stoßen. Doch um sich für ihren Vermittlung des Humanismus in Deutsch- Minne-Widerstand zu rächen, klebt er eine Spiegelscherbe mit Pech vor ihr Genitale. Als land einnahm. Weiteres Werk: De scribendi modestia, ad Demud erwacht, blickt sie auf die schmerzende Stelle, erschrickt ob des gespiegelten Franciscum Floridum epistola. Straßb. 1540. Literatur: Bibliografien: Miriam Usher Chris- Feuers, weil sie meint, sowohl der Hölle anman: Bibliography of Strasbourg imprints, heimgefallen als auch eine Gefahr für den Hof 1480–1599. New Haven/London 1982, Register. – zu sein, u. alamiert ihre Herrschaft. Die VD 16. – Weitere Titel: Charles Schmidt: Histoire Bäuerin fällt ebenfalls auf das Spiegelbild

Spiegel der Laien

herein, erst der Bauer klärt den Sachverhalt mit einem beherzten Griff zum Spiegel. Er dankt Herolt für seinen Streich, während er Demud zurechtweist: Sie hätte den Knecht besser erhört, da sie nun zum Gespött der Leute u. vielleicht gar Gegenstand einer Erzählung werde. Diese autopoetolog. Reflexion fehlt in der ergänzten Version (ebenso der »kühne Griff« des Herrn, der hier den Spiegeltrick rein visuell durchschaut), dafür schließt sich nun die Rache Demuds an: Sie lädt Herolt zum Stelldichein, präpariert jedoch ihre Scham mit einem Igelbalg: »des nam sein sper gar grossen schaden«. Herolt muss klein beigeben u. Demud konstatiert, dass man nun quitt sei. In dieser Version findet ihr Tun den Beifall der Erzählinstanz, die es im Epimythion als exemplarisch lobt u. abschließend – vielleicht mit einigem Autorstolz – der Erzählung ihren Titel verleiht. Insbesondere die gender-theoret. u. narratolog. Aspekte der kleinen Erzählung sind, gerade im Versionsvergleich, von Interesse. Ausgabe: Hanns Fischer (Hg.): Die dt. Märendichtung des 15. Jh. Mchn. 1966, S. 48–51 (Der Spiegel), 124–133 (Spiegel. u. Igel, Fassung I u. II). Literatur: Ingeborg Glier: D. S. u. S. u. I. In: VL. – Hans-Jürgen Bachorski: Das aggressive Geschlecht. Verlachte Männlichkeit in Mären aus dem 15. Jh. In: ZfG, N.F. 8 (1998), S. 263–281. – Matthias Meyer: ›Speculum narrationis‹. Erzählte Sexualität im Spiegel von D. S. u. S. u. I. In: Kulturen des Manuskriptzeitalters. Hg. Arthur Groos u. Hans-Jochen Schiewer. Gött. 2004, S. 259–277. Corinna Laude

Spiegel der Laien. – Titel für verschiedene, thematisch völlig unterschiedliche Werke der religiösen Unterweisung u. Erbauung, 14. und 15. Jh. Im Folgenden werden vier Laienspiegel vorgestellt, die der geistlich-religiösen didakt. Literatur zuzurechnen sind u. in erster Linie für Laien verfasst wurden. Mit der Spiegelmetapher wird Unterschiedliches angedeutet: a) das Normativ-Vorbildhafte, das in den Texten zu finden ist; b) eine Darstellung der Welt, wie diese von Gott geschaffen worden ist; c) die Spiegelung der Welt in den Schriften der Bibel u. Gelehrten. Spiegeltitel sind

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im Zuge der Popularität didakt. Literatur im SpätMA häufig vergeben worden. 1. Spieghel der leyen. – Ein didakt. u. erbaul. Werk über die Theologie der Sünde u. des Leidens, vermutlich von 1415, in einer Mischform aus Vers u. Prosa. Das anonym überlieferte Werk stammt aus dem Ijsselgebiet (in den heutigen östl. Niederlanden), das im MA sprachlich gesehen ein Übergangsgebiet zwischen dem Mittelniederdeustchen u. dem Mittelniederländischen war. Es ist in einer münsterischen (Ed. Roolfs) u. in einer holländ. Abschrift, beide etwa aus der Mitte des 15. Jh., erhalten. Es besteht aus drei Büchern, die selbst wieder in drei Teile unterteilt sind. Das erste Buch ist in Versen geschrieben u. behandelt die Herkunft der Sünde u. die Verstrickung des Menschen darin. Das zweite Buch wechselt kurz nach dem Beginn zur Prosa; hier geht es um die göttl. Gnade u. die Befreiung von der Sünde mittels Reue, Beichte u. Buße. Das dritte Buch behandelt die Herkunft des Leids in der Welt u. dessen Nutzen. Der S. d. l. hat einen systemat. Aufbau, dessen lehrhafte, unterweisende Teile mit Exempeln u. Exkursen angereichert werden, sodass zu rein informierenden Inhalten moralisierende, erbauliche narrative Einheiten dazukommen. Im zweiten Buch nehmen die Exempel einen auffallend großen Raum ein. Literarische Quellen, aus denen der S. d. l. schöpft, sind v. a. die Bibel, dann Augustinus u. Gregor d. Gr., danach Bernhard von Clairvaux, Johannes Chrysostomos, Isidor von Sevilla, Thomas von Aquin u. Hieronymus. Insgesamt sind ca. 50 Quellen nachzuweisen. Das geistl. Umfeld des S. d. l. muss in der Frömmigkeitsbewegung der Devotio moderna gesucht werden, deren Anhänger sich um 1400 herum auch theoretisch mit dem Laienapostolat befasst haben. Die religiöse Eigenverantwortlichkeit des Menschen sollte gestärkt werden, weshalb ihm Texte an die Hand gegeben wurden, die ihn in religiösen Dingen unterrichten. Der S. d. l. ist ein Beispiel für Laienlektüre, die zum einen der Persönlichkeitsbildung dienen soll, indem u. a. Übungen zur Selbstvervollkommnung vorgeschlagen werden, die zum anderen aber auch restriktiv bleibt, indem wiederholt ge-

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sagt wird, dass der Laie nicht alles zu wissen brauche. Das vorliegende Buch zeichnet sich daneben durch gut organisierte Orientierungshilfen aus, indem mit Buchregistern, Kapitelnummerierungen, Unterstreichungen u. Marginalhinweisen zum individuellen Gebrauch des Buches angeleitet wird. 2. Speygel der Leyen. – Lübecker Inkunabel aus der Mohnkopfoffizin von 1496, mittelniederdt. (Borchling/Claussen, Niederdt. Bibliogr., Nr. 269). Der S. d. L. aus der Lübecker Mohnkopfoffizin enthält in der Form eines SchülerMeister-Gesprächs (in welchem der Schüler allerdings nur selten zu Wort kommt) eine katechet. Unterweisung zu Glaubensfragen u. kirchl. Praktiken. In kompilierender Weise werden in 43 Kapiteln Grundkenntnisse über den christl. Glauben, die literar. Quellen des Glaubens (Bibel, Kirchenväter), den kirchl. Gottesdienst u. die kirchl. Feste sowie über die Kerntexte des christl. Lebens (Vaterunser, Avemaria, Glaubensbekenntnis u. die 10 Gebote) vermittelt. Hinzu kommen noch Kapitel zu den 7 Todsünden u. den 9 Chören der Engel sowie ein Auszug aus der Ars moriendi (Sterbelehre) des Johannes Gerson. Mit seinen religiös-didakt. Inhalten fügt sich der S. d. L. in das volksmissionarisch ausgerichtete Verlagsprogramm der Mohnkopfoffizin, wie auch aus intertextuellen Bezüge zu anderen Werken aus der Druckerei ersichtlich ist. So gibt es Textbezüge zu den Mohnkopf-Plenaren (Evangelia), den Glossen im Reynke de vos, den Lübecker Totentänzen (1489 u. 1496), dem Bedebok, der Sunte Birgitten Openbaringe u. dem Salter to dude. Wie auch die meisten anderen Druckerzeugnisse der Mohnkopfoffizin ist der S. d. L. reich bebildert: Er enthält 30 gerahmte Holzschnitte (viele davon zgl. im Mohnkopfplenar von 1492), außerdem noch die Krone auf der Titelseite sowie die Wappen bzw. Marken u. ein Totenschädel (Memento mori) auf dem letzten Blatt, die ebenfalls aus anderen Drucken bekannt sind. 3. Der Leyen Spiegel. – Ripuarisch-niederrheinische Bearbeitung von Der Leken spieghel des Jan van Boendale (Jan de Clerc). Das nur in einer Handschrift aus der Mitte des 15. Jh. überlieferte ripuarisch-nieder-

Spiegel der Laien

rheinische Werk ist eine Übersetzung u. kürzende Bearbeitung des mittelniederländ. Leken spieghel Jans van Boendale, der selbst zwischen 1325 u. 1330 von dem Antwerpener Stadtschreiber verfasst wurde u. sehr verbreitet gewesen ist. Die Lehrdichtung ist in vier Teile untergliedert, deren erste beiden in Anlehnung an die Bibel naturkundl. u. weltgeschichtl. Kenntnisse vermitteln. Das dritte Buch behandelt menschl. Tugenden u. Laster, das vierte mit dem Jüngsten Gericht u. Himmel und Hölle eschatolog. Fragen. Die ripuarisch-niederrheinische Bearbeitung hat v. a. im 1. u. 2. Buch gekürzt, ansonsten auch Kapitel zusammengefasst oder umgestellt. 4. Der Laienspiegel. – Spiegel der weltlichen menschen. Der anonym überlieferte Traktat (Autor ist möglicherweise der in einer Salzburger Handschrift genannte Schreiber Petrus Tegler, dessen Profess 1475 erfolgte) stammt aus dem letzten Viertel des 15. Jh. u. behandelt in zwölf Kapiteln allgemein-christl. Lebensregeln. Dem Autor geht es um Weltabsage u. Nächstenliebe sowie um Beständigkeit im Dienst Gottes. Den größten Raum nehmen die Vier Letzten Dinge ein, die der Mensch bedenken soll: Tod u. Jüngstes Gericht, Hölle u. Himmel. Neben der Bibel u. den Kirchenvätern wird, neben weiteren Quellen, v. a. das pseudo-augustinische Speculum peccatoris zugrunde gelegt. Ausgaben: Zu 1: Friedel Helga Roolfs: Der ›S. d. l.‹. Eine spätmittelalterl. Einf. in die Theologie der Sünde u. des Leidens (s. unten), S. 13–323. – Zu 2: Pekka Katara: S. d. L. Neuausg. eines Lübecker Mohnkopfdruckes aus dem Jahre 1496 (s. unten), S. 1–76. Literatur: M. de Vries (Hg.): Der Leken spieghel, leerdicht van den jare 1330, door Jan Boendale, gezegd Jan de clerc, schepenklerk te Antwerpen. 3 Bde., Leiden 1844–48 (Edition der niederländ. Vorlage ›Der Leken spieghel‹), zur ripuarischniederrhein. Fassung siehe Beilage C im 3. Bd., S. 321–339. – Bernhard Hölscher: Der S. d. l., ein niederdt. moral. Lehrgedicht aus dem Jahre 1444, im Auszuge mitgeteilt. In: Programm des Gymnasiums Recklinghausen 32, Schuljahr 1860–1861. Recklinghausen 1861, S. 3–26. – A. Reifferscheid: Erzählungen aus dem Spieghel der Leien. In: ZfdPh 6 (1875), S. 422–442. – P. Katara: S. d. L. Neuausg. eines Lübecker Mohnkopfdruckes aus dem Jahre

Spiel 1496. Mit Einl. u. Anmerkungen (AASF Ser. B, Tom. 77,2). Helsinki 1952. – Gerold Hayer: Die dt. Hss. des MA der Erzabtei St. Peter zu Salzburg (Österr. Akademie der Wiss.en, phil.-hist. Klasse, Denkschr.en 154; Veröffentlichungen der Kommission für Schrift- u. Buchwesen des MA III,1). Wien 1982, S. 19–21. – Gunhild Roth: S. d. L. In: VL. – Dies.: Alexander u. Diogenes im ›S. d. l.‹. In: JOWG 10 (1998), S. 299–308. – F. H. Roolfs: Der ›S. d. l.‹. Eine spätmittelalterl. Einf. in die Theologie der Sünde u. des Leidens. Diplomat. Ed. u. philolog. Untersuchung. Köln/Weimar/Wien 2004. – Heike Bierschwale u. Jacqueline van Leeuwen: Wie man eine Stadt regieren soll. Dt. u. niederländ. Stadtregimentslehren des MA. Ffm. u. a. 2005. – F. H. Roolfs: Die Rezeption geistl. Lit. im münster. Schwesternhaus Niesing. In: Niederdt. Wort 47/48 (2007/08), S. 221–232. Friedel Helga Roolfs

Spiel, Hilde (Maria Eva), auch: Grace Hanshaw, Jean Lenoir, * 19.10.1911 Wien, † 30.11.1990 Wien. – Erzählerin, Publizistin, Übersetzerin. S., die aus kath.-jüd. Familie stammte, studierte in Wien Philosophie bei Moritz Schlick u. Karl Bühler. 1936 promovierte sie, heiratete im selben Jahr den Schriftsteller Peter de Mendelssohn u. emigrierte nach London, wo sie u. a. als Journalistin tätig war. 1963 kehrte sie endgültig nach Österreich zurück u. arbeitete u. a. als Korrespondentin für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« (vgl. den Sammelband Englische Ansichten. Stgt. 1984). 1965–71 war S. Generalsekretärin, danach bis 1972 (Austritt) Vizepräsidentin des österr. P.E.N.-Clubs. 1971 heiratete S. den Schriftsteller Hans Flesch-Brunningen. Ihr umfangreiches u. vielseitiges Œuvre weist S. als Grenzgängerin zwischen engl., österr. u. dt. Literatur aus. Als scharfsinnige u. stilbewusste, stets auf Takt u. Diskretion bedachte Zeugin der Zeit erwarb sie sich eine einflussreiche Position im Kulturbetrieb. Noch in die Studienzeit fällt S.s Debüt als Schriftstellerin: Kati auf der Brücke (Bln. 1933), die Geschichte einer Jugendliebe, zeigt ebenso wie Verwirrung am Wolfgangsee (Lpz./ Wien 1935. Neuaufl. u. d. T. Sommer am Wolfgangsee. Reinb. 1961) u. Flöte und Trommeln (Wien 1947. Zuerst engl. London 1939), der Höhepunkt des Frühwerks, die Sensibilität

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der Autorin für Milieu- u. Stimmungsschilderungen. Vor dem Hintergrund der Zwischenkriegsjahre werden Identitätskrisen u. entscheidende Wendepunkte im Leben junger Menschen dargestellt. Fanny von Arnstein oder Die Emanzipation (Ffm. 1962. 1992) ist die histor. Biografie einer Jüdin im Wien der Metternich-Ära, die dem orthodoxen Judentum ihre fortschrittl. Weltauffassung entgegenhielt u. im kulturellen Leben ihrer Epoche eine wichtige Rolle spielte. Entscheidend für S.s Leben u. Werk wurde die Erfahrung des Exils. In Rückkehr nach Wien. Tagebuch 1946 (Mchn. 1968. Wien 2009) skizziert sie die Wiederbegegnung mit ihrer Heimatstadt; der Exilroman Lisas Zimmer (Mchn. 1965. Ffm./Bln. 1996. Zuerst u. d. T. The Darkened Room. London 1961) schildert die Situation entwurzelter Intellektueller in New York, die nach dem Krieg nicht mehr in ihre alte Heimat zurückfinden. Auch in S.s autobiogr. Aufzeichnungen Die hellen und die finsteren Zeiten (Mchn. 1989. Reinb. 1994) u. Welche Welt ist meine Welt? (Mchn. 1990. Reinb. 1992) wird die Spannung zwischen Heimat u. Fremde, Distanz u. Zugehörigkeitsgefühl zur entscheidenden Lebenserfahrung. Einmal mehr demonstrieren S.s Erinnerungen, was auch ihr essayistisches Werk auszeichnet: in knappem, klarem Stil treffende Zeit-, Menschen- u. Landschaftsbilder. Weitere Werke: Der Park u. die Wildnis. Zur Situation der neueren engl. Lit. Mchn. 1953. – Welt im Widerschein. Ebd. 1960 (Ess.s). – Wien. Spektrum einer Stadt. Wien 1971. – Städte u. Menschen. Mchn./Wien 1971. – kleine schritte. Ber.e u. Gesch.n. Mchn. 1976. – Mirko u. Franca. Ebd. 1980. 32001 (E.). – In meinem Garten schlendernd. Ebd. 1981. Ffm./Bln. 1992 (Ess.s). – Die Früchte des Wohlstands. Mchn. 1981. Ffm./Bln. 1991. Teilabdr. u. d. T. The Fruits of Prosperity. London 1941 (R.). – Der Mann mit der Pelerine. Bergisch Gladbach 1985. 1992 (E.en). – Glanz u. Untergang. Wien 1866–1938. Wien 1987. Mchn. 1994. – Anna & Anna. Wien 1989 (R.). – Die Dämonie der Gemütlichkeit. Glossen zur Zeit u. a. Prosa. Mchn. 1991. Reinb. 1993. – Die grande dame. Gespräch mit Anne Linsel in der Reihe ›Zeugen des Jahrhunderts‹. Hg. Ingo Hermann. Gött. 1992. – Das Haus des Dichters. Literar. Ess.s, Interpr.en, Rezensionen. Zusammengestellt u. hg. v. Hans A. Neunzig. Mchn. 1992. – Briefw. H. S. Hg. u. annotiert v. H. A.

121 Neunzig. Mchn./Lpz. 1995. – Herausgeberin: Die zeitgenöss. Lit. Österreichs: Zürich/Mchn. 1976. Literatur: Peter Pabisch: H. S. – Femme de Lettres. In: MAL 12 (1979), H. 3–4 (mit Bibliogr.). – Waltraud Strickhausen: Im Zwiespalt zwischen Lit. u. Publizistik. In: Jb. Exilforsch. 7 (1989). – Marcel Reich-Ranicki: Reden auf H. S. Mchn. 1991. Erw. Ausg. u.d.T. Über H. S. Ebd. 1998. – Barbara Zeisl Schoenberg: ›Ich wollt immer nur ein anständiger Mensch sein‹: The Jewish Presence in the Works of Felix Mitterer, H. S. and Thomas Bernhard. In: MAL 27 (1994), H. 3–4, S. 127–142. – Waltraud Strickhausen: Die Erzählerin H. S. oder ›Der weite Wurf in die Finsternis‹. Ffm. 1996. – Sandra Wiesinger-Stock: H. S. Ein Leben ohne Heimat? Wien 1996. – Bettina Hawlitschek: Fluchtwege aus patriarchaler Versteinerung. Geschlechterrollen u. Geschlechterbeziehungen im Frühwerk H. S.s. Pfaffenweiler 1997. – Christa Victoria Howells: Heimat u. Exil. Ihre Dynamik im Werk v. H. S. Ann Arbor, Mich. 1998. – Konrad Paul Liessmann: Überlebenserinnerungen. Zu den Autobiogr.n v. Günther Anders, Jean Amery u. H. S. In: Autobiogr.n in der österr. Lit. Hg. Klaus Amann u. Karl Wagner. Innsbr. 1998, S. 203–216. – Hans A. Neunzig u. Ingrid Schramm (Hg.): H. S.: Weltbürgerin der Lit. Wien 1999. – Richard Critchfield: H. S. and the Problem of Cultural Identity. In: MAL 32 (1999), H. 3, S. 52–64. – Andrea Hammel: Everyday Life as Alternative Space in Exile Writing. The Novels of Anna Gmeyner, Selma Kahn, H. S., Martina Wied and Hermynia Zur Mühlen. Ffm. u. a. 2008. – I. Schramm: H. S. In: NDB. Wolfgang Seibel / Red.

Spiele von Rumpold und Mareth. – Fastnachtspiele des 15. u. 16. Jh. In den Ehegerichtsspielen von R. u. M. verklagt das Bauernmädchen Mareth den Knecht Rumpold vor dem geistl. Offizialgericht, er habe ihr die Ehe versprochen, sie verführt u. der Ehre beraubt. Rumpold bestreitet den Sachverhalt. Nachdem beide Parteien Rechtsbeistände erwählt haben, bekunden Mareths Mutter u. eine Freundin, Rumpold in flagranti gesehen zu haben. Rumpold u. sein Vater zweifeln den Leumund der Zeugen vergeblich an, weil Rumpold dabei unwillentlich deren Aussage bestätigt. Er wird verurteilt u. das Paar an Ort u. Stelle getraut; eine allg. Versöhnung u. ein abschließender Tanz folgen.

Spiele von Rumpold und Mareth

Keine der vier vorliegenden Redaktionen kann aufgrund formaler Mängel die urspr. Fassung eines anonymen oberdt. Autors repräsentieren. Dieser am nächsten steht vermutlich R. u. M. II (Debs-Codex; Bozen, zweite Hälfte des 15. Jh.). II legt bes. Wert auf die korrekte Darstellung des Rechtsganges. R. u. M. I (bayerisch-österr. Sammelhs., Ende 15. Jh.) stellt bes. die Streitgespräche heraus u. führt die komische Figur des Janns ein, der eigene Rechte auf Mareth geltend macht. R. u. M. III u. IV stammen von Vigil Raber: III (1510) ist eine mit I nahe verwandte, aber nicht direkt darauf zurückgehende Bearbeitung, vermehrt um eine Schlussrede; IV (1511) hat II zur Vorlage, übernimmt aber einige Verse u. den Janns-Auftritt aus III u. fügt eine burleske Einleitungsrede sowie die obszöne Parodie auf einen Ehevertrag am Schluss hinzu. – Durch analyt. Handlungsaufbau u. plast. Gestaltung der Charaktere heben sich die R.-u.-M.-Spiele von den meisten dt. Fastnachtspielen ab. Ausgaben: R. u. M. I: Fastnachtsp.e aus dem 15. Jh. Hg. Adalbert v. Keller. Nachlese. Neudr. Darmst. 1966, Nr. 130, S. 246–264. – R. u. M. II: Keller, a. a. O. Bd. 2, ebd. 1965, Nr. 115, S. 987–1007. – R. u. M. III: Sterzinger Spiele nach Aufzeichnungen des Vigil Raber. Hg. Oswald Zingerle. Bd. 1, Wien 1886, Nr. I, S. 1–23. – Sterzinger Spiele. Hg. Werner M. Bauer. Ebd. 1982, Nr. V,1, S. 295–316. – R. u. M. IV: Zingerle, a. a. O., Nr. VIII, S. 114–145. – Fastnachtsp.e des 15. u. 16. Jh. Hg. Dieter Wuttke. Stgt. 1973, S. 91–130. – Bauer, a. a. O., Nr. V,3, S. 328–357. Literatur: Adolf Kaiser: Die Fastnachtsp.e v. der actio de sponsu. Gött. 1899. – Harwick Arch: Die Sterzinger Fastnachtsp.e Vigil Rabers. Diss. Innsbr. 1948, S. 40–50. – Hans Günter Sachs: Die dt. Fastnachtsp.e v. den Anfängen bis zu Jakob Ayrer. Diss. Tüb. 1957, S. 44 ff. – Anton Schwob: Die zeremonielle Entweihung formaler u. sprachl. Rituale in einer spätmittelalterl. Urkundenparodie. In: Parodie u. Satire in der Lit. des MA. Greifsw. 1989, S. 113–128. – Norbert Richard Wolf: R.- u. M.-Spiele. In: VL. – Dieter Trauden: ›... daz man dier die recht nit prech ...‹. Die Bearb.en des Fastnachtspiels vom R. u. M. In: Mittelalterl. Schauspiel. FS Hansjürgen Linke. Hg. Ulrich Mehler u. Anton H. Touber. Amsterd. 1994, S. 349–375. – Carla Dauven-van Knippenberg: ›furspar‹ u. ›langer pfeffer‹. Annotationen zu einer Übers. des

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vierten Fastnachtspiels von R. u. M. (Vigil Raber 1511). In: Der Schlern 67 (1993), S. 233–239. Dieter Trauden / Red.

Spielhagen, Friedrich, * 24.2.1829 Magdeburg, † 25.2.1911 Berlin; Grabstätte: ebd., Friedhof der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirchengemeinde. – Romancier, Romantheoretiker, Dramatiker, Lyriker u. Publizist. S., »neben Auerbach der angesehenste deutsche Schriftsteller der Gegenwart« (Fontane 1872), wuchs als Sohn eines Regierungsbeamten in Stralsund auf. Er studierte 1847–1851 in Berlin, das er kurz vor Ausbruch der Revolution von 1848 verließ, Bonn u. Greifswald Jura u. Philologie. Inspiriert v. Heine, Goethe u. Shakespeare, begann er während des Studiums zu schreiben. Seine Berufserfahrungen als Hauslehrer in Pommern, Schauspieler u. Soldat, Lehrer an einer Leipziger Handelsschule u. schließlich Redakteur u. Herausgeber – unter anderem 1860–1862 »Zeitung für Norddeutschland«, 1878–1884 »Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte« – gaben reichen Stoff für spätere Romane. Sein Schaffen fiel in die Epoche der Kommerzialisierung der Erzählprosa durch die Familienzeitschriften; als Renommierautor der »Gartenlaube« wurde S. ein wohlhabender u. einflussreicher Literat. Zeitweise galt er als das dt. Gegenstück zu Dickens. Wie viele Autoren seiner Generation orientierte sich S.s literar. Werk am Modell England. Sein Erstling, die Novelle Clara Bere (Hann. 1857), war die Bearbeitung einer Tennyson’schen Ballade; seine viel zitierten theoret. Studien über den Roman – Vermischte Schriften (2 Bde., Bln. 1864 u. 1868), Beiträge zur Theorie und Technik des Romans (Lpz. 1883. Neudr. Gött. 1967) u. Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik mit einem oft zitierten Goethe-Aufsatz (Bln. 1898) – richteten sich ebenfalls vorwiegend an engl. Autoren wie Dickens, George Eliot u. Thackeray aus; diese Vorliebe ging mit deutlichen anti-frz. Tendenzen einher. S. stellte hohe Ansprüche an den Romanautor als »Voll«-Bruder des Dichters (im de-

zidierten Widerspruch zu Schillers Position, er sei nur dessen »Halbbruder«) u. an den Roman als zeitgemäße Kunstform einer modernen selbstreflektierten u. (in seiner Sicht) postchristl. Gesellschaft. S. strebte für den dt. Roman eine ähnl. Wirkung im Kulturleben an, wie sie die Werke der großen Viktorianer hatten. Doch gerät der bei Dickens oder Eliot vorherrschende authent., wenn auch krit. Epochenkonsens bei S.s Figuren, die im Handlungszusammenhang doch gegensätzl. ideolog. Positionen repräsentieren sollten, zum bloßen Konstrukt der Fiktion des Autors. Die zuletzt waltende Harmonie von Nation u. Gesellschaft konnte so bestehen bleiben. Diese Tendenz, die aus einem Poetisierungsbestreben des dem dt. Idealismus verpflichteten Chronisten seiner Zeit erklärt werden kann, lässt sich bis in den Sprachduktus verfolgen. Auch wenn es an der sprachl. Differenzierung der vielen geschilderten Lebenskreise gebrach, S.s Erzählpraxis wie seine theoret. Ausführungen im Hinblick auf die Ausschaltung eines Erzählers waren einflussreich u. griffen – trotz der niederschmetternden Kritik der Brüder Hart im sechsten, ausschließlich S. gewidmeten Heft ihrer »Kritischen Waffengänge« (1884) – naturalistischer Erzähltechnik vor. Selbst Elemente der Décadence lassen sich in den späten Texten ausmachen. S.s Ansehen sank in den folgenden Jahrzehnten erheblich, auch, weil nach dem Tod seiner Frau 1900 seine Kreativität zum Erliegen kam u. er keine neuen Werke mehr publizierte. Nach 1918 wurde S. kaum noch rezipiert. Für Brecht u. Thomas Mann war er ein Beispiel für d. schlechte Qualität einer ganzen Generation v. Autoren. S.s bekannteste Romane, in denen er sein großes Kompositionstalent entfaltete, erschienen in rascher Folge in der Zeit zwischen der Neuen Ära in Preußen u. der sog. zweiten Gründerzeit. Problematische Naturen (4 Bde., Bln. 1861. 221900) bezeugte S.s glückl. Hand bei der Titelgebung (Goethe-Zitat) u. der Wahl aktueller Themen. Sein negativer Held Oswald Stein wurde als stellvertretend für die Problematisierung der bürgerl. Revolution von 1848 u. damit auch der Auseinandersetzung des liberalen Bürgertums mit der Feu-

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dalwelt um die polit. Vorherrschaft konzipiert u. verstanden; Durch Nacht zum Licht (4 Bde., Bln. 1862) bildete hierzu eine schwächl. Fortsetzung. Die von Hohenstein (4 Bde., Bln. 1864) sollte verschiedene Lebenskreise u. ideolog. Positionen durch die Mitglieder zweier Familien im Zug der zykl. sozialen Strukturveränderungen der Gegenwart aufzeigen. In Reih’ u. Glied (5 Bde., Bln. 1866) thematisiert den aktuellen Verfassungskonflikt zwischen kgl. Prärogativ u. dem preuß. Parlament u. führt in der Gestalt Leos Ferdinand Lassalle handelnd ein. Hammer und Amboß (5 Bde., Schwerin 1869) ist angelegt als Apotheose der bürgerl. Arbeit, zeigt jedoch den für S. typischen Mangel an gegenständl. Detail. 1877, als Bismarck das bürgerlich-liberale Element aus der höheren Verwaltung entfernte, erschien S.s Sturmflut (3 Bde., Lpz.) über den Börsenkrach von 1873, der bürgerliche Tüchtigkeit mit unlauteren Geschäftspraktiken beim Eisenbahnbau u. Geldspekulation seitens landadliger Kreise kontrastiert, Sozialkonflikte zum Schluss aber harmonisiert. Parallel zu seiner lit. Entwicklung wandelte sich S. vom unpolit. zum bürgerl.liberalen Autor, der in späteren Jahren gewisse Sympathien für die Sozialdemokraten zeigte. Trotz seiner typisierenden Charaktere (»der« Volkstribun, »der« sozialistische Agitator, »der« Vertreter des »gesunden Volksempfindens« etc.) wurden S.s Romane von bildungsbürgerl. Kreisen als Entwicklungsgeschichte ihrer Zeit u. Nation gelesen. Zu seinen prominentesten Lesern gehörte Nietzsche. Inspiriert von Zeitgenossen wie Friedrich Gerstäcker, Charles Sealsfield u. James Fenimore Cooper, entwickelt S. zudem ein starkes Interesse an amerikan. Sujets. Dazu gehören u. a. die Novelle Die schönen Amerikanerinnen (1867), der histor. Roman Deutsche Pioniere (1870), der direkten intertextuellen Bezug auf Coopers Pioneers (1823) nimmt, sowie ein Band Amerikanische Gedichte (1859), denen S. eine Auswahl selbst übersetzter amerikan. Lyrik voranstellt. Aus S.s späterem Schaffen gebührt v. a. dem Kurzroman Zum Zeitvertreib (Lpz. 1897) Interesse, weil er den gleichen Stoff wie Fontanes Effi Briest behandelt, den realen Fall der

Adligen Elisabeth von Ardenne (1853–1952), deren Liebhaber vom Ehemann im Duell getötet wurde. Die kürzeren Erzählwerke S.s sind, wie seine Nebenfiguren in den großen Romanen, zu Unrecht vergessen. Jene sind oft (wie etwa Primula, die Schuldirektorin in Problematische Naturen, oder die Dienstboten in Hammer und Amboß) geglückte Entlehnungen aus der europ. Lustspieltradition (der komischen Alten bzw. der geilen Cölestina u. des beschränkten Dieners). Wenige dt. Prosaisten der Zeit zeigten eine so glückl. Hand in der humoristischen Erzählung bzw. Novelle – als Musterbeispiele Röschen von Hofe (Bln. 1864) u. Die Dorfcoquette (Schwerin 1868) –, die er auch theoretisch zu begründen verstand: Ein ›humoristischer‹ Roman (1879; über Vischers Auch Einer. In: Beiträge). – S. verfasste auch Übersetzungen (v. a. Texte von Jules Michelet, aber auch Poe, Longfellow u. R. W. Emerson), Dramen u. Lyrikbände sowie die Teilautobiographie Finder und Erfinder (2 Bde., Lpz. 1890). Auch wenn S. heute kein nennenswertes Lesepublikum mehr findet, ist er in den letzten Jahrzehnten zunehmend von der Forschung entdeckt u. als Erz. rehabilitiert worden. Im Mittelpunkt stehen dabei S.s Funktion als literar. Chronist der Ära vom Vormärz bis zur Gründerzeit, sein Beitrag zum Poetischen Realismus sowie zur Erzähltheorie bis hin zu Michail Bachtins Konzept des dialogischen Romans. Ausgabe: 1895–1904.

Sämtl.

Romane.

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Bde.,

Lpz.

Literatur: Victor Klemperer: Die Zeitromane S.s u. ihre Wurzeln. Bln. 1913. Neudr. Hildesh. 1979. – Christa Müller-Donges: Das Novellenwerk F. S.s. Marburg 1970. – Günter Rebing: Der Halbbruder des Dichters. F. S.s Theorie des Romans. Wiesb. 1972. – Winfried Hellmann: Objektivität, Subjektivität u. Erzählkunst. Zur Romantheorie F. S.s. In: Begriffsbestimmung des lit. Realismus. Darmst. 1974, S. 86–159. – Leo Löwenthal: F. S. – der bürgerl. Individualismus. In: Ders.: Das bürgerl. Bewußtsein in der Lit. Ffm. 1981, S. 364–396. – Andrea Fischbacher-Bosshardt: Anfänge der modernen Erzählkunst. Untersuchungen zu F. S.s theoret. u. literar. Werk. Bern u. a. 1988. – Juliane Mikoletzky: Die dt. Amerikaauswanderung des 19. Jh. in der zeitgenöss. fiktionalen Lit. Tüb. 1988. – Henrike Lamers: Held oder Welt? Zum Roman-

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werk F. S.s. Bonn 1991. – Marie-Rosa-Zinken: Der Roman als Zeitdokument. Bürgerl. Liberalismus in F. S.s ›Die von Hohenstein‹ (1863/64). Ffm. u. a. 1991. – Katherine Roper: F. S. In: DLB 29 (1993), S. 348–360. – Hubert Ohl: S.s Spätwerk u. das Fin de Siècle. In: ZfdPh 120 (2001), Sonderh. ›Realismus‹?, S. 177–197. – Brian Poole: Objective Narrative Theory. The Influence of S.’s ›Aristotelian‹ Theory of ›Narrative Objectivity‹ on Bakhtin’s Study of Dostoevsky. In: The Novelness of Bakhtin. Hg. Jørgen Bruhn u. Jan Lundquist. Kopenhagen 2001, S. 107–162. – Anja Restenberger: Effi Briest. Histor. Realität u. literar. Fiktion in den Werken v. Fontane, S., Hochhuth, Brückner u. Keuler. Ffm. u. a. 2001. – Lothar Schneider: Die Verabschiedung des idealist. Realismus: F. S.s Romanpoetik u. ihre Kritiker. In: Formen der Wirklichkeitserfassung nach 1848. Hg. Helmut Koopmann u. Michel Perraudin. Bielef. 2003, S. 233–244. – Jeffrey L. Sammons: F. S. Novelist of Germany’s False Dawn. Tüb. 2004. – Ders.: ›Heiliger Goethe, bitt’ für mich.‹ F. S. and the Anxiety of Influence. In: Goethe Yearbook 12 (2004), S. 227–239. – Manfred Durzak: Der Zeitroman F. S.s. Am Beispiel v. ›Zum Zeitvertreib‹. In: Das verschlafene 19. Jh.? Hg. Hans-Jörg Knobloch u. H. Koopmann. Würzb. 2005, S. 125–138. – J. L. Sammons: F. S. In: NDB. Eda Sagarra / Stefan Höppner

Spiero, Heinrich, * 24.3.1876 Königsberg, † 8.3.1947 Berlin; Grabstätte: ebd., Zwölf-Apostel-Friedhof (Ehrengrab des Berliner Senats). – Literarhistoriker, Essayist, Lyriker, Erzähler. Der promovierte Jurist, Sohn eines jüd. Unternehmers, war 1911–1914 Dozent an der Hamburger Landeskunstschule. Einsetzend mit dem Lyrikband Kranz und Krähen (Hbg. 1903), widmete sich S. seinen poetischen u. literaturhistor. Interessen. Während die Dichtungen (Lpz. 1911) epigonal blieben, schrieb er wichtige biogr. Beiträge über die Literatur des 19. u. frühen 20. Jh. Im Mittelpunkt stand Raabe (Darmst. 1924), dem er mehr als 40 weitere Veröffentlichungen u. das Raabe-Lexikon (Bln. 1927) widmete. Daneben entstanden die Biografien Paul Heyse (Stgt. 1910), Detlev von Liliencron (Bln. 1913), Gerhart Hauptmann (Bielef. 1922) u. Fontane (Wittenb. 1928). Als junger Mann zum protestantischen Christentum konvertiert, beschäftigte sich S.

auch mit Grenzfragen der Theologie u. Literatur (Die Heilandsgestalt in der neueren deutschen Dichtung. Bln. 1926). Seiner preußischnationalkonservativen Einstellung, die er im autobiogr. Band Schicksal und Anteil (Bln. 1929) erörterte, glaubte er dadurch treu zu bleiben, dass er als Gegner des Nationalsozialismus u. trotz Verhaftungen u. Erniedrigungen nach 1933 in Deutschland blieb. Für gleich ihm verfolgte Christen jüd. Abstammung leitete er bis zum Verbot 1937 den von ihm gegründeten »Paulusbund«. 1935 mit Schreibverbot belegt, arbeitete er heimlich an einer Geschichte des deutschen Romans (Bln. 1950) u. an einem bis heute unveröffentlichten Text über seine Erfahrungen während der Judenverfolgung. Weitere Werke: Hermen. Hbg. 1906 (Ess.s). – Städte. Hbg. 1909 (Ess.s). – Lebensmächte. Lpz. 1911 (N.n). – Verschworene der Zukunft. Roman um Bismarcks Ausgang. Lpz. 1911. 21933. – Gebundene. Bln. 1926 (E.en). – Dt. Köpfe. Darmst. 1927. – Siegfried v. der Trenck. Gotha 1932. Literatur: Sabine Gova: H. S. In: Dt. Rundschau 87 (1961), S. 240–254. Heinrich Detering

Spies, Gerty, geb. Gertrud Gumprich, * 13.1.1897 Trier, † 10.10.1997 München. – Lyrikerin, Erzählerin, Essayistin. Die Tochter des Kaufmanns u. Mundartdichters Sigmund Gumprich – ihre Mutter arbeitete als Krankenschwester u. Operationsassistentin – ließ sich zur Hauswirtschaftslehrerin ausbilden, besuchte das Fröbelseminar in Frankfurt/M. u. bestand das Examen als Hortnerin. Sie heiratete 1920, lebte in Freiburg i. Br., dann in Pforzheim u. übersiedelte nach der Trennung von ihrem Mann 1929 nach München, wo sie zu schreiben begann, v. a. Gedichte u. Humoristisches. Nach der Zwangsarbeit in einem Münchner Verlag wurde S. im Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert. Die dort entstandenen Gedichte (Theresienstadt. Mchn. o. J. [1947]), zeugen vom Leben im Konzentrationslager, dem Zwang zur Arbeit in der Glimmerspalterei, vom tägl. Überlebenskampf. Nach der Befreiung aus dem Lager 1945 kehrte sie nach München zurück, wo sie bis zu ihrem Tod lebte. Neben Erinnerungen (Drei Jahre There-

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Spieser

sienstadt. Mchn. 1984) verfasste S. Kinder- u. Spieser, Friedrich, auch: F. Hünenburg, Märchengedichte u. politisch engagierte Ly- * 1.10.1902 Waldhambach/Elsass, † 23.2. rik (Im Staube gefunden. Mchn. 1987). 1987 Burg Stettenfels. – Publizist, VerleIn dem in den 1950er Jahren entstandenen ger. Roman Bittere Jugend (Hg. Hans-Georg Meyer. Mit einem Nachw. von Sigfrid Gauch u. au- Der Sohn eines protestantischen Pfarrers tobiogr. Notizen von G. S. Ffm. 1997) wird – wurde geprägt von der antidt. Sprachpolitik beginnend mit dem vierten Kriegsjahr u. en- der frz. Zentralregierung u. der elsäss. Autodend mit den ersten Friedenstagen – aus der nomiebewegung. S. besuchte dt. Schulen, Sicht der Generation ihrer 1921 geborenen studierte in Grenoble u. wurde an der UniTochter Ruth »von Verfolgung und Überle- versität Marburg promoviert. Nach dem Ersten Weltkrieg beharrte S. auf ben im Nationalsozialismus« erzählt; kontrapunktisch sind Aufzeichnungen Käthe der dt. Volkszugehörigkeit des Elsass, grünRottmanns eingefügt, die aus dem Konzen- dete 1926 den »Bund elsässischer Wanderer Erwin von Steinbach« u. baute die Hünentrationslager nicht mehr zurückkehrt. S. wurde 1984 zur Ehrenvorsitzenden der burg-Ruine wieder auf. Das brachte ihm Gesellschaft für christlich-jüd. Zusammenar- später den Ruf eines »prince de la propagande beit ernannt. 1986 erhielt sie den Schwabin- Hitlérienne en Alsace« ein. 1937–1944 gab er ger Kunstpreis für Literatur. Seit 1996 ver- in seinem Hünenburg Verlag die »Straßburleiht die Landeszentrale für politische Bil- ger Monatshefte« heraus. Sie waren zunächst dung Rheinland-Pfalz den Gerty-Spies-Lite- der heimatverbundenen Literatur gewidmet raturpreis für literar. Arbeiten zu gesell- u. gerieten nach 1940 in die Nähe nationalschaftspolit. Themen. sozialistischer Ideologie. Der polem. Dialog Weitere Werke: Wie ich es überlebte. Ein Do- Die Ehre des Elsasses (in: Straßburger Monatskument v. G. S. In: Hochland 50 (1957/58), hefte 4, 1942, S. 191–212) richtete sich auch S. 350–360. – Das schwarze Kleid. Mchn. 1992 (E.). gegen die »Überfremdung« durch Partei– Gedichte aus dem Konzentrationslager u. aus den funktionäre aus dem Reich. Die an Stifter u. nachfolgenden Jahren. Deggendorf 1993. – Des Unschuldigen Schuld. Eine Ausw. aus dem Werk dem Entwicklungsroman orientierte Autoanläßlich der ersten Verleihung des Gerty-Spies- biografie Tausend Brücken. Eine biographische Literaturpreises [...]. Zusammengestellt v. Dieter Erzählung aus dem Schicksal eines Landes (Stgt. Lamping u. Hans-Georg Meyer. Mainz 1997. 1952. Neudr. Heilbr. 1972) zeigt das SelbstLiteratur: Hanusˇ Schimmerling: G. S.: Drei verständnis eines im Grunde politikfernen, Jahre Theresienstadt. In: Theresienstädter Studien an Volkskultur u. Astrologie interessierten u. Dokumente 1996. Hg. Miroslav Kárny´ u. a. Prag Europäers. 1996, S. 227–232. – Hans-Gorg-Meyer: Leben in Dtschld. Der G.-S.-Preis, ein gesellschaftspolit. Literaturpreis. In: Unterwegs. Rheinland-pfälz. Jb. für Lit. 4 (1997) S. 182–190. – Sigfrid Gauch: G. S. – ein Jahrhundert-Leben. In: Kurtrierisches Jb. 38 (1998), S. 239–243. – Karl Braun: Das schwarze Kleid. Eine Soziologie Theresienstadts v. G. S. In: Brücken nach Prag. Deutschsprachige Lit. im kulturellen Kontext der Donaumonarchie u. der Tschechoslowakei. FS Kurt Krolop. Hg. KlaasHinrich Ehlers u.a. Ffm. u.a. 2000, S. 469–478. – S. Gauch: G. S. In: NDB. Bruno Jahn

Weitere Werke: Kampfbriefe aus dem Elsaß. Bln. 1941. – Und dennoch rauscht der Wald. Stgt. 1953 (L.). Literatur: Hans-Dietrich Look: Der Hünenburg-Verlag F. S.s u. der Nationalsozialismus. In: Gutachten des Instituts für Zeitgesch. Hg. Helmut Krausnick. Bd. 2, Stgt. 1966, S. 399–447. – Lothar Kettenacker: Der ›Hünenburger‹ (F. S.). In: Ders.: Nationalsozialist. Volkstumspolitik im Elsaß. Ebd. 1973, S. 93–114. – Kurt Hochstuhl: Zwischen Frieden u. Krieg. Das Elsaß in den Jahren 1938–1940. Ein Beitr. zu den Problemen einer Grenzregion in Krisenzeiten. Ffm. 1984. – Léon Strauss: Fritz S. Le reconstructeur de la burg. In: Hunebourg. Un rocher chargé d’histoire du Moyen Age à l’époque contemporaine. Strasbourg 1997. Hartmut Dietz / Red.

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Spieß, Christian (bzw. Kristian) Heinrich, * 4.4.1755 Helbigsdorf bei Freiberg/Sachsen, † 17.8.1799 Schloss Bezdiekau bei Klattau/Böhmen (heute: Bezdeˇkow/Klatovy); Grabstätte: ebd., Friedhof der Annakapelle. – Schauspieler, Dramaturg, Theaterdichter, Librettist, Romanschriftsteller u. Erzähler. Wie so viele Schriftsteller des 18. Jh. stammte auch S. aus einem protestantischen Pfarrhaus; eine Tatsache, die den aufklärerischen Schreibberuf zur ›Seelsorge‹ mit anderen Mitteln gemacht hat. – Die Rekonstruktion der Biografie, zu der in den letzten Jahren insbes. die Prager Studien von A. Jakubcová u. V. Maidl beigetragen haben, fällt nicht leicht, weil sich eine Reihe der Lebensstationen wie aus einem ›script‹ eines von S. verfassten Romans lesen: Nach Immatrikulation am Gymnasium in Freiberg 1769 entwich S. 1770 aus ungeklärten Gründen nach Böhmen, wo der Prälat des Zisterzienserklosters in Ossegg (heute: Osek) sich seiner annahm u. ihn – offenbar nach einer Konversion – im selben Jahr an das Carolinum nach Prag schickte, wo S. u. a. Vorlesungen »über eine gute Schreibart« bei Karl Heinrich von Seibt (1735–1806) hörte. Zwei rhetorische Übungsarbeiten des jungen S. wurden in Seibts Von den Hülfsmitteln einer guten teutschen Schreibart (Prag 1773) eingerückt. »Um nicht Mönch werden zu müssen«, wie es in einem Brief S.’ an die Mutter 1783 rückblickend heißt (abgedr. in: Deutschsprachiges Theater in Prag, S. 220 ff.), verließ S. Prag 1774 u. schloss sich im (damals) ungarischen Preßburg der Wanderbühne von Carl Wahr an, der er als Schauspieler, Dramaturg, Theaterdichter u. Librettist angehörte. 1779 kehrte der mittlerweile zu Ansehen gelangte Akteur mit seinem Prinzipal nach Prag zurück, wo Wahl die Leitung des Kotzentheaters auf dem Altstädter Ring übernommen hatte. Als Dramatiker war S. erstmals 1776 mit dem Theaterstück Roxelane als Braut hervorgetreten; das Lustspiel Die drei Töchter (Wien 1782) u. viele damals berühmte Trauerspiele folgten, z. B. Maria Stuart (ebd. 1784. Urauff. 1784 am Wiener Nationaltheater) oder Klara von Hoheneichen (Prag 1790. Urauff. Prag, Saison

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1791/92), das in der Götz-Nachfolge das Publikum in das ›deutsche Alterthum‹ eines nebelhaften MA entführte. Das Ritterschauspiel ging über fast alle dt. Bühnen, wurde von Goethe 1805 am Weimarer Hoftheater zehnmal aufgeführt u. konnte sich noch 1824 in Hamburg halten. Nachdem sich Wahrs Theatertruppe aufgelöst hatte, trat S. 1784 in den Dienst des Grafen Caspar Hermann von Künigl (1745–1814), für den er auf Schloss Bezdiekau als Sekretär, Wirtschaftsbevollmächtigter u. Gesellschafter tätig war. Hier blieb S., mit Ausnahme einiger auswärtiger Aufenthalte, bis zu seinem Tod u. fand Muße zu steter literar. Produktion, insbes. publikumswirksamer Schauerromane. Die Schauspielerin Sophie Körner (1750–1817), der S. nahestand u. der er zahlreiche Titelrollen ›auf den Leib‹ geschrieben hatte, war ihm gefolgt u. wurde von ihm als ›Universalerbin‹ eingesetzt. Neben Karl Gottlob Cramer, Johann Friedrich Ernst Albrecht, Karl Grosse u. Jean Paul zählte S. am Ende des 18. Jh. zum »Direktorium der fünf Lieblingsschreiber Deutschlands« (Johann Friedrich Jünger: Fritz, ein komischer Roman. 5 Bde., Bln. 1796–1800, Bd. 5, 1800, S. 10), das die Deutschen lasen, während ihre Klassiker dichteten. Trotz einer Erweiterung des Literaturbegriffs um die ›Trivialschriftsteller‹ u. »Schreckensmänner« (Arno Schmidt) der Spätaufklärung ist von S.’ zahlreichen Zauber-, Geister-, Schauer-, Räuber- u. Ritterromanen heute nur noch Das Petermännchen. Geistergeschichte aus dem 13. Jahrhundert (2 Bde., Prag 1791/92. Neudr. der Ausg. Lpz. 1795. Ffm. 1971) bekannt. Sie war, wie auch andere Erzählungen S.’, zunächst in Fortsetzungen in der Zeitschrift »Apollo« (1793–98) – die der Nachfolger auf Seibts Ästhetikprofessur seit 1785, der Kriminalschriftsteller August Gottlieb Meißner, in Prag herausgab – vorabgedruckt worden. Mit dem Petermännchen knüpfte S. einerseits an das Teufelsbündlermotiv der frühneuzeitlichen Historia von D. Johann Fausten (1587), andererseits an die von Horace Walpole mit The Castle of Otranto (1764; dt. 1794) in England entstandene Gattung der Gothic Novel an. Rudolf von Westerburg ist ein Erzbösewicht: Er verführt

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sechs unschuldige Frauen, lebt mit seiner Tochter in blutschänderischer Ehe u. ermordet nicht weniger als 70 Menschen, wobei ihm das in einen Riesen verwandelte »Petermännchen« behilflich ist, dessen sprechender Name nicht zuletzt auf die sexuelle Sphäre anspielt. Doch bleibt die poetische Gerechtigkeit, deren Programmatik in einer moralisierenden »Vorrede« entworfen wird, schließlich dadurch gewahrt, dass der ausschweifende Mordbube vom Teufel in der Luft zerrissen wird. Wie auch spätere Geistergeschichten S.’, die das Erlösungsmotiv u. die Theodizeeproblematik stärker herausstellen (z. B. Der Alte Überall und Nirgends. 2 Tle., Prag 1792/93. Die zwölf schlafenden Jungfrauen. 3 Tle., Lpz. 1794–96), wurde sein erster Erfolgsroman nicht nur mehrmals wieder aufgelegt u. ins Französische übersetzt (Le Petit Pierre, ou Aventures de Rodolphe de Westerbourg. Übers. von Henri de Latouche. 2 Bde., Paris 1820), sondern mit überwältigendem Erfolg von Karl Friedrich Hensler für das Wiener Leopold- bzw. Josefstädter Theater auch als Singspiel bearbeitet, das später ebenfalls in Prag auf die Bühne gebracht wurde. Im Gegensatz zu den vergessenen Theaterstücken u. Romanen erfreut sich die von S. verfasste Pauperismusliteratur, ein weiteres Genre der populären Lesestoffe des späten 18. Jh. mit ihren schaurig-schönen Milieubeschreibungen, in der Forschung heute im Zuge der Hinwendung zu anthropolog. u. psycholog. Themen im letzten Drittel des 18. Jh. einer gewissen Aufmerksamkeit. Mit der kleineren epischen Form der Fall- bzw. Kriminalerzählung bereicherte S. wesentlich das literar. Gattungsensemble der Anthropologie der Spätaufklärung bzw. Goethezeit. S.’ Fallsammlungen wie die Biographien der Selbstmörder (4 Bde., Prag 1785–89. Ausw. u. Nachw. von Alexander Kosˇ enina. Gött. 2005), Biographien der Wahnsinnigen (4 Bde., Lpz. 1795/96. Ausw. u. Nachw. von Wolfgang Promies. Darmst./Neuwied 21976), Meine Reisen durch die Höhlen des Unglücks und Gemächer des Jammers (4 Bde., Lpz. 1796) oder die Prosaanthologie Kleine Erzählungen und Geschichten (3 Bde., Prag 1797) griffen das durch Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

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(1783–93) begründete sozialkrit. u. psycholog. Interesse auf u. profilierten es in moraldidakt. Absicht. In seinen Fallsammlungen, die zahlreiche Fortsetzungen u. Nachahmungen fanden, schildert S., wie unglückl. Menschen, oftmals »Jünglinge« oder »unerfahrne Mädchen«, durch geringfügige Vergehen, Leidenschaften oder äußere Umstände ins Verderben geraten, d.h. Schicksale erleben, die letztlich jeden treffen könnten. Dabei unterstreicht S. die moralische Abschreckungsfunktion seiner Exempel dadurch, dass er sie als authent. Lebensläufe ausgibt. Weitere Werke: Ausgaben: Ges. Schr.en. 2 Bde., Prag 1790. – Theatral. Werke. 2 Bde., Prag/Lpz. 1793. – Sämmtl. Werke. 11 Bde., Nordhausen 1840/41 (unvollst.). – Ausgew. Schr.en. 20 Bde., Nürnb. 1841. – Dramen: General Schlenzheim u. seine Familie. Ffm./Lpz. 1785 (Schausp.). – Die Mausefalle [...]. Prag 1786 (Lustsp.). – Das Ehrenwort. Prag/Lpz. 1790 (Lustsp.). – Stadt u. Land [...]. Prag 1791 (Lustsp.). – Ritter Adelgunden. [Wien] 1791 (Ritterschausp.). – Die Folgen einer einzigen Lüge. Prag 1792 (Schausp.). – Liebe u. Muth macht alles gut. Ebd. 1793 (Lustsp.). – Oswald u. Mathilde. Ebd. 1793 (Ritterschausp.). – Friedrich, der letzte Graf v. Toggenburg. Ebd. 1794 (Histor. Schausp.). – Die Überraschung. Lpz. 1799 (Lustsp.). – Verrätherin u. Eifersucht. Lpz./Prag 1801 (Trauersp.). – Die Perücken [...]. Freiberg 1802 (Lustsp.). – Prosawerke: Der Mäusefallen- u. Hechelkrämer [...]. Prag 1792. – Der wahrsagende Zigeunerkalender für das Jahr 1795. Lpz. 1794. – Die Löwenritter. Eine Gesch. des 13. Jh. 4 Bde., Lpz./Ffm. 1794/95. – Reisen u. Abentheuer des Ritters Benno v. Elsenburg im Jahre 1225. 3 Tle., Lpz. 1795/96. – Leben u. Thaten des Jacob v. Buchenstein. 3 Tle., ebd. 1796–98. – Die Geheimnisse der alten Aegyptier [...]. 3 Tle., ebd. 1797/98. – Hans Heiling, vierter u. letzter Regent der Erde-, Luft-, Feuer- u. Wassergeister. Ein Volksmärchen des 10. Jh. 4 Tle., ebd. 1798. – Die Ritter mit dem güldnen Horn. Ebd. 1799. – Die zwölf schlafenden Jünglinge. Olmütz 1799. – Die strahlende Jungfrau oder der Berggeist. Zaubergesch. Lpz. 1800. – Maria Clement oder die Glocke um Mitternacht. Olmütz 1800. – Libretto: 25000 Gulden, oder: im Dunkeln ist nicht gut Munkeln. Ein Singspiel in drey Aufzügen [Musik: Ignaz Walther]. Urauff. 1783. Druck: [o. O., ca. 1783]. Nürnb. 1796. Literatur: Charlotte Quelle: C. H. S. als Erzähler. Diss. (masch.) Lpz. 1925 (Bibliogr. S. 24–32). – Sepp Skalitzky: C. H. S. Ein Schauerdichter u. sein Schicksal. Prag 1934. – Otto Rommel: Rationalis-

Spindler tische Dämonie. Die Geisterromane des ausgehenden 18. Jh. In: DVjs 17 (1939), S. 181–220. – Georg Reuchlein: Bürgerl. Gesellsch., Psychiatrie u. Lit. Mchn. 1986, S. 98–130. – Ulrich Hartje: Triviallit. in der Zeit der Spätaufklärung. Untersuchungen zum Romanwerk des dt. Schriftstellers C. H. S. (1755–1799). Ffm. u.a. 1995. – Carsten Zelle: Böhm. Selbstmörder, Giacomo Casanova u. C. H. S. über die Selbsttötung. In: ›Böhm. Dörfer‹. Streifzüge durch eine seltene Gegend auf der Suche nach den Herren Karl Riha, Agno Stowitsch u. Hans Wald. FS K. Riha. Hg. Peter Gendolla u. C. Zelle. Gießen 1995, S. 80–91. – Alena Jakubcová u. Václav Maidl: Überzeugter Theateraufklärer, moralisierender Beobachter, Autor v. Trivialliteratur. Lebens- u. Schaffensaporien v. C. H. S. (1755–99). In: Deutschsprachiges Theater in Prag. Begegnungen der Sprachen u. Kulturen. Hg. A. Jakubcová u. a. Prag 2001, S. 205–226. – C. H. S. u. seine Zeit. Hg. V. Maidl. Prag 2002 (mit zahlr. Beitr.). – Eric Achermann: Finalité ou fatalité. L’œuvre de C. H. S. entre littérature et psychologie. In: La fiction en prose 1760–1820. Hg. Hana Voisine-Jechova. Paris u.a. 2004, S. 231–261. – Alexander Kosˇ enina: Nachw. In: C. H. S.: Biogr. d. Selbstmörder. Gött. 2005, S. 245–271. – C. Zelle: C. H. S. In: NDB. Carsten Zelle

Spindler, Karl, auch: Carl Spindler, Carl Spinalba, Max Hufnagl, * 16.10.1796 Breslau, † 12.7.1855 Bad Freiersbach/Baden. – Erzähler, Dramatiker, Journalist. Der aus einer Schauspielerfamilie stammende S. begann zunächst ein juristisches Studium in Straßburg, wo sein Vater Stanislaus Franz Xaver Spindler seit 1808 als Organist u. Komponist am Münster wirkte. 1815 brach er wohl das Studium ab, siedelte zu einem Onkel, einem Geistlichen, über, der bei Augsburg lebte, entweder um dem frz. Militärdienst zu entgehen oder nach der Ableistung desselben. Bald danach schloss er sich für etwa zehn Jahre einer fahrenden Theatertruppe als Schauspieler an, zumeist in kleineren Rollen. Möglicherweise schloss er das Jurastudium nach dem Augsburger Aufenthalt doch noch ab, zumindest wird er später mit dem Titel eines Lizentiaten beider Rechte geführt. 1820/1825 heiratete er die Schauspielerin Franziska Schmieder aus Temesvar, die er in Hermannstadt (Siebenbürgen) kennen gelernt hatte. Um 1825 gab er den

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Schauspielerberuf auf, um sich als freier Schriftsteller zu betätigen, zunächst in der Schweiz, danach u. a. in Hanau, Stuttgart u. seit 1827 in München. Dort hatte er nacheinander die Redaktion der »Damenzeitung« (1829/30) u. des »Zeitspiegel« (1831/32) inne. Außerdem gab er 1830–1849 das Taschenbuch »Vergißmeinnicht« heraus. Schließlich ließ er sich 1832 in Baden-Baden nieder. S. war befreundet u. a. mit G. Schwab, L. Börne u. F. Raimund. 1826 erschien S.s erster größerer Roman Der Bastard (Zürich), danach kamen in rascher Folge bis zu seinem Tod zahlreiche Romane u. einige Novellen heraus. Als seine bekanntesten Werke gelten Der Jude (Stgt. 1827), Der Invalide (Stgt. 1831) u. Der Vogelhändler von Imst (Stgt. 1841/42). Außerdem verfasste er einige Theaterstücke. Angeregt wurde S. in seiner schriftstellerischen Tätigkeit wohl v. a. durch Walter Scotts Romane. In seiner Stoffwahl konzentrierte er sich auf die Geschichte, v. a. auf das dt. MA, aber auch die Französische Revolution (Der Invalide) oder die jesuitischen Aktivitäten in Paraguay (Der Jesuit. Stgt. 1829) zählten zu seinen Themen. Seine besondere Aufmerksamkeit galt dabei den unteren Bevölkerungsschichten jener Zeiten u. den jeweils lokalen Gegebenheiten. Die Eindrücke, die er während seiner Zeit als Schauspieler v. a. auf dem Land u. in Kleinstädten gewann, verarbeitet er zu dem Hintergrundkolorit seiner Romane, die aber meistens konkrete histor. Ereignisse als Aufhänger benutzen. Die Literaturgeschichtsschreibung attestiert S. zwar erzählerisches Talent, bemängelt aber die wenig konzeptionelle u. planende Herangehensweise an die Stoffe u. die enorme Produktivität, die eine genauere Arbeit am Text behinderte. In seiner Zeit zählte S. allerdings in Deutschland zu den populärsten Autoren von Unterhaltungsliteratur, der auch von der Kritik durchaus wohlwollend beachtet wurde. Dem in jüngerer Zeit eher vergessenen Autor hat Arno Schmidt mit einem Radioessay über Der Vogelhändler von Imst wieder Aufmerksamkeit verschafft. Ausgaben: Sämmtl. Werke. 84 Bde., Stgt. 1831–54. – Werke. Classiker Ausg. 101 Bde., Stgt. 1854/56.

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129 Literatur: Ludwig Fränkel: K. S. In: ADB. – Joseph König: K. S. Ein Beitr. zur Gesch. des histor. Romans u. der Unterhaltungslektüre in Dtschld. Nebst einer Anzahl bisher ungedruckter Briefe S.s. Lpz. 1908. – Arno Schmidt: Der Vogelhändler v. Imst. Gespräch über C. S., sowie über die Historie im Roman (1973). In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Bd. II, 3. Zürich 1991, S. 347–388. – Wolfgang Beutin: ›In diesem Hause immer fremd‹. C. S.s histor. Roman ›Der Jude‹. In: Juden u. jüd. Kultur im Vormärz. Bielef. 1999, S. 91–109. – Barbara Beßlich: Die Revolution u. Napoleon in K. S.s Roman ›Der Invalide‹ (1831). In: Von der Spätaufklärung zur Badischen Revolution. Literar. Leben in Baden zwischen 1800 u. 1850. Hg. Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann u. Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Freib. i. Br. u. a. 2010, S. 657–668. – Roman Luckscheiter: Arm in Arm mit dem Leben. Zum Profil des bad. Erfolgsschriftstellers K. S. In: ebd., S. 645–656. Oliver Tekolf

Spinnen, Burkhard, * 28.12.1956 Mönchengladbach. – Erzähler, Essayist. S. studierte Germanistik, Publizistik u. Soziologie in Münster u. wurde im Fachbereich Germanistik 1989 mit einer Arbeit zur Geschichte emblemat. Kurzprosa promoviert. Er beendete 1995 seine wissenschaftl. Karriere nach mehrjähriger Tätigkeit als wissenschaftl. Assistent am Lehrstuhl von Prof. Helmut Arntzen. 1991 erhielt S. für sein literar. Debüt, den Erzählband Dicker Mann im Meer (Ffm.), den »aspekte«-Literaturpreis. Der folgende Band, Kalte Ente (Ffm. 1994), besteht aus thematisch miteinander verwobenen Alltagsgeschichten, durchbrochen von unerwarteten u. bisweilen auch ›unerhörten Begebenheiten‹. S.s erster Roman, Langer Samstag (Ffm. 1995), setzt diese Erzählstrategie fort. Er beginnt mit den trivialen Überlegungen des Protagonisten beim Einkaufen im Supermarkt, wobei ihm eine junge Frau auffällt; es entwickelt sich, obwohl »eines der drehbaren Vorderräder [...] sich quergestellt« hatte (S. 11), eine Liebesgeschichte. Den Roman Belgische Riesen (Ffm. 2000), für den er 2001 den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis u. 2007 den Deutschen Hörbuchpreis erhielt, erzählt die Geschichte des in behüteten Verhältnissen aufwachsenden zehnjährigen Konrad u. des

gleichaltrigen Scheidungskinds Friederike, die aus Wut über die Trennung der Eltern mittels eines Kaninchens einen Allergieschock bei der neuen Freundin des Vaters auslösen möchte. Die humorvoll erzählte Geschichte verwebt geschickt die kindl. Erfahrungswelt mit den Realitäten der Erwachsenensphäre u. richtet sich somit nicht ausschließlich an jugendl. Leser. 2003 folgte mit Der schwarze Grat. Die Geschichte des Unternehmers Walter Lindenmaier aus Laupheim (Ffm.) die Biografie eines schwäb. Mittelstandsunternehmers, die sich allerdings ebenso als Autobiografie des Schriftstellers S. begreifen lässt. In einem weiteren Erzählband, Der Reservetorwart (Ffm. 2004), widmet sich S. erstmals dem Sport. Im Kriminal- u. Sportroman Mehrkampf (Ffm. 2007) wird die Geschichte eines Zehnkämpfers erzählt, vage angelehnt an die Biografie Jürgen Hingsens, der lange nach seinem Versagen als Wettkämpfer bei den Olympischen Spielen in der Mitte seines Lebens von seiner Vergangenheit eingeholt wird. In KlarsichtHüllen. Ein Dialog über Sprache in der modernen Wirtschaft (zus. mit Eberhard Posner. Mchn./Wien 2005) u. Gut aufgestellt. Kleiner Phrasenführer durch die Wirtschaftssprache (Freib. i. Br. u. a. 2008) erweist sich S. als scharfsinniger Sprachkritiker. Mit Müller hoch Drei (Ffm. 2009) erzählt er erneut die Geschichte eines jugendl. Helden aus modernen Familienverhältnissen. In Bewegliche Feiertage. Essays und Reden (Ffm. 2000) gibt S. Auskunft über poetolog. u. literar. Hintergründe seines Schaffens. Bei den Klagenfurter Literaturtagen 1992 erhielt S. das Stipendium der Kärntner Industrie; 1996 wurde er mit dem Kranichsteiner Literaturpreis, 1999 mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet u. 2002 zum Stadtschreiber der Stadt Minden ernannt. 2004 erhielt er den Niederrheinischen Literaturpreis der Stadt Krefeld, 2008 den Rheinischen Literaturpreis Siegburg. 1998–2000 war S. Gastdozent am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Seit 2000 ist er Mitgl. der Jury beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Literatur: Michael Bauer: B. S. In: LGL. – Holger Schlodder: B. S. In: KLG. – Sandra Pott: Wirtschaft in Lit. ›Ökonomische Subjekte‹ im

Spitta Wirtschaftsroman der Gegenwart. In: KulturPoetik 4 (2004), H. 2, S. 202–217. – Claudia Mutter: Was Spaß macht, ist verboten. Behütete u. unbehütete Kindheit in B. S.s Roman ›Belgische Riesen‹. In: Praxis Deutsch 31 (2004), H. 188, S. 30–34. – Michael Schmitt: Auf einem schmalen Grat: Bemerkungen zu B. S.s ›Der schwarze Grat‹ u. zu Richard Powers’ ›Gain‹. In: Sprache im techn. Zeitalter 42 (2004), H. 169, S. 98–108. J. Alexander Bareis

Spitta, Carl Johann Philipp, * 1.8.1801 Hannover, † 28.9.1859 Burgdorf. – Theologe u. Dichter geistlicher Lieder. S.s Familie stammt aus frz. Hugenottengeschlecht. Sein Vater, Lebrecht Wilhelm Gottfried, war in Hannover als Buchhalter u. Sprachlehrer tätig, seine Mutter, Henriette Charlotte, geb. Fromme, war jüd. Herkunft u. trug bis zur Taufe den Namen Rebecca Lehsern. S., der wegen einer tuberkulösen Hautkrankheit das Gymnasium im Alter von zehn Jahren frühzeitig verlassen musste, wurde zunächst in eine Uhrmacherlehre gegeben. 1818 ertrank S.s jüngster Bruder, der Theologie studieren sollte. S. durfte daraufhin die ungeliebte Uhrmacherlehre abbrechen u. sich nun seinerseits durch nachgeholten Schulbesuch auf ein Studium der Theologie vorbereiten. 1821–1824 studierte er in Göttingen Theologie u. vertiefte seine Neigungen zur Dichtung. Er fand Anschluss an eine Burschenschaft u. tauschte sich im poetischen Freundeskreis, dem auch Heinrich Heine angehörte, über die vom romant. Zeitgeist beeinflussten Dichtungen aus. 1824 erschien anonym sein Sangesbüchlein der Liebe für Handwerksburschen (Gött.). Die in Göttingen vorherrschende Theologie, vom Rationalismus bzw. Supranaturalismus geprägt, entsprach seinem Wesen nicht. Ihm lag an einem Gottesglauben, der seinen Ausdruck im Gefühl u. im Herzen fand. Die Lektüre der Schriften von W. M. L. de Wette u. F. A. G. Tholuck leiteten bei S. einen inneren geistl. Wandlungsprozess ein. Nach bestandenem 1. Examen war er zunächst als Hauslehrer in Lüne bei Lüneburg (1824–1828) tätig. Dort widmete er sich einem gründl. Bibelstudium u. der Lektüre der Werke Martin Luthers. Die Mehrzahl seiner über dreihundert geistl.

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Lieddichtungen sind in dieser Zeit entstanden. Er beschrieb darin seine Naturempfindungen u. seine momentanen Glaubensansichten, ohne dabei eine mögl. Außenwirkung oder gar Veröffentlichung im Blick zu haben. Seit 1828 war S. als Hilfsgeistlicher tätig, zunächst bis 1830 in Sudwalde, dann in Hameln als Gefängnisseelsorger u. Garnisonprediger. Zu Ostern 1833 erschien auf Betreiben des Studienfreundes Adolf Peters der erste Teil von Psalter und Harfe. Eine Sammlung christlicher Lieder zur häuslichen Erbauung (Pirna) mit 61 geistl. Liedern. S. gab Anregungen zur Gründung eines Missions-Hilfsvereins u. arbeitete als Sekretär für den »Christlichen Verein im nördlichen Deutschland«, für den er 1836 u. 1839 Biblische Andachten (Halle) herausgab. Seine erweckl. Seelsorgearbeit führte in Hameln zu Anfeindungen u. Verdächtigungen durch rationalistisch geprägte Pastoren, die letztlich zu seiner Versetzung führten. 1836 heiratete er Johanna Marie Hotzen; aus dieser Ehe gingen acht Kinder hervor. Bekannt wurden v. a. Friedrich Spitta (1852–1924), Neutestamentler u. Praktischer Theologe u. Philipp Spitta (1841–1894), Musikwissenschaftler u. Bachbiograf. 1836 wurde S. eine Pfarrstelle in Wechold übertragen. Auch dort initiierte er Vereinsgründungen. Berufungen nach Barmen u. Elberfeld in den Jahren 1844/46 lehnte S. aus Unbehagen am preuß. Unionsbestreben ab. 1843 erschien der zweite Band von Psalter und Harfe (Lpz.). Auffällig ist, dass bei den Liedern der zweiten Sammlung die fromme Einzelseele zurücktritt u. das »Wir« der singenden christl. Gemeinde hervorgehoben wird; es folgten über Jahrzehnte jährlich Neuauflagen beider Bände. S. verließ Wechold 1847, um in Wittingen als Superintendent tätig zu werden, u. wechselte von dort bereits 1853 in die Superintendentur nach Peine. 1855 wurde ihm von der Theologischen Fakultät zu Göttingen in Anerkennung seines vorbildlichen pastoralen Lebens u. Wirkens die Ehrendoktorwürde verliehen. 1859 kam S. als Superintendent nach Burgdorf, wo er nach vierteljähriger Wirkungszeit infolge kurzer Krankheit verstarb.

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S. gilt als führender Vertreter der Erwe- dersächs. Kirchengesch. 28 (1923), S. 38–85. – Hans ckungsbewegung in Niedersachsen. Er wurde Dannenbaum: Sie werden leuchten wie die Sterne. v. a. durch seine geistl. Lieder als Dichter des Männer der Erweckungsbewegung in Niedersachevang. Kirchenliedes auch weit über seinen sen: S., Petri, Harms. Bln. [1938], S. 27–56. – Jürgen Heidrich: Untersuchungen zum geistl. Lied der pastoralen Wirkungskreis hinaus bekannt. Erweckungsbewegung. Diss. theol., Mainz 1962. – Seine Liedersammlung Psalter und Harfe wur- Martin Schmidt: Rationalismus u. Erweckungsbede das verbreitetste Erbauungsbuch des 19. wegung am Beispiel der Kirchengemeinde Hameln. Jh. in gebundener Sprache (fast jährlich In: Jb. der Gesellsch. für niedersächs. Kirchengesch. Neuauflagen beider Bände bis 1890). Durch 63 (1965), S. 280–308. – Hansjörg Bräumer: August Übersetzungen ins Englische, Niederländi- v. Arnswaldt, 1798–1855. Ein Beitr. zur Gesch. der sche u. Dänische wurde die Liedersammlung Erweckungsbewegung u. des Neuluthertums in über den dt. Sprachraum hinaus bekannt. Die Hannover. Gött. 1971, S. 80–88. – Detlef Klahr: TheoVolkstümlichkeit der Lieder S.s lag wesent- Glaubensheiterkeit. C. J. P. S. (1801–1859). 2 lich in dem bibl. Bezug u. der sich in den loge u. Dichter der Erweckung. Gött. 2009. Detlef Klahr Versen artikulierenden persönl. Glaubenserfahrung begründet. Bereits 1841 vertonte der Komponist C. F. Becker die 66 Lieder der Spitteler, Carl, auch: Felix Tandem, ersten Sammlung durch vierstimmige Cho* 24.4.1845 Liestal/Kt. Basel-Land, ralmelodien. In der Geschichte des Evangeli† 29.12.1924 Luzern; Grabstätte: ebd., schen Kirchengesangbuches hat S. stets einen Friedental. – Epiker, Erzähler, Lyriker, festen Platz gehabt. Heute noch finden sich Dramatiker, Essayist. sechs Lieder aus Psalter und Harfe im StammDer Sohn eines liberalen Schweizer Politikers teil des Evangelischen Gesangbuches. Weitere Werke: Die vornehmsten Beziehungen verlebte eine idyllische Jugend in Bern, wo der Seelsorge. In: Vjs. für Theologie u. Kirche 1 sein Vater ab 1849 als Bundeskassier amtierte, (1845), S. 43–58. – Die wesentl. Bedingungen des u. in Liestal, wohin die Familie 1856 zuBestandes u. Lebens einer kirchl. Gemeinschaft. rückkehrte u. wo der Vater seiner schwärmeHann. 1849. – Die letzten Predigten in der Ge- risch verehrten »hohen Liebe« Anna u. seines meine. Hann. 21849. – Ist auch ein Unglück in der späteren Mentors Joseph Viktor Widmann Stadt, das der Herr nicht thue? Predigt am SonnPfarrer war. Im – urspr. zum Beamten betage nach dem 8. Juni 1852. Hann. 1852. – Des stimmten – Schüler des Basler Pädagogiums scheidenden Predigers letzte Predigt. Peine 1853. – erwachte im »entscheidenden Jahr« 1860/61 Adolf Peters (Hg.): C. J. P. S.: Nachgelassene geistl. Lieder. Lpz. 1861. – Adolf Hermann Peters (Hg.): P. die Neigung zum Dichterberuf. Nach dem S.: Lieder aus der Jugendzeit. Lpz. 1898. – Walter Abitur studierte er ab 1863 Jurisprudenz in Schmithals: Karl J. P. S. Briefe an seine Braut Basel u. 1865–1871, nach einem schweren Konflikt mit dem Vater, protestantische (1836–1837). Gött. 2008. Ausgabe: Psalter u. Harfe. Sammlung christl. Theologie in Zürich, Heidelberg u. Basel. Lieder zur häusl. Erbauung. Neu hg. v. Hans- Dem angebotenen Pfarramt zog er dann jeChristian Drömann. Hann. 1991. doch eine Hauslehrerstelle in St. Petersburg Literatur: Eduard Emil Koch: Gesch. des Kir- vor, wo er bis 1879 blieb u. zunächst an einem chenliedes. Bd. 7, Stgt. 1872, S. 232–247. – Ludwig Saul-Drama, dann, angeregt durch seinen Spitta: C. J. P. S. Psalter u. Harfe. Mit einer Einl. Lehrer Jacob Burckhardt u. bestärkt durch Gotha 1890, S. I–CXXXVI. – Konrad K. Münkel: Widmann, an einer prosaepischen NeugeKarl J. P. S. Ein Lebensbild. Lpz. 1861. 2. Aufl. neu staltung des antiken Prometheus-Mythos arhg. v. Otto Mejer. Bremen 1892. – Wilhelm Nelle: beitete: Prometheus geht lieber in die VerZum Gedächtnis P. S.s. In: Monatsschr. für Gotbannung, als um den Preis des Verrats an der tesdienst u. kirchl. Kunst 6 (1901), S. 249–260 u. 3 418–422. – Ders.: K. J. P. S. In: RE 18 ( 1906). – eigenen Seele König im Menschenland zu Nathanael Bonwetsch: Zur religiösen Erweckung werden, während sein ehrgeiziger Bruder in der Hannoverschen Kirche des neunzehnten Jh. Epimetheus sich bereit findet, die Seele gegen Nach Briefen an den Legationsrat Freiherr August die Verkörperung der geltenden Moral, »Gev. Arnswaldt. In: Ztschr. der Gesellsch. für nie- wissen« genannt, einzutauschen u. so die

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Herrschaft anzutreten. Epimetheus versagt jedoch, wird mit Schimpf u. Schande davongejagt, u. nur Prometheus schafft es noch, das Königreich zu retten. Angesichts seiner schwindenden Lebenszeit weist der Retter das Königtum aber erneut zurück u. macht sich auf die Suche nach seinem Bruder. Aus Russland zurückgekehrt, publizierte S., nun Lehrer an der Berner Mädchenschule, seinen Erstling pseudonym u. d. T. Prometheus und Epimetheus. Ein Gleichnis (2 Bde., Aarau 1880/81. Zum Versepos umgearbeitet u. d. T. Prometheus der Dulder. Jena 1924. Beide Fassungen zuletzt: GS 1). Zwar zeigte Gottfried Keller sich beeindruckt, aber die literar. Öffentlichkeit ignorierte das Werk praktisch vollkommen. Als ihm auch die ganz offenbar missglückten, auf serb. u. finn. Vorlagen zurückgehenden »mythischen« Verserzählungen Extramundana (Lpz. 1883. GS 3) den erhofften Durchbruch nicht brachten, wandte sich S., der 1881–1885 Lehrer in La Neuveville, 1885–1889 Journalist in Frauenfeld bzw. Basel u. 1890–1892 Feuilletonredakteur der »Neuen Zürcher Zeitung« war, zunächst von der Epik ab u. gängigeren literar. Formen zu. Das Lustspiel Bacillus, eine Satire auf die zeitgenöss. Bakteriomanie, löste 1888 in Bern jedoch einen Skandal aus u. wurde von S. zum Dorf-Roman Das Wettfasten von Heimligen (in: Neue Zürcher Zeitung, 1888. Erstdr. Zürich 1980) u. zum nie aufgeführten Lustspiel Der Ehrgeizige (Bern 1892) verarbeitet bzw. zur Idylle Gustav (Zürich 1891. GS 5) verkürzt. Das Lustspiel Der Parlamentär (Basel 1889), eine Dramatisierung der KrimkriegEpisode, Das Bombardement von Abo (1889 im Berner »Bund«. GS 5), brachte es 1889 in Basel auf eine einzige, erfolglose Aufführung. Den Durchbruch brachten auch nicht die artifiziellen Gedichte des Bands Schmetterlinge (Hbg. 1889. GS 3), sondern erst die naturalistischen Szenen aus dem Leben eines Bauernknechts, Friedli der Kolderi (Zürich 1891. GS 5). Beifall fanden aber auch die Literarischen Gleichnisse (Zürich 1892. GS 3), teils bitterbös satir., teils persönlich-weltschmerzl. Gedichte, mit denen S., der sich dank der Heirat mit der vermögenden Holländerin Marie Op den Hooff ab 1892 in Luzern ganz seinem Werk widmen konnte, der Zeitungsarbeit Valet

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sagte. Auf die Balladen (Zürich 1896. GS 3), die lyr. Frucht der ersten Luzerner Jahre, u. das feuilletonistische Auftragswerk Der Gotthard (Frauenfeld 1897. GS 8) folgte dann jenes Buch, mit dem S. der zeitgenöss. Avantgarde am nächsten kam: der Roman Conrad der Leutnant (Bln. 1898. GS 4), eine konsequent naturalistische Darstellung eines tragisch endenden Vater-Sohn-Konflikts. Bereits seit 1897 hatte S., der damals mit der Essaysammlung Lachende Wahrheiten (Jena 1898. GS 7) die Zusammenarbeit mit seinem künftig einzigen Verleger Eugen Diederichs aufnahm, an seinem summum opus, dem Versepos Der olympische Frühling (vollst. zuerst Jena 1905. 2., endgültige Fassung 1910. GS 2), gearbeitet. Als Diederichs den ersten Teil der »symphonischen Phantasie« in zuletzt 20.000 paarweise gereimten Sechstaktern, Die Auffahrt (Jena 1900), skeptisch aufnahm, schrieb ihm S. im Jan. 1900: »Was ein Schriftsteller mit ganzer Kraft und beharrlichem, selbstherrlichem Fleiß während vier Lebensjahren geschrieben, kann möglicherweise ein gewaltiger Fehlgriff, kann unmöglich eine Pfuscherei, eine Schundware sein.« Schildert Die Auffahrt, wie ein neues Göttergeschlecht auf abenteuerl. Wege aus der Unterwelt in den Olymp einzieht, so erzählt Hera die Braut (Jena 1901) von den olympischen Wettkämpfen, die unter den Göttern um Hera, die sterbl. Königin der Amazonen, ausgetragen werden u. die Disziplinen Gesang u. Sage, Wettlauf, Wagenrennen sowie Traumdeutung u. Prophezeiung umfassen. Zwar geht Apoll als Sieger hervor, er verliert aber durch Verrat die Braut u. die Weltherrschaft an Zeus. Im umfangreichen dritten Teil, Die hohe Zeit (ebd. 1903), haben sich die beiden Widersacher wieder versöhnt u. feiern dies mit rauschenden Festen im Olymp u. übermütigen Entdeckungsfahrten ins Weltall hinaus u. auf die Erde hinab. Erst als zwischen Zeus u. Hera der erste Ehezwist ausbricht, wie im zunächst letzten Teil, Ende und Wende (ebd. 1904), geschildert, geht die hohe, glückl. Zeit zu Ende; Zeus ruft die Götter heim u. wendet sich angeekelt vom Menschengeschlecht ab. Ein Schluss, der in der weniger düsteren definitiven Fassung von 1910 auf die Teile Der hohen Zeit Ende u. Zeus

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aufgeteilt ist u. der Lichtgestalt von Zeus’ Das stärker politisch als literarisch motivierte Sohn Herakles, den dieser als Vorboten eines Ansehen, das S. dadurch in der Schweiz geneuen, duldenden Menschentums auf die noss, ließ ihn zu einer nationalen SymbolfiErde sendet, größeres Gewicht gibt. – Das gur werden u. hatte auch zur Folge, dass sein Epos, das persönl. Lebenserfahrungen u. Werk nach seinem Tode dem von ihm selbst zeitgenöss. Strömungen wie Schopenhauers bestimmten Nachlassverwalter Fränkel auf Pessimismus in mytholog. Verkleidung, aber gerichtl. Wege entzogen u. im Auftrag des ohne eigentl. mythenschöpferische Kraft Bundesrats neu herausgegeben wurde. S.s darbietet, wurde als zwar anachronist., aber Nachlass befindet sich im Schweizerischen imponierende sprachlich-literar. Leistung Literaturarchiv in Bern, in der Zentralbiblioempfunden, fand jedoch über einen kleinen thek Zürich u. im Dichter- und Stadtmuseum Kreis Eingeweihter (u. a. Widmann, Adolf in Liestal. Frey, Felix Weingartner, Jonas Fränkel) hinAusgaben: Ges. Werke in 8 Bdn. u. 2 Kommenaus kaum Verständnis u. blieb auch in der tar-Bdn. (= GS). Hg. Gottfried Bohnenblust, Wilendgültigen, von Fränkel maßgeblich mit- helm Altwegg, Robert Faesi u. a. Zürich 1945–58. – gestalteten Fassung ein ebenso berühmtes C. S. – Joseph Viktor Widmann: Briefw. Hg. Werner wie selten wirklich gelesenes Werk. Zu S.s auf Stauffacher. Bern/Stgt./Wien 1998. Literatur: Felix Weingartner: C. S. Ein künstJahrzehnte hinaus meistgelesenem Werk wurde vielmehr der von ihm selbst als Gele- ler. Erlebnis. Mchn. 1904. – Thomas Roffler: C. S. genheitsarbeit betrachtete Roman Imago (ebd. Eine literar. Feststellung. Jena 1926. – Robert Faesi: S.s Weg u. Werk. Frauenfeld/Lpz. 1933. – Gott1906. GS 4. Zuletzt Ffm. 1990). Weil S. sich in fried Bohnenblust: Der junge S. Zürich 1945. – dieser auf ein persönl. Erlebnis von 1879 zu- Jonas Fränkel: C. S. Huldigungen u. Begegnungen. rückgehenden Geschichte einer sinnlosen St. Gallen 1945. – Ders.: S.s Recht. Dokumente eiVerliebtheit »nackt vor sein Publikum hin- nes Kampfes. Winterthur 1946. – Carl Albert Loostellte« u. damit z.T. die spätere Bekennt- sli: Erinnerungen an C. S. St. Gallen 1956. – Werner nisliteratur vorwegnahm, konnten Freud u. Günther: C. S. In: Ders.: Dichter der neueren C. G. Jung daraus für die Psychoanalyse we- Schweiz 1. Bern 1963, S. 228–280. – Peter Wegelin: sentl. Begriffe u. Mechanismen ableiten. C. S.s Schweizer Standpunkt. Horgen 1973. – Großer Beliebtheit erfreute sich zeitweilig Werner Stauffacher: C. S. Biogr. Zürich 1973. – auch S.s etwas süßl., ebenfalls autobiogra- Ders.: C. S. In: Grosse Schweizer u. Schweizerinnen. Hg. Erwin Jaeckle u. Eduard Stäuble. Stäfa fisch bestimmte Kinder-Erzählung Gerold und 1990, S. 409–418. – François Vallotton: Ainsi parHansli. Die Mädchenfeinde (Jena 1907. GS 4). lait C. S. Genèse et réception du ›Notre point de vue Eine gänzlich neue Wendung nahm die suisse‹ de 1914. Lausanne 1991. – Dossier C. S. in: Einschätzung S.s durch die am 14.12.1914 in ›Quarto‹. Ztschr. des Schweizerischen LiteraturarZürich gehaltene Rede Unser Schweizer Stand- chivs, Nr. 4/5. Bern 1995. – Fritz Schaub u. a.: C. S. punkt (Zürich 1915. Zuletzt Luzern 2009. GS in Luzern. Luzern 1995. – Roger Scharpf: C. S. u. 8), mit welcher er sich nach dem Überfall auf die Anfänge der modernen Erzählkunst in der Belgien vom dt. Imperialismus distanzierte u. Schweiz. Diss. Bern 1999. – Philipp Theisohn: Tosich für einen von Paris als Bekenntnis zu talität des Mangels. C. S. u. die Geburt des moderFrankreich interpretierten spezifisch neutra- nen Epos aus der Anschauung. Würzb. 2001. – Rosmarie Zeller: C. S. In: NDB. len Standpunkt zwischen den Parteien des Charles Linsmayer Ersten Weltkriegs aussprach. Die Stellungnahme, die wesentlich zur inneren Konsolidierung der Schweiz u. zur Überwindung des Spitzer, Daniel, * 3.7.1835 Wien, † 11.1. Grabens zwischen dem dt. u. frz. Sprachbe1893 Meran. – Feuilletonist, Erzähler. reich beitrug, machte S. in Deutschland zeitweise zur Unperson, während sie ihm in Der Sohn eines jüd. Fabrikanten besuchte das Frankreich jene beispiellose Popularität ein- akadem. Gymnasium in Wien, arbeitete nach brachte, die über die Freundschaft zu Romain dem 1860 abgeschlossenen Rechtsstudium Rolland 1920 zur rückwirkenden Verleihung bis 1868 als Koncipist bei der niederösterr. des Literatur-Nobelpreises für 1919 führte. Handelskammer u. schrieb neben traditio-

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neller Lyrik auch nationalökonomische Artikel für das polit. Blatt »Der Wanderer«. Schon in seiner Studienzeit belieferte er das Witzblatt »Der Figaro« u. die »Münchner Fliegenden Blätter«. Zum Ereignis des Tages wurden S.s Feuilletons Wiener Spaziergänge, die zuerst in der »Presse« erschienen, dann in der »Deutschen Zeitung« u. seit 1873 in der »Neuen Freien Presse«, deren Redaktionsmitgl. er bis zu seinem Tod war. Scharfe Beobachtungsgabe, origineller Humor u. gewandte Sprachspiele zeichnen die in sechs Bänden gesammelten Wiener Spaziergänge (Wien 1869–86. Neuausg. in 3 Bdn., 1986–88) aus. Anfangs harmlose Wochenplaudereien, nahmen sie, je weiter er seine Spaziergänge über Stadt, Land u. Staat ausdehnte, immer mehr die Wendung zur gefürchteten Satire. S. behandelt soziale, polit. u. kulturelle (z. B. Wagner-Kult) Missstände, in den kleinen, alltägl. Ereignissen entlarvt er den Schwindel, die Phrase u. die Hohlheit der Gesellschaft. Im Geiste des Liberalismus greift er die Unterdrückung der individuellen Freiheit u. die Beschränkung der Meinungsbildung durch die staatl. Überwachung an. S.s Satire ist jedoch nicht bitter, der Humor herrscht immer vor. Als Satiriker steht er in der Tradition von Lichtenberg, Heine u. Kossak, seine Arbeiten sind vergleichbar mit den Wiener Sittenbildern u. Feuilletons von Kürnberger u. Schlögl. S. beherrscht alle Arten des Witzes; bes. Talent beweist er in der burlesken Anwendung landläufiger Redensarten auf fremde Begriffe. Seine virtuose Behandlung der Sprache wurde beispielgebend für die nachfolgende Generation – von Speidel bis zu Stoessl u. Kraus. Weitere Werke: Das Herrenrecht. Eine Novelle in Briefen. Wien 1877. Mchn./Ravensburg 2008. – Verliebte Wagnerianer. Ebd. 1880 (N.). – Letzte Wiener Spaziergänge. Ebd. 1894 (Ess.s). – Hereinspaziert ins alte Wien. Heiter-Satirisches aus der Donaumonarchie. Hg. Hermann Hakel. Mit 112 zeitgenöss. Illustrationen. [Herrenalb/Schwarzwald] 1967. – Meisterfeuilletons. Hg. Walter Obermaier. Wien 1991. Literatur: Wurzbach. – Ludwig Speidel: Persönlichkeiten. Biogr.-literar. Ess.s. Bln. 1910. – D. S. (1835–1893). Wiener Spaziergänge. Hg. Herwig

134 Würtz. Gestaltung u. Text: Walter Obermaier. Wien 1993 (Kat.). – Hildegard Kernmayer: Juden in der Metropole als Thema der Feuilletons D. S.s. In: Metropole u. Provinz in der österr. Lit. des 19. u. 20. Jh. Hg. Arno Dusini. Wien 1994, S. 29–45. – Matthias Nöllke: D. S.s ›Wiener Spaziergänge‹. Liberales Feuilleton im Zeitungskontext. Ffm. u. a. 1994. – Ders.: Der ›verfluchte Civilist‹ u. die ›deutsche Heldenarmee‹. D. S.s Reaktion auf die Reichsgründung 1870/71. In: Lit. u. Nation. Die Gründung des Dt. Reiches 1871 in der deutschsprachigen Lit. Hg. Klaus Amann u. a. Wien u. a. 1996, S. 397–408. – H. Kernmayer: Judentum im Wiener Feuilleton (1848–1903). Exemplarische Untersuchungen zum literarästhet. u. polit. Diskurs der Moderne. Tüb. 1998. – W. Obermaier: Mit S.s Feder. D. S.s ›Wiener Spaziergänge‹. In: Ein Stück Österr. 150 Jahre ›Die Presse‹. Hg. Julius Kainz u. Andreas Unterberger. Wien 1998, S. 158–165. – Félix Kreissler: Der Wiener Spaziergänger. Le promeneur viennois D. S. In: Satire, Parodie, Pamphlet, Caricature en Autriche à l’époque de François-Joseph (1848–1914). Hg. Gilbert Ravy u. Jeanne Benay. Rouen 1999, S. 133–151. – Ulrike Tanzer: Anti-clericalism in Literary Journalism of the Liberal Era: Ferdinand Kürnberger, Friedrich Schlögl, D. S. and Ludwig Anzengruber. In: Catholicism and Austrian culture. Hg. Ritchie Robertson u. a. Edinburgh 1999, S. 65–78. – Dies.: Mit kolonialem Blick u. spitzer Feder. Zur Thematisierung des Nationalitätenkonflikts in den Feuilletons D. S.s. In: Ambivalenz des kulturellen Erbes. Vielfachcodierung des histor. Gedächtnisses. Paradigma: Österr. Hg. Moritz Csáky u. Klaus Zeyringer. Innsbr. u. a. 2000, S. 135–149. – Christa Gaug: Wilhelmine Berlin and Imperial Vienna in the journalistic writings of Theodor Fontane and D. S. Rochester, N. Y. 2002. – Dies.: Chronicles of Vienna. Urban memory in D. S.’s ›Wiener Spaziergänge‹. In: MAL 38 (2005), H. 1–2, S. 19–28. – Nadja-Irena Orfei: ›Wiener Spaziergänge‹ mit Wagner. D. S.s satir. Blick auf Richard Wagner. Diss. Freib./Schweiz 2007. – W. Obermaier: D. S. In: ÖBL. – Josef Seethaler u. Ingrid Serini: D. S. In: NDB. Cornelia Fritsch / Red.

Spizel, Gottlieb, Theophilus Spizelius, auch: Lizespius, * 11.9.1639 Augsburg, † 17.1. 1691 Augsburg. – Lutherischer Theologe, Polyhistor. Der Vater S.s, 1636 in das Augsburger Geschlecht der Schorer einheiratend, stand in Diensten des Kaisers u. des bayerischen Kurfürsten. Das Gegenüber zum Katholizismus

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prägte S.s Wirken; geboren ist er in der wohl schwierigsten Phase Augsburgs im Dreißigjährigen Krieg nach dem Leonberger Akkord (1635). Während seiner Schulzeit ist er sehr wahrscheinlich dem orthodoxen, aber auch als Ireniker hervorgetretenen Petrus Meuderlinus (Rupertus Meldenius) begegnet. Gönner ermöglichten dem früh vaterlos gewordenen S. ein philosophisches u. theolog. Studium in Leipzig (1653–1660) mit einer Einführung in die Bibelauslegung u. in Anliegen Arndts. »Religionsgeschichtliche« Interessen fanden erst 1660 in Leiden (Förderung der oriental. Neigungen durch D. C. de Lara) als Commentarius de re litteraria Sinesium einen publizistischen Niederschlag, von Orthodoxen gleichermaßen gerühmt (wie auch von S.s Studienfreund Christian Knorr von Rosenroth) u. kritisiert. Ein ausführl., früh mit Cartesianismus u. Coccejanismus in Berührung bringendes iter academicum in die reformierten Niederlande führte S. über Hamburg (Schupp) nach Amsterdam zu Comenius. Bald in Straßburg bei den Brüdern Johann u. Isaac Faust weilend, bereitete S. die Reise nach Basel zu Johann Zwinger u. Johann [II] Buxtorf vor, eifrig der Rabbinistik zugetan (Elevatio relationis Montezinianae de repertis in America tribubus Israeliticis. Basel 1661). Ende Juni 1661 wieder in Augsburg, wirkte er an St. Jakob (Diakon, 1682 Pfarrer, 1690 Senior), u. a. in durch Spener 1684 verarbeitete Auseinandersetzungen mit dem Katholizismus verwickelt. S.s Seelsorgetätigkeit (Die gebrochene Macht der Finsternis. Augsb. 1687) u. umfassende pastorale Tätigkeit hatte S. mit seinen Interessen meist gelehrter Art in Einklang zu bringen. Konfessionelle Apologetik gestaltete sich dabei in S.s Templum honoris reseratum (Augsb. 1673) als ›historische‹ Biografiensammlung zu luth. Philologen u. Theologen des 17. Jh. – nur mit Martin Chemnitz (1522–1586) den zeitl. Rahmen sprengend u. hier Anton Reiser auch als literar. Urheber der Rede von Chemnitz als ›alter Martinus‹ das Wort gebend (Mahlmann 2001). S.s noch in über 2000 Schreiben erhaltener, von August Hermann Francke hochgeschätzter umfangreicher Briefwechsel enthält bekannte Briefpartner (Christian Scriver, Johann Christian

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von Boineburg, Athanasius Kircher SJ, G. W. Leibniz, V. L. von Seckendorf, P. J. Spener, J. H. Hottinger u. a.). Von über 30 Korrespondenten erschienen daraus schon im 17. bis 19. Jh. Briefe (veröffentlicht durch Joachim Friedrich Feller, Joh. von Seelen, Joh. Georg Schelhorn sen. u. jun., Jakob Brucker, Joh. Sal. Semler, Joh. Jak. Breitinger/Jak. Zimmermann u. a.). In dieser Korrespondenz schattet sich S.s Verhältnis zum Katholizismus, zum frühen Pietismus u. zur heraufziehenden Aufklärung ab. Vor allem im Blick auf letztgenannten Bereich wurde S. mehrfach literarisch tätig, von Leibniz gar zu einer Widerlegung Spinozas ermuntert. S. mühte sich um Argumente gegen den Atheismus u. erhoffte dabei von den idealisierten Beispielen der Alten Kirche (zu) viel. Gegen eine atheismusanfällige ›religio politica‹ plädierte er für an der Bibel orientierte fromme u. gerechte Lebensführung. Für den Pietismus hat S. im konfessionsparität. Augsburg nicht öffentlich votieren können, in intensivem Briefaustausch mit Spener wurden manche Übereinstimmungen in wesentl. Fragen deutlich. Zwischen Spener u. S. entwickelte sich ein Vertrauensverhältnis; 1677 trafen sich beide in Frankfurt/M., Spener empfahl S. wiederholt öffentlich (Schriften 1, S. 294 f., 551, 563–568). Der Katholizismus in Augsburg begegnete S. einerseits gesprächsbereit, andererseits auch offensiv mit der Anmutung der Konversion, wobei S. mit einem nicht gelungenen Exorzismus Angriffsflächen bot (Gebrochene Macht der Finsternis. Augsb. 1687). Von Zeitgenossen als Polyhistor gerühmt (Bibliothek: Kataloge 1705 u. 1708), fand S. wegen seiner konservativen theolog. Haltung z. B. hinsichtlich des Teufelsglaubens u. der Hexenfrage beißende Kritik u. a. 1701 durch Christian Thomasius. Ausgaben: (Teil-)Editionen: Leibniz-AkademieAusg. Reihe 1, Bd. 1, Darmst. 1923 [Hildesh. 1970], S. 42. – Philipp Jakob Spener: Briefe [...] 1666– [...] 1681, 1686–1688. Tüb. 1992–2010. – Samuel Pufendorf: Briefw. Hg. Detelf Döring. Bln. 1996, 35, 410, 415. – 17.–19. Jh. s. u. Blaufuß, Diss. 1971 u. Verz. I, II. – Auszüge: Bayer. Bibl. 2, S. 619–624, 1293, 1338. – Mahlmann 2001, S. 134 f., übers. S. 111–114.

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Literatur: Bibliografien: Blaufuß, S. 332–334. – Ders. 1986, S. 173. – Dietrich Blaufuß: G. S. [...]. Diss. Erlangen (masch.) 1971, S. 603–700 [Expl. SStB Augsburg 28 Cod. Aug. 410a (Kopie) erg./ Drucknachweise]. – Ders. 1973, S. 139–142; 1977, S. 312–315; 1986, S. 171 f.; 2009, S. 120–124 (ca. 250 Korrespondenten); Gutachten 1971, S. 122–130 (Spener – S.). – Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 1094 f.; Tl. 2, S. 1336 f. (21 Briefpartner). – Philipp Jakob Spener: Schr.en. Bd. 16,1, Hildesh. 1989, S. 54* f., 60*. – Weitere Titel: Philipp Jacob Spener: Die Evang. Glaubensgerechtigkeit [...]. Ffm. 1684, S. 525–574. – Christian Thomasius: [...] Laster der Zauberei. o. O. 1702, S. 9 ff., 14, 19 ff. – Franciscus Antonius Veith: Bibliotheca Augustana, 1793, s. v. – Dietrich Blaufuß: G. S.s Gutachten zu Ph. J. Speners Berufung nach Dresden (1686) [...]. In: Ztschr. für bayer. Kirchengesch. 40 (1971), S. 97–130. – Ders.: G. S. [...]. In: studia leibnitiana 5 (1973), S. 116–144. – Ders.: Reichsstadt u. Pietismus – Philipp Jacob Spener u. G. S. aus Augsburg. Neustadt/Aisch 1977. – Ders.: G. S. 1639–91. In: Lebensbilder aus dem Bayer. Schwaben 13 (1986), S. 144–173. – Ders.: Korrespondierender Pietismus [...]. Lpz. 2003, S. 153–168 u. ö. (s. S. 482 Reg.). – Ders.: Commercium epistolicum in der Reichsstadt. G. S./Augsburg (1639–1691) u. s. Briefwechselsammlung im Umkreis v. Orthodoxie u. Pietismus. In: Stadt u. Lit. im dt. Sprachraum der Frühen Neuzeit. Bd. 1. Hg. Klaus Garber u. a. Tüb. 1998, S. 411–424. – Ernst Feil: Religio. 3. Bd. [...] im 17. u. frühen 18. Jh. Gött. 2001, S. 67–68 u. ö. – Theodor Mahlmann: Der zweite Martin der luth. Kirche. Zu einem Martin Chemnitz beigelegten Epitheton. In: Rezeption u. Reform. FS Hans Schneider. Darmst./Kassel 2001, S. 98–136, v. a. Nr. 17 [geplante Neubearb. Nr. 27]. – Horst Weigelt: Gesch. des Pietismus in Bayern. Gött. 2001. – D. Blaufuß: G. S. [...]. Dreißig Jahre Pfarrer an St. Jakob. In: 650 Jahre St. Jakob. Hg. Pfarramt St. Jakob Augsburg. Augsb. 2005, S. 36–39 (Abb.). – Ders.: Korrespondierende Orthodoxie. Johann Benedikt Carpzov u. G. S. im Briefw. [...]. In: Eruditio – Confessio – Pietas. [...]. Das Beispiel Johann Benedikt Carpzov (1639–1699). Lpz. 2009, S. 107–124. Dietrich Blaufuß

Splendor solis. – Text/Bild-Werk alchemischen Inhalts des 16. Jh. Der S. s. oder Sonnenglanz ist eine seit 1531/32 überlieferte Sachschrift frühneuzeitl. Alchemiker. Dem wohl spätestens im 15. Jh. redigierten Text wurden spätestens 1531/32 Illustrationen beigesellt. Kompilator u. Bild-

programmurheber sind unermittelt; die noch immer übliche Zuschreibung an Salomon Trismosin gehört zu den alchemo-paracelsistischen Mystifikationen frühneuzeitl. Tradenten. Der S. s. besteht aus Dikta antik-mittelalterl. Autoritäten, die über Bereitung u. Wirkung des »Steins der alten Weisen« unterrichten, u. steht im Kreis alchem. Florilegien der Aurora consurgens u. dem Donum Dei besonders nahe. Einige Bilder leiten sich aus allegorisch gefassten Exzerpten u. mit dem Namen Vergils u. Ovids verknüpften Erzählungen ab, bei anderen handelt es sich um in Phiolen placierte Sinnbilder von Wandlungsgeschehnissen bei der Präparation der alchem. »Medicin« für Menschen u. Metalle, die mit Planetenkinder-Darstellungen kombiniert worden sind. Aufgrund seiner bildkünstlerischen Qualitäten zählt der S. s. zu den bedeutendsten Denkmälern der Alchemia-picta-Tradition. Der S. s. erhielt sich in Handschriften (Faks. von Cod. germ. fol. 42 der Staatsbibl. Berlin. Hg. Gisela Höhle. Wiesb. 1972. Faks. von Ms. 78 D 3 des Kupferstichkabinetts der Staatlichen Museen zu Berlin. Gütersloh/Mchn. 2005), fand Aufnahme in einem mehrmals gedruckten Standardwerk frühneuzeitl. Alchemiker (Aureum vellus. Traktat 3, Rorschach 1599, S. 3–59. U. d. T. Eröffnete Geheimnisse Des Steins der Weisen. Hbg. 1718. Nachdr. Graz 1976, S. 163–213) u. bereicherte in Splitterüberlieferungen den Bilderschatz der Emblembuchliteratur (Emblemata. Ffm. 1618. U. d. T. Hermetico-Spagyrisches Lustgärtlein. Ffm. 1625. U. d. T. Hortulus hermeticus. Hg. Daniel Stolcius. Ffm. 1627). Übersetzungen ins Französische (Salomon Trismosin: La Toyson d’Or. Paris 1612. Hg. Bernard Husson. Paris 1975) u. Englische (William Backhouse, 17. Jh.). bekunden internat. Ansehen. Neuere engl. Übersetzungen von Julius Kohn (London o. J. [1920]. Nachdr. Des Plaines/Illinois o. J. [1976] u. in Henderson/Sherwood, 2003) u. Joscelyn Godwin (Edinburgh 1981. Grand Rapids 1991), aber auch frz. (Paris 1975), holländische (o. O. [Amsterd.] 1980), tschechische (Prag 1994) u. ital. Übersetzungen (Rom 1994. Mailand 2001) sowie Bildwiedergaben (Mailand 1975) machen auf die

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Aktualität des S. s. in der Hermetik des 20. Jh. Spoerl, Alexander (Johann Heinrich), * 3.1. aufmerksam. 1917 Düsseldorf, † 16.10.1978 RottachAusgaben: Allenfalls Notbehelfe bieten neben den Faksimile-Ausgaben Textproben bei Klaus Völker (Hg.): Künstliche Menschen Dichtungen u. Dokumente über Golems, Homunculi, lebende Statuen u. Androiden. Ffm. 1994 (1. Auflage: 1971), S. 32–48 (Vorlage: Aureum vellus. 1599) sowie bei Bernhard Dietrich Haage u. Wolfgang Wegner: Dt. Fachlit. der Artes in MA u. Früher Neuzeit. Bln. 2007, S. 386 f. (Vorlage: Cod. germ. fol. 42), ferner eine Transkription von Völlnagel (2004), S. 151–165 bzw. (2005), S. 109–120 (Vorlage: Ms. 78 D 3) u. eine nhd. Wiedergabe von Gabriele Quinque: S. s. Schalksmühle 2005 (Vorlage: Cod. germ. fol. 42). Literatur: Gustav Friedrich Hartlaub: Signa Hermetis. In: Ztschr. des dt. Vereins für Kunstgesch. 4 (1937), S. 93–112, 144–162. – Ders.: Chym. Märchen. In: Die BASF (1954), H. 2/3. (1955), H. 1. – Ders.: Der Stein der Weisen. Mchn. 1959, S. 32. 48. – Barbara Daentler: Die Buchmalerei Albrecht Glockendons u. die Rahmengestaltung der Dürernachfolge. Mchn. 1984, S. 102–108. – Jacques van Lennep: Alchimie. Brüssel 21985, S. 110–129, 163–165. – Kat. der deutschsprachigen illustrierten Hss. des MA. Begonnen v. Hella Frühmorgen-Voss. Fortgeführt v. Norbert H. Ott. Bd. 1, Mchn. 1987, S. 44–55, 99. – Gustav Friedrich Hartlaub: Kunst u. Magie. Ges. Aufsätze. Hg. Norbert Miller. Hbg./ Zürich 1991, s.v. Splendor solis. – Hartmut Broszinski: Lux lucens in tenebris. S. s. oder Sonnenglanz. Zur alchemist. Hs. 28 Ms. chem. 21 der alten Kasseler Landesbibl. Fulda 1994. – Joachim Telle: S. s. In: LexMA. – Ders.: S. s. In: Alchemie. Lexikon einer hermet. Wiss. Hg. Claus Priesner u. Karin Figala. Mchn. 1998, S. 339 f. – Anne-Françoise Cannella: Alchemical Iconography at the Dawn of the Modern Age. The ›S. s.‹ of Salomon Trismosin. In: The Power of Images in Early Modern Science. Hg. Wolfgang Lefèvre u. a. Basel 2003, S. 107–116. – Joseph L. Henderson u. Dyane N. Sherwood: Transformation of the Psyche. The Symbolic Alchemy of the ›S. S.‹. London/New York 2003 u. ö. – Jörg Völlnagel: S. s. oder Sonnenglanz. Studien zu einer alchemist. Bilderhandschrift. Mchn. 2004. – S. S. Bd. 2: Kommentarband mit Beiträgen v. Ursula Götz, Michael Roth, J. Telle, J. Völlnagel u. Jutta Zander-Seidel. Gütersloh/Mchn. 2005. – M. Roth: S. S. oder Sonnenglanz. Von der Suche nach dem Stein der Weisen. Bln. 2005. – J. Telle: Der ›S. s.‹ in der frühneuzeitl. Respublica alchemica. In: Daphnis 35 (2006), S. 421–448. Joachim Telle

Egern. – Romancier, Sachbuchautor. Der Sohn Heinrich Spoerls war nach dem Maschinenbaustudium in Berlin Ingenieur. Nach dem Krieg lebte er als freier Schriftsteller mit seinem Vater in Rottach-Egern; sein erster Roman, Der eiserne Besen (Mchn. 1947), ist eine Gemeinschaftsarbeit von Vater u. Sohn. S. wurde mit einem Roman über die Düsseldorfer Oberrealschule am Fürstenwall bekannt. Die dem väterl. Vorbild der Feuerzangenbowle verpflichteten Memoiren eines mittelmäßigen Schülers (Mchn. 1950. Hameln 1995) beschreiben die Schul- u. Ausbildungsjahre des heranwachsenden Jakob van Tast in der Weimarer Republik bis zum »Dritten Reich«. Die Erfahrungen während der anschließenden Ausbildungs- u. Kriegsjahre u. der Stunde Null erscheinen dabei nur als Verlängerung der Schulzeit in die Welt der Erwachsenen. Eine ernstere Auseinandersetzung mit dem »Dritten Reich« versuchte S. in dem Fragment gebliebenen Schulroman Die braunen Dreißiger (ebd. 1988), der aber über belehrende Szenen u. Sentenzen nicht hinauskommt. Der Erfolg seiner Sach- u. Hobbybücher (Mit dem Auto auf Du. Ebd. 1953) u. Fernsehserien (Der Panne an den Kragen, Physik) verdankte sich S.s Sachkenntnis u. dem leichten, iron. Ton, in dem er selbst trockene u. schwierige Materie unterhaltsam darstellte. Weitere Werke: Romane: Ich habe nichts damit zu tun. Mchn. 1951. U. d. T. Der Mann, der keinen Mord beging. Ebd. 1958. 141990. Neuausg. 1994. – Ein unbegabter Liebhaber. Ebd. 1952. 231991. Neuausg. 1995. – Pachmayr. Lebenslauf einer Leiche. Bln. 1968. – Ein unbegabter Ehemann. Ffm. 1972. – Sachbücher: Mit Motorrad u. Roller auf du. Mchn. 1955. Nachdr. Stgt. 1995. – Auf dem Busen der Natur. Mchn. 1956. – Teste selbst. Düsseld. 1959. – Vergrößern einer Kleinigkeit. Mchn. 1964. – Spoerls Computerbuch. Ffm. 1972. Literatur: Jan-Christoph Hauschild: Wie schwer ist der Dom? Eine ältere Dame u. zwei ältere Herren aus Düsseldorf erinnern sich an ihren Jugendfreund A. S. In: Heinrich S. Hg. Joseph A. Kruse. Düsseld. 2004, S. 59–90. Georg Patzer / Red.

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Spoerl, Heinrich (Christian), * 8.2.1887 Düsseldorf, † 25.8.1955 Rottach-Egern. – Humoristischer Erzähler. Als Sohn des Inhabers einer Fabrik für Drucku. Papierverarbeitungsmaschinen wollte S. in die Fußstapfen seines Vaters treten u. den Beruf des Ingenieurs ergreifen. Seine extreme Kurzsichtigkeit stand der Verwirklichung des Berufswunsches aber im Wege. Nachdem S. 1905 das Abitur an der Oberrealschule am Fürstenwall in Düsseldorf-Bilk abgelegt hatte, entschied er sich deshalb für ein Studium der Rechtswissenschaften, das ihn nach Marburg, Berlin, Bonn u. München führte. 1913–1919 arbeitete er an der Hohen Juristischen Fakultät in Marburg an seiner Dissertation über Die gemischten Verträge. Anschließend war S. als Gerichtsassessor in Düsseldorf tätig. Ergänzend zu seinem juristischen Brotberuf hatte er 1911 einige Fachartikel u. humorist. Glossen in der Düsseldorfer Lokalpresse veröffentlicht. Mit seinen Ausflügen in die Schriftstellerei brach S. durchaus nicht mit seinem bisherigen Werdegang, denn bereits auf dem Gymnasium hatte er mit Freunden ein Lesekränzchen gegründet u. sich auch selbst als Dichter versucht. Seine berufl. Tätigkeit als Anwalt wiederum drückte dem späteren Romanwerk einen unverkennbaren Stempel auf: Fast alle Romane ließ S. mit einer Gerichtsverhandlung enden. Auch die privaten Verhältnisse schienen bald geordnet. 1911 heiratete S. Emma Pazlik. Doch nur zwei Jahre später musste er ihren Tod beklagen. 1915 ging er eine Ehe mit der Konzertsängerin Gertrud Kebben (1896–1947) ein; 1917 kam der gemeinsame Sohn Alexander (gest. 1978) zur Welt. 1919–1937 sorgte S. als Rechtsanwalt beim Amts- u. Landgericht Düsseldorf für den Lebensunterhalt seiner Familie. Allerdings blieben seine spärlichen juristischen Erfolge hinter der stetig wachsenden Anerkennung seiner schriftstellerischen Leistungen zurück. Als die SS einen seiner Mandanten trotz Freispruchs ins Konzentrationslager verbrachte, gab S. seine Tätigkeit als Anwalt auf. Sein steiler Aufstieg im Literatur- u. Filmbetrieb mag diese Entscheidung zusätzlich be-

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einflusst haben. Bis 1940 lebte S. als freier Schriftsteller in Berlin; 1941 siedelte er nach Rottach-Egern über, wo er einigermaßen unbehelligt leben u. arbeiten konnte. S. war gewiss kein Sympathisant der Nationalsozialisten, doch anders als sein Sohn, der sich der Widerstandsorganisation »Rote Kapelle« anschloss, war er weit davon entfernt, sich aktiv für die Opposition zu engagieren. Eine iron. Distanz zu den Machthabern ist aber gelegentlich spürbar. Gleichwohl war S. seit 1935 Mitgl. der Reichsschrifttumskammer, seit 1943 gehörte er der Reichsfilmkammer an; ein Teil seiner Texte aus dieser Zeit erschien überdies in dem von Goebbels herausgegebenen Kampfblatt »Angriff«. Als Unterhaltungsschriftsteller, der mit seinen Werken einerseits von der harten Kriegswirklichkeit abzulenken vermochte, andererseits von der Warte einer »schmunzelnden Opposition« (W. Fuld) aus zu schreiben wusste, stand S. nach seinem Rückzug auch weiterhin hoch im Kurs. Besonders mit seinem unverkennbar rheinischen Humor konnte er viele Leser für sich gewinnen. In den 1940er Jahren schrieb er v. a. Filmdrehbücher, die zumeist auf seinen eigenen, erfolgreichen Romanen basierten. Nach dem Krieg eröffnete S. in seiner neuen Heimatgemeinde eine Anwaltskanzlei, die er bis 1948 führte. Gleich mit dem zweiten größeren Werk sicherte sich S. seinen Nachruhm. Zuerst als Fortsetzungsroman in der Düsseldorfer Tageszeitung »Mittag«, dann in einer Buchauflage von 20.000 Exemplaren erschien 1933 u. d. T. Die Feuerzangenbowle. Eine Lausbüberei in der Kleinstadt (Mchn.) sein bis heute berühmtestes Werk. Es geht zurück auf eine Zusammenarbeit mit Hans Reimann u. orientiert sich an Ernst Ecksteins Schulgroteske Der Besuch im Karzer (1875). Obwohl S. auf dem Titelblatt als alleiniger Verfasser genannt wird, ist noch immer nicht lückenlos geklärt, wie groß sein Anteil an der Entstehung des Buches wirklich ist. Dass Reimann erheblich mehr gewesen sein dürfte als ein Ideengeber, lässt sich wohl nicht mehr bestreiten. In seiner Autobiografie Mein blaues Wunder (Mchn. 1959) behauptet er sogar, er habe den Roman in weiten Teilen selbst geschrieben, die Au-

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torschaft jedoch an S. abgetreten, da er den Nationalsozialisten nicht auffallen wollte. Die Feuerzangenbowle schildert in einer reduzierten u. bewusst kunstlosen Sprache, wie der hoch geehrte Schriftsteller Dr. Hans Pfeiffer unter der benebelnden Wirkung einer Feuerzangenbowle, einem »Mittelding aus Gesöff und Hexerei«, auf die verrückte Idee verfällt, sich als Pennäler in ein Provinzgymnasium einzuschleichen. Dort muss er sich zunächst von allen romant. Vorstellungen über die Schule verabschieden. Doch an die Stelle der ›falschen‹ Romantik tritt binnen kurzem eine andere, der sich Pfeiffer nicht mehr durch Reflexion entziehen kann. Allmählich verwandelt er sich in einen Knaben, dem die Verpflichtungen des gesellschaftl. Lebens, auch der Respekt vor Autoritäten, herzlich egal sind. Zuletzt beginnt er an der Seite seines Schwarms, der Schülerin Marion, ein neues Leben, das ihn zur bürgerl. Existenz zurückführt. Der Schluss des Romans erweist das erzählte Geschehen, mit Ausnahme der Feuerzangenbowle, als literar. Fiktion. Er geht mit Sicherheit auf S. selbst zurück. Ingesamt sprechen sich S./Reimann mit ihrem Buch für eine ›romantischere‹ Sicht auf die Welt aus, abseits der ökonomischen Erfolgszwänge u. fixen Hierarchien des Erwachsenendaseins, u. nicht zuletzt für eine Neubewertung der Bildung als unverlierbaren Besitz des Menschen. Auf allzu arglose Weise führt Die Feuerzangenbowle damit ihren Lesern vor Augen, wie erfrischend eine zeitweilige Gedankenflucht in die angeblich heile Jugend sein könnte. Vielleicht wurde der Roman aus diesem Grunde rasch so beliebt, dass man ihn mehrfach verfilmte. Bis heute gibt es drei Versionen. Die zweite Verfilmung von 1944, mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle, zählt zu den Klassikern des populären deutschsprachigen Films. 1936 schrieb S. seinen literar. Erstling Der beschleunigte Personenzug (Bln. 1931, ebenfalls mit H. Reimann) um u. brachte ihn u. d. T. Wenn wir alle Engel wären (Bln.) heraus. Auf amüsante Weise beschreibt er dort, wie das geregelte Leben des achtbaren Kanzleivorstehers Christian Kempenich u. seiner Frau aus den Fugen gerät, nachdem sich beide getrennt voneinander für einige Stunden den

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Verlockungen einer unbürgerl. Existenz hingegeben hatten. Für dieses recht harmlose Werk, das eine Lebensweise porträtiert, die auch einmal über die Stränge schlagen darf, erhielt S. den Staatspreis. Noch im selben Jahr publizierte er seinen nächsten Roman Der Maulkorb (Bln.). Obwohl S.s politischstes Buch, war es der erfolgreichste Roman des »Dritten Reiches«, der auch für Bühne u. Hörfunk bearbeitet wurde. Das Buch widmet sich dem Thema der Anagnorisis u. steht damit in der Nachfolge von König Ödipus u. Der zerbrochne Krug. Als Hauptfigur fungiert der angesehene Staatsanwalt von Treskow, der einen Fall von Majestätsbeleidigung zu untersuchen hat: Ein Unbekannter hat dem Standbild des Landesherrn, der sich angeblich gegen die »Stänker« in seinem Reich gewandt hatte, einen Maulkorb angelegt. Im Laufe der Ermittlungen kommt heraus, dass Treskow selbst der Täter war. Aus Rücksicht auf das Ansehen der Behörde wird diese Erkenntnis der Öffentlichkeit vorenthalten. Stattdessen wird ein anderer verurteilt, der sich bereitwillig bezichtigen lässt, um an die ausgesetzte Belohnung zu gelangen. Die Klarheit des Ausgangs ist also keineswegs identisch mit der Wahrheit. Zu guter Letzt wird bekannt, dass die Tat ohnehin auf ein Missverständnis zurückgeht: Der Landesherr hat die ihm zugeschriebenen Worte nie gesprochen. Im Gegensatz zu den Lösungen des Finales scheitert Treskows eigener Verstehensprozess auf ganzer Linie. Als er zum letzten Mal die Gelegenheit hat, seine Schuld zu erkennen, versagt sein Verstand, u. er muss sich der überlegenen Urteilskraft seines Vorgesetzten beugen. Man kann S.s Roman insofern keine konsequent oppositionelle Haltung attestieren. Der subversive Humor trifft v. a. den Staatsanwalt u. dessen kurzsichtige Aufklärungsbemühungen, die Souveränität der höhergestellten Autoritäten, Oberstaatsanwalt u. Landesherr, wird nicht angetastet. Selbst die vermeintl. Außenseiterfigur, der Maler Rabanus, erweist sich am Ende als Sohn eines renommierten Augenarztes. S.s. nächstes Werk Der Gasmann (Bln. 1940) ist eine »soziale Studie« in Romanform über die Lebenswelt des Hermann Knittel, der

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während seiner Tätigkeit als Gasmann selbst lasses befindet sich heute im Archiv des des Öfteren soziale Studien getrieben hat. Heinrich-Heine-Instituts in Düsseldorf. Nun wird er das Objekt einer solchen Studie. Weitere Werke: Das andere Ich. Bln. 1942 Ein »boshaftes Schicksal« in Gestalt einer (Drehb.). – Die weiße Weste. Lustsp. in 7 Akten. spendablen Berühmtheit bringt ihn in den Mchn. 1947. – Der eiserne Besen. Von Vater u. Sohn Besitz eines stattl. Vermögens. Doch der un- Spoerl (zus. mit Alexander Spoerl). Düsseld. 1949 verhoffte Geldsegen macht Knittel alles an- (R.). – H. S.s ges. Werke. Mchn. 1963. – Das Beste. dere als glücklich. Sein verschwenderischer Die Feuerzangenbowle. Der Maulkorb. Der Gasmann. Mchn./Zürich 2001. Umgang mit dem Geld, die Winkelzüge seiLiteratur: Werner Fuld: Hausbuch der Deutner geldgierigen Mitmenschen u. die Nachschen. Über H. S. ›Der Maulkorb‹ (1936). In: Roforschungen der Behörden stürzen ihn in mane von gestern – heute gelesen. Hg. Marcel immer größere Schwierigkeiten, sodass er Reich-Ranicki. Bd. 3: 1933–1945. Ffm. 1990, sich zuletzt vor Gericht wiederfindet. Die S. 114–119. – Jan-Christoph Hauschild: H. S. In: Verhandlung endet allerdings mit einem Lit. v. nebenan. 1900–1945. 60 Portraits v. Autoren Freispruch, da sich der anonyme Geldgeber aus dem Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalen. der Sache angenommen hat. Im Gewand Hg. Bernd Kortländer. Bielef. 1995, S. 334–339. – dieses ›heiteren‹ Romans wendet sich S. ge- Heinz Koriath: H. S. ›Der Maulkorb‹. Eine literar. gen eine Gesellschaft, in der die Beziehungen Variation zur materiellen Wahrheit im Strafprozeß. zwischen den Menschen verzweckt sind. So In: Das Recht u. die schönen Künste. Heinz Müllerkann man den Gasmann auch als Gegen- Dietz zum 65. Geburtstag. Hg. Heike Jung. BadenBaden 1998, S. 205–219. – Joseph A. Kruse (Hg.): H. wartsroman lesen – umso mehr, als in der S. Buch, Bühne, Leinwand. Düsseld. 2004. – Midargestellten Gesellschaft Denunziationen chael Kilian: Die Rechtsanwälte u. Humoristen nichts Ungewöhnliches sind u. es kaum noch Ludwig Thoma u. H. S. im Vergleich. In: Jenseits v. Privatsphäre gibt. Bologna. Jurisprudentia literarisch. Von Woyceck Im Mittelpunkt des Romans Die Hochzeits- bis Weimar, v. Hoffmann bis Luhmann. Hg. ders. reise (Bln. 1946) steht ein junges Ehepaar, das Bln. 2006, S. 190–220. – J. A. Kruse: H. S. In: NDB. sich bereits nach sieben Stunden Ehe im Streit Alexander Schüller getrennt hat. Während nun die Anwälte das Scheidungsverfahren in die Wege leiten, Spoerri, Daniel, eigentl.: Daniel Isaac treffen beide sich zufällig auf einer RundreiFeinstein, * 27.3.1930 Galati/Rumänien. – se, woraus sich einige heitere Verwicklungen Lyriker, Erzähler, Dramatiker, Plastiker, ergeben. Sie münden in eine ausnehmend Filmemacher. Veranstalter von Happekom. Situation: Während das Paar auf der nings u. Ausstellungen. Reise wieder zusammengefunden hat, ist es in Abwesenheit geschieden worden. Der ge- Nach der Verschleppung u. Ermordung seisamte Roman lebt von solch witzigen Effek- nes Vaters durch die Nationalsozialisten floh ten wie diesem, weshalb die Handlung z.T. S. 1942 mit seiner Mutter in die Schweiz, wo etwas unlogisch u. die Figuren allzu typisiert er von seinem Onkel, dem Zürcher Universigeraten sind. tätsprofessor Theophil Spoerri, adoptiert Nachdem seine zweite Frau gestorben war, wurde. Verschiedene Ausbildungen brach er zog sich S. bis zu seinem eigenen Tod immer ab, reiste per Anhalter durch Europa u. stumehr aus der Öffentlichkeit zurück. Aus dem dierte seit 1952 klass. Tanz u. Pantomime in Nachlass gab sein Sohn ein Buch mit einigen Paris. 1954 als erster Tänzer an das Opernheiteren Geschichten aus der Feder des Vaters haus Bern verpflichtet, inszenierte er für das heraus (Ich vergaß zu sagen. Mchn. 1956). Sie dortige Kellertheater Bühnenstücke der liteschlagen den Bogen zurück zu einer seiner rar. Avantgarde. Nach Regieassistenz bei beliebten Veröffentlichungen aus den 1930er Gustav Rudolf Sellner in Darmstadt Jahren: einer Sammlung von »Kurzgeschich- 1957–1959 kehrte er nach Paris zurück u. ten und Plaudereien« mit dem Titel Man kann schloss sich der Gruppe der Neuen Realisten ruhig drüber sprechen. Heitere Geschichten und an. Nach einem kurzen Intermezzo in New Plaudereien (Bln. 1937). Ein Teil dieses Nach- York zog er sich 1966–1968 auf die griech.

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Insel Symi zurück; anschließend leitete er bis Notizen der Biografie u. Weltsicht seines 1971 das Restaurant »Spoerri« u. die Eat Art Wirts auf der Insel Symi zu. Bühnenbilder Gallery in Düsseldorf. Seit 1977 Inhaber von von S. entstanden u. a. zu Calderons Das Leben Professuren in Köln, Hamburg u. München, ein Traum, Molières Menschenfeind, Heinrich siedelte er 1983 von Frankreich nach Manns Professor Unrat u. Topors Leonardo hat’s Uebersdorf/Schweiz über, verlegte seinen gewusst. Lebens- u. Arbeitsmittelpunkt 1989 nach PaWeitere Werke: Ja Mama, das machen wir. In: ris u. nach Italien, ehe er 2008 nach Wien zog, Modernes Schweizer Theater. Egnach 1964 (D.). – wo er seitdem lebt. 2009 eröffnete er in Krems Freunde & Freunde. friends. fruend. Stgt. 1969 sein »Ab Art«-Haus als Stauraum für sein (Ausstellungskat.). – Gastronomisches Tgb. Bln./ Neuwied 1970. Hbg. 1995. – My Mythological Werk. S.s bildnerisches u. literar. Werk, eine Ar- Travels. New York 1970. – Hommage à Isaac Feinstein – Motto: Daniel du Apfel falle nicht weit vom chäologie der Gegenwart u. Spurensicherung Stamm. Amsterd. 1971 (Ausstellungskat.). – Die der Minimaläußerungen menschl. Kultur, ist breton. Hausapotheke (zus. mit Marie Louise Plesprovozierende Erhebung von unbeachtet sen). Köln 1976. – Entwurf zu einem Lexikon eines Alltäglichem in den Rang der Kunst u. Ent- Musée sentimental de Cologne (zus. mit M. L. larvung von Scheinhaftigkeit der Kunst zgl., Plessen u. Wolf Herzogenrath). Ebd. 1979. – Le die die eigene Autorschaft in der Bejahung Musée sentimental de Prusse (zus. mit M. L. Plesder Mitarbeit des Zufalls u. des Zuschauers sen). Bln. 1981. – Journal Gastronomique. Genf 1998. – Anekdochotomania. S. über S. Ostfildern zurücknimmt. S. schuf als Herausgeber u. Autor in der 2001. – S. beschreibt 54 Werke (CD-Textbuch). Zeitschrift »material« (4 Bde., Darmst. Basel 2001. – Eat Art – D. S.s Gastronoptikum. Mit Illustrationen v. Heribert Schulmeyer u. einem 1957–59) der konkreten Poesie ein Forum. In Vorw. v. Barbara Räderscheidt. Hbg. 2006. den zusammen mit Claus Bremer aufgestellLiteratur: S.-Retrospektive. Hg. Bazon Brock. ten Beispielen für das dynamische Theater (Wiesb. Innsbr. 1981. – S. Leben u. Werk. In: Du (Januar1960) wird der Bedeutung des Rezipienten heft) 1989 (mit Beiträgen v. Dieter Bachmann, Jan Rechnung getragen, indem das Spannungs- Runnquist, Claus Bremer, B. Brock u. Irmelin Lefeld zwischen vorgegebener Inszenierung u. ber). – Otto Hahn: Piège. Paris 1990. – Ewa EsEinflussnahme von Publikum u. Schauspieler terhazy: Das gastronom. Theater des S. Diss. Wien ausgelotet u. im Autotheater (Antwerpen 1959) 1997. – Heidi Violand-Hobi: S. Mchn. 1998. – S. – zu einer Konzeption entwickelt wird, in Zyklus des Lebens. Interview mit Jürgen Raap. In: welcher der Zuschauer in speziell eingerich- Kunstforum 159 (April-Mai 2002) S. 73–91. – teten Bühnenräumen sein eigener Schau- Manfred Scheyko: Ein Sommer mit S. TV-Porträt spieler ist. Die Anekdoten zu einer Topographie (Arte) 2010. Michael Geiger / Günter Baumann des Zufalls (Neuwied/Bln. 1968) beschreiben in literar. Umsetzung des Prinzips des FalSpohn, Jürgen, * 10.6.1934 Leipzig, lenbildens 80 sich am 17.10.1961 auf S.s † 18.6.1992 Berlin. – Grafiker; KinderHotelzimmertisch befindl. Gegenstände samt buchautor. ihrer Geschichte. Zunächst mit Robert Filliou französisch verfasst (Paris 1962), von Emmet S. studierte Grafik an der Hochschule für Williams ins Englische übertragen u. kom- Bildende Künste in Kassel. 1961 zog er nach mentiert (New York 1962), von Dieter Roth Berlin, wo er 1972 Professor für Grafik u. ins Deutsche übersetzt u. mit Zusätzen ver- Design an der Hochschule der Künste wurde. sehen u. anschließend von S. deutsch kom- – S. veröffentlichte zahlreiche Kinderbücher mentiert, ist dieses work in progress zgl. mit eigenen Illustrationen. Seine iron. Verse Vorläufer des artist’s book. Setzen die Texte wollen die jungen Leser zu einer neugierigen zu den »Zimtzauberobjekten« (in: Dokumente u. fragenden Haltung gegenüber ihrer Umzur Krims Krams Magie. Hbg. 1971) die Tradi- welt veranlassen (Ach so! Ganzkurzgeschichten tion der Gegenstandsbeschreibung fort, und Wünschelbilder. Mchn. 1982) oder zu wendet sich S. in Kosta Theos: Dogma I am a God schöpferischem Spiel animieren (Moritz kann (Duterswil/Brüssel 1987) in Gesprächen u. ... Ravensburg 1987). Neben zahlreichen in-

Spranger

ternat. Auszeichnungen erhielt S. 1981 den Deutschen Jugendbuchpreis. Weitere Werke: Drunter u. Drüber. Mchn. 1980. 1996. – falamaleikum (zus. mit Ernst Jandl). Darmst. 1983. – Augenreise durch die Provence. Foto-Essay. Dortm. 1984. 111992. – Das SchnepfenKöfferchen. Stgt. 1985. – Schnabeljau. Stgt./Wien 1986. – Reise nach nebenan. Holzschnitte u. Gedichte. Ffm. 1990. – Pardauz & Co. Zürich/Frauenfeld 1991. Literatur: Bernd Dolle-Weinkauff: Anstiftung zur Einbildung. Erzählerrollen im Kinderbuch am Beispiel v. Heinrich Hannover, Janosch u. J. S. In: Germanistik u. Deutschunterricht im Zeitalter der Technologie. Hg. Norbert Oellers. Bd. 3, Tüb. 1988, S. 219–226. – Jens Thiele (Hg.): Drunter & drüber: J. S. Illustrationen, Holzschnitte, Plakate. Oldenb. 1994 (Ausstellungskat.). Ilse Auer / Red.

Spranger, (Franz Ernst) Eduard, * 27.6. 1882 Berlin, † 17.9.1963 Tübingen; Grabstätte: ebd., alter Stadtfriedhof. – Philosoph u. Pädagoge. Nach dem Philosophiestudium, der Promotion 1905 bei Friedrich Paulsen u. der Habilitation 1909 in Berlin (Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee. Bln. 1909. 21928) wurde S. 1911 Professor für Philosophie u. Pädagogik an der Universität Leipzig, 1919 in Berlin, 1946 in Tübingen. Auf die Habilitationsschrift folgten drei Bücher (Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens. Bln. 1910. Tüb. 31965. Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit. Halle 1914. Revidiert 51925. Tüb. 9 1966. Psychologie des Jugendalters. Lpz. 1924. Heidelb. 291979). Sie begründeten S.s Ruf – weit über die Fachgrenzen, die Universität u. über Deutschland hinaus – als eines Deuters der geistigen Welt aus dem Geist des Neuhumanismus u. der geisteswissenschaftl. Kulturtheorie. Die Lebensformen u. die Psychologie des Jugendalters dienten vielen Generationen von jungen Menschen – wie ihren Eltern u. Lehrern – als Orientierung zur (Selbst-)Bildung. S.s Kulturpädagogik ist auch bestimmt durch die Kategorie der geistigen »Erweckung« u. durch die Verbindung von allg. mit praktischberufl. u. -lebenskundl. Bildung. Pestalozzis u. Goethes Denkformen sind sei-

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ne Vorbilder (Pestalozzis Denkformen. Stgt. 1947. Erw. Heidelb. 21959. Goethe. Seine geistige Welt. Tüb. 1967). Er betonte die bes. dt. Bildungstradition u. ihr preuß. Pflichtethos (Der Philosoph von Sanssouci. Bln. 1942. Erw. Heidelb. 21962). Stand S. der Republik vor 1933 skeptisch gegenüber, wandelte er sich aufgrund der Erfahrungen in der NS-Zeit u. im Umkreis der Berliner Mittwochsgesellschaft zum überzeugten Demokraten. Im Spätwerk orientierte er sich an metaphysischchristl. Humanität (Die Magie der Seele. Bln. 1947. Erw. Tüb. 21949. Der unbekannte Gott. Stgt. 1954). S. prägte nach beiden Weltkriegen die Lehrerbildung in Deutschland u. war maßgeblich beteiligt an der Etablierung der Pädagogik als selbstständiger akadem. Disziplin in der Tradition seines Lehrers Wilhelm Dilthey. Weitere Werke: Ges. Schr.en. 11 Bde., Tüb. 1969–80. – Georg Kerschensteiner, E. S.: Briefw. 1912–31. Mchn. 1966. Literatur: Bibliografien: Theodor Neu: Bibliogr. E. S. Tüb. 1958. – In: Pädagog. Rundschau 16 (1962), S. 631–644 (Forts.). – Festschriften: Geistige Gestalten u. Probleme. Lpz. 1942. – Erziehung zur Menschlichkeit. Tüb. 1957. – E. S. Bildnis eines geistigen Menschen unserer Zeit. Heidelb. 1957. – Weitere Titel: E. S. Sein Werk u. sein Leben. Ebd. 1964. – Walter Eisermann, Hermann J. Meyer u. Hermann Röhrs (Hg.): Maßstäbe. Perspektiven des Denkens v. E. S. Düsseld. 1983. – Werner Sacher: E. S. Ein Erziehungsphilosoph zwischen Dilthey u. den Neukantianern. Ffm. 1988. – Uwe Henning u. Achim Leschinsky (Hg.): Enttäuschung u. Widerspruch. Die konservative Position E. S.s im Nationalsozialismus. Weinheim 1991. – Joachim S. Hohmann (Hg.): Beiträge zur Philosophie E. S.s. Bln. 1996. – Jürg Blickenstorfer: Pädagogik in der Krise. Hermeneut. Studie, mit Schwerpunkt Nohl, S., Litt zur Zeit der Weimarer Republik. Bad Heilbrunn 1998. – Karin Priem: Bildung im Dialog. E. S.s Korrespondenz mit Frauen u. sein Profil als Wissenschaftler (1903–1924). Köln u. a. 2000. – Gerhard Meyer-Willner (Hg.): E. S. Aspekte seines Werks aus heutiger Sicht. Bad Heilbrunn 2001. – Ute Waschulewski: Die Wertpsychologie E. S.s. New York u. a. 2002. – Peter Drewek: E. S. (1882–1963). In: Klassiker der Pädagogik. Hg. Heinz-Elmar Tenorth. Mchn. 2003, S. 137–151. – Manfred Karsch: Identität als Einheit des Heterogenen. Untersuchungen zur Begründung einer Kulturpädagogik im Spannungsfeld v. Affirmation

143 u. Autonomie bei E. S. u. Ernst Troeltsch. Bochum/ Freib. 2003. – W. Sacher u. Alban Schraut (Hg.): Volkserzieher in dürftiger Zeit. Studien über Leben u. Wirken E. S.s. Ffm. 2004. – A. Schraut: Biogr. Studien zu E. S. Bad Heilbrunn 2007. – Benjamin Ortmeyer: E. S. u. die NS-Zeit. Forschungsbericht. Ffm. 2008. – Michael Fontana: ›... jener pädagog. Stoß ins Herz‹. Erziehungswiss. u. biogr.-polit. Kontinuitäten u. Diskontinuitäten im Leben u. Werk E. S.s. Ffm. u. a. 2009. – Peter Gutjahr-Löser (Hg.): Theodor Litt – E. S. Philosophie u. Pädagogik in der geisteswiss. Tradition. Lpz. 2009. – Benjamin Ortmeyer: Mythos u. Pathos statt Logos u. Ethos. Zu den Publikationen führender Erziehungswissenschaftler in der NS-Zeit. E. S., Herman Nohl, Erich Weniger u. Peter Petersen. Weinh. 2009. 22010. – A. Schraut u. W. Sacher: E. S. In: NDB. Ulrich Herrmann / Red.

Spranger, Günter, * 3.5.1921 Chemnitz, † 21.5.1992 Chemnitz. – Erzähler, Kriminal- u. Hörspielautor. S., Sohn eines Maurers, wurde nach dem Abitur 1939 zu Arbeits- u. Kriegsdienst verpflichtet u. mehrfach verwundet. Seit 1946 war er Fachlehrer für alte Sprachen in KarlMarx-Stadt (Chemnitz), wo er seit 1968 als freier Schriftsteller lebte. Seit 1949 schrieb S. Erzählungen (Der Tod zwischen den Schlachten. Bln./DDR) u. Romane (Stützpunkt Rokitno. Ebd. 1957), die sich mit dem Grauen des Zweiten Weltkriegs auseinandersetzen. »Aber«, schreibt er in dem biogr. Beitrag Interview für ein Staatsexamen (in: Dabeisein – Mitgestalten. Ebd. 1960), »was einen [...] so aufgewühlt hat, erweist sich literarisch als ungemein fruchtbar. Das war der Motor, der mich [...] antrieb, meine Stimme gegen den Krieg zu erheben.« 1966 erschien in Ost-Berlin der Spionageroman Die Reise nach Wien. Seit den 1970er Jahren schrieb S. erfolgreich Kriminalromane (1986: 1,3 Mio. Gesamtauflage) – für die DDR damals noch ein ungewöhnl. Genre –, die Vergnügen an spannender Unterhaltung mit Informationen über histor. u. zeitgeschichtl. Vorgänge verbinden (Die Bernsteinbrosche. Rudolstadt 1975. 1989). Weitere Werke: Das Schloß in der Rhön. Rudolstadt 1959 (R.). – Der Weg in die Festung. Ebd. 1963. 81986 (R.). – Treffpunkt Bern. Ebd. 1970.

Spreng 1987 (Kriminalroman). – Die ferne Wahrheit. Bln./ DDR 1977. 31989 (R.). – Das Lügenspiel. Der Kriminalfall Grete Beier. Rudolstadt 1980. Chemnitz 2004. – Der rote Sperling v. Siebenlehn. Rudolstadt 1985 (histor. Kriminalroman). Gesine von Prittwitz / Red.

Spreng, Johann Jakob, * 31.1.1699 Basel, † 24.5.1768 Basel. – Philologe, reformierter Prediger, Kirchenlieddichter. Der Sohn eines durch seine »Schreibschule« bekannten Schreiblehrers am Gymnasium in Basel studierte Theologie in seiner Heimatstadt, war zunächst Hauslehrer in Wien, dann Prediger in den reformierten Gemeinden von Heilbronn, Perouse (1728) u. Ludweiler (1738), seit 1746 Geistlicher am Waisenhaus in Basel, der durch eine strenge Haltung gegen den Pietismus hervortrat. Als Prediger nicht gelitten, erhielt er 1741 eine a. o. Professur für dt. Poesie u. Beredsamkeit in Basel u. muss als Mitbegründer der germanistischen Wissenschaft gelten. S. veranlasste Bodmer zur Herausgabe der Manessischen Handschrift u. trat selbst als Editor hervor. Ein Wörterbuch der dt. Sprache ist Manuskript geblieben u. liegt in 22 Bänden in der Universitätsbibliothek Basel. 1723 zum Poeta laureatus gekrönt, suchte S. vergeblich, Ambrosius Lobwassers Psalmen durch eine in Metrum u. Reim strenge Neuübersetzung zu verdrängen u. mit eigenen Gedichten Einfluss auf ein neues Gesangbuch zu nehmen (vgl. Psalm 23: »Mein Jesus ist der gute Hirt / der mich verpflegt und schützet / der mich mit Allem segnen wird / was er nur selbst besitzet / den auch der Tod nicht von mir trennt / und der alleine sucht und kennt / was meiner Seelen nützet.«). Weitere Werke: Auserlesene, geistreiche Kirchen- u. Haus-Gesänge [...]. Basel 1741. – Neue Übers. der Psalmen Davids, auf die gewöhnl. Singweisen gerichtet [...]. Ebd. 1741 u. ö. – Geistl. u. weltl. Gedichte. Erster Theil. Zürich 1748. Ausgaben: Internet-Ed. mehrerer Texte in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Literatur: Koch 6, S. 105–108. – Adolf Socin: J. J. S. In: ADB (weitere Lit.). – Goedeke, Bd. 4,1, S. 18. – Günther Volz: Der Ludweiler Pfarrer J. J. S. In: Saarbrücker Hefte 12 (1960), S. 39–43. – Harold Jantz: S.’s Swiss Anthology of 1723. In: MLN 78

Spreng (1963), S. 427–430. – BBHS, Bd. 8, S. 115–117. – Erich Wenneker: J. J. S. In: Bautz. – Bettina Volz: . . ›Mache Du sie lacherlich u. staupe sie mit Verachtung‹. Zur Kritik an den Herrnhutern u. ihrer Sprache am Beispiel der schweizer. moral. Wochenschrift ›Der Eidsgenoss‹ (1749). In: Interdis. . ziplinare Pietismusforschung [...]. Hg. Udo Strater. 2 Bde., Tüb. 2001, Bd. 1, S. 465–79. – Martin Staehelin: J. J. S. (1699–1768) über Kuhreihen u. Namengebung. In: Lit., Gesch., Literaturgesch. FS Volker Honemann. Hg. Nine Miedema u. a. Ffm. 2003, S. 335–349. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 1972–1974. Heimo Reinitzer / Red.

Spreng, Johannes, * 1524 Augsburg, † 30.3.1601 Augsburg. – Meistersänger u. Übersetzer. Schon früh wurde S. offenbar Mitgl. der heimatl. Meistersängerschule (erste Lieder aus den Jahren 1547–1550). Seine akadem. Ausbildung ist dokumentiert durch den in Wittenberg erworbenen Magistertitel (31.7.1554). Nach Tätigkeiten als Schul- u. Schreibmeister in Augsburg (1555–1561) wandte sich S. nach Heidelberg (immatrikuliert 5.11.1561), wo er sich wohl um juristische Kenntnisse bemühte, am Pädagogium lehrte u. in engeren Kontakt u. a. zu dem Philologen Wilhelm Holzmann (gen. Xylander) u. dem Dichter Johannes Posthius trat. Um seine soziale Situation zu verbessern, bewarb sich S. mit Erfolg um die Würde eines »kaiserlichen Notars«. Von 1563/64 bis zum Tod führte er in seiner Heimatstadt eine erfolgreiche Kanzlei (Urkunden im Stadtarchiv Augsburg). Neben wenigen lat. Gedichten (Beispiele im Internetportal CAMENA) schrieb S., angelehnt an ältere »Töne«, mehr als 300 geistl. u. weltl. Meisterlieder, in denen er sich auch darum bemühte, Stoffe der antiken Dichtung dem Laienpublikum zu vermitteln. Dies gilt gleichfalls für die in vierhebigen Reimpaarversen vorgelegten Übersetzungen klass. Epen. Besonders den Bedürfnissen des Kunsthandwerks u. den Interessen des Frankfurter Verlegers Siegmund Feyerabend diente zunächst eine exegetische Bearbeitung von Ovids Metamorphosen: Zu 178 Holzschnitten von Virgil Solis schrieb S. jeweils – nach romanischem Vorbild – eine Inhaltsan-

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gabe in Prosa, eine lat. Paraphrase in eleg. Distichen u. eine moralische Interpretation (Ovidii metamorphoses [...] Elegiaco versu expositae. Ffm. 1563. Paris 1583). Der dt. Fassung dieses Werks (Ffm. 1564. 1571) folgten eine Version der jüd. Historien des Josephus (ebd. 1569) sowie postum Übersetzungen von Vergils Aeneis (Augsb. 1610 u. ö. Zuletzt Ffm. 1629) u. Homers Ilias (Augsb. 1610 u. ö. Zuletzt Ffm. 1630). Dass es S. darauf ankam, eine Brücke zwischen städtisch-laikalen u. gelehrt-akadem. Wissensformen zu schlagen, belegt auch die bemerkenswerte dt. Übersetzung eines viel gelesenen moralisch-kosmolog. Lehrgedichts der ital. Renaissance aus der Feder des Pier Angelo Manzolli (Marcelli Palingenii Stellati Zodiacus Vitae, das ist Gürtel deß Lebens. Ffm. 1564. Lauingen 1599). Ausgaben: J. S. Meistergesänge. Hg. Ingrid Urban. Diss. Bln. 1967. – Zwei Texte in: Meisterlieder des 16. bis 18. Jh. Hg. Eva Klesatschke u. Horst Brunner. Tüb. 1993, Nr. 49 u. 103. Literatur: Verzeichnis der Lieder: RSM. Bd. 12, S. 99–190. – Zu Leben und Werk: Gustav Roethe: J. S. In: ADB. – Rudolph Pfeiffer: Die Meistersingerschule in Augsb. u. der Homerübersetzer J. S. Mchn./Lpz. 1919 (mit Werkverz.). – Ingrid Urban: Antike Dichtung in den weltl. Liedern des Meistersängers J. S. In: Euph. 55 (1961), S. 146–162. – Bodo Guthmüller: Picta Poesis Ovidiana. In: FS August Buck. Ffm. 1973, S. 171–188. – Wilhelm Schmidt-Thomé: J. S., Notar der Fugger u. Meistersinger. In: Dt. Notar-Ztschr. (1975), S. 709–715. – Vergil. Hss. u. Drucke der Hzg. August Bibl. Wolfenb. 1982, S. 164 f. (Kat.). – Petra Fochler: Fiktion als Historie. Der Trojan. Krieg in der dt. Lit. des 16. Jh. Wiesb. 1990, S. 82–96 (mit Textproben). – Dieter Merzbacher: Der grösseste Lohn, den die Poeten zu gewarten haben. Die Werke des Augsburger Magisters, Meistersingers u. Notars J. S. (1524–1601) in der Hzg. August Bibl. Wolfenbüttel. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgesch. 16 (1991), S. 79–124 (mit Werkverz.). – Reinhard Hahn: J. S. In: NDB. – Georg Simnacher: J. S. 1524–1601, Humanist, Meistersinger, Notar. In: Lebensbilder aus dem Bayer. Schwaben. Bd. 17. Hg. Wolfgang Haberl. Weißenhorn 2010, S. 77–98. Wilhelm Kühlmann

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Sprickmann, Anton Mathias, * 7.9.1749 Münster, † 22.11.1833 Münster. – Lyriker, Erzähler, Dramatiker. Nach dem Besuch des Gymnasium Paulinum in Münster studierte der Arztsohn 1766–1768 in Göttingen Rechtswissenschaft. Der 1769 in Harderwijk promovierte Jurist ließ sich 1770 als Advokat in seiner Heimatstadt nieder u. gelangte durch die Protektion des fürstbischöfl. Ministers u. Generalvikars Franz von Fürstenberg in die reformierte Verwaltung. 1774 wurde S. zum Regierungsrat ernannt; 1775/76 hielt er sich erneut zum Studium in Göttingen auf. 1777 führte er für die kurfürstl. Regierung erfolgreich einen schwierigen Prozess vor dem Reichskammergericht in Wetzlar. 1778 erhielt er eine Professur für dt. Reichsgeschichte u. Staats- u. Lehnsrecht an der Universität Münster. 1791 wurde er zum Hofrat u. Kommissar der fürstl. Lehenskammer befördert. 1803 berief man ihn zum preuß. Regierungsrat am Oberappellationsgericht in Münster. Unter frz. Herrschaft erfolgte 1811 die Bestellung zum Tribunalrichter. 1814 nahm S. den Ruf auf einen Lehrstuhl der Jurisprudenz an der Universität Breslau an. Nachdem er 1817–1829 an der juristischen Fakultät der Berliner Universität gelehrt hatte, verbrachte er seinen Lebensabend in der westfäl. Heimatstadt. Die empfindsame Natur- u. Liebeslyrik S.s steht zunächst im Zeichen des Göttinger Hainbundes, zu dessen Mitgliedern er enge Kontakte pflegte. Seine Lyrik u. Erzählungen wurden in angesehenen Musenalmanachen u. im von Heinrich Christian Boie herausgegebenen »Deutschen Museum« publiziert. Das Trauerspiel Eulalia (Lpz. 1777. Hildburghausen/New York 31854) u. die Lustspiele Die Natürliche Tochter (Münster 1774) u. Der Schmuck (ebd. 1780) orientierten sich an der Dramatik des Sturm und Drang. Der Schmuck war ein erfolgreiches Stück auf dt. Bühnen. Es wurde 1779 in Wien von der Intendanz des Hof- u. Nationaltheaters preisgekrönt; 1800 brachte Goethe die Komödie in Weimar auf die Bühne. Zahlreiche Werke entstanden für das 1775 eröffnete Theater in Münster, an dessen Aufbau S. als Haupt der dort 1773

Sprickmann

gegründeten »Literarischen Gesellschaft« maßgeblich beteiligt war. Als Opern- u. Operettenlibrettist (Die Wilddiebe. Ebd. 1774. Der Geburtstag. Den Haag 1775) lehnte sich S. an die Singspiele Christian Felix Weisses an. S. litt stark am Widerstreit zwischen berufl. u. familiären Pflichten u. seinen leidenschaftl. literar. Ambitionen. Nach mehreren schweren Krisen beendete er im Zuge einer religiösen Einkehr auf der Basis des Katholizismus 1779 sein dichterisches Schaffen, um sich ganz den berufl. Pflichten zu widmen. Der langjährige Mitarbeiter Fürstenbergs gehörte dem Münsteraner Kreis um Amalia Fürstin von Gallitzin an. Er förderte westfäl. Literaten wie Franz von Sonnenberg, Friedrich Raßmann, Katharina Schücking u. Theobald Wilhelm Broxtermann u. wurde literar. Mentor der jungen Annette von Droste-Hülshoff. S. gilt als der einzige bedeutende Vertreter des Sturm und Drang in Westfalen. Weitere Werke: Der Tempel der Dankbarkeit. Münster 1775 (Singsp.). – Das Mißverständniß. Wien 1778 (D.). Ausgaben: ›bin ich denn nur Schönschreyber?‹ Ein A. M. S. Lesebuch. Hg. Erpho Bell u. Walter Gödden. Münster 1999. – Erzählungen u. autobiogr. Prosa. Hg. Jörg Löffler. Bielef. 2005. – A. M. S. Dichter u. Jurist. Eulalia (Schauspiel, 1777). Mit einem Komm. v. W. Gödden u. J. Löffler. Ueber die Eyde (Gutachten, 1787). Mit einem Komm. v. Thomas Vormbaum. Bln. 2006. – ›... ewig in diesem Himmel die Hölle leiden‹. A. M. S. – Heinrich Christian Boie. Briefw. 1775–1782. Hg. Jochen Grywatsch. Bielef. 2008. Literatur: Westf. Autorenlex. 1. – Walter Gödden: Der Schwärmer. Die verschollene Lebensgesch. des westfäl. Sturm-und-Drang-Dichters A. M. S. Paderb. u. a. 1994. – Britta Domke: A. M. S. als Dramatiker. Studien zur Interpr. seiner Werke u. zum literaturhistor. Kontext. Bielef. 1999. – A. M. S. (1749–1833). ›Dank Gott und Fürstenberg, daß sie mich auf den Weg brachten‹. Ausstellung zum 250. Geburtstag in der Universitäts- u. Landesbibl. Münster vom 5. Nov. bis zum 23. Dez. 1999. Hg. Erpho Bell. Münster 1999. – Wolf Lammers: A. M. S. Ein Juristenleben. Münster u. a. 22005. – W. Gödden: A. M. S. In: NDB. Peter Heßelmann

Springenschmid

Springenschmid, Ingo, * 22.9.1942 Salzburg. – Maler, Konzeptkünstler, Verfasser experimenteller Lyrik u. Prosa, Essayist.

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Verhältnis von Sprache u. Bild ist auch immer wiederkehrendes Thema in den Essays, Vernissagereden, Katalogtexten u. Werkbesprechungen aus den Jahren 1974 bis 2000, die S. 2002 in dem Sammelband Kunst zu Lesen (Bregenz 2002) veröffentlicht hat. Für sein literar. u. umfangreiches bildnerisches Werk wurde S. u. a. 1984 mit dem Rauriser Förderungspreis u. 1992 mit der Ehrengabe für Kunst u. Wissenschaft des Landes Vorarlberg ausgezeichnet.

Der Sohn des Schriftstellers u. Kulturpolitikers Karl Springenschmid studierte an der Kunstschule Linz u. an der Akademie der Bildenden Kunst in Wien. Seit 1970 lebt S. in Bludenz/Vorarlberg. Sowohl in seiner Konzeptkunst als auch in seinen literar. Werken verbindet S. Sprache mit Bildern. In seinen literar. Werken setzt er Weitere Werke: Tische. Bregenz 1973 (P.). – nicht nur Bilder neben Texte, sondern ver- Pattstellung. Linz 1987 (P.). – Kap. Bludenz 1995 sucht auch, die Sprache selbst als etwas Bild- (L.). haftes, Dingliches darzustellen. Indem er die Literatur: Jürgen Thaler: Arrangement v. SätLinearität, das zeitl. Nacheinander der Texte zen u. Wörtern. I. S.s ›sonders & samt‹. In: LuK aufhebt oder unterbricht, will er das Lesen (1997), H. 317, S. 95 f. – Thomas Eder: Kunst zu der Worte in ein Sehen der Worte umwan- Schreiben. Einige Aspekte zum Verhältnis von Lit. deln. Den Leseprozess stört S. u. a. über die u. bildender Kunst im literar. Werk I. S.s. In: Jb. Umstellung von Silben, Worten u. Sätzen. des Franz-Michael-Felder-Archivs (2003/2004), Wesentlich ist die Umkehrung des Gesagten S. 69–81. Gerald Leitner / Yara Staets mit gleichen Worten im folgenden Textteil oder die Wiederholung des Gesagten mit gleichen Worten in umgekehrter Reihenfol- Springenschmid, Karl, auch: Christian ge. Häufig können darüber hinaus Sätze, Kreuzhakler, Beatus Streitter, * 19.3.1897 Gedichte u. Texte zgl. vom Anfang u. vom Innsbruck, † 5.3.1981 Salzburg. – ErzähEnde her gelesen werden. Nicht zuletzt wird ler, Dramatiker, Jugend- u. Sachbuchin allen Werken die Wahrnehmung der autor, politischer Schriftsteller; nationalSprache von der visuellen Anordnung der sozialistischer Kulturpolitiker. Texte sowie deren Kombination mit S.s ei- Nach dem Besuch der Lehrerbildungsanstalt genen Bildern beeinflusst. In Handschreiben in Salzburg war S. seit 1915 Soldat an der (St. Gallen 1981) unterbrechen durchstriche- Dolomitenfront (Costabella. Berg meiner Jugend. ne Texte, in eine Landschaft gesetzte Buch- Graz/Stgt. 1973; R.). Nach der Kriegsgefanstabenreihen, eingerissene oder auf den Kopf genschaft (bis 1919) war er bis zu seiner gestellte Seiten den gewohnten Lektürevor- Entlassung aus dem Schuldienst 1935 (wegen gang. Seine Auffassung von der Parallelität der Zugehörigkeit zur damals in Österreich von Sprache u. Bild visualisiert u. themati- illegalen NSDAP seit 1932) Lehrer im Land siert S. in Parallelstrategien (Bludenz 1992) u. a. Salzburg. In dieser Zeit entstanden Schullemit Gedichten, poetolog. Texten u. Papier- sebücher (Was der Hochleitner Thomerl erzählt. collagen. In sonders & samt (Linz/Wien 1997) Wien 1924. Wie der Schinagl durchs Salzburger greift er den Streit zwischen J.A.M. Whistler Land zog. Wien 1925), aber auch das Leben im u. O. Wilde über die Frage auf, ob eher ein bäuerl. Milieu (Das Bauernkind. Mchn. 1926) Dichter oder ein Künstler über Kunst spre- u. in den Bergen (Der Sepp. Der Lebensroman chen dürfe. Die eigene Position verdeutlicht Sepp Innerkoflers. Ebd. [1931]. 521950. Am Seil S. mit einer künstlerischen Beschreibung ei- vom Stabeler Much. Ebd. 1933. 501971; E.en) nes Gemäldes Whistlers. Vor allem in diesem darstellende Prosawerke. Werk gelingt es S., über zahllose WiederhoS. war nicht nur im Bekenntnisbuch österreilungen u. Variationen einzelner Textbe- chischer Dichter (Wien 1938) vertreten, er war standteile u. eingeschobene Zeitkorrekturen seit 1938 Gauamtsleiter für Erziehung u. das zeitl. Nacheinander des Textes in ein Unterricht sowie Schulungsleiter im Reichsräuml. Nebeneinander zu überführen. Das gau Salzburg, seit 1941 mit dem Titel eines

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Regierungsdirektors, u. organisierte Ende Preußisch Oldendorf 1980) sowie Kinder- u. April 1938 in Salzburg eine Bücherverbren- Jugendbücher, darunter Sieben Mädchen im nung. Der NS-Ideologie verpflichtet sind Schnee (Gött. 1978). seine »geopolitischen« Schriften (Deutschland Weitere Werke: Sechs gegen Napoleon. Tiroler kämpft für Europa. Lpz. 1937), die Bauernro- Buben 1809. Eingel. v. Franz Karl Ginzkey. Graz mane (Saat in der Nacht. Bauernschicksal in Süd- 1933 (R.). – Großmächte unter sich. Die geopolit. tirol. Salzb. 1936), die im Blut-und-Boden- Grundlagen der Großmachtpolitik. Salzb. 1934. – Denken den Bauern als »deutschen Soldaten« Der dt. Schalk kuriert die sieben Laster. Mchn. 1935 typisieren, u. die Gebirgsgeschichten mit ih- (Lustsp.). – Da lacht Tirol. Gesch.n aus dem Tiroler Volksleben. Stgt. 1935. – Dtschld. geopolitisch gerer Verschmelzung von Krieg u. Klettertour sehen. Lpz. 1936. – Nové. Mädchenschicksal zwi(Europa auf tirolisch, erlebt von den Gebirgsjägern. schen Ost u. West. Graz 1951 (R.). – Die TschulleStgt. [1942]). Unter dem Pseud. Christian rerbuben. Abenteuer in den Dolomiten. Salzb. 1952 Kreuzhakler veröffentlichte er 1938 Österrei- (E.en). – Ein Mensch unterwegs. Frauenarzt Lujka chische Geschichten aus der Zeit des illegalen aus Czernowitz. Graz 1955 (R.). – Aktion Eisvogel. Kampfes (Mchn.). Das von S. verfasste Lam- Wien/Stgt. 1956 (R.). – Die letzten Lützows. Wie prechtshausener Weihespiel zur Feier der 420 ostpreuß. Hitlerjungen 1945 aus Kampf u. »Heimkehr der Ostmark« sollte ab 1938 als Einsatz gerettet wurden. Vaterstetten 1977. U. d. T. Volksspiel die alljährl. Aufführung des Jeder- Raus aus Königsberg! Wie 420 ostpreuß. Jungen Kampf u. Einsatz gerettet wurden. Kiel mann von Hugo von Hofmannsthal auf dem 21945 aus 1981. 31993. – Christl v. der Fürleghütte. Düsseld. Salzburger Domplatz ersetzen; es wurde bis 1965 (R.). – Servus Heiner! Erinnerungen an Karl Kriegsbeginn auf einer eigens errichteten Heinrich Waggerl. Mit unveröffentlichten Origi»Naturbühne« in der Nähe von Lamprechts- nalzeichnungen v. K. H. Waggerl. Mchn. 1979. – hausen bei Salzburg zweimal aufgeführt. Verlobung auf der Kampenwand. Ostfildern 1980 Nach der Beteiligung am Zweiten Welt- (R.). krieg (Tirol am Atlantischen Ozean. Gebirgsjäger Literatur: Klaus Zelewitz: Mittelalterliches im auf ›unkriegerischer Kriegsfahrt‹ durch Norwegen. volkstüml. kath. Restaurationstheater im Österr. Salzb. 1941) entzog sich S., zunächst als der Zwischenkriegszeit. Hugo v. Hofmannsthal, mutmaßl. Kriegsverbrecher gesucht, der Max Mell, Rudolf Henz u. K. S. In: MA-Rezeption Verhaftung durch Flucht u. versteckte sich bis IV: Medien, Politik, Ideologie, Ökonomie. Hg. Ire1951 in den Bergen. Anders als in der ne v. Burg u. a. Göpp. 1991, S. 117–132. – Andrea gleichnamigen Erzählung Stifters, auf den er Reiter: K. S.: ›Der Waldgänger‹. Rechtfertigungsprosa im Biedermeierstil? In: Macht Lit. Krieg. sich irreführend bezieht, geht es S. in dem Österr. Lit. im Nationalsozialismus. Hg. Uwe Baur autobiografisch geprägten Roman Der Wald- u. a. Wien u. a. 1998, S. 307–319. Bruno Jahn gänger (Graz 1975) nicht um Schuldbekenntnis u. Reuegefühle, sondern um Rechtfertigung (KZ-Häftlinge werden als KriegsgeSpringer, Anton (Heinrich), * 13.7.1825 winnler bezeichnet). Musste S., dessen BePrag, † 31.5.1891 Leipzig. – Kunsthistorufsverbot durch Bundespräsident Theodor riker, Publizist, Historiker, Politiker. Körner 1953 aufgehoben wurde, anfangs seine von unverändert völk. Gesinnung zeu- Der Sohn eines Klosterbraumeisters begann genden Werke noch unter Pseud. erscheinen 1841 in Prag ein Studium der Philosophie u. lassen, konnte er schon bald wieder regulär Kunstgeschichte, das er 1847 in Tübingen, publizieren. Umfangreichen Kriegsbüchern wo er v. a. Vischer hörte, mit einer Disserta(Es war ein Edelweiß. Schicksal und Weg der zweiten tion über Die Hegel’sche Geschichtsanschauung Gebirgsdivision. Ein Gedenkbuch. Zus. mit Mat- abschloss, in der er dessen Geschichtsmetathias Kräutler. Graz/Stgt. 1962. Die Männer physik positivistischer Kritik unterzog. Wievon Narvik. Das große Abenteuer in der Arktis. der in Prag, trat er 1848 publizistisch für eine Ebd. [1968]) folgten u. a. Werke zum Thema föderative Ordnung der k. k. Monarchie ein; Südtirol (Schicksal Südtirol in Vergangenheit und habilitiert in neuerer Geschichte, zog er mit Zukunft. Graz/Stgt. 1971. Der Jörg. Aus des Leben dem in demokratischem Geist gehaltenen des Südtiroler Freiheitskämpfers Georg Klotz. Kolleg Geschichte des Revolutionszeitalters (Prag

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1849) die Ungunst der Regierung auf sich. u. 1872. (Biogr.). – Albrecht Dürer. Bln. 1892. – Aus 1849 unternahm er eine Studienreise nach meinem Leben. Hg. Jaro Springer. Ebd. 1892. Literatur: Wurzbach. – Paul Clemen: A. S. In: den Niederlanden, Frankreich u. England; Dt. 1850 übernahm er die Redaktion der bald ADB. – Wilhelm Waetzoldt: A. S. In: Ders.: 2 1965, Kunsthistoriker. Bd. 2, Lpz. 1924. Bln. unterdrückten, da die kleindt. Lösung verS. 106–129. – Udo Kultermann: Gesch. der Kunsttretenden Zeitung »Union«. 1852 in Bonn für gesch. Wien/Düsseld. 1966. Neuaufl. Mchn. 1990, Kunstgeschichte habilitiert (wegen polit. S. 116 ff. – Wolf Weigand: A. S. In: Bautz. – WolfAnfeindungen erst 1859 Professor) u. auch gang Häusler: A. H. S. – der Historiker des Kremweiterhin als polit. Publizist (namentlich im sierer Reichstags. In: Kromeˇrˇízˇsky´ sneˇm Interesse Serbiens) tätig, erhielt er 1872 einen 1848–1849 a tradice parlamentarismu ve strˇ ední Ruf als Prorektor an die neu gegründete Evropeˇ. Red. Eva Danihelová. Kromeˇrˇízˇ 1998, Universität Straßburg, lehrte aber seit 1873, S. 255–266. – Peter Betthausen: A. S. In: MKunstzunehmend kränkelnd u. zurückgezogen le- histL. – Michel Espagne: L’histoire de l’art comme transfert culturel: l’itinéraire d’A. S. Paris 2009. – bend, als Ordinarius in Leipzig. Johannes Rössler: Poetik der Kunstgeschichte. A. Mit S.s Wirken vollzog sich der Übergang S., Carl Justi u. die ästhet. Konzeption der dt. der Kunstgeschichte zur streng wissen- Kunstwiss. Bln. 2009. – Ders.: A. S. In: NDB. schaftlich-empir. Disziplin u. somit auch von Arno Matschiner / Red. seiten der Historikerzunft die von ihm angestrebte »Anerkennung der Legitimität ihrer angeblichen Bastardschwester«. Dabei sah Springer, Sprenger, Balthasar, * 2. Hälfte sich S. zur Abgrenzung nach drei Seiten ver- des 15. Jh., Vils bei Füssen/Tirol, † um anlasst: gegen die kulturgeschichtl. Perspek- 1509/11. – Verfasser einer Reisebeschreitivierung Karl Schnaases, gegen den nach- bung. empfindenden Heroenkult Herman Grimms, Über Herkunft u. Leben S.s ist kaum etwas gegen die philosophische Ästhetik Vischers. bekannt. Wichtig ist er als Chronist der ersten Methodisch geleitete, theorieabstinente, v. a. Handelsreise nach Ostindien, die den neu um den Nachweis von Faktizität bemühte entdeckten Seeweg für die dt. HandelsgeAnalyse erhielt jetzt primären Stellenwert. S.s sellschaften öffnete. Durch ihren Faktor Luvornehml. Forschungsinteresse galt der cas Rem war es den Augsburger Welsern geKunst des ital. (v. a. die Doppelbiografie lungen, vom portugies. König Manuel in Raffael und Michelangelo. 2 Bde., Lpz. 1877. Lissabon ein Privileg für die Beteiligung am 3 1895) u. dt. MA, wobei er auch erstmals die Indienhandel zu erwerben (1504). Die Welser, Ikonografie als Hilfswissenschaft adaptierte Höchstetter, Imhof, Hirschvogel u. Gossem(Ikonographische Studien. Ebd. 1860). Weitere brot rüsteten drei Schiffe aus u. bestellten als bedeutende Arbeiten waren sein mehrfach ihre Vertreter Hans Mayr u. S. Die Schiffe übersetztes u. neu aufgelegtes Handbuch der »Hieronymus«, »Raphael« u. »Leonhard« Kunstgeschichte (Stgt. 1855. 6 Bde., Lpz. verließen am 25.3.1505 als erste dt. Indien1915–25) u. Über das Nachleben der Antike im fahrer Lissabon. Die Fahrt führte S. auf der Mittelalter (Straßb. 1867), eine Aby Warburgs »Leonhard« vorbei am Kap der Guten HoffBeschäftigung mit der Antikenrezeption nung über Ostafrika (Moçambique, Mombavorgreifende Studie. Als – rhetorisch mitrei- sa) nach Indien (Cananor, Calicut, Cochin) u. ßender – Lehrer wirkte S. schulbildend auf am 15.11.1506 nach Lissabon zurück. Sein fast eine ganze Generation von Kunsthistori- Reisebericht, der, von den Vorgaben antiker Erdbeschreibungen weitgehend unberührt, kern. Weitere Werke: Österr. nach der Revolution. die Erfahrungsmöglichkeiten eines durchPrag 1850. – Gesch. der bildenden Künste im 19. Jh. schnittlich informierten Kaufmanns seiner Lpz. 1858. – Gesch. Österreichs seit dem Wiener Zeit abbildet, ist in lat. u. dt. Sprache überFrieden. 2 Bde., ebd. 1863/64. – Bilder aus der liefert. S. fasste (vgl. Schulze) seine Tageneuern Kunstgesch. Bonn 1867. 21886 in 2 Bdn. – buchaufzeichnungen in einem lat. RechenFriedrich Christoph Dahlmann. 2 Bde., Lpz. 1870 schaftsbericht (1507/08) zusammen (Gießen,

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UB, Hs. 219; gedr. 1724), zentrierte eine erste Springer, Michael, * 8.8.1944 Henndorf volkssprachl. Ausgabe seiner Merfart publi- bei Salzburg. – Erzähler, Journalist, Hörkumswirksam auf sechs Holzschnitte von spielautor. Hans Burgkmair (Speyer 1508) u. konnte Nach dem Besuch einer Jesuitenschule u. eidarauf eine zweite, erweiterte Fassung mit nes humanistischen Gymnasiums studierte S. einem redigierten Bildprogramm veröffentTheoretische Physik in Wien. Im Anschluss lichen (1509). an die Promotion arbeitete er in einem Ausgaben: Die Merfart u. erfarung nüwer Kernreaktorinstitut. Die dort gemachten ErSchiffung u. Wege zu8 viln onerkanten Inseln u. fahrungen sind in den Roman Was morgen geKünigreichen [...], wie ich B. S. sollichs selbs in kurtzuerschynen zeiten gesehen u. erfaren habe. schah (Hbg. 1979. Tb.-Ausg. Mchn. 1982) (Oppenheim) 1509. Internet-Ed. in: VD 16. – Dass. eingearbeitet. S. war Redakteur bei der ZeitNeudr. mit Einf. v. Franz Schulze. Straßb. 1902. – schrift »Neues Forum« u. setzte sich kritisch Dass. in: Erhard u. Ramminger (1998). – Iter indi- mit der österr. Kultur- u. Gesellschaftspolitik cum [...]. In: Voyage littéraire de deux religieux auseinander. Er lebt heute als freier SchriftBénédictins de la congrégation de S. Maur. Hg. steller in Aachen. – S.s Romane orientieren Edmond Martène u. a. Bd. 2, Paris 1724. Nachdr. sich an der Science-Fiction-Literatur u. beFarnborough 1969, S. 361–378. schreiben die negativen Folgen gegenwärtiLiteratur: Bibliografie: Schmidt, Quellenlexi- gen Handelns. Oft sind ihnen didakt. Elekon, Bd. 29, S. 484 f. – Weitere Titel: Friedrich mente beigegeben, die dem Leser zeigen, dass Kunstmann: Die Fahrt der ersten Deutschen nach die Entwicklung zu einem schlechten Ende dem portugies. Indien. Mchn. 1861. – Friedrich noch umkehrbar ist. Der Roman Leonardos Ratzel: B. S. In: ADB. – Franz Hümmerich: Quellen u. Untersuchungen zur Fahrt der ersten Deutschen Dilemma (Hbg. 1986. Tb.-Ausg. Ffm. 1991) nach dem portugies. Indien 1505/1506. Mchn. beschreibt, wie die moralische Dimension 1918. – Ders.: Die erste dt. Handelsfahrt nach In- wissenschaftl. Handelns aus dem Blickfeld dien (1505/1506). Mchn./Bln. 1922. – Christoph v. gerät. Imhoff: Nürnbergs Indienpioniere [...]. In: Pirckheimer-Jb. 2 (1986 [1987]), S. 11–44. – Danielle Buschinger: B. S., un témoin occulaire allemand des voyages portugais de découvertes (1505–1506). In: Jbb. der Reineke-Gesellsch. 6 (1995), S. 11–24. – Andreas Erhard u. Eva Ramminger: Die Meerfahrt. B. S.s Reise zur Pfefferküste. Mit einem Faks. des Buches v. 1509. Innsbr. 1998. – Beate BorowkaClausberg: B. S. u. der frühneuzeitl. Reisebericht. Mchn. 1999. – Les ›Realia‹ dans la littérature de fiction au Moyen Age [...]. Hg. D. Buschinger. Amiens 2000. – D. Buschinger: Le récit de voyage d’un banquier augsbourgeois au début du XVIe siècle (1505–1506). In: Récits de pèlerinage et récits de voyage à travers les siècles. Hg. dies. Amiens 2002, S. 6–17. – Helgard Ulmschneider: B. S. In: VL, Bd. 11, Sp. 1443–1448 (mit Überlieferungsgesch. u. Lit.). – Gerhart Wolf: B. S.s ›Merfahrt‹ (1509). Die Entdeckung des literar. Reiseberichts. In: Austriaca 62 (2006), S. 11–28. – Reinhard Jakob: B. S. In: NDB. Horst Wenzel / Red.

Weitere Werke: Dübel & Dergl. Bln. 1972 (P.). – Modelle zur Kritik der Massenmedien (zus. mit Lutz Holzinger u. Jörg Zeller). Wien/Mchn. 1972. – Bronnen. Hbg. 1981. Tb.-Ausg. Mchn. 1983 (R.). – Natur. Lit., Wiss. In: kürbiskern. H. 3 (1986), S. 40–47. – Leben Sie wohl? Wien 1999 (R.). – Hörspiele: Homo homini leo. SWF 1973. – MASTA. SWF 1975. – Der Held der Pest auf Blo. SWF/HR 1977. – Gespräche im Brüter. SWF/BR 1980. – Was tun wir, wenn sie wiederkommen. SWF 1982. – Einfache Hinfahrt. SWF 1987. Waldemar Fromm / Red.

Springer, Robert (Gustav Moritz), auch: Adam Stein, * 23.11.1816 Berlin, † 21.10. 1885 Berlin. – Erzähler, Kritiker. Der Sohn eines Goldschmieds besuchte in Berlin die kgl. Realschule, anschließend das Lehrerseminar. Nach kurzer Tätigkeit an einer höheren Töchterschule entschied er sich für den Beruf des freien Schriftstellers. Über lange Jahre lebte er abwechselnd in Frankreich, Italien, Österreich u. Deutschland; 1853 ließ er sich endgültig in Berlin nieder, wo er Mitarbeiter großer Tageszeitungen war. Von S. stammen Skizzen über die auf-

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strebende Weltstadt (z. B. Berlin’s Straßen Kneipen und Klubs im Jahre 1848. Bln. 1850) u. Romane wie Garibaldi, das Haupt des jungen Italiens (3 Bde., ebd. 1871). Zudem widmete er sich literatur- u. kunstgeschichtl. Themen; ein bes. Schwerpunkt dabei war die Goethezeit (ges. in: Essays zur Kritik und Philosophie und zur Goethe-Literatur. Minden 1885. Charakterbilder und Scenerien. Ebd. 1886). Weitere Werke: Berlin wird Weltstadt. Bln. o. J. 1868. – Devrient u. Hoffmann oder Schauspieler u. Serapionsbrüder. 3 Bde., ebd. 1873. – Banquier u. Schriftsteller. Ebd. 1877. 2

Literatur: Ludwig Fränkel: R. S. In: ADB. Gesa Dane

Spruch von den Tafelrundern. – Kataloggedicht vom Ende des 15. Jh.

seinem Publikum die Fortsetzung der Auflistung, die leicht eine Woche in Anspruch nehmen könnte (vv. 251–254), vollmundig versagt. Der S. steht in der Tradition des desintegrierten Namenkatalogs, wie ihn erstmals die Ritterliste La Rounde table des Harleianus 4971 der British Library (14. Jh.) zu Chrétiens de Troyes Erec bietet. Seine nächsten Verwandten sind indes Püterichs von Reichertshausen Ehrenbrief (1462), die Namenliste der Wiener Handschrift 3406 (um 1466) u. der Katalog am Schluss von Ulrich Fuetrers Buch der Abenteuer (1473–1487). Mögliche Abhängigkeit des S.-Dichters von Püterich u. Fuetrer deutete auf den Münchner Hof Albrechts IV. von Bayern. Ausgabe: Hermann Menhardt: Ein S. v. d. T. In: PBB (Tüb.) 77 (1955), S. 136–144, 316–332. Literatur: Rüdiger Krüger: Studien zur Rezeption des sog. ›Jüngeren Titurel‹. Stgt. 1986, S. 171–175. – Nikolaus Henkel: S. v. d. T. In: VL. – Michael Müller: Namenkataloge. Funktionen u. Struktur einer literar. Grundform in der dt. Epik vom hohen MA bis zum Beginn der Neuzeit. Hildesh. u. a. 2003, S. 462–465. Christoph Fasbender

Der S. (256 Verse) ist in zwei genealog. Kollektaneenhandschriften aus dem engeren Umkreis Kaiser Maximilians I. erhalten. Hier ist das katalogartige Gedicht von den »tewristn so gelebt haben« sicher nicht entstanden, hier aber fügt es sich als Enzyklopädie zur als geschichtstreu aufgefassten Erzählliteratur des MA bestens ein. Die Bezeichnungen des als »spruch« überSpunda, Franz, * 31.12.1889 Olmütz/ schriebenen S.s mit »Spruchgedicht«, »NaMähren, † 1.7.1963 Wien. – Erzähler, Lymengedicht«, »Kataloggedicht« sind Notlöriker, Essayist. sungen. Der eingebürgerte Titel ist zudem missverständlich, insofern er einmal die auf Nach dem Besuch des Gymnasiums in Oldie »taflrunder« folgenden »kunig, hertzog mütz studierte der Schneidersohn S. in Wien, vnd furstn, grafn, herren, ritter vnd knechte«, München, Berlin u. Paris, wo er erste Bezudem aber auch die gut ein Drittel des Ge- kanntschaft mit okkultistischem Gedankensamten einnehmenden weiteren Stoffgrup- gut machte, Germanistik u. Romanistik sowie pen (vv. 201–248) unterschlägt. Philosophie u. Kunstgeschichte. 1913 wurde Der S. setzt mit den Gralkönigen nach dem er mit einer Arbeit über Petrarca-ÜbersetTiturel ein (1–23); es folgen das Geschlecht des zungen promoviert. Nach dem Kriegsdienst Königs Artus u. die Tafelrunde, aus der die (1914–1917) war S. im Schuldienst tätig. Seit Genealogie Parzivals gesondert abgehandelt 1918 unterrichtete er bis zu seiner Entlassung wird (vv. 24–102), sowie die übrigen Artus- aus polit. Gründen 1945 in Wien an einem ritter (vv. 103–158). Hier schließen sich die Realgymnasium Deutsch, Französisch u. Helden der nachklass. Romane (vv. 162–200), Philosophische Propädeutik. einige Figuren aus der Karlsepik (vv. S.s gesamtes Werk ist von dem starken In201–209) u., besonders ausführlich, die teresse des Autors an okkultistischen Themen Protagonisten der Melusine an (vv. 210 ff.); geprägt. So entwirft er in dem Essayband Der ausgesuchte Gestalten der Trojageschichte magische Dichter (Lpz. 1923) das Programm beenden die Parade (vv. 241–248). Durch den einer nachexpressionistischen Literatur, die S. führt ein sich souverän gerierender, dabei versuchen soll, rational nicht fassl. Daseinsaber recht ungelenk agierender Erzähler, der bereiche (auch durch mediales Schreiben)

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wiederzugeben. Noch deutlicher als an diesem theoret. Versuch, der von S.s umfassender Belesenheit ebenso zeugt wie von seiner Neigung zu synkretistischen Gedankenkonstrukten, wird seine Vorliebe für okkultistische Theoreme an den fantastischen Romanen, die teilweise in der von Gustav Meyrink besorgten Reihe »Romane und Bücher der Magie« erschienen. Diese sollen explizit nicht nur der Unterhaltung des Lesers dienen, sondern ihn zgl. in okkultistisches Gedankengut einführen. Während S. in seinem ersten Roman Devachan (Wien 1921. Neuaufl. Schwarzenburg 1980) die Gefahren entfesselter, dämonischer Sexualität darstellt, die erst von einem entlaufenen Mönch überwunden werden können, erzählt er in Baphomet (Mchn. 1928. Neuaufl. Fernwald 2007) von der Initiation seines Protagonisten in alchemistische Geheimlehren. Unverkennbar sind die regressiven, ja protofaschistischen Tendenzen von S.s latent rassistischen Romanen. Ebenso zentral wie der Okkultismus ist für S.s Werk die Begegnung mit Griechenland, die sich in Reiseberichten, Romanen u. kulturhistor. Abhandlungen niederschlägt. Unter dem prägenden Eindruck von Theodor Däublers Werk u. Person – auch die epigonale Lyrik S.s ist von dem älteren Freund entscheidend beeinflusst (Eleusinische Sonette. Gedichte einer griechischen Reise. Bln. 1933) – entwirft S. Griechenland als einen Ort, an dem der antike Mythos unmittelbar erfahrbar ist. Dabei verzerrt S. Däublers privatmytholog. »Nordlichtidee«: Die Vorstellung eines menschl. Veredelungsprozesses hin zum Licht wird bei S. rassistisch überformt (so auch in dem Roman Minos oder die Geburt Europas. Karlsbad-Drahowitz/Lpz. 1931). S.s Griechenland-Bücher weisen darüber hinaus eine deutl. Affinität zur literar. Fantastik u. zur Abenteuerliteratur auf: In dem Reisebericht Griechische Reise (Bln. 1926) stellt S. spiritistische Experimente als Möglichkeit dar, mit den Geheimnissen der griech. Antike in unmittelbaren Kontakt zu treten; daneben stehen Schilderungen abenteuerl. Reiseerlebnisse. S. gehörte schon zu Beginn der 1930er Jahre zu den führenden literar. Propagan-

Spunda

disten des Nationalsozialismus in Österreich u. engagierte sich im Bund deutscher Schriftsteller Österreichs; nach 1938 war er Landesleiter des Reichsverbands deutscher Schriftsteller für Österreich. Dieser ideolog. Hintergrund kommt auch in den vermeintlich neuhumanistischen Griechenland-Büchern voll zur Geltung, am deutlichsten in Griechenland. Fahrten zu den alten Göttern (Lpz. 1938), wo S. gegen Judentum u. Kommunismus hetzt. Auch S.’ histor. Romane (Romulus. Bln./Wien/Lpz. 1934. Wulfila. Ebd. 1936. Alarich. Ebd. 1937) propagieren nationalsozialistische Werte. Nach 1945 veröffentlichte S. als freier Schriftsteller weiter: Neben Griechenland (Fahrt zu den alten Göttern. Ein Griechenlandbuch. Wien 1956. Legenden und Fresken vom Berg Athos. Stgt. 1962) behandelte S. auch Themen der Zeitgeschichte: Der biogr. Roman Clara Petacci (Berchtesgaden 1952) stellt das Schicksal von Mussolinis Geliebter dar. Weitere Werke: Hymnen. Mchn. 1919 (L.). – Astralis. Dithyramben u. Gesänge. Wien 1920 (L.). – Die Befreiung. Ein Akt. Wien/Zürich/Lpz. 1921 (D.). – Der gelbe u. der weiße Papst. Wien/Lpz./ Mchn. 1923 (R.). – Das aegypt. Totenbuch. Ebd. 1924. Neuaufl. Bad Schussenried 2004 (R.). – Gottesfeuer. Lpz. 1924 (L.). – Paracelsus. Wien/Lpz. 1925 (Ess.). – Der heilige Berg Athos. Landschaft u. Legende. Lpz. 1928 (Ess.). – Griech. Mönche. Mchn. 1928 (Ess.). – Griech. Abenteuer. Karlsbad-Drahowitz/Lpz. 1932 (R.). – Das Reich ohne Volk. Bln./ Wien/Lpz. 1938 (R.). – Sudetenland. Bln. 1939 (D.). – Das Weltbild des Paracelsus. Wien 1941. – Der Herr vom Hradschin. Roman Kaiser Karls IV. Bln./ Wien/Lpz. 1942. Neuaufl. Bad Schussenried 2007 (R.). – Gesch. der Medici. Mchn. 1944. – Verbrannt v. Gottes Feuer. Der Lebensroman Giordano Brunos. Salzb./Wien 1949 (R.). – Giorgiones Liebeslied. Wien/Stgt. 1955. – Herakleitos. Der Denker zwischen den Schlachten. Graz 1957 (R.). – Das myst. Leben Jakob Böhmes. Freib. i. Br. 1961 (R.). – Die Phädriaden. Gedichte u. Gesänge. Esslingen 1970. Literatur: Reinhard Zimprich: F. S. u. sein Werk. In: F. S. Daheim in Europa. Erlebtes u. Erdachtes. Steinheim/M. 1955, S. 3–27. – Franz Rottensteiner: F. S. In: Bibliogr. Lexikon der utopischphantast. Lit. Hg. Joachim Körber. Ergänzungslieferung. Meitingen 1987. – Clemens Ruthner: Unheiml. Wiederkehr. Interpretationen zu den gespenst. Romanfiguren bei Ewers, Meyrink, Soyka, S. u. Strobl. Meitingen 1993. – Ludvík Václavek:

Spyri F. S.s mag. Romane. In: Der Demiurg ist ein Zwitter. Hg. Winfried Freund. Mchn. 1999, S. 201–208. – Ders.: Wodurch hat F. S. die deutschsprachige Lit. bereichert? In: Ders. u. Lucy Topol’ská: Beiträge zur deutschsprachigen Lit. in Tschechien. Olomouc 2000, S. 162–188 (zuerst 1971). Christopher Meid

Spyri, Johanna (Louise), geb. Heusser, * 12.6.1827 Hirzel/Kt. Zürich, † 7.7.1901 Zürich; Grabstätte: ebd., Friedhof Sihlfeld. – Kinderbuchautorin. Die Tochter des Arztes Johann Jakob Heusser u. der pietistischen Lyrikerin Meta HeusserSchweizer (Lieder einer Verborgenen. Lpz. 1858) wuchs als viertes von sechs Kindern in einem großen Landarzthaushalt auf u. nahm in ihrer Kindheit all jene Eindrücke in sich auf, die sie später in ihrem Werk literarisch fruchtbar zu machen wusste. Nach der Dorfschule u. Privatstunden beim Pfarrer erhielt S. in Zürich drei Jahre Fremdsprachen- u. Musikunterricht, ehe sie für ein Jahr nach Yverdon in ein Pensionat kam. Ab 1845 unterrichtete sie zu Hause ihre jüngeren Schwestern u. betrieb intensive autodidaktische Literaturstudien. 1852, nach der Heirat mit dem Juristen u. späteren Stadtschreiber Johann Bernhard Spyri, zog sie nach Zürich, wo sie bis zu ihrem Tod lebte. Viele Jahre ihres Lebens widmete sie der Betreuung u. Pflege ihres 1855 geborenen einzigen Sohns Bernhard, der 1884, im selben Jahr wie ihr Ehemann, an Tuberkulose starb. Nach Gedichtveröffentlichungen in der »Eidgenössischen Zeitung« debütierte S. auf Veranlassung des Bremer Pastors C. R. Viëtor mit der erbaulichen, gegen den Alkoholismus gerichteten Erzählung Ein Blatt auf Vronys Grab (Gotha 1871) anonym als Schriftstellerin. Als Kinderbuchautorin trat sie allerdings erst mit Heimatlos (ebd. 1878) auf den Plan, einer Sammlung von rührseligen Waisengeschichten aus dem alpinen Milieu, die sie wie alle späteren Erzählungen »für Kinder und auch für solche, welche die Kinder lieb haben«, schrieb. Aus der Anonymität trat sie erst anlässlich der zweiten Auflage jenes Buchs heraus, das sie zu einer der weltweit meistgelesenen Kinderbuchautorinnen machte u. in unzähligen Ausgaben, Überset-

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zungen, Bearbeitungen u. Verfilmungen verbreitet ist: Heidis Lehr- und Wanderjahre (ebd. 1880), gefolgt von Heidi kann brauchen, was es gelernt hat (ebd. 1881). Die Geschichte von dem frischen Bergkind, das vom Alpöhi u. vom Geißenpeter weg als Gespielin für die kranke Klara Sesemann in die finstere Stadt Frankfurt u. in ein steifes gesellschaftl. Milieu verpflanzt wird, wo es vor Heimweh fast zugrunde geht, bis man es schließlich wieder auf seine Alp zurückkehren lässt, wo Klara sie besucht u. auf wunderbare Weise geheilt wird – diese zupackend-munter erzählte, der kindl. Denk- u. Sehweise durchaus adäquate, im Vergleich zu anderen zeitgenöss. Jugendbüchern nur maßvoll moralisierend-erbauliche, ja humorvolle Geschichte fand mit ihren detailliert ausgemalten alpinen Landschaftsbildern, der verlockenden Darstellung einer urspr. bäuerl. Lebensweise u. den faszinierenden Identifikationsmustern Heidi u. Klara einen überraschend großen Widerhall bei der jugendl. dt. Leserschaft. Und obwohl der Roman eine weitgehend anachronist. Idylle entwarf u. die sozialen Probleme des Industriezeitalters praktisch ignorierte, blieb er, anders als die zahlreichen anderen, bald vergessenen Erzählungen S.s, bis in die jüngste Zeit ein Erfolgsbuch u. prägte das Bild, das sich das Ausland von der Schweiz macht, wesentlich mit. Weniger einheitlich verlief die Rezeption des Buchs, das nach zahlreichen begeisterten Würdigungen – u. a. durch Conrad Ferdinand Meyer u. Joseph Viktor Widmann – in Heinrich Wolgasts Abhandlung Das Elend unserer Jugendliteratur (Hbg. 1896) erstmals eine fundierte negative Beurteilung erfuhr u. vor allem der unrealistischen Behandlung der Armut wegen gerügt wurde. In den 1920er Jahren, aber auch in der NS-Zeit gehörte Heidi in Deutschland zu den offiziell empfohlenen Jugendbuchklassikern, u. erst nach 1950 setzte, v. a. von den USA u. von Japan ausgehend, jener Trend ein, welcher der Titelfigur in Comics, in TV-Serien, Bühnenbearbeitungen (Heidi das Musical verknüpfte 2007 auf einer Bühne im Walensee den Roman mit dem Leben der Autorin) u. als Werbeträgerin zu einer vom Buchtext unabhängigen Existenz verhalf. In einem gewissen Zusammen-

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hang mit diesem Phänomen standen die vernichtende Kritik an Buch u. Autorin (vgl. etwa Klaus Doderer: Klassische Kinder- und Jugendbücher. Weinheim/Basel 1969) sowie die stillschweigende Distanzierung eines Großteils der jüngeren Schweizer Intelligenz von S. u. ihrem als verlogen u. unecht empfundenen Werk. In vermittelndem Sinne tätig ist dagegen die 1968 von Franz Caspar gegründete Johanna-Spyri-Stiftung, die in ihrem Schweizerischen Jugendbuch-Institut in Zürich ein spezielles Spyri-Archiv betreibt. 2002 schloss sich das Institut mit dem Schweizerischen Bund für Jugendliteratur (SBJ) zum Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM) zusammen. Weitere Werke: Wo Gritlis Kinder hingekommen sind. Gotha 1883. – Gritlis Kinder kommen weiter. Ebd. 1884. – Moni der Geissbub. In: Kurze Gesch.n. Bd. 1, ebd. 1887. – Artur u. Squirrel. Ebd. 1888. – Heidi. Nach J. S. Erzählt v. Peter Stamm. Mit Bildern v. Hannes Binder. Mchn. 2008. Literatur: Marguerite Paur-Ulrich: J. S. Ein Lebensbild. Zürich 1927. – Anna Siemsen: J. S. in ›Der Weg ins Freie‹. Ebd. 1943. – Hans u. Rosmarie Zeller: J. S. – C. F. Meyer. Briefw. 1877–97. Kilchberg 1977. – Georg Thürer: J. S. u. ihr ›Heidi‹. Bern 1982. – Jürg Winkler: J. S. Aus dem Leben der ›Heidi‹-Autorin. Rüschlikon 1986 (mit Bibliogr.). – Ders. u. Roswitha Fröhlich: J. S. Momente einer Biogr. Zürich 1986. – Regine Schindler: J. S. – Spurensuche. Zürich 1997. – Jean Villain: Der erschriebene Himmel. J. S. u. ihre Zeit. Zürich 1997. – Ernst Halter (Hg.): Heidi – Karrieren einer Figur. Zürich 2001. – Georg Escher u. Marie-Louise Strauss: J. S. Verklärt, vergessen, neu entdeckt. Zürich 2001. – Schweizerisches Institut für Kinderu. Jugendmedien (Hg.): J. S. u. ihr Werk: Lesarten. Zürich 2004. – Irma Hildebrandt: Heidi oder Die Sehnsucht nach dem einfachen Leben. Die Kinderbuchautorin J. S. (1827–1901). In: Dies.: Mutige Schweizerinnen. 18 Porträts von J. S. bis Liselotte Pulver. Kreuzlingen/Mchn. 2006, S. 11–24. – R. Schindler: J. S. In: NDB. Charles Linsmayer

Stabius, Johannes, eigentl.: J. Stöberer, * nach 1460 bei Steyr, † 1.1.1522 Graz. – Astronom, Mathematiker, Historiker. S. immatrikulierte sich am 1.8.1482 als »Iohannes Stöbrer ex Augusta« an der Universität Ingolstadt (Magister artium 1485), wo er sich später Conrad Celtis anschloss, der dort

Stabius

ab 1492 eine a. o. Professur für Rhetorik u. Poetik innehatte. Nach seiner Priesterweihe lehrte S. 1498–1502 Mathematik in Ingolstadt. 1502 trat S. eine Pfarrstelle in Wien an u. wurde Mitgl. im 1501 von Maximilian I. für den Celtis-Kreis an der Universität gestifteten Collegium poetarum et mathematicorum. Noch im selben Jahr zum Poeta laureatus gekrönt, trat S. bereits 1503 in die Dienste des Kaisers. Als Hofhistoriograf befasste er sich vorrangig mit der Genealogie des Hauses Habsburg. Erst nach 1510 widmete er sich wieder – gemeinsam mit Albrecht Dürer u. Konrad Heinfogel in Nürnberg – vermehrt mathemat. u. astronomischen Aufgaben. Dazu gehörte auch die Beschäftigung mit der Kartografie. So entstanden zwei Himmels- u. eine Erdkarte – dargestellt in der von S. vorgeschlagenen neuen Verebnung der Kugeloberfläche. Diese Gradnetzabbildung in der Ebene wurde in der Folge von dem Nürnberger Humanisten Johannes Werner unter Berufung auf S. publiziert u. fand in den herzförmigen Weltkarten der ersten Hälfte des 16. Jh. vielfach Anwendung. Obwohl das Prinzip bereits auf das 15. Jh. zurückgeht, gilt S. mit der nach ihm benannten Stabius-Werner-Projektion als einer der Wegbereiter der modernen kartografischen Projektionslehre. 1515 von Maximilian in den Ritterstand erhoben, war S. nun wieder hauptsächlich für den Kaiser tätig. So arbeitete er 1517 am Begleittext zur Ehrenpforte u. schrieb den historisch-genealog. Teil für den Triumphzug Maximilians. Nach dessen Tod verwaltete S. den literar. Nachlass des Herrschers u. trat dann in die Dienste Erzherzog Ferdinands, der ihm 1521 das Domdechanat von St. Stephan in Wien als geistl. Pfründe überließ. Ab Okt. 1521 hielt sich S. in Graz auf. Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Nürnb.): Carmen Saphicum: ad Max. Ro. re. Trenice. In: K. Celtis: Ludus Dianae in modum comedie coram Maximiliano [...]. 1501. Internet-Ed. in: VD 16. – Figura Labyrinthi [...]. 1504. Internet-Ed. in: ebd. – Messahalah De scientia motus orbis. Hg. J. S. 1504. Internet-Ed. in: ebd. – Horoscopion universale pro multiplici diversarum gentium ritu diei noctisve horas et momenta distinguens. 1512. – Horoscopion omni generaliter congruens climati

Stach [...]. 1512 (Einblattdr.). Internet-Ed. in: Österr. Nationalbibl. Wien. – Culminatorium fixarum. 1512. – Imagines coeli [...]. 1515. Nachdr. Unterschneidheim 1973. – Imago orbis. 1515. Literatur: Bibliografien: Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 29, S. 494. – VD 16. – Weitere Titel: Gustav Bauch: Die Anfänge des Humanismus in Ingolstadt. Minden/Lpz. 1901. – Helmuth Grössing: J. S. [...]. Diss. Wien 1964. – Ders.: J. S. Ein Oberösterreicher im Kreis der Humanisten um Kaiser Maximilian I. In: Mitt.en des oberösterr. Landesarchivs 9 (1968), S. 239–264. – Günther Hamann: Albrecht Dürers Erd- u. Himmelskarten. In: A. Dürers Umwelt. Nürnb. 1971, S. 152 ff. – Jan-Dirk Müller: Gedechtnus [...]. Mchn. 1982, Register. – H. Grössing: J. S. In: Archiv der Gesch. der Naturwiss.en 8/ 9 (1983), S. 453–455. – Ilse Günther: J. S: In: Contemporaries. – Christoph Schöner: Mathematik u. Astronomie an der Univ. Ingolstadt im 15. u. 16. Jh. Bln. 1994. – Karl Röttel: J. S., Humanist u. Kartograph. In: Schr.en des Adam-Ries-Bundes Annaberg-Buchholz 14 (2002), S. 289–298. – Albert Schirrmeister: Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jh. Köln 2003, Register. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 1974–1976. – K. Röttel: J. S. In: NDB. Monika Maruska / Red.

Stach, Ilse von, eigentl.: I. Stach von Golzheim, * 17.2.1879 Haus Pröbsting bei Coesfeld, † 25.4.1941 Münster. – Erzählerin, Dramatikerin, Lyrikerin.

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achtung die Dialoge über die Gleichstellung der Geschlechter, Die Frauen von Korinth (Breslau 1929); Teile daraus wurden im »Hochland«, das S.s Werke propagandistisch begleitete, zur Diskussion einer »gläubigen Mitwelt« gestellt (26, 1929). Weitere Werke: Der hl. Nepomuk. Bln. 1909 (D.). – Die Sendlinge v. Voghera. Kempten 1910 (R.). – Missa poetica. Ebd. 1912 (L.). – Haus Elderfing. Lpz. 1915 (R.). – Requiem. Kempten 1919 (L.). – Genesius. Ebd. 1919 (christl. Trag.). – Griseldis. Mchn. 1921 (D.). – Weh dem der keine Heimat hat. Ebd. 1921. U. d. T. Non serviam. Ebd. 1931 (R.). – Melusine. Ebd. 1922 (D.). – Petrus. Eine göttl. Komödie. Ebd. 1924. – Der Rosenkranz. Meditationen. Münster 1929 (L.). – Wie der Sturmwind fährt die Zeit. Gedichte aus drei Jahrzehnten. Ebd. 1948. – Nachlass: Universitätsbibl. Münster. Literatur: Hans Bücker: I. v. S. In: Der Gral 16 (1921/22), S. 390–399. – Westf. Autorenlex. 3. – Sabine Düren: Die Frau im Spannungsfeld v. Emanzipation u. Glaube. Eine Untersuchung zu theologisch-anthropolog. Aussagen über das Wesen der Frau in der deutschsprachigen Lit. der ersten Hälfte des 20. Jh. Regensb. 1998. – Renata DampcJarosz: ›Es schweige die Frau in der Gemeinde‹. Zum Problem der religiösen u. konfessionellen Identität in ausgewählten Dramen I. v. S.s. In: Kulturelle Identitäten im Wandel. Hg. Mirosl/awa Czarnecka. Schöneiche bei Berlin 2006, S. 87–99. – Dies.: Eine gehorsame Frau? Griseldas Figur bei Gerhart Hauptmann u. I. v. S. In: Carl-u.-GerhartHauptmann-Jb. 3 (2008), S. 169–177.

Die Tochter eines Rittergutsbesitzers wuchs in Berlin auf u. lebte seit 1905 in Rom, wo sie Gisela Brinker-Gabler / Red. am Ende ihres Aufenthalts 1908 zum kath. Glauben konvertierte. In Rom lernte sie den Stackelberg, Traugott Frhr. von, * 18.3. Kunsthistoriker Martin Wackernagel kennen, 1891 Reval, † 8.11.1970 Tengen. – Roden sie 1911 heiratete. Mit ihm wohnte sie in mancier, Erzähler, Essayist. Leipzig, seit 1920 in Münster. S. veröffentlichte als 19-Jährige ihre erste S. entstammte einem seit dem 12. Jh. in EstGedichtsammlung Wer kann dafür, daß seines land ansässigen Geschlecht von DeutschorFrühlings Lüfte weh’n (Dresden 1898). Ihre densrittern u. lebte bis 1906 auf dem Besitz nächste Arbeit, das unter dem Einfluss Ger- seines Vaters, der dort nach dem Vorbild der hart Hauptmanns entstandene Weihnachts- Bethelschen Anstalten ein Krankenhaus u. märchen Das Christ-Elflein (Bln. 1906), wurde eine Diakonissenanstalt gegründet hatte. von Hans Pfitzner bearbeitet u. vertont Nach dem Medizinstudium in Berlin u. in (Urauff. 1. Fassung Mchn. 1906. 2. Fassung Finnland kehrte er in seine Heimat zurück u. Dresden 1917). wurde mit Beginn des Ersten Weltkriegs als In ihren Romanen, in der ins Mystisch- Arzt nach Tiflis versetzt. Der Spionage verEkstatische gesteigerten Lyrik u. ihren Büh- dächtigt, wurde er 1915 nach Sibirien denendichtungen beschäftigte sich S. mit dem portiert, wo er ein Krankenhaus leitete u. Schicksal der Frau, religiösen Problemen u. nach der Oktoberrevolution in Tomsk das Erlebnissen. In kath. Kreisen fanden bes. Be- russ. Staatsexamen ablegte. Er beendete sein

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Stade

Studium bei Sauerbruch an der Universität in Stade, Martin, * 1.9.1931 Haarhausen bei Berlin u. ließ sich 1921 in der Nähe von Arnstadt/Thüringen. – Erzähler, FernTengen nieder. 1922/23 leistete er in den sehautor. Hungergebieten an der Wolga humanitäre Hilfe; 1925–1958 praktizierte er in Singen Der gelernte Rundfunkmechaniker arbeitete am Hohentwiel. Während des »Dritten 1949–58 als FDJ-Funktionär, danach als Reichs« musste sich der Pazifist aufgrund Dreher, Kranführer, Redakteur, Bauarbeiter. seines Einsatzes für Fremdarbeiter zeitweise 1971/72 studierte S. drei Monate am Leipziger Literatur-Institut (relegiert). Nach Protest bei seinem Freund Otto Dix verbergen. S.s literar. Werk, Ausdruck des Konflikts, gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns als Balte sowohl in dt. als auch in russ. Kultur 1976 wurde er aus der SED ausgeschlossen u. beheimatet zu sein, ist Dokument der Absage verließ 1979 auch den Schriftstellerverband an die eigenen Standesvorrechte u. des En- der DDR. 1989/90 engagierte sich S. im gagements für eine sozialistisch geprägte, Neuen Forum u. der SPD u. war 1990/91 als demokratische Gesellschaftsordnung. Der Kulturdezernent im Kreis Seelow tätig. Seit Roman Manon de Carmignac (Pfullingen 1952), 1996 lebt er wieder in seinem Geburtsort. S. nennt als Vorbilder Faulkner u. Dostodie Geschichte einer durch den Ersten Weltkrieg unterbrochenen Liebe, lässt einen jun- jewskij. In histor. Romanen entwirft er imgen Adligen in einem der Landwirtschaft ge- mer auch Abbilder gegenwärtiger Zustände, widmeten Leben neuen Sinn finden. S. setzte so wenn er den histor. Fakten entsprechend damit Gedanken des Erlebnisberichts seiner berichtet, wie der Architekt Knobelsdorff (Der Verbannung, Geliebtes Sibirien (ebd. 1951. Stgt. Meister von Sanssouci. Bln./DDR 1971) oder der 17 2001), fort, welche die Sozialordnung des Historiker Jacob Paul Gundling (Der König und sibir. Dorfes als Vorbild einer neuen Gesell- sein Narr. Ebd. 1975. Stgt. 1977. Tb.-Ausg. schaft begreifen u. gegen den Internationa- Mchn. 1981 u. ö. 1981 von Frank Beyer nach lismus der Bolschewiken für die Wahrung der dem Drehbuch Ulrich Plenzdorfs verfilmt) Individualität der einzelnen Völker plädie- der preuß. Staatsgewalt unterliegen. Gundren. In seinem letzten Buch, Auf eigener Fährte ling erscheint als Modell eines Intellektuel(Pfullingen 1968. 71989), dem Bericht von len, der von der Staatsmacht korrumpiert einer Reise in die Sowjetunion, engagierte wird. Der Roman Der närrische Krieg (Bln./DDR 3 sich S. für die Völkerverständigung zwischen u. Stgt. 1981. Bln. 1997) verweist mit der Schilderung eines überflüssigen, gleichwohl Russen u. Deutschen. Weitere Werke: Wintererzählungen. Pfullin- realen thüring. Kleinkriegs aus der Mitte des gen 1953. – Cornet der Zarin. Ebd. 1954 (E.). – 18. Jh. auf die Theorie des AbschreckungsDoktors Vieh. Ebd. 1956 (E.en). – Die Bärenkralle. kriegs u. ihre Folgen. In Der junge Bach (Hbg. Ebd. 1956 (E.). – Fratze u. Gesicht Russlands. Zü- 1985. Neuausg. u. d. T. Zwischen Schlehdorn und rich 1958 (Erlebnisber.). – Der Kutter Kodumaa. Paradies. Bln. 1990) schildert S. die ersten Zürich 1962 (R.). – Die schönsten Erzählungen. Wochen des 18-jährigen Bach als Organist im Pfullingen 1962. thüring. Arnstadt, die ihn mit der NotwenLiteratur: Manfred Bosch: Das Abenteuer der digkeit konfrontieren, sein Selbstverständnis inneren Bewährung. Der balt. Arzt, Schriftsteller u. als Künstler mit den Bedingungen einer soMaler T. v. S. In: Ders.: Bohème am Bodensee. zialen Existenz in Einklang zu bringen. S. Lengwil 1997, S. 113–117. – Alexander Ewig: Animist. im Schaffen v. T. v. S. In: Jb. des balt. will »erreichen, dass der Leser die Vergangenheit seines Landes, seines Volkes kennenDeutschtums 56 (2009), S. 143–151. Michael Geiger / Red. lernt, damit er weiß, wer er eigentlich ist«. In seiner von Tatsachen ausgehenden ›erzählerischen Recherche‹ (H. R. Hilty) Vom Bernsteinzimmer in Thüringen und anderen Hohlräumen. Berichte über die Tätigkeit des SD 1942–1945 (Gehren 2003. Neuausg. Ilmenau 2008. 2 2011) hat S. den ambitionierten Versuch

Staden

unternommen, sich einem der prominentesten Verluste des Zweiten Weltkriegs zuzuwenden u. zugleich ein weniger bekanntes landesgeschichtl. Kapitel zu erschließen. Der Wahrheitsgehalt des Buchs ist umstritten. – Thema von S.s poetischen, anschaulichen u. gelegentlich humorigen Geschichten aus der DDR ist nach S.s. eigenen Worten »das Leben der Menschen auf dem Lande«. Die meist männl. Helden seiner Erzählungen sind Menschen, welche die Industrialisierung der Landwirtschaft als Umbruch, Rhythmuswechsel u. Rollenverlust erleben. Weitere Werke: Der himmelblaue Zeppelin. Halle 1970 (E.en). – Vetters fröhl. Fuhren. Bln./ DDR. 1973. Stgt. 1978 (E.). – Tiroler macht Urlaub. 1973 (Fernsehsp. nach der gleichnamigen E.). – Unterwegs u. zu Hause. 1973 (Fernsehsp.). – Der erste Urlaubstag. 1974 (Fernsehfilm). – 17 schöne Fische. Bln./DDR. 1976 (E.). – Liebe im Hotel. Ebd. 1976 (E.). – Balantschuk ist wieder da. Rostock 1977 (E.). – Der Präsentkorb. Bln./DDR 1983 (E.en). – Der Windsucher u. a. Dorfgesch.n. Stgt. 1984. – Die scharf beobachteten Stare u. a. Erzählungen. Bln. 1992. – (Hg.): Berliner Geschichten (zus. mit Ulrich Plenzdorf u. Klaus Schlesinger). Ffm. 1995. – Wilhelms Haus. Weimar 2000 (E.en). Literatur: Joachim Walther: Meinetwegen Schmetterlinge. Gespräche mit Schriftstellern. Bln./DDR 1973. Auch in: Akzente 20 (1973) S. 399–408. – Karl Corino: S. In: Dtschld.-Archiv. 1975 (Interview). – Manfred Behn: M. S. In: KLG. Konrad Franke / Jürgen Egyptien

Staden, Hans, * zwischen 1525 u. 1528 Homberg, † 1579 Wolfhagen. – Landsknecht; Verfasser eines Reiseberichts. S. kam 1547 als Landsknecht in portugies. Diensten erstmals nach Brasilien, kehrte Ende 1548 nach Europa zurück, brach aber bereits 1549 (oder 1550) als Kanonier auf einem span. Schiff zum zweiten Mal auf. In der portugies. Handelsniederlassung São Vicente, südlich des heutigen São Paulo, trat er als Kanonier in den Dienst der von Franzosen u. Indianern bedrängten Portugiesen. Anfang 1553 geriet S. in Gefangenschaft der Tupinamba-Indianer, die als Verbündete der Franzosen den Portugiesen feindlich gesonnen waren. Nach eigenem Bekunden lebte er neun Monate unter ihnen, bis ihn 1554 frz.

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Händler freikauften u. er nach Europa zurückkehrte. Den Rest seines Lebens verbrachte S. als Pulvermüller u. Seifensieder in seiner hess. Heimat, wo er vermutlich an der Pest starb. S.s Warhaftige / Historia und beschreibung eyner Landt/schafft der Wilden / Nacketen / Grimmigen Menschfresser Leuthen / in der Newenwelt America gelegen erschien erstmals 1557 »uff Fastnacht« in Marburg bei Andres Kolben mit einem Vorwort des Gelehrten Johannes Dryander. Der ungeheure Erfolg machte noch im selben Jahr eine weitere Marburger Auflage nötig u. brachte zgl. eine Frankfurter Ausgabe hervor, vermutlich einen vordatierten Raubdruck, ebenfalls mit zweiter Auflage. Bis zum Ende des 16. Jh. erfolgten weitere Editionen. Übersetzungen in europ. u. außereurop. Sprachen eingerechnet, ist S.s Reisebericht inzwischen über 80-mal aufgelegt worden. Zum Publikumserfolg trug, neben dem damals allg. großen Interesse an der Neuen Welt, bes. S.s Beschreibung des Kannibalismus unter brasilian. Indianern bei. Den Marburger Ausgaben sind 54 Holzschnitte beigefügt, die neben ethnografischen Motiven den Brauch der Tupinamba illustrieren, gefangene Feinde rituell zu töten u. anschließend während eines Festmahls zu verzehren. Die Darstellung des Zerteilens menschl. Körper, der Zubereitung u. des Verzehrs der einzelnen Teile wurde in späteren Werken über Amerika vielfach kopiert u. beeinflusste das europ. Bild von den indigenen Einwohnern nachhaltig. An S.s u. ähnlichen zeitgenöss. Berichten entzündete sich eine wissenschaftl. Kontroverse über die Frage, ob der behauptete Kannibalismus tatsächlich jemals praktiziert wurde oder nur eine Erfindung der Europäer war. S. wurde dabei unterstellt, nur den Sensationshunger seiner Zeitgenossen befriedigen zu wollen, um einen frühmodernen »Bestseller« zu landen. S.s Darstellung der Tupinamba-Kultur, die sich insg. durch große Detailgenauigkeit auszeichnet u. mit heutigen ethnografischen Erkenntnissen übereinstimmt, spricht jedoch für die Authentizität seines Berichts. Ausgabe: Warhaftige Historia. Zwei Reisen nach Brasilien (1548–1555). História de duas viagens ao

157 Brasil. Krit. Ausg. / Edição crìtica: Franz Obermeier. Kiel 2007. Literatur: Friedrich Ratzel: H. S. In: ADB. – Elisabeth Luchesi: Von den ›Wilden / Nacketen [...]‹. H. S. u. die Popularität der ›Kannibalen‹ im 16. Jh. In: Mythen der Neuen Welt. Hg. K.-H. Kohl. Bln. 1982, S. 71–74 (Ausstellungskat.). – Donald W. Forsyth: Three Cheers for H. S.: The Case for Brazilian Cannibalism. In: Ethnohistory 32 (1985), 1, S. 17–36. – Astrid Wendt: Kannibalismus in Brasilien. Eine Analyse europ. Reiseberichte u. AmerikaDarstellungen für die Zeit zwischen 1500 u. 1654. Ffm. 1989. – Wolfgang Neuber: Fremde Welt im europ. Horizont. Zur Topik der dt. Amerika-Reiseberichte der frühen Neuzeit. Bln. 1991, S. 153–169 u. passim. – Mark Münzel: H. S., ›Wahrhaftige Historia ...‹. In: Hauptwerke der Ethnologie. Hg. Christian F. Feest u. Karl-Heinz Kohl. Stgt. 2001, S. 437–441. – Iris Gareis: Cannibals, Bons Sauvages, and Tasty White Men: Models of Alterity in the Encounter of South American Tupi and Europeans. In: The Medieval History Journal 5 (2002), 2, S. 247–266. – Dies.: Die Gesch. der Anderen: Zur Ethnohistorie am Beispiel Perus (1532–1700). Bln. 2003. – Luciana Villas Bôas: Wild stories of a pious travel writer. The unruly example of H. S.’s ›Warhaftig Historia‹ (Marburg 1557). In: Daphnis 33 (2004), S. 187–212. – Dwight E. Raak TenHuisen: Providence and passio in H. S’s ›Warhaftig Historia‹. In: ebd., S. 213–253. – Die Warhaftige Historia, das erste Brasilienbuch. Akten des Wolfhager Kongresses zu 450 Jahren H.-S.-Rezeption. Hg. Franz Obermeier u. a. Kiel 2008. Iris Gareis

Stadion(-Tannhausen), Emerich (Simon Damian Joseph) Graf von, * 17.2.1838 Radkersburg/Steiermark, † 3.8.1901 Wien. – Lyriker, Erzähler, Dramatiker. S., Sohn eines altadligen Gutsbesitzers, verlebte seine Kindheit auf Schloss Bellatincs in Ungarn. Als Elfjähriger schrieb er sein erstes Theaterstück, das Zaubermärchen Der Erdgeist; zudem komponierte er u. wirkte an Aufführungen mit. 1856 trat er in die österr. Armee ein u. kämpfte bei Magenta u. Solferino. Nach seinem Ausscheiden zog er 1862 nach Graz. 1867 heiratete er die Gräfin von Gurjew, trennte sich aber bereits acht Monate später von ihr. Von da an lebte er u. a. in St. Pölten, Melk u. Hainfeld, zumeist in ärml. Verhältnissen u. bei schlechter Gesundheit.

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Erst eine Erbschaft 1898 sicherte ihm seinen Lebensabend. Als Autor war S. bereits zu Lebzeiten vergessen. Seine Einakter wurden als seichtes Salongeplauder, seine Prosa ihrer sentimentalen Lebensferne wegen abgetan, nur seiner Lyrik vermochte man bisweilen etwas abzugewinnen. Doch auch sie ist epigonal in ihrem schwermütigen, pathet. Gestus. Von Interesse hingegen sind seine Beziehungen zu Schriftstellerkollegen wie Sacher-Masoch, Keim oder Vacano. Weitere Werke: Drei seltsame Erinnerungen. Bochnia 1868 (E.en). – Dornen. Erinnerungen u. Ahnungen in drei Romanen (zus. mit Emil Vacano). 2 Bde., Pest 1869. – Zersprühende Funken. Ein Bluetten-Bazar. Wien 1877. – Sub spinis florens. Ebd. 1893 (L.). Literatur: Lotte Wiesner: E. Graf S. Sein Leben u. literar. Schaffen. Wien 1949. – Goedeke Forts. – Ruth Müller: E. Graf v. S. In: ÖBL. Michael Farin / Red.

Stadler, Arnold, * 9.4.1954 Meßkirch/Baden-Württemberg. – Lyriker, Erzähler. S. verbrachte seine Kindheit auf dem Bauernhof seiner Eltern im südbadischen Rast bei Meßkirch u. besuchte in Meßkirch das Martin-Heidegger-Gymnasium. Nach dem Abitur studierte er zunächst kath. Theologie in München, Rom u. Freiburg, danach Literaturwissenschaft in Freiburg, Bonn u. Köln. 1986 wurde er mit der Arbeit Das Buch der Psalmen und die deutschsprachige Lyrik des 20. Jahrhunderts. Zu den Psalmen im Werk Bertolt Brechts und Paul Celans (Köln/Wien 1989) promoviert. Im selben Jahr erschien sein erstes literar. Werk, ein Band mit Gedichten (Kein Herz und keine Seele. Man muss es singen können. St. Gallen), drei Jahre später, 1989, sein erster Roman Ich war einmal (Salzb.). Einem breiteren Publikum wurde S. 1994 durch den Hermann-Hesse-Förderpreis bekannt, v. a. aber durch eine emphat. Würdigung seines bisherigen literar. Werks durch Martin Walser im »Spiegel« (1.8.1994). Den entscheidenden Popularitätsschub brachte 1999 der GeorgBüchner-Preis, dem u. a. 2004 der Stefan-Andres-Preis, 2009 der Kleist-Preis u. 2010 der Johann-Peter-Hebel-Preis folgten. S., den

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längere Reisen schon in den 1980er Jahren u. a. nach Südamerika sowie in den Nahen u. Fernen Osten geführt hatten, lebt in Rast u. in Berlin. Was Martin Walser 1994 als herausragendes Stilmerkmal u. unverwechselbare Besonderheit der literar. Texte S.s im »Spiegel« rühmte, war ihr ›aufrufender‹, ›anrufender‹ Ton, war die »Vergegenwärtigung« verlorener Vergangenheit u. S.s Kampf gegen die Sprachlosigkeit seiner Umwelt als Selbstbehauptung eines beschädigten Ich. 1998 präzisierte Walser seinen Befund (in seiner Laudatio zur Verleihung des Marie-Luise-Kaschnitz-Preises an S.) u. beschrieb S. als einen »Selbstbezichtigungsvirtuose[n]«, der mit »schreiende[m] Humor« u. »krasse[r] Ironie« die Wunden aufzeige, die das Leben ihm geschlagen habe (in: Reinacher [Hg.], S. 115). Dieser prägnanten, bis heute gültigen Charakterisierung der besonderen Signatur des literar. Werks S.s durch Walser fügte die Kritik in den folgenden Jahren u. Jahrzehnten nur noch wenige neue Facetten hinzu. S. wird hier als der genaue Gegentyp eines gesellschaftskrit., »engagierten« Schriftstellers gesehen: als ein Ich-krit. Autor, der in den eigenen Niederlagen die anthropolog. Wahrheit des Mensch-Seins erfährt, als ein an autobiogr. Erfahrungen entlang schreibender Erzähler, welcher der provinziellen Enge seiner Heimat auf ambivalente Weise verhaftet bleibt, als ein »Heimatlosigkeitsschriftsteller«, der immer neu die Abwesenheit von Heimat vermisst (Thomas Wirtz in: FAZ, 20.1.2001, S. V). S. wird in der Kritik aber auch als ein Autor gewürdigt, der in seinem Schreiben der Sprache ein Stück Authentizität abringen will. Schon S.s erster Roman Ich war einmal (Salzb./Wien 1989) ist einerseits »die Herbeschwörung von Kindheit, von untergegangener Vergangenheit« (M. Walser in: Reinacher [Hg.], S. 297), anderseits die Distanzierung von der »Leidenszeit« der Jugend (Hans Bender in: Reinacher [Hg.], S. 287) durch die literar. Stilmittel der Ironie u. Satire, des Sarkasmus u. des schwarzen Humors. Diese Ambivalenz des Vergangenheitsbezugs von Verlust u. Schmerz, von Melancholie u. Satire hält auch die Identität des Ich-Erzählers

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zwischen Vergangenheit u. Gegenwart in der Schwebe, wie dies schon der Märchentitel des Romans signalisiert, an dessen Schluss der Aufbruch ins Offene steht: »Es ist schön, diese Gegend zu verlassen.« In S.s nächstem Roman, Feuerland (ebd. 1992), realisiert der Ich-Erzähler diesen Aufbruch als eine Reise ins ferne Patagonien. Doch dort angekommen, muss er feststellen, dass »im Grunde alles wie zu Hause« ist. Der dritte Roman S.s Mein Hund, meine Sau, mein Leben (ebd. 1994) führt die Lebensgeschichte des Ich-Erzählers (der seit Feuerland zusätzlich noch mit dem Nachnamen »Schwanz« gestraft ist) mit sarkast. Humor fort. Sein Lebensweg – eine lange Strecke von Verlusten u. Niederlagen – führt ihn von Schwackenreute u. Meßkirch über Rom nach Freiburg, wo er schließlich als Grabredner ein tristes Dasein fristet. Alle drei Romane, von S. im Nachhinein als Anti-Bildungsroman u. Passionsgeschichte zusammengefasst u. 2009 noch einmal zu einem umfangreichen »Entwicklungsroman« überarbeitet (Einmal auf der Welt. Und dann so. Ffm. 2009), schließen sich auch für den Leser zur Trilogie zusammen: als literar. Vergangenheitsrecherche u. Selbsterkundung ihres Autors, für den die Literatur immer »ein Seziermesser und ein Schmerzmittel« in einem ist (so S. in seiner Dankrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1999 in Reinacher [Hg.], S. 141), als ein »vielfach zerschnittenes Ich-Buch« (Pia Reinacher in: FAZ, 7.10.2003, S. L 11). S.s Roman Der Tod und ich, wir zwei (Salzb./ Wien 1996) setzt völlig neu an, mit einer mit skurrilem Witz erzählten Geschichte »zweier Schießbudenfiguren« (Post Scriptum des Romans), die sich wechselseitig täuschen u. betrügen: einem verarmten ehemaligen Kunstprofessor aus berühmter Familie u. dem 159 cm »kleinen« Engelbert Hotz aus dem Hotzenwald, der sich als Erbschleicher am Ende um alle seine Anstrengungen u. Aufwendungen betrogen sieht. Als ein melanchol. Schelmenroman lässt sich auch Ein hinreißender Schrotthändler (Köln 1999) lesen. Der Ich-Erzähler, ein pensionierter Geschichtslehrer, lädt nach zwanzig Ehejahren des Nebeneinanderherlebens einen jungen Mann, der sich ihm als »Gelegenheitsschrotthänd-

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ler« präsentiert, von der Straße in sein Haus Bln. 1997. – Ausflug nach Afrika. Eggingen 1997. – ein. Für seine Frau, eine renommierte Volubilis oder Meine Reisen ans Ende der Welt. Handchirurgin, wird der »hinreißende«, von Eggingen 1999. – Erbarmen mit dem Seziermesser. allen moralischen Skrupeln freie junge Mann Über Lit., Menschen u. Orte. Mit einem Nachw. v. Peter Hamm. Köln 2000. – Mein Stifter. Portrait zu einer späten erot. Obsession, der sie ihre eines Selbstmörders in spe u. fünf Photographien. Ehe u. das gemeinsame Vermögen bereitwil- Köln 2005. – Salvatore. Ffm. 2008. lig zum Opfer bringt. In Sehnsucht. Versuch über Literatur: Anja Witzke: A. S. In: LGL. – Anton das erste Mal (Köln 2002) rekonstruiert ein Philipp Knittel: A. S. In: KLG. – Pia Reinacher erneut namenloser Ich-Erzähler, ein Mann (Hg.): ›Als wäre er ein anderer gewesen‹. Zum Werk um die vierzig, seinen »Passionsweg zum v. A. S. Ffm. 2009. Ronald Schneider Vollbild der Liebe« (S. 174). Er vergegenwärtigt in immer neuen Erinnerungsschleifen eine qualvoll lange Pubertät, die arm war an Stadler, Ernst (Maria [eigentl.: Marie] Rierot. u. sexuellen Erfahrungen u. reich an chard), auch: Hanns Horst, * 11.8.1883 Enttäuschungs- u. Versagungserlebnissen. Colmar, † 30.10.1914 Zandvoorde bei Mit sarkast. Witz, aber auch mit flauen KaYpern; Grabstätte: Straßburg, Ruplauern zieht er die triste Bilanz seiner entrechtsau. – Lyriker, Essayist, Übersetzer, täuschten Sehnsüchte: »Ich habe mein Leben Germanist. lang geschaut, wenn auch meistens nur hinDer zweite Sohn einer ›altdeutschen‹ Familie terhergeschaut« (S. 269). Runder, literarisch überzeugender als aus dem Allgäu wuchs in Straßburg auf, wo Sehnsucht wirkt S.s Roman Eines Tages, vielleicht sein Vater als Ministerialrat verschiedene auch nachts (Salzb./Wien 2003), in dem es ei- hohe Ämter im Kuratorium der neu gegrünnen Wiener Fotografen nach Kuba verschlägt. deten Kaiser-Wilhelms-Universität innehatte. Wie S. hier auf der Grenze von naiver Selbst- 1902 verließ S. das traditionsreiche u. rereflexion seiner Figur u. erzählerischer Ironie nommierte Protestantische Gymnasium mit balanciert, wie er die Verlorenheit seines dem Abitur u. schloss sich dem ›Jüngsten traurigen Helden im Leben anschaulich Elsaß‹, einer Gruppe literarisch ambitioniermacht, ohne ihn lächerlich zu machen oder ter Altergenossen (darunter René Schickele u. als Karikatur vorzuführen, wie er Tiefsinni- Otto Flake) an, die auf eine ›künstlerische ges in unscheinbaren Formulierungen ver- Renaissance‹ ihrer Heimat zielte. Die beiden steckt – das ist überaus gekonnt u. ein- Zeitschriften des Kreises, »Der Stümer« drucksvoll gemacht. Auch Komm, gehen wir (1902) u. »Der Merker« (1903), in denen S. (Ffm. 2007) kann zu den kompositorisch wie Essays u. Gedichte veröffentlichte, erregten sprachlich überzeugenden Romanen S.s ge- Aufsehen in der regionalen Literaturszene. Bereits 1901 war S. mit einigen Gedichten rechnet werden. Es ist ein Liebesroman u. eine Dreiecksgeschichte, wobei ein Liebesro- in unterschiedl. Zeitschriften aus dem Umman bei S. immer nur ein Liebes-Enttäu- feld der Heimatkunstbewegung hervorgetreschungsroman sein kann. Es handelt sich um ten. Sein lyr. Frühwerk bietet beispielhaft ein erneut melanchol. Buch also, mit trauri- Aufschluss über die Optionen eines jungen gen Figuren, typischen Stadler-Figuren, die Dichters der Jahrhundertwende. Es finden trotz all ihrer schmerzl. Erfahrungen »Anal- sich volksliedhafte Anklänge an Fritz Lienphabeten des Lebens« bleiben. S. variiert sei- hard oder Hermann Lingg, nietzscheanisch ne desillusionierenden Befunde über Leben u. tingierte Dithyramben, Widmungen an RiLiebe immer neu, z.B. die Einsicht, dass die chard Dehmel u. Detlev von Liliencron sowie Liebe im Rückblick immer nur »das Warten ›Mittelachsenlyrik‹ angelehnt an Arno Holz. Das größte Projekt dieser Schaffensphase, auf die Liebe« sei. Weitere Werke: Gedichte aufs Land. Offsetli- Baldur, verband das stilistische Florilegium thographien v. Hildegard Pütz. Düsseld. 1995. – mit einem inhaltl. Synkretismus, der die Johann Peter Hebels Unvergänglichkeit [Beigefügt: nordische u. die antike Mythologie mit der Johann Peter Hebel: Die Vergänglichkeit]. Stgt./ christl. Tradition amalgamiert.

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S. immatrikulierte sich 1902 für die Fächer Deutsche Sprache u. Literatur sowie Romanische Philologie u. Vergleichende Sprachwissenschaft in Straßburg, leistete 1902/1903 seinen Militärdienst ab u. ging für das Sommersemester 1904 an die Universität München. Nach der Rückkehr nach Straßburg erschien Ende 1904 (datiert auf 1905) S.s erster Gedichtband Praeludien, der ihn als Georgeu. Hofmannsthal-Adepten ausweist. Die Sammlung belehnt das Motiv- u. Formrepertoire der ästhetizistisch-symbolistischen Poesie; die Nähe zu George zeigt sich schon typografisch im Gebrauch des Hochpunkts. Hofmannsthal ist das homoerotische Versdramolett Freundinnen gewidmet. Hinzu kommen Übersetzungen des frz. Symbolisten Henri de Régnier. Unter den beiden Gruppentiteln Traumland u. Bilder und Gestalten bedient sich S. der typischen Kunstmittel des l’art-pour-l’art: Ein üppiges Arsenal von erlesenen Requisiten evoziert Stimmungsvaleurs u. künstl. Paradiese. 1906 wurde S. mit einer Dissertation Über das Verhältnis der Handschriften D und G von Wolframs Parzival magna cum laude von dem Boeckh-Schüler Ernst Martin promoviert. Die philolog. Arbeit versammelt sprachlich-stilistische Belege für Karl Lachmanns Hypothese vom textkrit. Vorrang der ParzivalHandschrift D gegenüber der als höfisierend angesehenen Fassung der Handschrift G. Bis Sommer 1908 setzte S. seine akadem. Laufbahn als Cecil-Rhodes-Stipendiat am Magdalen College in Oxford fort. Dort arbeitete er v. a. an der Herausgabe von Christoph Martin Wielands Shakespeare-Übersetzungen im Rahmen der Wieland-Edition der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften (3 Bde., Bln. 1909–1911) u. an seiner Habilitationschrift Wielands Shakespeare (Straßb. 1910), aufgrund derer er 1908 an der Universität Straßburg zum Privatdozenten ernannt wurde. Diese zweite Qualifikationsleistung stellt S. wie die Dissertation als Vertreter der kritisch-philolog. Methode vor. Er kontextualisiert Entstehung u. Rezeption von Wielands Versionen historisch u. vergleicht sie sprachlich-stilistisch mit Shakespeares Original.

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In Straßburg begann S. im Wintersemester seine Lehrtätigkeit mit dem (verschollenen) Probevortrag Die Aufgaben der Vergleichenden Literaturgeschichtsschreibung. Im Sommer 1910 arbeitete er wieder in Oxford an der (ebenfalls verschollenen) Examensarbeit The History of Literary Shakespeare Criticism in Germany (eingereicht 1911, B.Litt.-Prüfung 1912) u. erhielt währenddessen einen Ruf an die Université libre in Brüssel, wo er seit Herbst 1910 als ›chargé de cours‹ (ein bessergestellter Privatdozent) u. von Sommer 1912 bis 1914 als ›professeur extraordinaire‹ lehrte. In dieser Zeit publizierte S. Aufsätze u. Rezensionen zu wissenschaftl. u. poetischen Neuerscheinungen, etwa für die »Straßburger Neue Zeitung« u. die »Cahiers Alsaciens«, legte eine Revision der Wackernagel’schen Hartmann-Ausgabe Der Arme Heinrich und zwei jüngere Prosalegenden verwandten Inhalts (Basel 1911) vor u. nahm seine seit den Praeludien ruhende dichterische Produktion mit Beiträgen für »Das literarische Elsaß«, »Das Neue Elsaß« u. »Die Aktion« wieder auf. S. knüpft hier an seine frühere George-imitatio an, öffnet sich aber kontinuierlich avantgardistischen Innovationen etwa Walt Whitmans, Max Dauthendeys u. Franz Werfels. So verwendet er zunehmend gereimte Langverse, deren hymn. Ton charakteristish für seinen zweiten Gedichtband Der Aufbruch (Lpz. 1914, recte Ende 1913) wird. Seine literaturkrit. Essays begleiten u. erläutern diesen Prozess. Mit Parteinahmen für Gottfried Benn, Carl Einstein, Georg Heym, René Schickele u. Carl Sternheim sowie mit seinem Auftreten gegen Fritz Lienhard (der ihn zunächst förderte) u. Paul Heyse gewann S. erhebl. Einfluss auf die Entwicklung der expressionistischen Literatur. So wurde das Eingangsgedicht des Aufbruch, Worte, als Palinodie der Praeludien-Phase gedeutet. Es thematisiere die Desillusionierung des Ästhetizismus, der vor der Wirklichkeit versage u. gleichwohl ein Faszinosum bleibe. Die Aneignung u. Durchdringung der Totalität dieser Wirklichkeit sind S.s zentrales Motiv. Die Sehnsucht nach myst. Selbsthingabe u. Vereinigung mit dem Ganzen wird in teils sprachlich erregten, teils meditativen Bilderfolgen artikuliert, die ein neues Welterleb-

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nis propagieren. Die zu vier Sektionen (Die Flucht, Stationen, Der Spiegel, Die Rast) gruppierten Gedichte thematisieren rauschhaft oder beschaulich u. nicht selten in religiöser Motivik ein existenzielles Erneuerungserlebnis u. eine optimistisch-positiv gestimmte u. ekstat. ›Weltfreudigkeit‹. Das letzte Ensemble des Bandes widmet sich elsäss. Themen. S. war von der transnationalen Brückenfunktion seiner Heimat überzeugt u. entwickelte den Begriff des ›geistigen Elsässertums‹ als Schlagwort für eine europäisch gedachte Kulturhybridität. Er warb für Romain Rolland, übersetzte Novellen Balzacs (Straßb./ Lpz. [1913]) u. Gedichte von Francis Jammes (Die Gebete der Demut. Lpz. 1913. 2., erg. Aufl. 1917), deren Versionen als kongenial rezipiert wurden. Bereits Ende 1913 nahm S. zwar einen Ruf an die Universität Toronto an, der Ausbruch des Ersten Weltkrieges verhinderte jedoch den für Sept. 1914 geplanten Stellenantritt. Als Reserveleutnant (seit 1907) wurde S. zunächst im Elsass, dann um Löwen u. an der Marne eingesetzt. Mit dem Eisernen Kreuz dekoriert, fiel er in Flandern. Von S.s Ruhm zeugen Widmungsgedichte seiner Zeitgenossen Paul Zech, Rudolf Leonhardt, Ernst Wilhelm Lotz, Alfred Richard Meyer u. zahlreiche würdigende Nachrufe etwa von Ernst Robert Curtius, Kasimir Edschmid, Hermann Hesse u. Hans Naumann. Gemeinsam mit den ebenfalls jung Verstorbenen Georg Trakl u. Georg Heym wurde S. bald als Glied eines frühexpressionistischen Triumvirats kanonisiert. Seit Längerem arbeitet die Forschung aber auch die ästhetisch ambivalente u. stilistisch integrative Haltung S.s heraus. Die Gründe für S.s deutl. Traditionsbezug bei gleichzeitiger Innovationskraft liegen dabei wohl nicht zuletzt in seiner akadem. Positionierung als Philologe. S.s Nachlass ist großteils 1943 in Kassel verbrannt. Reste werden im Deutschen Literaturarchiv (Marbach am Neckar) u. in Privatbesitz verwahrt. Eine Historisch-kritische Edition des Gesamtwerks (hg. Barbara Beßlich u. Philipp Redl) wird derzeit erarbeitet. Weitere Werke: Ausgabe: Dichtungen, Schr.en, Briefe. Krit. Ausg. Hg. Klaus Hurlebusch u. Karl Ludwig Schneider. Mchn. 1983. – Weiteres: Hans

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162 Regionalismus u. Moderne. Studien zur dt. Lit. 1900–1933. Bln. 2006. – Roman Luckscheiter: Demut als Aufbruch. E. S.s Übertragungen v. Francis Jammes u. Charles Péguy im Kontext des Expressionismus. In: Moderne u. Antimoderne. Der ›Renouveau catholique‹ u. die dt. Lit. Hg. Wilhelm Kühlmann u. R. Luckscheiter. Freib. i. Br./Bln./ Wien 2008, S. 219–234. – Maurice Godé: E. S. traducteur de Francis Jammes. In: Traduire, adapter, transposer. Hg. Roger Sauter u. M. Godé. Aixen-Provence 2009, S. 127–142. Hans-Rüdiger Schwab / Philipp Redl

Städele, Christoph, * 27.9.1744 Memmingen, † 31.3.1811 Memmingen. – Lyriker u. Dramatiker. Der Hutmacher S. ist ein typisches Beispiel für dichtende Handwerker im 18. Jh., die, anders als die Meistersinger, sich an der hohen Literatur ihrer Zeit orientierten. Er stieg schließlich auf, wurde Schulmeister an der Mädchenschule u. Vorsinger in Memmingen. Als Schriftsteller war S. Autodidakt: »Was Gutes in meinen Gedichten gefunden werden mag, das habe ich der Natur zu danken« (Vorwort, 1782), doch förderte ihn Schubart u. druckte Proben seiner Muse in der »Deutschen Chronik« ab (z.B. 1776 Empfindungen an meinem Namenstag). S. orientierte sich an Schubarts Lyrik u. suchte Kontakt zum Göttinger Hain (Gedichte Auf Höltys Tod, An Uz). Außer Gedichten, darunter ein eigener Teil mit geistl. Themen, verfasste S. Kantaten u. den Text zum Singspiel Rinald (Memmingen 1779), das Christoph Rheineck vertont hat. Ausgaben: Gedichte. Memmingen 1782. – Bayer. Bibl. Bd. 3. Hg. Hans Pörnbacher. Mchn. 1990, S. 749–752. Literatur: Benedict Schelhorn: Lebensbeschreibungen einiger [...] Männer v. Memmingen. Memmingen 1811. – Rudolf Krauß: Schwäb. Literaturgesch. Bd. 1, Freib. i. Br. 1897. – Uli Braun: C. S. – Hutmacher u. Dichter. In: Memminger Geschichtsbl. (1967), S. 46–61. – Lit. in Bayerisch Schwaben. Weißenhorn 1979, S. 159, 174. – H. Pörnbacher: Schwäb. Literaturgesch. Weißenhorn 2002, S. 216. Hans Pörnbacher

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Stägemann, Friedrich August von (seit 1816), * 7.11.1763 Vierraden/Uckermark, † 17.12.1840 Berlin. – Staatsmann u. Lyriker.

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schränkung von Innenwelt u. kosm. Fantasie – einer Stilisierung von Politik, Krieg u. Widerstand zu Menschheits- u. Ewigkeitspostulaten dient. Gesammelt erschien S.s patriotische, in Ton u. Haltung stets öffentl., polit. Lyrik als Historische Erinnerungen in lyrischen Gedichten (Bln. 1828). Für die Enkel u. Freunde veröffentlichte S. (»als Handschrift gedruckt«) Liebessonette aus den Jahren 1788–1835 (Erinnerungen an Elisabeth. Bln. 1835. Lpz. 31873), die u. a. Laube rühmte.

Der früh verwaiste Sohn eines Predigers studierte nach dem Besuch des Berliner Gymnasiums Zum Grauen Kloster seit 1782 in Halle die Rechte, ging 1784 nach Königsberg u. arbeitete bis 1789 bei der ostpreuß. Regierung v. a. im Finanzbereich, danach in der Justiz, bis er 1806 durch Frhr. vom Stein als Leiter der preuß. Bank nach Berlin berufen Weitere Werke: Briefe u. Aktenstücke zur wurde. Freiheitlich u. konstitutionell – zu- Gesch. Preußens unter Friedrich Wilhelm III. vorgleich sozial – gesinnt, war er bei vielen Re- zugsweise aus dem Nachl. v. F. A. v. S. Hg. Franz formgesetzen treibende geistige Kraft in der Rühl. 3 Bde. u. Erg.-Bd., Lpz. 1899–1904. – Briefe zweiten Reihe. S. spielte eine wichtige Rolle an Karl [recte: Konrad] Engelbert Oelsner [...]. Hg. bei der Vorbereitung des Befreiungskampfes, ders. Bln. 1901. nicht zuletzt als Vertrauter Hardenbergs, den Literatur: Richard Wegener: F. A. v. S. In: er auch 1815 auf den Wiener Kongress be- Ders.: Aufsätze zur Lit. Bln. 1882, S. 237–250. – gleitete. Seit 1817 war S. Mitgl. des Staatsrats, Herman v. Petersdorff: F. A. v. S. In: ADB. – Ders.: seit 1823 Chef der Staatskanzlei. 1819–1821 Elisabeth Stägemann u. ihr Kreis. Bln. 1893, leitete er die »Allgemeine Preußische Staats- S. 67–95. – Goedeke. – Erich Mayr: F. A. v. S. Diss. Mchn. 1913. – Margarete v. Olfers: Elisabeth v. Zeitung«. Von der radikaleren Entwicklung Stägemann. Lpz. 1937. Ulfert Ricklefs des Liberalismus distanzierte er sich. 1796 heiratete S. Elisabeth Graun, geb. Fischer (1761–1835), eine der bedeutenden Frauen der Romantik mit Verbindung u. a. zu Stählin, Jacob (Jakob) von, * 10.5.1709 Reichardt u. Kant. Ihre Sepiazeichnungen u. Memmingen, † 25.6.1785 (alten Stils) St. die Schriften u. Aphorismen Erinnerungen für Petersburg. – Professor für Rhetorik u. edle Frauen (Hg. Wilhelm Dorow. Lpz. 1846) Poesie an der Petersburger Akademie. wurden von Zeitgenossen gelobt. In Berlin Der Sohn eines angesehenen Stadtbürgers – war das Haus Stägemann ein hervorragender sein Vater war Mitgl. des großen Rats, Treffpunkt von liberalem Adel u. Intellektu- »Weinvisierer sowie Eich- und Lichtmeister« ellen. Achim u. Bettine von Arnim, Brentano, – besuchte nach der Lateinschule in seiner Kleist, Adam Müller, Savigny, Tieck, Gnei- Heimatstadt bis 1731 das Gymnasium in senau, von Schön u. v. a. gehörten zum Zittau. Es folgte das Studium in Halle u. Freundes- u. Besucherkreis der Freitagaben- Leipzig. Im von J. S. Bach geleiteten »Collede. gium musicum« blies er die Querflöte. S. Zeitlebens Poet aus Passion, veröffentlichte schloss sich eng dem literar. Kreis um S. Gedichte im »Berlinischen Musenalma- Gottsched an u. wurde Mitgl. der »Deutschen nach« 1791–1797 u. gab bes. die Kriegs-Ge- Gesellschaft«. Sein Entwurf für die Illumisänge aus den Jahren 1806 bis 1813 (Deutschland, nationen anlässlich der Thronbesteigung des recte Bln. 1813. Mit drei Nachträgen bis 1818) poln. Königs August III. brachte ihm 1735 die heraus: rhetorisch hochpathet. Kriegs- u. Berufung als Adjunkt an die Petersburger Widerstandspoesie (meist in alkäischer Akademie der Wissenschaften ein, wo er Odenform), in kosmisch-mytholog. u. welt- 1735–1737 die in dt. u. russ. Sprache ergeschichtl. Dimension, mit jener zeittypi- scheinende »Sankt Petersburger Zeitung« schen Verbindung von sittlich-idealist. Rigo- redigierte. Rasch lernte er Russisch. 1737 rismus mit Chauvinismus, Sprachextremis- wurde S. zum Prof. ernannt. Häufig veranmus, Radikalfantasien, die – in der Ver- staltete er Feuerwerke bei Hoffestlichkeiten,

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über die er Beschreibungen veröffentlichte. Stäudlin, Carl Friedrich, * 25.7.1761 1742–1745 war er Erzieher des Großfürsten Stuttgart, † 5.7.1826 Göttingen; Grabu. späteren Zaren Peter III., 1742–1745 u. stätte: ebd., Albanifriedhof. – Evangeli1754–1762 sein persönl. Bibliothekar. Als scher Theologe. Prinzenerzieher erhielt S. den Titel eines Hofrats u. damit den erbl. Adel. Als Leiter des Der Sohn eines herzoglich-württembergi»Kunstdepartments« der Akademie beauf- schen Regierungsrats wurde streng u. fromm sichtigte er seit 1747 Zeichner u. Graveure. erzogen. Sein Bruder Gotthold dichtete, er 1765–1768 war er ständiger Sekretar der selbst brachte es über einige poetische VerAkademie. Viele Aufsätze veröffentlichte er in suche nicht hinaus. Für die Theologie geden Schriften der Petersburger »Freien öko- wannen ihn ein pietistischer Konfirmandennomischen Gesellschaft«, deren Sekretär er unterricht u. die Lektüre erbaul. u. theolog. Schriften. Nach fünfjähriger Ausbildung im war. S. führte einen umfangreichen Briefwech- Tübinger Stift u. anschließenden privaten sel, u. a. mit Gottsched in Leipzig, dem er Studien hielt er sich, meist als Lehrer u. BeInformationen über das kulturell-literar. Le- gleiter junger Leute, 1786–1790 in Westeuben in Russland für die Zeitschrift »Das ropa auf, v. a. in der frz. Schweiz u. in EngNeueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit« land. 1790 wurde er als o. Prof. nach Göttinvermittelte. In Deutschland ist S. durch seine gen berufen, wo er über alle Gebiete der Originalanekdoten von Peter dem Großen (Lpz. Theologie etwas trockene Vorlesungen hielt 1785. Neuauflagen Mchn. 1968. Lpz. 1988) u. mit ungewöhnl. Fleiß eine erstaunl. Zahl bekannt geworden. Sein nur z. T. ausgewer- nicht immer origineller, aber materialreicher teter handschriftl. Nachlass befindet sich in u. gediegener, auch durchaus lesbarer Werke der Handschriftenabteilung der Russischen verfasste, die meist eine Geschichte des jeweiligen Gegenstands boten u. deren UnabNationalbibliothek in Petersburg. Weitere Werke: Gedichte der Sappho. Lpz. hängigkeit u. weiter Horizont ihm allent1734 (Übers.). – Zur Gesch. des Theaters in Ruß- halben Achtung einbrachten. Immerhin land. Nachrichten v. der Tanzkunst u. Balletten in widmete ihm Kant 1798 seinen Streit der FaRußland. Nachricht v. der Musik in Rußland. Lpz. kultäten. 1982. – Gesch. aller Künste. 2 Bde., Moskau 1990. Dem jungen S. waren Glaubenszweifel Literatur: S.s in Petersburg in dt. Sprache ver- nicht fremd. Zu ihrer Klärung u. Abwehr öffentlichten Schriften sind verzeichnet in: Svodnyj studierte er jahrelang die Religionskritik von katalog knig na inostrannych jazykach, izdannych v der Antike bis zur Aufklärung u. beschrieb sie Rossi XVIII veke. Bd. 3, Leningrad 1986, S. 68–76 schließlich in dem Werk Geschichte und Geist (Nr. 2735–2764). – Karl Stählin: Aus den Papieren des Skepticismus (2 Bde., Lpz. 1794), dessen J. v. S.s. Königsb./Breslau 1925. – Ulf Lehmann: Titelblatt die Porträts von Kant u. Hume Der Gottschedkreis u. Rußland. Bln./DDR 1966. – Pavel’ Berkov: J. S. u. seine Materialien zur Gesch. schmücken. Als Theologe war er zeitlebens der russ. Lit. In: Ders.: Literar. Wechselbeziehun- um das richtige Verhältnis zwischen krit. gen zwischen Rußland u. Westeuropa im 18. Jh. Philosophie, wie sie namentlich Kant repräBln./DDR 1968, S. 191–200. – Thomas Liebsch: sentierte, u. überkommener Kirchenlehre Von Dresden nach St. Petersburg. Kunst- u. bemüht. Dabei gelangte er, zu Kant mehr u. Künstlertransfer in den Hss. des J. v. S. In: Bilder- mehr Distanz gewinnend, zu einem »vereiWechsel. Sächsisch-russ. Kulturtransfer im Zeital- nigten Rationalismus und Supernaturalister der Aufklärung. Hg. Volkmar Billig. Köln 2009, mus« oder, genauer, »rationalen SupernatuS. 243–277. Peter Hoffmann ralismus« (Ideen zur Kritik des Systems der christlichen Religion. Gött. 1791. Geschichte des Rationalismus und Supernaturalismus vornehmlich in Beziehung auf das Christenthum. Ebd. 1826). Einen ähnl. Weg nahm seine Beschäftigung mit der Ethik (z. B. Neues Lehrbuch der Moral.

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Gött. 1813. 31825). Auf dem Gebiet der Geschichte der Moral leistete S. mit einer Reihe von Gesamt- u. Einzeldarstellungen Pionierarbeit (z. B. Geschichte der Sittenlehre Jesu. 4 Bde., ebd. 1799–1822). In der Diskussion um die Hermeneutik setzte er einen Akzent, indem er bestritt, dass die histor. Auslegung genüge, u. sie durch eine »philosophische« ergänzt wissen wollte (De interpretatione librorum Novi Testamenti historica non unice vera. Göttinger Rektoratsprogramm 1807). Weite Verbreitung fand die zunächst für Studenten bestimmte Universalgeschichte der christlichen Kirche (Hann. 1806. 41825), sinnvoll ergänzt durch Geschichte und Literatur der Kirchengeschichte (ebd. 1827, postum). Am Anfang u. am Ende seiner Schriftstellerei befasste S. sich mit dem AT: Er begann mit Beiträgen zur Erläuterung der biblischen Propheten (Stgt. 1786) u. starb über dem Manuskript einer Abhandlung über die hebräische Poesie, die in seinen Augen von Herder nicht gründlich genug bearbeitet worden war. Weitere Werke: Grundriß der Tugend- u. Religionslehre. 2 Bde., Gött. 1798 u. 1800. – Lehrbuch der Dogmatik u. Dogmengesch. Ebd. 1801. 41822. – Kirchl. Geographie u. Statistik. 2 Bde., Tüb. 1804. – Philosophische u. Bibl. Moral. Gött. 1805. – Gesch. der philosoph., ebräischen u. christl. Moral. Hann. 1806. – Gesch. der theolog. Wiss.en seit der Verbreitung der alten Lit. 2 Bde., Gött. 1810/11. – Allg. Kirchengesch. v. Großbritannien. 2 Bde., ebd. 1819. – Gesch. der Vorstellungen v. der Sittlichkeit des Schauspiels. Ebd. 1823. – Gesch. der Moralphilosophie. Hann. 1829. Literatur: Johann Tychsen Hemsen: Zur Erinnerung an D. C. F. S.; seine Selbstbiogr. nebst einer Gedächtnißpredigt v. Herrn Sup. D. Ruperti. Gött. 1826 (Schriftenverz. S. 55–60). – Paul Tschackert: C. F. S. In: ADB. – RE 18, S. 741–744. – Joachim Wach: Das Verstehen II. Tüb. 1929, S. 140–153. Rudolf Smend

Stäudlin, Gotthold (Friedrich), * 15.10. 1758 Stuttgart, † 11. oder 12.9.1796 bei Straßburg. – Lyriker, Publizist. Aus alter Beamtenfamilie stammend, die zur Ehrbarkeit Württembergs gehörte, trat S. in eine vorgezeichnete Lebensbahn. Anders als sein jüngerer Bruder Carl Friedrich, der sein Theologiestudium selbst wählte, sollte er den

juristischen Wegen des Vaters folgen. Man schickte ihn auf das Gymnasium illustre in Stuttgart, u. S. wurde ein ausgezeichneter Schüler. Früh tat er sich als Dichter hervor u. erhielt dafür den Lorbeerkranz der Schule im Alter von 16 Jahren. Schon als Schüler konnte S. in Schwans »Schreibtafel« u. im »Schwäbischen Magazin« veröffentlichen. Aufgrund eines im »Schwäbischen Magazin« erschienenen Gedichts auf den Tod seines Bruders Gottlieb Friedrich wurde er 1776 von Schubart als das »beste dichterische Genie im Württembergischen« bezeichnet. Beim Abgang vom Gymnasium (Okt. 1776) trug S. ein Gedicht auf Peter den Großen vor, in dem er sowohl den Kampf gegen Aberglauben u. Unwissenheit pries als auch den Landesvater, Herzog Karl Eugen. Zwar noch in Klischees gefangen, zeigen sich schon zwei wesentl. Elemente von S.s poetischem Schaffen: die hymn. Form u. die aufklärerische Tendenz. 1776 begann S. in Tübingen sein Jurastudium. Die gesetzten Erwartungen vertrugen sich schlecht mit seinen poetischen Neigungen. Heftiges Gefühlsleben u. kleine Exzesse wiesen dem streng erzogenen S. Wege zu einem »unordentlichen« Leben. 1777 stand er in Verbindung mit Bodmer, u. 1780 veröffentlichte er sein erstes selbstständiges Werk, das Gedicht in drei Gesängen Albrecht von Haller (Tüb.), in dessen Person er entschieden Wissenschaft u. Aufklärung pries, mit Spitzen gegen Voltaire u. La Mettrie u. Lob wieder für Karl Eugen, wobei der Enkomiast die Hoffnung seiner Kritik auf den Kritisierten setzte, der wenig aufgeklärt, aber sehr despotisch war. Auch war S. hin- u. hergerissen zwischen den Pfaden der väterl. Jurisprudenz u. der Kunst. Im April 1781 veröffentlichte er Proben einer Teutschen Aeneis, nebst lyrischen Gedichten (Stgt.). Die 14 Texte gehören zum Grundstock seines Werks, u. S.s hymn. Ton ist bereits ausgeprägt. 1782 folgten mit Vermischten poetischen Stüken (Tüb.) 14 neue, bis zu 20 Seiten umfassende Texte. S. strebte nach einer großen lyr. Form. Begeisterung, Schönheit, Natur u. Tod sind zentrale Themen. In der Wahl der hymn. Form zeigen sich histor. Tendenzen: Der antike Hymnos behält die Oberhand über den Lobgesang Christi; an die

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Die Obrigkeit wartete auf eine Gelegenheit, Stelle des Preislieds auf einen Gott kann die hymn. Feier der Natur oder eines Menschen S. das Handwerk zu legen. Der Reichshofrat treten, während die Nachfolge Christi in den verbot die »Chronik« am 27.3.1793. S. war Hintergrund gesetzt wird. Rousseau wird zu erledigt, finanziell u. publizistisch. 1793 einer Figur, die es mit Jesus aufnehmen kann veröffentlichte er noch in dem Almanach (Elegie am Grabe des unsterblichen J. J. Rousseau). »Poetische Blumenlese« (Stgt.), in dem er Die Veränderungen im Himmel zeigen den Hölderlin vorstellte. Dann drückten ihn Wunsch nach ird., polit. Veränderungen an. Schulden, Melancholie u. misslungene ProAuch eine andere Figur tritt auf, die in der jekte vollends nieder. Er musste das Land modernen Literatur herrschen wird, die ein- verlassen, hielt sich noch eine Weile im Schwarzwald, wo es ihm 1795 in Seelbach zige u. absolute Geliebte (Stella’s Geburt). Im literar. Leben war S. sehr aktiv. Er lebte gelang, einige Nummern der Zeitschrift wieder zu Hause u. pflegte das Bündnis mit »Klio« herauszugeben. Am 11.9.1796 schrieb den jungen Dichtern im Tübinger Stift u. auf er einen Abschiedsbrief u. ertränkte sich dann der Karlsschule. Im Sept. 1781 erschien sein in der Ill bei Straßburg. »Schwäbischer Musenalmanach Auf das Jahr Weitere Werke: Vermischte Gedichte der Ge1782«. Bis 1787 sollten weitere Almanache schwister [...] S. 2 Bde., Stgt. 1827. – Hymn. Dichfolgen, in denen S. die neue schwäb. Dich- tung im Umkreis Hölderlins. Hg. Paul Böckmann. tergeneration versammelte. 1782 genoss S. Tüb. 1965, S. 65–97, 318–327. – Hans-Werner Enfrühen Ruhm, u. just in diesem Augenblick gels: Gedichte u. Lieder dt. Jakobiner. Stgt. 1971, begann Schiller, der auch im Almanach ver- S. 85–87, 203 f. – ›... Warlich ein herrlicher Mann ...‹. G. F. S. Lebensdokumente u. Briefe. Hg. Wertreten war, eine Fehde gegen ihn, von der S. ner Volke. Stgt. 1999. sich nicht mehr erholen sollte. Ihm ging es Literatur: Ludwig Schubart: Andenken an den wohl von Kindesbeinen an so, wie seinem Dichter S. In: Der neue Teutsche Merkur 11 (1797), genialischen Seminaristen Bond: »Sein gan- S. 296–306. – Hermann Fischer: G. F. S. In: ADB. – zer innerer Mensch war verstimmt; darum Willard Ticknor Daetsch: The Almanacs of G. F. klang ihm alles wie Mißlaut« (Wallbergs Briefe S. 1782–87 and 1792–93 [...]. Chapel Hill 1970. – an seinen Ferdinand. Lpz. 1783, S. 21 f.). Werner Volke: G. F. S. In: Lebensbilder aus Einige Jahre lebt S. unter dem väterl. Dach Schwaben u. Franken. Bd. 13. Hg. Robert Uhland. der Poesie. Dann stimmte er sich auf das Be- Stgt. 1977, S. 113–143 (mit Bibliogr.). – Erwin rufsleben ein, ließ sich 1785 examinieren u. Dittler: Zum Tode v. G. F. S. In: Badische Heimat wurde Kanzlei-Advokat. Die poetische Pro- 59 (1979), S. 111–125. – Ders.: G. F. S. Seine letzten duktion hielt dem Beruf nicht stand. Gerade Lebensjahre in Lahr [...]. In: Die Ortenau 60 (1980), S. 122–129. – Ders.: S. u. die Frz. Revolution. In: noch gelang es ihm, eine – wenn auch manJb. des Instituts für dt. Gesch. (Tel Aviv) 10 (1981), gelhafte – Ausgabe seiner Gedichte zu ver- S. 71–108. – Ders.: Reichsschultheiß G. v. Rieneanstalten (2 Bde., Stgt. 1788–91). Da brachte cker u. sein Panegyriker G. F. S. In: Badische Heider Beginn der Französischen Revolution mat 70 (1990), S. 577–582. – Walter Ernst Schäfer: neue Energie in sein Leben. S. reagierte 1790 G. F. S.s ›Klio‹. In. Ztschr. für die Gesch. des begeistert mit der Hymne Galliens Freiheit (in Oberrheins 144 (1996), S. 315–337. – Ders.: G. F. S. Bd. 2 der Gedichte). Er konnte eine neue – ein ›heimatloser Linker‹. In: Allmende 17 (1997), Gottheit feiern: Freiheit. »Nicht Schäze will S. 60–69. Peter Fischer / Red. das Volk – nur Freiheit, / Und des Tirannen blutigen Tod!« – Am 14.7.1790 nahm er am Staffel, Tim, * 2.10.1965 Kassel. – VerfasKonföderationsfest in Straßburg teil. Nach ser gesellschafskritischer, adoleszenzbeSchubarts Tod 1791 setzte er dessen »Chrozogener Theaterstücke, Romane u. Hörnik« fort u. ergriff entschieden die Partei der spiele. Neufranken. Im Heft vom 11.11.1791 schrieb er: »Ihr Fürsten aber bedenket, daß jedes S. studierte 1987–1991 Angewandte Theaniedergedrückte Volk von Gott und der Natur terwissenschaften in Gießen u. lebt seit 1993 berechtigt ist, euch laut zuzurufen: Hieher als freier Autor in Berlin. Er war Stipendiat und weiter nicht!« des Deutschen Literaturfonds (1994 u. 2001)

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u. der Stiftung Niedersachsen (1999); 1996 selbst der »HASS IST KONSUMIERBAR« geerhielt er das Alfred-Döblin-Stipendium. worden. Der Folgeroman Heimweh (Bln. 2000) 2003 wurde der Monolog Alles Blau mit dem Autorenförderpreis der Landesbühnengrup- knüpft direkt an Terrordrom an. Angetrieben pe im Deutschen Bühnenverein ausgezeich- von einer utop. Zielvorstellung, »Heimat. Der Ort an dem noch niemand gewesen ist«, benet. Die Ein-Mann-Performance (Urauff. Rade- finden sich die Protagonisten auf einem im beul 2003) verhandelt drei wesentliche, eng Stil aktueller »road movies« gehaltenen, gemiteinander verknüpfte Leitthemen des lite- waltgeschwängerten, halluzinativen Trip von rar. Gesamtwerks S.s: die zwischen Orientie- Berlin nach Süden. Ihre Suchbewegungen rungslosigkeit u. Indifferenz schwankenden sind jedoch von vornherein zum Scheitern Befindlichkeiten adoleszenter Menschen in verurteilt. In Rauhfaser (Ffm. 2002) dagegen der massenmedial geprägten postmodernen schafft es der Ich-Erzähler, aus der medialen Gegenwart; die Ablösung jugendl. Sinnsuche Scheinwelt seines Zimmers auszubrechen. Im durch den Hang zu Praktiken intensiver Fallschirmspringen als der »Lücke einer geSelbsterfahrung wie exzessivem Drogenkon- dankenlosen Gegenwart« findet er zu sich sum, unkonventionellem Sex oder extremer selbst. Gewalt (vgl. bereits Stadt der Krieger. Urauff. Weitere Werke: Titanic. Urauff. Mainz 2001 Oberhausen 1994); sowie das ambivalente (Theaterst.). – Hausarrest. Urauff. Bln. 2002 Verhältnis von Realität u. Fiktion bis hin zur (Theaterst.). – Jesús u. Muhammed. Eine LiebesgeÜberlagerung von Wirklichkeit, medialer Si- schichte. Bln. 2004 (R.). – Richard III. Urauff. Jena mulation u. Halluzinationen (z.B. Werther in 2005 (Theaterst.). – Next Level Parzival. Urauff. Essen 2007 (Theaterst.). – Man braucht keinen New York. Urauff. Karlsruhe 2000). Reiseführer für ein Dorf, das man sieht. Urauff. S.s bislang erfolgreichstes Werk ist der Berlin 2009 (Theaterst.). apokalypt. Roman Terrordrom (Zürich 1998). Literatur: Tanja Busse: Weltuntergang als ErFormal als Abfolge innerer Monologe gestallebnis. Apokalyptische Erzählungen in den Mastet, liefert der Text ein Panoptikum geschei- senmedien. Wiesb. 2000. – Stefan Keim: T. S. In: terter Existenzen, die in einem eiszeitl. Berlin LGL. – Anne Lena Mösken: ›Wir waren die, die erder Jahrtausendwende von einem »auf nichts kannten, was schieflief.‹ Joachim Bessings u. T. S.s gerichteten« Hass getrieben werden. Dieses Terrorvisionen. In: NachBilder der RAF. Hg. Inge Sentiment entlädt sich in einer maß- u. Stephan u. Alexandra Tacke. Köln u. a. 2008, sinnlosen Gewalt, die schließlich zur Errich- S. 299–312. Norman Ächtler tung einer geschlossenen Arena tödl. Kriegsspiels führt. Mehrheitlich als gewaltverherrStagel, Elsbeth, * um 1300 Zürich, † um lichend kritisiert, ist der Roman über den 1360 Töss bei Winterthur. – Mystikerin. intertextuellen Verweis auf Mathieu Kassovitz’ Dokumentarfilm La Haine jedoch als Li- Die Tochter aus vornehmem Zürcher Bürterarisierung von Jean Baudrillards Thesen gergeschlecht, seit ihrer frühen Jugend Nonzum Phänomen ungerichteter Hassausbrüche ne im Dominikanerinnenkloster Töss, gilt als in urbanen Räumen der Gegenwart zu ver- Autorin einer Sammlung von geistl. Lebensstehen. Die Figuren in Terrordrom leiden an beschreibungen, Gnadenerlebnissen u. Visieinem Zustand allgemeiner »Bewegungslo- onsberichten ihrer Mitschwestern (Tösser sigkeit«, an »Verlust« u. »Auslassung« iden- Schwesternbuch) u. als »Hagiographin« (Peters) tifikatorischer Leitbilder u. der Homogeni- ihres Seelsorgers Heinrich Seuse. Sie soll inssierung der Erfahrungswelt durch die Mas- geheim sein spirituelles Leben aufgezeichnet senmedien, die eine produktive Sublimation u. so – gegen seinen anfängl. Protest – die menschl. Konkurrenzverhaltens verhindern. später unter seinem Namen laufende Vita Die aufgestaute Aggression richtet sich gegen geschaffen haben; außerdem soll sie eine alles u. nichts: »DIESE WELT SOLL PLAT- Auswahl aus den an sie u. ihre MitschwesZEN.« Ein Medienkonzern erhält die Live- tern gerichteten Seelsorgebriefen zusammenÜbertragungsrechte aus dem Terrordrom: gestellt haben, auf die Seuses Briefbüchlein

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(= Exemplar, Tl. 4) zurückgehe. Diese Kon- In: Gendered Voices. Medieval saints and their instellation, die in den Prologen zu Seuses Vita terpreters. Hg. Catherine Mooney. Philadelphia u. Exemplar dargestellt u. von dort in eine dem 1999, S. 118–135. – Ben Morgan: The spiritual Tösser Schwesternbuch in einer späteren Re- autobiographies of visionary nuns and their Dominican confessors in fourteenth-century German. daktion vorangestellte Lebensbeschreibung In: Autobiography by women in German. Hg. Meder S. durch den Dominikaner-Reformator rerid Puw Davies. Oxford 2000, S. 35–51. – WolfJohannes Meyer (1422–1485) übernommen gang Wackernagel: The Mystical Marriage of the ist, formt das Zusammenwirken von myst. Blessed Henry Suso. In: Diogenes 52 (2005), Begnadung u. distanzierender (Selbst-)Kon- S. 99–113, 197. Klaus Grubmüller / Red. trolle in die vorbildhaften Rollen von Seelsorger u. geistl. Tochter aus, die konstitutiv Stahl, Friedrich Julius, eigentl.: J. Jolson, sind für die Frauenmystik des späteren MA. * 16.1.1802 vermutlich Heidingsfeld bei Das Niederschreiben der Gnadenerlebnisse Würzburg, † 10.8.1861 (Bad) Brückenau; im Tösser Schwesternbuch erfüllt auf eine nur Grabstätte: Berlin, ehemaliger Matthäigraduell unterschiedene Art die gleiche Auf- friedhof. – Staatsrechtslehrer u. Rechtsgabe der distanzierenden Objektivierung. philosoph; Politiker. Die Werke, an denen S. beteiligt war, sind in der für Erbauungsliteratur typischen Wei- Der unter Thierschs Einfluss 1819 vom jüd. se umgearbeitet u. im Gebrauch angepasst Glauben zur evang.-luth. Konfession Konworden; das Tösser Schwesternbuch wird noch vertierte nannte sich seither programmatisch im 17. Jh. abgeschrieben u. handschriftlich »Stahl«. Während seines Jurastudiums in Würzburg, Heidelberg u. Erlangen engaverbreitet. Ausgaben: Das Leben der Schwestern zu Töß. gierte er sich in der Burschenschaftsbewesamt Vorrede v. Johannes Meier u. dem Leben der gung, was eine zweijährige Relegation zur Prinzessin Elisabet v. Ungarn. Hg. Ferdinand Vet- Folge hatte. S., seit 1826 Privatdozent in ter. Bln. 1906. – Heinrich Seuse: Dt. Schr.en. Hg. München, wurde 1830 verantwortl. RedakKarl Bihlmeyer. Stgt. 1907. teur der gegen die liberale Presse gerichteten Literatur: Bibliografie: Gertrud Jaron Lewis: Bi- offiziösen Zeitung »Der Thron- und Volksbliogr. zur dt. Frauenmystik des MA. Bln. 1989, freund«, die schon nach wenigen Nummern S. 304–310. – Weitere Titel: Ferdinand Vetter: Ein ihr Erscheinen einstellte. 1832–1834 war er Mystikerpaar des 14. Jh., Schwester E. S. in Töss u. Professor in Erlangen, Würzburg u. erneut Vater Amandus (Suso) in Konstanz. Basel 1882. – Erlangen. Letztere Universität vertrat er 1837 Walter Muschg: Die Mystik in der Schweiz. im Landtag in der Kammer der Abgeordne1200–1500. Frauenfeld/Lpz. 1935, bes. S. 252–270. ten. Wegen seiner Äußerungen in der Frage – Julius Schwietering: Zur Autorschaft v. Seuses des Budgetrechts, die von Ludwig I. von Vita. In: Ders.: Mystik u. höf. Dichtung im MA. Tüb. 1960, S. 107–122. – Klaus Grubmüller: Die Bayern als liberaler Angriff auf sein monarViten der Schwestern v. Töß u. E. S. In: ZfdA 98 chisches Selbstverständnis verstanden wur(1969), S. 171–204. – Ursula Peters: Religiöse Er- den, wurde S. gemaßregelt, indem ihm die fahrung als literar. Faktum. Tüb. 1988, S. 135–142. Professur für Staatsrecht entzogen u. das Zi– Albrecht Classen: From ›Nonnenbuch‹ to episto- vilrecht übertragen wurde. larity: E. S. as a late medieval woman writer. In: 1840 erfolgte seine von Friedrich Wilhelm Medieval German literature. Proceedings from the IV. von Preußen durchgesetzte Berufung an 23rd International Congress on Medieval Studies, die Universität Berlin. In Preußen stieg S. zu Kalamazoo, Michigan, May 5–8, 1988. Hg. ders. einem der gefeiertsten u. angefeindetsten Göpp. 1989, S. 147–169. – Debra L. Stoudt: The Professoren u. Politiker seiner Zeit auf. Nach Production and Preservation of Letters by Fourder Revolution 1848 war S. von 1849 bis zu teenth-Century Dominican Nuns. In: Mediaeval Studies 53 (1991), S. 309–26. – Alois M. Haas: E. S. seinem Tod Abgeordneter der preuß. Ersten In: VL. – Susanne Bürkle: Lit. im Kloster. Histor. Kammer bzw. auf Lebenszeit berufenes MitFunktion u. rhetor. Legitimation frauenmyst. glied des Herrenhauses. Dort wie im Erfurter Texte des 14. Jh. Tüb. 1999. – Frank Tobin: Henry Unionsparlament 1850 etablierte er sich als Suso and E. S. Was the ›Vita‹ a cooperative effort? anerkannter Parteiführer der rechten Kon-

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Weitere Werke: Die Kirchenverfassung nach servativen, der sog. »Fraktion Stahl«; an dem organisatorischen Aufbau der konservativen Lehre u. Recht der Protestanten. Erlangen 1840. – Partei nach 1848 war S. entscheidend betei- Die Revolution u. die constitutionelle Monarchie. ligt. Als Publizist der »Neuen Preußischen Bln. 1848. – Die dt. Reichsverfassung nach den Beschlüssen der dt. Nationalversammlung u. nach Zeitung« (der »Kreuzzeitung«) formulierte er dem Entwurf der drei kgl. Regierungen. Ebd. 1849. die Leitlinien konservativer Politik in Preu- – Die gegenwärtigen Parteien in Staat u. Kirche. ßen. Gleichzeitig wirkte er 1852–1858 im Ebd. 1863. Evangelischen Oberkirchenrat; 1848–1861 Literatur: Gerhard Masur: S. – Gesch. seines war er mit Moritz August von Bethmann- Lebens. Aufstieg u. Entfaltung 1802–40. Bln. 1930. Hollweg Präsident des Deutschen Evangeli- – Dieter Grosser: Grundlagen u. Struktur der schen Kirchentages. Mit Beginn der »Neuen Staatslehre S.s. Köln/Opladen 1963. – Wilhelm Ära« 1858 wurde S.s Einfluss durch Bismarck Füßl: Prof. in der Politik: S. (1802–61): Das monarch. Prinzip u. seine Umsetzung in die parlastark eingeschränkt. S.s Hauptwerk ist Die Philosophie des Rechts mentar. Praxis. Gött. 1988. – Myoung-Jae Kim: (2 Bde. in 3 Abt.en, Heidelb. 1830–37. 61963). Staat u. Gesellsch. bei F. J. S. Eine Innenansicht Während er sich im ersten Band kritisch mit seiner Staatsphilosophie. Diss. Hann. 1993. – Christoph Link: F. J. S. (1802–1861). Christl. Staat den rechtsphilosophischen Systemen von u. Partei der Legitimität. In: Dt. Juristen jüd. HerPlaton bis Savigny auseinandersetzt, entwirft kunft. Hg. Helmut Heinrichs. Mchn. 1993, er im zweiten Band seine Staatsrechtslehre. S. 59–83. – Walter Bußmann: F. J. S. In: Die neuSie ist geprägt von einem expliziten Be- este Zeit 1 (1994), S. 325–343. – W. Füßl: F. J. S. In: kenntnis zum Christentum, aus dem er seine Bautz. – Ingrid Andres: F. J. S. 1802–1862. In: JuForderungen für den christl. Staat ableitet. risten. Ein biogr. Lexikon. Hg. Michael Stolleis. Diese enthalten die Anerkennung einer göttl. Mchn. 2001, S. 581 f. – Jean-Yves Calvez: F. J. v. S. Ordnung u. einer darauf aufbauenden weltl. In: Ders.: Politique et histoire en Allemagne au e Staatsform, die S. am besten in der konstitu- XIX siècle. Critique de la pensée politique des historiens allemands. Paris 2001, S. 44–79. – W. tionellen Monarchie verwirklicht sieht. Deren Füßl: F. J. S. (1802–1861). In: Polit. Theorien des kontinuierl. Weiterentwicklung im Gegen19. Jh. Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus. satz zu revolutionären Veränderungen ist das Hg. Bernd Heidenreich. Bln. 22002, S. 179–191. Programm S.s. Durch seine Differenzierung Wilhelm Füßl / Red. zwischen dem monarchischen u. dem parlamentar. Prinzip (Das monarchische Princip. Stahl, Georg Ernst, * 21. oder 22.10.1659 Heidelb. 1847), durch sein Bekenntnis zu Ansbach, † 14.5.1734 Berlin. – Mediziner verfassungsmäßig verankerter Repräsentatiu. Chemiker. on des Volkes, garantierten Freiheitsrechten u. zur Bindung der Staatsgewalt an das Ge- Als Medizinstudent seit 1679 in Jena von der setz hebt er sich entscheidend von altstän- Iatrochemie beeinflusst, wandte sich S. bedisch denkenden Theoretikern wie Haller reits nach der Promotion 1684 als Jenaer oder Gentz ab. Die häufig anzutreffende Privatdozent von der chemisch-mechanist. Einordnung S.s als Reaktionär muss dahin- Auffassung des Lebens ab. Von 1687 an als gehend revidiert werden, dass S. theoretisch Leibarzt in Weimar tätig, wechselte er 1694 ein Vermittlungsphilosoph u. politisch ein auf die zweite medizinische Professur an der Ausgleichspolitiker war. Einen von den Reformuniversität Halle. Als Lehrer der Chepreuß. Konservativen nach 1848 diskutierten mie u. der Medizin genoss S. außerordentl. reaktionären Umsturz konnte er trotz erbit- Ansehen. 1715 ging er als kgl. Leibarzt u. terten Widerstands weiter Kreise seiner Partei Präsident des Collegium medicum, der verhindern; so gelang es ihm, diese weitge- obersten preuß. Medizinalbehörde, nach hend für seinen Weg des Reformkonservati- Berlin; über seine amtl. u. ärztl. Wirksamkeit vismus u. für die Anerkennung der konsti- bei Hof ist jedoch wenig bekannt. tutionellen Monarchie zu gewinnen. In der Zeit als Professor in Halle entwickelte S. – im Umfeld des Halleschen Pietismus – ein animistisch-vitalistisches System

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der Medizin (Theoria medica vera. Halle 1707). D. v. Engelhardt u. a. Heidelb./Halle/S. 2000 (mit Dieses ging von der »Seele« als dem bele- Ed. u. dt. Übers. v.: ›De medicina medicinae necbenden, der Entwicklung u. Regeneration essaria‹, 1702; ›Aristotelis error circa definitionem fähigen Prinzip aus, welche die Erhaltung der naturae correctus‹, 1701; ›De differentia rationis et ratiocinationis‹, 1701). – Johanna Geyer-Kordesch: »Oeconomia animalis« aller vegetativen, Pietismus, Medizin u. Aufklärung in Preußen im sensitiven u. rationalen Prozesse reguliert. 18. Jh. Das Leben u. Werk G. E. S. Tüb. 2000. – KuDas Leib-Seele-Problem löste S. in den holist. Ming Chang: The matter of life. G. E. S. and the Begriff des Organismus auf. Neben der che- reconceptualizations of matter, body, and life in misch-mechanist. Richtung seines Freundes early modern Europe. Diss. Chicago 2002. – Udo u. Mentors Friedrich Hoffmann u. der kli- Bieller: Von der Phantasie zur Wiss. G. E. S. u. die nisch-empir. Schule Hermann Boerhaaves Chemie im achtzehnten Jh. Bochum 2007. – begründete S. damit das dritte bedeutende Francesco Paolo de Ceglia: I fari di Halle. G. E. S., Friedrich Hoffmann e la medicina europea del medizinische Lehrsystem des 18. Jh. Unabprimo Settecento. Bologna 2009. – Horst Remane: hängig davon schuf er unter Rückgriff auf Die Phlogistontheorie v. G. E. S. In: Chemie konJohann Joachim Becher, dessen Physica sub- kret 17 (2010), S. 75–79. Christoph Meinel / Red. terranea er herausgab (Lpz. 1703), die erste auch in der Praxis taugl. Theorie der Verbrennungsvorgänge, indem er einen bes. Stahl, Hermann (Wilhelm), * 14.4.1908 Brennstoff, das »Phlogiston«, annahm. S.s Dillenburg, † 14.4.1998 Dießen/AmmerPhlogistontheorie hat die Chemie bis ins see. – Erzähler, Hörspielautor, Lyriker; ausgehende 18. Jh. geprägt u. wurde erst von Maler. der chem. Revolution Antoine Laurent Lavoisiers überwunden. Stahlianer besetzten in Der Sohn eines Dekorationsmalers u. Kirder Folge fast alle Lehrstühle für Chemie in chenrestaurators besuchte 1927–1929 die Deutschland u. sorgten für eine sehr anwen- Kunstgewerbeschule in Kassel, danach bis dungsorientierte Entwicklung der Disziplin. 1932 die Staatshochschule für angewandte Kunst in München. 1933 wurde S. mit MalWeitere Werke: Dissertationes medicae tum verbot belegt. Einige Zeit lebte er von Geepistolares tum academicæ in unum volumen congestae [...]. Halle 1707. – Zymotechnia fundamen- brauchsgrafiken; 1935 zog er sich für zwei talis. Halle 1697. Dt. Ffm./Lpz. 1734. – Einl. zu der Jahre in den Westerwald zurück u. begann zu neuen Meteroscopie. Halle 1716. – Anweisung zur schreiben. Neben Kurzgeschichten für die Metallurgie. Lpz. 1720. – Chymia rationalis et ex- »Frankfurter Zeitung« entstand dort sein perimentalis, oder gründl. [...] Einl. zur Chemie. erster Roman, Traum der Erde (Hbg. 1937); Lpz. 1720. 1937 zog er nach Dießen/Ammersee. 1949 Ausgabe: La controverse entre S. et Leibniz sur la war er Gründungsmitgl. der Deutschen Akavie, l’organisme et le mixte. Doutes concernant la demie für Sprache und Dichtung in Darmvraie théorie médicale du célèbre S., avec les répli- stadt. ques de Leibniz aux observations stahliennes. Einl., S.s Frühwerk trägt naturmyst. Züge. Die übers. u. komm. v. Sarah Carvallo. Vorr. v. Michel karge Natur u. die harten LebensbedingunSerres. Paris 2004. gen des Westerwaldes gewinnen den Rang Literatur: Bernhard Lepsius: G. E. S. In: ADB. – von Ordnungsmächten, die dem Menschen Elisabeth Ströker: Theoriewandel in der Wissen- zur Identitätsfindung verhelfen. Solche Stofschaftsgesch. Ffm. 1982. – Irene Strube: G. E. S. fe trugen S. die Ehrung eines Regimes ein, das Lpz. 1984. – G. E. S. Hg. Wolfram Kaiser u. Arina er ablehnte (Gaukulturpreis Hessen-Nassau Völker. Halle 1985. – Axel Bauer: G. E. S. 1943). Seine Distanz zeigt sich in der Lyrik (1659–1734). In: Klassiker der Medizin. Hg. Dietdieser Jahre (Überfahrt. Jena 1940. Gras und rich v. Engelhardt u. Fritz Hartmann. 2 Bde., Mohn. Ebd. 1942) u. in einer Umformung der Mchn. 1991, Bd. 1, S. 190–201. – Jürgen Helm: ›Quod naturae ipsae sint morborum medicatrices‹. Odyssee (Die Heimkehr des Odysseus. Ebd. Der Hippokratismus G. E. S.s. In: Medizinhistor. 1940). Nach dem Krieg begann S. mit HeimJournal 35 (2000), S. 251–262. – G. E. S. kehrer-Erzählungen. Das Thema wurde in (1659–1734) in wissenschaftshistor. Sicht [...]. Hg. den folgenden Werken zu einem Psycho-

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gramm Nachkriegsdeutschlands erweitert (Tage der Schlehen. Mchn. 1960). Die Arbeit des Erinnerns, hier kontrastiert mit Verdrängungsmodellen von NS-Mitläufern, differenziert sich in den Romanen Jenseits der Jahre (ebd. 1959) u. Das Pfauenrad (Stgt. 1979) zur nüchternen Verlustbilanz des Jahrhunderts u. zum Rechenschaftsbericht eines skept. Moralisten. Weitere Werke: Die Wurzel unter dem Gras. Hbg. 1938 (E.en). – Der Läufer. Jena 1939 (N.). – Die Orgel der Wälder. Ebd. 1939 (R.). – Langsam steigt die Flut. Ebd. 1943 (R.). – Eine ganz alltägl. Stimme. Düsseld. 1947 (N.n u. E.en). – Die Spiegeltüren. Hbg. 1951 (R.). – Wohin du gehst. Bremen 1954 (R.). – Wolkenspur. Ebd. 1954 (L.). – Wildtaubenruf. Bln. 1958 (R.). – Ocker. Darmst. 1961 (Hörsp.). – Genaue Uhrzeit erbeten. Mchn. 1961 (E.). – Türen aus Wind. Freib. i. Br. 1969 (R.). – Gedichte aus vier Jahrzehnten. Darmst. 1977. – Herbstschluß. Mit einem Nachw. v. Ulrich Dittmann. Bielef. 1997 (L.). Literatur: Josef Schäfer: Symbolische Landschaft in der Dichtung H. S.s. Diss. Bonn 1959. Andreas Nentwich / Red.

Stahr, Adolf (Wilhelm Theodor), * 22.10. 1804 Prenzlau/Uckermark, † 3.10.1876 Wiesbaden. – Philologe, Literarhistoriker, Erzähler, Reiseschriftsteller, Übersetzer.

lungen der Revolutionsereignisse in Berlin, die auf der Auswertung von Zeitungsberichten u. Parlamentsprotokollen beruht (Die preußische Revolution. 2 Bde., ebd.). 1852 auf eigenen Wunsch pensioniert, siedelte er zunächst nach Jena, schließlich nach Berlin über u. heiratete 1855 nach dem Scheitern seiner ersten Ehe Fanny Lewald, die er bereits in Rom kennen gelernt hatte u. mit der er zahlreiche Reisen unternahm. Literar- u. kunsthistor. Arbeiten sowie Reisebücher erschienen in rascher Folge; sehr erfolgreich war G. E. Lessing. Sein Leben und seine Werke (2 Bde., Bln. 1859. 91887), das Lewald nach S.s Tod Bismarck widmete. Hier wie in seinen anderen literaturhistor. Schriften (z. B. Goethe’s Frauengestalten. 2 Bde., Bln. 1865 u. 1868. 8 1891) vertrat S. Standpunkte des »gesunden« Realismus (an Hegel geschult) sowie liberalen Fortschrittsoptimismus. Zudem widmete er sich umstrittenen Gestalten der röm. Kaiserzeit, z. B. Agrippina u. Tiberius (Bilder aus dem Altertum. 4 Bde., Bln. 1863–66). S.s umfangreicher schriftl. Nachlass umfasst u. a. Korrespondenzen mit B. von Arnim, K. Gutzkow u. O. von Goethe. Weitere Werke: Die Republikaner in Neapel. 3 Bde., Bln. 1849 (R.). – Zwei Monate in Paris. 2 Bde., Oldenb. 1851. – Weimar u. Jena. Ein Tagebuch. 2 Bde., Oldenb. 1852. – Torso. Kunst, Künstler u. Kunstwerke der Alten. Braunschw. 1854/55. – Aristoteles u. die Wirkung der Tragödie. Bln. 1859. Neudr. Aalen 1979. – Fichte. Ein Lebensbild. Bln. 1862. – Ein Winter in Rom. 2 Bde., Bln. 1869. – Aus der Jugendzeit. 2 Bde., Schwerin 1870 u. 1877. – Kleine Schr.en zu Litteratur u. Kunst. 2 Bde., Bln. 1871. – Sämtl. Werke. 18 Bde., Bln. 1873–79. – Aus A. S.s Nachl. Briefe. Hg. Ludwig Geiger. Oldenb. 1903.

Der Sohn eines preuß. Feldpredigers studierte zunächst Theologie, dann Klassische Philologie in Berlin u. Halle. Er ging in den Schuldienst u. wurde 1836 Oberlehrer u. Konrektor des Gymnasiums in Oldenburg, wo er auch eine Musterbühne nach Immermanns Vorbild aufbaute u. seinen Freund J. Mosen als Dramaturgen gewann. Bekannt wurde er durch die Übersetzung von Schriften des Aristoteles u. durch entsprechende Literatur: Peter Hackmann: A. S. u. das OlForschungen (u. a. Aristotelea. 2 Bde., Halle denburger Theater. Oldenb. 1974. – Wolfram Otto: 1830 u. 1832. Aristoteles bei den Römern. Lpz. Leben u. Wirken des Schriftstellers A. S. Bernau 1834. Neudr. Aalen 1979) sowie als Heraus- 2005. – Roland Hoja: Heines Lektürebegegnungen geber von Mercks Schriften (Oldenb. 1840) u. in der ›Matratzengruft‹. Bielef. 2006. – Goedeke Mitarbeiter an A. Ruges »Hallischen Jahrbü- Forts. Joachim Linder / Red. chern«. Er entfaltete frühzeitig eine ausgedehnte literarhistor. u. -krit. Publizistik, die Staiger, Emil, * 8.2.1908 Kreuzlingen/Kt. ihn zu einem der wichtigen Literaturkritiker Thurgau, † 28.4.1987 Horgen/Zürichsee. des Nachmärz machen sollte. 1845 schilderte – Literaturwissenschaftler, Übersetzer. er die Erlebnisse einer Italienreise in Ein Jahr 3 in Italien (3 Bde., Lpz. 1847–50. 1874). 1849/ Nach dem Theologiestudium in Genf u. dem 50 veröffentlichte er eine der ersten Darstel- Studium der Germanistik, Altphilologie u.

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Kunstgeschichte in München u. Zürich, der an in Buchtiteln wie Die Kunst der Interpretation Promotion 1932 (Annette von Droste-Hülshoff. (Groningen 1951. Zürich 1955. 51967), StilLpz. 1933) u. der Habilitation 1934 (Der Geist wandel. Zur Vorgeschichte der Goethezeit (Zürich der Liebe und das Schicksal. Schelling, Hegel, Höl- 1963), Spätzeit (ebd. 1973) u., in die Weltlitederlin. Frauenfeld 1935) war S. Privatdozent ratur ausgreifend, Gipfel der Zeit (ebd. 1979). u. seit 1943 Ordinarius an der Universität Hervorgetreten ist S. auch als Übersetzer aus Zürich. Von den zahlreichen internat. Eh- dem Griechischen, dem Lateinischen u. Itarungen für S. sei die Aufnahme in den Orden lienischen sowie als Verfasser umsichtiger Pour le mérite 1967 genannt. Einführungen u. Kommentare. Er begriff die Mit S.s Name verbindet sich eine Epoche Tätigkeit des Literaturwissenschaftlers als der Wissenschaftsgeschichte der Germanis- denkende Hingabe an die in der Geschichte tik. Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters realisierten Möglichkeiten des Menschseins, (Zürich 1939) betont, unter Berufung auf die die den im Zeitgeist befangenen Sinn erweiPhilosophie Martin Heideggers, gegen Posi- tert u. so zu einer allg. Anthropologie beitivismus u. Geistesgeschichte die Eigenstän- trägt. digkeit des Kunstwerks, das im hermeneut. In seiner Rede zum Literaturpreis der Stadt Zirkel ausgelegt wird u. seinen Grund in der Zürich 1966 griff S. weite Teile der GegenTemporalität hat. In den Grundbegriffen der wartsliteratur als unmoralisch an. Nachdem Poetik (ebd. 1946. Erw. 1951) führt diese u. a. der Schriftsteller Max Frisch WiderTemporalität zu den stilistischen Begriffen spruch geäußert hatte, entwickelte sich eine des Lyrischen als der Dimension des Erin- europaweit beachtete Kontroverse. Durch den nerns, des Epischen als der Dimension der »Zürcher Literaturstreit«, der vor dem HinVergegenwärtigung u. des Dramatischen als tergrund eines tief greifenden Paradigmender Dimension der futurischen Teleologie. Im wechsels in der Germanistik stattfand, erhielt dreibändigen Hauptwerk Goethe (ebd. S. das Stigma des modernitätsblinden Klas1952–59. 3–41970–81) werden zudem Ge- sizisten. Diese Polarisierung hat den Blick auf schichte, Ideengeschichte u. Psychologie her- seine bleibende literaturwissenschaftl. Beangezogen als Bedingungen, unter denen das deutung lange verstellt. Erst in jüngerer Zeit dichterische u. naturwissenschaftl. Werk findet seine sensible Interpretationsmethode steht, dessen Interpretation aber das Zentrum neues Interesse. bleibt. Nach S. erscheinen die Temporalität Literatur: Sprache im techn. Zeitalter. Hg. des menschl. Daseins als Leitidee u. der Be- Walter Höllerer. H. 22, 1967 (Dokumentation zum griff des klass. Augenblicks als Höhepunkt Zürcher Literaturstreit). – Peter Salm: Drei Richtungen der Literaturwiss. Scherer, Walzel, S. Tüb. der Entwicklung Goethes. Als Gegenstück zum Goethe ist Friedrich 1970. – Werner Wögerbauer: E. S. (1908–1987). In: Schiller (Zürich 1967) anzusehen. Schillers Wissenschaftsgesch. der Germanistik in Porträts. Hg. Christoph König, Hans-Harald Müller u. Wermenschl. u. dichterische Problematik liegt ner Röcke. Bln./New York 2000, S. 239–249. – W. nach S. in der Spannung zwischen der Wögerbauer / Red.: E. S. In: IGL. – Joachim Rickes »Fremde des Lebens« u. der intendierten (Hg.): E. S. u. ›Die Kunst der Interpretation‹ heute. »Freiheit«, einer Spannung, aus der, über alle Ffm. 2007. – Ders. (Hg.): Bewundert viel u. viel philosophischen Bemühungen des Klassikers gescholten. Der Germanist E. S. (1908–1987). hinaus, die Dramen hervorgehen. Sie sollen Würzb. 2009. Jacob Steiner / Joachim Rickes durch das Mittel der beherrschenden Bühne die Leidenschaften wie Furcht u. Mitleid er- Stainreuter, Leopold ! Leopold von regen u. durch sie hindurch zur Freiheit Wien führen. Die Thematik der Zeit als der Einbildungskraft des Dichters deutet auf einen umfassenden Begriff der Literaturgeschichte hin. Er ist nicht nur vielen Einzelinterpretationen S.s inhärent, sondern kündet sich auch

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Stalder, Heinz, * 1.7.1939 Allenlüften/Kt. Bern. – Dramatiker, Erzähler, Hörspielautor. Nach einer Lehre als Bau- u. Kunstschlosser arbeitete S. 1962–1966 in einer Fabrik u. lernte zgl. an einem Abendgymnasium in Bern. Danach besuchte er eine Lehramtsschule in Luzern u. war seit 1968 in Biel u. Kriens bei Luzern als Lehrer tätig. Einige Zeit widmete sich S. auch dem Journalismus. Heute lebt er als freier Autor in Kriens u. London. S., ein Chronist des Schweizer Alltags, schreibt in Mundart u. Hochdeutsch. 1970 trat er mit vertonten Gedichten an die Öffentlichkeit (Ching hei si gnue. Bern), verschaffte sich aber schnell einen Namen als einer der jüngeren Schweizer Dramatiker. S. greift in seinen dramat. Texten u. a. auf eigene Erfahrungen, die Kindheit auf dem Bauernhof im bernischen Allenlüften u. den Schulalltag, zurück. In Ein Pestalozzi (Reinb. 1979. Urauff. Zürich 1979), einem Monolog eines Lehrers, nimmt er unzimperlich Repression im Schulbetrieb aufs Korn. In seinen Dorfdramen werden – in der Regel in grotesker Darstellung – allerlei Defizite des Bauernstandes in der Schweiz behandelt. In diesem Sinne ist das Mundartstück Fischbach oder Wi Unghüür us Amerika (Köln 1990. Urauff. Bern 1981. Prosafassung u. d. T. Das schweigende Gewicht. Reinb. 1981) zu lesen, in dem sich Vater u. Sohn durch den angesichts zivilisatorischer Zerstörungen sinnlos gewordenen Bauernalltag saufen u. sich die Mutter zu Tode isst – ein Thema, das in Lerchenfeld oder Die Enteignung (Reinb. 1982. Urauff. Graz 1981) bis ins Absurde variiert wird. Eine besondere Aufmerksamkeit in S.s. Gesamtschaffen verdient der Roman Marschieren (Zürich 1984). In Form eines Monologs zeichnet ein am Totenbett seiner Frau sitzender Bauer seinen eigenen Lebensweg nach. Das Erzählte vollzieht sich in Umbrüchen; es folgt der Arbeit des Gedächtnisses, dem Prinzip frei laufender Gedanken u. Erinnerungen. Der Erzähler, ein Fremdling in seinem Dorfmilieu, skrupellos Ausgenützter u. Ausgegrenzter, setzt seinem Dasein ein Ende, indem er, radikal vorgehend, seine

Stalder

geliebte Frau tötet. Mit dieser Szene erwacht das Subjekt S.s. zu sich selbst u. vollendet sein ›Marschieren‹ durchs Leben. Im Mittelpunkt des Romans steht das Scheitern der sozialen Kommunikation innerhalb einer autarken Dorfgemeinschaft, die sofort u. voraussetzungslos einen Neuangekommenen mit negativer Konnotation belegt. Das menschl. Miteinander ist hier im Grunde nichts anderes als eine chron. Störung, eine Kette endloser Variierung der Intoleranz gegen einen Anderen. S. erhielt den Kleinen Kunstpreis der Stadt Luzern (1975), den Welti-Preis (1979), den Kunstpreis der Stadt Luzern (1996), den Kunstpreis der Gemeinde Kriens (1998), den Schweizer Kinder- und Jugendmedienpreis (2005), den Basler Hörspielpreis (2005) u. den Anerkennungspreis der Marianne u. Curt Dienemann-Stiftung (2006). Weitere Werke: Angu. Bern 1971 (Berndt. Prosatexte). – 96 Liebesgedichte u. 20 Pullover. Bern 1974 (L.). – Gschlabber. Urauff. Luzern 1976 (D.). – Chatz u. Muus. Urauff. Bern 1983 (Monolog). – Der Todesfahrer. Ein Stück für einen Schauspieler. Reinb. 1985. Urauff. Bern 1986. – Die Hintermänner. Zürich 1986 (R.). – Sandgestrahlt. Schauspiel. Reinb. 1988. – Anhand der Füsse. Urauff. Zürich 1989 (D.). – London Journal. Luzern 1992 (L.). – basso continuo (zus. mit Klaus März u. Ueli Blum). Urauff. Theater zur letzten Runde. Steckborn 1993 (D.). – Londoner Textstücke. Luzern 1993. – Europa – ein Hemingwaygefühl? Abenteuernischen für Individualisten. Zürich 1994 (Reisebericht). – Gangway. Urauff. Zürich 1994 (D.). – Hellträumer. Urauff. Luzern 1996 (D.). – 52 Sinnbilder. Eine Begegnung mit Hergiswald. Fotos: Georg Anderhub. Luzern/Zürich 2006. – Hörspiele (Auswahl): Das Füllhorn. 1991. – Lätz-StichSchluugg. 1993. – Jack u. Ich. 1995. – Chnebelgrinde. Es läbe lang de Gring am Bode, u nie e Glogge um e Haus. 1996. (Alle Schweizer Radio DRS). Literatur: Gerda Zeltner: H. S. ›Marschieren‹. In: Antworten. Die Lit. der deutschsprachigen Schweiz in den achtziger Jahren. Hg. Beatrice v. Matt. Zürich 1991, S. 97–100. – Peter Rusterholz u. Andreas Solbach (Hg.): Schweizer Literaturgesch. Stgt./Weimar 2007. Pia Reinacher / Zygmunt Mielczarek

Stalmann

Stalmann, Reinhart, auch: Stefan Olivier, Stalmann Olivier, * 5.6.1917 Shanghai. – Romancier, Journalist, Psychotherapeut, Verfasser von Jugendliteratur. S. kam als Sohn eines Kaufmanns in Shanghai zur Welt. 1919 siedelte die Familie nach Deutschland um u. ließ sich in Hannoversch Münden nieder. Nach dem Abitur 1935 schlug S. eine militärische Laufbahn ein u. nahm als überzeugter Nationalsozialist am Zweiten Weltkrieg teil. Er kämpfte in Frankreich u. an der Ostfront u. brachte es bis zum Major u. Bataillonskommandeur. Im Sept. 1944 geriet er in brit. Kriegsgefangenschaft u. wurde im Monat darauf in ein kanad. Lager gebracht, wo er erstmals mit Dokumentarfilmen über dt. Konzentrationslager konfrontiert wurde. Das Lagerleben in Kanada hat S. in den Romanen Die Kavaliere von Kanada (Wiesb. 1952) u. Die Ausbrecherkönige von Kanada (Hbg. 1958. Stgt. 1973) geschildert. Erschüttert von der Erkenntnis, dass er fünf Jahre lang für ein verbrecherisches Regime gekämpft hatte u. beeindruckt von der freien Presse, beschloss S., Journalist zu werden. Über zahlreiche Lager 1946/47 in England gelangte er in das reeducation-camp Wilton Park bei London, dessen Insassen auf die demokratische Erneuerung Deutschlands vorbereitet wurden. Im Juli 1947 kehrte S. Nach Deutschland zurück u. begann Anfang 1948 seine journalistische Karriere bei den »Aachener Nachrichten«. Über den »EuropaKurier«, »Die Welt« u. »Hör zu« kam er 1955 zum »Stern«. 1951 hatte S. mit dem Kriegsroman Staub (Wiesb. 1951. Mchn. 1977; u. a. Übers. ins Englische u. Niederländische) als Erzähler debütiert, in dem er den autobiografisch geprägten Protagonisten Johann Lorenz einen Prozess der Desillusionierung durchlaufen lässt. Der Roman beginnt mit dem Einmarsch in Frankreich, schildert die Rollbahnen u. Schlachten in Russland u. endet mit der brit. Gefangenschaft in Amiens. Stilistisch gehört Staub in die Nähe der hard-boiled-Kriegsromane von Michael Horbach u. Gert Ledig. S., der sich als Angehöriger einer betrogenen Generation fühlte, setzte sich in seinem Roman Überleben ist alles (Hbg. 1957. Mchn.

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1963. Bergisch-Gladbach 1985), der zuerst in der Zeitschrift »Stern« u. d. T. Jedem das Seine erschienen war, mit den dt. Kriegsverbrechen u. der Judenvernichtung auseinander. Hauptfigur ist der Oberleutnant Herbert Boysen, der 1943 in Mazedonien gegen die inhumane Behandlung von Juden protestiert u. dafür in ein Konzentrationslager gesteckt wird. Kurz vor Kriegsende mit einem Strafbataillon in einen aussichtslosen Kampf geschickt, gerät er noch fünf Jahre in Kriegsgefangenschaft in Sibirien. Zurück im wirtschaftlich aufstrebenden Deutschland, betreibt er die juristische Verfolgung der für seine Inhaftierung Verantwortlichen. Für die angemessene literar. Darstellung eines Konzentrationslagers zog S. als Berater Eugen Kogon bei. In seiner Zeit beim »Stern« avancierte S. unter dem Pseud. Stefan Olivier zu einem hochbezahlten Starautor, dessen kolportagehafte Unterhaltungsromane in Fortsetzungen erschienen u. gesellschaftl. Reizthemen mit melodramat. Beziehungen verknüpften. Hervorzuheben ist darunter der Roman Alte Kämpfer (Wiesb. 1965) über den exemplarischen Mitläufer Thilo Jordan, in dem S. die opportunistische Haltung der beiden Kirchen dem Nationalsozialismus gegenüber attackiert. Um 1970 wandte sich S. zeitweise der (Science-Fiction-)Jugendliteratur zu. 1972 entschied sich S. für einen Neuanfang u. studierte in Zürich Psychopathologie u. Publizistik. Schon 1975 wurde er über das Thema »Psychologie und professionelle Attitüde der Pressejournalisten in der BRD« bei Gerhard Schmidtchen promoviert. Noch im selben Jahr eröffnete S. eine Praxis für Psychotherapie in München, wo er seit 1962 lebt. Seit Ende der 1970er Jahre nahm die Publikation von psycholog. Sachbüchern einen immer größeren Raum ein. Sowohl seine belletrist. Werke als auch seine Sachbücher erlebten zahlreiche Auflagen. 1999 erschien die dem Enkel gewidmete Autobiografie Lieber Jonathan. Ein Fahneneid und drei Karrieren 1917–1997 (Bln.). Weitere Werke: (Pseud. Stefan Olivier) Alle Himmel stehen offen. Hbg. 1956. Wien 2002 (R.). – (Pseud. Stefan Olivier) Die Blumen der Unschuld. Hbg. 1957. Köln 1983 (R.). – Bis zur letzten Stunde.

Stamm

175 Mchn. 1958 (R.). – Roman der verlorenen Söhne. Hbg. 1958. (Pseud. Stalmann Olivier) U.d.T. Die Legionäre. Stgt. u.a. 1977. – (Pseud. Stefan Olivier) Ball der einsamen Herzen. Mchn. 1964 (R.). – Gille ist immer dabei. Mchn. 1967 (Jugend-R.). – (Pseud. Stefan Olivier) Geliebte Genossin. Bern u. a. 1968 (R.). – Gille u. der Gammler. Mchn. 1969 (JugendR.). – Sein großer Freund vom anderen Stern. Mchn. 1971 (SF-Jugend-R.). – Alarm im Raumschiff. Mchn. 1972 (SF-Jugend-R.). – (Pseud. Stefan Olivier) Drei tote Bienen. Bergisch-Gladbach 1973 (Kriminal-R.). – Geheimnis Psychosomatik. Mchn. 1979. U. d. T. Um Leib u. Seele. Stgt. 1981. – Guten Tag, Traurigkeit. Mchn. 1984. Ffm. 1986. – Ein Mann lernt lieben. Ffm./Bln. 1987 (R.). – Herausgabe: Kindlers Hdb. Psychologie. Mchn. 1982. Jürgen Egyptien

Stamford, Heinrich Wilhelm von, * 1740 Bourges, † 16.5.1807 Schleswig. – Lyriker, Militärschriftsteller. S.s Herkunft ist nicht ganz geklärt. Nach Pröhle wurde er als Sohn eines in frz. Diensten stehenden Marineoffiziers, dessen Familie aus England stammte, geboren; Französisch war S.s Muttersprache. Im Siebenjährigen Krieg kämpfte er auf preuß. Seite. Später soll er in Göttingen Mathematik studiert haben. 1772–1775 unterrichtete er an der Klosterschule in Ilfeld/Harz. Hier ergaben sich freundschaftl. Kontakte zu Goeckingk u. Bürger, in deren Göttinger Musenalmanach S. zahlreiche Gedichte veröffentlichte, die ihm um 1780 einen gewissen Namen als Lyriker verschafften. Auch zum Gleimkreis in Halberstadt bestanden Verbindungen. S.s Gedichte wurden postum von einem Freund gesammelt (Nachgelassene Gedichte. Mit einer Vorrede von H. M. Marcard. Hann. 1808; unvollst.). In der Masse nicht über dem Durchschnitt anakreont. Poesie u. aufklärerischer Versfabeln, enthalten S.s Gedichte, in denen Bürger »viel Sanftes und Gefälliges« fand, auch einige melancholisch-empfindsame Lieder, die bis ins 19. Jh. bekannt waren u. ihren Platz in der Geschichte des dt. Liedes gefunden haben. Mitte der 1780er Jahre trat der Lyriker S. hinter dem Militär zurück. Friedrich II. ernannte ihn, der 1785/86 Mitherausgeber der »Militärischen Monatsschrift« in Berlin war,

zum Ausbilder des späteren Königs Friedrich Wilhelm III. u. vermittelte den Übergang in holländ. Dienste, in denen S. bis zum Generalleutnant aufstieg. Die Frucht seiner Bemühungen als militärischer Ausbilder war der (offenbar längere Zeit geschätzte) Entwurf einer Anweisung, den Kavalleristen in Friedenszeiten den ganzen Felddienst zu lehren (Bln. 1794). Literatur: Heinrich Pröhle: H. W. v. S. In: ADB. – Goedeke 4,1, S. 968. Matthias Richter

Stamm, Karl, * 29.3.1890 Wädenswil bei Zürich, † 21.3.1919 Zürich; Grabstätte: Wädenswil, Friedhof. – Lyriker. Der Kaufmannssohn, dessen Jugend durch den frühen Verlust der Mutter überschattet war, wollte zunächst Künstler werden, bildete sich dann aber am Seminar Küsnacht zum Volksschullehrer fort u. arbeitete ab 1910 in Lipperschwendi im oberen Tösstal in diesem Beruf. Dort schrieb S. seinen literar. Erstling, den geistig an Schopenhauer u. Nietzsche orientierten u. einem myst. Pantheismus huldigenden lyr. Zyklus Das Hohelied (Zürich 1913), der aus den Teilen Das Lied an die Natur, Das Lied der Liebe u. Das Lied der Seele zusammengesetzt ist, größtenteils aus gereimten vierstrophigen Gedichten besteht u. stellenweise einen hinreißenden hymn. Schwung entfaltet. 1914 trat S. eine neue Stelle in der Stadt Zürich an, wurde aber nach Kriegsbeginn zum Grenzdienst der Armee aufgeboten u. gestaltete diese Erfahrungen in den – eher konventionellen – Soldatengedichten, die er zum Sammelband Aus dem Tornister (ebd. 1915) beisteuerte. Sehr viel persönlicher, engagierter u. sozial empfindsamer, aber auch formal kühner u. im expressionistischen Sinne avantgardistisch waren die Gedichte, die S. während u. nach jener tiefen seel. u. menschl. Krise schrieb, die 1917 zu seiner krankheitsbedingten Entlassung aus der Armee führte. Der Titel Der Aufbruch des Herzens, unter dem sie 1919, wenige Tage nach dem Grippetod des Verfassers, bei Rascher in Zürich erschienen, gab das Stichwort für jene schweizerische Literatur der unmittelbaren Nachkriegszeit – u. a. Bührer, Marti, Moeschlin, Morgenthaler, Pulver, David Steinberg, Charlot Strasser –, die S.s solidar.

Stamm

Zuwendung zu den vom Krieg heimgesuchten europ. Völkern mitvollziehen u. aus der Selbstgerechtigkeit u. Lethargie des Verschontseins ausbrechen wollte. Diese zeitbedingte Aktualität hatte zur Folge, dass die Werkausgabe, die Eduard Gubler herausgab (Dichtungen. 2 Bde., ebd. 1920) u. die neben einer Reihe erstmals publizierter Gedichte auch die bis dahin unveröffentlichten Legenden enthielt, ungewöhnlich große Beachtung fand u. S.s inzwischen wieder in Frage gestellten Ruhm als Klassiker der jüngeren Schweizer Dichtung begründete. Weitere Werke: K. S.s Briefe. Ges. u. hg. v. Eduard Gubler. Zürich 1931. Literatur: Paul Müller: K. S.s Lyrik. Diss. Zürich 1922. – Werner Günther: K. S. In: Ders.: Dichter der neueren Schweiz 2. Bern 1968, S. 631–656. – Elisabeth Rohner u. Muriel Zbinden: K. S. In: Helvet. Steckbriefe. 47 Schriftsteller aus der dt. Schweiz seit 1800. Bearb. vom Zürcher Seminar für Literaturkritik mit Werner Weber. Zürich/Mchn. 1981, 208–214. Charles Linsmayer

Stamm, Peter, * 18.1.1963 Weinfelden/Kt. Thurgau. – Schriftsteller u. Journalist. Nach einer kaufmänn. Lehre (1979–1982) arbeitete S. u. a. als Buchhalter in Paris. Auf dem zweiten Bildungsweg holte er das Abitur nach u. studierte einige Semester Anglistik, Psychologie, Psychopathologie u. Wirtschaftsinformatik in Zürich. Weitere Auslandsaufenthalte führten ihn nach New York u. Skandinavien. Seit 1990 ist er freier Autor u. Journalist. S. schrieb zunächst Hörspiele, Persiflagen von Groschenromanen (Schwester Erna. 1994. Überarb. Fassung. Winterthur 2002. Herbert. 1994. Überarb. Fassung. Ebd. 2002) u. Satiren (Alles über den Mann. Mit Cartoons v. Brigitte Fries. Rorschach 1995), bevor er mit seinem Debütroman Agnes (Zürich/Hbg. 1998) Aufsehen erregte. Der Text spielt mit dem Verhältnis von Literatur u. Leben, Fiktion u. Wirklichkeit u. wurde von der Literaturkritik als Beispiel postmodernen Erzählens gewürdigt. Die Titelfigur, eine junge Physikdoktorandin, bittet ihren Geliebten (u. Ich-Erzähler), einen aus der Schweiz stammenden Verfasser von Sachbüchern, der sich zu Recher-

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chezwecken in Chicago aufhält, eine Geschichte über sie u. ihre gemeinsame Beziehung zu schreiben. Als Agnes ein Kind von ihm erwartet, reagiert der Erzähler abweisend. Daraufhin verlässt sie ihn, kehrt aber nach einer Fehlgeburt zurück. Unterstützt von Agnes, schreibt der Erzähler die Geschichte weiter: Das Kind kommt zur Welt, die Eltern heiraten u. die Familie ist glücklich. Heimlich verfasst der Erzähler aber einen zweiten Schluss, in dem Agnes stirbt. Am Ende des Romans ist Agnes verschwunden. Der Eingangssatz scheint wahr geworden zu sein: »Agnes ist tot. Eine Geschichte hat sie getötet.« S.s elegisch grundierte Romane, die Lob u. Begeisterung der Kritik ernteten, handeln von Geschlechterverhältnissen, die von Einsamkeit, Fremdheit u. Kommunikationslosigkeit geprägt sind. Die Männer sind meist ohne Illusionen, teilnahmslos u. unentschlossen. Dennoch suchen sie immer wieder die Nähe zum anderen Geschlecht, das ihnen an Leidenschaftlichkeit, Beziehungsfähigkeit u. Verantwortungsbewusstsein oft überlegen ist. S.s zweiter Roman Ungefähre Landschaft (Zürich/Hbg. 2001) ist aus der Perspektive einer Frau erzählt. Als Kathrine, die Hauptfigur des Romans, erfährt, dass Thomas, mit dem sie in zweiter Ehe verheiratet ist, ein Aufschneider ist, der sich seine erfolgreiche Biografie erlogen hat, verlässt sie ihn u. ihr Dorf im nördl. Norwegen u. begibt sich auf eine Reise in den Süden, auf der sie erkennt, was wichtig für sie ist: die Freunde, die Mutter u. ihr kleiner Sohn Randy aus ihrer geschiedenen ersten Ehe. Sie kehrt in ihre Heimat zurück u. beginnt mit ihrem alten Schulfreund Morten ein neues Leben. Auch in S.s drittem Roman An einem Tag wie diesem (Ffm. 2006) werden Aufbruch u. Neubeginn geschildert. Ein ärztl. Befund, der eine lebensbedrohl. Erkrankung befürchten lässt, wird für Andreas, der an einem Gymnasium in der Nähe von Paris Deutsch unterrichtet, zum Anlass, mit der Routine seines Alltags zu brechen. Er kündigt sein Arbeitsverhältnis, verlässt seine Geliebten u. fährt mit seiner Kollegin Delphine, die sich in ihn verliebt hat, in die Schweiz, um seine unvergessene Jugendliebe Fabienne aufzusuchen, die mit

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Stanisˇic´

seinem Freund Manuel verheiratet ist. Der et lieux familiers dans ›In fremden Gärten‹ de P. S. Schluss zeigt ihn, über den Zufall sinnierend, In: Germanica 39 (2006), S. 149–161. – Tanja van dem er seine Begegnungen mit Frauen ver- Hoorn: P. S. In: KLG. Peter Langemeyer dankt, zusammen mit Delphine am Atlantik. In seinem Roman Sieben Jahre (Ffm. 2009) vaStanisˇic´, Sasˇ a, * 7.3.1978 Visˇ egrad/Jugoriiert S. das Beziehungsmuster der Dreiecksslawien. – Erzähler, Hörspielautor. geschichte. Alex, der mit Sonja verheiratet ist, erlebt mit der Polin Iwona eine Amour fou. Als 14-Jähriger erlebte S., Sohn eines serb. Sonja ist in jeder Hinsicht das genaue Ge- Vaters u. einer bosn. Mutter, im Bosnienkrieg genteil von Iwona – attraktiv, klug, erfolg- 1992 die Belagerung seiner Heimatstadt reich im Beruf u. überzeugt, dass sich das durch serb. Truppen u. floh mit seinen Eltern Leben planen lässt. Lediglich ein Kind bleibt nach Deutschland. In Heidelberg besuchte er dem Paar versagt. Als Iwona von Alex eine internat. Gesamtschule u. legte 1997 das schwanger wird, beschließen die Eheleute, Abitur ab. Nach einem Studium in Heideldas Kind zu adoptieren. Alex gelingt es, berg, das er mit einer durch den JürgenIwona zum Verzicht auf ihr Kind zu bewegen. Fritzenschaft-Preis ausgezeichneten MagisDer Roman wird aus der Retrospektive er- terarbeit abschloss, nahm er 2004 ein Studizählt: Alex gesteht einer Freundin die Ver- um am Deutschen Literatur-Institut in Leipzig auf. 2005 war S. mit der Erzählung Was fehltheit seines Lebens. Auch in seinen (Kurz-)Erzählungen (ge- wir im Keller spielen [...] (in: Die Besten 2005. sammelt in: Blitzeis. Zürich/Hbg. 1999. In Klagenfurter Texte [...]. Hg. Iris Radisch. Mchn. fremden Gärten. Ebd. 2003. Wir fliegen. Ffm. 2005, S. 163–174) zum Wettbewerb um den 2008. Seerücken. Ffm. 2011) u. in seinen Ingeborg-Bachmann-Preis eingeladen u. geTheaterstücken (Auswahl in: Der Kuß des wann den Kelag-Publikumspreis. Sein DeKohaku. Zürich/Hbg. 2004) konzentriert S. bütroman Wie der Soldat das Grammofon repasich häufig auf private Beziehungskonstella- riert (Mchn. 2006) gelangte im Jahr seines tionen, die er in kühler Distanz, unter Ver- Erscheinens auf die Short List des Deutschen zicht auf psychologisierende Handlungsmo- Buchpreises, wurde mit dem Förderpreis des tivation u. in einer lakon. Sprache schildert, Literaturpreises der Stadt Bremen ausgedie dem Leser Räume für eigene Gefühle u. zeichnet u. in einer Hörspiel-Adaption des Bayerischen Rundfunks für den Deutschen Assoziationen öffnet. Hörbuchpreis 2007 nominiert. 2008 erhielt S. Weitere Werke: Gotthard. Die steinerne Seele der Schweiz. Mit Fotos v. Markus Bühler. Zürich den Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert 1997. – (Hg.) Diensttage. Schweizer Schriftsteller u. Bosch Stiftung u. den Förderpreis zum Heiihr Militär. Mchn./Wien 2003 (Anth.). – Ihr Ge- mito von Doderer-Literaturpreis. S.s zentraler Gegenstand ist der Bosniensicht/Son Visage. Illustrationen v. Jean Crotti u. Jean-Luc Manz. Alpnach Dorf 2003 (E.). – Warum krieg, den er in seinem Debütroman aus der wir vor der Stadt wohnen. Illustr. v. Jutta Bauer. Perspektive eines Heranwachsenden darWeinheim/Basel 2005 (Kinderbuch). – Heidi. Nach stellt. Der Protagonist Aleksandar trägt starke Johanna Spyri. Mit Bildern v. Hannes Binder. autobiogr. Züge S.s, der in episodenhaften Mchn. 2008 (E.). Erzählungen, aber auch in Form von eingeLiteratur: Magret Möckel: Erläuterungen zu P. betteten Gedichten u. Briefen von AlltagsS., ›Agnes‹. Hollfeld 2001. – Thomas Kraft: P. S. In: szenen aus Visˇ egrad sowie von seinem AufLGL. – Birgit Schmid: Die literar. Identität des enthalt in Deutschland berichtet. Die literar. Drehbuchs. Untersucht am Fallbeispiel ›Agnes‹ v. Verarbeitung des Geschehens ist durch die P. S. Bern u. a. 2004. – Susanne Kaul: Travelling in Naivität des kindl. Blicks gekennzeichnet, Uncharted Territories. The ›Ungefähre Landschaft‹ (P. S.) as a Metaphor for the Self. In: KulturPoetik 4 aus dessen Perspektive ein Geschehen ge(2004), H. 2, S. 192–201. – Ricarda Dreier: Lit. der schildert wird, dessen Banalität sich schnell 90er-Jahre in der Sekundarstufe II. Judith Her- als Schein offenbart. Durch die an den Pikamann, Benjamin v. Stuckrad-Barre u. P. S. Balt- roroman erinnernde, oft humorvoll-iron. Ermannsweiler 2005. – Joëlle Stoupy: Lieux étrangers zählweise entsteht der Eindruck des Absur-

Stapfer

den, der als deutl. Kritik gegenüber dem geschilderten Kriegsgeschehen zu verstehen ist. Von der Kritik zwar wohlwollend, nicht jedoch überschwänglich aufgenommen, fand der Roman beim Lesepublikum großen Anklang (zahlreiche Neuauflagen u. Lizenzausgaben, Übersetzungen u. Tonträgeradaptionen) u. gilt heute als eines der populärsten Beispiele für die Auseinandersetzung der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur mit dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Neben seinem Debütroman ist S. durch zahlreiche Erzählungen in Erscheinung getreten, die in Anthologien u. Zeitschriften erschienen sind. Übergreifendes Thema bleibt der Bosnienkrieg. Leonhard Herrmann

Stapfer, Philipp Albert, * 23.9.1766 Bern, † 27.3.1840 Paris. – Kultur- u. Bildungspolitiker; Publizist. Als Sohn eines Predigers erhielt S. zunächst häusl. Unterricht u. besuchte dann die Literarschule u. die Akademie Berns. Dort u. in Göttingen studierte er Philosophie u. Theologie. 1791 unternahm er eine längere Reise nach London u. Paris, wo er die schweizerischen Verhältnisse kritisch zu sehen begann. Seine Sympathie für die Französische Revolution brachte ihn als Jakobiner in Verruf. 1791 wurde er am polit. Institut in Bern Professor für theoret. Theologie, 1792 für Philologie u. später für Philosophie. 1792 erschien seine Apologie für das Studium der klassischen Werke des Altertums (Bern), die sich gegen entsprechende Einwürfe Ernst Christian Trapps u. Campes wendet. Seine von Kant beeinflussten religiösen Ansichten finden sich in De natura conditore et incrementis reipublicae ethicae u. Versuch eines Beweises der göttlichen Sendung und Würde Jesu aus seinem Charakter (beide Bern 1797). 1798 heiratete S. Marie Madeleine Pierrette Vincent, die er in Paris kennen gelernt hatte. Mit der helvet. Revolution u. der Gründung der helvet. Republik 1798 begann der wichtigste Abschnitt in S.s Leben. Zunächst wurde er in diplomatischer Mission nach Paris gesandt u. am 2.5.1798 vom helvet. Direktorium zum Minister der Künste u. Wissenschaften ernannt. In diesem Amt bemühte

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er sich intensiv um das Volksbildungswesen, die Lehrerbildung, die öffentl. Bibliotheken sowie die Gründung einer eidgenöss. Hochschule u. eines Nationaltheaters. Viele der Projekte ließen sich wegen der zerrütteten Finanzen nicht verwirklichen, wirkten im 19. Jh. jedoch weiter. Im »Bureau für Nationalkultur«, das sich um die Schaffung von literar. Gesellschaften, Nationalgesängen u. Nationalfesten verdient machte, arbeitete S. mit Pestalozzi, Franz Xaver Bronner u. Zschokke an der Hebung der Volksbildung u. gründete das »Helvetische Volksblatt«, das zunächst von Pestalozzi redigiert wurde u. der polit. Volksaufklärung dienen sollte. Die kostenlos verteilte Zeitung sollte insbes. den bäuerl. Widerstand gegen die bürgerl. Ordnung dämpfen. In mehreren Schreiben an die Geistlichen warb S. um die Unterstützung der Republik. Als Unitarier setzte er sich energisch für eine einheitliche Schweiz ein. 1800 ging S. als schweizerischer Gesandter nach Paris. Mit dem Ende der Helvetik zog er sich von der Politik zurück u. widmete sich in Frankreich v. a. literar. Arbeiten u. als Übersetzer der Verbreitung dt. Literatur u. Wissenschaft. Besonders förderte er die protestantische Kirche, gründete religiöse Gesellschaften u. die schweizerische Hülfsgesellschaft in Paris. Engen Umgang hatte S. mit Karl Viktor von Bonstetten, Alexander von Humboldt u. Mme. de Staël. Er wirkte an zahlreichen literar. Zeitschriften mit u. lieferte für die Biographie universelle u. a. die Beiträge zu Adelung, Arminius, Büsching, Kant, Lichtenberg, Michaelis, Sokrates u. Wyttenbach. Mit Joseph Marie de Gérando u. Martin M. C. de Vanderbourg gründete er 1804 die »Archives littéraires« u. nach deren Einstellung 1808 die Mélanges de littérature étrangère. Selbst verfasste S. noch mehrere historisch-geografische Schriften. Weitere Werke: De philosophia Socratis [...]. Bern 1786. – Die fruchtbarste Entwicklungsmethode der Anlagen des Menschen [...]. Ebd. 1792. – Instruktionen für die Erziehungsräte u. Schulinspectoren. Luzern 1799. – Bemerkungen über den Zustand der Religion u. ihrer Diener. Bern 1800. – Voyage pittoresque de l’Oberland bernois [...]. Paris 1812. – Histoire et description de la ville de Berne. Ebd. 1835.

Staphylus

179 Literatur: Rudolf Luginbühl: P. A. S. [...]. Basel 1887. 21902. – Ders.: Briefe [...] an P. A. S. In: Archiv des histor. Vereins des Kantons Bern 13 (1893), H. 1. – Paul Wernle: Der schweizer. Protestantismus in der Zeit der Helvetik. Bd. 1, Zürich/Lpz. 1938. Bd. 2, Zürich 1942. – Adolf Rohr: Von den geistigen Voraussetzungen für P. A. S.s helvet. Erziehungsplan. In: FS Otto Mittler. Hg. Georg Boner. Aarau 1960, S. 227–241. – Ders.: P. A. S.s Briefe aus England u. Frankreich 1790/91. Ebd. 1966. – Holger Böning: Revolution in der Schweiz. Ffm. u. a. 1985. – Ders.: Mündl. u. publizist. Formen der polit. Volksaufklärung. In: Dt. Presseforsch. (Hg.): Presse u. Gesch. 2. Mchn. 1987, S. 259–285. – Albert Portmann-Tinguely: P. A. S. In: Bautz. – Adolf Rohr: P. A. S. – eine Biogr. Im alten Bern vom Ancien régime zur Revolution (1766–1798). Bern 1998. – Klaus Vieweg: Wir bringen unser Jena mit nach dem Vaterland. Fichte u. das freie Helvetien. Ein Brief v. Johann Gottlieb Fichte an P. A. S. vom 6. April 1799. In: Fichte in Gesch. u. Gegenwart. Hg. Helmut Girndt. Amsterd. 2003, S. 295ff. – Ernst Martin: P. A. S., Heinrich Pestalozzi u. die helvet. Schulreform. Eine kontextuelle Analyse. Zürich 2004. – A. Rohr: P. A. S. – Minister der Helvet. Republik u. Gesandter der Schweiz in Paris 1798–1803. Baden 2005. – Gustav Adolf Lang: Aufgeklärter Patriot in turbulenter Zeit. Der in Bern aufgewachsene P. A. S. als Minister der Helvet. Republik u. als Gesandter in Paris in den umstrittenen Umbruchjahren 1798 bis 1803. In: Revue suisse d’histoire 56 (2006), S. 184–186.

Nachweis ihrer histor. Kontinuität u. der eindringl. Manifestation ihrer heilsgeschichtl. Aufgabe. Dramaturgisch wirkungsvoll lässt S. die Reihe der teuflisch gelenkten Widersacher bei den Initiatoren der Glaubensspaltung enden. Szenische Gestaltung u. Spielpraxis sind an der Tradition des spätmittelalterlichen religiösen Schauspiels orientiert. Das Stück besteht aus 3718 paarweise gereimten Vierhebern u. ist für eine großflächige Simultanbühne mit 30 Spielorten konzipiert. Zusammen mit einem Rollen- u. Spielerverzeichnis ist das Textbuch als Autograf von 1614 erhalten. Ausgaben: Elke Ukena: Die dt. Mirakelspiele des SpätMA. Studien u. Texte. Bern/Ffm. 1975, S. 787–954. Literatur: Elke Müller-Ukena: Zur Biogr. W. S.s, eines Dramatikers der Schweizer Gegenreformation. In: Daphnis 5 (1976), S. 51–66. – Heinrich Biermann: Die deutschsprachigen Legendenspiele des späten MA u. der frühen Neuzeit. Köln 1977, S. 219–262. – Rolf Bergmann: Aufführungstext u. Lesetext. Zur Funktion der Überlieferung des mittelalterl. geistl. dt. Dramas. In: The Theatre in the Middle Ages. Hg. Herman Braet u. a. Leuven 1985, S. 314–351. – Ders.: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986, S. 35–37. Elke Ukena-Best

Holger Böning / Red.

Staphylus, Friedrich, eigentl.: Stapellage, * 27.8.1512 Osnabrück, † 5.3.1564 IngolStapfer, Wilhelm, * um 1550 Schweiz, stadt. – Kontroverstheologe, Konvertit. † 6.1.1616 Solothurn. – Dramatiker. Der Sohn des zuletzt als Prediger am Solothurner St. Ursenstift tätigen Lorenz Stapfer war Anhänger der Gegenreformation u. ist in Solothurn seit 1594 urkundlich verzeichnet. Ab 1599 wirkte er im Amt des Stiftsorganisten. Zuvor hatte er den Organistenberuf in Zug ausgeübt, wo er am 4.10.1598 mit den Bürgern der Stadt eine Aufführung seiner Tragoedia von Erfindung deß Heiligen FronCreützes Wie ouch deßen Erhöchung veranstaltet hatte. Die nach der Version der Legenda aurea in zehn Episoden dramatisierte Geschichte vom Kreuzesholz Christi beginnt bei Adam u. Seth u. mündet in die Gegenwart des späten 16. Jh. In der Funktion eines dramat. Exempels erhebt u. begründet das Stück den Ausschließlichkeitsanspruch der kath. Kirche mit dem

Der früh verwaiste S., jüngster Sohn eines bischöfl. Verwalters, wuchs bei Verwandten in Danzig u. Litauen auf. Um 1529 nahm er das Studium in Krakau auf, das er 1531–1533 in Padua u. seit ca. 1535 in Wittenberg (Immatrikulation erst im Jan. 1539), v. a. bei Melanchthon, fortsetzte, wo er am 22.2.1541 zum Magister promoviert u. am 18.10.1543 in die Philosophische Fakultät rezipiert wurde. 1546 berief ihn Herzog Albrecht von Preußen auf Empfehlung Melanchthons auf die theolog. Professur der 1544 gegründeten Universität Königsberg (S. war im Wintersemester 1547 erster gewählter Rektor, am 8. Sept. wurde er gratis immatrikuliert). In Königsberg war S. aktiv in die Auseinandersetzungen um den von der luth. Orthodoxie der ›anabaptistischen Schwarmgeisterei‹ be-

Staphylus

schuldigten niederländ. Exulanten Gulielmus Gnaphaeus (Willem de Volder, 1492–1568) u. um die Rechtfertigungslehre Andreas Osianders involviert. Gegen jenen ist das Scriptum contra apologiam Gnaphei (Ms., 1547, Geh. Staatsarchiv Preuß. Kulturbesitz Berlin) gerichtet, gegen diese schrieb er, nachdem er im Aug. 1551 Königsberg verlassen hatte, in Danzig die Synodus sanctorum patrum antiquorum contra nova dogmata Andreae Osiandri (Nürnb. 1552), in der sich sein Bruch mit der Reformation abzeichnet. In Breslau, wo er für kurze Zeit als Griechischlehrer am Elisabethgymnasium tätig gewesen war (vgl. Oratio de literis, et praecipue graecis [...]. Breslau 1550 [Antrittsrede vom 25.7.1550]) u. geheiratet hatte, trat S. in die Dienste des Bischofs v. Breslau u. konvertierte 1553 als einer der ersten reformatorischen Theologen zum Katholizismus. Er hat, anders als etwa Georg Witzel (vgl. dessen Apologia, 1533), keine förml. Konversionsschrift verfasst u. seine Absage an die reformatorische Lehre in seinen Schriften nicht als Gesinnungswandel thematisiert, sondern vielmehr betont, die Zugehörigkeit zur ›katholischen‹ Kirche zu keiner Zeit willentlich aufgegeben zu haben. Von Neiße aus entfaltete S. intensive antireformatorische Aktivitäten; seit Herbst 1555 wirkte er als Rat König Ferdinands für die kaiserl. Religionspolitik. 1557 nahm er teil am Wormser Religionsgespräch, einem der Versuche, die Glaubensspaltung im Reich zu überwinden (vgl. dazu seine polem. Theologiae Martini Lutheri trimembris epitome [...]. Nuper collecta Wormatiae, durante colloquio. o. O. 1558 [u. a. Ausg.n]. Internet-Ed. in: VD 16; dt.: Das klain Corpus [...]. Ingolst. 1575. Internet-Ed. in: ebd.). Seit 1558 Rat Herzog Albrechts V. von Bayern, wurde S. (mit päpstl. Dispens wegen seiner Ehe) im Mai 1559 zum Dr. theol. promoviert u. 1560 an die Universität Ingolstadt berufen; zum Kurator ernannt, war er für deren Reform im Sinn jesuit. Lehre verantwortlich. Ausgehend vom röm. Traditionsprinzip u. unter Berufung auf den allgemeinen kirchl. Konsens bekämpfte S. vor allem die luth. Lehre von der Selbstauslegung der Bibel u. vermittelte in zahlreichen Streitschriften propagandistisch wirkungsvoll den Eindruck

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der inneren Zerrissenheit des Protestantismus. Seinen gegenreformatorischen Aktivitäten kommt maßgebl. Bedeutung auch für den Prozess der kath. Konfessionalisierung zu. Weitere Werke: Disputatio contra circumcelliones [...]. Königsb. 1548. – Historia et apologia utriusque partis, catholicae et confessionariae, de dissolutione colloquij nuper Wormatiae instituti [...]. Wien 1558. – Defensio pro trimenbri theologia. M. Lutheri, contra aedificatores babylonicae turris [...]. Dillingen 1559. – Von dem rechten vorstandt deß göttlichen Worts, Dolmetschungk der Heiligen Bibel, u. wegen seiner eigenen Person vorantwortung wieder Philippum Melanthonem [...]. Neiße 1560. Lat.: Apologia [...] cuius praecipua argumenta sunt, de vero germanoque scripturae sacrae intellectu [...]. Übers. Laurentius Surius. Köln 1561. – Vortrab zu8 rettung des Bu8 chs. Vom rechten waren verstand des göttlichen worts [...]. Ingolst. 1561. – Christlicher gegenbericht an den gottseligen gemainen Layen, vom rechten wahren verstand des göttlichen worts, von verdolmetschung der teütschen Bibel, u. von der ainigkeit der lutherischen Predicanten. Ingolst. 1561. – Vom letsten u. grossen Abfall, so vor der zu8 kunfft des Antichristi geschehen soll. Ingolst. 1565. Ausgaben: The apology of Fridericus Staphylus [...]. Übers. Thomas Stapleton. Antwerpen 1565. Nachdr. London 1975; dass.: Internet-Ed. in: The Digital Library of the Catholic Reformation (http:// solomon.dlcr.alexanderstreet.com//). – In causa religionis sparsim editi libri, in unum volumen digesti [...]. Ingolst. 1613. – Internet-Ed. etlicher Werke in: VD 16. Literatur: Bibliografien: Klaiber, S. 270 f. – VD 16. – Weitere Titel: Christoph Hartknoch: Preuss. Kirchen-Historia [...]. Ffm./Lpz. 1686, S. 295–342 (S. 297 f. Abdruck der Disputationsthesen v. Gnaphaeus). – Daniel H. Arnoldt: Ausführl. u. mit Urkunden versehene Historie der Königsbergischen Univ. 2 Tle. u. mehrere Zusätze, Königsb. 1746–1804. Nachdr. in 4 Bdn., Aalen 1994, Register. – Räß, Convertiten, Bd. 1, S. 337–363 (mit Textauszügen). – Paul Tschackert: F. S. In: ADB. – Johannes Soffner: F. S., ein kath. Kontroversist u. Apologet aus der Mitte des 16. Jh. [...]. Breslau 1904 (Werkverz. S. 99–165). – Konrad Müller: F. S., ein Konvertit des sechzehnten Jh. In: Jb. für schles. Kirchengesch. N. F. 36 (1957), S. 24–45. – Kurt Forstreuter: F. S. In: Altpr. Biogr., Bd. 2, S. 690. – Ute Mennecke-Haustein: F. S. (1512–1564). Von Wittenberg nach Ingolstadt. In: Melanchthon in seinen Schülern [...]. Hg. Heinz Scheible. Wiesb.

Staricius

181 1997, S. 405–425. – Dies.: Die Konversion des F. S. (1512–1564) zum Katholizismus – eine conversio? In: Konversionen im MA u. in der Frühneuzeit. Hg. Friedrich Niewöhner. Hildesh. 1999, S. 71–84. – Klaus-Peter Möller: Oberschles. Autoren 1450–1620. In: Oberschles. Dichter u. Gelehrte vom Humanismus bis zum Barock. Hg. Gerhard Kosellek. Bielef. 2000, S. 538 f. – U. MenneckeHaustein: F. S. In: TRE. – Dies.: Conversio ad Ecclesiam. Der Weg des F. S. zurück zur vortridentin. kath. Kirche. Heidelb. 2003. – Kai Bremer: Religionsstreitigkeiten. Volkssprachl. Kontroversen zwischen altgläubigen u. evang. Theologen im 16. Jh. Tüb. 2005, S. 101–134 u. Register. Reimund B. Sdzuj

Staricius, Johann, auch: Jonas à Strein, * um 1580 Schkeuditz bei Leipzig, † nach 1626. – Herausgeber von Liedern, Publizist tagespolitischer, religiöser u. alchemoparacelsistischer Schriften. S. war ein Lizentiat der Jurisprudenz u. Medizin, der an Hohen Schulen (Leipzig 1590, Wittenberg 1598, Rostock 1607) studiert hatte, etwa seit 1609 als Organist in Frankfurt/M. lebte, dann als Notarius in Aschaffenburg (1615) u. sich schließlich in Magdeburg (1618), Hamburg (1620; zu dieser Zeit fürstlich-holsteinischer Medicus), Reval (1622), Lübeck (1623) u. Schleißheim (1626) aufhielt. Spätestens seit 1611 war er ›gekrönter Poet‹; Bekanntschaft hatte er mit Martin Opitz (Frankfurt/O. 1616). Zu seinen Publikationen zählen Newe Teutsche Weltliche Lieder [...] neben [...] Teutschen Täntzen (Ffm. 1609), drei textlich versippte ›Gesangbüchlein‹ (Leibfarbe HertzRose. Hbg. 1620. Holsteinische Mertzenviol. Hbg. 1620. Leibfarbe CreutzRose. Hbg. 1620), ein auf Religionsfrieden drängender Traktat zur aktuellen Bündnispolitik (Discursus politicus. 1618), ein Ratgeber für Reichstagsbesucher (Comitiorum fidus Achates. Lpz. 1621 u. ö.; piratenartiger Nachdruck eines seit 1612 anonym erschienenen Berichts) sowie ein tagespolit. Prognosticon (Augurium portentosum, Das ist: [...] Außlegung der [...] geschossenen Adlern. Darmst. 1623). An den religiösen Dissidenten u. Alchemoparacelsisten S. erinnern sowohl seine (Ps.-)Weigeliana- (Libellus disputatorius. Moise Tabernaculum. Bericht Vom Wege vnd Weise

alle Ding zuerkennen. Von der Gelassenheit. Gnothi Seavton. Tl. 3. Magdeb. 1618) u. ParacelsicaAusgaben (Philosophia de limbo. Magdeb. 1618. Ffm. 1644. Clavis, Oder/ Das Zehende Buch der Archidoxen. Magdeb. 1624) als auch seine nach Vorlage einer dt. Übersetzung entstandene Versfassung einer lat. Rosenkreuzerschrift (Ara Foederis Theraphici.F.X.R. Magdeb. 1618, 1621), aber auch persönl. Beziehungen zu Jacob Böhme (S. beteiligte sich 1622 an einer Disputation zum Thema Gnadenwahl mit Böhme), Balthasar Walther, Joachim Morsius u. Jakob Alstein. Nachruhm sicherte S. insbes. seine Ausgabe eines Traktats aus der Feder eines anonymen Arztes (HeldenSchatz/ Das ist; Naturkündliches Bedencken [...] Daraus [...] zu vernehmen/ was zu [...] Martialischer Außrüstung eines Kriegshelden vnd Ritters [...] gehörig. Ffm. 1615 u. ö.; Freib. i. Br. 1978 [Reprint der Ausgabe Köln/Weimar 1750 bzw. Stgt. 1855]), der eine paracelsistische Deutung der Mitteilungen Homers über die Waffen Achills u. Informationen über ›electro-magische‹, nämlich aus »Electrum magicum« hergestellte Waffen, aber auch über Festmachen, Schießpulver, Feuerwerkerei, über den Gebrauch einer bestimmten ›Waffensalbe‹ zur Fernheilung eines Verwundeten u. andere sympathetisch-magische Heilpraktiken birgt. Der Dreißigjährige Krieg verhalf dem Heldenschatz zu mehreren Ausgaben. Eingedenk der Aufgaben eines frühneuzeitl. ›Hausvaters‹ wandelten Redaktoren das Not- u. Hilfsbüchlein für »Kriegsleuthe« in ein umfängl. ›Arznei- Kunst- und Wunderbuch‹, das eine Vielzahl an prakt. Ratschlägen zur Daseinsbewältigung in Haus u. Hof bot u. sich bis in das 18. Jh. in etlichen Drucken u. einer frz. Übersetzung auf dem Büchermarkt behauptete. – S. figuriert in Walter Ummingers Briefroman Das Winterkönigreich (Stgt. 1994, Nr. 192, 217, 387). Weitere Werke: Acclamatio (Preisgedicht auf Jakob Alstein). Marburg/L. 1615. – Gedicht (20.3.1624). In: Lübeck, Stadtbibl., Album Morsianum, II, 391 ff. (Autograf). – Eintrag (Schleißheim 1626). In: Stammbuch Johann Elichmann. London. Wellcome Historical Medical Library. Ms. 257. Ausgaben: Fischer/Tümpel, Bd. 2, S. 141 f. (Osterlied). – Vetter (1928), Bd. 2, S. 16–19 (zwei

Starke Lieder). – Dreizehn [...] Kunststücke v. Johann Staricio. Gedruckt anno 1706. Mit Radierungen v. Detlef Heider. Koblenz 1973. – CD mit Liedern, produziert vom Schkeuditzer Chor ›Art Kapella‹. – Martin Opitz: Briefw. u. Lebenszeugnisse. Krit. Ed. mit Übers. Hg. Klaus Conermann. Bd. 1, Bln. 2009, S. 225: Schenkungseintrag (Autograf). Literatur: Max Jähns: Gesch. der Kriegswiss.en vornehmlich in Dtschld. Abt. 2, Mchn./Lpz. 1890, S. 986 f. – Robert Eitner: J. S. In: ADB. – Walther Vetter: Das frühdt. Lied. Ausgew. Kap. aus der Entwicklungsgesch. u. Aesthetik des ein- u. mehrstimmigen dt. Kunstliedes des 17. Jh. Münster/ Westf. 1928 (Universitas-Archiv. 8), Bd. 1, S. 63–70. – Fritz Schiele: Zu den Schr.en Valentin Weigels. In: ZKG 48/N. F. 11 (1929), S. 380–389. – WillErich Peuckert: Johannes S. u. sein ›Heldenschatz‹. In: Saga och Sed. Kungl. Gustav Adolfs Akademiens Årsbok 1959, S. 108–113. – Harald Kümmerling: J. S. In: MGG. Bd. 12 (1965), Sp. 1187. – W.-E. Peuckert: Gabalia. Ein Versuch zur Gesch. der magia naturalis im 16. bis 18. Jh. Bln. 1967 (Pansophie. Tl. 2), S. 320–337. – Karl-Peter Wanderer: Gedruckter Aberglaube. Studien zur volkstüml. Beschwörungslit. Diss. phil. Ffm. 1976, S. 188–198. – Helmut Möller: S. u. sein ›HeldenSchatz‹. Episoden eines Akademikerlebens. Gött. 2003. – Hereward Tilton: Of Electrum and the Armour of Achilles. Myth and Magic in a Manuscript of Heinrich Khunrath (1560–1605). In: Aries 6 (2006), S. 117–157. – Harald Kümmerling: S. In: MGG. Personenteil. Bd. 15 (2006), S. 1334. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4 (2006), S. 1980–1982. Joachim Telle

Starke, Gotthelf Wilhelm Christoph, * 9.12.1762 Bernburg, † 27.10.1830 Ballenstedt. – Prediger u. Liederdichter. Der Sohn eines Superintendenten studierte in Halle Theologie u. stand seit 1783 in kirchl. Diensten, seit 1817 als Oberhofprediger in Ballenstedt. S. verfasste neben Übersetzungen antiker Autoren eigene Erzählungen (Gemälde aus dem häuslichen Leben. 4 Tle., Bln. 1793–98. Wien 1804. Braunschw. 1803 u. 1827. Holländ. 1803), volkstüml. Lieder u. geistl. Gedichte, von denen einige ins Hamburger neue Gesangbuch u. in Matthissons Lyrische Anthologie Eingang fanden. Am längsten in Gebrauch standen das Abendmahlslied Naht mit Andacht im Gemüt u. das Lied zum Totengedächtnis Zu Gott schwingt unser Geist sich auf, die in der

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Neuen Blumenlese teutscher und verteutschter Gedichte (Lpz. 1795) erschienen. Weitere Werke: Gedichte. Bernburg 1788. – Gedanken über die Übers. griech. u. röm. Dichter. Halle 1790 (Programm). – Horazens Brief über die Dichtkunst metrisch übers. Bernburg 1791. – Vermischte Schr.en. Bln. 1796. Literatur: Koch 6, S. 379 f. – Goedeke 5, S. 414. 7, S. 271 f. 8, S. 702. – l. u.: G. W. C. S. In: ADB 54. – G. W. C. S. Prediger u. Liederdichter. In: Dichter in Anhalt. Ein Lesebuch zur Literaturgesch. Hg. Bernd Ulbrich. Halle 2002, S. 37–42. Heimo Reinitzer / Red.

Staub, Herta F(elicia), * 21.12.1908 Wien, † 18.8.1996 Wien. – Lyrikerin, Erzählerin, Essayistin. S. gehört zur »verlorenen Generation« jener demokratisch gesinnten Autorinnen u. Autoren, die Anfang der 1930er Jahre die literar. Szene betraten u. alsbald durch Faschismus u. Krieg jegl. Möglichkeit beraubt wurden, sich kontinuierlich weiter zu entwickeln. S.s frühe, liedhafte Gedichte (Schaukelpferd. Wien/Lpz. 1933) wie auch ihr erster u. einziger Roman (Blaue Donau ade. Bln. 1937) lassen eine Nähe zur Neuen Sachlichkeit erkennen, in ihren nach 1945 entstandenen Arbeiten hingegen macht sich eine starke Tendenz zur Überhöhung, Verfremdung u. Ästhetisierung alltägl. Erfahrungen bemerkbar. Formal führte der Weg der Autorin von einer konventionellen Metaphernsprache zu einer modernen u. komplexen Bildhaftigkeit, vom strophisch gebauten, gereimten Gedicht, wie es sich noch in ihrer Sammlung Der Feen-Rufer (Wien 1958) vereinzelt findet, zum freien Vers, zum lyr. Parlando in Welt als Versuch (Wien 1978). Nach dem Studium der Kunstgeschichte, Germanistik u. Philosophie ging S. verschiedenen Brotberufen nach, arbeitete u. a. in der Kulturredaktion der »Wiener Zeitung« u. im Kulturamt der Stadt Wien. Seit 1959 betreute sie den Nachlass R. Kassners u. war Mitbegründerin der Kassner-Gesellschaft. Neben ihrer literar. u. organisatorischen Arbeit war sie immer wieder auch übersetzerisch tätig. Ihr besonderes Augenmerk galt dabei dem Werk W. H. Audens.

183 Weitere Werke: Flori u. die Weltflieger. Roman für Buben u. Mädels. Wien 1933. – Honoria. Mchn. 1943 (D.). – Ausgewählte Gedichte. Wien 2009. Literatur: Lisa Fischer: ›Jenseits vom lärmenden Käfig‹. Die Lyrikerin, Journalistin u. Aktivistin H. S. Wien 1997. Christian Teissl

Staudacher, Michael, * 25.8.1613 Hall/ Tirol, † 10.11.1673 Ebersberg/Obb. – Jesuit, Hofprediger.

Staudacher

scheinen des Romans seine weitere Verbreitung. Das gleiche Bestreben zur Pflege u. Reinhaltung der Sprache zeigt S.s Predigtsammlung Geistliche und Sittliche Redverfassungen (2 Bde., Innsbr. 1656. 21682). Diese preziös ausgearbeiteten Hofpredigten schildern Sitten u. Gebräuche aus Tirol sowie zeitgeschichtl. Ereignisse. Seine Belesenheit dokumentiert S. hier mit Zitaten aus dt. Dichtern (v. a. Khuen u. Spee). Auch hier verhinderte die Missachtung der oberdt. Sprachkonvention zunächst eine zweite Auflage.

Am 31.1.1629 trat S. mit 16 Jahren in Landsberg in den Jesuitenorden ein. Nach Weitere Werke: Centum affectus Amoris divilangjähriger Tätigkeit als Professor für Rhe- ni. Dillingen 1647. 21687. – Betraurung Dess tödl. torik, Mathematik u. Hebräisch in München Hintrittes Ihrer Majestet Ferdinand dess Dritten. wurde er 1647 Prediger in Dillingen. Ab 1650 Wie auch Ihrer Majestet Ferdinand des Viertens hatte er dieses Amt an der Hofkirche Inns- Römischen Königs [...]. Innsbr. 1658. Literatur: Bibliografie: Backer/Sommervogel 7, bruck inne. Zu seinen Zuhörern zählte dort Sp. 1509 f. – Weitere Titel: Georg Westermayer: M. S. auch Erzherzog Ferdinand Karl. Dass S. auch naturwissenschaftl. Interessen In: ADB. – Nikolaus Scheid: Das Genovefabüchlein des P. M. S. [...]. In: Ztschr. des Allg. dt. Sprachhatte, geht aus einem von Kircher in seinem vereins 28 (1913), Sp. 101–103. – Joseph Eder: P. M. Mundus subterraneus zitierten Brief, Mira de S. [...]. Diss. masch. Innsbr. 1966. – Ders.: P. M. S. Salinis Tyrolensibus, hervor, der von Edel- SJ (1613–1672) zu seinem 300. Todestag. Bozen steinvorkommen in Tiroler Bergwerken 1972. – Ruprecht Wimmer: Der Genovefa-Roman handelt. Sein bekanntestes, der Gräfin Isa- des Jesuiten M. S. v. 1648. In: Fortunatus, Melusibella Eleonora von Öttingen-Wallerstein ge- ne, Genovefa. Internat. Erzählstoffe in der dt. u. widmetes Werk ist der Legendenroman Ge- ungar. Lit. der Frühen Neuzeit. Hg. Dieter Breuer. novefa, Das ist: Wunderliches Leben und Denck- Bern u. a. 2010, S. 341–355. Franz Günter Sieveke würdige Geschichten der H. Genovefa (Dillingen 1648. 1660. Mchn. 1685). Schon in der Widmung dieser ersten dt. Wiedergabe der GeStaudacher, Wilhelm, * 16.3.1928 Ronovefa-Legende bekundet der überaus belethenburg o. d. T., † 23.7.1995 Rothensene S. – verbunden mit einem überschwengl. burg o. d. T. – Lyriker u. Erzähler. Lob Harsdörffers, dessen vom Oberdeutschen abweichenden Sprachgebrauchs u. seiner Be- Als Sohn eines Rossknechts u. einer Magd in folgung des arguten Stilideals – den Vorsatz, einfachen Verhältnissen aufgewachsen, erdie Reinheit der »Mutter-Sprach« zu wahren warb sich S. eine höhere Bildung als Autodiu. Fremdwörter zu meiden. Dabei wagt er dakt u. in Volkshochschulkursen. Kurz nach gelungene Wortneubildungen u. -verbin- dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichte er in dungen u. legitimiert mundartl. Wendun- Zeitungen u. Zeitschriften Kurzgeschichten gen. Formal bedient sich S. einer Reihe von über seine Kriegserfahrungen. Die Märchen Exempelpredigten zur Mitteilung der Le- (Lichtenau 1951) u. die Erzählungen Bänkelbensschicksale der Heiligen mit »einge- sang der Zigeuner (Karlsr. 1960) zeichnen ein brachten sittlichen Lehren und Ermah- romantisierendes Bild der Nachkriegszeit. nungspredigten«. Dies entspricht der gängi- Nach ersten, noch traditionellen Mundartgegen Praxis der Erzählliteratur des Barock: dichten (Des is aa Deitsch. Rothenburg o. d. T. durch die Einbeziehung der religiösen Lite- 1961) wurde S. mit seinen sprachkrit. Geratur den einzelnen Episoden eine Sinn stif- dichtbänden (Eckstaa und Pfennbutze. Ebd. tende Einheit zu verleihen. Wegen des 1967. Über Nei-Bejter-e-Schroll. Ebd. 1970; mit Abrückens vom oberdt. Sprachkonzept ver- Schallplatte) zu einem wichtigen Lyriker des hinderte die kirchl. Obrigkeit kurz nach Er- bairisch-fränk. Dialekts.

Stauf von der March Weitere Werke: Liebe Menschen. Rothenb. o. d. T. 1965 (L., E.). – Gejcherejd. Krefeld 1988 (L.). – Großvatergedichte. In fränk. Mundart (Rothenburger Dialekt). Uffenheim 1990. – Vom Glück u. andere Legenden. Ebd. 1994. – Kleinstadt-Gesch.n. Bd. 1 und 2. Ebd. 1995 u. 1997. Literatur: Fernand Hoffmann u. a.: Die neue dt. Mundartdichtung. Hildesh. 1978, S. 134–138. – Steffen Radlmeier: Beschaulichkeit u. Engagement. Bamberg 1981. – Bernhard Setzwein: Käuze. Ketzer. Komödianten. Literaten in Bayern. Mchn. 1990, S. 229–240. – Wolfgang Buhl: Sein Beispiel war ein Signal. Laudatio auf W. S. In: Jb. Bayer. Akademie der Schönen Künste 9 (1995), S. 464–467. Hans Peter Kunisch / Red.

Stauf von der March, Ottokar, eigentl.: O. Chalupka, auch: Volker zu Alzey, Severus Verax, Roland Hammer, Hagen Falkenberg, * 29.8.1868 Olmütz/Mähren, † 13.3.1941 Wien. – Journalist, Lyriker, Epiker, Essayist.

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Die Literaturgeschichte hat über S.s Dichtung zu Recht den Deckmantel des Schweigens gehüllt; seine Kampfschriften sind hingegen ein Zeugnis für die frühe Verbindung von deutschnationalem Gedankengut mit dem weit verbreiteten Antisemitismus in Österreich um die Jahrhundertwende. Weitere Werke: Romanzero u. Lieder eines Werdenden. Straßb. 1895 (L.). – Der tolle Stuart. Wien 1902 (Lustsp.). – Literar. Studien u. Schattenrisse. Dresden 1903. – Zensur, Theater u. Kritik. Ebd. 1904 (Ess.s). – Die Waffen hoch. Zürich 1907 (L.). – Caravaggio. Wien 1908 (R.). – Victor Hugo. Eine Würdigung. Bln. 1912. – Zum Kampf um die Erhaltung des Deutschtums. Ebd. 1921. – Die Juden im Urteil der Zeiten. Mchn. 1921. – Der Hexendechant. Freudenthal 1924 (R.). – Monarchie u. Republik. Zeitz 1924 (Ess.s). Literatur: Friedrich Karl Becker: Volker v. Alzey [Pseud.: O. S. v. d. M.]. Sein Denkmal auf dem Roßmarkt. Eine geschichtl. Deutung. Alzey 1985. – Karin Gradwohl-Schlacher: O. S. In: ÖBL. Gerald Leitner / Red.

Ottokar Chalupka, der als deutschnationaler, kulturkämpferischer Schriftsteller seinen FaStauffer, Robert, * 23.6.1936 Bern. – miliennamen offensichtlich als Makel beHörspielautor, Lyriker, Kulturjournalist, trachtete, publizierte unter meist adligen, Übersetzer. deutschstämmig klingenden Pseudonymen (am häufigsten Stauf von der March) eine Der Sohn eines Hoteliers wuchs in Bern u. Fülle von Schriften, in denen er Kirche, Frei- Zürich auf, wo er die Kunstgewerbeschule maurer, Juden u. liberale Tendenzen an- besuchte u. Schauspielunterricht nahm. Nach prangerte u. für ein Großdeutschland plä- einer Ausbildung zum Hochbauzeichner u. dierte. ersten Lyrikveröffentlichungen in Zürcher Als Chefredakteur des »Scherer« Tageszeitungen zog S. 1958 nach Wien. Dort (1909–1915) verschärfte er den deutschna- arbeitete er als freier Kulturjournalist für intionalen, antiklerikalen Ton des Witzblattes u. ausländ. Zeitungen u. war bei Radio Wien radikal, was zur Beschlagnahmung von mehr als Hörspielregisseur tätig. Zusammen mit als 150 Nummern führte. Das gleiche Jan Rys gründete S. 1962 die Karlsteiner AuSchicksal widerfuhr seiner von Injurien torentreffen, die seit 1969 alljährlich als instrotzenden Kampfschrift Die öffentliche Mei- ternat. Hörspiel- u. Dramaturgentreffen im nung von Wien (Zürich 1899). S.s ästhetisch Burgenland stattfinden. 1970 erhielt S. ein kaum bemerkenswerte Gedichte u. Erzäh- dreijähriges Stipendium des Ungarischen lungen transportieren schablonenartige Kulturministeriums zum Studium der ungaFeindbilder, die auch seine Literaturge- rischen Sprache u. Literatur u. des Marxisschichte Wir Deutschösterreicher (Wien 1913) mus-Leninismus. Seither ist er auch als Kulprägen. Der vermeintlichen »Dekadenz und turvermittler zwischen Ungarn u. den Verjudung« der österr. Literatur stellt er ei- deutschsprachigen Ländern tätig (Übersetnen Kanon von österr. Schriftstellern gegen- zungen u. a. von Magda Szabó u. Róbert über, in denen kein ernst zu nehmender Reiter). 1974–1976 war S. Sekretär des Vertreter der Moderne aufscheint, ganz im Österreichischen Kunstsenats, lebte dann bis Gegenteil: Hermann Bahr, Schnitzler, Hof- 1987 als freier Autor in Köln u. ist seither in mannsthal werden explizit angegriffen. München ansässig, wo er 1987/88 als Hör-

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spieldramaturg beim Bayerischen Rundfunk (1994), H. 1, S. 38–43. – Wolf Peter Schnetz: Bayearbeitete. 1991–2005 war er Vorsitzender des risch-assimilierter Schweizer. VS-Bayern-EhrenVerbandes deutscher Schriftsteller (VS), Lan- vorsitzender R. S. wird 70 Jahre alt. In: Lit. in desbezirk Bayern (seit 2005 Ehrenvorsitzen- Bayern 21 (2006), H. 84, S. 38 f. Rosemarie Inge Prüfer / Bruno Jahn der); 1994–1997 gehörte er auch dem VSBundesvorstand an. 1994 wurde S. Mitgl. des Rundfunkrats des Bayerischen Rundfunks in Staupitz, Johann von, * um 1465 MotterMünchen, 1998 des Programmbeirats der witz bei Seisnig, † 28. 12. 1524 Braunau/ ARD u. 2000 des Programmbeirats von ARTE Inn; begraben im Stift St. Peter, Salzburg. Deutschland. – Spätmittelalterlicher Reformtheologe, S.s Hörspiele verstehen sich als Satiren, Universitätsprofessor, Ordensgeistlicher. Grotesken oder Parabeln zu gesellschaftl. Phänomenen wie Neid u. Angst (Lügensänger. 1483 in Köln immatrikuliert, erwarb S. 1484 ORF 1971. Fernsehsp. ORF 1973), Gewalt im den Grad des baccalaureus u. wechselte für Sport (Boxerrunden. ORF 1977), Trennung von ein Jahr nach Leipzig. Nach der Promotiom der Natur (Caterpillar. NDR 1979) oder Dro- zum magister artium 1489 (Köln) kehrte er in genmissbrauch (Brilium. Zus. mit Karlheinz seine Heimat zurück. Um 1490 trat S. den Barwasser. ORF 1990). Seine Prosawerke Augustinereremiten in München bei. Seit führen diese Thematik mit akribisch-exakten 1497 nachweislich als Ordenslektor in TüDetailbeschreibungen fort. In 2 Männer Leben bingen, nahm er am 29.10.1498 als bacLieben Phantasie (Gespräche u. Tagebücher. calaureus biblicus die vorgeschriebene VorleZus. mit K. Barwasser. Köln 1986) geht es um sungstätigkeit auf u. setzte sie seit Jan. 1499 Offenheit in Partnerbeziehungen; in Hydrau- als sententiarius fort. Die Vorlesungen sind lik und Jonasnudel (Eisenstadt 1990) schildert nicht erhalten. Dafür jedoch 34 schriftlich er den Suizid eines Freundes. Bilder der De- ausgearbeitete Entwürfe über das Hiobbuch pression, gelegentlich ins Mythische gestei- (Hiob 1,1–2,10) aus den Jahren 1497/98. Am gert, beherrschen S.s Lyrik (Im Schleier der 7.7.1500 wurde S. zum Doktor der Theologie Nacht. Köln 1987). S.s literatur-, theater- u. promoviert. Aus dieser Zeit stammt eine musikkrit. Arbeiten sind biogr. u. werkge- weitere öffentl. Verlautbarung zur Frage des schichtl. Explorationen (z. B. a rose is a rose is a Parochialzwanges. Zwischen 1502 u. 1503 wurde S. zum Prior rose. NDR 1979; über Gertrude Stein. Die Baumschule – Nachgerufen. RIAS 1984; über des Augustinerkonvents in München gewählt. Wenig später berief ihn Friedrich der Jürg Amann). Weitere Werke: Portrait Vilma Mönckeberg. Weise nach Wittenberg an die neu zu grünWDR 1980 (Fernsehdokumentation). – Gläubige, dende eigene Landesuniversität. S. vertrat die Kritiker. Agnostiker u. Atheisten. 15 Gespräche. lectura in biblia u. wurde noch 1503 Dekan ORF 1982. – Dt. Schriftsteller u. die Gretchenfrage. der Theologischen Fakultät. Gleichzeitig WDR 1983 (Autorengespräche). – Im eigenen wählte ihn das Kapitel der reformierten AuSchatten (zus. mit Karlheinz Barwasser). Köln 1986 gustinereremiten am 7.5.1503 zum General(L.). – Polyglotte – eine Hörverunsicherung (zus. vikar. Als dieser suchte er die Reform des mit dems.). SWF/SR/SDR 1987 (Hörsp.). – bin so Klosterlebens fortzusetzen. Neben dieser Täviel wie ich. Mchn. 1995 (L.). – Dom. Ebd. 1996 (L.). tigkeit versah er weiterhin seine Aufgabe als – Eine einzige Hitlerey in Stein (zus. mit K. BarUniversitätslehrer in Wittenberg u. diente wasser). 1998 (Hörcollage). – Übersetzungen: Sándor dem sächs. Kurfürsten als Berater u. DiploWeöres: Der v. Ungern. Gedichte (zus. mit Barbara Frischmuth). Ffm. 1991. Erw. u. verb. Aufl. der mat. Nach dem Scheitern seines alle Ausg. Ffm. 1969 (L.). – Lajos Kassák: Das Pferd deutschsprachigen Provinzen umfassenden stirbt u. die Vögel fliegen aus. Klagenf./Salzb. 1989 Unionsversuches konzentrierte sich S. auf den prakt. Teil seiner Ordensaufgaben. Zum (L.). Literatur: Plötzlich war die Welt offen. Richard Winter 1512 übergab er seinen Lehrstuhl an Wagner im Gespräch mit R. S. In: Halbasien. Martin Luther u. trat eine ausgedehnte VisiZtschr. für dt. Lit. u. Kultur Südosteuropas 4 tationsreise an. Immer wieder war S. als Fas-

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tenprediger in Nürnberg u. Salzburg zu Gast. Diese Predigten wurden mitgeschrieben, teilweise ins Lateinische rückübersetzt u. dann nach einer selbstständigen Redaktion im Druck veröffentlicht. Im April 1518 verteidigte Luther seine »neue Theologie« am 26. d. M. erstmals außerhalb der Universität vor den Teilnehmern des Kapitels in Heidelberg. Aus Sorge reiste S. ihm auch 1518 zum Verhör vor dem Kardinallegaten Thomas de Vio Cajetan in Augsburg nach, mit dem er gesondert verhandelte u. entband Luther schließlich von der Gehorsamspflicht. Während die »Sache Luther« ihren Lauf nahm, begann S. die Last des Amtes, in dem er auch 1518 wieder bestätigt wurde, zu drücken. Am 28.8.1520 übergab er sein Amt an Wenzeslaus Linck. Auf Einladung des Bischofs Mathäus Lang ging S. 1520 nach Salzburg. Am 26.4.1521 erteilte Rom den Dispens für einen Ordenswechsel, u. S. trat in das Benediktinerkloster St. Peter ein. Dort wurde er am 22.8.1522 zum Abt gewählt. Auf einer Reise zu einer Terminei starb S. am 28.12.1524 in Braunau am Inn. Aus dieser Zeit stammen weitere Predigtsammlungen, die teilweise postum veröffentlicht wurden. Aufgrund der tridentin. Zensurmaßnahmen gelangten die Werke des S. auf den Index u. wurden vernichtet. Es ist protestantischen dissidenten u. nonkonformen Gruppierungen zu verdanken, dass sein Werk nicht gänzlich in Vergessenheit geriet. S.’ große Bedeutung liegt in seiner biblisch begründeten, stets loyalen, seelsorgerlich zugewandten Predigt- u. Beratungstätigkeit. Sein Wirken ist v. a. in Predigten u. theologisch-erbaul. Traktaten überliefert. Der Vorwurf des theolog. Eklektizismus ist unangemessen, da seine akadem. wie kirchl. Tätigkeit nicht mit dem Anspruch auf Innovation oder Individualität veröffentlicht wurde. Durch seine verstärkte Hinwendung zu einer an der Bibel geschulten Sprache wurde er zum Wegbereiter einiger reformorientierter Ordensmitglieder, allen voran Martin Luthers. S. zählt zu den spätmittelalterl. Reformtheologen, die freilich oft erst im Licht der späteren Rezeption als »Vorläufer der Reformation« breitenwirksam wahrgenommen wurden. Im Zentrum seiner Theologie

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steht der für den Sünder leidende Christus u. dessen exklusive Heilsmittlerschaft. Sie kann sich zuweilen mit einem leichten anti-sakramentalen u. -institutionellen Affekt verbinden. Von der scholast. Theologie geprägt, nahm S. zahlreiche Traditionen spätmittelalterl. Theologie auf u. eignete sich einen stärker als gewöhnlichen anti-palatinischen Augustinismus an. Dies sind jedoch zumeist nachträgl. Systematisierungen, denen sich das Werk des Augustiners entzieht. Ihm lag an einer zeitgemäßen bibl. Verkündigung. Weitere Werke: Decisio questionis de audientia misse in parochiali ecclesia dominicis et festivis diebus. Tüb. 1500. – Constitutiones OESA pro Reformatione alemanniae 1504. – Von der Nachfolge des willigen Sterbens Christi. 1515. – Libellus de executione aeternae praedestinationis. 1517. – Von der Liebe Gottes. 1518. – Consultatio super confessione Agricolae. 1523. – Von dem heiligen rechten christlichen Glauben. 1525. Ausgaben: Briefw. Hg. Theodor Kolde. In: T. Kolde: Die dt. Augustinercongregation. Gotha 1879, S. 435–449. – 7 Fastenpredigten v. 1423. Hg. Heinrich Aumüller. In: Jb. der Gesellsch. für die Gesch. des Protestantismus in Oesterr. 2 (1881), S. 49–60. 11 (1890), S. 113–132. – 24 dt. Predigten (1512–24). Hg. H. Aumüller. In: ebd. 2 (1881), S. 49–60. 11 (1890), S. 113–132. – Sämtl. Schr.en. Abh.en, Predigten, Zeugnisse. Hg. Lothar Graf zu Dohna u. Richard Wetzel. Bln./New York 1979–2001 (bisher 3 Bde.). – J. v. S.: Salzburger Predigten 1512. Eine textkrit. Ed. v. Wolfram Schneider-Lastin. Tüb. 1990. Literatur: Bibliografie: Rudolf K. Markwald u. Franz Posset: 125 years of S. research (since 1867). An annotated bibliography of studies on Johannes v. S. (c. 1468–1524). St. Louis MO 1995. – Weitere Titel: L. Cristiani: Jean S. In: Dictionnaire de théologie catholique. Hg. Alfred Vacant u. Eugène Mangenot, fortgesetzt v. Émile Amann u. a. Bd. 14, Paris 1939, Sp. 2580–2583. – Ernst Wolf: J. v. S. In: Evang. Kirchenlexikon. Hg. Heinz Brunotte u. Otto Weber. Bd. 3, Gött. 1959, Sp. 1139 f. – Markus Wriedt: Ist der ›Libellus auro praestantior de animae praeparatione in extremo laborantis, deque praedestinatione et tentatione fidei‹ eine Lutherschrift? Luther-Jb. 54 (1987), S. 48–83. – Ders.: Via Guilelmi – Via Gregorii. Zur Frage einer Augustinerschule im Gefolge Gregors v. Rimini unter besonderer Berücksichtigung J .v. S.’. In: Dtschld. u. Europa in der Neuzeit. FS Karl Otmar Freiherr v. Aretin. Hg. Ralph Melville u. a. 1. Halbbd. Wiesb. 1988, S. 111–131. – Ders.: Gnade u. Erwählung.

Stavaricˇ

187 Eine Untersuchung zu J. v. S. u. Martin Luther. Mainz 1991. – Ders.: Johannes v. S. u. seine christl. Heilslehre. Würzb. 1994. – Ders.: Johannes v. S. als Gründungsmitgl. der Wittenberger Univ. In: 700 Jahre Wittenberg. Stadt – Univ. – Reformation. Hg. Stefan Oehmig. Weimar 1995, S. 173–186. – Berndt Hamm: Between Severity and Mercy. Three Models of Pre-Reformation Preaching: Savonarola – S. – Geiler. In: Continuity and Change. FS Heiko A.Oberman. Leiden 2000, S. 321–358. – M. Wriedt: J. v. S. In: LThK3 9 (2000), Sp. 940 f. – B. Hamm: J. v. S. In: ARG 92 (2001), S. 6–42. – Ders.: J. v. S. In: TRE 32 (2001), S. 119–127. – Ders.: J. v. S. In: RGG4 4 (2001) Sp. 538 f. – Franz Posset: The Front-Runner of the Catholic Reformation. The Life and Work of J. v. S. Aldershot, UK 2003. – Hans Schneider: Contentio Staupitii. Der ›S.-Streit‹ in der Observanz der dt. Augustinereremiten 1507–1512. In: ZKG 118 (2007), S. 1–44. – J. v. S. In: NDB (im Druck). Markus Wriedt

Stavaricˇ, Michael, * 7.1.1972 Brno (Brünn). – Verfasser von Romanen, Erzählungen, Gedichten u. Kinderbüchern. Der im Alter von sieben Jahren aus der damaligen Tschechoslowakei nach Österreich gelangte S. studierte Bohemistik u. Publizistik u. war zehn Jahre lang Lehrbeauftragter für Inline-Skating an der Sportuniversität Wien. Nach dem Studium arbeitete er für die Botschaft der Tschechischen Republik u. das Tschechische Kulturzentrum in Wien. S. lebt als freier Autor u. Übersetzer aus dem Tschechischen (Jirˇ í Grusˇ a, Petra Hu8 lová, Marketá Pilátová, Patrik Ourˇ edník) in Wien. Im Jahr 2000 erschien seine erste literar. Veröffentlichung, der Gedichtband Flügellos (Wien/Klosterneuburg), der ähnlich wie die Bände tagwerk. landnahme. ungelenk (Norderstedt 2002) u. Europa. Eine Litanei (Idstein 2005) wenig beachtet wurde. Das änderte sich mit dem Erscheinen von S.s erstem Roman stillborn (St. Pölten/Salzb. 2006). Sein Hauptthema ist die Frage nach der Identität, dargestellt am Beispiel einer sonderbaren Außenseiterin, genauer: deren »Ausgrenzung und (Selbst)Entfremdung«, inszeniert als »paranoiaähnliche Ich-Spaltung« (Renata Cornejo). Die lebenslang körperlich u. sozial benachteiligte Wohnungsmaklerin Elisa, die Protagonistin des Romans, ist ein entwurzeltes, mit sich selbst unvertrautes Wesen. Sie

hält sich gerne in leeren Räumen auf u. fackelt wahrscheinlich auch Wohnungen u. Häuser ab – verzweifelte Versuche offenbar, Spuren ihrer Vergangenheit zu tilgen u. ein schreckl. Verbrechen vergessen zu machen, das ihre Mutter, aus Liebe zu ihrem Mädchen, einst begangen hat. S. geht sehr eigenwillig mit erzähltechn. Konventionen u. mit der herkömml. Sprache um, der er, mit Auge u. Ohr eines ursprünglich Sprachfremden, zahlreiche verborgene Konnotationen entlockt. Der elaborierte, sprachartistische Stil von stillborn wird in S.s vorwiegend szenisch erzähltem zweiten Roman Terminifera (St. Pölten/Salzb. 2007) weitergeführt. Spinnen oder Heuschrecken wie die titelgebende Terminifera, aber auch andere, dem Genre des Horrorfilms entstammende Furcht einflößende Lebewesen sind die besten Freunde des Protagonisten Lois, der an den Folgen körperl. Missbrauchs in einem trostlosen Kinderheim am Arlberg leidet. Seine frankensteinähnl. Handlungen, die von Gefühlen wie Liebe oder Angst nirgendwo auch nur gestreift werden, folgen undurchschaubaren Mechanismen. Woher hat er seine Hirngespinste? Ist er eigentlich ein Mann oder doch eher eine Frau? Die innere Leere u. Ausgebranntheit des Protagonisten, seine Unfähigkeit, überhaupt etwas zu empfinden, wird »als Folge von physischen und psychischen Schädigungen« plausibel gemacht (Renata Cornejo). Der subversive Doppelblick des Außenseiter-Helden prägt auch die Romanstruktur, die durch harte Schnitte u. erzählerische Brüche, häufige Perspektivenwechsel u. sprachl. Irritationen vorführt, was NichtZugehörigkeit bedeuten kann. Für die ersten beiden Romane erhielt der mittlerweile eher als genuin österreichischer denn als zugewanderter Schriftsteller wahrgenommene S. 2008 den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. Das Folgebuch Magma (St. Pölten/Salzb. 2008), das man auch als letzten Teil einer Romantrilogie lesen kann, konfrontiert den Leser mit einem namenlosen, allwissenden Ich-Erzähler, der sich bis an die Anfänge der Welt zurückerinnert. Dieser Mann, Verkäufer in einer recht schäbigen Wiener Zoohandlung, entpuppt sich als ein gealterter u. entkräfteter, bestens getarnter

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Mephisto, der früher – falls er sich das alles tenbestäuben wirklich keine Ahnung! Mein Bienennicht nur ausdenkt – kräftig am Rad der Ge- und Blümchenbuch (St. Pölten/Salzb. 2008), schichte gedreht hat. In seinem furiosen denen 2010 Die kleine Sensenfrau (Wien. Illus»Sprachfeuerwerk«, mit dem der Leser triert von Dorothee Schwab) folgte, erhielt »charmant eingewickelt« wird (Beate Trö- S. 2007 u. 2009 den Österreichischen Kinderger), geht es S. um die Zweifel an der histor. und Jugendbuchpreis. Der 2009 als GastdoÜberlieferung, v. a. an jegl. Fortschrittsopti- zent an der Rutgers University New Brunsmismus. Das Faktenwissen über seine Unta- wick (New Jersey) wirkende S., ein ästhetisch ten, das der skurrile Ex-Teufel ausbreitet, ist avancierter, mediengewandter Autor zwienorm. Seine collageartige literar. Präsenta- schen Kafka-Düsternis u. Blogger-Welt, vertion hat bei der Kritik, die die Sprachgewalt steht sich wie kaum ein anderer deutschdes Autors rühmte, auch erhebl. Widerspruch sprachiger Poet des 21. Jh. darauf, das Surausgelöst: Der Text bleibe an der Oberfläche reale, das Absurde u. das Groteske in hochdes Historischen, »indem er sämtliche Kata- sensiblen Textgeflechten aufzugreifen u. listrophen und die spärlichen Lichtblicke glei- terarisch zu bannen. 2011 erschien der Rochermaßen durch die Sauce zieht« (Leo Fe- man Brenntage (Mchn.), in dem die surrealen Zustände in einer abgeschiedenen Siedlung dermair, S. 97). Die Hauptfigur der zwölfteiligen Sprech- geschildert werden. szenenfolge Böse Spiele (Mchn. 2009) ist ein Literatur: Beate Tröger: Was die Zoohandlung etwas unentschlossen wirkender großstädt. im Innersten zusammenhält. In: FAZ, 11.12.2008 Ich-Erzähler, namenlos wie die beiden Frau- (zu ›Magma‹). – Renata Cornejo: Das Fremde u. das en, zwischen denen er steht – die eine will er Eigene. Entwürfe der kulturellen Identität in den haben, kann es aber nicht, die andere kann er Romanen v. M. S. In: Interkulturelles Lernen. Hg. haben, will es aber nicht. Thema des weitge- Petra Meurer u. a. Bielef. 2009, S. 49–59 (zu ›stillborn‹ u. ›Terminifera‹). – Meike Feßmann: Wenn hend assoziativ strukturierten Romans ist der ein Mann zur Sache kommt. In: SZ, 18.7.2009 (zu Zustand der Liebe in unsteten Zeiten. S. führt ›Böse Spiele‹). – Evelyne Polt-Heinzl: Überra»die Verschränkung des zeitgenöss. Ge- schende Verbindungen. In: LuK 44 (2009), H. 431/ schlechterdiskurses mit Bruchstücken ver- 432, S. 93–95 (zu ›Magma‹). – Leo Federmair: schiedener Mythen« zu einem »großen Magma aus dem Internet. In: ebd., S. 95–97 (zu männlichen Klagegesang« zusammen, wel- ›Magma‹). – Christoph Schröder: Das Schlachtfeld cher der »empfindlichen Prosa einer Inge- der Geschlechter. In: Frankfurter Rundschau, borg Bachmann« durchaus nahe ist (Meike 10.3.2009 (zu ›Böse Spiele‹). Klaus Hübner Feßmann). Mit rhetorischer Raffinesse u. vorwiegend in indirekter Rede breitet er ein Stavenhagen, Fritz, * 18.9.1876 HamDreiecksverhältnis aus, das den Keim des burg, † 9.5.1906 Groß-Borstel bei HamTodes schon in sich trägt. Der bilder- u. anburg. – Niederdeutscher Dramatiker u. spielungsreiche Text offenbart ein geradezu Erzähler. grandioses Gespür für Sprachmelodie u. -rhythmus. Böse Spiele ist »in erster Linie ein Nach einer Drogistenlehre bildete sich der in Sprachspiel, dicht an der Kriegsfront ange- ärml. Verhältnissen aufgewachsene Sohn eisiedelt, das aber immerhin auf Friedensver- nes Kutschers in Hamburg u. Berlin autodihandlungen hofft« (Christoph Schröder). Den daktisch aus. Journalistische Beiträge, die universellen Krieg der Geschlechter, den Unterstützung der Schiller-Stiftung u. die dieses avantgardistische Sprechstück zur An- Hilfe Otto Brahms, der ihm 1905 eine Draschauung bringt, überleben am Ende nur der maturgenstelle am Schillertheater verschaffIch-Erzähler u. ein paar Krähen. te, ermöglichten S. ein bescheidenes AusSeine Erzählungen hat S. in dem Band Déjà- kommen. vu mit Pocahontas. Raritan River (Wien 2010) Mudder Mews (Hbg. 1904), in der psycholog. versammelt. Für seine Kinderbücher Gagga- Ausleuchtung u. lebensechten Milieuschillagu (Idstein 2006. Illustriert von Renate Ha- derung deutlich Einflüsse Gerhart Hauptbinger) u. BieBu oder Ameisen haben vom Blü- manns verarbeitend, machte S. zum bedeu-

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tendsten niederdt. Dramatiker seiner Zeit. Der von der dominanten Heldin ausgelöste Konflikt, in dem sie nach eigenem Schicksalsschlag die Ehe ihres Sohnes zerstört u. die Schwiegertochter in den Tod treibt, bleibt auf den privaten Bereich begrenzt. Die Bauernkomödie De dütsche Michel (ebd. 1905) spielt in der Zeit der Aufbebung der Leibeigenschaft in Mecklenburg. Die Auseinandersetzung zwischen Bauern u. gräfl. Herrschaft wird realistisch dargestellt, märchenhafte Passagen sind dem Wiener Volksstück entlehnt. Weitere Werke: Der Lotse. Hbg. 1901 (D.). – Jürgen Piepers. Niederdt. Volksstück. Ebd. 1901. – Grau u. Golden. Hamburger Gesch.n u. Skizzen. Ebd. 1904. – De ruge Hoff. Niederdt. Bauernkom. Ebd. 1906. Literatur: Josef Plate: F. S. als niederdt. Dramatiker. Diss. Münster 1923. – Carl Stolle: F. S.s ›Mudder Mews‹. Marburg 1926. Neudr. New York 1968. – Walter Johannes Schröder: F. S. Neumünster 1937. – Adolf Woderich: F. S. zum Gedächtnis. In: Die Volksbühne 6 (1955/56), S. 204–206. – Roger Niemann: Le renouveau de la littérature regionaliste à Hambourg [...]. Limoges 1986. Wolfgang Weismantel

Stebich, Max, auch: M. Rott, * 10.5.1897 Wien, † 17.5.1972 Wien. – Lyriker, Erzähler, Dramatiker.

Steegemann

Die Gedichte des Bandes Melodie der Stadt (ebd. 1937) kommen ohne den antizivilisator. Zeitgeist u. ohne faschistische Ideologeme aus, die in den »vier Gesängen« der Symphonia heroica (ebd. 1943) durchschlagen, in denen der Krieg als immer wiederkehrendes Schicksal gedeutet u. der »Heldentod« in hymn. Ton verherrlicht wird. Während S.s histor. Romane heute vergessen sind, erfreuen sich seine Bearbeitungen von Sagen u. Märchen noch immer großer Beliebtheit. Weitere Werke (Erscheinungsort, wenn nicht anders angegeben: Wien): Flut. Weinböhla bei Dresden [1923] (D.). – Präludien. 1930 (L.). – Akkorde. 1931 (L.). – Albrecht v. Österr. Salzb. 1937 (Bühnenmanuskript). – Das helle Leuchten. 1939 (L.). – Adagio. Mchn. 1943 (L.). – Blumenlieder. 1948 (L.). – Fürstin Eboli. 1948. – Christian der Zweite. 1950. U. d. T. Christian u. Düwecke. 1953 (R.). – In Parisischem Marmor. 1950 (L.). – Ihr Kinderlein kommet ... Gedichtet v. M. S. 1954. – Skandal im Königshaus. [1954] (R.). – O Herz in spätem Glück u. Traum. 1957 (L.). – Bearbeitungen: Die Färber des Mondes. Märchen für die Jugend. 1953. – Märchen aus dt. Landen. 1956. – Alpensagen. 1958. – Das große Wiener Sagenbuch. 1960. Literatur: Gerhard Renner: Österr. Schriftsteller u. der Nationalsozialismus (1933–40). Ffm. 1986. – Karin Gradwohl-Schlacher: Ein ›ostmärk. Sittenbild‹. Die Causa M. S. In: Macht Lit. Krieg. Hg. Uwe Baur u. a. Wien 1998, S. 124–144. Johann Sonnleitner / Red.

Nach dem Besuch der Pädagogischen Akademie in Wien unterrichtete S. an Volks- u. Steegemann, Paul (Friedrich Johann), Hauptschulen; im Ersten Weltkrieg wurde er auch: Gustav Bock, Rainer Maria Schulze, als Reserveoffizier verwundet. Nach 1933 * 3.10.1894 Groß-Lafferde (Lahstedt) bei gehörte er (illegalen) nationalsozialistischen Peine, † 21.1.1956 Berlin; Grabstätte: Schriftsteller- u. Kulturorganisationen an u. ebd., Zehlendorfer Waldfriedhof. – Vererhielt 1935 den Literaturpreis der Nationalleger. bühne Stuttgart; seit 1936 führte er die Geschäfte des Bundes deutscher Schriftsteller Auf seine Herkunft aus dem SchaustellermiÖsterreichs, verfasste den Vorspruch zum Be- lieu u. seine Geburt im Wohnwagen war S. kenntnisbuch österreichischer Dichter (Wien 1938) genauso stolz wie darauf, »daß ich [...] in jeu. wurde 1938 Geschäftsführer der Reichs- der besseren Literaturgeschichte stehe«. Der schrifttumskammer Österreichs. 1940 wurde Buchhandlungsgehilfe mit Volksschulaber aus dieser Funktion fristlos entlassen, weil schluss gründete im April 1919 den Paul er 1937 das Weihespiel In hoc signo vinces für Steegemann Verlag in Hannover u. erregte den Ständestaat geschrieben hatte. Trotz sei- Aufsehen mit den 57 Heften u. Bänden (151 ner NS-Vergangenheit wurde S. 1952 mit Nummern) der spätexpressionistisch-dadaisdem Professorentitel h. c. u. 1964 mit dem tischen Silbergäule (1919–22), einer »radikalen staatl. Förderungspreis für Kinderliteratur Bücherreihe« für junge Literatur u. Kunst. ausgezeichnet. Der Reihentitel zitiert Morgensterns Bundes-

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lied der Galgenbrüder u. spielt an auf das weiße Auseinandersetzungen mit der Moderne in der Welfenross, das Wappentier der Provinz Weimarer Republik. Hann. 1998. Jochen Meyer / Red. Hannover. Den Schwerpunkt der Reihe bilden die dadaistischen Veröffentlichungen von Kurt Stefan, Verena, * 3.10.1947 Bern. – ErSchwitters, Richard Huelsenbeck, Hans Arp zählerin, Übersetzerin. u. Walter Serner. Für Serner setzte sich S., die 1968 nach Berlin übersiedelte, absolS. 1927, im Jahr der Übersiedlung des Verlags vierte dort eine physiotherapeutische Ausnach Berlin, erfolglos mit einer Gesamtausbildung u. arbeitete bei der Frauengruppe gabe ein. Grafiken u. Illustrationen von »Brot + Rosen«, deren Mitbegründerin sie Schwitters, Schad, Kubin u. George Grosz auch war, u. bei der Herausgabe des Frauenprägten das Gesicht des Verlags kaum wenihandbuch Nr. 1 mit. 1975 zog sie aufs Land. ger als die literar. Grotesken, Satiren, ParSeit 2000 lebt S. vorwiegend in Montreal. odien u. Pamphlete von Franz Blei u. Kurt Ihr erstes Buch Häutungen. Autobiographische Hiller, Hans Reimann u. Mynona. Wegen Aufzeichnungen, Gedichte, Träume, Analysen erot. Privatdrucke u. übermütiger Plakatak(Mchn. 1975), ein Pamphlet gegen das traditionen hatte S. wiederholt Schwierigkeiten tionelle, von patriarchal. Normen bestimmte mit Gerichten, Buchhändlern u. ZensurbeVerhältnis des Mannes u. der Frau zum weibl. hörden. Nach öffentl. Streit um sein Projekt Körper u. zur Sexualität, entwickelte sich einer Hitler-Parodie, Mein Krampf, u. um rasch zum »Kultbuch« der Neuen FrauenbeReimanns Weigerung, sie zu schreiben, wurwegung u. darf durchaus als Wegbereiter für de S. seit 1931 von den Nationalsozialisten die vermehrte Publikation feministischer Liangegriffen. Aber in einer neuen Buchreihe, teratur in etablierten Verlagen verstanden Die Erhebung (16 Bde., 1933/34), brach er zywerden. S. interpretiert (aus der Perspektive nisch mit der radikaldemokratischen Tradider Ich-Erzählerin) in ihm aber nicht nur tion seines Verlags u. präsentierte Parteireden Sprache als patriarchal. Herrschaftsinstruvon Hitler, Darré, Frick, Göring, Schacht als ment u. Stütze eines Systems, in dem sich Dokumente zur Zeitgeschichte. Das bewahrte ihn Frauen nur als über einen Mann definiert 1935 nicht vor der Liquidation seines Verlags erfahren, sondern sie beschreibt auch die u. Berufsverbot. Möglichkeit eines neuen sexuellen Selbstver1943/44 mit seiner Familie nach Böhmen ständnisses der Frau, das auf der Dekonevakuiert, 1946 im Lager Lesˇ any bei Prag instruktion bisheriger Denk- u. Lebensmodelle terniert, kehrte er 1947 nach Berlin zurück u. gründet. Als daraus folgende weitere Option erhielt erst im Juni 1949 eine amerikan. Likann der Rückzug in eine matriarchal. Gegzenz. Mit der neuen Reihe Die Bank der Spötter enwelt verstanden werden, wie sie S. in (1949–53) – zehn Titeln u. a. von Werner Wortgetreu ich träume. Geschichten & Geschichte Finck, Günter Neumann u. aus dem Nachlass (Zürich 1987) entwirft. Karl Valentins – gelang ihm kein neuer AnDie Themen »Frau« u. »Körper« finden fang. Als Initiator des Amsel Verlags führte S. sich auch im 2007 erschienenen, autobiogranoch die Kriminalromane von Mickey Spilfisch unterlegten Roman Fremdschläfer (Zülane in Deutschland ein. Er starb als Verrich). Darin erfährt sich die Erzählerin als triebsleiter des Berliner arani Verlags. fremd in einem neuen Land u. entdeckt zgl. Literatur: Henning Rischbieter: Die Zwanziger einen Fremdkörper (eine Krebserkrankung) Jahre in Hannover. Hann. 1962, bes. S. 83–101 an sich selbst. Immigration u. Krankheit (Kat.). – Jochen Meyer: Der Paul Steegemann Verwerden somit zu sich ergänzenden u. überlag. Stgt. 1975 (mit Bibliogr.). – Ders. u. a.: Paul Steegemann Verlag 1919–1935, 1949–1955. kreuzenden Komponenten eines Lebens, das Sammlung Marzona. Hann./Stgt. 1994 (Kat.). – nach Orientierungssystemen Ausschau hält. S. erhielt zahlreiche literar. AuszeichnunInes Katenhusen: Kunst u. Politik. Hannovers gen, u. a. den Buchpreis der Stadt Bern (1988

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u. 1994) sowie den Einzelwerkpreis der Schweizerischen Schillerstiftung 2008.

send / daß ich nit allein / Dein böses Maul muß leiden.«

Weitere Werke: Mit Füßen, mit Flügeln. Gedichte u. Zeichnungen. Mchn. 1980. – Es ist reich gewesen. Bericht vom Sterben meiner Mutter. Ffm.1993.

Literatur: Bibliografie: Kat. gedr. deutschsprachiger kath. Predigtslg.en. Hg. Werner Welzig. Bd. 1, Wien 1984, S. 397–399; Bd. 2, ebd. 1987, S. 780 f. – Weitere Titel: Elfriede Moser-Rath: Predigtmärlein der Barockzeit. Bln. 1964, S. 373–384, 495–499. – Johannes Baptist Schneyer: Gesch. der kath. Predigt. Freiburg 1969. – Bayer. Bibliothek. Hg. Hans Pörnbacher. Bd. 2, Mchn. 1986, S. 1225, 1293, 1338. – E. Moser-Rath: Kleine Schr.en zur populären Lit. des Barock. Hg. Ulrich Marzolph u. a. Gött. 1994, Register. Elfriede Moser-Rath † / Red.

Literatur: Tobe Joyce Levin: Political Ideology and Aesthetics in Neo-feminist German Fiction: V. S., Elfriede Jelinek, Margot Schroeder. Ann Arbor, Michigan 1980. – Riki Winter: V. S. In: KLG. Pia Reinacher / Silvana Cimenti

Steffan, Albertus, * um 1665 Würzburg, † 1730 Würzburg (?). – Prediger aus dem Dominikanerorden. Außer dem Ordenseintritt 1685 in seiner Geburtsstadt sind nur wenige Lebensdaten von S. überliefert. 1687–1690 studierte er in Wien u. lehrte anschließend Moraltheologie in Bamberg; in späteren Jahren war er Prior in Würzburg u. anderen unterfränk. Städten. Zum Druck brachte S. eine dreiteilige Sammlung seiner Kanzelreden, Tubae sonitus Geistlicher Posaunen-Schall für alle Sonntäg deß gantzen Jahrs, für die Feyrtäg des gantzen Jahrs (Augsb. 1715. 31729), u. unter dem gleichen Obertitel Extra Ordinari Lob-Reden jener fürnehmen Heiligen, deren Festtäg [...] begangen werden (ebd. 1720). Kennzeichnend für seinen Predigtstil ist bei aller ernsthaft-religiösen Gelehrsamkeit eine bilderreiche, nicht selten deftige Sprache, die eine enge Beziehung zum Alltagsleben der Zeit verrät. So hat er etwa auf launige Weise die »Kirbe«, die fränk. Kirchweih, beschrieben. Bei der Wiedergabe von Tierfabeln, die er als Exempel nutzte, ist er mitunter in einen geradezu kindertüml. Ton verfallen. Allerdings war S. nicht immer ganz originell. Man findet bei ihm gelegentlich Anklänge an Abraham a Sancta Clara. Zwei heitere Geschichten von Säufern hat er fast wörtlich von Leo Wolff übernommen. Der Kritik an seinen Predigten ist S. im Vorwort in Anlehnung an Martial (1,91) zuvorgekommen: »Wer dises Werck beschnarchen will / Der soll es besser machen: Kansts nit / so schweig fein sauber still / Sonst thut man dich auslachen. Wilst dann mein Beschnarcher seyn / so kan ichs nit vermeiden / Wohl wis-

Steffen, Albert, * 10.12.1884 Wynau/Kt. Bern, † 13.7.1963 Dornach bei Basel; Grabstätte: Friedhof Wynau. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker, Essayist; Maler. Nach naturwissenschaftl., soziolog. u. histor. Studien in Lausanne, Zürich u. Berlin debütierte der Sohn eines Landarztes mit dem u. a. von Hermann Hesse begeistert begrüßten Roman Ott, Alois und Werelsche (Bln. 1907. Zuletzt, kommentiert von Heinz Matile, Dornach 1987). Er handelt von den Freunden Alois u. Werelsche, die in Konflikt mit ihren Vätern geraten u. sich schließlich dazu durchringen, es dem buckligen Maler Ott gleichzutun u. ihr Leben in einer Art Kameradschaftsbund der tätigen Nächstenliebe zu widmen. Über sein Buch, das dem zeitgenöss. Schönheitsideal den Kampf ansagte – »ein Werk über die Häßlichkeit, das seinem Verfasser Ehre einbringen wird« (Joseph Viktor Widmann) –, schrieb S. am 11.3.1907 seiner Mutter, es sei »die Geschichte von drei Menschen, von denen jeder eine ihm eigene Welt mit sich bringt, die sich dann mit der andern bald bekämpft, bald vereinigt, woraus allerlei Ergebnisse, Geschehnisse, Lebensregeln und Weisheiten entstehen, die, in ziemlich poetischer Weise mit Naturbildern und Jugenderinnerungen verwoben, vielleicht gar nicht ungeniessbar sein dürften«. Die Romane Die Bestimmung der Roheit (Bln. 1912) u. Die Erneuerung des Bundes (ebd. 1913) lassen unschwer erkennen, dass S.s Sehnsucht nach einem Sinn stiftenden Gemeinschaftserlebnis inzwischen in der Begegnung mit Rudolf Steiner ein konkretes Ziel gefunden hatte,

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Literatur: Paul Bühler (Hg.): Das A. S.-Buch. zeigen sie doch auf je eigene Weise Wege zur Verbindung Gleichgesinnter im Dienst einer Basel 1944. – Friedrich Hiebel: A. S. Die Dichtung geistigen Idee auf. Im Ersten Weltkrieg zog S. als schöne Wiss. Bern 1960. – Rudolf Meyer: A. S. nach Dornach, wo er am Aufbau des Goe- Künstler u. Christ. Stgt. 1963. – Thomas Ehrsam u. Monica Wietlisbach: A. S. In: Helvet. Steckbriefe. theanums mitwirkte u. einer der engsten 47 Schriftsteller aus der dt. Schweiz seit 1800. Mitarbeiter Steiners wurde. 1916 schrieb er Bearb. vom Zürcher Seminar für Literaturkritik mit mit Der Auszug aus Ägypten u. Die Manichäer Werner Weber. Zürich/Mchn. 1981, S. 221–227 (beide Dornach 1930) die ersten Beispiele (mit Bibliogr.). – Heinz Matile: Zu A. S.s Tagebuch / seiner gezielt auf eine religiöse Katharsis Aus dem Tagebuch v. A. S. 1. Tl.: 1961/1962. 2. Tl.: ausgehenden, entfernt an das mittelalterl. 1962/1963. Dornach 1996/97. – SchwellenerfahMysterienspiel erinnernden Dramatik, die rungen. A. S.s Leben mit den Verstorbenen. DorCharles Linsmayer ihren Höhepunkt in Das Viergetier (Zürich nach 2006. 1924), Der Chef des Generalstabs (Dornach 1927) u. Pestalozzi (ebd. 1939) fand. Das Viergetier Steffen, Ernst Siegfried, * 15.6.1936 Heilging auf eine übersinnl. Erfahrung zurück, bronn, † 10.12.1970 Karlsruhe. – Lyriker, die S. 1907 in Berlin gehabt haben will u. die Erzähler, Hörspielautor. ihm klar machte, dass jeder Mensch auch Böses in sich trage. In der Verwandlung dieses S. verbrachte insg. 13 Jahre, also fast die Bösen hatte er von da an eine seiner wich- Hälfte seines Lebens, in Haft. Mit zwölf Jahren kam er in ein Fürsorgeheim, danach in tigsten Aufgaben als Dichter gesehen. verschiedene Erziehungsanstalten. Nach In seiner mittleren u. späten Schaffenszeit mehreren Ausbrüchen u. Ausbruchsversuwar S., der 1925 als Nachfolger Steiners den chen saß er mit 18 Jahren zum ersten Mal im Vorsitz der Allgemeinen AnthroposophiZuchthaus. Zwischen 1954 u. 1967 war er nur schen Gesellschaft übernahm u. sein Schreizweimal, jeweils für ein halbes Jahr, in Freiben im Sinne von »therapeutischer Dichheit. Nach seiner Entlassung arbeitete er – tung« bald ganz in den Dienst dieser weltnach einer kurzen Volontariatszeit beim anschaul. Bewegung stellte, außergewöhnSaarländischen Rundfunk – als Drehbuch- u. lich produktiv, fand jedoch außerhalb der Hörspielautor beim Südwestfunk. Anthroposophie nur mehr wenig Echo. Seit Anfang 1967 begann S. im Zuchthaus 1935 war er verheiratet mit Elisabeth Stück- Bruchsal Gedichte u. kurze Prosatexte zu gold, geb. von Veress, die mindestens seit schreiben. Der stellvertretende Direktor der 1920 zu seinen engsten Mitarbeitern gehörte Anstalt u. S.s späterer Bewährungshelfer u. es bis zu ihrem Tod 1961 blieb. Das epische stellten diese ersten Gedichte bei einer LeSummum opus der späten Jahre war die Ro- sung von Gefangenen-Literatur in Stuttgart mantrilogie Aus Georg Archibalds Lebenslauf, vor. Namhafte Schriftsteller – darunter GünOase der Menschlichkeit, Altmanns Memoiren aus ter Grass – unterzeichneten ein Gnadengedem Krankenhaus (ebd. 1950, 1954, 1956), die such; im Dez. 1967 wurde S. auf Bewährung mit ihrem autobiogr. Hintergrund viel zum entlassen. 1969 erschien der Gedichtband LeVerständnis von S.s Leben u. Werk beitragen benslänglich auf Raten (Neuwied), in dem er die kann. Einen umfassenderen Zugang zu sei- Gefängnissituation u. die psych. Verfassung nem Denken geben die 17 Bde, in denen er Inhaftierter beschrieb. S.s unpathet. u. 1922–1961 seine Beiträge aus der von ihm nichtmoralisierende Schreibweise gab dieser geleiteten Zeitschrift »Das Goetheanum« Außenseiterliteratur eine neue Prägung, die sammelte. – Betreut von der Albert-Steffen- bei der Kritik u. bei einem nach der StudenStiftung, ist S.s Werk in über 80 Bänden im tenrevolte für dieses Thema sensibilisierten Verlag für Schöne Wissenschaften, Dornach, Publikum große Resonanz fand. An seinem greifbar. autobiografisch-dokumentarischen Roman Weiteres Werk: Geist-Erwachen im Farben- Rattenjagd. Aufzeichnungen aus dem Zuchthaus Erleben. Betrachtungen, Skizzen, Erinnerungen. 2 (ebd. 1971) schrieb S. seit 1965 in Bruchsal. Zusammen mit abgedruckten Briefen an juBde., Dornach 2009.

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ristische Instanzen gibt er Auskunft über Erfahrungen aus 13-jähriger Haftzeit u. ist darüber hinaus ein Dokument des Strafvollzugs u. des Gefängnissystems in Deutschland. Literatur: Rosemarie Bronikowski: Ein Strafgefangener u. eine bürgerl. Familie: Auseinandersetzung mit E. S. S. Rastatt 1974. – Sigrid Weigel: E. S. S. In: KLG. – Klaus Schuhmann: Totengespräche – Nachrufe auf die Dichter-Freunde: E. S. S., Wolfgang Maier, Nicolas Born u. Rolf Dieter Brinkmann. In: Ders.: ›Seit ein Gespräch wir sind u. hören von einander‹. Bielef. 2006, S. 285–296. Sabina Becker / Red.

Steffens, Günter, * 10.8.1922 Köln, † 6.12. 1985 Heidelberg. – Romancier.

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Im Gegensatz zum ersten erregte dieser zweite Roman großes Aufsehen, aber auch entrüstete Ablehnung. S. wurde durch ihn zu einem der bedeutenden Autoren des Neuen Realismus, die Dieter Wellershoff in den 1970er Jahren um den Verlag Kiepenheuer & Witsch sammelte. Der dritte Roman, Der Rest (ebd. 1981), schließt in der Form u. im Inhalt an den zweiten an, ohne dessen Intensität zu erreichen. Seine Beobachtungen u. Reflexionen wirken gesucht. Literatur: G. S. u. Norbert Schachtsiek-Freitag: ›Das wahre Leben, das endlich entdeckte u. aufgehellte [...]‹. Ein Gespräch. In: die horen 23 (1978), H. 112, S. 47–52. – Michael Rutschky: Erfahrungshunger. Köln 1980, S. 124–132. – Christa Merkes: Wahrnehmungsstrukturen in Werken des Neuen Realismus. Ffm./Bern 1982, S. 205–239, 270 f. – N. Schachtsiek-Freitag: G. S. In: KLG. – Matthias Bauer: Lesen als spieler. Welterzeugung. Anmerkungen zu G. S.’ ›Commedia‹ u. anderen Lexikon-Romanen. In: WW 39 (1989), S. 123–135. – Michael Braun: Schreiben, um nicht zu sterben. Ein Versuch über den Schriftsteller G. S. In: die horen 37 (1992), H. 167, S. 141–145.

Nach dem Besuch der Kunstakademie Düsseldorf lebte S. zunächst als Porträtmaler u. Mitarbeiter einer Werbeagentur in Frankfurt/ M. u. Heidelberg. 1965 bot er in seinem ersten Roman, Der Platz (Köln), einen der wenigen Versuche im Stil des frz. nouveau roman in dt. Sprache: Ohne durchgehende Handlung u. ohne die Fiktion eines Erzählers Walther Kummerow † / Red. werden zufällige Wahrnehmungen rund um einen Tennisplatz protokollartig aneinandergereiht. Züge dieses experimentellen Stils Steffens, Henrik, Henrich, * 2.5.1773 Stafinden sich auch noch in S.s zweitem Roman, vanger/Norwegen, † 13.2.1845 Berlin; Die Annäherung an das Glück (ebd. 1976), der Grabstätte: ebd., Dreifaltigkeitskirchhof. allerdings einen identifizierbaren Erzähler u. – Naturphilosoph, politischer Schriftstelin vier Kapiteln erkennbare Handlungszu- ler u. Romancier. sammenhänge aufweist. Der Titel ist zynisch zu verstehen: S. berichtet autobiografisch S. entstammte einer dt.-dän. Familie; seine vom Sterben seiner krebskranken Frau u. – in Bildung wurde bestimmt durch das Studium den drei weiteren Kapiteln – von den Etappen der exakten Wissenschaften von der Natur u. des Zerfalls seiner Persönlichkeit u. seiner vom Geist der Philosophie Kants u. Schelsozialen Existenz bis hin zur völligen Ver- lings; er war gesellschaftskritisch sensibiliwahrlosung, in der er diesen als Roman be- siert u. sah sich praktisch-geistig gefordert zeichneten Bericht schreibt. S. verweigert von den Umbrüchen in Deutschlands inteljede literar. Bearbeitung seines Stoffs. Er lektueller Kultur zwischen Französischer protokolliert nur die Ereignisse in der zufäl- Revolution u. europ. Restauration. Nach ersten Studien (seit 1789) in Kopenligen Form ihrer Wahrnehmung u. Erinnerung. Dadurch bleibt dieser Roman dicht am hagen u. Forschungsreisen (1794/95) nach Schrecken eines Geschehens, das die Kraft zu Norwegen konzentierte sich S. ganz auf die bewusster Reflexion u. zum literar. Stil Ausbildung u. ein Leben in Deutschland. überwältigt. Die literar. Form ist hier nicht Zunächst ging er – vermittelt durch seinen Experiment, sondern existenzielles Doku- Gönner, den Linné-Schüler Vahl – 1796 an die Universität Kiel (zu dem Naturwissenschaftment. ler Fabricius u. dem einflussreichen Kantianer Reinhold), wo er im April 1797 mit einer

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mineralog. Arbeit glänzend promoviert wurde. Zwischen 1798 u. 1801 unternahm S. eine Bildungsreise, die ihn u. a. zu Schelling nach Jena (1798/99) u. Abraham Werner nach Freiberg (1799–1802) führte; in Jena war S. Adjunkt an der Philosophischen Fakultät (seit Herbst 1798) u. hörte im Wintersemester 1798/99 Naturphilosophie bei Schelling. – Das Grundthema seiner künftigen philosophischen Arbeiten verdankt er aber generell der Neuen Naturphilosophie. Schelling selber schätzte ihn (im Vorwort zu dessen nachgelassenen Schriften) so ein: »Als Mineralog, Geognost, Geolog hatte er in der Geschichte der Erde die Anschauung einer unergründlichen Vergangenheit, einer ganzen Folge von Zeiten gewonnen, in der je die eine die andere zudeckte, eins dem andern zu Grunde gelegt wurde, nicht ohne in dieser Unterordnung selbst verändert zu werden. Unstrittig war es diese Grundanschauung, welche von der ersten Bekanntschaft an die gegenseitige Anziehung zwischen uns vermittelte. [...] Es war damals ein Bedürfnis vorhanden, sich auch des in der Natur Gegebenen philosophisch bewusst zu werden.« Seine Leistungen – »der herrliche Steffens« nennt ihn Friedrich Schlegel (im Brief an A. W. Schlegel, 19.8.1804) – sind auch aus dem Jenaer Schlegel-Kreis (in einem Brief von August Winkelmann von Ende Febr. 1803) einmal so gewürdigt worden: »Zu einer historischen Darstellung der Natur hat vorzüglich Steffens den Grund gelegt in den Beiträgen zur Theorie der Erde. Der hier aufgestellte, historische Gesichtspunkt ist nach unserer Überzeugung der höchste.« – S. war sich im Klaren darüber, dass ein neues philosophisches Wissen von der Natur nur von den transzendentalphilosophischen Konzeptualisierungen Kants her zu erschließen wäre. Immer wieder wurde es ihm gerade in Jena deutlich, »dass Kant den eigentlichen Grund zu einer neuen Schule gelegt hatte, dass die Entdeckung, dass alle sichtbaren Dinge sich nach bestimmten Denkgesetzen um die unwandelbare Sonne des Bewusstseins bewegen, eine Umwandlung der Denkweise selbst erzeugt hatte, die [...] für alle Zukunft der Philosophie eben so entscheidend war, wie

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die Ansicht des Copernikus für die Physik« (Was ich erlebte, Bd. 4, S. 101). – Die Formbestimmung dieser neuen Denkweise war – der alten atomistisch-mechanischen gegenüber – das Werden, der Prozess, der Dynamismus. S. hat seine naturphilosophischen Untersuchungen von allem Anfang an in dieser Perspektive verstehen wollen. Er demonstrierte sozusagen eine analyt. Doppelstrategie »aus dem Geiste heraus, welcher die Natur auch wieder als die große, erhabene Werkstätte des Geistes erkennt, sowohl in dem Sinne, dass der Geist aus ihr herkommt – wenn ihr auch in keiner Weise gehört – dann aber auch in dem Sinne, dass der Geist in und an der Natur selbst seine Bildungen vollzieht, aus ihr seine Werke vollbringt« (Königsberger Literatur-Blatt, 8.3.1845). S. blieb zeitlebens nicht nur Schelling persönlich freundschaftlich verbunden (dieser gab auch nach S.’ Tod die Nachgelassenen Schriften, Bln. 1846, heraus), sondern er sah sich seither einer »naturphilosophischen Mission« verpflichtet, die zur geistigen Orientierung aller seiner künftigen Aktivitäten in Wissenschaft, Politik u. Literatur werden sollte. Das erste literar. Zeugnis dieser Aneignung der neuen Naturphilosophie aus dem Geist der Romantik waren S.’ Beyträge zur innern Naturgeschichte der Erde (Freiberg 1801), das zgl. auch seinen wissenschaftl. Ruf in einer breiteren Öffentlichkeit begründete. S. erhielt 1804 einen Lehrstuhl für Naturgeschichte an der Universität Halle; 1805 heiratete er Hanna, die Tochter Johann Friedrich Reichardts. 1808 suchte er mit der Schrift Über die Idee der Universitäten (Halle) zur geistigen Formierung der dt. Gelehrtenrepublik gegen die sog. napoleonische Fremdherrschaft beizutragen. S. beteiligte sich auch selbst am Feldzug 1813/14 (als »ungeschicktester Seconde-Lieutenant in der preußischen Armee«, so S. in seiner zehnbändigen, als Quellenwerk bedeutenden Autobiografie Was ich erlebte. Bd. 7, Breslau 1844, S. 109), der ihn bis nach Paris führte. 1811–1832 war S. Professor für Naturgeschichte in Breslau. Diese Jahre waren angefüllt mit vehementer gesellschafts-, wissenschafts- u. kirchenpolit. Polemik. Ein erster polit. Streit betraf die sog. »Breslauer Turn-

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Steffens

Literatur: Bibliografien: Aage Jørgensen: Littefehde«, die sogar den Lehrkörper der Universität in zwei Lager teilte; S. wandte sich raturen om H. S. 1845–1964. In: Nordisk Tidskrift dabei zunehmend ab von der Deutschtümelei för Bok- och Biblioteksväsen 52 (1965) S. 19–29. – u. den polit. Zielen der sich um Jahn sam- H. S. – Vermittler zwischen Natur u. Geist. Hg. Otto Lorenz u. Bernd Henningsen, Berlin 1999. – Dietmelnden Erneuerungsbewegung u. deren rich v. Engelhardt: H. S. In: Naturphilosophie nach »geistlose[m] Treiben einer aufrührerischen Schelling. Hg. Thomas Bach u. Olaf Breidbach. Stgt.Menge, welche jetzt den leeren Verstand, die Bad Cannstatt 2005, S. 701–735. – Weitere Titel: bodenlose Oberflächlichkeit, welche sie in der Alexander Jung: H. S. In: Königsberger LiteraturWissenschaft nicht durchsetzen konnte, auf blatt 4 (1845), Nr. 19–21. – Martin Meißner: H. S. als dem Gebiete des öffentlichen Lebens und Religionsphilosoph. Breslau 1936. – Inge Möller: H. Staates verwirklichen will« (Schelling an At- S. Stgt. 1962. – Boerge Oersted: Mynster ok Steffens. terbom, 29.1.1819). – Der publizistische Er- 2 Bde., Kopenhagen 1965. – Helge Hultberg: Den trag von S.’ polit. Kämpfen wurde gesammelt unge H. S. 1773–1811. Festskrift. Ebd. 1973. – Werner Abelein: H. S.’ polit. Schr.en. Tüb. 1977. – in seinen polit. Hauptwerken Die gegenwärtige Wolfgang Feigs: Deskriptive Ed. auf Allograph-, Zeit und wie sie geworden, mit besonderer Rücksicht Wort- u. Satzniveau, demonstriert an handschriftauf Deutschland (Bln. 1817) u. Caricaturen des lich überlieferten, deutschsprachigen Briefen v. S. Heiligsten (2 Bde., Lpz. 1819 u. 1821). Ein Bern/Ffm. 1979 ff. Bd. 2: Briefe. 1982. – Robert weiterer polem. Gegenstand S.’ waren die Mikulski: H. S. – ein vergessener Schriftsteller. In: kirchenpolit. Vorgänge um die preuß. Kir- Schlesien 36 (1991), 2, S. 91–98. – Fritz Paul: ›Ein chenunion (zwischen Reformierten u. Luthe- Meister aus der Ferne‹. H. S. als Grenzgänger u. ranern): für S. eine – als Folge des modischen Kulturvermittler. In: Grenzgänge. Skandinavischpolit. Liberalismus – inakzeptable Entlee- dt. Nachbarschaften. Hg. Heinrich Detering. Gött. 1996, S. 115–131. – Otto Lorenz u. Bernd Henrung echter lebendiger Religiosität als eine ningsen (Hg.): H. S. – Vermittler zwischen Natur u. unaufhaltsame Folge jener Unierung; er trat Geist. Bln. 1999. – Wolfdietrich v. Kloeden: H. S. In: ostentativ den Lutheranern in Breslau bei. Bautz 15 (1999), Sp. 1308–1318. – John Patrick Mi1832 an die Berliner Universität berufen, kisch: Im Lichte des Nordens. Die Gesch. des H.-S.wandte sich S. im Alter zunehmend der Li- Preises 1966–2003. Hbg. 2004. – Dietrich v. Engelteratur zu; seine zahlreichen novellistischen hardt: H. S. In: Naturphilosophie nach Schelling. Arbeiten (Die Familien Walseth und Leith. 3 Hg. Thomas Bach u. Olaf Breidbach. Stgt. 2005, Bde., Breslau 1826/27. Die vier Norweger. 5 S. 701–735. – Günter Oesterle: H. S.: Was ich erlebte. Spätromant. Autobiogr. als Legitimierung eiBde., ebd. 1828. Malkolm. 2 Bde., ebd. 1831. nes romant. Habitus. In: Romantik im Norden. Hg. Die Revolution. 3 Bde., ebd. 1837) offenbaren Annegret Heitmann. Würzb. 2010, S. 191–206. eine spätromant. Frömmigkeit, mit der er – Steffen Dietzsch als Unzeitgemäßer – dem Trend einer geistlosen Zeit zu widerstehen hoffte; namentlich vom »Jungen Deutschland« sah sich diese Steffens, Johann Heinrich, * 1711 Nordprotestantisch-konservative Haltung unter hausen/Thüringen, † 26.1.1784 Celle. – Restaurationsverdacht gestellt – ein Schick- Pädagoge, Historiker, Übersetzer. sal, das S. nicht nur als Person, sondern zgl. S. studierte ab 1730 alte Sprachen, Rhetorik seine Naturphilosophie betraf. Mit S. wurde u. Philosophie in Jena u. wurde dann Lehrer die romant. Methode als akadem. Gegenam Celler Gymnasium (dem heutigen Ernesstand zu Grabe getragen. tinum). Er heiratete eine Tochter des Rektors Weitere Werke: Über Mineralogie u. das miJohann Heinrich Marcard, dessen Amtsnachneralog. Studium. Altona 1797. – Grundzüge der folger er 1756 wurde. S. war Mitgl. der Köphilosoph. Naturwiss. Bln. 1806. – Vollst. Hdb. der niglich Deutschen Gesellschaft in Göttingen. Oryktognosie. 4 Bde., Halle 1811–24. – Über KotS. stand der Dichtkunst, wenn er sie auch zebues Ermordung. Breslau 1819. – Anthropologie. 2 Bde., ebd. 1822. – Von der falschen Theologie u. lediglich unter pädagog. Gesichtspunkten dem wahren Glauben. Ebd. 1823. – Wie ich wieder betrachtet zu haben scheint, aufgeschlossen Lutheraner wurde. Ebd. 1831. – Christl. Religi- gegenüber u. sah in Schultheater-Aufführungen ein Mittel, den Schülern moralische onsphilosophie. 2 Bde., ebd. 1839.

Stegemann

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u. philosophische Erkenntnisse in fassl. u. Stegemann, Hermann, auch: H. Sentier, angenehmer Weise nahezubringen – also * 30.5.1870 Koblenz, † 8.6.1945 Merliganz, wie es die aufklärerische Literatur- gen/Schweiz. – Publizist, Erzähler u. theorie bes. Gottscheds anstrebte, dessen Dramatiker. Einfluss namentlich in S.’ kurzer Abhandlung Von der Moralität der Schauspiele (Celle Der im Elsass zweisprachig aufgewachsene 1746) zu erkennen ist. S. bearbeitete für Beamtensohn arbeitete nach dem Abbruch Schulaufführungen sowohl eine Reihe älterer seines Geschichtsstudiums als Journalist u. Stücke (z.B. Sophokles’ Oedipus. Ebd. 1746. Redakteur für die »Basler Nachrichten«, die Plautus’ Aulularia u. d. T. Der Geldtopf. Ebd. »Gartenlaube« u. den »Berner Bund«. Seit 1765. Shakespeares Othello u. d. T. Das 1901 Schweizer Staatsbürger, lebte S. von Schnupftuch. Ebd. 1770) als auch zeitgenöss. 1923 an in Luzern u. Merligen. 1922 wurde er Vorlagen, teils Romane (Samuel Richardsons Honorarprofessor für Neuere Geschichte in Clarissa. Celle 1765, u. Henry Fieldings Tom München; 1935 erhielt er den Goethe-Preis Jones. Ebd. 1765), teils Dramen (z.B. Lessings der Stadt Frankfurt. In seinem Roman Dorfdämmerung (Zürich Emilia Galotti als lat. Version. Ebd. 1778). Neben diesen literar. Arbeiten, deren poe- 1892) u. in den Erntenovellen (Basel 1894) fand tischer Wert schon von Zeitgenossen als ge- S. in Anlehnung an Realismus u. Heimatring eingeschätzt wurde, schrieb S. mehrere kunst die ihm gemäße literar. Form. Mit den histor. Werke, die zumeist der Lokal- u. Romanen Daniel Junt (Bln. 1905), Die als Opfer Landesgeschichte gewidmet sind. In ihnen fallen (ebd. 1907), Die Krafft von Illzach (ebd. gelangte er über die Reihung antiquarischer 1913) u. Der gefesselte Strom (ebd. 1914) etaDetails selten hinaus. Seine Celler Stadtge- blierte er sich als Chronist des elsässisch-aleschichte ist jedoch als Tatsachenfundgrube mann. Rheinlands. Den polit. u. sozialen noch heute wertvoll (Historische und diploma- Konflikten der Zeit stellte er die gewachsene tische Abhandlungen, einige besondere Merkwür- Ordnung der Heimat u. die Werte bäuerlichdigkeiten der Stadt Zelle betreffend. Celle 1763. bürgerl. Tradition entgegen. An dieses KonNachdr. Ebd. 1992). zept halten sich auch die histor. Romane wie Weitere Werke: Index geographicus europa- Jacobäa (Stgt. 1928) u. Die letzten Tage des Mareus. Celle 1768 (historisch vergleichendes Verz. schalls von Sachsen (ebd. 1930) sowie die zeitgeograf. Namen). – Aesop bey Hofe. Lpz. 1770 krit. Schicksalsromane Theresle (Bln. 1911), (Schausp. nach Boursault). – Aesop in der Stadt. Thomas Ringwald (ebd. 1912) u. Wandlung (ebd. Lpz. 1770 (Schausp. nach Boursault). – Auszug aus 1927). der Gesch. des Durchlauchtigsten Gesammt-HauDie politisch-histor. Schriften wie Der ses Braunschweig-Lüneburg. Celle 1776. – Geschlechts-Gesch. des Hochadelichen Hauses v. Kampf um den Rhein (Stgt. 1924), die S.s Kriegsberichterstattung in der Geschichte des Campe. Celle 1783. Ausgaben: Internet-Ed. etlicher Werke in: Dt. Krieges (4 Bde., ebd. 1917–21) auswerten, Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. verschrieben sich einem nationalistischen Literatur: Friedrich Brandes: J. H. S. In: ADB. – Geschichtsbild. Paul Alpers: Gesch. des Celler Gymnasiums. Celle 1928, S. 64–72. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 30, S. 43. – Renata Häublein: Die Entdeckung Shakespeares auf der dt. Bühne des 18. Jh. Adaption u. Wirkung der Vermittlung auf dem Theater. Tüb. 2005. – Christopher Meid: Die griech. Tragödie im Drama der Aufklärung. ›Bei den Alten in die Schule gehen‹. Tüb. 2008. Uta Schäfer-Richter / Red.

Weitere Werke: Die Himmelspacher. Bln. 1912 (R.). – Ausgew. Werke. 6 Bde., Stgt. 1921. – Das Trugbild v. Versailles. Ebd. 1926. – Das Ende des Grafen Krall. Ebd. 1929 (R.). – Erinnerungen aus meinem Leben u. meiner Zeit. Ebd. 1930 (Autobiogr.). – Weltwende. Der Kampf um die Zukunft u. Dtschld. Ebd. 1934. Literatur: H. S. Persönlichkeit u. Werk. FS zum 60. Geburtstag. Stgt. 1930. – Hans Stubbemann: H. S. als polit. Journalist. Würzb. 1940. – Albrecht Bamler: Der Publizist u. Schriftsteller H. S. (1870–1945). Seine Wandlung vom linksliberalen

197 Journalisten zum deutschnationalen Publizisten. Ffm. u. a. 1989. Dirk Göttsche / Red.

Stegmann, Joachim, * 1595 Mark Brandenburg, † 25.12.1633 Klausenburg. – Sozinianischer Philosoph u. Theologe. Von den ersten Lebensjahren S.s ist uns nichts bekannt. Er war von 1619 bis zu seiner Amtsenthebung 1625 luth. Pfarrer in der Gemeinde Fahrland bei Potsdam. Anlass für diese Ab- u. anschließende Festsetzung auf der Zitadelle Spandau in Berlin waren seine sozinian. Lehransichten, die er in der nur handschriftlich überlieferten u. von der Forschung bis jetzt nicht beachteten Schrift Christologia oder Unterrichtung von Jesu Christo vertrat. Er widmete das Werk Katharina, Markgräfin von Brandenburg, Herzogin von Siebenbürgen u. Schwester von Georg Wilhelm I., Kurfürst von Brandenburg. Auf der Zitadelle kam es 1626 zu einem vom Kurfürsten angeordneten nicht-öffentl. Gespräch zwischen S. selbst u. dem reformierten Theologen Johannes Bergius sowie den luth. Theologen Hieronymus Prunner u. Peter Vehr. Eine Auswertung dieses Gesprächs, das in einer Mitschrift vorliegt, ist von der Forschung bis jetzt nicht erfolgt. Da sich S. weiterhin zu seinen antitrinitar. Ansichten bekannte, wurde er des Landes verwiesen. Seit 1630 war er in Danzig reformierter Prediger an der Kirche St. Peter. Ob dies seiner religiösen Überzeugung entsprach, ist nicht klar. Zweifel sind angebracht, da er noch im selben Jahr als Nachfolger von Martin Ruarus zum Rektor des berühmten Gymnasiums in Raków berufen wurde, dem Zentrum der Sozinianer in Polen, für die er schon länger im Untergrund als Autor u. Ratgeber tätig gewesen war. Diese Funktion übernahm er aber erst 1631, nachdem er in Danzig als Prediger abgesetzt worden war. Er blieb jedoch nicht lange in Raków, sondern wurde Ende desselben Jahres nach Klausenburg (Siebenbürgen) als Prediger der dortigen deutschsprachigen antitrinitar. Gemeinde entsandt. Dort starb er 1633 (u. nicht wie bei Sand vermerkt 1632). S. begann seine Tätigkeit als vielseitig orientierter Gelehrter mit zwei Schriften zur

Stegmann

Mathematik bzw. Geometrie, die 1624 (Circinus Quadrantarius, oder Beschreibung eines Mathematischen Instruments / zu allerhandt Astronomischen / Geometrischen / Büchsenmeisterey / unnd Viesierstücken) bzw. 1626 (Radius Mathematicus, oder Erklärung und Gebrauch des mathematischen Marchierstabs) in Berlin veröffentlicht wurden (nicht bei Sand u. Bock verzeichnet). In dem oben genannten Manuskript zur Christologie übernahm er die Position der Sozinianer, die wesentlich in der Ablehnung sowohl der Lehre von den zwei Naturen Christi als auch der durch ihn erfolgten Rechtfertigung aller Menschen vor Gott bestand. 1629 verfasste er auf Deutsch ein nicht erhaltenes Manuskript über den Gebrauch der Vernunft in den heiligen Dingen. Mit diesem Thema beschäftigte er sich auch in den Schriften Brevis disquisitio, an & quomodo vulgò dicti Evangelici, Pontificios, ac nominatim Valeriani Magni de Acatholicorum credendi regula judicium, solidè atque evidenter refutare queant (Eleutheropoli [= Amsterd.] 1633) u. De Iudice et norma controversiarum fidei libri II (postum Eleutheropoli [= Amsterd.] 1644. Neuausg., hg. Juliusz Domanski u. Zbigniew Ogonowski. Warschau 1963). Dort setzte er die vom Hl. Geist vervollkommnete Vernunft als alleinige Entscheidungsinstanz bei religiösen Streitigkeiten ein, da diese Funktion auf eine von allen Konfessionen akzeptierte Weise weder von der kath. Kirche noch von der sich nach Ansicht der Lutheraner selbst auslegenden Hl. Schrift noch von dem die Christen unmittelbar inspirierenden Hl. Geist, wie die Reformierten meinten, erfüllt werden kann. Dieser Neubewertung der Funktion der Vernunft entspricht eine Ablehnung des Dogmas von der Erbsünde, das sich nicht mit der Gerechtigkeit Gottes, der keine Kollektivschuld verhängt, verträgt. 1630 veröffentlichte S. zusammen mit Johann Crell u. Valentin Schmalz in Raków eine neue dt. Übersetzung des NT (Das Newe Testament, Das ist / Alle Bücher des newen Bundes / welchen Gott durch Christum mit den menschen gemacht hat / Trewlich aus dem Griechischen ins Teutsche versetzet). 1631 kam es zu einem länger währenden Streit mit dem Danziger luth. Theologen Johann Botsack, der in der Schrift Einfältige Warnung für der New Photinianischen

Stegmann

oder Arianischen Lehr (Danzig 1632) vor dem wachsenden Einfluss der häret. Lehre der Sozinianer warnte. S. antworte mit der Schrift Prob der Einfältigen Warnung für der New Photinianischen / oder Arianischen Lehr (Raków 1633), in der er u. a. das erwähnte spezifisch sozinian. Programm, dass man nichts ohne Vernunft glauben müsse, verteidigte. Neben diesen überwiegend religiösen Schriften verfasste er auch philosophische Texte zur Logik u. Metaphysik, die sich nicht erhalten haben. Insgesamt vertrat S. eine an der Vernunft orientierte Theologie, die von den spekulativen Lehren der etablierten Konfessionen befreit wurde. Eine umfassende Würdigung S.s in philosophischer u. theolog. Hinsicht steht noch aus. Ein umfangreiches Werkverzeichnis findet sich bei Sand u. Bock. Literatur: Christoph Sand: Bibliotheca AntiTrinitariorum. Freistadt [= Amsterd.] 1684. Nachdr. Warschau 1967, S. 132 f. – Friedrich Samuel Bock: Historia antitrinitariorum, maxime Socinianismi et Socinianorum. 2 Bde., Königsb./Lpz. 1774–84. Nachdr. Lpz. 1978, hier: Bd. 1,2, S. 948–958. – Zbigniew Ogonowski: Der Sozinianismus. In: Ueberweg, Bd. 4,2, Basel 2001, S. 871–881, 1265–1287. – Sascha Salatowsky: ›Fides cum ratione?‹ Lutheraner, Calvinisten u. Sozinianer im Streit um das Prinzip der Theologie. In: Departure for Modern Europe. A Handbook of Early Modern Philosophy (1400–1700). Hg. Hubertus Busche u. Stefan Heßbrüggen-Walter. Hbg. 2011. Sascha Salatowsky

Stegmann, Stegman, Josua, * 14.9.1588 Sulzfeld bei Meiningen, † 3.8.1632 Rinteln. – Evangelischer Theologe u. Kirchenlieddichter. S.s Leben u. Dichten stand im Schatten des Dreißigjährigen Kriegs. Der Sohn des Pfarrers Ambrosius Stegmann erhielt eine gute Schulbildung, studierte ab 1607 als kurfürstl. Alumnus an der Universität Leipzig u. erwarb 1617 den Titel eines Dr. theol. in Wittenberg. 1618 wurde er durch Vermittlung Johann Gerhards als Superintendent der Grafschaft Schaumburg u. Professor am Gymnasium nach Stadthagen berufen. Als 1621 das Gymnasium in eine Universität umgewandelt u. nach Rinteln verlegt wurde, hielt S. als erster Professor der Theologie die Einwei-

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hungspredigt. 1623 musste er vor feindl. Truppen fliehen. 1625 wurde er zum Ephorus der Grafschaft Schaumburg ernannt; doch die Kriegswirren erschwerten weiterhin sein Leben, bes. als nach dem Restitutionsedikt (1629) die Universität an die Benediktiner zurückgegeben werden musste u. den Professoren die Besoldung vorenthalten wurde. Neben theolog. Dissertationen in lat. Sprache schrieb S. erbaul. Schriften für die ihm unterstellten Pfarrer, darunter ein Christliches Gebet Büchlein. Auff die bevorstehende Betrübnis, Kriegs, Theuerung und Sterbens Zeiten gerichtet (Rinteln 1627. Fünf vermehrte Aufl.n bis 1631. U. d. T. Suspiria Temporum, Das ist: Andächtige Hertzen-Seufftzer. Ebd. 1628. Bearbeitung von A. Gryphius u. d. T. Himmel Steigente HertzensSeüfftzer. Breslau 1665. Neuausg. Hg. Karl-Heinz Habersetzer u. Marian Szyrocki. Tüb. 1987). Von den darin enthaltenen Gedichten u. Liedern werden S. 36 zugeschrieben. Das Lied Ach bleib mit deiner Gnade, dessen Bitte am Schluss, »Beständigkeit verleihe, hilf uns aus aller Not«, die Drangsal dieser Jahre widerspiegelt, hat sich einen bleibenden Platz im Liedgut der christl. Kirche gesichert. Die Aussage dieses von S. als Schlussreimen bezeichneten Liedes ist schlicht u. direkt. Seine gefällige Form verrät den – bei S. nur selten spürbaren – glättenden Einfluss der Opitzschen Reform. S.s Paraphrase des Morgensternlieds, Wie schön leuchtet der Morgenstern vom Firmament des Himmels fern, hat möglicherweise Grimmelshausen zu dem Lied des Einsiedlers im ersten Buch des Simplicissimus angeregt. Ausgabe: Textauswahl in: Fischer/Tümpel 2, S. 476–499. Literatur: Bibliografie: Pyritz 2, S. 663. – Weitere Titel: Zedler 39, Sp. 1471 f. – Koch 3 (31868), S. 128–133. – ADB. – Albert Fischer: J. S.s Lieder. In: Bl. für Hymnologie (1888), S. 162–169. – Friedrich Motz: J. S. Programm Meiningen 1888. – J. S. Gedächtnisschr. [...]. Rinteln 1932. – Wilhelm Lueken: Lebensbilder der Liederdichter u. Melodisten. Gött. 1957, S. 180 f. – Hans Zappe: Alle singen sein Lied [...]. Bln. 21964. – Marian Szyrocki: ›Himmel Steigente HertzensSeufftzer‹ v. Andreas Gryphius. In: Daphnis 1 (1972), S. 41–78. – Jörg Erb: Dichter u. Sänger des Kirchenliedes.

199 Bd. 4, Lahr 1978, S. 9–12. – Helge Bei der Wieden: J. S. In: Bautz, Bd. 10 (1995), S. 1271–1275 (Werkverz. u. Lit.). Helmut K. Krausse / Red.

Stehr große Stadt‹. Schlüsselbilder des kulturellen Umbruchs am Anfang der 30er Jahre in Romanen v. Irmgard Keun u. H. S. In: Moderne u. Nationalsozialismus im Rheinland. Hg. Dieter Breuer u. Gertrude Cepl-Kaufmann. Paderb. 1997, S. 163–177. – Westf. Autorenlex. 3 (mit Werkverz.).

Steguweit, Heinz, auch: Lambert WendHans Sarkowicz / Red. land, * 19.3.1897 Köln, † 25.5.1964 Halver bei Lüdenscheid. – Erzähler, DramaStehr, Hermann, * 16.2.1864 Habeltiker, Lyriker. schwerdt/Schlesien, † 11.9.1940 OberDer Kaufmannssohn besuchte nach dem schreiberhau/Schlesien; Grabstätte: HaGymnasium die Handelshochschule, ehe er belschwerdt (Bystrzyca Kl/odzka). – Erals Leibgrenadier eingezogen wurde. Nach zähler, Lyriker, Dramatiker. dem Ersten Weltkrieg arbeitete er zunächst als Bankangestellter u. seit 1925 als freier Autor. S. debütierte mit nationalistischen Gedichten, wandte sich jedoch bald der heiteren Erzählung u. dem Schwank zu, für die er das Rheinland als Schauplatz wählte. Daneben entstanden Romane u. Novellen, in denen er den soldatischen Kampf zur männl. Bewährungsprobe stilisierte. In Der Jüngling im Feuerofen (Hbg. 1932) ist es diese positiv gedeutete Kriegserfahrung, die einem Heimkehrer hilft, sein Leben in der von ihm abgelehnten Weimarer Republik glücklich zu gestalten. Noch einen Schritt weiter ging S. in seinem Roman Heilige Unrast (Hbg. 1935), in dem er die Frontgeneration schicksalhaft zur nationalsozialistischen Bewegung finden lässt. Auch in seinen von der NS-Literaturkritik gefeierten Gedichten (Und alles ist Melodie. Hbg. 1937), Komödien (Der Herr Baron fährt ein. Lpz. 1934) u. Laienspielen trat S. offen für die NS-Ideologie ein. Kurz nach der Machtergreifung war er zum Kulturredakteur des »Westdeutschen Beobachters« u. zum Landesleiter der Reichsschrifttumskammer avanciert. Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb S. wieder humorvolle Texte u. Kinderbücher. Mit seinen Erzählungen u. bühnenwirksamen Laienspielen erreichte er ein großes, allerdings literarisch anspruchsloses Publikum. Weitere Werke: Die Gans. Bln. 1927 (Schwank). – Der Nachbar zur Linken. Lpz. 1936 (D.). – Die törichte Jungfrau. Hbg. 1937 (R.). Literatur: Andrea Brandhoff: H. S. In: Der Bamberger Dichterkreis 1936–43. Hg. Wulf Segebrecht. Bamberg 1985, S. 219–224. – Lex. ns. Dichter. – Doris Rosenstein: ›Die neue Frau‹ – ›Die

S. wurde in die Familie eines Sattlers geboren. Nach dem Besuch der Präparandenanstalt in Landeck arbeitete er seit 1887 als Lehrer. 1898 erschien der erste Erzählband bei S. Fischer in Berlin, Auf Leben und Tod. Seit 1915 widmete er sich ganz dem Schreiben u. war freier Schriftsteller in Warmbrunn, seit 1926 in Schreiberhau. S. verbrachte sein ganzes Leben in Schlesien, u. große Teile seines Werks spiegeln die Verwurzelung in dieser Region. S. erhielt 1932 die Goethe-Medaille, 1933 den Goethe-Preis u. 1934 den Dr. h. c. der Universität Breslau. Er arbeitete für die Zeitschrift »Das Innere Reich«, u. die Nationalsozialisten glaubten in seinen Texten – auch den vor 1933 entstandenen – ihr Literaturprogramm mustergültig vertreten zu sehen; 1933 wurde S. in den Senat der Deutschen Akademie der Dichtung gewählt. S.s Romane lassen sich den Genres Familiensaga u. Bauernroman zurechnen u. sind, in Anlehnung an das antizivilisator. Programm der Heimatkunst, bevorzugt im ländl. Milieu angesiedelt. Einflüsse des Naturalismus u. der schles. Mystik in der Nachfolge Böhmes lassen sich dabei erkennen. Das gilt etwa für S.s Erstling Drei Nächte (geschrieben 1898. Bln. 1909), in dem er das von sozialer Not bestimmte Lebensmilieu seines Protagonisten, des eigenbrötlerischen Lehrers Faber, darstellt, aber auch psychisch-charakterl. Tiefen auslotet u. die myst. Verbundenheit mit einer jenseitigen Welt thematisiert. S. integriert autobiogr. Bezüge in diesen Roman, der sich mit Der Heiligenhof (2 Bde., ebd. 1918) u. Peter Brindeisener (Trier 1924) zu einer

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Trilogie fortsetzt, v. a. die als militärisch kri- u. Dekadenz. In: Dekadenz in Dtschld. Beiträge zur Erforschung der Romanlit. um die Jahrhunderttisierte Lehrerausbildung. S.s themat. u. wertende Vorliebe für den wende. Hg. Dieter Kafitz. Ffm. u. a. 1987, ländl. Raum in Opposition zur tendenziös als S. 203–223. – Ulrich Erdmann: Vom Naturalismus zum Nationalsozialismus? Zeitgeschichtlich-biogr. dekadent dargestellten Stadt, seine AuseinStudien zu Max Halbe, Gerhart Hauptmann, Joandersetzung mit nationalen Mythen u. hannes Schlaf u. H. S. Mit unbekannten SelbstMärchen sowie seine biologistisch ange- zeugnissen. Ffm. 1996. – Wojciech Kunicki (Hg.): hauchten Familienromane, wie etwa die Tri- ›... u. steigert meine Furcht zum Zorn.‹ Beiträge zu logie Das Geschlecht der Maechler (Nathanael Leben u. Werk H. S.s (1864–1940). Lpz. 2009. Maechler. Bln. 1929. Die Nachkommen. Lpz. Doris Kirchner / Red. 1933. Damian. Ebd. 1944), rückten ihn in den Umkreis der völk. Literatur. Die Ansiedlung Steigentesch, August Ernst Frhr. von, eines Großteils von S.s Texten in der Tradi- * 12.1.1774 Hildesheim, † 30.12.1826 tion der Heimat- u. Innerlichkeitsliteratur Wien. – Dramatiker, Lyriker, Erzähler. bereits vor 1933 führte dazu, dass S. von der Literaturkritik meist als relativ apoliti- S. war der Sohn eines Hof- u. Regierungsrats scher, präfaschistischer u. deutschtümelnder in Hildesheim, der nach dem Amt eines kath. Schriftsteller kategorisiert wurde. S. selbst Assessors beim Reichskammergericht in verhielt sich zudem während des »Dritten Wetzlar 1788 kurmainzischer Gesandter Reichs« eher systemkonform. Eine krit. Un- beim Reichstag in Regensburg wurde. Im tersuchung des Verhältnisses zwischen den selben Jahr trat S. in den österr. Heeresdienst sozialkrit. Komponenten von S.s Werk u. nahm als Leutnant am ersten Koalitions(insbes. des Frühwerks) u. prophetisch-myst. krieg gegen Frankreich teil. Während des u. irrationalen Tendenzen ist ein Desiderat, Kriegs- u. Lagerlebens wurde er zum Dichter wie auch seine Stellung in der NS-Zeit nähe- u. schrieb fünf Lustspiele, die zunächst serer Klärung bedarf. In Wangen/Allgäu befin- parat erschienen. Bis auf seinen Erstling Die det sich seit 1952 ein Archiv mit S.s zum Teil Versöhnung (Gießen 1795. Wetzlar 1795) veröffentlichte er sie in einer Sammelausgabe unveröffentlichtem Nachlass. (Dramatische Versuche. 2 Bde., Osnabr. 1798), Weitere Werke: Leonore Griebel. Bln. 1900 ergänzt um Bemerkungen über das Lustspiel. (R.). – Das letzte Kind. Ebd. 1903 (Märchen). – Meta Darin fordert er zukunftweisend, das dt. Konegen. Ebd. 1904 (D.). – Der begrabene Gott. Ebd. 1905 (R.). – Gesch.n aus dem Mandelhause. Lustspiel aus dem Milieu der höheren Stände Ebd. 1913. – Das Abendrot. Ebd. 1916 (N.n). – Der neu zu schaffen u. in eine KonversationskoGeigenmacher. Lpz. 1926 (N.). – Meister Cajetan. mödie zu überführen. Dem wird S.s FrühEbd. 1931 (N.). – Mein Leben. Bln. 1934. – Der werk allerdings nur bedingt gerecht. ConveMittelgarten. Lpz. 1936 (L.). – Das Stundenglas. nienz und Liebe, das bekannteste Stück der Reden. Schr.en. Tagebücher. Ebd. 1936. – Der Sammlung, zeigt in der Vielzahl larmoyanter Himmelschlüssel. Ebd. 1939. – Zwiesprache über Szenen exemplarisch, wie sehr sich S. in seiden Zeiten. Briefe u. Dokumente über die Freund- nen frühen rührenden Lustspielen noch an schaft mit Walther Rathenau. Hg. Ursula Meridies- Kotzebues Erfolgsstück Menschenhass und Reue Stehr. Lpz./Mchn. 1946. – H. u. Hedwig S. im (1789) orientierte. Doch blieb das Ehethema Briefw. mit Gerhart u. Margarete Hauptmann. Hg. entscheidend für seine gesamte LustspielPeter Sprengel. Bln. 2008. produktion. Literatur: Wilhelm Meridies: H. S. Würzb. Bestärkt durch die Aufnahme einiger Ge1964. – Bodo Heimann: Die Konvergenz der Eindichte in Schillers Musenalmanach widmete zelgänger. S. – Strauß – Kolbenheyer. In: Die dt. sich S. in seiner zweiten Werkphase, den Lit. im Dritten Reich. Hg. Horst Denkler u. Karl Prümm. Stgt. 1976, S. 118–137. – Peter Demetz: Jahren 1798–1805, vornehmlich der Lyrik Die Einsamkeit der Gottsucher. Über H. S.s ›Der (Gedichte. Osnabr. 1799) u. heiteren Epik (ErHeiligenhof‹. In: Wangener Beiträge zur S.-Forsch. zählungen. Osnabr. 1802). S., der zum Major für 1981–82. Mchn. 1982. – Jürgen Hillesheim aufstieg u. den Freiherrentitel erhielt, nahm u. a.: H. S.s ›Leonore Griebel‹ (1900). Mystizismus sich v. a. die virtuose Komik Wielands zum

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Vorbild, wie seine versatile »poetische Er- ten überliefert. Während S. 1818–1821 als zählung in vier Büchern« Keratophoros (dt. Gesandter in Kopenhagen lebte, erschienen ›Hörnerträger‹) zeigt. Darin gelingt es Fatima seine Gesammelten Schriften (5 Bde., Lpz./ trotz zahlreicher genussträchtiger Abenteuer, Darmst. 1819). Eine Erholungsreise durch ihrem alten Gatten weiszumachen, sie gehe Frankreich u. Oberitalien (Mitteilungen aus dem Tagebuch eines Reisenden. Lpz. 1824) besnoch als Jungfrau in die Ehe mit ihm. Nach dem antinapoleonischen Befreiungs- serte seine schwache Gesundheit kaum. Die krieg 1809 nahm S. im Rang eines Oberst Versetzung in den Ruhestand erfolgte kurz seinen Abschied vom Militär. Er verkehrte als vor seinem Tod. S.s Salonstücke gehörten bis Bonvivant in den wichtigsten Wiener Salons, 1830 zum Repertoire der bedeutendsten dt. wo er den Ton der höheren Kreise fand, die er Bühnen, bevor sie sukzessive durch Übersetin seinen Lustspielen darstellte. Da die Sa- zungen frz. Konversationsstücke verdrängt lonstücke vorrangig auf Hofbühnen gegeben wurden. S. wirkte aber insofern in der Wiener wurden, konnte sich die Wiener Aristokratie Theatergeschichte weiter, als Eduard Bauin S.s Stücken, die im Hofburgtheater aufge- ernfeld an ihn anknüpfte. führt wurden, wiederkennen. Dies gilt etwa Weitere Werke: Ausgaben: Dramat. Versuche. 2 für das Lustspiel Entfernung (Urauff. 1806), Bde., Osnabr. 1798. – Erzählungen. 2 Bde., Wien/ das die Veränderung zweier Paare im Laufe Triest 1808. Darmst. 21815. Ebd. 31823. – Lustder Koalitionskriege schildert. Bald tilgte S. spiele. 3 Bde., Lpz. 1813. – Einzeltitel: Das Landle2 aber die Zeitbezüge u. schrieb unverfängl. ben. Lustsp. Ebd. 1802. 1809. – Ueber die Kunst, sein Glück zu machen. Epistel an einen Freund. ›Bluetten‹ (›witzige literar. Werkchen‹), die Ebd. 1802. – Die Gelehrsamkeit der Liebe. Mchn. durch ihren galant-leichten Gesprächston wie 1804. – Tb. zur Unterhaltung auf dem Lande für in Verstand und Herz (Druck in: Lustspiele. das Jahr 1811. Wien 1811. – Man kann sich irren. Bd. 2, Lpz. 1813) so sehr überzeugten, dass S. Lustsp. Lpz. 1813. – Die Verwandten. Lustsp. Lpz. bald als bedeutendster Repräsentant des 1813. – Mährchen. Lpz. 1813 (E.). neuen ›Conversationslustspiels‹ galt. Zu den Literatur: Wilhelm Eilers: A. v. S. Diss. Lpz. diversen Ehekomödien zählt der konventio- 1905 (Bibliogr.). – Goedeke, V (1893), S. 296; XI/2 nelle Einakter Wer sucht, findet auch, was er nicht (21953), S. 408 f. – Gudrun Pfau: E. A. v. S. sucht (Uruaff. im Burgtheater 1810), der (1774–1826). Poet u. General. In: Wiener Geschildert, wie ein Ehemann, der seine Frau schichtsbl. 54 (1999), S. 209–219. kurz nach der Hochzeit verlässt, sich nach Achim Aurnhammer Jahren, ohne sie zu erkennen, wieder in sie verliebt. S.s Roman Marie (Gießen 1812), eine Steiger, Bruno, * 3.6.1946 Zürich. – freie Bearbeitung der Liaisons dangereuses, apSchriftsteller, Essayist, Literaturkritiker. pelliert an die Empathie des Lesers für die gefallene Unschuld. In seinem Wort über Nach einer techn. Ausbildung arbeitete S. deutsche Litteratur und Sprache in Friedrich jahrelang als Hochbauzeichner in einem ArSchlegels »Deutschem Museum« 1 (1812) chitekturbüro in Luzern u. war daneben machte sich S. die frz. Kritik an der dt. Spra- schriftstellerisch tätig. Mit fünfzig Jahren che u. Literatur zu eigen, was ihm eine lit. wandte er sich ganz der Literatur zu u. lebt Fehde mit Christian Gottfried Körner u. den heute als freier Schriftsteller in Zürich. S. erRuf eines »Französlings« eintrug. hielt u. a. den Buchpreis des Kantons Bern In seiner letzten Lebensphase (1813–1826) (1985, 2002) u. den Essay-Preis des Landes wurde S. als ›Armeediplomat‹ politisch reak- Niedersachsen (1998). tiviert. Er wurde Generaladjutant des Fürsten S. veröffentlichte Gedichte u. Prosa in Schwarzenberg, während des Wiener Kon- Zeitschriften, u. a. in »manuskripte«, »Neue gresses war er Gesandter in Kopenhagen, in Rundschau«, »Schreibheft«, »Literaturmader Schweiz und in Petersburg, bevor er nach gazin«. Er gehört wie Laederach, Ingold, Ilma Wien zurückkehrte. Seine Rolle als jovialer Rakusa, Urs Allemann u. Kurt Aebli zu den Gastgeber u. Feinschmecker während des Schweizer Autoren, die sich konsequent der Wiener Kongresses ist in mehreren Anekdo- experimentellen Literatur verschrieben ha-

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ben. Er entwirft spontan Gegenrealitäten, die Vorwand, sprach- u. existenzphilosophische sich in der Sprache selbst konkretisieren: Überlegungen zu vermitteln. In dem 2006 Buchstaben-, Wörter-, Sprachkosmen, die ins erschienenen Roman Falsche Filme (Zürich) Bodenlose, Irreale, Irreguläre vorstoßen. schickt der Verfasser seinen Helden auf die Dieses Verfahren reflektiert S.s Misstrauen Suche nach den Spuren seiner Vergangenheit. gegen eine vertraute Weltsicht, die sich in Mit Hilfe einiger alter Ferienfilme u. eigener einer konventionalisierten Sprache abbildet. Erinnerungsfetzen versucht der Mann, seiS. entzieht den herkömml. Wortbedeutungen nen ersten Sommeraufenthalt in Italien zu den allgemeinverbindl. Sinn u. füllt das Va- rekonstruieren. Auch hier rücken Sprache u. kuum mit neuen Inhalten (»Kundenpyrami- Stimmungen in den Vordergrund. 2009 ist de«, »Mullbodenliebende«, »Holzhundeauf- eine Auswahl von S.s Buchkritiken u. Essays nahmen«), beweist dabei eine unbändige Zwischen Unorten. Über Literatur und Kunst (BaSprachlust u. eine anarch. u. sinnl. Fähigkeit sel/Weil am Rhein) erschienen. Die Aufsätze über zeitgenöss. Autoren liefern ein inspiriezu Sprachspielen. S.s Prosa sperrt sich konsequent gegen alle rendes Bild der modernen Literatur, das imErzähltraditionen, wodurch seine Werke als plizit als eine Poetik von S.s eigenem literar. schwer zugänglich gelten u. ein eher ambi- Werk zu lesen ist. tioniertes Lesepublikum ansprechen. Seinen Weitere Werke: Jagdpark. Gedichte 1970–79. Stil kennzeichnen detaillierte, oft befrem- Luzern 1978. – Der Panamakanal u. der Panamadend anmutende Beschreibungen von Ge- kanal. Zürich/Köln 1983 (P.). – Gurdjieffs Argugenständen u. Räumlichkeiten, selten von ment. Reinb. 1985 (R.). – Notton Tunkelbald. ZüMenschen. Ausgesuchter, beinahe elitärer rich 1988 (Ess.). – Melodie u. Irrtum. Ebd. 1989 Wortschatz, sorgfältig konstruierte, wohl- (E.en). – Jackson Pollock in Amerika. Reinb. 1993 (R.). – Unter sich. Graz/Wien 1996 (Briefw. mit F. P. klingende Sätze lassen S. als Sprachartisten Ingold). – Bernhardinerinnen. 1997 (Rep.). – Der erscheinen. Aus dieser Schreibstrategie er- vierte Spiegel. Salzb./Wien 1998 (R.). – Das Fenster wachsen oft subtile Ironie u. Komik. S. er- in der Luft. Basel 2008 (P.). zählt nie linear, mit Vorliebe vollzieht er asLiteratur: Beatrice v. Matt: ›Man hört den Rosoziative Sprünge u. montiert Szenen u. Bil- man leise rumoren‹ [...]. In: NZZ, 20.5.1983. – der, Gesten u. Dialoge aus der Vergangenheit Felix Philipp Ingold: Die Erfindung der Wirklichu. Gegenwart. In seiner Prosa stellt S. oft keit. In: Basler Ztg., 11.6.1983. – Jürgen TheoSchriftstellerfiguren dar, die eine Ähnlichkeit baldy: Der Autor als Delphin? In: Frankfurter mit ihm selbst aufweisen u. meistens eine Rundschau, 28.12.1985. – Andreas Langenbacher: Kreativitätskrise zu überwinden suchen. So Erzählhorizonte im Leeren. In: NZZ, 11.12.1989. – ergeht es im Roman Erhöhter Blauanteil (Zü- Nico Bleutge: Die Aufmerksamkeit des verstockten rich 2004) Steindorf, der sich unter dem Schweigens. In: SZ, 11.8.2004. – A. Langenbacher: Im cartesian. Theater. In: NZZ, 15.10.2008. Eindruck von Handkes Werk in einen leiPia Reinacher / Barbara Pogonowska denschaftl. Leser verwandelt. Im Roman treten noch weitere schriftstellernde Protagonisten auf, darunter der Erzähler, der mit Steiger, Dominik, * 18.10.1940 Wien. – dem Autor nicht nur seinen Beruf teilt. Im Verfasser experimenteller Prosa u. Lyrik; Mittelpunkt der grotesken Geschichte Der Zeichner u. Musiker. Billardtisch (Zürich 2001) steht ein junger Mensch, der sich als Journalist, Vater u. Ehe- S. freundete sich Mitte der 1960er Jahre mit mann zu bewähren versucht. In seinen fünf- Autoren der Wiener Gruppe an u. veröffentjährigen Sohn verliebt, erfüllt er alle Wün- lichte bald fantastische Grotesken (Wunderpost sche des kleinen Tyrannen, der sich den be- für Co-Piloten. Ffm. 1968) u. sarkastische sagten Billardtisch kaufen lässt, ohne zu Wiener Erzählungen (Hupen Jolly fahrt Elekwissen, was ein Billardtisch ist, oder seinen troauto. Ffm. 1969); schrille Töne begleiten Vater nachts auf den Friedhof schickt, um zu die melanchol. Stimmung dieser knapp erfahren, ob es dort tatsächlich Fledermäuse skizzierten Anekdoten. In den kommenden gibt. Die äußere Handlung wird hier S. zum Jahren geht S. zu einer originellen Form au-

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tomatischer Texte über, den Biometrischen Texten (London/Stgt./Reykjavík 1974), die sich in idiosynkrat. Sprachfetzen u. kritzelhafte Zeichnungen auflösen; neben die lautsprachl. tritt die schriftsprachl. Verformung. Obwohl das zeichnerische Werk von nun an im Vordergrund steht, finden sich auch später wieder poetische Arbeiten wie die frei notierten Senza Tanto Gedichte (Zürich/Wien 1979). 1976 gründete S. die Zeitschrift »Nervenkritik« u. den Eigenverlag »Buchdienst Fesch«, es entstanden auch eine LP u. Audio-Tapes mit selbstverfasster Musik sowie Fotografien u. Kleinplastiken. Das vielseitige Schaffen, das sich über Jahre hinweg nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit entfaltete, wurde 2004 mit dem Würdigungspreis für Literatur der Republik Österreich geehrt. Weitere Werke: Wende. Gedichte. Wien 1961. – im atemholen sind zweierlei gnaden. Peking, recte Wien 1965. – Die Verbesserte Grosse Sozialist. Oktoberrevolution. Bln. 1967. – Idioeidetischer Letterfrack. Reggio Emilia 1974. – Jeden jeden Mittwoch (zus. mit Günter Brus). Bln. 1977. – Mein fortdt.-heimatdt. Radau (Tragelaph’s 1. Part). Bln./ Wien 1978. – Amateurprobleme der Lebensüberlegung (Tragelaph’s 2. Parater). Zürich/Wien 1980 (mit Bibliogr.). – Zell Fesch. Wien 1984. – Blätterbuch. Ebd. 1990. – THINGUMMY. Graz/Wien 1994. – Sink um i alle minuti. Ebd. 2001. – ABRA PALAVRA. sieh’ ’n Gummi. All min Euter. Ebd. 2004. – mon dieu es geistert. Wien 2007. – Herausgeber: Vierundachtzig Oesterreichische Erzähler. Ffm. 1970. Literatur: D. S.: Acht. Acht. Ausstellungskat. (mit Vorw. v. Dieter Schwarz). Düsseld. 1989. – D. S,. 60 Jahre Tisch Traum 4. Ausstellungskat. Wien 2000. Dieter Schwarz / Günter Baumann

Steiger, Otto, * 4.8.1909 Uetendorf/Kt. Bern, † 10.5.2005 Zürich. – Erzähler, Jugendbuchautor. S. begann in Bern ein Romanistikstudium, das er in Paris fortsetzte, bis er es aus finanziellen Gründen aufgab u. sich als Lehrer, Handlungsreisender u. Stahlarbeiter durchbrachte. 1939 wurde er Nachrichtensprecher der SDA in Bern; 1943 gründete er in Zürich eine private Schule, die er bis 1954, als er sich ganz dem Schreiben zuwandte, mit Erfolg leitete.

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Literarisch debütierte er mit dem Roman Sie tun als ob sie lebten (Zürich 1942), einem realistisch-ungeschminkten Bericht über das Leben einer Proletarierin vor dem Hintergrund vielfältiger Abhängigkeit u. sozialer Not. Mit seinem Pessimismus u. seiner Ratlosigkeit hob sich das Buch deutlich ab von der patriotisch-optimistischen Literatur der »geistigen Landesverteidigung« u. konnte wohl nur deshalb erscheinen, weil es in einem Romanwettbewerb der gewerkschaftl. »Büchergilde« einen Preis gewonnen hatte. S. behielt auch in seinen weiteren Werken seine stark gesellschaftskrit. Sehweise bei u. stand mit seiner – auch formal – an den sozialistischen Realismus erinnernden Schreibweise in deutl. Gegensatz zur zeitgenöss. Schweizer Literatur. Porträt eines angesehenen Mannes (ebd. 1952) bietet eine niederschmetternde Lebensrückschau eines (oberflächlich gesehen) erfolgreichen Protagonisten der bürgerl. Gesellschaft. Der Roman wurde ohne S.s Zutun ins Russische übersetzt u. 300.000mal verkauft. Im Roman Die Reise ans Meer (ebd. 1959) erzählt ein gescheiterter Großunternehmer dem Analytiker im Irrenhaus seine Geschichte. Auch Spurlos vorhanden (ebd. 1980; R.) ist ein Lebenslauf aus dem Irrenhaus: Erst dort ist es Benjamin Stab möglich, die verlogene Selbstgerechtigkeit seiner Umgebung zu durchschauen. S., der aufgrund eines kurz nach dem Ungarnaufstand erfolgten Russlandbesuchs in der Schweiz lange als kompromittiert galt u. erst 1985–1992, als der Zürcher eco-Verlag seine Werke in neun Bänden neu auflegte (Neuausg. Zürich 2009), eine gewisse Rehabilitation erfuhr, begann ab 1974 mit Titeln wie Einen Dieb fangen (Ravensburg 1974), Erkauftes Schweigen (Zürich 1979) u. insbes. dem unweltdidaktisch wertvollen Lornac ist überall (ebd. 1980) eine zweite literar. Karriere als viel gelesener Jugendbuchautor. Weitere Werke: Die Brüder Twerenbold. Zürich 1954 (R.). – Das Jahr mit elf Monaten. Ebd. 1962 (R.). – Das Loch in der Schallmauer. Ebd. 1968 (E.). – Der Doppelgänger. Ebd. 1985 (R.). – Orientierungslauf. Ebd. 1989 (R.). – Schott. Ebd. 1992 (R.). – Tante Lisas Erben. Ebd. 1994 (R.). – Schachmatt. Ebd. 1996 (R.). – Ein Stück nur. Erinnerun-

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gen. Ebd. 1999. – Das Wunder v. Schondorf. Ebd. 2001 (R.). Literatur: Dieter Fringeli: Rebellion im Flüsterton. O. S. In: Ders.: Dichter im Einsatz. Zürich 1991, S. 88–98. – Beat Mazenauer: O. S. In: KLG. Charles Linsmayer

Steigerwald, Veronus Franck von, eigentl.: Georg Tobias Pistorius, * 25.1. 1666 Ullstadt, † 25.1.1745 Weikersheim. – Jurist, Historiker.

Cammer-Gericht. Gießen 1697. Internet-Ed. in: ULB Sachsen-Anhalt. – Lebens-Beschreibung Herrn Gözens [...]. Nürnb. 1731. Nachdr. mit einem Vorw. v. Hans Freiherr v. Berlichingen u. HeinzEugen Schramm. Ffm. 1980. – Dass.: Internet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Literatur: Johann Matthias Groß: Histor. Lexicon Evang. Jubel-Priester. Bd. 1, Nürnb. 1727, S. 305; Bd. 2, ebd. 1732, S. 102. – Albert Leitzmann: Einl. In: Lebensbeschreibung Herrn Götzens v. Berlichingen. Hg. ders. Halle 1916, S. XVII ff. Wolfgang Schimpf / Red.

Der Pfarrerssohn aus traditionsreicher Theologenfamilie studierte seit 1686 RechtswisSteimann, Flavio, * 13.12.1945 Emmen/ senschaften in Jena, Wittenberg (ab Kt. Luzern. – Dramatiker u. Erzähler. 28.2.1691), Halle (ab 16.1.1693) u. Gießen, wo er am 29.12.1697 – »Praeside SS. Triade« Nach einer Ausbildung zum Primar- u. Se– die Dissertation De solicitatoribus cameralibus kundarlehrer war S. viele Jahre als Sprachverteidigte u. zum Lizentiaten beider Rechte lehrer in der Schweiz tätig; heute lebt er in promoviert wurde. Bald nach seiner Heirat Luzern u. im Tessin. Er schrieb zunächst Ly(1689) berief ihn Carl Ludwig von Hohenlohe rik (unveröffentlicht) u. Theaterstücke: 1982 nach Weikersheim, wo er die Stellung eines inszenierte er in Willisau seine Neufassung hohenlohischen Geheimen Rats u. Kanzlei- des Luzerner Renaissancespiels Der kluge direktors innehatte, bis er 1730 zum Syndi- Knecht; 1984 folgte Ulj Schroeter, 1987 das kus des reichsgräfl. fränk. Kollegiums in Stück über die Ettiswiler Hexe Anna Vögtlin (Urauff. Willisau 1987. Buchausg. ebd. 1986. Limburg aufstieg. Unter seinen zahlreichen juristischen u. Als Kantate für Frauenstimme, Knabensohistor. Schriften sind nur wenige von literar. pran, Chor u. Instrumentalisten Urauff. EtInteresse in engerem Sinne. Am folgen- tiswil 1999; auf CD, Wilen 1999). Seine reichsten wurde der unter Mithilfe seines Textfassung des Gilgamesch-Epos für Sprecher Sohns Wilhelm Friedrich Pistorius veranstal- u. Sängerin (Gilgamesch. 4000 Jahre altes sumetete Erstdruck der Autobiografie Götz von risches Epos) wurde im Steinbruch Guber ob Berlichingens (Lebens-Beschreibung Herrn Gözens Alpnach 1995 uraufgeführt. S.s schmales Prosawerk zeichnet sich durch von Berlichingen, zugenannt mit der Eisern Hand. Nürnb. 1731), den S. durch umfangreiche sichere, zgl. ökonomische u. musikalische Erläuterungen zu sprachl. Besonderheiten, sprachl. Gestaltung u. durch präzise Abbilhistor. Anspielungen u. topografischen Ein- dung psych. Grenzzustände aus. In seinem zelheiten erweiterte. Dieser Druck diente ersten Roman Passgang (Basel 1986) entwirft Goethe als Hauptquelle für sein Götz-Drama. S. das Psychogramm eines isolierten, sich S.s eigentl. Lebenswerk, eine umfangreiche durch depressives Verhaftetsein im eigenen Sammlung juristischer Sprichwörter, der Ich u. gleichzeitigen Zwang zur Analyse Thesaurus paroemiarum germanico-juridicarum, ausgrenzenden Journalisten, der nach dem Teutsch-Juristischer Sprichwörter-Schatz (10 Tle., Suizid seiner Frau an der Unfähigkeit zur Lpz. 1714–25), ist v. a. von volkskundl. Be- emotionalen Kommunikation scheitert. Diese deutung, bietet aber auch sprachhistor. Auf- Befindlichkeit entwickelt S. in seiner Erzähschlüsse. Vereinzelt trat S. als Gelegenheits- lung Aperwind (Zürich/Köln 1987) weiter. dichter u. Verfasser von Kirchenliedern her- Zwar ist auch Aloys Nef, junger Knecht u. Sohn ausgewanderter Hinterländler, stumm, vor. Ausgaben: Georg Tobias Pistorius: Dissertatio magisch, fast animalisch auf sich selbst geinauguralis iuridica, de solicitatoribus cameralibus, worfen, doch zeichnet sich hier – u. a. in der vulgo, Von denen Solicitanten an dem Keyserl. Reflexion des eigenen Gesichts durch Spiegel

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u. Daguerrotypie – ein Selbsterkennungsprozess ab. Beim Ingeborg-Bachmann Wettbewerb 1988 in Klagenfurt las S. den Text Kreuzschlag (in: Klagenfurter Texte [...]. Hg. Heinz Felsbach u. Siegbert Metelko. Mchn. 1988, S. 117–127), dessen Fortschreibung zum Roman der Autor nach 30 Jahren wieder aufgenommen hat. S. erhielt verschiedene Preise, u. a. den Literaturpreis der Dienemann-Stiftung (1987).

vordere Buchdeckel, hinter denen jeweils gleichberechtigt eine der beiden Geschichten beginnt u. bis zur Buchmitte reicht. Literatur: Nicola Bock-Lindenbeck: Vom Mißbrauch der Buchstaben. B. S.s ›Das Alphabet des Juda Liva‹. In: Dies.: Letzte Welten – Neue Mythen. Der Mythos in der dt. Gegenwartsliteratur. Köln/ Weimar/Wien 1999. S. 231–249. Frank Fischer

Stein, Charlotte (Ernestina Bernardina) von, geb. von Schardt, * 25.12.1742 Eisenach, † 6.1.1827 Weimar; Grabstätte: ebd., historischer Friedhof. – Weimarer Pia Reinacher / Friederike Reents Hofdame.

Literatur: Beatrice v. Matt (Hg.): Antworten. Die Lit. der deutschsprachigen Schweiz in den achtziger Jahren. Zürich 1991.

Stein, Benjamin (Pseudonym), * 6.6.1970 Berlin/DDR. – Romanautor. Noch als Abiturient schrieb S. seinen Romanerstling Der Libellenflügel, der bis auf den Abdruck des ersten Kapitels in der DDRZeitschrift »Temperamente« (Ausg. 4/1989, S. 59–78) unveröffentlicht blieb. Bis 1991 studierte S. in Berlin Judaistik u. Hebraistik u. lebte danach einige Jahre als freischaffender Autor. Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1993 las er den Prolog seines Romans Das Alphabet des Juda Liva, der 1995 (Zürich) veröffentlicht wurde. Darin konfrontiert S. realistisches Erzählen mit einer myst. Erfahrungswelt um einen reinkarnierten Rabbi Löw im zeitgenöss. Prag u. spielt dabei so effekt- wie humorvoll mit kabbalistischen Motiven. Nach dem Erscheinen des Buches zog sich der Autor für einige Jahre aus dem literar. Leben zurück, ging nach München u. arbeitete als Redakteur für Computerzeitschriften u. als IT-Berater. 2006 gründete er das Weblog »Turmsegler« u. bereitete dort weitere literar. Projekte vor. Der Prosaband Ein anderes Blau (Mchn. 2008), den S. in dem von ihm übernommenen Autorenverlag Edition Neue Moderne publizierte, greift Motive u. Figuren des Libellenflügels wieder auf. 2010 erschien der Roman Die Leinwand (Mchn.), in dem S. zwei etwa gleich lange Ich-Erzählungen um das Thema jüd. Identitätsfindung kombiniert, die raffiniert ineinandergreifen, auch buchbinderisch. Die Lektüre wird entscheidend vom Leser beeinflusst, denn der Lesebeginn ist kontingent: Das Buch hat zwei

S.s Leben war seit ihrer Jugend mit dem Weimarer Hof verbunden. Mit 15 Jahren wurde die Tochter eines Hofmarschalls Hoffräulein bei Herzogin Anna Amalia, u. 1764 heiratete sie den herzogl. Stallmeister Gottlob Ernst Josias von Stein (1735–1793), mit dem sie eine wenig glückl. Ehe führte. 1775 lernte sie Goethe kennen, dessen ungestümes Wesen ihr anfangs missfiel, auf den sie aber bald einen mäßigenden Einfluss auszuüben begann. Goethe selbst hat das in seinem Gedicht Warum gabst du uns die tiefen Blicke ausgesprochen (»Tropftest Mäßigung dem heißen Blute«). Während sie ihr Verhältnis zu Goethe als tiefe Freundschaft empfand, sprach Goethe selbst in seinen über 1600 Briefen, Billets u. »Zettelgen« an S. – sie gehören zu seinen intimsten Briefen – stets von seiner Liebe zu der geistreichen, an Musik u. Literatur interessierten Frau. Zu einer Krise in ihrer Freundschaft kam es, als Goethe 1786 ohne Abschied nach Italien ging; seine Lebensgemeinschaft mit Christiane Vulpius führte 1788 zum Abbruch der Beziehung (u. zu S.s Rückforderung u. Vernichtung ihrer Briefe an Goethe), der erst im Alter überwunden wurde. S.s dichterische Arbeiten – einige kleinere Dramen, in denen sie, z. T. kaum verhüllt, ihren Zorn auf Goethe verarbeitetet hat (Dido. Entstanden 1794. Gedr. Ffm. 1867), einige unveröffentlicht gebliebene Gelegenheitsgedichte (im FDH) – sind dilettantische Versuche ohne literar. Anspruch. In seinem Schauspiel in fünf Akten Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden

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Herrn von Goethe (entstanden 1974, Urauff. Dresden 1976) lässt Peter Hacks S. in einem langen Monolog Bilanz der zehnjährigen Beziehung mit Goethe ziehen. Weitere Werke: Die zwey Emilien. Nach dem Englischen. Tüb. 1803 (anonym). Neudr. in: Jb. der Slg. Kippenberg 3.1923 (D.). – Die Verschwörung gegen die Liebe. Zuerst hg. v. Franz Ulbrich. Braunschw. 1948 (Lustsp.). – Dramen. Hg. Susanne Kord. Hildesh. u.a. 1998. – Neues Freiheits-System oder die Verschwörung gegen die Liebe. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen. Mit einem Nachw. hg. v. Linda Dietrick u. Gaby Pailer. Hann. 2006. – Briefe: Briefe an Knebel. In: Stunden mit Goethe. Hg. Wilhelm Bode. Bde. 6–8. Bln. 1910–21. – Goethes Briefw. mit S. Hg. Jonas Fränkel. Umgearb. Neuausg. 3 Bde., Bln. 1960–63. Literatur: Heinrich Düntzer: C. v. S., Goethe’s Freundin [...]. 2 Bde., Stgt. 1874. – Franz Muncker: C. S. In: ADB. – Wilhelm Bode: C. v. S. Bln. 1927. – Walter Hof: Goethe u. C. v. S. Ffm. 1979. – Doris Maurer: C. v. S. Ein Frauenleben der Goethezeit. Bonn 1985. – Arnd Bohm: C. v. S.s ›Dido‹. In: Colloquia Germanica 22 (1989), S. 38–52. – Ingelore M. Winter: Goethes C. v. S. Die Gesch. einer Liebe erzählt nach seinen Briefen u. Tagebüchern. Düsseld. 1992. – Renate Seydel (Hg.): C. v. S. u. Johann Wolfgang v. Goethe. Die Gesch. einer großen Liebe. Mchn. 1993. – Jochen Klauß: C. v. S. Die Frau in Goethes Nähe. Zürich 1995. – Sybille Bertholdt (Hg.): ›Mir geht’s mit Goethen wunderbar‹. C. v. S. u. Goethe – die Gesch. einer Liebe. Mchn. 1999. – D. Maurer: C. v. S. Eine Biogr. Ffm. 1997. – Jürgen Förster: C. v. S. In: Goethe-Hdb. Bd. 4/2. Hg. Hans-Dietrich Dahnke u. Regine Otto. Stgt./Weimar 1998, S. 1008–1012. – Christoph Perels: ›Ich begreife, daß Goethe sich so ganz an sie attachiert hat‹. Über C. v. S. In: Ders.: Goethe in seiner Epoche. Zwölf Versuche. Tüb. 1998, S. 97–118. – Wolfgang Frühwald: C. v. S. (1742–1827) geb. v. Schardt. In: Goethe u. die Frauen [Ausstellungskat.]. Ffm. 1999, S. 84–95. – Sarah Colvin: ›Lachend über den Abgrund springen‹. Comic complexity and a difficult friendship in C. v. S.’s ›Neues Freiheitssystem oder die Verschwörung gegen die Liebe‹. In: Goethe at 250. London symposium. Hg. T. J. Reed u. a. Mchn. 2000, S. 199–208. – Dies.: Bitter comedy. The dramatic writing of C. v. S. In: Harmony in discord. German women writers in the eighteenth and nineteenth centuries. Hg. Laura Martin. Oxford u.a. 2001, S. 145–159. – Helmut Koopmann: Goethe u. Frau v. S. Gesch. einer Liebe. Mchn. 2002. – Christine Garbe u. Linda Dietrick: C. v. S. In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Au-

206 torinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Peiler. Tüb./Basel 2006, S. 409–414. – Markus Wallenborn: Frauen, Dichten, Goethe. Die produktive Goethe-Rezeption bei C. v. S., Marianne v. Willemer u. Bettina v. Arnim. Tüb. 2006. – Margherita Cottone: Le lettere d’amore di J. W. Goethe a C. v. S. Scrittura privata e rappresentazione mitica. In: La scrittura epistolare in Europa dal Medioevo ai nostri giorni. Generi, modelli e trasformazioni. Hg. dies. Acireale u.a. 2010, S. 263–280. – Daniel J. Farrelly: Between myth and reality. Goethe, Anna Amalia, C. v. S. Newcastle upon Tyne 2010. – Hans Jürgen Tschiedel: Die Dido der C. v. S. In: Vestigia Vergiliana. Vergil-Rezeption in der Neuzeit. Hg. Thorsten Burkard u.a. Bln./New York 2010, S. 299–313. Walter Hettche / Red.

Stein, Heinrich Freiherr von, * 12.2.1857 Coburg, † 20.6.1887 Berlin. – Philosoph, Ästhetiker, Dichter. Aus einer Militärfamilie stammend, besuchte S. seit 1866 das Gymnasium in Halle, wo er vom Erbe des Pietismus, der Erweckungsbewegung, geprägt wurde. Auch sein Ressentiment gegenüber (kirchlichen) Institutionen u. sein – unglücklicher, weil unbestimmtsuggestibler – Individualismus begannen sich frühzeitig zu formen. Der Dogmatismus des Theologiestudiums (seit 1874 in Heidelberg) befremdete S., sodass er 1875 nach Berlin wechselte u. sich dort kompensatorisch der Erkenntnistheorie in Form von naturwissenschaftl. u. philosophischen Studien zuwandte. Nach der Promotion in Berlin 1877 (Über Wahrnehmung) wurde S. zwei Jahre später der Erzieher u. Hauslehrer Siegfried Wagners, des Sohns Richard Wagners, in Bayreuth; eine Anstellung, die ihm Malwida von Meysenburg, deren Bekanntschaft er auf einer Romreise gemacht hatte, vermittelte. Bereits im Folgejahr kehrte der Wagnerianer S. jedoch auf Druck des Vaters nach Halle zurück u. schlug die ihm ungeliebte Gelehrtenlaufbahn ein. 1881 erfolgte die Habilitation in Halle (Die Bedeutung des dichterischen Elementes in der Philosophie des Giordano Bruno). Als erster Universitätslehrer las S. über Wagner; er versuchte sich als Dichter. Nach seiner Umhabilitierung lehrte er seit 1884 – vornehmlich über Ästhetik – in Berlin. Er stand

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in Kontakt zu Friedrich Nietzsche u. gehörte Stein, Johannes Heynlin von ! Heynlin, zum Berliner Kreis um Lou von Salomé (spä- Johannes de Lapide ter Lou Andreas-Salomé) u. Paul Rée. S. starb im Alter von 30 Jahren, zunehmend vereinStein, (Heinrich Friedrich) Karl Reichssamt, in Berlin in Folge eines Herzleidens. freiherr vom und zum, * 26.10.1757 Heute ist S. weitgehend in Vergessenheit Nassau/Lahn, † 29.6.1831 Cappenberg/ geraten. Von Interesse ist seine Stellung zwiWestf.; Grabstätte: Frücht bei Bad Ems. – schen Wagner u. Nietzsche (nach deren Preußischer Beamter, Staatsmann u. ReBruch), die beide um ihn warben u. deren formpolitiker. beider Einfluss sich in S.s eklekt. Werk dokumentiert. S.s Gefühlsphilosophie als Der Nachkomme eines reichsunmittelbaren, Kunst- u. Ersatzreligion nach dem Tod Gottes 1525 zum Protestantismus übergetretenen ruht auf Modernekritik u. Kulturpessimis- nassauischen Adelsgeschlechts studierte nach mus. Rezeptionsgeschichtlich wurde S. ver- häusl. Erziehung 1773–1777 Rechts- u. einnahmt: durch den Bayreuther Kreis bis Staatswissenschaften in Göttingen, u. a. bei zum Nationalsozialismus, wo der Autor der Johann Stephan Pütter u. August Ludwig von »Bayreuther Blätter« als tragischer junger Schlözer. Nach einem Praktikum am WetzHeld »in Wagnero« stilisiert wurde, sowie larer Reichskammergericht trat S. Anfang von Elisabeth Förster-Nietzsche. Im Fall 1778 eine zweijährige Kavalierstour an, die Nietzsches, der das Gedicht Einsiedlers Sehn- ihn zunächst an die Höfe von Mannheim, sucht an S. als seinen Freund u. Schüler rich- Darmstadt, Stuttgart, München, dann nach tete (1884), ist S.s ›Zwischenstellung‹ eine Wien, in die Steiermark u. nach Ungarn, zweifache gewesen: nicht alleine durch seine schließlich über Regensburg u. Dresden nach Befangenheit im Hinblick auf Wagner, son- Berlin führte, wo er in den preuß. Staatsdern auch durch seinen Umgang mit Lou von dienst eintrat. Der von Friedrich Anton von Salomé u. Paul Rée. Heynitz geförderte, mit ausgezeichneten Weitere Werke: Helden u. Welt. Dramat. Bilder prakt. Fähigkeiten ausgestattete Verwalv. H. v. S. Eingeführt durch Richard Wagner. tungsfachmann avancierte bis 1784 zum DiChemnitz 1883. – (Hg. zus. mit Carl Friedrich rektor der westfäl. Bergämter in Wetter/Ruhr. Glasenapp): Wagner-Lexikon. Stgt. 1883. – Die Nach diplomatischer, im Dienste der frideriEntstehung der neueren Ästhetik. Stgt. 1886. – Aus zian. Fürstenbundpolitik stehender Mission dem Nachl. v. H. v. S. Dramat. Bilder u. Erzählun- (1785) an den Mainzer Hof u. einer Studiengen. Lpz. 1888. – Briefe: Friedrich Nietzsche u. H. v. reise nach England (1787) stieg S. bis zum S. Briefw. mit Erläuterungen v. Elisabeth FörsterOberpräsidenten der westfäl. Kammern auf Nietzsche. In: Neue Dt. Rundschau 11 (1900), S. 747–762. – H. v. S.s Briefw. mit Hans v. Wolzo- (1796). Seine herausragenden wirtschafts- u. gen. Ein Beitr. zur Gesch. des Bayreuther Gedan- steuerpolit. Reformleistungen führten 1802 zu seiner Berufung nach Münster, wo er die kens. Hg. H. v. Wolzogen. Bln. 1914. Literatur: Houston Stewart Chamberlain u. als Entschädigung angefallenen westfäl. Friedrich Poske: H. v. S. u. seine Weltanschauung. Stiftsländer (Münster, Paderborn) in die Verwaltung eingliedern sollte. Lpz. 1903. – Ferdinand Jakob Schmidt: H. Frhr. v. preuß. S. In: ADB. – Günther H. Wahnes: H. v. S. u. sein 1804–1807 als preuß. Staatsminister für das Verhältnis zu Richard Wagner u. Friedrich Nietz- Akzise-, Zoll-, Salz-, Fabrik- u. Handelswesen sche. Lpz. 1926. – Hermann Glockner: H. v. S. Tüb. zuständig, traf S. umfangreiche Reform1934. – Friedrich Meller: Der Volksgeistgedanke maßnahmen (Aufhebung der Binnenzölle, bei H. v. S. Opladen 1940. – Markus Bernauer: H. v. Errichtung des Statistischen Bureaus, behutS. Bln./New York 1998. – Regina Mey¨er: Ästhet. same Steuerreformen, Einführung von PaLehre u. Lehren in Halle. Arnold Ruge, Rudolf piergeld) u. erarbeitete Pläne zur ReorganiHaym, Johannes Schmidt, H. v. S. Halle 2010. sation der Staatsverwaltung. Die in DenkYvonne Nilges schriften (1806) für den preuß. König Friedrich Wilhelm III. zum Ausdruck gebrachte scharfe Kritik an der preuß. Kriegspolitik u.

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die im Zeichen der militärischen Niederlage erneuerten Forderungen nach Reformen gaben Anfang Jan. 1807 Anlass zu S.s Entlassung. In die Heimat zurückgekehrt, konzipierte S. mit der Nassauer Denkschrift (1807) ein Programm zur Reorganisation der preuß. Staatsverwaltung, das auf der obersten Verwaltungsebene die uneingeschränkte Durchsetzung des Real-(Sach-)Prinzips vorsah. Um die Mitwirkung weiter Bevölkerungskreise zu gewinnen, verlangte S. umfangreiche Selbstverwaltungsrechte für die Provinzen, Kreise u. Gemeinden; sein Ziel war »die Belebung des Gemeingeistes und Bürgersinns, die Benutzung der schlafenden oder falsch geleiteten Kräfte und der zerstreut liegenden Kenntnisse, der Einklang zwischen dem Geist der Nation, ihren Ansichten und Bedürfnissen und denen der Staatsbehörden, die Wiederbelebung der Gefühle für Vaterland, Selbständigkeit und Nationalehre« (in: ebd.). Nach dem preußisch-französischen Frieden von Tilsit, der einen bedeutenden Machtu. Territorialverlust für den preuß. Staat bedeutete, wurde S. mit Zustimmung Napoleons von Friedrich Wilhelm III. zurückberufen u. im Okt. 1807 zum Staatsminister ernannt. Mit dem erst nach seinem Sturz erlassenen Gesetz über die Neuorganisation der oberen Staatsbehörden (Errichtung von fünf Fachministerien), mit der bereits im Okt. 1807 verkündeten »Bauernbefreiung« u. mit der die Selbstverwaltung intendierenden Städteordnung vom Nov. 1808 leiteten S. u. sein Ministerium das preuß. Reformwerk ein; dabei war S.s Reformkonservativismus von ständisch-korporativen Traditionen u. staatsbürgerl., vom engl. Selfgovernment beeinflussten Idealen geprägt. Auf Napoleons Intervention, der S. verdächtigte, Insurrektionspläne zu verfolgen, wurde S. Ende Nov. 1808 entlassen. Vom frz. Kaiser geächtet, floh er nach Österreich, wo er u. a. an Entwürfen für eine dt. Verfassung arbeitete, bis er 1812 als Berater Zar Alexanders I. nach Russland berufen wurde. Zusammen mit Ernst Moritz Arndt erarbeitete S. Pläne zur künftigen Neuordnung Deutschlands u. wirkte für die antinapoleonische Sammlungsbewegung. Als Beauftrag-

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ter des Zaren reiste er im Jan. 1813 nach Königsberg, um die Erhebung der ostpreuß. Stände zu beschleunigen. Nach dem Zustandekommen des russisch-preuß. Vertrags von Kalisch, einem weiteren Verdienst S.s, leitete er die Zentralratsverwaltung für die befreiten dt. Gebiete. Die Ergebnisse des Wiener Kongresses, dem S. als Berater des Zaren beiwohnte, bedeuteten das Scheitern seiner idealistisch-restaurativen Reichsverfassungspläne u. das Ende seiner polit. Laufbahn. S. lebte von 1818 an auf seinem westfäl. Besitz Cappenberg, wo er sich nun vornehmlich seinen histor. Studien zuwandte. Er begründete 1819 die Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, welche die Monumenta Germaniae historica, eine der Reichsidee verpflichtete Sammlung mittelalterl. Quellen, herausgab. Von 1826 bis zu seinem Tod übte er das Marschall-(Präsidenten-)Amt des westfäl. Provinziallandtags aus. Es gab »kaum eine zweite historische Gestalt des deutschen 19. Jahrhunderts [...], die die Historiker – und die Menschen [...] – derart bewegte wie der Freiherr vom Stein: seiner [...] Verdienste als preußischer Reformer wegen, als eine Symbolfigur dafür, dass und wie Staaten aus tiefen Krisen herausgeholfen werden könne, als ein Politiker, der wie kaum ein anderer ein ausgeprägtes Ethos und Prinzipientreue mit praktischer Politik verbundenen habe – oder dies zumindest versucht habe« (Duchhardt). S.s Nachruhm u. histor. Beurteilung verdeutlichen, dass er »von nahezu allen politischen Gruppen als Protagonist eigener Forderungen und Ziele in Anspruch genommen wurde«. Die S.-Rezeption kann als »ein Spiegel unseres politischen Bewußtseins mit allen seinen Veränderungen, Widersprüchen, Unklarheiten, Hoffnungen und Enttäuschungen [...], als paradigmatisch für die enge Beziehung von Geschichtsschreibung und Politik« (Gembruch) gelten. Weitere Werke: Frhr. vom S. Briefw., Denkschr.en u. Aufzeichnungen. Hg. Erich Botzenhart. 7 Bde., Bln. 1931–37. – Frhr. vom S. Briefe u. amtl. Schr.en. Bearb. v. E. Botzenhart, neu hg. v. Walther Hubatsch. 10 Bde., Stgt. u. a. 1957–74. – K. Frhr. vom S. Das Reformministerium Stein. Akten zur Verfassungs- u. Verwaltungsgesch. aus den Jahren

209 1807/1808. Hg. Heinrich Scheel. 3 Bde., Bln. 1966–68. Literatur: Bibliografie: Katharina Horberth (Bearb.): K. Reichsfrhr. vom u. zum S. [...]. Koblenz 1981. – Weitere Titel: Walther Hubatsch: Die S.Hardenbergschen Reformen. Darmst. 1977. – Werner Gembruch: Zum S.-Bild in Publizistik u. Historiographie der Epoche der Restauration. In: Ztschr. für Histor. Forsch. 11 (1984), S. 23–60. – Heinz Duchhardt: S. Eine Biogr. Münster 2007. – Ders.: Mythos S. Vom Nachleben, v. der Stilisierung u. v. der Instrumentalisierung des preuß. Reformers. Gött. 2008. Ina Ulrike Paul / Uwe Puschner

Stein, Lorenz von, * 15.11.1815 Borby bei Eckernförde, † 23.9.1890 Weidlingen bei Wien; Grabstätte: Wien, Matzleinsdorfer Friedhof. – Staats- u. Gesellschaftswissenschaftler. S. weist eine für das 19. Jh. untypische Gelehrtenbiografie auf. In einem schleswigschen Dorf geboren, führte er den Namen seiner Mutter, die zur »linken Hand« mit einem in dän. Diensten stehenden Adligen verheiratet war. Sein Förderer u. Gönner war der dän. König Friedrich VI. Nach dem Besuch der Gelehrtenschule in Flensburg nahm S. 1835 in Kiel ein Jurastudium auf, das er 1839 mit einer Dissertation über die Geschichte des dän. Zivilprozesses abschloss. Den ersten großen wissenschaftl. u. publizistischen Erfolg errang er mit einem Werk jenseits seines eigentl. Fachgebiets: Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs (Lpz. 1842). Nach dem Examen war S. mit einem Reisestipendium der dän. Regierung 1841 nach Paris gegangen u. beobachtete dort die Organisationsformen u. geistigen Orientierungen des gegen die Julimonarchie opponierenden Frühsozialismus. S.s Analyse beschreibt Frankreich als das für die europ. Staatenwelt exemplarische Land der revolutionären Tat. 1789 ist für S. die Geburtsstätte der modernen, industriell geprägten Gesellschaft, in deren Bauform der Ausbruch einer »socialen Revolution« angelegt ist. Die dreibändige Geschichte der socialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage (Lpz. 1850. Neudr. Mchn. 1921. Darmst. 1959. Zuletzt Darmst. 1972) ist der mit universalhistor. Anspruch unternommene Ver-

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such, die Revolutionstendenz der neuzeitl. Gesellschaft wissenschaftlich exakt herauszuarbeiten. S. suchte ihr auf zwei Wegen zu begegnen: analytisch durch den Entwurf einer »Wissenschaft der Gesellschaft« u. politisch durch das Anmahnen staatl. Reformbereitschaft. In den Verfassungskategorien seines Jahrhunderts entwarf S. die Theorie eines »Königtums der sozialen Reform«, um ein von ihm im Hinblick auf die sich verschärfende »soziale Frage« als notwendig erachtetes spezif. Staatshandeln freizusetzen. 1843 hatte sich S. an der Kieler Universität für Staatswissenschaften habilitiert u. wurde dort 1845 a. o. Professor. 1851 verlor er sein Universitätsamt, da er sich im Revolutionsjahr 1848 zusammen mit Kieler Kollegen gegen die staatsrechtl. Einverleibung des Herzogtums Schleswig in das Königreich Dänemark engagiert hatte. S. war gezwungen, seinen Lebensunterhalt als wissenschaftl. Publizist zu verdienen, ohne freilich seinen an den Grundfragen des Staats- u. Gesellschaftslebens orientierten Wissenschaftsanspruch aufzugeben. 1852 erschien sein System der Staatswissenschaft – System der Statistik, der Populationistik und Volkswirthschaftslehre (Stgt./Tüb.), dem 1856 Die Gesellschaftslehre. Erste Abtheilung. Der Begriff der Gesellschaft und die Lehre von den Gesellschaftsklassen (Stgt./Augsb.) als Band 2 folgte. S. formulierte hier nochmals mit großem systemat. Aufwand sein Anliegen, an der Projektierung einer Wissenschaft zu arbeiten, die gesellschaftl. Konflikte entschärfen u. Leitlinien für staatl. Handeln vorgeben könne. Die reformkonservative Struktur seiner polit. Ideenwelt ließ S. in der staatsabsolutistisch ausgerichteten österr. Monarchie Fuß fassen. 1855 als Ordinarius für polit. Ökonomie nach Wien berufen, wirkte S. dort 30 Jahre. Das herausragende Werk dieser Schaffensperiode ist die seit 1865 erschienene Verwaltungslehre (Neudr. der 1. u. 2. Aufl. Stgt. 1866–84. 8 Tle. in 10 Bdn., Aalen 1962. Zuletzt Aalen 1975), die mit ihrem Plädoyer für den »Gedanken einer socialen Verwaltung« den imponierenden Versuch darstellt, das gesamte Tätigkeitsfeld der staatl. Bürokratie vom »socialen Prinzip« her zu organisieren. S. lehnte im Unterschied zu Marx den Klassenkampf als

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Antwort auf die Klassengesellschaft ab. Er siokratismus. Diss. Marburg 1988. – Klaus H. Fiappellierte an den Staat, einen »socialen scher: Die Wiss. der Gesellschaft. GesellschaftsProzess der aufsteigenden Klassenbewe- analyse u. Geschichtsphilosophie des L. v. S. unter gung« in Gang zu setzen u. mit den Mitteln besonderer Berücksichtigung seines gesellschaftswiss. Entwurfs. Ffm. 1990. – Martin Heilmann: staatl. Gesetzgebungs- u. VerordnungstätigEin Klassiker der Finanzwissenschaft. L. v. S. zum keit zu implementieren. 100. Todestag am 23. Sept. 1990. Gießen 1990. – S. stand in der epochalen Einflussdimensi- Albert v. Mutius u. Dirk Blasius: L. v. S. 1890–1990. on der Hegel’schen Philosophie, welche die Akadem. Festakt zum 100. Todestag. Heidelb. Differenz von Staat u. Gesellschaft scharf 1992. – Heinz Grossekettler: L. v. S. u. die moderne markiert hatte. Er nahm den bestehenden Staatswirtschaftslehre [...]. Münster 1998. – Ders.: Staat von der Wirklichkeit des gesellschaftl. L. v. S. (1815–1890) – Überblick über Leben u. Lebens aus in die Pflicht, während der Staat Werk. Münster 1998. – Stefan Koslowski: Zur Philosophie v. Wirtschaft u. Recht. L. v. S. im als die »Wirklichkeit der sittlichen Idee« für Spannungsfeld zwischen Idealismus, Historismus ihn kein ausschlaggebendes Moment war. S. u. Positivismus. Bln. 2005. – Eckart Pankoke: L. v. ist ein Vordenker der gesellschaftl. Moderne. S. (1815–1890). In: Klassiker der Politikwiss. Hg. Mit seiner »Fokussierung der Gesellschaft« Wilhelm Bleek. Mchn. 2005, S. 109 ff. – D. Blasius: hat er disziplinbegründend (Gesellschafts-, L. v. S. Dt. Gelehrtenpolitik in der Habsburger Verwaltungswissenschaften) u. disziplin- Monarchie. Kiel 2007. Dirk Blasius / Red. erweiternd (Gesellschaftsgeschichte) gewirkt. S., der schon früh die »Geschichte der Ge- Stein, Ludwig, * 12.11.1859 Benye bei sellschaft« zum »Gegenstand der Ge- Tokaj/Ungarn, † 13.7.1930 Salzburg. – schichtsschreibung« machen wollte, schnitt Philosoph u. Kulturwissenschaftler. auch Fragen der Literatur an, als er auf die Romane seiner Zeit als »Quellen der Ge- Nach der Übersiedlung nach Holland u. dem schichte« verwies: »Die Gegensätze in den Abitur in Zwolle studierte S. zunächst in Romanen sind die Gegensätze in der Gesell- Amsterdam Jura, dann in Berlin Theologie, schaft, für welche jene geschrieben sind« (So- oriental. Philologie u. Philosophie (1880 cialismus und Communismus. In: Allgemeine Promotion in Jena). 1886 habilitierte er sich in Zürich (Psychologie der Stoa. Bln. 1886), wo er Literatur-Zeitung 55, 1845, Sp. 433–440). 1889 zum Professor ernannt wurde; Weitere Werke: Lehrbuch der Volkswirth1891–1910 hatte er einen Philosophielehrschaftslehre. Wien 1858. U. d. T. Lehrbuch der Na3 tionalökonomie. 1887. – Lehrbuch der Finanzwiss. stuhl in Bern inne. – S. war Schüler von 4 Bde., Lpz. 1860. 51885/86. – Hdb. der Verwal- Eduard Zeller, mit dem er neben Dilthey u. tungslehre. 3 Bde., Stgt. 1870. 31887/88. – Gegen- Erdmann auch seit 1887 das »Archiv für Gewart u. Zukunft der Rechts- u. Staatswiss. schichte der Philosophie« herausgab (bis Deutschlands. Ebd. 1876. – Die Frau auf dem so- 1929). In seinen zahlreichen Schriften fachcialen Gebiete. Ebd. 1880. wissenschaftl. wie populärphilosophischer Literatur: Heinz Nitzschke: Die Geschichts- Art bemühte er sich – ganz auf der Höhe der philosophie L. v. S.s. Mchn./Bln. 1932. – Werner zeitgenöss. Diskussion – um eine Verbindung Schmidt: L. v. S. Eckernförde 1956. – Ernst Forst- von Kritizismus u. Evolutionismus, wobei er hoff (Hg.): L. v. S. Gesellsch., Staat. Recht. Ffm. den Evolutionismus Spencer’scher Prägung 1972. – Dirk Blasius u. Eckart Pankoke: L. v. S. ebenso auf prakt. Gebiet (Gesellschaft, KulGeschichts- u. gesellschaftswiss. Perspektiven. tur) wie auf erkenntnistheoret. Ebene situDarmst. 1977. – Roman Schnur (Hg.): Staat u. Geierte. »Der Evolutionismus«, so S.s Hauptsellsch. Studien über L. v. S. Bln. 1978. – Schrifsatz, müsse »ganz und ohne Reste in den tenreihe des L.-v.-S.-Instituts für Verwaltungswiss.en Kiel 1 (1982)-24 (2007). – Joachim u. Peter Kritizismus hineingebildet werden.« UmgeSingelmann: L. v. S. and the paradigmatic bifurca- kehrt seien alle Kategorien »nichts anderes, tion of social theory in the nineteenth century. In: als das Alphabet, welches sich die Menschen The British Journal of Sociology 37 (1986), im Kampfe ums Dasein als Schutzmaßnahme S. 431–452. – Martina Stiehl: ›Legaler Despotismus‹ – ›Soziales Königtum‹. L. v. S. u. der Phy-

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gebildet haben, um erfolgreich im Buche der Natur lesen zu können«. Weitere Werke: Berthold Auerbach. Bln. 1882. – Die Erkenntnistheorie der Stoa. Ebd. 1888. – Antike u. mittelalterl. Vorläufer des Occasionalismus. Ebd. 1889. – Leibniz u. Spinoza. Ebd. 1890. – Die Anfänge der menschl. Kultur. Lpz. 1906. – Philosophische Strömungen der Gegenwart. Stgt. 1908. – Einf. in die Soziologie. Mchn. 1921. – Aus dem Leben eines Optimisten. Bln. 1930. Literatur: Festg. zum 70. Geburtstag v. L. S. In: Archiv für systemat. Philosophie u. Soziologie 33 (1929). Werner Jung

Steinbach, Peter, * 10.12.1938 Leipzig. – Kinderbuch-, Hörspiel- u. Drehbuchautor. S. siedelte 1954 in die BR Deutschland über u. arbeitete nach einer Fotolehre zunächst als Seemann, Hilfsarbeiter, Taxifahrer u. Versicherungsvertreter, ehe er als freier Schriftsteller ins dän. Humble auf Langeland zog. 1992–1997 war er Gastprofessor für Drehbuch am Institut für Theater, Musiktheater und Film der Universität Hamburg. In seinen Hörspielen u. Drehbüchern beschäftigte sich S. mit der Nachkriegszeit u. den dt.-dt. Verhältnissen. 1981 erhielt er für das Hörspiel Hell genug – und trotzdem stockfinster (WDR 1981. Buchausg. Stgt. 1983, zus. mit dem Hörspiel Immer geradeaus und geblasen) den Hörspielpreis der Kriegsblinden. Bekannt als Drehbuchautor wurde S. durch das Filmwerk Heimat (ARD 1984. Buchausg. Nördlingen 1985) in Zusammenarbeit mit Edgar Reitz u. durch Drehbücher zu der Fernsehspieltrilogie Das Dorf (ARD 1983) u. zu dem Kinofilm Herbstmilch (Regie: Joseph Vilsmaier, 1988). S. ist um eine realistische Darstellung des Landlebens bemüht u. versucht, sowohl die Klischees des dt. Heimatfilms als auch bloße Kritik zu vermeiden. S.s Kinderbücher sind fantastische Geschichten, in denen er in didakt. Absicht sozialkrit. Themen behandelt. Weitere Werke: Kinderbücher: Kusch u. Platz. Ffm. 1980. – Benni sprachlos. Köln 1985. – Hörspiele: Der Herr der Ringe. Hörsp. in 30 Tln. SWF/ WDR 1992. – Die wunderbare Welt des Jean-Henri Fabre. Hörsp. in 12 Tln. DLR Berlin 2003. – Vaterland. Hörsp. in 6 Tln. WDR 2008. – Drehbücher:

Steinbach Jahrestage. Fernsehfilm in 4 Tln. (zus. mit Christoph Busch). Eikon/WDR 1999 (nach Uwe Johnson). – Klemperer – ein Leben in Dtschld. Fernsehserie in 13 Tln. nach den Tagebüchern v. Victor Klemperer. NFP/mdr/Degeto 1999. – Goebbels u. Geduldig. SWR 2000. – Der gerechte Richter. SWR 2000 (nach Anna Seghers). Peter Krumme / Red.

Steinbach, Wendelin, * um 1454 Butzbach/Hessen, † 14.1.1519 Tübingen. – Theologe. S. trat in Butzbach in das Kloster der Brüder vom gemeinsamen Leben ein. 1477 übersiedelte er zusammen mit seinem Lehrer Gabriel Biel († 1495) in das Bruderhaus nach Urach, 1482 wurde er Schlosspfarrer in Tübingen. 1481 immatrikulierte er sich an der neu gegründeten Tübinger Universität, wo er am 27.4.1486 den Grad des Baccalaureus biblicus erwarb u. am 16.7.1489 zum Lizentiaten der Theologie promoviert wurde. Im Sommer 1490 wurde er zum Rektor der Tübinger Universität gewählt; dieses Amt hatte er später noch einige Male inne. S. hat zu seinen Lebzeiten keine einzige seiner mannigfachen Schriften veröffentlicht. Postum edierte sein Schüler Gallus Müller seinen Kommentar zu den Distinktionen 23–50 des vierten Buches der Sententiae von Petrus Lombardus, mit dem er den unvollendet gebliebenen Sentenzenkommentar Biels vervollständigte (Gabrielis Byel Supplementum in octo et viginti distinctiones ultimas quarti [...]. Paris 1521). S.s andere Werke, v. a. Reden, Exzerpte, Abschriften, Vorlesungen (u. a. zum Galaterbrief, gehalten 1513, u. zum Hebräerbrief, gehalten 1516) u. Disputationen, sind als Handschriften in den Universitätsbibliotheken Tübingen u. Gießen u. in der Stadtbibliothek Trier erhalten. S. stand wie Biel der Theologie William von Ockhams nahe; mit Melanchthon war er befreundet. Außer Biels Werken edierte er u. a. auch Ockhams Scriptum in primum librum sententiarum (1483 [Hain 11945]) u. die Quaestiones [...] super libros sententiarum von Pierre d’Ailly (Straßb. 1490. Nachdr. Ffm. 1968 [HC 841]). S. war Beichtvater u. Vertrauter des Grafen Eberhard, des Gründers der Universität Tübingen, für den er eine dt. Summa doctrinae

Steinbart

verfasste (vgl. CR 11, S. 1026), die aber nicht erhalten ist, wenn damit nicht (wie Feld, VL, Sp. 253 f., erwägt) das Gebetbuch Herzog Eberhards gemeint ist. Ausgaben: Opera exegetica quae supersunt omnia. Hg. Helmut Feld. Bd. 1: Commentarius in epistolam S. Pauli ad Galatas. Wiesb. 1976; Bd. 2: Commentarii in epistolam ad Hebraeos pars prima. Ebd. 1984; Bd. 3: Commentarii in epistolam ad Hebraeos pars altera. Ebd. 1987. – Herausgeber: Internet-Ed. mehrerer Biel-Ausgaben in: VD 16 u. HAB Wolfenbüttel. Literatur: Heinrich Hermelink: Die Anfänge des Humanismus in Tübingen. Württemberg. Vierteljahreshefte N. F. 15 (1906), S. 319–336. – Ders.: Die theolog. Fakultät in Tübingen vor der Reformation. Tüb. 1906. – Johannes Haller: Die Anfänge der Univ. Tübingen 1477–1537. 2 Bde., Stgt. 1927–29. Nachdr. Aalen 1970. – H. Feld: Martin Luther u. W. S.s Vorlesungen über den Hebräerbrief. Wiesb. 1971. – Ders.: Die Hermeneutik W. S.s nach seinem Komm. über den Galaterbrief. In: Histoire de l’Exégèse au XVIe siècle. Hg. Olivier Fatio. Genf 1978, S. 300–311. – Wolfgang Georg Bayerer: Die ›Himmelsleiter‹ des W. S. aus Butzbach [...]. In: Wetterauer Geschichtsblätter 30 (1981), S. 31–46. – H. Feld: Die theolog. Hauptthemen der Hebräerbrief-Vorlesung W. S.s. In: Augustiniana 37 (1987), S. 187–252. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 30, S. 96. – Daniel P Metzger: W. S.’s lectures on the letter to the Galatians. A late medieval approach to Pauline authority and teaching. Diss. Marquette University 1993. – H. Feld: W. S. In: VL, VL (Nachträge u. Korrekturen) u. Register. – Ders.: W. S. In: Bautz (Lit.). – Gabriel Biel u. die Brüder vom gemeinsamen Leben. Hg. Ulrich Köpf u. a. Stgt. 1998, Register. – Kosch, Bd. 19, Sp. 412–415. – Christopher Ocker: Biblical poetics before humanism and reformation. Cambridge 2002. Uta Müller-Koch / Red.

Steinbart, Gotthilf Samuel, * 21.9.1738 Züllichau, † 3.2.1809 Züllichau. – Schulpädagoge, evangelischer Theologe, Popularphilosoph. Nach Jahren einer pietistisch geprägten Privaterziehung begann der Sohn eines Züllichauer Predigers sein Studium der Theologie in Halle, wechselte aber bald nach Frankfurt/ O., wo Johann Gottlieb Töllner sein Lehrer war. Nach dem Studienabschluss war S. zunächst in Berlin, später in Züllichau Lehrer. Seit 1774 Professor für Philosophie u. Theo-

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logie in Frankfurt/O., leitete er gleichzeitig auch die Züllichauer Erziehungsanstalten sowie das angeschlossene Lehrerseminar. 1787 wurde er Mitgl. des neu errichteten preuß. Oberschulkollegiums in Berlin, musste dieses Amt aber schon nach zwei Jahren wegen Arbeitsüberlastung aufgeben. Die übrigen Ämter hatte S. bis zu seinem Tod inne. Nachdem er zunächst vorwiegend Schriften pädagog. Inhalts publiziert hatte, wurde S. einer breiteren Öffentlichkeit mit seinem System der reinen Philosophie oder Glückseligkeitslehre des Christenthums (Züllichau 1778. 4 1794) bekannt. In diesem für die populäre dt. Aufklärungstheologie u. -philosophie charakteristischen Werk bemühte er sich um eine nicht mehr dogmat., sondern vernünftig-moralische Grundlegung des christl. Glaubenssystems, das insbes. auf seinen Beitrag zur menschl. Glückseligkeit hin befragt wird. Bei den Vertretern der orthodoxen protestantischen Theologie löste dies Widerspruch aus, was S. zur Herausgabe seiner Philosophischen Unterhaltungen zur weiteren Aufklärung der Glückseligkeitslehre (3 H.e, ebd. 1782–84) veranlasste. Hier verteidigte er sich gegen die erhobenen Vorwürfe u. blieb dabei seinen aufklärerischen Prinzipien treu. Weitere Werke: Anweisung zur Amtsberedsamkeit [...]. Züllichau 1779. 21784. – Anleitung des menschl. Verstandes zu möglichst vollkommener Erkenntniß. 2 Tle., ebd. 1780/81. Weitere Aufl.n u. d. T. Gemeinnützige Anleitung des Verstandes zum regelmäßigen Selbstdenken. – Grundbegriffe zur Philosophie über den Geschmack. Erstes [einziges] Heft [...]. Ebd. 1785. Literatur: Paul Tschackert: G. S. S. In: ADB. – Karl Aner: Theologie der Lessingzeit. Halle 1929, S. 85 f. – Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Protestantisches Christentum im Zeitalter der Aufklärung. Gütersloh 1965, S. 201 ff. – Klaus Wolfgang Niemöller: Die ›Theorie der Tonkunst‹ (1785) v. G. S. S., eine unbeachtete Musikästhetik der Aufklärung. In: FS Hubert Unverricht. Hg. Karlheinz Schlager. Tutzing 1992, S. 193–206. – Klaus-Gunther Wesseling: G. S. S. In: Bautz. Claus Altmayer / Red.

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Steinbeck, Christoph Gottlieb, * 26.4. 1766 Thieschitz bei Gera, † 1.11.1818 Gera. – Volksschriftsteller u. Journalist.

Steinberg In: ›Öffentlichkeit‹ im 18. Jh. Hg. Hans-Wolf Jäger. Gött. 1997, S. 187–202. Reinhart Siegert / Red.

Der Pfarrerssohn S. besuchte das Gymnasium Steinberg, Carl, * 11.11.1757 (oder Rutheneum zu Gera. Er begann 1785 ein 10.11.1755) Breslau, † 31.1.1811 KönigsTheologiestudium in Jena, musste es aber berg. – Schauspieler, Bühnenschriftstel1787 wegen einer schweren Krankheit been- ler, Theaterdirektor. den, die zu weitgehendem Gedächtnisverlust S. war der Sohn von Karoline Schuch, Mitgl. führte. S. will das Verlorene wieder aufgeholt der »Königlich Preußischen und Herzoglich haben, erhielt aber keine Anstellung im KirKurländischen generalprivilegirten Schuchichendienst. Seinen Lebensunterhalt scheint schen Gesellschaft deutscher Schauspieler«, er sich als Krankheitsvertreter seines Vaters, die seit 1786 Direktorin der Truppe war u. v. a. aber als Volksschriftsteller u. als Gründer überwiegend in Preußen, Kurland u. Danzig u. Herausgeber von Zeitschriften verdient zu spielte. haben; daneben entwickelte er (o. Mitgl. der S. studierte Jura, doch die Mutter gewann Naturforschenden Gesellschaft in Jena) einen ihn für die Bühne. Er war 1778–1780 Mitgl. Energiesparofen. 1803 verlieh ihm die Phi- der Schuchischen Gesellschaft u. nach dem losophische Fakultät in Jena die Doktorwür- Tod der Mutter Direktor der Truppe. Im Sept. de »in honorem, wegen seiner um die Volks- 1806 mußte S., infolge der Kriegsereignisse bildung durch seine Schriften erworbenen zahlungsunfähig, sein Unternehmen schlieVerdienste«. Mit 42 Jahren noch nahm er ßen. Im Mai 1810 übernahm er noch einmal schließlich ein Jurastudium auf u. ließ sich die Leitung der Truppe. 1810 als Advokat in Langenberg bei Gera Der heute vergessene u. auch in keiner nieder. Literaturgeschichte mehr auftauchende S. S.s literar. Ruf unter den Zeitgenossen be- machte sich nicht nur um die schwierige Orruhte vorwiegend auf seiner Volksschrift Der ganisation u. Leitung einer Wandertruppe aufrichtige Kalendermann [...]. Für die Jugend und verdient, sondern schrieb selbst Stücke, meist den gemeinen Bürger und Bauersmann (3 Tle., mit Bearbeitungen von Schauspielen anderer wechselnden Verlagsorten 1792, 1795, 1804. Autoren für die Bühne seiner Truppe, u. gab 8 1829). Mit dieser Kalenderkunde suchte er eine Schauspielsammlung in zwei Teilen das Verhältnis des »gemeinen Mannes« zum heraus, von der sich aber nur noch der erste beliebtesten weltl. Volkslesestoff seiner Zeit Teil nachweisen läßt. Weitere Werke: Slg. alter u. neuer Schausp.e. auf eine rationalere Basis zu stellen u. seine Neugier zur Vermittlung einer vernünftigen Tl. 1, Ffm./Lpz. 1787. Darin: Natur u. Liebe im Streit [...] v. Herrn D. d’Arien. Der Bürgermeister Weltsicht zu nutzen. Weitere Werke: Frey- u. Gleichheitsbüchlein. Lpz. 1794. – Aufrichtig-Deutsche Volks-Ztg. Gera 1795–1800. – Versuch eines Erziehungsbuchs. Bd. 1, ebd. 1796. – Feuerkatechismus. Ebd. 1802. – Das Dörfchen Ruhbach. Ein gemeinnütziges Volkslesebuch (zus. mit Ernst Bornschein). Naumburg 1806. – Henkersgesch.n zur Belehrung u. Warnung. Bd. 1. Lpz. 1806. Literatur: Johann Philipp Moser (Hg.): Deutschlands jetztlebende Volksschriftsteller [...]. H. 1, Nürnb. 1795. – Ernst Paul Kretschmer: Gesch. der Gemeinde Langenberg. Langenberg 1922, S. 161. – Felicitas Marwinski: Aufgeklärte Kleinstadtpublizistik im thüring. Raum – C. G. S. aus Langenberg bei Gera, die Genese eines Journalisten.

[...] v. A[lois] F[riedrich] Gr[af] v. B[rühl]. Menschen u. Menschen[-]Situationen oder die Familie Grunau [...] für die Schuchische Bühne vom Schauspieler C. S., [...] zum erstenmal aufgeführet in Danzig, den 16ten Nov. 1786. – Richardt der Dritte. Nach Weiße u. Schäkespear für die Schuchische Bühne bearbeitet. Königsb. 1786 (Trauersp.). – Die Hand des Rächers. Forts. der Jäger (v. Iffland). Lpz. 1795 (Schausp.). – Leichtsinn u. Größe. Ein Familiengemälde in 5 Aufzügen. Ebd. 1795. Literatur: Ida Peper: Das Theater in Königsberg Pr. v. 1750 bis 1811 mit besonderer Berücksichtigung der Königsberger Theaterkritik dieser Zeit. Königsb. 1928. – Sabine Durchholz: Im ›lebenden Labyrinth der Literatur‹. Shakespeares ›Richard der Dritte‹ in den Versionen v. Christian

Steinberg Felix Weiße u. C. S. Mit einem Blick auf Lessings Weiße-Rezeption. In: Lessing Yearbook 38 (2010), S. 169–191. Friedhelm Auhuber / Red.

Steinberg, Salomon David, * 25.6.1889 Luzern, † 22.10.1965 Zürich. – Lyriker, Prosaist.

214 Literatur: Hansjörg Diener: S. D. S. In: Helvet. Steckbriefe. 47 Schriftsteller aus der dt. Schweiz seit 1800. Bearb. vom Zürcher Seminar für Literaturkritik mit Werner Weber. Zürich/Mchn. 1981, S. 228–233 (mit Bibliogr.). – Martin Stern (Hg.): Expressionismus in der Schweiz. Bd. 2, Bern 1981. Charles Linsmayer

Der Sohn eines jüd. Kaufmanns verbrachte Steinberg, Werner, auch: Udo Grebnitz, seine Jugend in Luzern u. Zürich, wo er 1908 Grebniets, * 18.4.1913 Neurode/Schlesien die Matura ablegte. Nach Studien in Berlin u. (heute: Nowa Ruda/Polen), † 25.4.1992 Zürich promovierte S. 1913 als Historiker Dessau. – Romanschriftsteller. (Dissertation: Die Proselyten des Kantons Zürich. Zürich 1914), trat eine Stelle im Ullstein S.s Vater war Spediteur; die Familie verarmte Verlag Berlin an u. debütierte literarisch mit in der Inflationszeit. S. studierte Pädagogik dem Gedichtband Die blaue Stunde (Bln. 1913). in Elbing u. Hirschberg. Beim Versuch, 1933 Nach der Heirat mit Lea Jacobson wurde er im in die UdSSR zu emigrieren, wurde er verHerbst 1914 in den schweizerischen Grenz- haftet u. aus Lettland ausgewiesen, 1934 als dienst einberufen. Einer Fußverletzung we- Leiter einer antifaschistischen Widerstandsgen entlassen, arbeitete er zunächst als Ver- gruppe in Breslau inhaftiert. Nach der Entlagslektor bei Rascher in Zürich u. ab Nov. lassung war er im Buchhandel tätig. Seit 1945 1915 als Feuilletonredakteur bei der »Zür- Journalist in Süd- u. Westdeutschland cher Post«; in dieser Funktion trat er mit (1946–1948 Herausgeber von »Die Zukunft« bedeutenden Emigranten u. Kriegsgegnern u. »Weltpresse«), siedelte er 1956 in die DDR (u. a. Rilke, Stefan Zweig, Schickele) in Kon- über u. lebte als freier Schriftsteller in Dessau. takt. Mit den Lyrikbänden Untergang (Zürich Von Einfluss war S. als Leiter des »Dessauer 1917) u. David. Biblische Gedichte (ebd. 1919) Stadtzirkels«, aus dem u. a. Jendryschik u. sowie mit Der kleine Spiegel. Prosastücke (ebd. Claus Nowak hervorgingen. 1919) stieß er zu jenen wenigen Schweizer Seit 1940 veröffentlichte S. Romane (HusaAutoren, die in Sprache u. Attitüde, wenn renstreich der Weltgeschichte. Karlsbad 1940), auch nicht ohne Vorbehalte, der expressio- aber erst mit Der Tag ist in die Nacht verliebt nistischen Bewegung zugerechnet werden (Stgt. 1955, Halle 1957. 221988) wurde er pokönnen (etwa Konrad Bänninger, Karl pulär. In dieser Romanbiografie über HeinStamm, Max Pulver). Seine humane Gesin- rich Heine werden, wie auch in Protokoll der nung brachte S. auch als Herausgeber der Unsterblichkeit (Halle 1969; über Büchner), Anthologie So war der Krieg. Ein pazifistisches Originaldokumente eingearbeitet, welche die Lesebuch (ebd. 1919) zum Ausdruck. Ausbildung von Persönlichkeiten unter den 1921–1925 lebte S. als freier Schriftsteller Bedingungen ihrer Zeit erkennen lassen. Von in Berlin. Von 1925 bis zu seinem Tod wid- dem autobiogr. Roman Die Mördergrube (zumete er sich als Leiter der Zürcher Privat- erst Hbg. 1989) wurde in der DDR nur ein schule Minerva ausschließlich dem Schul- Teil (Bruchstück. Halle 1983) veröffentlicht, dienst u. verstummte nach dem Erscheinen der von den Enttäuschungen des Malers des Lyrikbands Klingendes Erleben (ebd. 1927) Scheithäuser erzählt. S.s autobiografisch geals Autor endgültig. S., der auch als Über- prägter Deutschlandzyklus Als die Uhren stesetzer Romain Rollands u. als früher Förderer henblieben (entstanden 1948–52. Halle 1957), Ferdinand Hodlers in Erscheinung trat, war Einzug der Gladiatoren (ebd. 1958. 171988), der Bruder von Augusta Weldler-Steinberg Wasser aus trockenem Brunnen (ebd. 1962. (1879–1932), die eine Torso gebliebene Ge- 131989) u. Ohne Pauken und Trompeten (ebd. schichte der Juden in der Schweiz (aus dem 1965) zeichnet ein Panorama der dt. EntNachlass hg. von Florence Guggenheim- wicklung vom Ende des Zweiten Weltkriegs Grünberg. Zürich 1966) verfasste. bis zur Zweistaatlichkeit Deutschlands. Die

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Hauptfigur Jutta Münch erlebt jene nachdrückliche, aber für sie selbst unauffällige Wandlung, die wichtiges Thema der DDRLiteratur der 1950er Jahre wurde. Die Wirkung der Romane S.s beruht auf der klaren Charakterisierung der Figuren, wobei S. oft, eigene journalistische Erfahrungen u. literar. Anregungen (z. B. Arno Schmidts) nutzend, einfache Erzählstrukturen durch Dokumente, Faktenreihungen u. kühne Wortspiele verfremdend aufzubrechen sucht. Auch als Kriminalautor hatte S. Erfolg. Weitere Werke: Tizian im Fegefeuer. Breslau 1941. Halle 1957 (N.). – Das Antlitz Daniels. Breslau 1942 (R.). – Musik in der Nacht. Ebd. 1943 (R.). – Gib einmal uns noch Trunkenheit. Ebd. 1944 (L.). – Wechsel auf die Zukunft. Ebd. 1958 (R.). – Hinter dem Weltende. Bln./DDR 1961 (R.). – Ikebana oder Blumen für den Fremden. Ebd. 1971 (R.). – Die Eselstreiberin. Halle 1973 (E.). – Pferdewechsel. Ebd. 1974 (R.). – Ausgew. Werke. Hg. Heinz Dieter Tschörtner. Ebd. 1976 ff. – Zweitausend Seiten Arno Schmidt. In: SuF. H. 6, 1990 (Ess.). – Kriminalromane: Der Hut des Kommissars. Bln./DDR 1966. – Und nebenbei ein Mord. Ebd. 1968. – Der letzte Fall des Kommissars. Halle 1982. Bln. 1988. – Zwei Schüsse unterm Neumond. Halle 1988. 21989 Literatur: Heinz Dieter Tschörtner: Der letzte Bd. des Dtschld.-Zyklus. In: NDL 13 (1965), H. 7, S. 163–167. – Ders.: W. S. In: Lit. der DDR. Hg. Hans Jürgen Geerdts. Bd. 2, Bln./DDR 1979. – Arno Schmidt: Briefe an W. S. Mit einleitender Rez. u. Nachw. v. W. S. Zürich 1985. – Das wichtigste Material aber ist das eigene Leben: Hagen Bartusch befragte W. S. In: Positionen 4 (1988), S. 53–78. – Jan-Christoph Hauschild (Hg.): Der Schriftsteller W. S. 1913–1992. Biogr. Stationen eines Grenzgängers. Darmst. 1993. 1996. – H. D. Tschörtner: Der Erzähler W. S. Mit Bibliogr. In: Aus dem Antiquariat (2006), H. 1, S. 31–36. Rüdiger Bernhardt / Red.

Steinbrüchel, Steinbrychel, Johann Jakob, * 1729 Schönholzerswilen/Kt. Thurgau, † 23.3.1796 Zürich. – Evangelischer Theologe, Philologe, Übersetzer. Der Sohn eines reformierten Landpfarrers u. Stadtbürgers von Zürich verbrachte die Kindheitsjahre auf dem Land in der Ostschweiz. Nach dem Tod der Mutter wurde er zur Schulung nach Zürich gebracht. Durch Breitinger in die Welt der Antike eingeführt

u. in den alten Sprachen unterrichtet, war er bald dessen Vorzugsschüler u. später auch Nachfolger als Professor u. Chorherr am Carolinum. Als Student geriet S. früh in den Ruf eines Freigeistes u. gefährdete damit seine Promotion als Theologe. Er traf 1752/53 mit Wieland in Zürich zusammen, verbrachte zwei Jahre als Prediger bei der Waldensergemeinde Pinache im Württembergischen u. war anschließend in Zürich als Übersetzer klass. Autoren u. als erfolgreicher Lehrer tätig. S. galt als der früheste Übersetzer von Pindar in die dt. Sprache. 1759 erschienen in Zürich seine Übersetzungen: Sophokles’ Elektra u. Oedipus, König von Thebe, daneben die erste u. zweite Ode Pindars, 1760 Antigone von Sophokles nebst der dritten, vierten u. fünften Ode Pindars, dazu auch Philoktet. Als »St.« in »Z.« veröffentlichte er einen Übersetzungsversuch der Reden des Demosthenes im »Lindauer Journal« (Lindau/Lpz. 1765). Lessings u. Nicolais Kritiken an S.s Übersetzungen führten zu Verteidigungsschriften von Breitinger (Lpz., recte Zürich 1761). Es ist aber für die Verhältnisse in Zürich bezeichnend, dass S. bislang eher als Aufklärer u. Schulreformer (neben Leonhard Usteri) denn als Philologe, Theologe (drei Bände Vorlesungen zu Johann August Ernesti wie auch der übrige handschriftl. Nachlass in der Zentralbibliothek Zürich) u. Übersetzer dargestellt worden ist. Weitere Werke: Das trag. Theater der Griechen. 2 Bde., Zürich 1763 (Übers.en). Bd. 1: Euripides: Hecuba. Iphigenie in Aulis. Die Phönicierinnen. Hippolytus. Bd. 2: Sophokles: Elektra. Oedipus. Philoktet. Antigone. Literatur: Joa. Jac. Hottinger: Acroama de J. J. Steinbrychelio. Zürich 1796. – Felix Nüscheler: Kurze biogr.-charakterist. Nachrichten v. [...] S. in Zürich. Separatdr. o. O. 1796. – Johann Caspar Hess: Charakteristik J. J. S.s. Nach Hottingers Acroama de J. J. S. Zürich 1797. – Hans Jakob Cramer: J. J. S. 40. Neujahrsstück der Chorherren in Zürich 1818. o. O. 1818. – Hugo Blümner: Mitt.en aus Briefen an Leonhard Usteri. In: Zürcher Tb. (1884), S. 85–114. – Hunziker: J. J. S. In: ADB. – Jakob Baechtold: Gesch. der Dt. Lit. in der Schweiz. Frauenfeld 1892, S. 682–701. – Paul Wernle: Der schweizer. Protestantismus im 18. Jh. 3 Bde., Tüb.

Steineckert

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Steinen, Wolfram von den, * 23.11.1892 Alsen bei Berlin, † 20.11.1967 Basel. – Barbara Schnetzler Philologe, Historiker (Mediävist).

1923–25, passim. – Weltlit. Die Lust am Übersetzen im Jahrhundert Goethes. Marbach 1982, passim.

Steineckert, Gisela, * 13.5.1931 Berlin. – Verfasserin von Lyrik, Prosa u. Chansons. S. wuchs als Kind eines Dienstmädchens u. eines Schneiders in ärml. Verhältnissen in Berlin auf u. wurde im Zweiten Weltkrieg nach Österreich gebracht, wo sie die Volksschule besuchte. Nach ihrer Rückkehr nach Berlin arbeitete sie als Sozialhelferin, Industriekauffrau, Sprechstundenhilfe u. als Redakteurin bei der satir. Zeitschrift »Eulenspiegel«. Über ihr Engagement in der »Singebewegung« kam sie in den 1960er Jahren zur Literatur. Für ihre Treue zu Staat u. Partei wurde sie mit mehreren Preisen u. Ämtern belohnt. 1979 wurde S. Mitgl. des »Komitees für Unterhaltungskunst« beim Kulturministerium, dem sie von 1984 bis zum Ende der DDR als Präsidentin vorstand. Ihr berufl. Credo lautete: »Wir Schriftsteller müssen auf die uns mögliche Art verläßliche Soldaten der Revolution sein« (Neues Deutschland, 3.2.1974). Diese ideolog. Überzeugung setzte sie in leicht verständl. Lieder u. Gedichte um (vgl. Lieber September. Bln./DDR 1981). Neben ihren Bekenntnissen zur sozialistischen Heimat bemühte sich S. in ihrer Lyrik v. a. um das Liebesmotiv. S.s erzieherische Auffassung von Literatur wurde mit dem Ende der DDR obsolet. Nach der Wende widmete sie sich weiterhin dem Schreiben von Lyrik, Prosa u. Liedtexten zu Themen der Geschlechterbeziehung, der Rolle der Frau u. des Generationenkonflikts. Zudem arbeitete S. mit Musikern zusammen. Weitere Werke: Musenkuß u. Pferdefuß. Bln./ DDR 1964. – Erkundung zu zweit. Ebd. 1974 (L.). – Nun leb mit mir. Weiber-Gedichte. Ebd. 1976. – Mehr vom Leben. Ebd.1983 (L.). – Liederbriefe. Ebd. 1984. – Briefe 1961–83. Ebd. 1984. – Erster Montag im Okt. Ebd. 1986 (L.). – Aus der Reihe tanzen. Ach Mama, ach Tochter. Bln. 1992 (R.). – Für Frauen ist Krieg im Land. Ebd. 1994 (R.). – Das Schöne an den Frauen. Ebd. 1999 (R.). – Die blödesten Augenblicke meines Lebens. Ebd. 2006 (Autobiogr.). Hajo Steinert / Sonja Schüller

S. war der Sohn Karl von den Steinens, der als Professor für Ethnologie u. Direktor der Südamerika-Abteilung des Museums für Völkerkunde in Berlin wirkte. Er legte 1911 in Steglitz das Abitur ab. Nach einem seit 1914 durch vierjährigen Militärdienst mehrfach unterbrochenen Studium der Klassischen Philologie, Geschichte u. Kunstgeschichte in Lausanne, Heidelberg, Leipzig, Berlin u. Marburg wurde er 1921 in Marburg bei Edmund E. Stengel mit der Arbeit Das Kaisertum Friedrich des Zweiten nach den Anschauungen seiner Staatsbriefe (Bln. 1922) promoviert. Er habilitierte sich 1929 in Basel mit einer Studie über die Libri Carolini Karls des Großen nach einem wegen seiner Nähe zur Geschichtsphilosophie des George-Kreises gescheiterten ersten Habilitationsversuch an der Universität Leipzig. S. lehrte in Basel seit 1929 als Privatdozent, seit 1938 als a. o. Prof. für mittelalterl. Quellenkunde u. allg. Geschichte des MA. Er wurde 1961 emeritiert. Zu seinen Hauptwerken zählen Studien zu bedeutenden Gestalten des MA (u. a. Theoderich, Otto d. Gr., Karl d. Gr., Franz von Assisi, Bernhard von Clairvaux, Kaiser Friedrich II.), die zum Teil in der Tradition der ›Geistbücher‹ des George-Kreises stehen, sowie Übersetzungen mlat. Dichter u. umfangreiche Gesamtdarstellungen der geistigen u. künstlerischen Kultur des europ. MA. Ganz im Geist des George-Kreises u. seines Marburger Lehrers Friedrich Wolters u. beeinflusst von den lebensphilosophischen Postulaten Wilhelm Diltheys u. Edith Landmanns, lehnte S. eine Geschichtswissenschaft ab, der es primär um die Rekonstruktion abstrakter Entwicklungsprozesse u. Tatsachen geht. Geschichte habe es immer »wesenhaft mit dem Menschen zu tun« (Geschichte als Lebenselement. Bern/Mchn. 1969, S. 20) u. Historiografie habe daher nicht überpersönl. Wirkkräfte, sondern immer konkrete Gestalten zum Gegenstand, die »ihrem Tag die mögliche Vollendung gaben« (ebd., S. 21) u. dadurch eine bleibende histor. Wahrheit repräsentieren. Die angemessene Darstellung

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ihres je individuellen Wesens u. Wirkens könne nur gelingen, wenn sich Wissenschaft u. Kunst im Historiker vereinigten. »Puls und Seele« geschichtl. Fakten seien nur durch »bildsetzende Verfahren« (ebd., S. 128) zu verstehen, die der Dichtung nahe stünden. In seinem Friedrich Wolters »in Dankbarkeit und Liebe« gewidmeten Buch Vom heiligen Geist des Mittelalters (Breslau 1926), in das Teile der ersten, von den Leipziger Gutachtern 1925 abgelehnten Habilitationsschrift eingingen, geht es S. darum, anhand der Beispiele Anselms von Canterbury u. Bernhards von Clairvaux »in die Welt der Heiligen« einzuführen u. darzustellen, »was sie über die Jahrhunderte erhoben hat« (S. VII). Das Buch vereinigt zwei ›Gestalt-Monographien‹: Seine Analyse des anselmischen Gottesbeweises u. der Predigten Bernhards betrifft v. a. die Frage, welches »Selbstgefühl« (S. 9) die beiden mittelalterl. Gelehrten jeweils zu ihren theolog. u. philosophischen Lehren geführt hat. S. sucht in diesem Buch »den Geist der christlichen Mitte möglichst aus sich selbst heraus« (S. 149), d.h. aus der »innere[n] Geschichte« (S. 165) zweier ›großer Menschen‹, zu entwickeln. S.s große zweibändige Ausgabe der Werke Notkers I. (Balbulus) von St. Gallen, Notker der Dichter und seine geistige Welt (Bern 1948), ist die bis heute maßgebl. Notker-Edition, für die S. 1954 den »Bodensee-Literaturpreis« erhielt. In Der Kosmos des Mittelalters (Bern/ Mchn. 1959) versucht S. die geistigen Grundkräfte u. »organisierenden, stilbildenden Potenzen« (S. 6) des frühen MA (ca. 800–1150) darzustellen. Den Ausgangspunkt des weit gespannten histor. Panoramas bildet das mittelalterl. Geschichtsdenken, in dem Welt u. Mensch zwischen Schöpfung, Sündenfall, Christi Auferstehung u. dem Weltgericht am Ende der Zeiten aufgespannt sind. Diese »kosmische Mythe« (S. 12) ist für S. das Fundament der gesamten mittelalterl. Kultur, in der »jedes Ding und Geschehen von einer Allordnung her« (S. 5) sinnhaft werde u. zu deuten sei. Das zweibändige Werk Homo Caelestis. Das Wort der Kunst im Mittelalter (Bern/Mchn. 1965) bietet ergänzend eine Einführung in die mittelalterl. Kunstgeschichte (ca. 800–1300), die nach S. immer

Steinen

»im Dienste des Sacrums« (S. 7) stand. Neben seinen zahlreichen wissenschaftl. Arbeiten veröffentlichte S. auch Sammlungen eigener Gedichte (Um die Pfalz. Ein Basler Geisterreigen. Basel 1938. Wechselsang. Bln. 1957. Über der Zeit. Bern 1962). S. hat ein umfangreiches wissenschaftl. Werk hinterlassen. Besonders seine Arbeiten zu Notker Balbulus sind bis heute wegweisend. Seine Publikationen sind durchweg von einem hohen wissenschaftl. Ethos getragen u. sprachlich sehr bewusst u. kunstvoll gestaltet. Er gilt vielen als »Meister der Geschichtsdarstellung« (von Moos 1993, S. 1). Sein Beitrag zur MA-Forschung ist heute allerdings eher Gegenstand der Fachgeschichte als des aktuellen mediävistischen Diskurses. An den methodolog. Debatten in der zweiten Hälfte des 20. Jh. nahm er nicht teil, u. so blieben seine Arbeiten wie die anderer ›Gestalt‹-Historiker des George-Kreises bewunderte, aber eher isolierte Geschichtserzählungen, über welche die rasante Entwicklung der Geschichtswissenschaft hinwegschritt. S. wurde insbes. vorgeworfen, er verkläre die Vergangenheit, u. den von ihm konstruierten sinnerfüllten u. geschlossenen mittelalterl. »Kosmos«, der auf der »Idee eines nicht entfremdeten ganzheitlichen Lebens« (Schneider 2004, S. 205) gegründet sei, habe es so nie gegeben. In seinen Arbeiten projiziere er, motiviert durch seine Ablehnung der gegenwärtigen Kultur, von ihm selbst gesetzte überzeitl. Werte in eine in Wirklichkeit sehr heterogene Epoche hinein, u. dies sei keine Geschichtswissenschaft, sondern Geschichtsdichtung. Weitere Werke: Heilige u. Helden des MA. Karl der Große. Leben u. Briefe. Breslau 1928. – Heilige u. Helden des MA. Otto der Große. Breslau 1928. – Entstehungsgesch. der Libri Carolini. In: Quellen u. Forsch.en aus ital. Archiven u. Bibl.en 21 (1930), S. 1–93 (zgl. Habil.-Schr. Basel 1929). – Chlodwigs Übergang zum Christentum. Eine quellenkrit. Studie. In: MIÖG 12 (1933), S. 417–505. – Das Zeitalter Goethes. Bern 1949. – Canossa. Heinrich IV. u. die Kirche. Mchn. 1957. – MA u. Goethezeit. In: HZ 183 (1957), S. 249–302. – Menschen im MA. Ges. Forsch.en, Betrachtungen, Bilder. Hg. Peter v. Moos. Bern/Mchn. 1967. – Ein Dichterbuch des MA. Hg. ders. Bern/Mchn. 1974. – Herausgeber:

Steiner Staatsbriefe Kaiser Friedrichs des Zweiten. Breslau 1923. Literatur: W. v. d. S. 23. November 1892 – 20. November 1967. Ansprachen gehalten bei der Beerdigung am 22. November 1967. Privatdr. Univ. Basel 1967. – Peter v. Moos: W. v. d. S. u. die Mittelalterforsch. In: ZfdA 97 (1968), S. 306–321. – Ders.: W. v. d. S. (1892–1967). In: Cahiers de Civilisation Médiévale 11 (1968), S. 89–91. – Ders.: W. v. d. S., ein Historiker des Überhistorischen. In: Mlat. Jb. 28 (1993), S. 1–14. – Wolfgang Christian Schneider: ›Heilige u. Helden des Mittelalters‹. Die geschichtl. ›Schau‹ W.s v. d. S. unter dem Zeichen Stefan Georges. In: Geschichtsbilder im GeorgeKreis. Wege zur Wiss. Hg. Barbara Schlieben, Olaf Schneider u. Kerstin Schulmeyer. Gött. 2004, S. 183–207. – Ders.: Geschichtswiss. im Banne Stefan Georges. W. v. d. S. im Ringen um die gestalthafte ›Schau‹ der Vergangenheit. In: Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters u. der Beruf der Wiss. Hg. Bernhard Böschenstein u. a. Bln./New York 2005, S. 329–356. Heiko Hartmann

Steiner, Franz Baermann, * 12.10.1909 Karolinenthal (seit 1922 zu Prag), † 27.11. 1952 Oxford; Grabstätte: ebd., Jüdischer Friedhof. – Lyriker, Aphoristiker, Übersetzer u. Ethnologe. S. wurde als erstes Kind des jüd. Kaufmanns Heinrich Stramm u. dessen Frau Martha (geb. Gross) in dem meist von Tschechen bewohnten Prager Vorort Karlín geboren. Im assimilierten, kleinbürgerl. Elternhaus sprach man deutsch, das Judentum spielte bei der Erziehung eine untergeordnete Rolle. Seit 1920 besuchte S. das Deutsche Staatsgymnasium an der Stephansgasse u. begann noch vor der Matura mit ersten literar. Versuchen. 1928 inskribierte er sich an der Prager Deutschen Universität für semitische Sprachen, allg. Sprachwissenschaften u. Indologie, die er bald zugunsten der Völkerkunde aufgab. 1929/30 gehörte S. der kurzlebigen »Freien Gruppe Prag« um Paul Leppin Jr., Friedrich S. Ost u. Wolf Salus an. Prägend war für S. ein Studienaufenthalt an der Hebräischen Universität in Jerusalem (1930/31), wo er von seinem Gastgeber, dem Philosophen Hugo Bergmann, mit der zionistischen Pionierarbeit vertraut gemacht wurde. Seit 1933 finden sich Gedichte S.s im »Prager Tagblatt«,

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wenig später erschien seine Übersetzung von Emanuel Lesˇ ehrads Gedichtband Die Planeten (Prag 1935). Zudem schloss er 1935 seine unpubliziert gebliebene Prager Dissertation über Studien zur arab. Wurzelgeschichte ab. Seit 1935 studierte S. Ethnologie in Wien u. London. In Wien lernte er 1937 Elias Canetti kennen, mit dem er bis zu seinem Tod eng befreundet war. Im Herbst 1938 übersiedelte S. nach Oxford, wo er eine zweite Dissertation zur Soziologie der Sklaverei begann, die er nach dem zwischenzeitl. Verlust allen Materials erst 1949 einreichen konnte. Seit 1940 intensivierte er seine literar. Tätigkeit mit der Arbeit am lyr. Zyklus Eroberungen (Heidelb. 1964). Auf Anregung Canettis begann er 1943 u. d. T. Feststellungen und Versuche mit seiner Kurz- u. Kürzestprosa, die er bis zu Beginn der 1950er Jahre konsequent fortführte. Von 1944 an folgten zahlreiche Lyrikpublikationen in namhaften Zeitschriften (»Poetry London«, »Literarische Revue«, »Sinn und Form«, »Neue literarische Welt«, »Merkur«). Sein bekanntestes Gedicht, Gebet im Garten, das an seine im Okt. 1943 in Treblinka ermordeten Eltern erinnert, entstand 1947 u. belegt seine Verwurzelung im jüd. Glauben. »Die Pflicht zur Erinnerung«, lautet eine Aufzeichnung. »Wer sie nicht als religiöse Pflicht versteht, hat keinen Zugang zum Judentum.« Obwohl sich S. in einer von Erich Fried ins Leben gerufenen Londoner Dichtergruppe engagierte, zu der neben seinem Prager Freund u. späteren Nachlassverwalter H. G. Adler auch Hans Werner Cohn, Hans Eichner u. Georg Rapp zählten, blieb ihm eine selbstständige Publikation seiner Lyrik zu Lebzeiten versagt: Auf Vermittlung Canettis hatte der Verleger Willi Weismann die Auswahl In Babylons Nischen angenommen, doch über die Fahnen kam das Projekt wegen Geldmangels nicht hinaus. Derweil machte S.s wissenschaftl. Karriere Fortschritte. Seit 1949 Lecturer for Social Anthropology in Oxford, wurden ihm im folgenden Jahr sowohl der Doktortitel als auch die brit. Staatsbürgerschaft verliehen. – S.s Nachlass befindet sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach/N.

219 Weitere Werke: Unruhe ohne Uhr. Heidelb. 1954 (L.). – Taboo. London 1956 (Wiss. Schr.). – Fluchtvergnüglichkeit. Feststellungen u. Versuche. Stgt. 1988. – Modern Poetry in Translation. London 1992 (L.). – Taboo, Truth, and Religion. New York/ Oxford 1999. – Orientpolitik, Value, and Civilisation. New York/Oxford 1999. – Am stürzenden Pfad. Gött. 2000 (L.). – Zivilisation u. Gefahr. Gött. 2008 (Wiss. Schr.en). Literatur: Alfons Fleischli: F. B. S. Leben u. Werk. Hochdorf 1970. – Andreas Okopenko: Facetten der Wirklichkeit. Zur Lyrik v. Theodor Kramer u. F. B. S. In: Protokolle (1970), 2, S. 160–173. – Jürgen Serke: F. B. S. In: Ders.: Böhm. Dörfer. Wien/Hbg. 1987, S. 300–313. – Jeremy Adler: Der Lyriker F. B. S. In: Akzente 39 (1992), S. 410–420. – Ders.: The Poet as Anthropologist. In: Psychoanalysis in its Cultural Context. Hg. Edward Timms. Edinburgh 1992, S. 145–157. – Michael Hamburger: F. B. S. In: Akzente 39 (1992), S. 429–445. – J. Adler: ›The step swings away‹ and other poems by F. B. S. In: Comparative Criticism 16 (1994), S. 139–168. – Ders.: Erich Fried, F. B. S. and an unknown group of exile poets in London. In: Lit. u. Kultur des Exils in Großbritannien. Hg. Siglinde Bolbecher u. a. Wien 1995, S. 163–192. – Ders.: F. B. S. A Prague Poet in England. In: ›England? Aber wo liegt es?‹ Dt. u. österr. Emigranten in Großbritannien 1933–1945. Mchn. 1996, S. 125–140. – Michael Mack: The Anthropologist as the Primitive. F. S.s ›Taboo‹. In: Journal of the Anthropological Society of Oxford 27 (1996), 3, S. 197–215. – Ders.: F. B. S.s Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. In: Mit der Ziehharmonika 14 (1997), S. 14–22. – Marcel Atze: ›Ortlose Botschaft‹. Der Freundeskreis H. G. Adler, F. B. S. u. Elias Canetti im engl. Exil. Marbach/N. 1998. – M. Mack: Ägypten u. Israel im Werk F. B. S.s. In: Dialog 7 (1999), S. 15–23. – M. Atze: F. B. S. In: MLdjL. – M. Mack: Anthropology as Memory. Elias Canetti’s and F. B. S.’s Responses to the Shoah. Tüb. 2001. – J. Adler, Richard Fardon u. Carol Tully (Hg.): From Prague Poet to Oxford Anthropologist: F. B. S. Celebrated. Mchn. 2003. – Elias Canetti: F. S. In: Ders.: Party im Blitz. Die engl. Jahre. Mchn./Wien 2003, S. 125–134. – H. G. Adler: Über F. B. S. Brief an Chaim Rabin. Gött. 2006. – J. Adler u. R. Fardon: Ein Orientale im Westen – Eine Einf. in Leben u. Denken F. B. S.s. In: F. B. S.: Zivilisation u. Gefahr. Gött. 2008, S. 497–732. Marcel Atze

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Steiner, Jörg, * 26.10.1930 Biel. – Erzähler, Lyriker, Kinderbuchautor. Nach der Lehrerausbildung unterrichtete S. in Erziehungsheimen in Aarwangen, Biel u. Nidau, dann an Volksschulen in der Nähe von Biel. Die Tätigkeit in der »Vorstadtpresse«, einem eigenen Verlag, im »Bieler Tagblatt«, im Stadttheater Basel u. als Stadtrat in Biel, Reisen nach Spanien, Frankreich, Italien, Ostafrika, den USA u. in die Tschechoslowakei sind weitere wichtige Stationen auf S.s Lebensweg. Seine Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt, u. a. ins Französische, Englische, Polnische, Koreanische, Chinesische. S.s erste Gedichte (Feiere einen schönen Tag. Zwei Gedichtkreise u. sechs Zeichnungen. Zeichnungen von Edwin Keller. Biel 1955) u. die im Band Episoden aus Rabenland (Auswahl der Gedichte von Adrian Wolfgang Martin. Mit sechs Grattages von Georges Item. Küsnacht 1956) sind lyr. Emanationen eines sentimental-melancholisch gestimmten Naturzustandes, welcher der Sehnsucht des Subjekts nach Arkadien korrespondiert. Anfang der 1960er Jahre ließ S. in seinem Schaffen auch andere Inhalte u. Formen gelten. Die Romane Strafarbeit (Olten/Freib. i. Br. 1962) u. Ein Messer für den ehrlichen Finder (Olten/Freib. i. Br. 1966), den persönl. Erlebnissen des Autors in Heimen für Schwererziehbare entsprossen, sind Varianten von ein u. demselben Thema: beschädigtes Leben junger, sozial Ausgeschlossener u. restriktives Wirken der Gesellschaft als Leitfaden der Darstellung. In Strafarbeit wird der Zögling Rudolf Benninger beauftragt, einen Bericht über seine versuchte Flucht aus dem Erziehungsheim Brandmoos zu schreiben. Ergebnis des Auftrags sind zwei dissoziierte, stark subjektivierte Texte, in denen der Berichtende seinen Existenzvorstellungen außerhalb der Anstalt, aber auch seinem Anlehnungsbedürfnis Ausdruck gibt. Der Roman Strafarbeit hat seine Parallele in Ein Messer für den ehrlichen Finder. Der Gymnasiast Schose Ledermann, S.s anderer Rebell, der einen Klassenkameraden umgebracht hat u. den kriminellen Akt auch in Brandmoos verbüßt, wird auf Bewährung entlassen u. bescheidet sich

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unter neuen Umständen – im Gegensatz zu Benningers Traumkraft – mit Gelegenheitsarbeiten u. eingeschränktem Lebenshorizont; über seine Lage erzählt er nüchtern in chronolog. Abfolge. Die Sprachskepsis u. Ökonomie des Ausdrucks bringen S.s Romane in die Nähe der frühen Prosa von Peter Bichsel, Otto F. Walter, Hugo Loetscher u. Kurt Marti, Schriftsteller, die Anfang der 1960er Jahre den sog. zweiten Durchbruch in der Deutschschweizer Literatur vollzogen haben. Eben zussammen mit Walter, Bichsel u. Gerhard Meier lässt auch S. die Topografie des Jurasüdfußes zu einer bedeutenden Region der neueren Schweizer Literatur werden. Sein gesellschaftskrit. Standort macht sich auch in den Gedichtbänden aus den 1960er u. 1970er Jahren geltend (Der schwarze Kasten. Spielregeln. Olten/Freib. i. Br. 1965. Als es noch Grenzen gab. Ffm. 1976) – mit dem Akzent auf dem Leiden am eigenen Land u. der Befreiung im Schreiben. Das poetische Subjekt meldet nun – insbes. in letzterer Sammlung – radikale Ansprüche (»das Land richtet sich langsam erwachend / auf«) u. bringt im Titelgedicht eine iron. Anspielung zum Ausdruck: Einem illegalen Einwanderer werden Aufnahme u. Schutz entgegengebracht; es erweist sich jedoch bald, dass der glückl. Immigrant lediglich ein Phantom ist – ähnlich wie der Ausblick auf eine grenzüberschreitende Zukunft. Soziale Relevanz der Literatur tritt dagegen in Auf dem Berge Sinai sitzt der Schneider Kikrikri (Neuwied/Bln. 1969), Kurzprosatexten des Momentanen, in den Hintergrund zugunsten autothematischer, den Standort u. das Versagen des folgerichtigen Erzählens reflektierender Geschichten. Teilweise hält S. an dieser Linie in der Erzählung Schnee bis in die Niederungen (Darmst./ Neuwied 1973) fest, wo die Neugier auf das Schreiben in narrativ desintegrierter Dimension mit der Darstellung der Abtötung des Menschlichen inmitten einer entzauberten, technisch fortgeschrittenen Welt alliiert ist. Dem Problem von Freiheit u. Unfreiheit sozial Abtrünniger, von Grenzziehungen u. Grenzüberschreitungen stellte sich S. bereits in seinen früheren Romanen. In das Umfeld der Ausgrenzung eines mit Freiheitsentzug präventiv bestraften Burschen u. der Lebens-

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geschichte seines Vaters gehört im Roman Das Netz zerreißen (Ffm. 1982) ein anders gedachtes Maß an Ausbruchsstimmung: Die persönl. Verstrickung in allerlei Zwänge, Beziehungen u. Umstände gewaltsam zu zerreißen, ist für S.s Protagonisten ein Mittel, der eigenen Abhängigkeit u. Passivität mit Brandstiftung, einem anarch. Akt, ein Ende zu setzen. Auch weitere Werke sind in inhaltl. u. narrativer Hinsicht der bisherigen Hauptlinie seines Schaffens treu. Die Erzählung Fremdes Land (Ffm. 1989), eine Außenseitergeschichte mit krit. Anspielungen auf die Schweiz, handelt von einem Randständigen namens Ernst Jaag, der in einer Hütte auf militärischem Sperrgebiet lebt. Im Roman Weissenbach und die anderen (Ffm. 1994) lässt S. den alten Lehrer von Büren u. dessen Schüler Weissenbach der helvetischen, sich auf die Jahre des Faschismus beziehenden Zeitgeschichte skeptisch zuschauen. Beachtenswert ist auch die Erzählung Der Kollege (Ffm. 1996), die Lebensgeschichte eines Außenseiters, der seine Freiheit durch dissidentes Treiben in einer Stadt zu gewinnen meint, seinen Alleingang in einen ebenfalls arbeits- u. haltlosen Kollegen projiziert u. damit sozial abweichendes Verhalten seltsam kompensiert. Ein anderes Prosawerk neueren Datums (Wer tanzt schon zu Musik von Schostakowitsch. Ffm. 2000) greift dagegen die Geschichte zweier Brüder auf, die extrem entgegengesetzte seel. Positionen vertreten. Niklaus Eisinger, einen erfolgreichen Versicherungsagenten, ärgert die Identität u. Lebensphilosophie seines Bruders Gottfried alias Goody derart, dass er dessen Verschwinden u. Verstummen erträumt; der Verhasste, ein Zweifler, Spaziergänger, Fantast, Puppensammler, Lesefreund von Grimms Märchen, zu Musik von Schostakowitsch Tanzender, imponiert seiner Umgebung mit Wortfinesse u. Sonderlichkeit, weckt von allen Seiten Liebe u. lässt an die Randexistenzen Robert Walsers, aber auch gewissermaßen an den Kain-und-AbelStoff zurückdenken. 2008 erschien Ein Kirschbaum am Pazifischen Ozean (Ffm.), S.s poetischer, sehr frei strukturierter Reisebericht nach Art von beiläufig erzählten Augenblicksbildern, in denen die Erinnerungen an Kalifornien, an Menschen

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u. Landschaften, dem Schreibenden zum Daniel Rothenbühler: ›Er ist, was er ist‹. Das ErAnlass werden, dem Reisen u. Schaffen mit habene des Erwerbslosen bei J. S., Paul Nizon u. analyt. Blick zu folgen u. zugleich auf die Eleonore Frey. In: Flucht u. Dissidenz. Außenseiter Schweiz im Zweiten Weltkrieg, »das Raub- u. Neurotiker in der Deutschschweizer Lit. Unter Mitwirkung v. Robert Rduch hg. v. Zygmunt Migold, die an der Schweizer Grenze abgewieelczarek. Ffm. u. a. 1999, S. 151–163. – Beat Masenen Flüchtlinge«, anzuspielen. zenauer: J. S. In: LGL. – Heinz F. Schafroth, Martin S. erhielt den Großen Literaturpreis des Zingg u. Olav Krämer: J. S. In: KLG. Kantons Bern (1958, 1973, 1976, 2007), den Zygmunt Mielczarek Charles-Veillon-Preis (1967), den Literaturpreis der Stadt Bern (1969), den Gustav-Hei- Steiner, Rudolf (Joseph Lorenz), * 27.2. nemann-Friedenspreis (1982), den Deutschen 1861 Kraljevec/Slawonien, † 30.3.1925 Jugendliteraturpreis (1990, zus. mit Jörg Dornach bei Basel. – Begründer der AnMüller), den Erich-Fried-Preis (1994), den throposophie. Literaturpreis der Schweizerischen Schillerstiftung (1995), die Stadtschreiberehrung von Nach einem naturwissenschaftl. Studium in Bergen-Enkheim (1997/1998), den Berliner Wien, das er durch philosophische, literaturLiteraturpreis (1998), den Hans-Erich-Nos- wissenschaftl. u. altphilolog. Vorlesungen sack-Preis (2001) u. den Max-Frisch-Preis vielfältig ergänzte, wurde der Sohn eines österr. Eisenbahnbeamten mit der Heraus(2002). gabe von Goethes naturwissenschaftl. SchrifWeitere Werke: Eine Stunde vor Schlaf. St. Gallen 1958 (E.). – Abendanzug zu verkaufen. Bern ten betraut – u. a. zwischen 1890 u. 1897 für 1961 (E.). – Poln. Kastanien. Grenchen 1963 (E.). – die Sophien-Ausgabe am Goethe-Schiller-Archiv Das Bett. Monolog. Schweizer Radio u. Fernsehen in Weimar. Daneben verfasste S. zahllose DRS 1967 (Hörsp., Fernsehsp.). – Die Hausord- Rezensionen u. kulturkrit. Essays (Gesammelte nung. Schweizer Fernsehen DRS 1967 (Fernsehsp.). Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte 1887–1901. – Rabio. Zürich 1970 (Drehb. zum Fernsehfilm). – In: Gesamtausgabe [= GA], Bd. 31. Gesammelte Stau-Werk. Einakter. In: National-Ztg. Basel, Aufsätze zur Literatur 1886–1902. In: GA 32). 30.4.1971. Urauff. Basel 1971 (Schausp.). – Eine Erste selbstständige Schriften (Grundlinien eiGiraffe könnte es gewesen sein. Ausw. u. Nachw. v. ner Erkenntnistheorie der Goetheschen WeltanHeinz F. Schafroth. Stgt. 1979 (Gesch.n). – Olduvai. schauung. Stgt. 1886. GA 2) u. die Dissertation Ffm. 1985 (Gesch.n.). – Mit deiner Stimme überlebe Wahrheit und Wissenschaft (Weimar 1892. GA 3) ich. Hg. u. mit einem Nachw. v. Rainer Weiss. Ffm. – eine Vorarbeit zum Hauptwerk Philosophie 2005 (Gesch.n.). – Kinderbücher: Pele, sein Bruder. Illustriert v. Werner Maurer. Köln 1972 (auch der Freiheit (Bln. 1894. GA 4) – suchen in poFernsehsp. 1971). – Der Bär, der ein Bär bleiben lem. Wendung gegen Kants »Grenzen der wollte. Illustriert v. Jörg Müller. Aarau/Ffm. 1976. Erkenntnis« eine neue Erkenntnisgewissheit – Die Kanincheninsel. Illustriert v. J. Müller. Ebd. zu begründen. Das Denken als empirisch 1977. – Die Menschen im Meer. Illustriert v. J. aufweisbares Phänomen soll das »Wesen der Müller. Ebd. 1981. – Der Eisblumenwald. Illus- Welt«, das »Denken des Denkens«, schließtriert v. J. Müller. Ebd. 1983. – Antons Geheimnis. lich das »Gedankenzentrum der Welt« erEine Gesch. Illustriert v. Anton Pieck. Ebd. 1985. – schließen. Der Mann vom Bärengraben. Illustriert v. J. Müller. In Berlin verkehrte S. in den Kreisen der Ebd. 1987. – Aufstand der Tiere oder Die neuen Boheme, befreundete sich mit dem AnarStadtmusikanten. Illustriert v. J. Müller. Ebd. 1989. chisten John Henry Mackay, gab 1897–1900 – Was wollt ihr machen, wenn der Schwarze Mann gemeinsam mit Otto Erich Hartleben das kommt? Ebd. 1998. »Magazin für Literatur« u. die »DramaturLiteratur: Daniel Weber: J. S. Zürich 1988. – gischen Blätter« heraus u. lehrte 1899–1904 Ders.: J. S. In: Antworten. Die Lit. der deutschsprachigen Schweiz in den achtziger Jahren. Hg. an der von Wilhelm Liebknecht gegründeten Beatrice v. Matt. Zürich 1991, S. 432–439. – Marc Arbeiter-Bildungsschule. Nach seiner – von Aeschbacher: Vom Stummsein zur Vielsprachig- einigen Kritikern der Begegnung mit seiner keit. Vierzig Jahre Lit. aus der dt. Schweiz späteren (zweiten) Frau Marie von Sievers (1958–1998). 2., überarb. Aufl. Bern u. a. 1998. – zugeschriebenen – Wende zur Theosophie

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entwickelte S. zwischen 1902 u. 1912 als Generalsekretär der dt. Sektion der Theosophischen Gesellschaft die Anthroposophie als eine umfassende Lehre der Erkenntnis des Menschen u. des Kosmos, »die das Geistige im Menschen zum Geistigen im Weltall führen will« (Theosophie. Bln. 1904. GA 9. Die Geheimwissenschaft im Umriß. Lpz. 1910. GA 13). Darin verschmilzt Haeckel’scher Monismus mit dem Okkultismus Paracelsus’ u. Jakob Böhmes, abendländ. »Christologie« (Das Christentum als mystische Tatsache. Bln. 1902. GA 8) mit ind. Reinkarnations- u. Karmalehre. Ziel der optimistisch gesehenen Entwicklung sowohl des Kosmos als auch des einzelnen Menschen ist die völlige Durchgeistigung. Wieweit diese bereits gediehen ist, kann der »Seher mit dem geöffneten geistigen Auge« etwa an der Farbe der übersinnl. Aura der »Äther-«, »Astral-« u. »Ich-Leiber« ablesen, die den »physischen Leib« erst zum ganzen Menschen ergänzen. S.s Festhalten an der christlich-abendländ. Tradition der Esoterik führte 1913 zum Bruch mit der Theosophischen u. zur Konstituierung der Anthroposophischen Gesellschaft. Als geistiges Zentrum errichtete er nach eigenen Plänen von 1914 an in Dornach das »Goetheanum« – zunächst als Holzbau u. nach einem Brand aus dem damals avantgardistischen Beton. Während u. nach dem Ersten Weltkrieg versuchte S. auch politisch Einfluss zu nehmen (Gedanken während der Zeit des Krieges. Bln. 1915). Hier blieb ihm jedoch – wie mit seinen zwischen 1910 u. 1913 uraufgeführten vier Mysterien-Dramen – der Erfolg versagt. Nachhaltig wirkten dagegen seine (reform-)pädagog. Ideen (Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft. In: Lucifer-Gnosis, 1907. GA 34): Neben zahlreichen heilpädagog. Heimen für »seelenpflegebedürftige« Menschen gibt es heute allein in Deutschland über 200 Waldorfschulen u. über 500 Waldorfkindergärten; der Name stammt von der ersten, 1913 in Stuttgart gegründeten u. von der WaldorfAstoria-Zigarettenfabrik geförderten Schule. Im Zentrum der Waldorfpädagogik steht die ganzheitl. Menschenbildung, in der Leib u. Seele durch eine entwicklungspsychologisch begründete »Erziehungskunst« harmonisch

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ausgebildet werden sollen. Unter Verzicht auf Schulbücher, Notengebung u. Sitzenbleiben – wenigstens in den unteren Klassen – werden einzelne Stoffgebiete in drei- bis vierwöchigen »Epochen« unterrichtet. Hinzu kommen handwerkl. u. künstlerische Fächer sowie – von der ersten Klasse an – frz. u. engl. Sprecherziehung. Auch S.s Anregungen für eine Erweiterung der medizinischen Heilkunst durch »okkulte Physiologie«, für eine »biologisch-dynamisch« reformierte Landwirtschaft (»Demeter«-Produkte), für eine neue Bewegungskunst – »Eurythmie« als »sichtbarer Klang« – u. die Stiftung einer neuen Konfession, der »Christengemeinschaft«, stoßen gerade in unserer Zeit auf großes Interesse. Viele Künstler beziehen sich bis heute auf S.s spirituelle Lehre; u. a. Michael Ende u. Joseph Beuys waren Anthroposophen. Die mit S.s Popularität schon zu Lebzeiten verbundene Polarisierung der Meinungen lässt sich an den Notizen u. Feuilletons berühmter Zeitgenossen ablesen. So suchte Kafka in S.s theosophischer »Sprechstunde« (vergeblich) Rat (Tagebuch, 26./28.3.1911), wurde »der Jesus Christus des kleinen Mannes« (Tucholsky), der »okkulte Journalist Rudolf Steiner«, der »mit allem Unrat zuweilen auch eine bedeutende Perle« gebe (Bloch), häufig zur Zielscheibe des Spotts derer, die in S.s Verbindung zwischen Wissenschaft u. Religion ein »Zerrbild echten Teilhabens am Absoluten« (Kracauer) sahen. Gleichzeitig identifizierten sich andere, so Wassily Kandinsky, Alexej Jawlensky, Albert Schweitzer, Hermann Hesse u. Else LaskerSchüler, ausdrücklich mit S.s Anliegen oder wurden wie der russ. Symbolist Andrej Belyj u. Christian Morgenstern zu erklärten Jüngern. Während sich die anthroposophische Sekundärliteratur zumeist darin erschöpft, das aufgrund seines allumfassenden Themenspektrums wie seines Umfangs beispiellose Werk von S. auszulegen, erlebt die Kritik angesichts des außerordentl. Erfolgs der Waldorfpädagogik seit den 1980er Jahren einen neuen Aufschwung. Noch Ende der 1960er Jahre wurden die Waldorfschulen in weiten Teilen Deutschlands als neuheidn. Hilfsschulen bekämpft, die Erweiterung des Unterrichts etwa um den ökolog. Gedanken

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bestenfalls belächelt. Nun wird von kirchl. u. wissenschaftl. Seite S.s Anspruch auf absolute Erkenntnis (»Fünftes Evangelium«, »AkashaChronik«) energisch bestritten. Auch wurden körperfeindl. Tendenzen u. S.s Abhängigkeit vom kulturkrit. Zeitgeist – einschließlich dessen deutschnationaler Voreingenommenheit – aufgedeckt. Weitere Werke: Ausgabe: Gesamtausg. Hg. R. S. Nachlaßverwaltung. Dornach 1955 ff. (= GA). Übersichtsbde. zur GA: Bd. 1: Bibliogr. Übersicht. Bd. 2: Sachwort- u. Namensregister der Inhaltsangaben. Bd. 3: Inhaltsangaben. – Einzeltitel: Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit. Weimar 1895 (GA 5). – Goethes Weltanschauung. Ebd. 1897 (GA 6). – Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? In: Lucifer-Gnosis. 1904 (GA 10). – Aus der Akasha-Chronik. In: Lucifer-Gnosis. 1904–1908 (GA 11). – Vier Mysteriendramen: Die Pforte der Einweihung – Die Prüfung der Seele – Der Hüter der Schwelle – Der Seelen Erwachen. 1910–13 (GA 14). – Anthroposophischer Seelenkalender. Wochensprüche. Bln. 1912 (GA 40). – Die Rätsel der Philo-Sophie. 2 Bde., ebd. 1914 (GA 18). – Die Kernpunkte der sozialen Frage [...]. Stgt. 1919 (GA 23). – Mein Lebensgang. Dornach. Bln. 1925 (GA 28). Literatur: Jakob Wilhelm Hauer: Werden u. Wesen der Anthroposophie. Stgt. 1922. – Carl Christian Bry: Verkappte Religionen. Kritik des kollektiven Wahns (1924). Mchn. 1979. – Johannes Hemleben: R. S. Reinb. 1963. – Erich Zimmer: R. S. als Architekt [...]. Stgt. 1971. – Der Lehrerkreis um R. S. in der ersten Waldorfschule 1919–25. Ebd. 2 1979. – Erika Beltle u. a. (Hg.): Erinnerungen an R. S. Ebd. 1979. – Christoph Lindenberg: R. S. In: Klassiker der Pädagogik. Hg. Hans Scheuerl. Bd. 2, ebd. 1979, S. 170–182. – Peter Ferger: R. S. u. seine Architektur. Köln 1981. – Achim Leschinsky: Waldorfschulen im Nationalsozialismus. In: Neue Slg. 23 (1983), S. 255–283. – Peter Brügge: Die Anthroposophen. Hbg. 1984. – Fritz Beckmannshagen: R. S. u. die Waldorfschulen. Wuppertal 1984. – Jan Badewien: Anthroposophie. Eine krit. Darstellung. Konstanz 1985. – Christoph Kirchner: Eine ›Weltanschauung‹ im Crescendo. Anthroposophie u. Waldorfpädagogik (kommentierte Bibliogr.). In: Buch u. Bibl. 37 (1985), S. 724–747. – Klaus Prange: Erziehung zur Anthroposophie. Darstellung u. Kritik der Waldorfpädagogik. Bad Heilbrunn 1985. – Frans Carlgren: Erziehung zur Freiheit. Stgt. 5 1986. – Heiner Ullrich: Waldorfpädagogik u. okkulte Weltanschauung. Weinheim 1986. – Adolf Köberle: Anthroposophie u. Christengemeinschaft

Steinfest [...]. In: Materialdienst der Evang. Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 51 (1988), S. 65–71. – C. Lindenberg: R. S. Eine Chronik. Stgt. 1988. – Jutta Hecker: R. S. in Weimar. Dornach 1988. – Andrej Belyj: Verwandeln des Lebens. Erinnerungen an R. S. Basel 31989. – Heiner Barz: Der Geist u. die Gesch. In: Neue Slg. 29 (1989), S. 395–402. – Ders.: Der Waldorfkindergarten. Weinheim 21990 (mit kommentierter Bibliogr.). – Fritz Bohnsack u. a. (Hg.): Erziehungwiss. u. Waldorfpädagogik. Ebd. 1990. – Christoph Lindenberg: R. S. mit Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1992. 9 2004. – Gerhard Wehr: R. S. zur Einf. Hbg. 1994. – C. Lindenberg: R. S. Eine Biogr. 2 Bde., Stgt. 1997. – Klaus Bannach: Anthroposophie u. Christentum. Eine systemat. Darstellung ihrer Beziehung mit Blick auf neuzeitl. Naturerfahrung. Gött. 1998. – Ted A. van Baarda (Hg.): Anthroposophie u. die Rassismus-Vorwürfe. Der Ber. der niederländ. Untersuchungskommission »Anthroposophie u. die Frage der Rassen«. Ffm. 1998. – Helmut Zander: Anthroposophie in Dtschld. Theosophische Weltanschauung u. gesellschaftl. Praxis 1884–1945. Gött. 22007. – Helmer Ringgren: Anthroposophie. In: TRE. – H. Ullrich: R. U. Leben u. Lehre. Mchn. 2011. Heiner Barz / Red.

Steinfest, Heinrich, * 10.4.1961 Albury/ Australien. – Verfasser von Kriminalromanen u. Erzählungen, bildender Künstler. S. wuchs in Wien auf, lebte u. arbeitete dort bis zu seinem Umzug nach Stuttgart Ende der 1990er Jahre. Seine Wohnorte Wien u. Stuttgart sind zumeist auch die Schauplätze seiner Romane, in denen er kulturelle Stereotype ironisierend aufgreift, die beiden Städte in kulturgeschichtl. Bezügen beschreibt u. zeitgenöss. Fälle polit. Korruption sarkastisch kommentiert (Das Ein-Mann-Komplott. Wien 1996. Cheng. Ein rabenschwarzer Wien-Roman. Mchn. 1999. Wo die Löwen weinen. Stgt. 2011); überdies dient ihm mehrfach die österr. Provinz als Sujet (Nervöse Fische. Mchn./Zürich 2003. Mariaschwarz. Ebd. 2008). S. spielt in grotesken Überzeichnungen mit Gattungskonventionen, etwa mit dem Typus des Serienmörders (Ein sturer Hund. Ebd. 2003) oder Figuren des Agententhrillers (Der Nachmittag des Pornographen. Roman zwischen Schnecken und Katholizismus. Wien 1997. Ein sturer Hund). Er integriert Elemente der Science-Fiction (Ge-

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witter über Pluto. Mchn./Zürich 2009) ebenso Peter Nusser: Der Kriminalroman. Stgt. 42009. – wie Überlegungen zu Wittgenstein (Nervöse Evelyne Polt-Heinzl: Starke Frauen. H. S.s ChengFische), Egon Schiele (Das Ein-Mann-Komplott), Romane. In: LuK 42 (2007), H. 417/418, S. 69–73. Nele Hoffmann dem Golem-Stoff (Ein dickes Fell. Ebd. 2006) oder dem antiken Mechanismus von Antikythera (Wo die Löwen weinen) in die Handlung. Steinheim, Salomon Ludwig, * 6.8.1789 S. konterkariert mit seinen ausführl. BeBruchhausen/Westfalen, † 19.5.1866 Züschreibungen von Personen, Orten u. Interich; Grabstätte: Altona, Jüdischer Friedrieurs sowie der Thematisierung verschiehof. – Arzt; Religionsphilosoph, Publidenster kulturgeschichtl. Zusammenhänge zist, Epiker, Erzähler, Lyriker. die Konvention eines stringenten Krimiplots; er folgt einem narrativen »Konzept der Ab- S. ließ sich 1813 als prakt. Arzt in Altona schweifung« (Ein Detail am Rande, S. 13). S. nieder. Seine Erfahrungen als Armenarzt der problematisiert spielerisch den referentiellen dortigen jüd. Gemeinde ließen den Freund Status von Literatur in Vor- u. Nachbemer- Riessers zum Kämpfer für die Emanzipation kungen, die Faktentreue bekunden oder ver- der Juden werden (so in zahlreichen Artikeln neinen, u. stellt in intertextuellen Verweisen 1833–1845, u. a. in Gutzkows »Telegraph für die Glaubwürdigkeit des Erzählten in Zweifel Deutschland«). Jüdische Themen behandeln (in Ein dickes Fell wird das Ende von Cheng auch S.s Lyrik u. Romane; obwohl in seinem revidiert). In der Literaturkritik (vgl. die li- Haus Vertreter des Jungen Deutschland verteraturkrit. Bibliografien bei Walter u. Karr) kehrten, blieb S.s Stil dem biedermeierl. Ideal wird S. mit österr. Autoren wie Wolf Haas u. einer universalen Rhetorik verpflichtet. Das Thomas Bernhard verglichen; bei Nusser umfangreiche Epos Sinai. Gesänge von Obadjah (S. 157 f.) wird er kursorisch in einem Exkurs dem Sohne Amos (Altona 1828) verstand sich als über Schwarzen Humor im zeitgenöss. Kri- Erneuerung der Tradition im Rahmen jüd. Belletristik, ebenso die Gesänge aus der Verminalroman erwähnt. Weitere Werke: Brunswiks Lösung. Von En- bannung (ebd. 1829). S. lebte seit 1845 in Itageln, Nachtwächtern u. a. Sterblichen. Köln 1995 lien, wo das Romanmanuskript Herr Elias (E.). – Westons Reise ins Ende der Welt. In: Be- Windler und seine Neffen entstand. Hier wird gegnung im Keller. Kurze Gesch.n zum Thema das Genre des »Reisebilds« von S. als Folie Angst. Hg. Gisela Haehnel u. Winfried Fuegen. benutzt, vor der er seine »Theologie der OfKöln 1996. – Der Mond Beuschl. In: Paßwort Ir- fenbarung« darlegt. renhaus. Hg. Josef K. Uhl. Wien 1996. – Gehen, Nach S. ist das im April 1986 gegründete Schießen, Liegen. In: Pistole & Würde. Prosa, Lyrik, Salomon Ludwig Steinheim-Institut für Szenen & Ess.s. Texte zum 6. Würth Literaturpreis. Hg. Andrzej Szczypiorski. Tüb. 1999, S. 29–40. – deutsch-jüdische Geschichte e. V. benannt, To(r)tengräber. Ein rabenschwarzer Roman. Köln das seit Mai 2011 im ehemaligen Rabbiner2000. – Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte. haus Essen angesiedelt ist. Köln 2001. – Doppelter Tod u. einfaches Leben. In: ersatzlos gestrichen. ausgewählte kurzkrimis des alfred gesswein-preises 2001. Zusammenstellung durch die Jury: Nils Jensen, Edith Kneifl, Alfred Komarek. St. Pölten 2001. – Der Umfang der Hölle. Mchn. 2005. – Die feine Nase der Lilli Steinbeck. Mchn./Zürich 2007. – Gebrauchsanweisung für Österr. Ebd. 2008. – Batmans Schönheit. Chengs letzter Fall. Ebd. 2010. – Ein Detail am Rande. In: Marbacher Magazin 129. Randzeichnungen. Nebenwege des Schreibens. Marbach 2010, S. 11–63. Literatur: H. P. Karr: Lexikon der dt. KrimiAutoren. http://www.krimilexikon.de. – Lexikon der Kriminallit. Autoren, Werke, Themen/Aspekte. Hg. Klaus-Peter Walter. Meitingen 1993–2010. –

Weitere Werke: Die Offenbarung nach dem Lehrbegriffe der Synagoge. Bd. 1. Ffm. 1835. Bde. 2 u. 3. Lpz. 1856 u. 1863. Bd. 4. Altona 1865. Nachdr. Hildesh. u. a. 1986. – Die Zerstörung Jerusalems. Oratorium. Musik v. Ferdinand Hiller op. 24. Lpz. 1844. – S. L. S. u. Johanna Steinheim: Briefe. Hg. Jutta Dick u. Julius H. Schoeps. Hildesh. 1996. Literatur: Hans-Joachim Schoeps (Hg.): S. L. S. zum Gedenken. Leiden 1966. Neudr. Hildesh. 1987. – Julius H. Schoeps u. a. (Hg.): ›Philo des 19. Jh.‹. Studien zu S. L. S. Hildesh./New York 1993. – Westf. Autorenlex. 1. – Hartmut Steinecke: S. L. S. (1789–1866) – eine der ›literar. Notabilitäten‹ des Vormärz. In: Jüd. Lit. in Westfalen. Hg. H. Steinecke u. a. Bielef. 2002, S. 69–88. – Aharon Shear-

225 Yashuv: Die Stellung des S. L. S. zum Christentum. In: Die Entdeckung des Christentums in der Wiss. des Judentums. Hg. Görge K. Hasselhoff. Bln./New York 2010, S. 197–212. Jutta Dick / Red.

Steinherr, Ludwig, * 17.5.1962 München. – Lyriker, Philosoph. Schon während seiner Schulzeit erschienen erste Gedichte von S. in Zeitschriften u. Anthologien; der Text Sage aus seinem ersten Lyrikband Fluganweisung (Mchn. 1985), den Heinz Piontek als Herausgeber verantwortete, wurde 1987 von der Autoreninitiative Köln zum »Gedicht des Jahres« gewählt. S. studierte Philosophie, Psychologie u. Pädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität u. der Hochschule für Philosophie in München. Seine Dissertation »Holismus, Existenz und Identität«. Ein systematischer Vergleich zwischen Quine und Hegel (St. Ottilien 1995) wurde 1996 mit dem Alfred-Delp-Preis des Rottendorf-Projekts ausgezeichnet. Zusammen mit Anton G. Leitner begründete S. 1992 die Zeitschrift »Das Gedicht«, zog sich aber bald von der Herausgeberschaft zurück. Heute lebt er als freier Schriftsteller, der gelegentlich an der Universität Eichstätt lehrt, mit seiner Frau u. zwei Kindern in München. S. ist ein Dichter des Lichts u. des Moments – in der doppelten Bedeutung als ›AugenBlick‹ u. ›momentum‹, d.h. bewegende Kraft, Anstoß, Auslöser. Am Gesichtssinn – dem wichtigsten Wahrnehmungsorgan seiner Texte – schleift er seine Gedichte zu prägnanten Phänomenologien, denen rare, starke Adjektive Plastizität verleihen. Viele seiner Gedichte sind zentriert um das EntscheidendUnwiederbringliche dieser Augenblicke. Und da er – seinem philosophischen Lehrer Béla Weissmahr folgend – sein Schaffen auch poetologisch als ›Selbstüberbietung im einzelnen kreativen Moment‹ konzipiert, zielt sein Œuvre v. a. auf eine in jedem Einzelgedicht aufs Äußerste geschärfte Wahrnehmung für das jeweilig epiphanische »Jetzt«. Dabei lebt seine Lyrik aus einer christl. Grundhaltung, die allerdings nie missionarisch ausgeflaggt wird, sondern vielmehr zu subtilen, unorthodoxen Hinterfragungen oder Imaginationen Stoff gibt: wenn etwa

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Erzengel sich in die Schönheit einer Pennerin verlieben oder Gott der Welt so machtlos gegenübersteht wie der Zuschauer eines Gewaltvideos. Auch das Licht, im Christentum eine Erscheinungsform Gottes, bleibt uneindeutig: Es ist Sucht- u. Rauschmittel für das lyr. Ich, es kann »den Verstand verlieren« oder lässt sich als Vorhang an einer »Falte« vor dem Jenseits zur Seite ziehen, u. es kann trügerisch sein: »Jenes Licht / von dem Du nur weißt: / es ist / kein Licht« (Kometenjagd. Gedichte. Mchn. 2009, S. 109) Das Themenspektrum dieses philosophischen poeta doctus reicht von konturensicher kalligraphierten Natur- oder Alltagsimpressionen über innige Liebesbekenntnisse an seine Frau zu vielen Beschäftigungen mit Gemälden (Botticelli, Breughel, Renoir, Vermeer etc.) u. facettenreichen Reflexionen über Philosophie, Literatur oder Film (Heraklit, Descartes, F. zu Reventlow, aber auch Laurel & Hardy). Zahlreich sind v. a. die Auseinandersetzungen mit dem Sterben geliebter Menschen sowie mit Leid u. Grauen: Folterungen, Inquisition, Krieg oder der Apokalypse. Seit Hinter den Worten die Brandung (Mchn. 2003) u. Vor aller Zeit (Hauzenberg 2004) wenden sich seine Gedichte auch immer wieder anrührend eindringlich seinen Kindern zu. Formal bevorzugt S. – abgesehen von einigen virtuosen Ghaselen des Frühwerks – kurze, reimlose Verse. Deren innere Dynamik treibt die Leserwahrnehmung oftmals auf eine gedichtbeschließende Pointe hin, von der eine rückwirkend verunsichernde u. den Text ins Ungesagte öffnende Wirkung ausgeht. S. erhielt 1991 den Staatlichen Förderpreis für Literatur, 1993 den Leonce-und-LenaFörderpreis, 1999 den Buchpreis des Deutschen Verbandes Evangelischer Büchereien u. 1999 den Hermann-Hesse-Förderpreis; seit 1993 ist er Mitgl. der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Weitere Werke: Unsre Gespräche bis in den Morgen. Eisingen 1991 (L.). – Vor der Erfindung des Paradieses. Eisingen 1993 (L.). – Buchstäbliches Blau. Mchn. 1994 (L.). – Erste Blicke, letzte Blicke. Eisingen 1996 (L). – Musikstunde bei Vermeer. Eisingen 1998. Neuaufl. Mchn. 2004 (L.). – Fresko,

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vielfach übermalt. Mchn. 2002 (L.). – Die Hand im Feuer. Mchn. 2005 (L.). – Von Stirn zu Gestirn. Mchn. 2007. – Belladonna. In: Umkreisungen. 25 Auskünfte zum Gedicht. Hg. Jürgen Brôcan u. Jan Kuhlbrodt. Lpz. 2010, S. 29–35 (poetolog. E.). Literatur: buk: ›Hinter den Worten die Brandung‹ in Prägnanz u. Kürze. In: Stuttgarter Zeitung, 23./24.8.2003. – W. Neumann: In Worten verkleide ich mich. In: ebd., 21.10.2005. – CarlWilhelm Macke: Unscheinbare Augenblicke. In: www.titel-magazin.de, 20.1.2008 (zu: ›Von Stirn zu Gestirn‹). – Wulf Segebrecht: Am silbrigen Pointenteich. In: FAZ, 25.6.2008. Pia-Elisabeth Leuschner

Steinhöfel, Andreas, * 14.1.1962 Battenberg. – Verfasser von Kinder- u. Jugendliteratur, Übersetzer.

Mitte der Welt (ebd. 1998) schildert S. an der Figur des seine Homosexualität entdeckenden Phil, wie Entwicklung sich auch außerhalb gesellschaftl. Normen u. Erwartungen vollziehen kann. Während Phil lernt, sein Selbstsein im Andersein zu verwirklichen, leidet der elfjährige Max, die Hauptfigur in dem fantastischen Roman Der mechanische Prinz (ebd. 2003), unter seiner Außenseiterrolle. Auf einer abenteuerl. Reise zu den Orten seines Unbewussten gelingt es dem Jungen, sich mit seiner Traurigkeit, seiner Wut u. seiner Sprachlosigkeit zu konfrontieren u. sie zu überwinden. S., dessen anspielungsreicher Schreibstil sich durch Spannung, Sprachwitz u. Skurrilität auszeichnet, gilt als einer der wichtigsten deutschsprachigen Kinder- u. Jugendliteraturautoren der Gegenwart. Für seine Werke erhielt er zahlreiche Preise u. Auszeichnungen, darunter den Erich Kästner Preis für Literatur (2009).

S. schrieb sein erstes Buch für Kinder während des Magisterexamens, mit dem er sein Studium der Anglistik, Amerikanistik u. Medienwissenschaft an der Universität Marburg abschloss: Dirk und ich (Hbg. 1991), eine Weitere Werke: Glatte Fläche. Hbg. 1993. Sammlung slapstickartiger Anekdoten in der Neuausg. u.d.T. Trügerische Stille. Mchn. 1998 Nachfolge der Lausbubengeschichte. Mit Paul (R.). – Es ist ein Elch entsprungen. Hbg. 1995 (E.; Vier und die Schröders (ebd. 1992; verfilmt verfilmt 2005). – O Patria Mia! Hbg. 1996 (E.). – 1994), seiner zweiten Veröffentlichung, fand David Tage, Mona Nächte (zus. mit Anja TuckerS. sein Thema: das Leben von Außenseitern u. mann). Hbg. 1999 (R.). – Defender. Geschichten aus der Mitte der Welt. Hbg. 2001 (E.en). – Froschmaul. Antihelden im selbstgewählten oder auferGeschichten. Hbg. 2006. – Rico, Oskar u. das zwungenen gesellschaftl. Abseits, das er un- Herzgebreche. Hbg. 2009 (R.). ter Kritik an Rollenkonformität u. GruppenLiteratur: Ulrike Bischof u. Horst Heidtmann: zwang mit Empathie u. Humor darstellt, wie Aus der Mitte der Welt oder Auf der Suche nach in den Episoden um die exzentr. Familie gelungener Kommunikation. Der Kinder- u. JuSchröder, die Glitzerkatze Pelegrine, die von gendbuchautor A. S. In: Beiträge Jugendlit. u. ihrem Besitzer verjagt wird, weil sie nicht Medien 52 (2000), H. 2, S. 82–91. – Klaus-Michael glitzert (Glitzerkatze und Stinkmaus. Ebd. Bogdal: Selbst sein u. doch anders. A. S.s Roman 1994), oder den ›tiefbegabten‹ Jungen Rico ›Die Mitte der Welt‹. In: Das Fremde u. das Andere. (Rico, Oskar und die Tieferschatten. Ebd. 2008). Interpretationen u. didakt. Analysen zeitgnöss. Eine soziale Randfigur ist auch der Klepto- Kinder- u. Jugendbücher. Hg. Petra Büker u. Clemane Olaf in dem in Berlin spielenden Krimi mens Kammler. Weinheim 2003, S. 217–233. – A. S. Erich Kästner Preis für Lit. Hbg. 2009. Beschützer der Diebe (ebd. 1994), der Motive aus Peter Langemeyer Erich Kästners Emil und die Detektive variiert. Am Ende hat der Junge nicht nur Freunde gefunden u. zur glückl. Lösung des KrimiSteinhöwel, Heinrich, * ca. 1411/12 Weil, nalfalls beigetragen, sondern sich auch mit † 1.3.1479 Ulm. – Frühhumanistischer seinem Fehlverhalten auseinandergesetzt. Autor, Übersetzer u. Herausgeber lateiUm Selbstfindung im Spannungsfeld zwinischer u. deutscher Werke. schen Anpassung u. Widerstand geht es in S.s Entwicklungsromanen, deren Bilder u. Mo- Der Ulmer Stadtarzt S. gehörte einem alten tive den Einfluss der Tiefenpsychologie C. G. ratsfähigen Geschlecht in Esslingen an; er Jungs verraten. In dem Adoleszenzroman Die studierte zunächst in Wien, dann in Padua,

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wo er 1443 den medizinischen Doktorgrad erwarb. Wie bei vielen humanistischen Autoren der ersten Generation wurde in Italien sein Interesse an den »studia humanitatis« geweckt. Nach Deutschland zurückgekehrt, erlaubte ihm seit 1450 seine gut dotierte Stellung als Ulmer Stadtarzt sich literarisch in vielfältiger Weise zu betätigen. Sein deutschsprachiges Œuvre zeichnet sich durch eine große Vielfalt an literar. Gattungen u. Stofftraditionen aus. S. greift nicht nur auf humanistische Texte zurück, sondern bestimmt, wie er im Vorwort zum Spiegel des menschlichen Lebens (Erstdruck: Augsb. 1475/ 76) mitteilt, sein literar. Programm stets danach, »ob etwaz nutzbars hochsynnigs vnd e gu8 tes in latinischer geschrift gesetzet ware. das in teutsche sprache zetransferieren [...] vnd das die teutschen der latine vnkúnnend e e sollicher gu8 theyt auch nit waren beraubet«. Neben einer medizinischen Schrift, dem Büchlein der Ordnung der Pestilenz (1446; Erstdruck: Ulm 1473), sind in seinem Werk mit dem Apollonius (1461; Erstdruck: Augsb. 1471) der hellenistische Prosaroman ebenso vertreten wie die Trecento-Literatur mit Petrarcas Griseldis (1461/62; Erstdruck: Augsb. 1471) u. Boccaccios De claris mulieribus (Erstdruck: Ulm 1473/74). Im lat.-dt. Aesop (Erstdruck: Ulm 1476) bearbeitet S. Leben u. Fabeln des griech. Dichters u. fügt der Sammlung eine Auswahl aus Poggios Fazetien hinzu. Auch der Ständeliteratur (Spiegel des menschlichen Lebens) u. der Chronistik (Tütsche Cronica; Erstdruck: Ulm 1473) hat sich S. gewidmet. Als verschollen gilt eine Chronik Herzog Gottfrieds (möglicherweise identisch mit der vierten dt. Fassung der Historia Hierosolymitana des Robertus Monachus; vgl. Barbara Haupt, VL 8, Sp. 115 ff.). Seine größten Erfolge erzielte S. mit seiner Griseldis, die bis 1500 bereits in zwölf Handschriften u. 14 Drucken tradiert wurde, u. seinem Aesop (15 Drucke, drei Handschriften); beide Werke wurden auch im 16. Jh. in zahlreichen Druckauflagen u. Bearbeitungen verbreitet. Die Änderungen, die S. in didakt. Wirkabsicht zuweilen an seinen lat. Quellen vornahm, rückt seine Übersetzungen noch teils in die Nähe der »spätmittelalterlichen Praxis des Um- und Weiterbildens« (Worstbrock).

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Wie viele Autoren des dt. Frühhumanismus erweist sich S. damit als typischer Vertreter des Übergangs, für den MA u. Renaissance noch keine Gegensätze, sondern ein lebendiges Geben u. Nehmen waren. Zum literar. Erfolg S.s trug ebenfalls sein Engagement für das neue Buchdruckergewerbe bei. So ermunterte er 1472 den jungen Johann Zainer, in Ulm eine eigene Druckerei zu eröffnen. S., der vermögend war u. über beträchtl. Grundbesitz vor den Toren Ulms verfügte, unterstützte Zainer beim Aufbau der Offizin u. trug offenbar auch einen Großteil der Kosten der von ihm initiierten Drucke. Neben seinen dt. Übersetzungen, die er zumeist in reich illustrierten Ausgaben auf den Markt bringen ließ, verlegte S. parallel hierzu auch lat. Werke. Bereits 1473 brachte er zusammen mit J. Zainer drei Schlüsseltexte des ital. Humanismus heraus: Petrarcas Epistolae seniles XI, 11, seine Historia Griseldis sowie Boccaccios De claris mulieribus. Der Ulmer Boccaccio ist die »editio princeps«, u. sie bleibt mit ihren herausragenden Holzschnitten die maßgebl. Ausgabe auf dem europ. Buchmarkt der Inkunabelzeit (P. Amelung). Vermutlich ebenfalls noch von S. veranlasst, ist die humanistische Programmschrift Leonardo Brunis, die Basileius-Übersetzung De legendis libris gentilium, die Zainer 1478 in Ulm druckte. Wie viele Humanisten brachte S. der Schrift des Basileius bes. Wertschätzung entgegen; hiervon zeugt seine Vorrede zum Aesop, die auf die »lere sancti Basilii« Bezug nimmt. Als lat. Herausgeber ließ S. – anders als in seinen Übersetzungen – strenge Werktreue gegenüber den »auctores« walten, was zeigt, dass S. offenbar sehr differenziert zwischen den literar. Interessen eines gelehrt-lat. u. an volksprachigen Texten interessierten Publikums zu unterscheiden wusste. S. deutschsprachige Publikum ist, wie die frühe handschriftl. Überlieferung bezeugt, zunächst in seinem persönl. Lebensumfeld zu suchen. Neben Angehörigen der städt. Oberschicht u. dem schwäb. Adel zählen hierzu auch die großen Fürstenhöfe, mit denen S. beruflich wie literarisch in Kontakt stand. So bezeugt Jacob Püterich (Klaus Grubmüller: Jakob Püterich von Reichertshausen ›Der Ehrenbrief‹. Mchn. 1999) eine Abschrift von

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S.s Griseldis bereits 1462 für die Bibliothek deutschland zentrale Werke des ital. Humader Pfalzgräfin Mechthild; ihr Sohn, der nismus durch den Buchdruck verbreitete. spätere Herzog von Württemburg, Eberhard Hierin liegt neben seiner Übersetzertätigkeit im Barte besaß 1474 die Tütsche Cronica in ei- eine wesentl. Leistung S.s für die Ausbreitung nem Exemplar des Ulmer Drucks. Der Kon- des Humanismus in Deutschland. takt mag bereits 1454 hergestellt worden Ausgaben: Aesop. Hg. Hermann Oesterley. Tüb. sein, als S. als Leibarzt des burgundischen 1873. – De claris mulieribus‹. Hg. Karl Drescher. Herzogs Philipp des Guten zunächst zum Tüb. 1895. – Ursula Hess: H. S.s ›Griseldis‹. Mchn Stuttgarter Hof Graf Ulrichs u. seiner Ge- 1975. – Tina Terrahe: H. S.s ›Apollonius‹ (in Vorb.). mahlin Margarethe von Savoyen u. dann nach – Faksimiles: ›Büchlein der Pestilenz‹. In: Arnold Rottenburg, zum Hof Mechthilds von der Carl Klebs u. Karl Sudhoff: Die ersten gedruckten Pestschriften. Mchn. 1926. – ›Appollonius von TyPfalz, reiste, um schließlich den Herzog noch rus. Griseldis. Lucidarius‹. Hildesh. u.a. 1975. – H. zum berühmten Freiburger Hoffest Erzher- S. ›Aesopus: Vita et Fabulae‹. Ulm 1476. Faks. u. zog Albrechts VI. von Österreich, Mechthilds Komm. v. Peter Amelung. Graz 1992. zweitem Gemahl, zu begleiten. Verbunden Literatur: Peter Amelung: Der Frühdruck im bleibt S. auch später zumindest dem Stutt- dt. Südwesten 1473–1500. Bd. 1, Stgt. 1979. – Irene garter Hof, an dem seit 1469 als 2. Kanzler Hänsch: H. S.s Übersetzungskomm. in ›De claris auch der frühhumanistische Übersetzer Nik- mulieribus‹ u. ›Äsop‹. Göpp. 1981. – Christa Berlas von Wyle wirkte. So ist uns ein Brief S.s an telsmeier-Kierst: ›Griseldis‹ in Dtschld. Heidelb. Margarethe von Savoyen aus dem Jahre 1474 1988. – Gerd Dicke: Neue u. alte biogr. Bezeuerhalten, dessen freundschaftlich-vertrauter gungen H. S.s. In: ZfdA 120 (1991), S. 156–184. – Ton auf engere persönl. wie berufl. Bezie- Nikolaus Henkel: H. S. In: Dt. Dichter der frühen hungen zur gräfl. Familie schließen lässt. Neuzeit (1450–1600). Hg. Stephan Füssel. Bln. 1993, S. 51–70. – G. Dicke: H. S.s ›Esopus‹ u. seine Darüber hinaus sind seine großen ÜbersetFortsetzer. Tüb. 1994. – Ders.: H. S. In: VL u. VL zungen der siebziger Jahre, Boccaccios Er- (Nachträge u. Korrekturen). – C. Bertelsmeier-Kilauchte Frauen, der Spiegel des menschlichen Le- erst: Übersetzungslit. im Umkreis des dt. Frühhubens u. sein Aesop durch ihre Dedikationen alle manismus. In: Wolfram-Studien XIV (1996), mit dem Innsbrucker Hof Sigmunds von Ti- S. 323–343. – Dies.: Wer rezipiert Boccaccio? In: rol u. seiner Gemahlin Eleonore von Schott- ZfdA 127 (1998), S. 410–426. – Kristina Domanski: land verbunden. Nach allem, was wir über die Lesarten des Ruhms. J. Zainers HolzschnittillusLiteraturinteressen dieses adligen Publikums trationen zu G. Boccaccios ›De claris mulieribus‹. wissen, orientierte es sich in seinem literar. Köln 2007. – C. Bertelsmeier-Kierst: S.s. ›Griseldis‹ Geschmack an der französisch-burgundi- im Kontext der europ. Hofkultur des 15. Jh. In: Die dt. Griselda. Hg. Achim Aurnhammer, Hans-Joschen Hofkultur. Hierzu zählte besonders der chen Schiewer. Bln./New York 2010, S. 73–92. – frz. Prosaroman, aber auch Werke Petrarcas u. Marburger Repertorium zur Übersetzungslit. im Boccaccios konnten mit einer breiten Akzep- dt. Frühhumanismus (digital): http://mrfh.de/ tanz rechnen, wurden sie hier doch schon seit 0035. Christa Bertelsmeier-Kierst dem frühen 15. Jh. breit rezipiert. In gelehrt-humanistischen Kreisen fanden S.s Übersetzungen hingegen nur hie u. da Steinke, Udo, * 2.5.1942 L/ ódz´, † 12.10. Aufnahme. Zwar besaß z.B. der Frühhuma1999 München. – Erzähler, Essayist. nist Hartmann Schedel je einen Druck von S.s Griseldis u. Apollonius, die »libri vulgares in Der Sohn deutschsprachiger Eltern, die 1947 lingua theotonica« bilden hier jedoch nur nach Deutschland übersiedelten, wuchs in »verschwindend kleine Appendices« (U. der Nähe von Leipzig auf, wo er nach SchulHess). Den Frühhumanisten ging es in erster ausbildung u. Studium Verlagslektor wurde. Linie um die lat. Werke antiker u. humanis- Während einer Dienstreise setzte sich S. Ende tischer Autoren, deren stilistische Eleganz sie 1968 in die BR Deutschland ab u. ließ sich in bewunderten u. nachahmten. Diesem Publi- München nieder, wo er zunächst in einer kumsbedürfnis trug S. als lat. Herausgeber Autofabrik, dann als Musikredakteur u. Rechnung, indem er als erster in Süd- schließlich als Chefredakteur einer Lehrer-

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zeitung arbeitete, bis er sich als freier Schriftsteller in Husum niederließ. Nach dem von Böll gerühmten Erzählband Ich kannte Talmann (Mchn. 1980), dessen Titelgeschichte S.s Begegnung mit dem letzten Dampflokomotivführer der DDR schildert, veröffentlichte S. 1981 seinen ersten Roman, Die Buggenraths (ebd.). In zyn. Ton u. mit ständigen Seitenhieben auf die Neue Innerlichkeit entfaltete S. ein Panorama der Bundesrepublik der 1950er Jahre, in der sich die ehemaligen Nationalsozialisten schon wieder eingerichtet haben. Sein bei allem Sprachwitz in seiner epischen Qualität beschränkter Zynismus prägt auch den Roman Horsky Leo oder Die Dankbarkeit der Mörder (Ffm. 1982), dessen Held, ein jüd. Masseur, den Holocaust nur überlebte dank seiner Fingerfertigkeit, mit der er die Blessuren der SS-Offiziere kurierte. Trotz seiner DDR-Idealisierung überzeugend ist S.s weitgehend in Form des inneren Monologs gehaltene Romanze Mannsräuschlein (ebd. 1985), die verehrende Erinnerung an die ehemaligen Geliebten in beiden dt. Staaten. Sie mündet in einen Hymnus auf eine Frau in der DDR, auf ihren fern aller fantasielosen Konsumgier des Westens geprägten Charakter, in dem S. einen Schimmer der Hoffnung für die Menschheit in düsterer Zeit erblickt.

raturinstitut in Leipzig. Danach war er freischaffend tätig. Die Erlebnisse in Leuna bestimmten seine literar. Arbeiten. Am erfolgreichsten war der autobiogr., den »Leuna-Arbeitern« gewidmete Roman Die größere Liebe (Bln./DDR 1959). Thema ist die schwere Arbeit in einem Chemiewerk. Träume und Tage (Halle 1970) beschreibt den Weg des Arbeiters Georg Börner zum Wissenschaftler u. Forscher, zeigt Konflikte zwischen neuen wissenschaftl. Erkenntnissen u. einem schwerfällig reagierenden Berufsalltag. Dieser Roman wurde als »ein Gesellschaftsroman im besten Sinne« (Werner Bräunig) bezeichnet. Im Roman Zwei Schritte vor dem Glück (ebd. 1978) beschäftigt sich S. mit Problemen der Bewohner der Neubaustadt Halle-Neustadt. In den 1980er Jahren veröffentlichte er v. a. Städtebilder, darunter Merseburg (zus. mit Gerald Große. Lpz. 1980) u. Quedlinburg (zus. mit Karl-Heinz Böhle. Ebd. 1988). S., der sich selbst als einen »spätbürgerlichen Schriftsteller« bezeichnete, konnte seinen großen Roman Der Becher des Lebens, aus dem bisher nur Teile veröffentlicht wurden, nicht vollenden. Er erhielt den Literaturpreis des FDGB (1960), den Kunstpreis Halle-Neustadt (1969 u. 1971) u. den Händel-Preis (1979).

Weitere Werke: Doppeldeutsch. Mchn. 1984 (E.en). – Bauernfangen. Ebd. 1986 (R.). – Geheimnisse der Buchsucht. Drelsdorf 2000. Literatur: Isabel Grübel: U. S. In: LGL.

Weitere Werke: Brücke ins Leben. Halle 1953 (E.en.). – Die Fremde. Halle 1959 (R.). – Über die Grenze. Bln./DDR 1963 (N.). – Stimmen der Jahre. Ebd. 1963 (E.). – Analyse H – Weg eines Chemikers. Ebd. 1968. – Zwei an der Saale (zus. mit Gerald Große). Lpz. 1979. – Lutherstadt Eisleben (zus. mit Eberhard Klöppel). Ebd. 1983. – Ohne Märchen wird keiner groß (zus. mit Rainer Bär). Bln./DDR 1975 (Fernsehfilm). – Erlebtes – Erfahrenes – Ungedrucktes. Halle 1998.

Michael Geiger / Red.

Steinmann, Hans-Jürgen, * 4.9.1929 Sagan/Niederschlesien (heute: Zagan´/Polen), † 22.9.2008 Halle/Saale; Grabstätte: ebd., Gertraudenfriedhof. – Romancier, Erzähler, Publizist.

Literatur: Rüdiger Bernhardt: Erfüllte Träume – hier u. heute. In: NDL 27 (1979), H. 9, S. 150–156 (zu ›Zwei Schritte vor dem Glück‹). – H.-J. S. In: Lit. im Bezirk Halle. Halle 1989. Rüdiger Bernhardt

S., Sohn eines Diplomingenieurs u. einer Schriftstellerin, besuchte die Oberschule am Zwinger in Breslau u. geriet als LuftwaffenSteinmar. – Lyriker, zweite Hälfte 13. Jh. helfer in den Kämpfen des zur Festung erklärten Breslau in Gefangenschaft. 1947 ent- Der Name ›Steinmar‹ begegnet nicht nur als lassen, wurde er Chemiearbeiter in Leuna Ordnungskategorie in der Großen Heidelberger (1948–1950), war dann Redaktionsvolontär Liederhandschrift, sondern ist auch als Selbstder »Freiheit« in Halle, Weißenfels u. Wit- nennung in drei Liedern zu finden (z.B. in tenberg, arbeitete seit 1951 beim Kulturbund Lied 7 Str. V., wo die Ich-Perspektive unverin Schwerin u. studierte 1958–1961 am Lite- mittelt durchbrochen wird durch eine

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Selbstapostrophe des Dichters: »Steinmar, hoehe dînen muot«). Eine eindeutige histor. Verortung des Dichters ist bisher nicht gelungen. Basierend auf einem Indizienpuzzle (einige wenige in S.s Liedern eingestreute Realismen) wird der Dichter in der Forschung mit Berthold Steinmar von Klingnau identifiziert, der zwischen 1251 u. 1293 urkundet. Sein lyr. Werk setzt zwingend eine reiche Minnesang-Tradition voraus (Walther von der Vogelweide, Gottfried von Neifen, Tannhäuser, Ulrich von Winterstetten u. a.), sodass auch aus diesem Grunde eine zeitl. Verortung ins spätere 13. Jh. zu erfolgen hat. S.s überliefertes Werk umfasst 14 Lieder (51 Strophen; freigelassener Raum in der Handschrift deutet darauf hin, dass ihm noch weitere Strophen/Lieder zugesprochen wurden), die ausschließlich in der Großen Heidelberger Liederhandschrift tradiert sind. Die dort den Texten vorangestellte Miniatur drückt bereits einen Grundtenor von S.s Schaffen aus: Wir sehen eine fröhl. Gruppe bei Speis u. Trank im Freien. Die Szenerie verweist auf Motive in Lied 1. Hier wie in noch manch anderen Liedern macht sich ein parodistischer, humorvoller Umgang mit der langen Tradition des Minnesangs bemerkbar. S. kennt sich mit dem Form- u. Motivinventar bestens aus u. vermag es (deutlich kreativer als viele andere ›nachklassische‹ Lyriker), mit diesem Inventar neue künstlerische Akzente zu setzen. Die 14 überlieferten Lieder lassen sich mehreren Grundtypen zuordnen. Eine erste Gruppe wird durch sog. ›Herbstlieder‹ gebildet. In diesen Liedern wird die stereotype Verherrlichung des Frühlings/Sommers übertragen auf den sonst negativ konnotierten Herbst/Winter. S. wertet die späten Jahreszeiten dadurch um, dass er sie zu Zeiten des (hemmungslosen) Schlemmens macht bzw. erot. Abenteuer in der ›Stube‹ imaginiert (Ansätze zu solcher Umdeutung finden sich schon bei Walther von der Vogelweide). Von der Forschung bes. beachtet sind S.s ›Tagelied‹-Parodien. Hier transponiert er einzelne Versatzstücke der traditionellen Liedgattung aus dem Bereich des Höfischen in den des Bäuerlichen. Die sexuelle Vereinigung von Mann u. Frau findet nicht mehr in

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der höf. »kemenate« (Schlafzimmer) statt, sondern in der Scheune auf Strohballen. In ähnl. Weise konterkariert S. den Liedtypus ›Klagelied‹, der wesentl. Bestandteil des sog. ›Hohen Minnesangs‹ ist. Während dort der singende Mann die Aussichtslosigkeit seines ideellen Werbens um eine höf. Dame beklagt, bejammert bei S. der Mann den Umstand, dass die Frau ihn nicht ohne entsprechende Entlohnungen auf ihren Strohsack lässt (Lied 11). Nur selten sind seine Darstellungen ohne parodistischen Unterton; so gibt sich Lied 2 ganz traditionell (überschwängl. Frauenpreis), u. auch Lied 3 reiht sich noch gut in den Typus des Mai-Preises ein, wenn auch dort bereits das klass. Schema durch das Einflechten von topografischen Realismen (Wien) durchbrochen wird. Außergewöhnlich ist ferner, dass S. in Lied 12, Str. IV eine »vart« des Königs nach Meißen thematisiert. Auch durch diesen Realismus wird die lyr. Kunstgattung ›Naturlied‹ aufgebrochen bzw. ihr konstruierter Charakter entlarvt. S. beherrscht virtuos die Strophenform der Kanzone; häufig erweitert er die Liedtektonik durch den Einsatz von Refrains. Letztere dürften Signal sein für eine (kollektive) sangl. Performanz. S.s Sprache verrät gute Kenntnis des traditionellen Minnesangs. Er erweitert das Lexikon aber durch eine Reihe von Wörtern, die den sonst ›höfischen‹ Stil sprengen u. dadurch für parodistische Effekte sorgen (z.B. Wörter aus dem ›bäuerlichen‹ Alltag wie »gense«, »swîn«, »strô«, »stube« oder Wörter wie »apotêke«, »arzât«, »bier«). So beschreibt er eine innere Hochgestimmtheit (in früherer Zeit als ›hoher muot‹ bezeichnet) recht drastisch über die Metapher eines in einem Sack zappelnden Schweines (welches für das Herz des liebenden Mannes steht). Ausgaben: Max Schiendorfer (Hg.): Die Schweizer Minnesänger. Bd. 1: Texte. Tüb. 1990, S. 280–297. – Burghart Wachinger (Hg., übers. u. komm.): Dt. Lyrik des späten MA. Ffm. 2006, S. 322–341, 797–806. Literatur: Diether Krywalski: Untersuchung zu Leben u. literaturgeschichtl. Stellung des Minnesängers S. Diss. Mchn. 1966. – Eckhard Grunewald: Die Zecher- u. Schlemmerlit. des dt. SpätMA.

231 Diss. Köln 1976, S. 61–67. – Karl Heinz Borck: Zu S.s Tageliedparodie ›Ein kneht der lac verborgene‹. In: Interpr. u. Ed. dt. Texte des MA. FS John Asher. Hg. Kathryn Smits u. a. Bln. 1981, S. 92–102. – Ursula Peters: Lit. in der Stadt. Tüb. 1983, S. 97–114. – Gesine Lübben: ›Ich singe daz wir alle werden vol‹. Das Steinmar-Œuvre in der Maness. Liederhs. Stgt. 1994. – Ingeborg Glier: S. In: VL. – Peter Strohschneider: The Body of the Singer. Sensory Perception and the Production of Meaning in S.’s Song of Singing. In: MLN 121 (2006), H. 3, S. 740–756. Thomas Bein

Steinmetz, Bartholomeus, auch: B. Latomus, * 1500 Arlon, † 3.1.1570 Koblenz. – Humanist, katholischer Kontroverstheologe.

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schriften mit Bucer profilierte sich S. als entschiedener Verfechter der alten Lehre. Weitere Werke: Nenia in obitum divi Maximiliani Caesaris. Straßb. 1519. – Epistola Austriae ad Carolum Imp. fictitia. Straßb. 1521. – Summa totius rationis disserendi [...]. Köln 1527. – Artificium dialecticum et rhetoricum [...]. Köln 1529. – Kommentare zu Cicero, Vergil, Terenz, Tacitus. Ausgaben: Zwei Streitschriften gegen Martin Bucer (1543–1545). Hg. Leonhard Keil. Münster 1924. – Deux discours inauguraux. Lat./franz. Hg. Louis Bakelants. Brüssel 1951 (Oratio de studiis humanitatis u. Oratio de peregrinatione mea). – Humanistica Luxemburgensia. La ›Bombarda‹ [1539] de Barthélemy Latomus, les ›Opuscula‹ de Conrad Vecerius. Hg., übers. u. komm. v. Myriam Melchior u. Claude Loutsch. Brüssel 2009, S. 7–94. – Internet-Ed. mehrerer Werke in: VD 16. Literatur: Bibliografien: Klaiber, S. 166–168. –

Zwei Faktoren bestimmten das polit. u. lite- VD 16. – Weitere Titel: Franz Xaver Kraus: B. Latorar. Wirken des aus einer luxemburgischen mus. In: ADB. – Eduard Wolff: Un humaniste Luème Handwerkerfamilie stammenden S.: Er blieb xembourgeois au 16 siècle. Luxemburg 1902. – Ellinger, Bd. 1, S. 400 f. – Benedikt Caspar: Das bei aller Kritik an kirchl. Missständen ein Erzbistum Trier im Zeitalter der Glaubensspaltreuer Anhänger der kath. Kirche, insbes. der tung. Münster 1966. – William Stanton Barron: Trierer Erzbischöfe, die ihn früh finanziell The controversy between Martin Bucer and Barunterstützt hatten, u. er nahm als Student, tholomew Latomus. Diss. Washington 1966. – dann als Universitätslehrer in Freiburg die Hans Wolter. Der Stiftsdechant v. St. Bartholomäus Gedanken eines Erasmus, Celtis u. Zasius J. S., genannt Latomus, als Förderer der kath. Rebereitwillig auf. Zeitlebens bemühte sich S. form in Frankfurt am Main. In: Reformatio eccleum die Vermittlung von kath. Theologie u. siae [...]. FS Erwin Iserloh. Hg. Remigius Bäumer. humanistischen Ideen u. legte so zusammen Paderb. u. a. 1980, S. 355–366. Gerhard Wolf / Red. mit den anderen vortridentin. Kontroverstheologen eine wichtige geistige Basis für die Erneuerung der kath. Kirche. Steinmüller, Angela, * 15.4.1941 SchmalMit 21 Jahren »professor bonarum litera- kalden. rum apud Treveros«, erlebte S. Sickingens Steinmüller, Karlheinz, * 4.11.1950 Fehde gegen Kurfürst Richard von GreiffenKlingenthal. – Science-Fiction-Autoren. klau, dessen Sieg er in den 1100 lat. Hexametern der ›Factio Sickingiana‹ (Factio memo- K. S., der zusammen mit seiner Frau A. S. zu rabilis Francisci ab Siccingen cum Trevirorum ob- den bedeutendsten Science-Fiction-Autoren sidione tum exitus eiusdem. Köln 1523. Internet- der DDR gehört, veröffentlichte 1977 seine Ed. in: VD 16) feiert. Im Vordergrund stehen erste Science-Fiction-Kurzgeschichte, Alle die Verherrlichung Richards u. die Frage nach Flüche der Welt (in: Neues Leben 24). Vor allem den Fehdeursachen, wobei S. der luth. Lehre die antiutop. Erzählung Der Traum vom Großen die Hauptschuld gibt. Roten Fleck (Ffm. 1985. Zuerst in: Der letzte Tag 1526 verließ S. Trier wegen des Nieder- auf der Venus. Bln./DDR 1979) wurde häufig gangs der Universität, lehrte u. a. in Löwen u. nachgedruckt. Von angloamerikan. VorbilParis u. besuchte ital. Hochschulen. 1542 dern beeinflusst, nehmen die formal vielseischlug er, seit 1541 kurfürstl. Hofrat, Bucers tigen Erzählungen manche Entwicklungen Bitte ab, sich für die Reformation des Trierer vorweg: Duell der Tiger kann als Vorläufer des Kurfürstentums einzusetzen. Insbesondere »Cyberpunk« gelten. Seit 1982 freier in dem anschließenden Wechsel von Streit- Schriftsteller, wurde K. S. nach dem Ende der

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Literatur: Erik Simon u. Olaf R. Spittel (Hg.): DDR als Zukunftsforscher bekannt. Er arbeitete ab 1991 am SFZ, dem Sekretariat für Die Science-fiction der DDR. Bln./DDR 1988, Zukunftsfragen in Gelsenkirchen, ist seit S. 243–251, 327–329. Franz Rottensteiner 1997 Gesellschafter von Z_punkt – The Foresigh Company u. veröffentlichte zahlSteinsberg, Karl Franz Guolfinger Ritter reiche Bücher über Futurologie (Visionen 1900 von, * 1757 Prag (?), † 1817 (oder 1833) 2000 2100. Eine Chronik der Zukunft. Hbg. 1999. Moskau. – Dramatiker, Publizist, RoUngezähmte Zukunft. Mchn. 2003. Neuausg. mancier. u. d. T. Wild Cards. Wenn das Unwahrscheinliche Über S.s bewegtes Leben ist kaum etwas beeintritt. Hbg. 2004). Immer werden die gesellschaftl. oder psy- kannt. Er trat zunächst in Prag als Dramaticholog. Auswirkungen neuer techn. Ent- ker u. engagierter josephin. Publizist auf u. wicklungen vorgeführt – darin Herbert W. war seit 1784 in Wien als Buchdrucker u. Franke u. vor allem Peter Schattschneider Verfasser von Broschüren tätig. 1797–1799 vergleichbar. Die Erzählungen des Bandes leitete er das dt. Prager Nationaltheater; nach Windschiefe Geraden (Bln./DDR 1984) wurden 1800 wirkte er als Schauspieler u. a. in Augswie die Romane überwiegend von beiden burg, Braunschweig u. Amsterdam. In seinen erfolgreichen u. viel gespielten Autoren gemeinsam geschrieben. Typische Themen sind die Übertragung der menschl. Dramen orientierte sich S. an den gängigen Psyche in Tierkörper (Das Reservat) oder die Genres u. bot vaterländ. Sujets (Libusse, HerGängelung des Menschen durch Hilfscom- zoginn von Böhmen. Preßburg 1778), Ritterputer, die das Gehirn steuern (Der schwarze stücke (Die Grafen Helfenfels, oder Rache für Kasten). Die Gründung einer Kolonie im All achtzehnjährige Acht. o. O. u. J.) sowie Schauerschildert der Roman Andymon (ebd. 1982). In dramatik (Miss Nelly Randolph. Prag 1781) u. Pulaster (ebd. 1986) entwirft K. S. das faszi- aufgeklärt-empfindsame Exotik (Die Negernierende Bild eines außerird., von intelli- sklaven. Ebd. 1781). Während des josephin. Jahrzehnts nutzte genten Sauriern bewohnten Planeten u. konfrontiert zwei grundverschiedene Zivilisati- S. die Möglichkeiten der »erweiterten Preßfreyheit« u. rief 1782 mit den in Wochenonsmodelle in einer komplexen Handlung. Das Werk der S.s zeichnet sich v. a. durch blattform erscheinenden Predigtenkritiken eine symbolträchtige, bilderreiche Darstel- (zunächst u. d. T. Geißel der Prediger) eine pulungsweise aus. Neigung zu quasi-mittelal- blizistische Gattung ins Leben, die eine Fülle terl. Fantasy zeigt der Roman Der Traummeis- von Kontroversen auslöste u. kurze Zeit später (ebd. 1990), der auf einem fremden Pla- ter von Leopold Alois Hoffmann auch in Wien neten spielt. Ein »Traummeister« bringt den eingeführt wurde. Daneben verfasste S. anti»Miscariern« die Träume zurück, zu denen klerikale, auch erotisch-denunziator. Schrifsie selbst nicht mehr fähig sind, darunter ten (z. B. Bischof, Prälaten und Nonnen. o. O. auch aufwieglerische u. revolutionäre. Das 1782), vertrat im sog. Prager »nepomukaniBuch lässt sich als Allegorie auf den Unter- schen Streit« eine radikal josephin., rationagang der DDR lesen. In der Welt des Traum- listische u. kirchenkrit. Linie u. verstrickte meisters spielt auch Spera (Bln. 2004), ein aus sich auch in Wien in zahlreiche publizistische Fehden. einzelnen Erzählungen zusammengesetzter Einen Skandalerfolg erzielte S. mit seinem Roman. im Titel auf Joseph II. anspielenden Roman Weitere Werke: Darwin. Eine Biogr. Bln./DDR Der 42jährige Affe. Ein ganz vermaledeites Mähr1985. – Vorgriff auf das Lichte Morgen. Studien zur chen (Bln., recte Prag 1784–86). Das Werk DDR-Science-Fiction. Mit einer Bibliogr. v. HansPeter Neumann. Passau 1995. – Zukunftsforsch. in beruft sich auf Louis-Sébastien Merciers L’an Europa. Ergebnisse u. Perspektiven. Baden-Baden deux mille quatre cent quarante (1770) u. nutzt 2000. – Die Zukunft der Technologien. Hbg. 2006. die Fiktion einer Reise des Affenprinzen Bri– Darwins Welt. Aus dem Leben eines unfreiwilli- da durch die Menschenwelt zu einer scharfen Satire auf dt. Zustände, die zwischen gelungen Revolutionärs. Mchn. 2008.

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gener Boshaftigkeit (etwa im Kontrast Preußen/Österreich als »Hungerland«/»Fett- und Freßland« oder in der allg. Adelskritik) u. zyn. Polemik (in der Religionskritik) schwankt; auch das erot. Potential der Situationen wird ausgespielt. Allerdings stellte S. – im Gegensatz zur Utopietradition – mit dem fiktiven Affenland keine bessere Welt dar, sondern zeichnete auch dort ein krit. Abbild des josephin. Österreich. Ein polem. Antiklerikalismus, der sich v. a. anekdotisch manifestiert, bestimmt das Werk. Literatur: Wurzbach 38. – Leslie Bodi: Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österr. Aufklärung 1781–95. Ffm. 1977. – Werner M. Bauer: Fiktion u. Polemik. Studien zum Roman der österr. Aufklärung. Wien 1978. Wynfrid Kriegleder

Steinwachs, Ginka, auch: Gisela Steinwachs, * 31.10.1942 Göttingen. – Literaturwissenschaftlerin, Schriftstellerin, Performancekünstlerin. Nach dem Abitur in Göttingen studierte S. bei Klaus Heinrich u. Peter Szondi in Berlin Philosophie, Religionswissenschaft u. Komparatistik. Von 1967 bis 1974 war sie Schülerin bei Roland Barthes in Paris; 1970 wurde sie mit einer Arbeit über Bretons Roman Nadja (Mythologie des Surrealismus oder die Rückverwandlung von Kultur in Natur. Eine strukturale Analyse von Bretons ›Nadja‹. Neuwied/Bln. 1971. 2., verbess. Aufl. Basel/Ffm. 1985) promoviert. Von 1969 bis 1974 war S. wissenschaftl. Assistentin an der École Normale Supérieure de l’Enseignement technique; seit 1974 ist sie freie Schriftstellerin. S. verfasst Kurzgeschichten, Romane, Theaterstücke, Hörspiele u. Gedichte, in denen sie Elemente des Surrealismus, des Barock u. des (Post-)Strukturalismus verbindet. Darüber hinaus ist S. Dozentin für Poetik u. kreatives Schreiben; seit 1982 tritt sie als PerformanceKünstlerin auf. 1988/89 hatte S. die Gastprofessur für Poetik in Hamburg inne, 1993 u. 1994 Dozenturen an der Wiener Schule für Dichtung. S. richtet sich mit ihrem Schreiben gegen den Rationalismus, den Reduktionismus, das dualistische Denken u. die Androkratie. Mit ihren Werken, die unter dem Zeichen des von

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ihr für die Kunst geforderten Aufschwungs in den ›Bombismus‹ stehen, versucht S. die Sinne zu befreien und u. a. die Dichotomien von Sprache u. Körper, Traum u. Wachen sowie Mann u. Frau aufzuheben. S. versteht ihr Schreiben im weitesten Sinne als einen »Protest gegen Entmischung«. S.’ wichtigstes Ziel ist die Verbindung von Körper u. Sprache. Sie ist wie die Strukturalisten der Auffassung, dass die Sprache die Wirklichkeit konstituiert. S. geht jedoch noch weiter u. behauptet, die Sprache besitze eine sinnlich erfassbare Materialität, die v. a. durch ihren Klang erfahrbar werde. Zum anderen ist für S. die »mundsprache« auch eine Körpersprache. Um den Wortklang hervorzuheben, unterläuft S. in ihren Texten konsequent die Sinnproduktion der Sprache. Mit Alliterationen u. Assonanzen verbindet sie Worte aus unterschiedl. Zusammenhängen oder verschiebt ihre Bedeutung durch Austausch eines einzelnen Buchstabens u. ersetzt so die Sinn- durch die Klangassoziation. Zudem stellt S. in ihren Werken verschiedensprachige Zitate aus philosophischen Essays, wissenschaftl. Abhandlungen, Klassikern der Weltliteratur u. banalen Texten nebeneinander. Deren Bedeutung wird auf diese Weise vervielfältigt oder aufgehoben, wodurch der Klang der Sprache in den Vordergrund tritt. S.’ Utopie ist das die Sinne anregende körperl. Wort, das man betasten, riechen u. schmecken kann. Die Sinne will S. auch mit ihrem »oralischen Theater« befreien. Die Vereinigung von Sprache u. Körper ist S.’ Ansatz, das duale Weltbild zu sprengen, in welchem u. a. dem Mann Sprache u. Vernunft u. der Frau Körper u. Emotion zugeordnet wird. Der Ansatz zeigt, dass sie die Dominanz des Mannes u. der Ratio nicht mit der Dominanz der Frau u. einer stummen Körperlichkeit ersetzen will, sondern eine Vereinigung anstrebt. Auch über die formale Gestaltung ihrer Texte löst S. Einheiten auf. Alle Werke sind zugleich theoret. u. poetische Texte u. können nicht auf eine Gattung festgelegt werden. Mit ihrer Zitat-Technik – u. indem sie ihre Texte teilweise mit der Technik der ›écriture automatique‹ produziert – stellt S. die Au-

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torautonomie in Frage. Der Leser wird bei S. zum Mitautor, da er die durch Sprachspiele u. Zitatmontagen erzeugten semant. Brüche mit eigenen Assoziationen füllen muss. Zudem thematisiert S. das eigene Schreiben, u. a. in ihren 1989 gehaltenen Poetik-»vorleszungen« u. dem Roman G-L-Ü-C-K. rosa prosa. originalfälschung (Ffm. 1992). In fast allen Werken wird die Trennung zwischen Autor u. literar. Figur aufgehoben, zuletzt in stein, wachs! ein starkes stück (Wien 2005). Entsprechend ihrer Auffassung von der wirklichkeitskonstituierenden Kraft der Sprache sind S.’ Werke Versuche, neue Wirklichkeiten zu schaffen. In ihren drei größeren Romanen geht es jeweils um die Verschmelzung von Menschen mit einer Stadt. In marylinparis. montageroman (Wien 1978) vereint S. die Hauptfigur Marylin mit Paris. Ist die Frau im Blick des männl. Flaneurs oft nur Objekt, Teil der Stadtlandschaft, erfährt sie den Stadtraum hier selbst als Subjekt. Zudem löst S. in jedem Roman einen Gegensatz auf, in marylinparis stellt sie der Logik, Noetik, Politik u. ›Ethiko-Ästhetik‹ die Sinne Schmecken, Sehen, Hören u. Riechen gegenüber. Das erste Kapitel handelt z. B. von neun Fleischsorten u. neun Restaurantbesuchen mit neun Philosophen, u. a. Foucault, Lacan, Derrida, Serres u. Barthes. Der Gegensatz zwischen Lesen u. Schreiben bestimmt den verblüffend konstruierten Doppelroman Berliner Trichter / Berliner Bilderbogen (Wien 1979). Anhand des Modells der phonolog. Opposition äußert S. zudem Kritik an der »sexiologischen Spaltung« der Gesellschaft, die in der »Merkmalslosigkeit« von Frauennamen ihren Ausdruck findet. Im Barcelona-Roman barnarella oder das herzkunstwerk in der flamme (Wien 2002) hebt S. die Trennung von Autor u. literar. Figur auf, das Werk kann als eine Art Autobiografie entschlüsselt werden. Der Roman besteht in Anlehnung an das I Ging aus 64 Fragmenten u. handelt u. a. von einem zu rekonstruierenden Text. In ihren drei größeren Theaterstücken versucht S. die Einheiten von Ort, Person u. Zeit aufzulösen. george sand. eine frau in bewegung, die frau von stand (Bln. 1980) handelt von der gleichnamigen Schriftstellerin (1804–1874). Sand ist, wie alle Hauptfiguren

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der Theaterstücke, ein grenzensprengendes Monstrum. Als eine von Gier nach Welt getriebene »Explora-terra-ristin«, die mit ihrem Schreiben u. Sein neue Welten schafft, soll sie ein Vorbild für die Frauenbewegung sein. Sand ist jedoch zgl. ein »hermaphroditisches sonn- & mondskind« u. repräsentiert somit die Utopie eines dritten Geschlechts. Aufgrund der über zwanzig Ortswechsel, des teilweise traumhaft-surrealen Geschehens, der Mensch-Tier-Charaktere u. dem Mangel an Handlung galt george sand lange als nicht inszenierbar. Seit 1982 fing S. daher an, Auszüge aus dem Stück selbst zu spielen; seit 1988 wurde es mehrfach aufgeführt. In dem »metastück« erzherzog – herzherzog (Mchn. 1985) über Ludwig Salvator löst S. die Einheit des Subjekts auf; die Einheit der Zeit versucht sie in dem Stück rolling stein. keep it big and beautiful (Reinb. 1997), das von dem Leben Gertrude Steins handelt, aufzuheben. Neben anderen Auszeichnungen erhielt S. 1995 den Hubert-Fichte-Preis. S. hat zeitweise in Barcelona, New York u. Hamburg gelebt; seit 2001 lebt sie in Berlin u. zeitweise auf Mallorca. Weitere Werke: das gaumentheater des mundes. In: Die schwarze Botin 21 (1983), S. 131–133. – Die fünf großen Ds oder: Trampolin für den Aufschwung ins bombist. Manifest. In: Literaturmagazin 15 (1985), S. 82–98. – Der schwimmende Österreicher. Graz 1985. Wien 2006 (P.). – Alles plus eine Tomate. Interview mit Sonia Nowoselsky. In: Schreiben 9 (1986), H. 29/30, S. 109–125. – Anke Roeder: Die entfesselte Titanin. Ich will ein Theater der Fülle. Gespräch mit G. S. In: Autorinnen: Herausforderungen an das Theater. Ffm. 1989, S. 109–122. – falschgeld der poesie. Wien 1994 (P.). – Eroskop. Ein Orakel für Sprach- u. Sternverliebte. Ffm. 1999 (P.). – die feder im mund. der mund in der welt. vorleszungen. Wien 2002. – www.herzschriFtmacher.net. cyberpoetry. Wien 2010. Literatur: ein mund v. welt. text//s//orte//n. Hg. Sonia Nowoselsky-Müller. Bremen 1989 (mit Bibliogr.). – Sabine Wilke: Zerrspiegel imaginierter Weiblichkeit. Eine Analyse zeitgenöss. Texte v. Elfriede Jelinek, G. S. u. Gisela Wysocki. In: TheaterZeitSchrift (1993), H. 33/34, S. 181–203. – Sigrid Weigel: Flaneurin in der Welt der Schrift. Spuren Benjaminscher Lektüre in den Texten v. G. S. In: Dies.: Bilder des kulturellen Gedächtnisses. Dülmen-Hiddingsel 1994, S. 102–118. – Antje Eh-

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235 mann: Über Möglichkeiten des Anfangenkönnens. Zu G. S.’ Roman ›G-L-Ü-C-K. rosa prosa. Originalfälschung‹. In: Zeitgenöss. Utopieentwürfe in Lit. u. Gesellsch. Amsterd. 1997, S. 337–357. – Monika Dommel: G. S.: Glückl. Fälscherin erlesener Originale. In: Zwischen Distanz u. Nähe. Eine Autorinnengeneration in den 80er Jahren. Hg. Helga Abret u. Ilse Nagelschmidt. Bern u. a. 1998, S. 87–106. – Karin Uecker: Das Modell des Bruchs – G. S. In: Dies.: Hat das Lachen ein Geschlecht? Zur Charakteristik von komischen weibl. Figuren in Theaterstücken zeitgenöss. Autorinnen. Mchn. 2002, S. 127–159. – Patricia Hallstein: G. S. In: LGL. – Torsten Flüh: G. S. In: KLG. – Suok Ham: G. S.’ ›georg sand‹. In: Zum Bild der Künstlerin in literar. Biographien. Würzb. 2008, 115–162. Yara Staets

Steinwert von Soest, Johann ! Johann von Soest Stelzhamer, (Peter Andreas Xaver) Franz, * 29.11.1802 Großpiesenham bei Ried/ Oberösterreich, † 14.7.1874 Henndorf bei Salzburg. – Lyriker, Novellist.

ländlich-bäuerl. Milieu, dem er auch in dem mundartl. Hexameterepos D’Ahnl (Wien 1854) epische Würde zu verleihen suchte; viele Zeitgedichte – so die den Ereignissen von 1848 positiv-skeptisch gegenüberstehenden Politischen Volkslieder (Linz 1848) – runden das Œuvre ab. Sein legendenumranktes Leben fand bis weit ins 20. Jh. Bewunderer; diverse Sammelausgaben zeugen von S.s Popularität. Ausgaben: Ausgew. Dichtungen. Hg. Peter Rosegger. 4 Bde., Wien u. a. 1882. – Gedanken sind wie Vögel. Ein Lesebuch. Hg. Hans Gessl. Weitra 1994. – Nur fort zu Dir. F. S. u. Betty Stelzhamer – Briefw. Hg. Silvia Bengesser. Salzb. u. a. 2002. Literatur: Hans Commenda: F. S. Linz 1953. – Silvia Bengesser: Eine Rezeptionsgesch. der Mundartgedichte F. S.s v. 1837–1982. Diss. Salzb. 1987. – Dies. (Hg.): F. S. – Wanderer zwischen den Welten. Dokumentation eines Lebens in Bruchstücken zum 200. Geburtstag des Dichters. Linz 2002. – Karl Haider: F. S. 1802–1874. Bad Kreuzen 2002. – Karl Pömer: Kotzengrob u. bázwoach. F. S. – Leben u. Werk. Ried 2002. – Goedeke Forts. – Marius Huszar: F. S. Eine Entdeckung. In: Die österr. Lit. ist keineswegs ein bloßer Wurmfortsatz der deutschen. Hg. Selçuk Ünlü. Steyr 2009, S. 79–87. – Silvia Bengesser: F. S. In: ÖBL.

Der Innviertler Bauernsohn führte nach dem Besuch eines Salzburger Gymnasiums (bis Wynfrid Kriegleder / Red. 1824) ein unstetes Leben (Jurastudent in Wien u. Graz, Hauslehrer, Priesterseminarist in Linz, Schauspieler in München u. Passau), Stemmle, Robert A(dolf), * 10.6.1903 ehe ihm mit den Liedern in obderenns’scher Magdeburg, † 24.2.1974 Baden-Baden. – Volksmundart (Wien 1837) der literar. DurchFilmregisseur u. -produzent; Erzähler u. bruch gelang. S. hielt sich bis 1842 als JourDrehbuchautor. nalist in Wien auf u. knüpfte Kontakte u. a. zu Bauernfeld, Castelli, Lenau, Stifter; danach Der Sohn eines Lehrers besuchte das Lehrerlebte er – stets in Geldnot – vor allem vom seminar in Genthin, war Lehrer in MagdeErtrag seiner in Oberösterreich, Salzburg u. burg u. nach einigen Studiensemestern in Bayern populären Vortragsabende. Erst in Berlin Puppentheaterdirektor, Mitbegründer den 1860er Jahren ermöglichten ihm ein des Kabaretts »Die Katakombe« sowie Dradurch die Vermittlung Gilms verliehener maturg u. Regisseur an der Volksbühne. Seit Ehrensold des Landes Oberösterreich u. ein 1930 Filmregisseur u. -produzent, schrieb S. Stipendium der österr. Staatsregierung ein zahlreiche Drehbücher (SOS Eisberg, Quax der gesichertes Leben. Bruchpilot), drehte heitere Unterhaltungsfilme Obwohl S. seine hochsprachl. Dichtung (Der Millionär, Charleys Tante, Emil und die De(epigonale romantisierende Lyrik u. ver- tektive) u. propagierte im »Dritten Reich« die schiedene Novellen) bevorzugte, beruht sein stahlharte Jugend (Jungens). Nach dem Krieg Ruhm auf seiner Mundartdichtung im Ge- kamen satir. u. zeitkrit. Werke (Berliner Balfolge der seit den 1830er Jahren aufkom- lade) u. Arbeiten fürs Fernsehen hinzu. menden Dialektwelle (Castelli, Seidl). S.s beS.s bes. Interesse fanden bedeutende Fälle wusst volkstümlich gestaltete Gedichte the- der Kriminalgeschichte: zunächst in der Parmatisieren sein eigenes Leben sowie das odie des Kriminalromans (Der Meisterdetektiv.

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Bln. 1937. Verfilmung u. Neudr. u. d. T. Der Mann, der Sherlock Holmes war), dann in den Tatsachenromanen Affaire Blum (ebd. 1948. Auch als Film, Schau-, Hör- u. Fernsehspiel) über einen Justizskandal der Weimarer Republik, in dem ein jüd. Industrieller unschuldig in eine Mordaffäre verwickelt u. ruiniert wird, u. Reise ohne Wiederkehr. Der Fall Petiot (ebd. 1951) über einen 1947 hingerichteten frz. Gastwirt, der während der dt. Besatzung Flüchtlingen zu helfen vorgab, um sie zu ermorden u. auszurauben. Schlussstein sind die gemeinsam mit Gerhart Hermann Mostar gesammelten Kriminalfälle Der neue Pitaval (Mchn. 1963–69), der mit seinen 15 Bänden das frz. Vorbild aus dem 18. Jh. würdig fortsetzt.

blieben. Neben den zahlreichen Possen, Erzählungen, Gedichten u. Anekdotensammlungen verdienen seine Erinnerungen Jugend in Altbayern (ebd. 1932. Neu hg. v. Florian Jung u. d. T. Lernjahre. Jugend in Altbayern. Winzer 2002) u. Ernte aus Altbayern (ebd. 1935) bes. Beachtung.

Weitere Werke: Tamerlan. Liebesroman eines Autos. Wien 1940. – Die Zuflöte. Theater- u. Filmanekdoten. Mit Zeichnungen v. E. O. Plauen. Bln. 1940. Neuausg. u.d.T. Aus heiterm Himmel. Bln. 1942. – Onkel Jodokus u. seine Erben. Ein heiterer Roman. Ebd. 1953. – Ja, ja, ja [...]! Dreieich 1956. – Ich war ein kleiner Pg. Stgt. 1958 (R.). Walter Olma

Stenbock-Fermor, Alexander Graf, auch: Peter Lorenz, * 30.1.1902 Schloss Nitau bei Riga, † 8.5.1972 Düsseldorf. – Politischer Schriftsteller, Erzähler.

Stemplinger, Eduard, * 6.1.1870 Plattling, † 25.11.1964 Elbach/Obb.; Grabstätte: München, Ostfriedhof. – Philologe, Mundartdichter. Der Kaufmannssohn studierte Klassische Philologie in München. Nach der Promotion unterrichtete er u. a. in Augsburg, Würzburg u. München, ehe er 1921 Direktor des Gymnasiums in Rosenheim wurde, wohin ihm sein Freund Josef Hofmiller 1922 als Kollege u. Stellvertreter folgte; 1933 trat er in (arbeitsreichen) Ruhestand. S. verkörpert den gebildeten u. literarisch tätigen Gymnasiallehrer seiner Zeit auf ideale Weise. Er trat als Gelehrter mit Arbeiten u. Ausgaben (Homer, Vergil, Horaz, Münchner Kreis der Literaten um König Max II.) hervor, verstand es aber, alle Bildungsschichten zu erreichen. Mit der »bäuerlichen Spieloper« Die Tegernseer im Himmel (Mchn. 1933; nach Kobell) ist Horaz in der Lederhos’n (ebd. 1905. 61975), eine ebenso originelle wie mustergültige Übersetzung ins Altbayerische, sein bekanntestes Werk ge-

Weitere Werke: Das Fortleben der Horazischen Lyrik seit der Renaissance. Lpz. 1906. Neudr. Hildesh. 1976. – Oberbayerische Märchen. 2 Bde., Altötting 1924 u. 1926. Neuausg. Rosenheim 1979. – Immerwährender bayer. Kalender. Rosenheim 1979. 62000. Literatur: Walther Habersetzer: In memoriam E. S. In: Lit. in Bayern 31 (1993), S. 58–63. Hans Pörnbacher / Red.

Der Sohn eines zaristischen hochadligen Offiziers u. Großgrundbesitzers war mütterlicherseits mit dem Fürsten Kropotkin verwandt. Er besuchte ein Internat in Thüringen, kämpfte 1918/19 in der Baltischen Landeswehr gegen die Rote Armee (Freiwilliger Stenbock. Stgt. 1929) u. arbeitete von Ende 1922 an als Werkstudent u. Bergmann in einer Hamborner Zeche (Meine Erlebnisse als Bergarbeiter. Ebd. 1928. Neudr. Oldenb. 1989. Bottrop 2000). 1924–1927 war S. Lokalreporter in Mecklenburg, Buchhändlerlehrling in Hamburg u. Angestellter im Diederichs Verlag in Jena. Seit 1928 lebte er als freier Schriftsteller in Berlin, war Mitarbeiter der »Frankfurter Zeitung« u. stand in enger Verbindung mit Bernard von Brentano u. Siegfried Kracauer, der sein journalistisches Vorbild wurde. Auf Anregung Frank Thiess’ beschrieb S. nach eigenen Eindrücken die Existenz der Heimarbeiter in der Provinz u. der Industriearbeiter in den Zentren. Die Dokumentation Deutschland von unten. Reise durch die proletarische Provinz (Stgt. 1931. Neudr. Luzern 1980) zeichnet, ergänzt durch eindrucksvolle Fotos, ein authent. Bild der sozialen Lage um 1930. Das Buch, eine der bedeutendsten Sozialreportagen der Weimarer Republik, fand

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große Resonanz in der literar. u. polit. Öffentlichkeit von rechts bis links. Während des nationalbolschewistischen Kurses der KPD (1930–1932) engagierte sich S. öffentlich für die Partei, war Mitgl. des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller u. leitete 1931 das Scheringer-Komitee für die Freilassung des ehemaligen Reichswehrleutnants Richard Scheringer, in dem auch Bodo Uhse, Lion Feuchtwanger, Frank Thiess, Ludwig Renn u. Otto Strasser mitwirkten. 1933 tauchte S. ein halbes Jahr unter, meldete sich im September, wurde festgenommen, für drei Monate inhaftiert u. anschließend ausgebürgert. Er lebte dann in Hamburg u. Berlin unter ständiger GestapoAufsicht u. wurde, um als Autor in Deutschland bleiben zu können, Mitgl. der Reichsschrifttumskammer. Nach Kriegsende war er kurze Zeit Oberbürgermeister von Neustrelitz. Von 1946 bis zu seinem Tod lebte er in West-Berlin u. schrieb zahlreiche Drehbücher für die DEFA u. das Fernsehen. Weitere Werke: Das Haus des Hauptmanns v. Messer. Wuppertal 1933 (E.). – Schloß Teerkuhlen. Braunschw. 1942 (E.). – Henriette. Bln. 1949 (E.). – Harald Poelchau: Die letzten Stunden. Erinnerungen eines Gefängnispfarrers. Aufgezeichnet v. A. S. Bln. 1949. – Der rote Graf. Mit einem Epilog v. Joachim Barckhausen. Bln./DDR 1973 (Autobiogr.). Literatur: Detlef Kühn: A. Graf S.-F. u. Bernt v. Kügelgen. Zwei deutschbalt. ›Linke‹. In: Deutschbalten, Weimarer Republik u. Drittes Reich. Hg. Michael Garleff. Bd. 2. Köln u. a. 2008, S. 227–244. Wilhelm Haefs / Red.

Stengel, Georg, * 23.4.1585 Augsburg, † 10.4.1651 Ingolstadt. – Jesuit; neulateinischer Lyriker, Dramatiker. Der Sohn eines Augsburger Bürgers kam mit zehn Jahren als Page zu Barbara von Fugger u. trat 16-jährig in Landsberg in den Jesuitenorden ein. Nach dem Philosophiestudium in Ingolstadt lehrte er 1607–1610 Poesie in Pruntrut (Schweiz) u. München u. nach dem Theologiestudium in Ingolstadt seit 1614 Philosophie in Dillingen. In Ingolstadt war er zudem Assistent des Mathematikers u. Astronomen Christoph Schreier, der dort im Winter 1611/12 von einem Kirchturm aus – unabhängig von Galilei u. Johann Fabricius –

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die Sonnenflecken entdeckte. Dort war er 1618–1629 Professor für Moral u. scholastische Theologie. In diese Zeit fallen auch Vorlesungen über Kontroverstheologie. Seit 1629 widmete sich S. vornehmlich der Seelsorge u. dem literar. Nachlass Jakob Gretsers. In seiner Münchner Zeit (1631–1640) predigte er regelmäßig in der Frauenkirche. 1640–1643 war S. Rektor des Kollegiums in Dillingen. Nach seiner Rückberufung nach Ingolstadt leitete er dort die große lat. Kongregation. Anders als Friedrich Spee u. Adam Tanner trat S. für eine unnachgiebige Hexenverfolgung ein. S., Mitschüler Bidermanns, dessen Utopia er edierte, u. Drexels, gehört zu den großen Schriftstellern des Jesuitenordens am Beginn des 17. Jh. Seine Lehrer waren Matthäus Rader u. Jacobus Pontanus, der seinen Schülern ein an Cicero orientiertes Stilideal vermittelte. Die meisten seiner lat. verfassten Werke wurden ins Deutsche übersetzt – auch von seinem Bruder, dem Benediktinerabt Karl Stengel. Viele Werke behandeln als Disputationen theolog. Probleme (vielfach in polem. Form) u. philosophische Fragen (bes. zur Logik). Von Anfang an entstanden daneben auch dichterische Werke: Carmen epicum pro Roberto Card. Bellarmino (Ingolst. 1605) oder Satyra in Scientiarum contemptorem Lutherum (Dillingen 1606). Als Hauptwerk gilt das Opus de Iudiciis Divinis (4 Bde., Ingolst. 1651. Köln 21686. Dt. Augsb./Dillingen 1712), eine populäre Rechtfertigung der göttl. Vorsehung angesichts der Übel u. des Unglücks in der Welt. Die vielen, teils humorvoll erzählten Exempla dienten auch als Trostliteratur im Dreißigjährigen Krieg. Das Werk diente vielen Barockpredigern als Stoffquelle. S.s Dramen, die vorwiegend welt- u. kirchengeschichtl. Stoffe behandeln, sind nur handschriftlich u. in Periochen überliefert, z.B. sein 1617 an drei Tagen aufgeführter Triumphus Deiparae virginis Mariae (Dillingen), der die Zuschauer in Begeisterungsstürme ausbrechen ließ. Periocheneditionen: Summarischer Innhalt Von dem Leben deß H. Heinrichen / Hertzogen in Bayren / vnd Römischen Keysers [...] (1613). In: Das Jesuitendrama im dt. Sprachgebiet. Hg. Elida Maria Szarota. Bd. I, 2, Mchn. 1979, S. 973–995. – Stilico Sacrilegus [...] (1624). In: ebd. Bd. II, 2,

Stengel S. 1649–1662. – Otto redivivus [...] (1614). In: ebd. Bd. III, 2, 1983, S. 1221–1228. – Summarischer Inhalt Der Comœdien unnd Triumph / von den Heyligen / Ignatio de Loyola [...] und Francisco Xaverio [...] (1622). In: ebd., S. 1229–1272. Literatur: Bibliografien: Backer/Sommervogel 7, Sp. 1546–1559. – Albert Paulus Weißenberger: Die Brüder Karl u. G. S. [...]. In: Jb. des Vereins für Augsburger Bistumsgesch. 18 (1984), S. 341–352. – Weitere Titel: Fidel Rädle: G. S. [...]. In: Theatrum Europaeum. Mchn. 1982, S. 87–107. – DBA. – Alois Schneider: Narrative Anleitungen zur praxis pietatis im Barock [...]. Würzb. 1982. – Ders.: Exempelkat. zu den ›Iudicia Divina‹ des Jesuiten G. S. v. 1651. Ebd. 1982. – F. Rädle: Die Briefe des Jesuiten G. S. [...]. In: Res publica litteraria. Wiesb. 1987, S. 522–534. – Martin Mulsow: Exemplum u. Affektenlehre bei G. S. In: Archiv für Kulturgesch. 73 (1991), H. 2, S. 313–349. – Gerhard Wilczeck: Bedeutende Jesuitentheologen der Gegenreformation: Gregor v. Valencia, Jakob Gretser, Adam Tanner, G. S. [...]. Ingolst. 1994. Franz Günter Sieveke

Stengel, Stephan Frhr. von (seit 1788), * 6.10.1750 Mannheim, † 3.10.1822 Bamberg. – Politiker, Popularphilosoph, Grafiker.

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schaft. Seine philosophischen Abhandlungen sind Kant verpflichtet. Zeitlebens zeichnete u. radierte S. Seit 1810 in Bamberg im Ruhestand, verfasste er einen Werkkatalog seines Freundes Ferdinand Kobell (Catalogue raisonné des estampes de Ferd. Kobell. Nürnb. 1822). Weitere Werke: Philosoph. Betrachtungen über die Alpen. Mchn. 1786. – Die Austrocknung des Donaumooses. Ebd. 1791. – Rede v. dem Zustande der Philosophie am Ende des philosoph. Zeitalters. Ebd. 1800. Literatur: Friedrich Karl Rupprecht: Crit. Verz. der Kupferstich-Slg. des [...] S. Bamberg 1824. – Monika Groening: Karl Theodors stumme Revolution. S. Frhr. v. S. (1750–1822) u. seine staats- u. wirtschaftspolit. Innovationen in Bayern 1778–99. Ubstadt-Weiher 2001. – Günther Ebersold: Ein Kabinettsekretär mit Hang zur Kunst. S. v. S. (1750–1822), Regierungsbeamter unter Kurfürst Karl Theodor. In: Hierzuland 17 (2002), S. 16–24. – Lothar Braun: S. Frhr. v. S. (1750–1822). Erster Generalkommissär des Mainkreises in Bamberg. In: Bamberg wird bayerisch. Die Säkularisation des Hochstifts Bamberg 1802/03. Hg. Renate Baumgärtel-Fleischmann. Bamberg 2003, S. 419–423. – Alfried Wieczorek (Hg.): Ein Schöngeist in diplomat. Diensten. Druckgraphik u. Zeichnungen v. S. v. S. (1750–1822) [Ausstellungskat.]. Heidelb. u. a. 2008. Ulrike Leuschner / Red.

S. war das älteste von 19 Kindern einer kurpfälz. Beamtenfamilie. Nach Besuch der Mannheimer Jesuitenschule u. dem Jurastudium in Heidelberg trat er 1773 als KabiStensen, Steensen, Steno, auch: Stenonis, nettssekretär in den Dienst des Kurfürsten Niels, Nicolaus, * 1./11.1.1638 KopenhaKarl Theodor, dem er 1778 beim Antritt des gen, † 25.11./5.12.1686 Schwerin; Grabbayerischen Erbes nach München folgte. 1799 stelle: San Lorenzo, Florenz. – Anatom, wurde er Vizepräsident der kurpfälz. RegieGeologe, Konvertit, katholischer Theolorung in Mannheim, 1803 Vizepräsident der ge, Bischof. Landesdirektion in Bamberg, 1808 Generalkommissär des Mainkreises. Der streng lutherisch erzogene Sohn des S. war, meist im Hintergrund, ein rühriger Goldschmieds Sten Pedersen († 1644) beMann der Aufklärung. Seine vielfältigen suchte die Lateinschule seiner Heimatstadt, kulturellen Bestrebungen in Mannheim bevor er dort am 27.11.1656 die Universität schildert er in seinen Hinterlaßenen Aufzeich- bezog, um Medizin bei dem Anatomen Thonungen (auszugsweise in: Karl Theodor Hei- mas Bartholin zu studieren. Aus dem letzten gel: Neue Denkwürdigkeiten vom pfalzbayrischen Jahr der Kopenhagener Studienzeit sind von Hofe unter Karl Theodor. In: Ders.: Quellen und S. Chaos betitelte Notizen (datiert: 8.3.Abhandlungen zur neueren Geschichte Bayerns. 3.7.1659) über Experimente, Exzerpte aus N. F., Bd. 2, Mchn. 1890, S. 321–354). S. – wissenschaftl. Werken u. Reflexionen dazu Prorektor Lorenz von Westenrieders – ge- überliefert (ed. 1997). Im Frühjahr 1660 hörte zu den Reformern um Montgelas. Die setzte er seine anatomischen Studien in den Trockenlegung des Donaumooses organi- Niederlanden fort, zunächst in Amsterdam sierte er auf der Basis einer Aktiengesell- bei dem Mediziner Gerhard Blaes, wo er bei

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der Sektion eines Schafskopfes den nach ihm benannten Ausführgang der Ohrspeicheldrüse (»ductus Stenonianus«) entdeckte, dann für drei Jahre an der Universität Leiden (Immatrikulation am 27.7.1660; Freundschaft u. a. mit Jan Swammerdam u. Spinoza), an der S. sich vornehmlich mit der Drüsen- u. Muskellehre beschäftigte. Mit seiner auf morphologisch-funktioneller Beschreibung fußenden Erkenntnis, dass das Herz nichts sei als ein Hohlmuskel (Nova musculorum et cordis fabrica. 1663), verabschiedete er die ganze medizinische Tradition der »spiritus animales«. Am 4.12.1664 wurde er in Abwesenheit vom Senat der Leidener Universität zum Dr. med. promoviert. S. unternahm zu der Zeit eine Studienreise durch Frankreich; 1665 hielt er in Paris im Haus des Gelehrten Melchésedec Thévenot eine Vorlesung über die Anatomie des Gehirns (Discours de Monsieur Stenon sur l’anatomie du cerveau. Paris 1669), in der er sich auch kritisch mit der von ihm allerdings nicht grundsätzlich abgelehnten cartesian. Philosophie auseinandersetzte u. speziell Descartes’ Lehre von der Funktion der Zirbeldrüse widerlegte. 1666–1668 hielt sich S. in Italien auf (Bekanntschaft mit bedeutenden Gelehrten, u. a. mit dem Mathematiker Vincenzio Viviani u. dem Anatomen Marcello Malpighi); in Florenz genoss er die Unterstützung der Medici-Fürsten Ferdinand II. u. Cosimo III., wurde Mitgl. der Accademia del Cimento u. trat verstärkt für die Mathematisierung der Naturwissenschaften ein (Elementorum myologiae specimen, seu musculi descriptio geometrica. Florenz 1667). Zugleich beschäftigte er sich intensiv mit geolog. Fragen, ausgehend u. a. von einer Haifischsektion u. Analysen von Fossilien (nämlich von ›Glossopetrae‹/›Zungensteinen‹), die er nicht mehr als Erzeugungen des Mineralreichs verstand, sondern als Petrifizierungen von Lebensformen (Canis carchariae dissectum caput. 1667; veröffentlicht als Anhang zu der zuvor genannten Schrift). Er trug dadurch wesentlich zur Begründung der Erdwissenschaft als einer histor. Wissenschaft bei; zgl. stellte er, wenn auch nur implizit, den bibl. Schöpfungsbericht u. die bibl. Chronologie in Frage (vgl. dazu Schmeisser). Mineralogische Forschungen zu Form u. Wachstum von Kris-

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tallen führten ihn u. a. zur Entdeckung des Gesetzes der Winkelkonstanz (De solido intra solidum naturaliter contento dissertationis prodromus [...]. Florenz 1669. Engl. Übers. 1671 durch Henry Oldenburg, den Sekretär der Royal Society of London). 1669 begab sich S. auf eine längere Studienreise durch Südosteuropa, die auch der Gewinnung prakt. Erkenntnisse für die Führung der Bergwerke der Medici in der Toscana diente. Zwischenzeitlich war S. am 7.11.1667 in Florenz zur kath. Kirche übergetreten. Seinen Aufsehen erregenden Bekenntniswechsel, der ihm auch heftige Angriffe eintrug (u. a. von dem reformierten Prediger Johannes Sylvius u. dem luth. Theologen Johann Wilhelm Baier), verteidigte er in Gesprächen u. Schriften (u. a. De propria conversione epistola. 1672. Gedr. in: Binae epistolae [...]. Florenz 1677. Defensio et plenior elucidatio epistolae de propria conversione. Hann. 1680). 1672 nahm S. den Ruf des dän. Königs Christian V. an, in Kopenhagen als ›königlicher Anatom‹ zu arbeiten, ohne ordentl. Lehrstuhl, den er als Katholik nicht erhalten konnte. Es war wohl diese ungesicherte Stellung, die ihn 1674 bewog, das Angebot des Großherzogs Cosimo III. anzunehmen, nach Florenz zurückzukehren u. als Erzieher des Erbprinzen zu arbeiten. Durch die intensivere Auseinandersetzung mit theolog. Fragen vor u. nach seiner Konversion gelangte S. schließlich zu dem Entschluss, den Priesterberuf zu ergreifen, ohne seine naturwissenschaftl. Tätigkeiten in den folgenden Jahren ganz aufzugeben. Die Priesterweihe empfing er nach kurzer prakt. Vorbereitung am 13.4.1675 (Primiz am 14.4.1675). Ohne feste kirchl. Anstellung war er neben seiner Tätigkeit als Prinzenerzieher seelsorgerisch tätig u. wirkte maßgeblich am Übertritt etlicher hochgestellter Persönlichkeiten zum kath. Glauben mit. 1677 wandte sich Herzog Johann Friedrich von Braunschweig-Calenberg, selbst Konvertit, an Papst Innozenz XI. mit der Bitte um die Entsendung S.s in die Residenzstadt Hannover. Im selben Jahr wurde S. in Rom zum Titularbischof von Titiopolis u. Apostol. Vikar der nordischen Missionen mit Amtssitz in Hannover ernannt. Dort, mitten in der Diaspora, machte er Bekanntschaft mit Gott-

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fried Wilhelm Leibniz, mit dem er über Probleme der menschl. Willensfreiheit, Prädestination u. ›scientia media‹ sowie über dessen Projekt einer Reunion der christl. Kirchen diskutierte, dem S. skeptisch bis ablehnend gegenüberstand, weil er darin die Gefahr des Indifferentismus erblickte. 1680–1683 amtierte S., zum Weihbischof ernannt, als Suffragan im Fürstbistum Münster. In seiner pastoralen Tätigkeit u. Pastorallehre (Parochorum hoc age. 1682. Gedr. Florenz 1684) u. auf vielen Firmungs- u. Visitationsreisen, die er zu absolvieren hatte, entfaltete der rigoros aszetisch gesinnte S. bei aller Friedfertigkeit einen strengen Reformeifer angesichts zahlreicher Missstände im kirchl. Leben (z.B. Ämterkauf), der aber beim Domkapitel auf Widerstand stieß. Im Herbst 1683 bat S. in Rom erfolgreich um Befreiung von seinem Amt u. wandte sich nach Hamburg, wo er v. a. aus konfessionellen Gründen, aber auch der Konkurrenz mit den für die Seelsorge zuständigen Jesuiten wegen, ungünstigste kirchl. Wirkungsmöglichkeiten vorfand. Ab Dez. 1685 arbeitete S., seinem eigenen Wunsch entsprechend, in bescheidensten Verhältnissen als einfacher Priester u. Missionar in Schwerin u. entsprach damit einer Offerte des (1663 katholisch gewordenen) Herzogs Christian Louis I. zu MecklenburgSchwerin. Er starb erst 48-jährig wahrscheinlich an einer Darmlähmung. S. hat überwiegend lat. geschrieben, beherrschte aber viele Sprachen. Außer seinem naturwissenschaftlichen hat er auch ein umfangreiches theologisch-religiöses Schrifttum hinterlassen, das Werke kontroverstheologischer u. pastoral-aszetischer Art sowie als Zeugnisse geistl. Beredsamkeit zahlreiche Predigtskizzen umfasst. – Am 23.10.1988 wurde S., als Ergebnis eines 1959 vor der röm. Ritenkongregation eröffneten Prozesses, durch Papst Johannes Paul II. seliggesprochen. Ausgaben: Opera philosophica. Hg. Vilhelm Maar. 2 Bde., Kopenhagen 1910. – Opera theologica. Hg. Knud Larsen u. Gustav Scherz. 2 Bde., ebd. 1941. 21944–47. – Nicolai Stenonis epistolae et epistolae ad eum datae. Hg. G. Scherz u. Johann Raeder. 2 Bde., ebd./Freiburg 1952. – Nicolaus Steno’s Lecture on the anatomy of the brain. Hg. u.

240 eingel. v. G. Scherz. Kopenhagen 1965 (Nachdr. des ›Discours‹ 1669 mit engl. u. dt. Übers.). – De solido intra solidum naturaliter contento dissertationis prodromus. Florenz 1669. Nachdr. hg. v. Eginhard Fabian. 2 Bde., Bln. 1988 (Bd. 2 enthält die dt. Übers. v. Karl Mieleitner. Lpz. 1923 [›Ostwald’s Klassiker der exakten Wiss.‹]). – Steno on muscles [...]. Hg. Troels Kardel u. a. Philadelphia 1994 (Nachdr. u. engl. Übers. v. ›Nova musculorum et cordis fabrica‹ 1663 u. ›Elementorum myologiae specimen‹ 1667). – Chaos. N. S.’s Chaos-manuscript Copenhagen, 1659. Complete edition with introduction, notes and commentary by August Ziggelaar. Kopenhagen 1997. – Discours sur l’anatomie du cerveau. Hg. Raphaële Andrault. Paris 2009. Literatur: Bibliografien: Michael Jensen: Bibliographia Nicolai Stenonis. Mørke 1986. – Bierbaum u. a. (s. u.), S. 180–203. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 30, S. 161–171. – Kosch, Bd. 19, Sp. 598–600. – Weitere Titel: Räß, Convertiten, Bd. 7, S. 290–296 (mit dt. Übers. der Epistel ›de propria conversione‹); Bd. 12, S. 155–263. – Heinrich Reusch: Nicolaus Steno. In: ADB. – Beatificationis et canonizationis servi dei Nicolai Stenonis episcopi titiopolitani († 1686) positio super introductione causae et super virtutibus ex officio concinnata. Rom 1974 (Aktenmaterial des Informativprozesses der Seligsprechung). – Max Bierbaum, Adolf Faller u. Josef Traeger: N. S. Anatom, Geologe u. Bischof 1638–1686. Münster 31989 (mit Verz. v. weiteren Ausg.n, Übers.en u. älterer Lit.). – Eva-Maria Wicklein: Nicolaus Steno nach seiner Konversion im Jahre 1667. Hbg. 1991 (1992). – Christof Dahm: N. S. In: Bautz. – Ueberweg 17. Jh., Bd. 1/2, S. 890–897 u. Register; Bd. 4/2, S. 1253–1255 u. Register. – Sebastian Olden-Jørgensen: Die Konversion N. S.s (1667) u. der frühneuzeitl. Deismus. In: Histor. Jb. 121 (2001), S. 97–114. – Alan Cutler: The seashell on the mountaintop [...]. New York (auch London) 2003. Dt.: Die Muschel auf dem Berg. Über N. Steno u. die Anfänge der Geologie. Mchn. 2003. – Hans-Georg Aschoff: N. S. In: Biogr. Lexikon für Mecklenburg. Bd. 4, Rostock 2004, S. 264–268. – Jaumann Hdb., Bd. 1, S. 634 f. – Frank Sobiech: Herz, Gott, Kreuz. Die Spiritualität des Anatomen, Geologen u. Bischofs Dr. med. N. S. (1638–86). Münster 2004. – Ders.: N. S. (1638–1686) u. der Bergbau. Seine Reise durch Tirol, Niederungarn, Böhmen u. Mitteldtschld. 1669–1670 im Spiegel seiner Theologie. In: Bergbau u. Religion. Schwazer Silber [...]. Hg. Wolfgang Ingenhaeff u. a. Innsbr. 2008, S. 287–304. – Martin Schmeisser: Erdgesch. u. Paläontologie im 17. Jh.: Bernard Palissy, Agostino Scilla, Nicolaus Steno u. Leibniz. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der

Stephan von Landskron

241 Frühen Neuzeit. Ein Hdb. Hg. Herbert Jaumann. Bln./New York 2010, S. 809–858. Reimund B. Sdzuj

Stephan von Dorpat, auch: Meister Stephan, 14. Jh., Estland. – Verfasser didaktischer Dichtungen.

(1897), S. 1–50; 25 (1899), S. 1–33. – Bruno Claussen: Die Rostocker Bruchstücke des mittelniederdt. Cato. In: Wiss. Ztschr. der Univ. Rostock 5 (1955/ 56), S. 217–227. Literatur: Heinz-Jürgen Kliewer: Die mittelalterl. Schachallegorie [...]. Gießen 1966. – Peter Kesting: ›Cato‹. In: VL. – Hartmut Beckers: Mittelniederdt. Lit. [...] (II). In: Niederdt. Wort 18 (1978), H. 8, S. 19–21, 36 f. – Nikolaus Henkel: Dt. Übers.en lat. Schultexte. Mchn. 1988, S. 228 f. – H. Beckers: S. v. D. In: VL.

S. nennt sich am Schluss einer Handschrift seiner Übersetzung des Cato (v. 2342) u. gibt geringe Auskunft am Ende seiner mittelSabine Schmolinsky / Red. niederdt. Schachallegorie. Er war Schulmeister, wahrscheinlich Geistlicher, u. widmete sein Werk dem 1357–1375 amtierenden Bi- Stephan von Landskron, * zwischen schof von Dorpat, Johann von Vyffhusen, als 1400 u. 1410 Landskron (Lansˇ kroun/ seinem Herrn. S. könnte wie dieser nach Tschechien), † 29.11.1477 Wien. – AuEstland eingewandert sein. In Lübeck wurde, gustinertheologe. vermutlich 1498/99, sein Schachbuch geS. war seit 1424 Mitgl., seit 1458 Propst des druckt. Einzig diese, in zwei Exemplaren erhaltene regulierten Chorherrnstifts zu St. Dorothea Inkunabel überliefert S.s Bearbeitung (5886 in Wien. Auf zahlreichen Visitationsreisen Verse) des lat., Schachfiguren u. -brett alle- bemühte er sich um die Klosterreform. Die seelsorgerische Tätigkeit S.s prägt sein gorisch auf die Stände deutenden Traktats des lombard. Dominikaners Jacobus de Ces- praktisch-asketisch ausgerichtetes Werk. Aus solis (belegt 1288–1322), die als späteste der den sechs ihm sicher zugeschriebenen lat. vier deutschsprachigen, sonst nur hand- Werken waren ein die Vier Letzten Dinge schriftlich tradierten Versfassungen gilt behandelnder Traktat (Tractatus de IV novissi(Heinrich von Beringen, Konrad von Am- mis) u. eine Expositio missae bes. beliebt, wie menhausen, Pfarrer zu dem Hechte). Ohne zahlreiche Druckauflagen bezeugen. Sein seine Quelle zu nennen, überträgt S. sie sti- deutschsprachiges Hauptwerk ist Die Himlistisch u. inhaltlich selbstständiger als seine melstraße, eine 1465 vollendete, umfangreiche Vorgänger. In moralisch-didakt. Intention katechetisch-erbaul. Schrift, die ausdrücklich wendet er sich an ein Publikum der »eddelen an ein breites (Laien-)Publikum gerichtet ist lude« (v. 31), lässt allerdings auch dem u. anschaulich das für das Seelenheil jedes Kaufmannsstand Anerkennung zuteil wer- Christen notwendige Wissen aufbereitet. Für den. S.s Bearbeitung war eine von zwei Vor- lateinunkundige Klosterleute verfasst sind lagen einer schwed. Version, die in zwei drei dt. Schriften zu Fragen des OrdensleHandschriften des ausgehenden 15. Jh. be- bens: der umfangreiche Spiegel der Klosterleute (um 1450), eine Unterweisung einer Obristin eizeugt ist. Als sein früheres Werk gilt die mittelnie- nes Frauenklosters u. Von den drei wesentlichen derdt., mit Zusätzen aus der Bibel, antiken Stücken geistlichen Standes. Unter den zahlreiKlassikern u. Kirchenvätern kommentierte chen Quellen S.s, aus denen er »zusammenÜbersetzung in Paarreimen der Disticha Cato- klaubt«, ist das Schrifttum der Wiener Schunis. S.s von allen dt. Versionen unabhängige le, v. a. Thomas Peuntners, hervorzuheben. In Fassung ist in zwei Handschriften u. einigen deren Tradition verbindet S. religiöse UnterFragmenten aus dem 14. u. 15. Jh. überliefert. weisung mit scholast. Lehre u. praxisbezoAusgaben: Meister S.s Schachbuch. Hg. Wilhelm gener Frömmigkeit. Schlüter. In: Verhandlungen der gelehrten Estn. Gesellsch. zu Dorpat 11 (1883). 14 (1889). – [Meister S.s] Mittelniederdt. Cato. Hg. Paul Graffunder. In: Jb. des Vereins für niederdt. Sprachforsch. 23

Ausgaben: Die Hymelstrasz. Hg. Gerardus Johannes Jaspers. Amsterd. 1979 (Faks. einer Inkunabel). – Ain Unnderweisung ainer Öbristen. Hg. ders. In: Carinthia I 174 (1984), S. 155–172.

Stephan

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Literatur: P. Egino Weidenhiller: Untersuchungen zur deutschsprachigen katechet. Lit. des späten MA. Mchn. 1965, S. 174–190 u. ö. – Jaspers, a. a. O. – Uwe Boch: Katechet. Lit. im fünfzehnten Jh. S. v. L. († 1477): ›Die Hymelstrasz‹. Tüb. 1994. – Bernhard Schnell u. E. Weidenhiller: S. v. L. In: VL. – Austra Reinis: Reforming the art of dying. The ars moriendi in the German Reformation (1519–1528). Aldershot-Burlington 2007, S. 22–45. Ulla Williams / Red.

Stephan, Cora, auch: Anne Chaplet, * 7.4. 1951 Strang bei Bad Rothenfelde. – Verfasserin von politischen Sachbüchern u. Kriminalromanen, Kolumnistin u. Essayistin.

Meinungsäußerungen. Neben polit. Sachbüchern veröffentlicht S. unter dem Pseudonym Anne Chaplet seit 1997 Kriminalromane mit polit. Hintergrund, in denen sie bröckelnde bürgerl. Konventionen thematisiert u., vergleichbar mit skandinav. Kriminalromanen á la Henning Mankell, schreckl. Ereignisse der jüngeren Geschichte zu Grunde legt. S. wurde 1985 mit dem Elisabeth-SelbertPreis der hess. Landesregierung ausgezeichnet; 2001 u. 2004 erhielt sie den Deutschen Krimipreis (jeweils 2. Platz), 2003 den Radio Bremen Krimipreis. Sie ist in verschiedenen Kulturpreisjurys tätig, so etwa beim Hoffmann-von-Fallersleben-Preis (seit 2003) u. beim Theodor-W.-Adorno-Preis (2006), u. gehört dem Beirat des NDR-Sachbuchpreises an. S. ist Mitgl. des »Syndikats«, einer Vereinigung deutschsprachiger Krimiautoren.

Aufgewachsen in Osnabrück, legte S. dort das Abitur ab. Das Lehramtsstudium in Hamburg u. Frankfurt/M. schloss sie 1973 mit dem Examen ab. Nach dem Studium der PolitikWeitere Werke: ›Genossen, wir dürfen uns wissenschaft, Volkswirtschaftslehre u. Ge- nicht von der Geduld hinreißen lassen!‹ Aus der schichte wurde sie 1976 mit der Arbeit über Urgesch. der Sozialdemokratie 1862–1878. Ffm. die dt. Sozialdemokratie im 19. Jh. promo- 1977. – Weiterhin unbeständig u. kühl. Nachrichviert. Erste Bekanntheit erreichte S. seit 1976 ten über die Deutschen. Reinb. 1988. – Der Beals Rundfunkmoderatorin u. Publizistin. Po- troffenheitskult. Eine polit. Sittengeschichte. Bln. 1993. – Das Handwerk des Krieges. Bln. 1998. – litische Essays u. insbes. ihre scharfzüngigen Angela Merkel. Ein Irrtum. Mchn. 2011. – KrimiKolumnen in der Spontizeitschrift »Pflaster- nalromane: Caruso singt nicht mehr. Mchn. 1997. strand« (seit 1980) sowie ihre Tätigkeit als Neuausg. Bln. 2008. – Wasser zu Wein. Mchn. Redakteurin beim Hessischen Rundfunk (seit 1999. Neuausg. Bln. 2009. – Russisch Blut. Mchn./ 1983) u. im Bonner Büro des »Spiegel« (seit Zürich 2004. – Sauberer Abgang. Mchn. 2006. – 1985) markieren S.s Werdegang. In ihren Doppelte Schuld. Mchn./Zürich 2007. – Schrei nach Texten u. auch als Vortragsrednerin profi- Stille. Bln. 2008. – Anne Chaplet: Rehauge. In: lierte sie sich als profunde Kennerin von Bock auf Wild. 15 tödl. Jagdstories. Hg. Cornelia Zeitgeschichte u. Politik. Zwischen 1976 u. Kuhnert u. Richard Birkefeld. Mchn. 2010, 1983 hatte S. einen Lehrauftrag an der Jo- S. 163–182. Albrecht Viertel hann-Wolfgang-von-Goethe-Universität in Frankfurt/M. inne u. arbeitete als Lektorin u. Stephan, Hanna, * 2.6.1902 Dramburg/ Übersetzerin. Pommern, † 12.4.1980 Osterode/Harz. – In ihren gesellschafts- u. kulturpolit. EsErzählerin, Hörspiel- u. Jugendbuchsays u. Artikeln widmet sich S. Fragen der autorin. neuen Medien, u. a. der E-Book-Diskussion u. den Klimawandel-Diskursen, u. übt deutl. Nach dem Lyzeumsbesuch in Neuwied u. Kritik an der ihrer Meinung nach hinderli- dem Studium in Berlin u. Marburg (Promochen u. überzogenen, weil unehrl. Political tion 1929) war S. bis 1932 Lehrerin in Berlin. Correctness innerhalb der dt. Öffentlichkeit. In ihren ersten Romanen bearbeitete sie Im Zusammenhang mit Letzterem verurteilt Stoffe des MA, so in dem im 9. Jh. spielenden sie die relative Zurückhaltung der dt. Intel- Buch Frau Oda. Verheißung und Geschichte. Buch lektuellen u. fordert die Abschaffung einer der Ludolfinger (Bln. 1937). Die glückhafte Schuld ausschließlich Links-Rechts-Verortung sowie (ebd. 1940. Neuausg. Gött. 1968) ist eine die übereilte moralische Verdammung kon- Adaption der später durch Thomas Mann troverser u. damit diskussionsstiftender berühmt gewordenen Legende vom Gregori-

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us auf dem Stein. Gegen Kriegsende siedelte S. nach Osterode über u. behandelte – geprägt von der Anteilnahme an kreatürl. Leid u. dem Glauben an die überwindende Kraft der Liebe – Stoffe der Gegenwart, so in Engel, Menschen und Dämonen (Gütersloh 1951) Schicksale auf der Flucht aus Ostpreußen. Später schrieb S. Kinderbücher, v. a. vermenschlichende Tiergeschichten. Weitere Werke: Das gerechte Schwert. Bln. 1939 (E.en). – Und was geschieht, ist doch gleich. Mchn. 1941 (E.). – Die gläserne Kugel. Gütersloh 1950 (R.). – Esther. Ein bibl. Spiel v. den Königen u. v. der Reinheit des Herzens. Mchn. 1955. – Geliebter Stromer u. a. wahre Tiergesch.n. Ebd. 1964. – Ein Herz für Tiere. Ebd. 1975. Remseck bei Stgt. 1991 (E.en). Literatur: Eva C. Wunderlich: Zweimal Gregorius: Thomas Mann u. H. S. In: GQ 38 (1965), H. 4, S. 640–651. – Petra Hörner: ›ausgespannt zwischen Himmel u. Hölle‹. H. S.: Leben u. Werk. In: Vergessene Lit. – Ungenannte Themen dt. Schriftstellerinnen. Hg. dies. Ffm. u. a. 2001, S. 7–19. – Dies.: H. S.s Gregorius-Legende. Zur Rezeption des mittelalterl. Gregorius-Stoffes im 20. Jh. In: ebd., S. 21–42. – Carola L. Gottzmann: ›und war nicht Nichts‹. H. S.s ›Engel, Menschen u. Dämonen‹. In: ebd., S. 43–62. – Dies.: H. S. Leitmotive u. Grundthemen in ihrem Werk. In: Pommern in der Lit. nach 1945. Red.: Lisaweta v. Zitzewitz. Kulice 2005, S. 117–136. Walter Olma

Stephani, Claus, * 25.7.1938 Kronstadt/ Bras¸ ov, Provinz Siebenbürgen in Rumänien. – Ethnologe, Märchensammler, Romanautor, Lyriker, Kunsthistoriker, Journalist. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Rumänien nur wenigen Deutschen ein direkter Zugang zur Kultur ermöglicht. So folgte der junge S. dem zweiten Bildungsweg, arbeitete als Elektriker, Maurer u. Schriftsetzer u. besuchte gleichzeitig das Abendgymnasium, das er 1958 mit dem Abitur abschloss. Zum Studium der Germanistik u. der Rumänistik (1960–1965) wechselte er nach Bukarest. Seine ersten, in Zeitschriften publizierten lyr. Versuche brachten ihm Erfolg u. auch eine Aufstiegschance, er wurde nämlich 1967 in die Redaktion der einzigen rumäniendt. Literaturzeitschrift, der »Neuen Literatur«,

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aufgenommen. So blieb er in Bukarest, wo er in den 1970er Jahren den Bukarester deutschen Literaturkreis u. den Poesieclub leitete. In seinem ersten Gedichtband, Frage der Concha (Bukarest 1968), versuchte er sich wie alle seine Generationskollegen von dem sozialistischen Realismus zu distanzieren u. strebte eine eigene Stimme an. Diese Bukarester Jahre wurden durch seine Tätigkeit als informeller Mitarbeiter des rumän. Geheimdienstes Securitate überschattet: Aus seinem späten Bekenntnis Schwester Lüge, Bruder Schmerz. Wie ich IM »Moga« wurde und mich diese Erfahrung bis heute verfolgt (FAZ, 20.11.2010, S. 35) erfährt man von seiner Erpressung als Student u. einer angeblich unschuldigen IMTätigkeit, die anderen, dokumentierten Meinungen nach doch folgenschwer war, weil dadurch mehrere Literaten Nachteile erlitten (vgl. Peter Motzan: Ein Bericht des IM »Moga« und seine Folgen. Securitate und Autoren im kommunistischen Rumänien: Zur Eröffnung des operativen Vorgangs »Mocanu«. In: Siebenbürgische Zeitung. München. Folge 20, 20.12.2010, S. 10.) Es ist zu vermuten, dass S. vor diesem Druck, Belastendes über Studien- u. Redaktionskollegen sowie Literaturkreisbesucher aussagen zu müssen, eine virtuelle Flucht in das Naturleben von technik- u. zivilisationsfernen Volksgruppen ergriff. Er untersuchte jedenfalls die Sagenwelt der Deutschen u. der Juden in den Ostkarpaten, sammelte Märchen, Sagen u. Mythen, aber auch Realia aus der Region Maramuresch, Zips, Nösnerland u. Bukowina, die früher völkerkundlich nicht erforscht wurden, u. veröffentlichte seit den 1980er Jahren beachtenswerte Bände mit diesen Texten (Oben im Wassertal. Erzählberichte. Bukarest 1970. Eichen am Weg. Sagen der Rumäniendeutschen. Cluj-Napoca [Klausenburg] 1983. Jüdische Hirtengeschichten. Ravensburg 1983). Diese Texte scheinen jedoch v. a. ein Ergebnis eigener Rekonstruktionsphilologie zu sein, denn andere Sammlungen weisen auf ihre Existenz in dieser Form nicht hin. Die veröffentlichten Märchen faszinieren allerdings die Leser durch ihre Farbigkeit, Natürlichkeit u. durch die Darstellung der Einheit des Menschen mit der Natur.

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1978–1983 durfte S. mit Parteiempfehlung Stephani, Clemens, * um 1530 Buchau/ im Fernstudium Journalistik studieren; 1984 Böhmen (?), † Febr. 1592 Eger. – Kantor, wurde er stellvertretender Chefredakteur der Dramatiker. »Neuen Literatur«. Vor der Wende 1989 verlor er seinen Sohn bei einem Bergunfall, S. studierte 1554 in Leipzig, siedelte sich worauf 1990 seine Übersiedlung nach 1558 in Eger an, wo er kurz als Kantor an der Deutschland erfolgte. Er ließ sich in Mün- Lateinschule u. dann wohl als Privatlehrer chen nieder u. begann an der Ludwig-Maxi- tätig war. Als Bürger in Eger erwarb er 1576 milians-Universität Europäische Ethnologie eine Druckerei u. erhielt das Recht, auf Jahru. Kommunikationswissenschaften zu stu- märkten seine Ware zu verkaufen. Auseinandieren. S. beendete dieses dritte Studium dersetzungen mit Beamten u. ein Schmäh1995 mit einer Dissertation über Das Wassertal gedicht gegen einen Magister brachten ihn in Ostmarmatien. Erzählvorgang und Erzählfunk- öfter in Schwierigkeiten. 1551 erschien in Nürnberg, durch Hans tion in einem multikulturellen, gemischtethnischen Sachs angeregt, S.s Tragödie Ein erschröckliche Gebiet, dargestellt am Beispiel der Volksmärchen Historia von einer Königin auß Lamparden, die (Mchn. 1996). S. hatte in Deutschland mit den Bänden Geschichte der Langobardenkönigin RosaOstjüdische Märchen (Mchn. 1998) u. »War einer munde. Eine geistliche Action auß Ludovici Bero Hersch, Fuhrmann«. Leben und Leiden der Juden in Dialogo: Wie man des Teuffels listen unnd eingeben Oberwischau (Ffm. 1991. 22005) wegen der [...] entpfliehen soll (Nürnb. 1568) ist eine BeEntdeckung des untergegangenen jüd. Agrar- arbeitung des Jedermann-Motivs, in der sich u. Naturlebens in den Ostkarpaten Erfolg. leichte protestantische Tendenzen erkennen Sein Roman Blumenkind (Mchn. 2009) behan- lassen. Das wohl gelungenste Drama S.s, bedelt auch diese Thematik, die er durch das merkenswert unabhängig von den zahlreiIneinanderfließen der Zeitebenen auch mo- chen Bearbeitungen desselben Themas im 16. Jh., ist Ein kurtze und fast lustige Satyra, oder dern zu gestalten wusste. Weitere Werke: Das Saurierfest. Kurzprosa. Bawrenspil (ebd. 1568). Nur handschriftlich Bukarest 1970. – Ruf ins offene Land. Ebd. 1975 überliefert (UB Heidelberg) sind Überset(L.). – Am Monte V. V. Milano 1975 (L.). – Manch- zungen der Andria u. des Eunuchus des Terenz mal im Ostwind. Bukarest 1977 (R.). – Draußen in Reimen (1554); sie zeigen eine geschickte singt Dorkia. Lyr. Marginalien. Ebd. 1985. – Stunde Handhabung der Sprache sowie Übung in der der Wahrheit. Winsen/Luhe 2007 (E.en). – Die Verssetzung u. waren ausdrücklich für die seltsame Süße der Gastlichkeit. Gesch.n aus SieAufführung bestimmt. benbürgen. Ebd. 2007. – Märchen der Rumäniendeutschen. Mchn. 1991. 21994. – Sathmarschwäb. Lebensgesch.n. Marburg 1993. – ›Grüne Mutter Bukowina‹. Dt.-jüd. Schriftsteller der Bukowina (Ausstellungskat.). Mchn. 2010. Literatur: Emmerich Reichrath (Hg.): Reflexe. Krit. Beiträge zur rumäniendt. Gegenwartsliteratur. Bukarest 1977, S. 232–240. – Ders. (Hg.): Reflexe II. Aufsätze, Rezensionen u. Interviews zur dt. Lit. in Rumänien. Cluj-Napoca 1984, S. 153–158. – William Totok: Streiflichter. Aus den Hinterlassenschaften der Securitate. In: Halbjahreschr. für südosteurop. Gesch., Lit. u. Politik, 2010, H. 1–2, S. 33–64. András F. Balogh

Weitere Werke: Erbärmliche [...] newe zeitung, der vor unerhörten jämmerlichen Wassersnoth [...] in Keiser Carls Bad [...]. Nürnb 1582. Internet-Ed. in: VD 16. Regensb. 1582. – Kompositionen: Cantiones sacrae. 1560. – Suavissimae et iucundissimae harmoniae [...]. Nürnb. 1567. Nachdr. Köln 1994. – Liber secundus. Suavissimarum et iucundissimarum harmoniarum [...]. Ebd. 1568. Nachdr. Köln 1994. – Schöner außerleßner dt. Psalm, u. anderer künstlicher Moteten u. geistlichen lieder XX. [...]. Ebd. 1568. – Cantiones triginta selectissimae [...]. Ebd. 1568. Nachdr. Köln 2002. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Rudolf Wolkan: C. S. In: ADB. – Ernst Frank: C. S., Ehrenrettung u. volkstüml. Nachrichten über Leben u. Werk des Egerländer Dichters aus Buchau in Westböhmen. Brünn u. a. 1944. – Wolfgang F. Michael: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern 1984 (Lit.). – Lexikon zur dt. Musikkultur Böhmen,

245 Mähren, Sudetenschlesien. Hg. Sudetendt. Musikinstitut. 2 Bde., Mchn. 2000, Sp. 2654–2656 u. Register. – Hans Haase: C. S. In: MGG 2. Aufl. Bd. 15 (Pers.), Sp. 1431 f. Markus Mollitor / Red.

Stephanie, Gottlieb, d.J., eigentl.: G. Stephan, * 19.2.1741 Breslau, † 28.1.1800 Wien. – Schauspieler, Regisseur, Dramatiker. S., Sohn eines Hospitaldirektors, wollte nach dem Besuch des Breslauer Elisabetanums in Halle Rechtswissenschaft studieren, musste jedoch 1757 in ein preuß. Husarenregiment eintreten. 1760 in der Schlacht bei Landeshut in Gefangenschaft geraten, wurde S. in das österr. Heer aufgenommen, nach dem Hubertusburger Frieden 1763 als Feldwebel verabschiedet, bald aber in Wien zum Werbeoffizier ernannt. Durch Vermittlung seines älteren Bruders Christian Gottlob († 1798), Schauspieler am Wiener Hoftheater, der als Theaterdichter auch mit Bearbeitungen u. Übersetzungen hervorgetreten war, konnte S. im Landhaus Franz Anton Mesmers in Privataufführungen als Schauspieler auftreten. Der Erfolg sprach sich rasch herum, sodass er 1769 an das Kärntnertortheater verpflichtet wurde. Diese Bühne schickte sich – unter dem Einfluss Joseph von Sonnenfels’, dessen beabsichtigte Theaterreform auch eine bessere Kontrolle durch die Zensur ermöglichen sollte – damals gerade an, die Hanswurststücke u. die von frz. u. ital. Schauspielern bestimmte Stegreifkomödie durch regelmäßige, d. h. vollständig einstudierte u. nicht improvisierte Komödien abzulösen. Der ital. Impresario Giuseppe d’Afflisio u. der beim Publikum beliebte Joseph Felix Kurz, Meister der Stegreifburleske, versuchten 1770, den Konkurrenten S. durch die niederösterr. Regierung wegen Insubordination ausweisen zu lassen. Die Intrige scheiterte, da Maria Theresia den Prozess an den Staatsrat verwies. Das Theater wurde an Johann Graf Kohary als Entrepreneur verpachtet. Dessen Stellung, wie die seines Theaterdirektors Franz Anton von Häring, wurde – nicht ohne Zutun S.s, der an der Einrichtung eines Schauspielerparlaments beteiligt war u. sich mit der Schmäh-

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schrift Der Tadler nach der Mode (Wien 1773) von Sonnenfels distanzierte – bald so geschwächt, dass er Konkurs anmelden musste. Da übernahm Joseph II. 1776 die Schauspieler als »k. k. National-Hofschauspieler« u. überließ ihnen das Theater nächst der Burg als Hof- u. Nationaltheater zu weitgehender Selbstverwaltung mit der Maßgabe, »von nun an nichts als gute, regelmäßige Originale und wohlgerathene Übersetzungen darin« aufzuführen u. »bei der Wahl neuer Stücke nicht auf die Menge, sondern auf die Güte derselben Bedacht zu nehmen«. Um Autoren zu solchen Stücken anzuregen, wurden hohe Honorare ausgesetzt. Auch in der neuen Organisationsform, in der S. eine entscheidende Funktion innehatte, kam es zu Querelen, so mit Friedrich Ludwig Schröder u. dem 1798 in die Leitung des Theaters eingetretenen Kotzebue. – S., seit 1771 mit der Schauspielerin Maria Anna Mika verheiratet, hatte sieben Kinder, von denen die Tochter Wilhelmine, verh. Korn, als Schauspielerin zu Ruhm gelangte. Die zeitgenöss. Kritik sprach von S.s schauspielerischen Leistungen überwiegend positiv, tadelte jedoch seine biografisch bedingte Vorliebe für Soldatenrollen. Denselben Vorwurf zog er sich mit seiner eigenen dramat. Produktion zu, die eine Fülle von Soldatenstücken, bürgerl. Lustspielen u. Schauspielen umfasst. Durch die Musikbühne sind S.s Bearbeitungen von Librettovorlagen lebendig geblieben, v. a. zu Mozarts Entführung aus dem Serail (Urauff. 1782) u. zu Doktor und Apotheker von Carl Ditters von Dittersdorf (Urauff. 1786). Weitere Werke: Ausgaben: Sämtl. Schauspiele. 5 Tle., Wien 1777/78. – Sämtl. Singspiele. Liegnitz 1792. – Lustspiele: Die Werber. Nach George Farquhar. Wien 1769. – Die Wirthschafterin [...]. Ebd. 1770. – Die bestrafte Neugierige. Ebd. 1773. – Der Spleen. Ebd. 1776. – Die abgedankten Offiziere. Ebd. 1777 (nach Lessings ›Minna‹). – Der Ostindienfahrer [...]. Ebd. 1781. – Dramen: Die Kriegsgefangenen. Ebd. 1771. – Der Deserteur aus Kindesliebe. Ebd. 1773. Literatur: Susanne Hochstöger: G. S. d.J. In: Jb. der Gesellsch. für Wiener Theaterforsch. 12 (1960), S. 3–82. – Wolfgang Sulzer: Bretzner oder S. d.J. Wer schrieb den Text zu Mozarts ›Entführung‹. In:

Sterchi Wiener Figaro 49 (Juni 1982), S. 6–34. – Helmut Barak: Buff, Herz u. Vogelsang. Die Theaterfamilien S., Lange u. Adamberger im Wien Mozarts. In: Wege zu Mozart. W. A. Mozart in Wien u. Prag. Die großen Opern. Hg. Herbert Zeman. Wien 1993, S. 92–113. – Hans-Joachim Hinrichsen: G. S. d.J. In: MGG. 2. Aufl. (Personenteil), Bd. 15 (2006), Sp. 1432 f. Hans-Albrecht Koch

Sterchi, Beat, * 12.12.1949 Bern. – Erzähler, Dramatiker, Hörspielautor.

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ter« u. d. T. Skizzen aus einem spanischen Dorf (Gött. 1985) veröffentlicht. Die Vertrautheit mit Spanien dokumentiert seine kulturjournalistische Textsammlung Going to Santiago (Zürich 1995). 1999 folgte der Kurzprosaband Auch sonntags etwas Kleines (Zürich), der mit seinen Alltagsminiaturen u. seinem lakon. Stil an Peter Bichsel anknüpft. Mit Beginn der 1990er Jahre wandte sich S. zunehmend dem Theater u. der Dialektsprache zu. Einige von S.s Stücken besitzen einen dezidiert offenen Charakter. Sie schreiben die Zahl der Schauspieler nicht verbindlich vor, stellen die Reihenfolge der Szenen zur Disposition u. überlassen es der Regie oder dem Zuschauer, einen Schluss zu ergänzen. Viele seiner meist kurzen Dramentexte wurden auch als Hörspiele bearbeitet. 1994 erhielt S. den Basler Hörspielpreis. In jüngerer Zeit hat sich S. der spoken-word-Bewegung angenähert u. ist Mitgl. der Autorengruppe »Bern ist überall«. Er hat Sprechtexte produziert, die Techniken der Konkreten Poesie aufgreifen u. ebenfalls teilweise in Berner Mundart abgefasst sind (Ging Gang Gäng. Luzern 2010). S. lebt in Bern u. ist als Dozent am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel tätig.

S. wanderte nach Schulbesuch u. Metzgerlehre 1970 nach Kanada aus, wo er verschiedene Gelegenheitsarbeiten ausübte. Er studierte Anglistik in Vancouver, erwarb den B. A. u. lebte 1975–1977 als Englischlehrer in Tegucigalpa (Honduras); danach setzte er das Studium in Montreal fort u. unterrichtete am dortigen Goethe-Institut Deutsch. In dieser Zeit entstand S.s erfolgreicher Debütroman Blösch (Zürich 1983. 1999; Hörbuch 2010), der in der deutschschweizerischen Literatur neben Marcel Konrads Stoppelfelder als bedeutender Beitrag zum Genre des krit. Heimatromans angesehen werden kann u. mehrfach übersetzt wurde. Blösch erzählt die Parallelgeschichte des span. Gastarbeiters Weitere Werke: Äm Gessler sy Huet. Belp 1997 Ambrosio u. der titelgebenden Leitkuh, deren (Urauff. Bern 1990). – Vom Elend in den Chefetabeider Weg in das Schlachthaus einer gen. Belp 1997 (Dr., Urauff. Bern 1991; Hörsp. Schweizer Kleinstadt führt. Mensch u. Tier 1993.). – Nid lugg lah gwinnt. Belp 1997 (Dr.). – Dr erscheinen als Opfer einer entfesselten Ma- Sudu. Belp 1997 (Dr.). – Ich bin nicht Melania schinerie, das Schlachthaus fungiert als Meiler! Belp 1998 (Dr.). – Das Muttermal. Belp 1998 (Dr.). – Das Matterhorn ist schön. Belp 2000 Chiffre einer im Zeichen von Vernichtung (Dr., Hörsp. 2002). – Hörspiele (alle SR DRS): Dr stehenden Gesellschaft. Ein archaisches Forschtinspäkter. 1995. (Belp 1997). – Nach Addis Blutritual am Ende des Romans dient als Abeba. 2002. – Bitzius. 2004. (abgedr. in: Ging myth. Protest gegen die Entfremdung zwi- Gang Gäng; CD 2004). – Grabengang. 2005. – schen Mensch u. Kreatur u. die Technisierung Parlez-vous french? 2005 (zus. mit Grabengang als bzw. Kommerzialisierung ihres Verhältnis- CD 2005). – Nach New York. 2007. ses. Die drast. Schilderungen der SchlachtLiteratur: Thomas Kraft: B. S. In: LGL. hausszenerie u. S.s Montage von DokumenJürgen Egyptien ten rücken das Werk in die Nachfolge von Döblin u. Sinclair. S. erhielt mehrere Preise Stern, Adolf, eigentl.: Friedrich A. Ernst, für diesen Roman, darunter den Weinpreis * 14.6.1835 Leipzig, † 15.4.1907 Dresden. für Literatur (1983), den Berner Literaturpreis – Erzähler, Lyriker, Dramatiker, Literar(1984) u. den Preis der Schillerstiftung (1984). historiker, Publizist. Von 1984 bis 1994 lebte S. in dem Gebirgsdorf Chiva de Morella im Südosten Aus kleinen Verhältnissen kommend, qualiSpaniens. Seine erste Begegnung mit diesem fizierte S. sich autodidaktisch für das UniOrt hat er im zweiten Heft der von Heinz versitätsstudium der Geschichte, SprachwisLudwig Arnold herausgegebenen »sudelblät- senschaft, Literatur- u. Kunstgeschichte in

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Leipzig, später in Jena (Promotion 1859). Theobald Bieder: A. S. u. seine Beziehungen zu Danach arbeitete er für kurze Zeit als Lehrer Friedrich Hebbel. Lpz. 1936. – Goedeke Forts. Joachim Linder / Red. in Dresden, ging jedoch zurück an die Universität u. entfaltete eine breite publizistische Tätigkeit. 1868 wurde er a. o., 1869 o. Prof. Stern, Carola, eigentl.: Erika Zöger, geb. für Literatur- u. Kulturgeschichte am Dres- Assmus, * 14.11.1925 Seebad Ahlbeck/Indener Polytechnikum (TH). 1863–1887 war S. sel Usedom, † 19.1.2006 Berlin. – Publimit der Landschaftsmalerin Malwina Krause zistin. verheiratet, danach mit der Klaviersolistin Früh vaterlos, wuchs S. in kleinbürgerl. UmMargarete Herr († 1899). S. war bekannt u. gebung auf. Nach Gründung der DDR trat sie befreundet mit zahlreichen Persönlichkeiten in die SED ein u. wurde Lehrerin an der Pardes kulturellen Lebens, wie Liszt u. Corneliteihochschule in Kleinmachnow. Von 1951 an us, Hebbel, Gutzkow u. Otto Ludwig. studierte sie in West-Berlin Soziologie u. PoSeit 1855 veröffentlichte S. in rascher Folge litologie. Sie wurde Assistentin am Institut Lyrik u. Erzählprosa; v. a. seine histor. Nofür politische Wissenschaften u. untersuchte vellen u. Romane fanden Anklang. Er kann den Strukturwandel der DDR von der Grünzudem als einer der führenden Literaturkridung bis zum bürokratischen Totalitarismus tiker seiner Zeit gelten, der in den wichtigs(Porträt einer bolschewistischen Partei. Köln 1957. ten Zeitungen u. Zeitschriften publizierte u. Ulbricht – Eine politische Biographie. Ebd. 1964. dabei im Wesentlichen das Literaturkonzept Bonn/Bln. 1991). des poetischen Realismus vertrat (TeilsammNach einigen Jahren als freie Journalistin lung z. B. in: Zur Literatur der Gegenwart. Bilder übernahm S. 1960 das polit. Lektorat bei und Studien. Lpz. 1880). 1882 erschien sein Kiepenheuer & Witsch; von 1970 bis zur »Zeitroman« Ohne Ideale (ebd.), mit dem er Pensionierung 1985 war sie Redakteurin den »Materialismus« weiter Schichten kritibeim WDR. Die »Sozialistin mit menschlisierte. S. schrieb mehrere Darstellungen der chem Antlitz« (Rolf Schneider) beobachtete u. Literaturgeschichte, wobei v. a. sein Blick auf kommentierte die Innenpolitik der Bundesdie »Weltliteratur« hervorzuheben ist (Gerepublik u. forderte Demokratie u. Bürgerschichte der Weltliteratur. Stgt. 1888) sowie als rechte ein. Sie war Mitherausgeberin der frühes Beispiel das Lexikon der deutschen NaZeitschrift »L 76« (seit 1980 u. d. T. »L 80«), tionallitteratur (Lpz. 1882). Als (Mit-)Herauseines Forums des linksdemokratischen Diageber betreute er die Werke von Hauff, Herlogs (1988 eingestellt). der, Körner, Kügelgen u. – mit Biografie (Lpz. Zur Lebensfrage sollte S. ihre affirmative 1891) – Otto Ludwig. Haltung zum Faschismus in ihrer Jugend Weitere Werke (Erscheinungsort, wenn nicht werden (In den Netzen der Erinnerung. Reinb. anders angegeben: Lpz.): Gedichte. 1855. – Poet. 1986. 1995): Die Schuld der Mitläufer verErzählungen. 1855. – Jerusalem. 1858 (Epos). – Die pflichtet zum Kampf für Demokratie u. Puritanerin. 1859 (D.). – Vier Titularkönige im 18. Jh. Dresden 1860. – Bis zum Abgrund. 2 Bde., 1861 Menschenrechte (Den Verfolgten helfen. In: L (Erzählprosa). – Am Königssee. 1863 (N.n). – His- 76, 1, 1976, S. 58–66). Das Pseudonym Stern tor. Novellen. 1866. – Das Fräulein v. Augsburg. ist Ausdruck der Solidarität mit den Opfern. 1868 (E.). – Fünfzig Jahre dt. Dichtung [Prosa]. 1961 gründete S. mit Gerd Ruge die dt. Sek1820–70. Mit biogr.-krit. Einl.en. 1871 [1872]. – tion von amnesty international. Johannes Gutenberg. 1872 (Epos). – Aus dem 18. Jh. Biogr. Bilder u. Skizzen. Bln. 1874. – Die Musik in der dt. Dichtung. 1880. – Die letzten Humanisten. 1881 (R.). – Gesch. der neueren Lit. 7 Bde., Bln. 1883 ff. – Camoëns. 1886 (R.). – Auf der Reise. 3 Novellen. Dresden 1891. – Beiträge zur Litteraturgesch. des 17. u. 18. Jh. 1893. Literatur: Adolf Bartels: A. S. Der Dichter u. der Literaturhistoriker. Dresden u. a. 1905. –

Weitere Werke: Willy Brandt. Reinb. 1975. Überarb. u. erw. Neuausg. 2002. – Zwei Christen in der Politik. Gustav Heinemann, Helmut Gollwitzer. Mchn. 1979. – Strategien für die Menschenrechte. Köln 1980. – Ich möchte mir Flügel wünschen. Reinb. 1990 (Biogr. der Dorothea Schlegel). – Der Text meines Herzens. Das Leben der Rahel Varnhagen. Reinb. 1994. Augsb. 2000. – Isadora Duncan u. Sergej Jessenin. Der Dichter u. die Tän-

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zerin. Reinb. 1998. Köln 2007. – Die Sache, die man Liebe nennt. Das Leben der Fritzi Massary. Bln. 1998. Reinb. 2001. – Männer lieben anders. Helene Weigel u. Bertolt Brecht. Bln. 2000. Reinb. 2001. – Doppelleben. Köln 2001. Reinb. 2004. – Alles, was ich in der Welt verlange. Das Leben der Johanna Schopenhauer. Köln 2003. Reinb. 2005. – Uns wirft nichts mehr um: Eine Lebensreise. Aufgezeichnet v. Thomas Schadt. Reinb. 2004. 2005. – Auf den Wassern des Lebens. Gustaf Gründgens u. Marianne Hoppe. Köln 2005. Reinb. 2007. – Kommen Sie, Cohn! Friedrich Cohn u. Clara Viebig (zus. mit Ingke Brodersen). Reinb. 2006. 2008. – Herausgeberin: Was haben die Parteien für die Frauen getan? Reinb. 1976. – amnesty international. Wer schweigt, wird mitschuldig. Ffm. 1981. – Eine Erdbeere für Hitler. Dtschld. unterm Hakenkreuz (zus. mit I. Brodersen). Ffm. 2005. Literatur: Rolf Schneider: Ein Jude verschwindet, eine Synagoge brennt ... In: Der Spiegel 21 (1986), S. 53 ff. – Ingeborg Drewitz: Rez. zu ›In den Netzen der Erinnerung‹. In: L 80, 38 (1986), S. 152–154. – Elaine Martin: Autobiography, Gender, and the Third Reich. Eva Zeller, C. S., and Christabel Billenberg. In: Gender, Patriarchy, and Fascism in the Third Reich. Hg. dies. Detroit, Mich. 1993, S. 169–200. – Walter Hinck: ›Traumtänzerisch zwischen den Lagern‹. Joachim Seyppel. C. S. In: Ders.: Selbstannäherungen. Düsseld. 2004, S. 90–97. – Christiane Micus-Loos: Christa Wolf, C. S., Günter de Bruyn u. Günter Kunert. Zum Porträt einer Generation. In: Bios 19 (2006), H. 2, S. 205–233. – Peter Bender: Abschied v. C. S. In: SuF 58 (2006), H. 2, S. 277–281. Ulrike Leuschner / Red.

Stern, Gerson, * 7.7.1874 Holzminden, † 15.1.1956 Jerusalem. – Prosaautor, Lyriker. Der einer jüd. Kaufmannsfamilie entstammende S. verbrachte seine Kindheit in Holzminden, ehe die Familie 1884 nach Elberfeld zog. Dort besuchte er bis 1890 das Gymnasium, das er nach dem frühen Tod des Vaters 1888 mit der Sekundarreife verließ, um eine kaufmänn. Ausbildung anzutreten. Nach Auslandsaufenthalten kehrte er 1904 nach Elberfeld zurück. Bereits in seiner Jugend begann S. Gedichte in konventioneller neoromant. Manier zu schreiben. Zwar schloss er sich einer literar. Gesellschaft in Elberfeld an, doch scheint er nie wirklich versucht zu haben, mit seiner

Lyrik öffentlich hervorzutreten. Um 1915 entstand Symphonie, eine längere Dichtung für verschiedene Stimmen. Wie das einzige szen. Werk Das Ich im Lehnstuhl. Auch ein Totentanz nahm sie Einflüsse des Expressionismus auf. Max Reinhardt soll in den 1930er Jahren eine Aufführung des Stücks geplant haben. Nach dem Ersten Weltkrieg, den er in Berlin verbrachte, wo er auch seine Frau Erna, geb. Schwarz kennen gelernt u. 1917 geheiratet hatte, erwarb S. ein Landgut in Kiedrich im Rheingau. Dort kam 1920 sein einziges Kind Joel zur Welt. Nachlassende Gesundheit zwang S. dazu, seine kaufmänn. Tätigkeit ab 1931 weitestgehend zu reduzieren. Bei der Abfassung einer Familienchronik entdeckte er sein erzählerisches Talent. Gegen die wachsende rassistisch motivierte antisemitische Bedrohung schrieb er den Roman Weg ohne Ende, der 1934 im Erich Reiss Verlag (Bln.) erschien (Neuausg. Siegen 1999) u. S. über Nacht unter den Juden in Deutschland bekannt machte. Dieser »jüdische Roman«, so der Untertitel, gehört zu den herausragenden literar. Zeugnissen des zeitgenöss. Selbstvergewisserungsdiskurses, mit dem dt. Juden auf ihre vom nationalsozialistischen Staat betriebene Ausgrenzung reagierten. Im Spiegel eines im 18. Jh. angesiedelten Geschehens schildert der Roman die Problematik jüd. Lebens in einer christlich geprägten Umwelt u. plädiert für ein historisch gegründetes Selbstbewusstsein als Garant des Überlebens. Die Erzählung Auf drei Dingen steht die Welt konnte 1935 nur noch in Fortsetzungen in der »Jüdischen Rundschau« veröffentlicht werden (Neuausg. Siegen 2003). Hier stellt S. die ideolog. u. religiöse Zersplitterung der Juden im Deutschland um die Jahrhunderwende dar. Orthodoxer Religiosität, assimilator. Selbstaufgabe u. illusor. Hoffnung auf Integration in die Mehrheitsgesellschaft tritt hier ein aufkommender religiös fundierter Zionismus der jungen Generation als alternative Zukunftsperspektive entgegen. S. plante ab 1935 seine Emigration nach Palästina, die ihm aber erst 1939 gelang. Dort schrieb er den Roman Die Waage der Welt, der kurz nach seinem Abschluss 1948 in hebräischer Übersetzung erschien (dt. Erstausg.

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Siegen 2007). Dieser Roman gibt eine ein- Elisabeth Emter u. J. Graf. Tüb. 2000, S. 119–132. – dringliche – nicht mehr nur aus einer dezi- Klaus Kieckbusch: Der Schriftsteller G. S. In: Jb. für diert jüd. Sicht – Schilderung der Monate vor den Landkreis Holzminden 18 (2000), S. 131–152. u. nach der Übernahme der Macht durch die – Saskia Schreuder: G. S. In: MLdjL. – Dies.: Würde im Widerspruch. Jüd. Erzähllit. im nationalsoziaNationalsozialisten. Die Radikalität u. Brulist. Dtschld. 1933–1938. Tüb. 2002, bes. talität dieses Umbruchs wird gespiegelt v. a. S. 91–179. – Friedrich Voit: Dt.-Jüd. Lit. im Schatin den Geschicken der Mitglieder einer jüd. ten der Shoa. Zum Werk des Schriftstellers u. Familie. Eine geplante Fortsetzung des Ro- Dichters G. S. (1874–1956). In: Lit. u. Leben. Anmans konnte S. nicht mehr abschließen. – Die thropologische Aspekte in der Kultur der Moderne. drei Prosawerke S.s, obgleich nicht als Trilo- FS Helmut Scheuer. Hg. Günter Helmes u. a. Tüb. gie verfasst, fügen sich zu einer Abfolge ein- 2002, S. 257–270. – Ders.: ›Das Wort zu finden, das dringl. Bilder entscheidender Abschnitte jüd. alle Türen öffnet‹. Zum literar. Schaffen v. G. S. Lebens in Deutschland von der Emanzipation (1874–1956). In: Zwischen Rassenhass u. Identiim 18. Jh., ihrem Höhepunkt um 1900 bis zur tätssuche. Dt.-jüd. literar. Kultur im nationalsozialist. Dtschld. Hg. Kerstin Schoor. Gött. 2010, Zerstörung im 20. Jh. S. 367–382. Friedrich Voit S. schrieb ein umfangreiches lyr. Werk, das über 60 Jahre hin entstand u. von dem bislang nur ein Bruchteil publiziert ist, das aber Stern, Horst, * 24.10.1922 Stettin. – Jourdurchaus einen bemerkenswerten Eigenwert nalist, Sachbuchautor, Erzähler. hat. Einzelne Gedichte erschienen seit den 1930er Jahren in Zeitungen. Eine geplante Der gelernte Bankkaufmann war nach dem Auswahl konnte 1937 in Deutschland nicht Zweiten Weltkrieg Dolmetscher bei der mehr herausgebracht werden. S. selbst ver- amerikan. Armee, 1947–1955 Gerichtsreporöffentlichte eine für seine Altersdichtung ter bei den »Stuttgarter Nachrichten«, dacharakterist. Auswahl in dem schmalen Band nach freier Autor u. Herausgeber einer Seglerzeitschrift. Nach Schulfunksendungen Stille Wege (Jerusalem 1945). Weitere Werke: Betrachtungen (1918–1930; über Tiere (Gesang der Regenwürmer. Stgt. 1967) unveröffentlicht). – Brauchen wir religiöse Form? wurde S. mit der hervorragend recherchier(Vortrag, 1934; unveröffentlicht). – Die drei Nächte ten, dramaturgisch professionellen Fernsehder Esther (E., 1936; unveröffentlicht). – Glück serie Sterns Stunde populär, in der er einen lässt sich nicht umbringen (E. für Jugendliche, ca. verantwortungsvollen Umgang mit der hei1938; unveröffentlicht). – Jüd. Roman in Dtschld. mischen Fauna zu fördern suchte. Mit geleIn: Israelitisches Familienblatt, 28.4.1938, S. 28 gentlich drast. Mitteln prangerte er ver(Ess.). – Der Abschied (autobiogr. E., 1939. Erstmeintl. Tierliebe an, die aus Unkenntnis u. druck in: Friedrich Voit: Der Abschied. Zu einer Erzählung v. G. S. In: Offene Fragen. 70 Jahre PEN- Dummheit zur Tierquälerei führt. Allerdings Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland. war dem der Objektivität verpflichteten S. Hg. Chaim Noll. Heidelb. 2005, S. 81–91). – Me- auch die nur emotional begründete Ablehnora (hg. zus. mit Schalom Ben-Chorin). Jerusalem nung von Tierversuchen zuwider. So mahnte 1941 (Anth.; darin das erste Kapitel v. ›Die Waage er in seiner 1978 ausgestrahlten Fernsehserie der Welt‹ u.d.T. ›1932‹). – Jerusalemer Kunstbe- Die Stellvertreter. Tiere in der Pharmaforschung richt (Kolumne im ›Mitteilungsblatt‹, Tel Aviv, (u. d. T. Tierversuche. Reinb. 1981) Tierver1946–1955). suchsgegner u. Forscher zur Einsicht in die Literatur: Hans J. Schütz: ›Ein dt. Dichter bin Notwendigkeit u. zur Ehrlichkeit. ich einst gewesen.‹ Vergessene u. verkannte Auto1972 gründete S. gemeinsam mit Verhalren des 20. Jh. Mchn 1988, S. 258–262, 329. – Ru- tensforschern u. Zoologen die Gruppe Ökodolf Fenzl: G. S. Kaufmann u. Schriftsteller. Kiedlogie. Die Herausgeberschaft der von ihm richer Bürger v. 1920 bis 1937. In: Rheingau Forum 1981 begründeten Zeitschrift »Natur« gab er 3 (2000), S. 22–36. – Johannes Graf: G. S. u. sein Roman ›Weg ohne Ende‹ (1934). Erinnerung an 1984 auf. Literarisch debütierte S. mit dem einen weitgehend vergessenen Autor. In: Produk- Gedicht Der Zweifler (1946) u. der Erzählung tivität des Gegensätzlichen. Studien zur Lit. des 19. Obergefreiter Kluncke (1949). Für Aufsehen u. 20. Jh. FS Horst Denkler. Hg. Julia Bertschik, sorgte er mit seiner fiktionalen Autobiografie

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des Stauferkaisers Friedrich II. (Mann aus Apulien. Mchn. 1986), die philosophischen Traktat, naturwissenschaftl. Abhandlung, Minnedichtung u. bildhafte Erzählung verbindet. Mit dem Werk, dem Anekdoten u. Legenden ebenso zugrunde liegen wie histor. Fakten, bearbeitete S. vertrautes Terrain: Denn mit Friedrich, dem Ornithologen u. – in S.s Verständnis – objektiven Naturbeobachter, fühlte er sich als Geistesverwandter verbunden. Mit der Jagdnovelle (ebd. 1989) nahm S. seine frühere Auseinandersetzung mit der (Bären-)Jagd in literar. Form wieder auf, die bes. in den USA als Kritik an Ernest Hemingway gelesen wurde. Der autobiografisch geprägte Protagonist in Klint. Stationen einer Verwirrung (ebd. 1993) verzweifelt schließlich an der allg. Ignoranz gegenüber ökolog. Problemen. In Herausgeberfiktion werden die teils sprachkritischen, in Wahn u. Tod endenden Aufzeichnungen Klints kommentiert dargeboten. S. zog sich 1993–2000 nach Irland zurück, publizierte aber weiter in dt. Zeitungen. In bibliophiler Kleinauflage erschien 1994 der Gedichtband Kopfliebe (Hauzenberg). Weitere Werke: In Tierkunde eine 1. Stgt. 1965. – Sterns Bemerkungen über Bienen. Mchn. 1971. – [...] über Hunde. Ebd. 1971. – [...] über Pferde. Ebd. 1971. – Mut zum Widerspruch. Ebd. 1974. – Leben am seidenen Faden. Die rätselvolle Welt der Spinnen (zus. mit Ernst Kullmann). Ebd. 1975. – Das Horst-Stern-Lesebuch. Hg. Ulli Pfau. Ebd. 1992. – Das Gewicht einer Feder. Reden, Polemiken, Essays, Filme. Hg. Ludwig Fischer. Ebd. 1997. Literatur: Ludwig Fischer (Hg.): Unerledigte Einsichten. Der Journalist u. Schriftsteller H. S. Hbg. 1997 (mit Bibliogr.). Detlev Janik / André Kischel

Stern, Josef Luitpold, auch: Josef Luitpold, * 16.4.1886 Wien, † 13.9.1966 Wien; Grabstätte: ebd., Grinzinger Friedhof. – Bildungspolitiker; Lyriker, Dramatiker u. Übersetzer. Sein Studium in Wien u. Heidelberg beschloss S. mit einer Dissertation über Das Wiener Volksbildungswesen (Jena 1910). Er war einer der bedeutendsten Bildungspolitiker des Austromarxismus. 1919 gründete er die

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»Sozialdemokratische Kunststelle«. 1924–1926 baute er für die sudetendt. Sozialdemokratie eine Arbeiter-Bildungszentrale auf; 1926–1934 war er Direktor der Arbeiterhochschule Wien-Döbling. 1934 musste S. in die CˇSR emigrieren; 1938 floh er über Frankreich in die USA (1940). Erst 1948 kehrte S. nach Österreich zurück, wo er Bildungsreferent des österr. Gewerkschaftsbundes wurde. S. verfasste Abhandlungen zur Kulturpolitik (Die öffentliche Bücherei. Bern 1936), aber auch Gedichte, Dramen u. Übersetzungen amerikan. u. afrikan. Lyrik. Sein schriftstellerisches Werk hat er – als sein eigener literar. Sachwalter – in einer Großausgabe mit Anmerkungen, biogr. Notizen u. Quellenangaben neu auflegen lassen (Das Sternbild. Gedicht eines Lebens. In: Gesammelte Werke. 5 Bde., Wien 1964–66). Hier finden sich seine lyr. Zyklen mit den für ihn typischen pompös bildhaften Titeln Genius des standhaften Herzens (Wien 1961) oder Die Rückkehr des Prometheus (Bln. 1927). S.s Lyrik ist lehrhaft-pathetisch mit balladenhaften, dramat. Akzenten. Abgesehen von einigen wenigen Liebesu. Naturgedichten widmete er sich thematisch v. a. der Geschichte der unterdrückten Menschheit oder auch Episoden aus Revolutionsepochen. Weitere Werke: Herz im Eisen. Stgt. 1917 (L.). – Klassenkampf u. Massenschulung. Prag 1924. – Der entwurzelte Baum. Bln. 1926 (L.). – Die hundert Hefte. Brünn/New York/Wien 1934–53 (L.). – Sons Like These. New York 1946 (dt. u. engl.). – Die europ. Tragödie. Ebd. 1946. – Das Josef-LuitpoldBuch. Lyrik u. Prosa aus vier Jahrzehnten. Wien 1948. – Bruder Einsam. Einl. u. Ausw. v. Alfred Zohner. Graz/Wien 1960. – Freiheit steigt aus dunkler Nacht. Begegnung mit einem Dichter. Ausgew. u. hg. v. dems. Wien 1961. Literatur: Peter Eppel: J. L. S. in Amerika (1940–1948). In: Jb. Dokumentationsarchiv des Österr. Widerstandes 6 (1987), S. 54–66. – Jürgen Doll: Oratorios et cantates socialistes. Ernst Fischer, J. L. S., Jura Soyfer. In: Religion(s) et littérature en Autriche au XXe siècle. Hg. Arlette Camion. Bern u. a. 1997, S. 79–96. – Hugo Pepper: J. L. S. – ein österr. Arbeiterdichter u. Volksbildner in der Emigration. In: Erwachsenenbildung u. Emigration. Hg. Volker Otto. Bonn 1999, S. 104–110. – Herbert Exenberger: ›Ihr Genossen u. ich‹. Oskar Maria

Sternberg

251 Graf u. J. L. S. In: Sichtungen 8/9 (2005/2006), S. 257–262. Kristina Pfoser-Schewig / Red.

Sternaux, Ludwig, * 17.7.1885 Berlin, † 9.9.1938 Berlin. – Journalist u. Essayist. Der Sohn eines Verlagsbuchhändlers studierte nach dem Abitur am Friedrichwerderschen Gymnasium Rechtswissenschaft u. Philologie u. arbeitete bis 1918 als Theaterkritiker u. Feuilletonredakteur an der »Täglichen Rundschau«. In der Weimarer Republik wurde S. zum renommierten Theater- u. Filmkritiker beim konservativen »Berliner Lokal-Anzeiger«, dem »Tag« u. anderen Zeitungen des Scherl-Verlags. Daneben leitete er die bibliophilen Zeitschriften »Styl« u. »Das Sammler Kabinett« (beide Bln. 1922–24) u. veranstaltete bibliophile Ausgaben für die Maximilians-Gesellschaft u. die Gesellschaft der Bibliophilen (Bücher, die man kennen sollte. Ebd. 1920). Nach der Emigration jüd. Filmschaffender avancierte der antirepublikanisch gesonnene S. zum Chefdramaturgen der Ufa. – Von S.’ zahlreichen histor. u. kulturkrit. Essays sind seine der Mark Brandenburg, Berlin u. Potsdam gewidmeten Reiseskizzen hervorzuheben. Weitere Werke: Gesten der Trauer. Bln. 1905 (L.). – Der Herbst der Dichter. Lpz. 1921. – Schattenspiel um Goethe. Bielef./Lpz. 1922. – Der früh verstummte Mund. Bln. 1923 (L.). – Potsdamer Pastelle. Bln. 1930. Neuaufl. hg. v. Erik Gloßmann. Fotogr. v. Günter Pump. Husum 2009. – Nur so nebenher. Bln. 1937. – Potsdam. Als Flaneur durch die tausendjährige Stadt. Hg. u. mit einem Vorw. v. Georg Holmsten. Ebd. 1990 (Ess.s). – (Hg.): Zwischen den Fronten. Ebd. 1915. Gregor Ackermann / Red.

Sternberg, Leo Maria (seit 1933), auch: L.M.S., * 7.10.1876 Limburg a. d. Lahn, † 26.10.1937 Insel Hvar (Jugoslawien, heute Kroatien). – Lyriker, Dramatiker, Novellist u. Kulturhistoriker. S. entstammte einer jüd. Kaufmannsfamilie u. wuchs in Limburg u. Wiesbaden auf. Seiner nassauischen Heimat eng verbunden, verfasste er zahlreiche regionalhistor. Kulturdarstellungen (am bekanntesten Limburg als Kunststätte. Düsseld. 21911. Nachdr. Limburg

1984). S. studierte Rechtswissenschaft u. arbeitete 1913–1934 als Amtsrichter in Rüdesheim. Die frühen Lyrikbände Küsten (Bln. u. a. 1904) u. Fahnen (Bln./Lpz. 1907) zeugen von impressionistischen Einflüssen D. von Liliencrons u. imitieren den ekstat. Erotismus R. Dehmels; die Neuen Gedichte (Stgt./Bln. 1908) erweitern das Spektrum um neoromant., naturmyst. u. religiöse Themen. Von der Literaturkritik mit wachsender Anerkennung besprochen, veröffentlichte S. seine Lyrik u. a. in der expressionistischen »Aktion« (1912 ff.) u. dem dadaistischen »Sirius« (1916), schloss sich allerdings nie einer literar. Gruppierung an. Nach Kriegsausbruch 1914 beteiligte sich S. an der publizistischen Propaganda, rechtfertigte den dt. Einmarsch in Belgien (Die Maske herunter! Eine Antwort auf den offenen Brief Romain Rollands. Stgt. 1915) u. idealisierte das dt. »Heldenblut« in chauvinistischen u. vitalistischen Kriegsgedichten (gesammelt in Gott hämmert ein Volk. Kriegsdichtungen. Bln./Lpz. 1916). Seine Balladen (Der Heldenring. Bln./ Lpz. 1916) u. seine mystisch-rheinromant. Novellen (Der Venusberg. Rheinische Geschichten. Bln./Lpz. 1916. 21918. Von Freude Frauen sind genannt. Bln./Lpz. 1919) erfreuten sich größeren Erfolgs u. wurden in Auswahlsammlungen u. Schulausgaben wieder abgedruckt (u. a. Du schöner Lärm des Lebens. Eine Auswahl aus den Werken von L. S. Hg. Hans Heinrich Bormann. Bln./Lpz. 1916. L. S. Ein Dichter des Rheins und des Westerwaldes. Hg. M. Reiniger. Langensalza 1925). Nach Kriegsende versuchte S. sich als Dramatiker u. behandelte neben polit. Tagesgeschehen (Die Heimat. Kriegsszene. Stgt. 1918. Die Separatisten. Koblenz 1928) auch religiöse Stoffe (Gaphna. Dramatisches Spiel. Wiesb. 1922). Bereits 1906 trat er aus der jüd. Religionsgemeinschaft aus u. wandte sich zunehmend dem Christentum zu. Die Konversion zum Katholizismus 1933 erfolgte somit nicht allein aus polit. Druck. In den 1920er Jahren verstärkte sich seine völkisch-nationalistische Gesinnung: »Scholle« u. »ererbtes Blut« prägen für S. die Kulturleistung einer Landschaft u. bieten maßgebliche histor. Identitätsbezüge. S. war Mitbegründer des Bundes rheinischer Dichter; zu seinen Be-

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kannten zählten u. a. J. Winckler, H. Grimm u. B. v. Münchhausen, die auch zu dem von S. besorgten stammesgeschichtlich orientierten »Heimatbuch« Land Nassau (Lpz. 1927) beitrugen. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde S. 1934 als Nichtarier zwangspensioniert u. fand nach Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer kaum noch Publikationsmöglichkeiten. S. starb 1937 auf einer Studienreise zu Diokletian in Dalmatien an Herzversagen. Obwohl seine Texte zeitgenössisch viel besprochen, neuaufgelegt, kompiliert u. vertont wurden, ist S.s Werk heute weitgehend vergessen. Weitere Werke: (Hg.): Der Westerwald. Düsseld. 1911. 21924. Nachdr. 1984. – Ausgew. Gedichte. Hbg./Mchn. 1914. – (Hg.): Kriegslieder aus 1914/15. Wiesb. 1915. – Im Weltgesang. Bln. 1916. – Die Junggräfin. Drama in fünf Akten. Köln 1923. – Befreites Land. Schausp. in drei Aufzügen. Oberlahnstein/Rhein 1930. – Die Sängerin Gottes. Die dt. Mystikerin Hildegard. Limburg 1934. Literatur: Bibliografie: Titus Grab: ›Der Mensch ist um seiner Träume willen da.‹ Leben u. Werk v. L. S. Mainz 1991, S. 142–165. – Kosch. – Weitere Titel: Detmar Heinrich Sarnetzki: L. S. In: Nassauische Lebensbilder. Bd. 6, Wiesb. 1961, S. 324–334. – T. Grab: ›Totenstille u. Einsamkeit‹. L. S. u. der Westerwald. In: Wäller Heimat. Jb. des Westerwaldkreises 1990, S. 121–127. – Heinz Maibach: L. S. Zum Leben u. Werk des jüd. Dichters, Richters u. Kulturhistorikers. In: Nassauische Annalen 101 (1990), S. 173–184. – Otto Renkhoff: L. S. In: Naussische Biogr. Wiesb. 21992, S. 783 f. – Gertrude Cepl-Kaufmann u. a.: Der Bund rhein. Dichter 1926–1933. Paderb. u. a. 2003. Nicolas Detering

Sternberger, Dolf, eigentl.: Adolf S., * 28.7.1907 Wiesbaden, † 27.7.1989 Darmstadt. – Essayist. Der Sohn eines Revisors studierte in Heidelberg bei Karl Jaspers u. in Freiburg i. Br. bei Martin Heidegger. 1932 promovierte S. in Frankfurt/M. bei Paul Tillich mit Der verstandene Tod. Untersuchung zu Martin Heideggers Existenzialontologie (Lpz. 1934). Die Kritik an Heideggers kultisch-dunklem Philosophieren u. seinem Denken über den Tod beschäftigte S. zeitlebens. Dabei wollte er, gegen den Anspruch, auch noch den Tod phi-

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losophisch zu verstehen, »seine Unbegreiflichkeit deutlich werden lassen«. Auch S.s histor. Analysen verweigern sich dem Wunsch, alles zu erklären. So entwickelte er in seinem Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert (Hbg. 1938. Neudr. Ffm. 1974) zur selben Zeit wie Walter Benjamin ein »konfiguratives« Verfahren, das die »Phänomene und Gedanken, Figuren, Gebärden und Gefühle dieser bestimmten Epoche« nicht »erklärt, sondern rein physiognomisch beschreibt«. Benjamin vermutete hier zu unrecht ein Plagiat seiner Passagen. Er stimmte S. grundsätzlich zu, hielt S.s Buch aber für »dürftig« u. »zweideutig«. 1934–1943 war S. bis zu deren Verbot Redakteur der »Frankfurter Zeitung«. Eine Reihe von Essays aus dieser Zeit, die S.s zum Teil verdeckte Schreibweise dokumentieren, erschien 1950 im Suhrkamp-Verlag (Bln./ Ffm.). Nach 1945 gab er bis 1949 zusammen mit Karl Jaspers u. Werner Krauss die Zeitschrift »Die Wandlung« heraus, 1950–1959 »Die Gegenwart«, 1954–1956 die Reihe Parteien – Fraktionen – Regierungen, deren Titel für S.s besonderes politolog. Interesse typisch ist, u. von 1970 an die »Politische Vierteljahresschrift«. Aus einer Serie von sprachkrit. Beiträgen für »Die Wandlung« entstand S.s Anteil an dem 1957 zusammen mit Gerhard Storz u. Wilhelm E. Süskind herausgegebenen Buch Aus dem Wörterbuch des Unmenschen (Hbg.). Daneben war S. ständiger Mitarbeiter der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« u. des HR. Dort u. während seiner Professur für polit. Wissenschaft in Heidelberg (1955–1972) vertrat S. das, was er »Verfassungspatriotismus« nannte, u. pflegte er, was der Titel seiner Rede zur Hundertjahrfeier der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands verheißt: Staatsfreundschaft (Ffm. 1963). Die Begründung seines Engagements lieferte S. in der Studie Drei Wurzeln der Politik (in: Schriften. Bd. 2, Ffm. 1978). Ausgabe: Schriften. 12 Bde., Ffm. 1977–96. Literatur: Sprache u. Politik. Festg. für D. S. zum 60. Geburtstag. Hg. Carl-Joachim Friedrich u. Benno Reifenberg. Heidelb. 1968 (mit Auswahlbibliogr.). – Jörg Pannier: Das Vexierbild des Politischen: D. S. als polit. Aristoteliker. Bln. 1996. – Anne-M. Wallrath-Janssen: ›Der Augenblick

253 scheint günstig‹: D. S.s Anregungen zu einer Lichtenberg-Gesamtausg. im H. Goverts Verlag im Sommer 1944. In: Lichtenberg-Jb. 9 (1996), S. 160–171. – Claudia Kinkela: ›Auf benachbarten Spuren‹. Zu D. S.s u. Hannah Arendts Begriff des Politischen. In: Politik u. Politeia. Hg. Wolfgang Leidhold. Würzb. 2000, S. 403–421. – Dies.: Die Rehabilitierung des Bürgerlichen im Werk D. S.s. Würzb. 2001. – Mark Fiedler: Sprachkritik am öffentl. Sprachgebrauch seit 1945. Gesamtüberblick u. korpusgestützte Analyse zum ›Wörterbuch des Unmenschen‹. Tönning/Lübeck/Marburg 2005. – Michael Borchard (Hg.): D. S. zum 100. Geburtstag. Sankt Augustin/Bln. 2007. – Bill Dodd: Jedes Wort wandelt die Welt. D. S.s polit. Sprachkritik. Gött. 2007. – Ders.: ›Zwischen den Zeilen‹ gelesen: D. S. ›Über die Nachahmung‹ (1942). In: Gerettet u. zugleich v. Scham verschlungen. Hg. Michael Braun u. Georg Guntermann. Ffm. u. a. 2007, S. 59–71. – Ders.: ›... dem Kaiser gegeben was des Kaisers ist‹: Walter Benjamin’s Reading of D. S.’s ›Tempel der Kunst‹ (1937). In: The Text and its Context. Hg. Nigel Harris u. Joanne Sayner. Oxford u. a. 2008, S. 63–77. – Detlev Schöttker: D. S. u. Walter Benjamin. Ein Photographie-Aufsatz u. seine Folgen. In: SuF 62 (2010), H. 4, S. 437–444. Walther Kummerow † / Red.

Sternheim, (William Adolf) Carl, * 1.4. 1878 Leipzig, † 3.11.1942 Brüssel; Grabstätte: ebd., Cimetière d’Ixelles. – Dramatiker, Prosaist (Erzählungen, Romane, Zeitkritisches). Mütterlicherseits stammte S. aus einer protestantischen Buchdruckerfamilie, väterlicherseits aus einer jüd. Bankiersfamilie. Nach dem Abitur (Berlin 1897) studierte er in München, Göttingen, Leipzig, Jena, Berlin, Freiburg i. Br. u. Heidelberg, u. a. Philosophie (Erkenntnistheorie), Rechts- u. Staatswissenschaften u. Literatur- u. Kunstgeschichte ohne Abschluss. Von großem Einfluss auf seine Literatur- u. Kunsttheorie sowie auf die Darstellungsweise seiner Dramen waren der Neukantianer Rickert, der Kunsthistoriker Wölfflin, die Literaturgeschichtler Köster u. Witkowski. 1900 heiratete S. Eugenie Hauth u. ließ sich in Weimar als Schriftsteller nieder. Nach der Scheidung 1906 heiratete er 1907 Thea Löwenstein, geb. Bauer, die fortan seine künstlerischen Arbeiten kritisch-fördernd beglei-

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tete u. mit ihrem Vermögen der Familie eine großbürgerl. Existenz ermöglichte. Das 1908 in Höllriegelskreuth bei München erbaute Haus »Bellemaison« wurde für einige Jahre zum Künstlertreffpunkt (u. a. Frank Wedekind, Mechtilde Lichnowsky u. Max Reinhardt). In dieser Zeit begann S. mit dem Aufbau einer nennenswerten Kunstsammlung (u. a. van Gogh, Gauguin, Renoir, Matisse, Picasso, Albrecht Altdorfers Kreuzigung). Nach der Scheidung der zweiten Ehe 1927 war S. 1930–1934 mit Wedekinds Tochter Pamela verheiratet. Seit 1930 wieder (wie schon mit kriegsbedingten Unterbrechungen zwischen 1912 u. 1918) in Belgien wohnend, lebte S. seit 1935 mit Henriette Carbonara zusammen. Zusammen mit Franz Blei gab S. 1908 den ersten Jahrgang der literarisch-künstlerischen Zweimonatsschrift »Hyperion« heraus. Befreundet war er mit Hugo von Tschudi, Fritz von Unruh, Walther Rathenau, Ernst Stadler u. Otto Vrieslander; mit Carl Einstein u. Gottfried Benn plante er 1917 u. d. T. Enzyklopädie zum Abbruch bürgerlicher Ideologie eine krit. Revue bourgeoiser Herrschaftsformen. Seine Freundschaft mit Franz Pfemfert brachte ihn zeitweise in die Nähe des Kreises um die Zeitschrift »Die Aktion« u. damit in einen distanziert bleibenden Kontakt zum Expressionismus. Das Preisgeld des FontanePreises, der S. 1915 zugesprochen wurde, gab er an den damals noch unbekannten Franz Kafka weiter, um auf ihn als einen bedeutenden Erzähler aufmerksam zu machen. Seine Freundschaft mit den Malern, Grafikern u. Holzschneidern Ottomar Starke, Franz Masereel u. Conrad Felixmüller schlug sich in Illustrationen seiner Werke nieder. Augenfälligstes Moment in S.s Schaffen ist die Zusammenfassung von Werken zu Zyklen, denen sich später entstandene Texte jeweils zuordnen lassen. So stehen die Dramen seit 1908 unter dem iron. Reihentitel Aus dem bürgerlichen Heldenleben; die Erzählungen sind zusammengefasst zur Chronik von des zwanzigsten Jahrhunderts Beginn u. werden durch den Anachronismus des Obertitels kritisch perspektiviert; zeitkrit. Texte zentrieren sich um den Begriff des »Juste milieu«

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(Berlin oder Juste milieu. Mchn. 1920. Tasso oder Kunst des Juste milieu. Bln. 1921). Der deutlichste Differenzpunkt zwischen den zum Frühwerk gerechneten Dramen u. dem sog. Hauptwerk ist eine explizite, v. a. an Schopenhauer u. Nietzsche geschulte Sprachreflexion, die S. in dem Imperativ Kampf der Metapher! (Aufsatz gleichen Titels im »Berliner Tageblatt« 1917) bündig formulierte; sprachkritische Implikationen beeinflussen durchgehend die dramat. Gestaltung eines zu Phrasen entstellten Sprechens. Insbesondere die Konzeption der Figuren u. der Circulus vitiosus der Handlungsabläufe zeigen S.s Intention, die sozialen Probleme auf ihre Ursachen in einem falschen Bewusstsein zurückzuführen. Canettis Komödien verarbeiten später Einflüsse der von S. entwickelten sprachkrit. Dramaturgie. Ausgangspunkt der Dramen Aus dem bürgerlichen Heldenleben bilden die Komödien Die Hose (Bln. 1911), Die Kassette (Lpz. 1912) u. Bürger Schippel (ebd. 1913), in denen die Störung bürgerlich-alltägl. Ordnung, Erbschaftsangelegenheiten u. soziale Abgrenzungen zwar noch eine komödiengerechte Lösung finden, diese aber zgl. das »gute« Ende problematisiert u. damit den Anspruch der Gattung, die Lösung des Konflikts sei seine Aufhebung, zerstört. Deutlich ausgestellte familiäre u. soziale Verbindungen der Dramenfiguren gewinnen Bedeutung erst dadurch, dass sie zu Erscheinungsweisen eines verhängnisvollen Sprachzusammenhangs werden, dem keine Figur, auch nicht durch sozialen Aufstieg, zu entrinnen vermag. In drei weiteren Dramen (Der Snob. Ebd. 1914. 1913. Ebd. 1915. Das Fossil. Potsdam 1925), welche die Geschichte der in Die Hose eingeführten Familie des Theobald Maske entfalten, intensiviert sich die dramat. Perspektive des »bürgerlichen Heldenlebens« als eines Sprachkosmos u. damit als eines Bewusstseinszusammenhangs. Mit dem Verzicht auf Artikel u. Adjektive sowie durch seinen inversiven Sprachgestus (am deutlichsten in den Umstellungen des Genitivattributs) versucht S., den Blick auf jenes Konglomerat von Sprachklischees u. Phrasen freizulegen, aus dem »des Bürgers betrügerisches Idiom« (Sternheim) besteht. Um diesen Kern von

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sechs Dramen Aus dem bürgerlichen Heldenleben gruppieren sich die späteren Stücke in unterschiedl. Nähe: Der Kandidat (Lpz. 1914; nach Flaubert), Das leidende Weib (ebd. 1915; nach Klinger), Tabula rasa (ebd. 1916), Der Stänker (ebd. 1917. Urauff. u. d. T. Perleberg. Ffm. 1917), Der Nebbich (Mchn. 1922), Die Schule von Uznach (Potsdam 1925), Oscar Wilde (Bln./Wien/Lpz. 1926) variieren jeweils Aspekte des dargestellten Sprachkosmos, indem sie Probleme öffentlich-polit. Rede, des Nationalismus, der Pädagogik oder des Individualismus thematisieren. Von den 19 zwischen 1912 u. 1923 entstandenen Erzählungen fasste S. 14, die zuvor in Einzelausgaben erschienen waren, in den Sammelbänden der Chronik zusammen. (In Mädchen [Lpz. 1917] nahm er die von Thea Sternheim verfasste Erzählung Anna auf, die 1952 u. d. T. Sackgassen zu einem Roman ausgebaut [Wiesb.] erschien.) 17 Erzählungen nennen im Titel den Namen der Hauptfigur oder einen sie charakterisierenden Terminus: Konträr zu dieser Herausstellung der Titelfigur scheint die Erzählhaltung zu sein, die sich vom Erzählten wegwendet u. sich nachdrücklich auf das Erzählen selbst, d. h. die Sätze des Textes, zu konzentrieren scheint, die nach dem Willen des Verfassers »knappsten und klarsten Ausdruck« zu geben haben. Bemerkenswert auch hier ist die Abbildung sozialer u. ideolog. Verhältnisse als Konstruktion eines satir. Sprachkontinuums, dessen Zusammenhang mit dem des Bürgerlichen Heldenlebens evident ist. Eine Perspektive auf das gesellschaftl. Ganze entwirft S., ausgehend von Einzelfiguren, in dem Roman Europa (2 Bde., Mchn. 1919/20), der nach seiner Heldin benannt ist, u. in der Autobiografie Vorkriegseuropa im Gleichnis meines Lebens (Amsterd. 1936). Nach großen Theatererfolgen u. einer breiten Wirkung, die um 1930 deutlich nachließen (nicht zuletzt, weil S.s physischer u. geistiger Verfall sich beschleunigte; hinzu kam ein von den Nationalsozialisten schon 1932 angekündigtes, 1933 ausgesprochenes Verbot seiner Stücke), wurde S. insbes. als Dramatiker nach dem Zweiten Weltkrieg von der Wirkung des Brecht’schen Theaters verdrängt. Erst das von Wilhelm Emrich her-

Stetten

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ausgegebene Gesamtwerk u. die von Fritz Stetten, Paul von, * 24.8.1731 Augsburg, Hofmann besorgten Gesammelten Werke sowie † 11.2.1808 Augsburg. – Historiker; Verdie Inszenierungen Rudolf Noeltes in den fasser von Romanen u. Kantaten. 1960er Jahren brachten S. wieder in fruchtbare Auseinandersetzungen, die ihn als einen Der Spross einer einflussreichen Augsburger der bedeutenden, die Möglichkeiten literar. Patrizierfamilie, dessen Vater ein hoher BeSatire entscheidend erweiternden Autor des amter in städt. Diensten war, studierte Jura in beginnenden 20. Jh. kenntlich machen. Nach Altdorf u. diente dann seiner Vaterstadt als 2000 findet S.s Werk, dem am Ende des 20. Beamter, Historiker u. Literat. Selbst eine Jh. wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde, Autobiografie (ungedruckt) wurde ihm zur wieder größere Aufmerksamkeit, vorwiegend Augsburgischen Geschichte der Zeit seiner Verwalunter werkgeschichtl. wie kunstwissen- tungen. Den Leser seiner Schriften aber wollte schaftl. Fragestellungen. Seit 2003 besteht in er im Sinne der Aufklärung zu einem beFrankfurt/M. eine Carl-Sternheim-Gesell- wussten u. guten Bürger erziehen. 1792 schaft (www. carl-sternheim-gesellschaft.de). wurde ihm als Krönung seiner Laufbahn das Ausgaben: Gesamtwerk. Hg. Wilhelm Emrich Amt des Stadtpflegers anvertraut. – S. veröfunter Mitarbeit v. Manfred Linke. Neuwied/Bln. fentlichte neben anderen histor. u. archival. 1963–76. – Ges. Werke in sechs Bdn. Hg. Fritz Arbeiten als sein bedeutendstes Werk eine Hofmann. Bln./Weimar 1963–68. – Briefe. Hg. Kunst-Gewerbe- und Handwerksgeschichte der Wolfgang Wendler. 2 Bde., Darmst. 1988. Reichsstadt Augsburg (2 Bde., Augsb. 1779 u. Literatur: Wilhelm Emrich: C. S.s ›Kampf der 1788). Bezeichnend für ihn, der in der »GeMetapher!‹ u. für die ›eigene Nüance‹. In: Ders.: schichte eine Lehrerinn der Tugend und Geist u. Widergeist. Wahrheit u. Lüge in der Lit. Klugheit« sah, sind die immer noch lesensFfm. 1965. – Hellmuth Karasek: C. S. Velbert 1965. werten Lebensbeschreibungen zur Erweckung und – Wolfgang Wendler: C. S. Weltvorstellung u. Unterhaltung bürgerlicher Tugend (2 Bde., ebd. Kunstprinzipien. Ffm./Bonn 1966. – Winfried Georg Sebald: C. S. Kritiker u. Opfer der Wilhelmin. 1778 u. 1782). – S. nahm regen Anteil am Ära. Stgt. u. a. 1969. – Rudolf Billetta: S.-Kom- kulturellen Leben der Stadt u. verfasste Texte pendium. Wiesb. 1975. – W. Wendler (Hg.): C. S. für Kantaten (Roland, Andromeda, Deukalion Materialienbuch. Darmst./Neuwied 1980 (mit Bi- und Pyrrha) sowie das Singspiel Die Sündflut, bliogr.). – Eckehard Czucka: Idiom der Entstel- das 1778 mit Musik aus Weimar aufgeführt lung. Auffaltung des Satirischen in C. S.s ›Aus dem wurde. S. erfreute sich schließlich hohen bürgerl. Heldenleben‹. Münster 1982. – Bernhard Ansehens, so dass ihn auch Goethe (1790) in Budde: Über die Wahrheit u. über die Lüge des Augsburg besuchte. Zweifellos war er mehr radikalen, antibürgerl. Individualismus. Eine Studie zum erzähler. u. essayist. Werk C. S.s. Ffm. ein Mann der Historie u. der polit. Praxis, 1983. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): C. S. (Text + nicht so sehr ein Jünger der Dichtkunst. Von Kritik. H. 87). Mchn. 1985 (mit Bibliogr.). – E. seinen Dichtungen, überwiegend RittergeCzucka: Schimären des Tatsächlichen. Die Maske- schichten, hat nur der kleine Roman Briefe Tetralogie in C. S.s ›Aus dem bürgerl. Heldenle- eines Frauenzimmers aus dem fünfzehenden Jahrben‹. In: Neoph. 72 (1988), S. 556–581. – Boris hundert die Zeiten überdauert (Augsb. 1777. Dudasˇ : Vom bürgerl. Lustspiel zur polit. Groteske. Bis 1793 zwei weitere Auflagen. Frz. AmsC. S.s Komödien ›Aus dem bürgerl. Heldenleben‹ in terd. 1788. Neudr. Lpz. 1968). S. war Aufihrer werkgeschichtl. Entwicklung. Hbg. 2004. – klärer, doch kündigt sich in seiner AuffasVolker Nölle: Eindringlinge. S. in neuer Perspektive. Ein Grundmodell des Werks u. der Phantasie. sung von der Geschichte, die selbst »Geschichten« liefert, bereits die Romantik an. Bln. 2007. Eckehard Czucka

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Weitere Werke: Selinde. Eine Rittergesch. Augsb. 1764. – Erläuterungen der in Kupfer gestochenen Vorstellungen aus der Gesch. der Reichsstadt Augsburg. In histor. Briefen an ein Frauenzimmer. Ebd. 1765. – Siegfried u. Agnes. Eine Rittergesch. Ebd. 1767. – Beschreibung der Reichsstadt Augsburg [...]. Ebd. 1788. – Bayer.

Stettenheim Bibl. Bd. 3. Hg. Hans Pörnbacher. Mchn. 1990, S. 770–783. Literatur: Ludwig Friedrich Krauß: P. v. S. Augsb. 1809. – Franz Herre: P. v. S. der Ältere u. der Jüngere. In: Lebensbilder aus dem Bayer. Schwaben. Bd. 3. Hg. Götz Frhr. v. Pölnitz. Mchn. 1954, S. 314–345, hier S. 326–345. – Lit. in Bayerisch Schwaben. Weißenhorn 1979, S. 151–154. – H. Pörnbacher: Schwäb. Literaturgesch. Weißenhorn 2002, S. 212–214. Hans Pörnbacher

Stettenheim, Julius, auch: Wippchen, * 2.11.1831 Hamburg, † 30.10.1916 Lichterfelde (heute zu Berlin). – Humorist, Satiriker; Redakteur, Journalist.

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Sprachlich virtuos, war S. in vielen komischen u. humoristischen Gattungen zu Hause; er schrieb Kurzprosa, Satiren, Aphorismen, Anekdoten, Gedichte u. Parodien. Im »Dritten Reich« verpönt, ist er als typischer Vertreter der komischen Kultur des bürgerl. 19. Jh. zu Unrecht vergessen. Weitere Werke: Wippchen’s sämmtl. Berichte. 16 Bde., Bln. 1878–1903. – Brodlose Künste. Blicke hinter die Coulissen der Gesellschafts-Komödie. Ebd. 1890 (P.). – Humoresken u. Satiren. Ebd. 1896 (E.en, Aphorismen, Fabeln). – Das Lied v. der versunkenen Glocke u. a. Parodien. Charlottenburg 1898. – Der moderne Knigge. 3 Bde., Bln. 1899–1902. – Wippchens Russisch-Japanischer Krieg [...]. Ebd. 1904 (P.). – Wippchens Tage- u. Nachtbuch. Ebd. 1911 (mit Autobiogr., S. 7–42). – Die Kanonen machten: Bum! Bum! Nur lauter. Lpz. 1924. – Wippchens charmante Scharmützel in Erinnerung gebracht v. Siegfried Lenz u. Egon Schramm. Hbg. 1960. Neuausg. ebd. 1983 (P.). – Wenn man zu spät nach Hause kommt u. andere Humoresken. Hg. Hubert Decker. Bln/DDR 1973. – Herausgeber: Almanach zum Lachen für 1854–1863. Bln. – Das humorist. Dtschld. Eine Monatsschrift. Stgt. u. a. 1885/86–1901.

Als Sohn eines fahrenden Geigers u. späteren Kunsthändlers in jüd. Elternhaus geboren, wurde S. vom Vater zum Kaufmann bestimmt, arbeitete jedoch an Hamburger satir. Wochenblättern mit. Nach dem Tod des Vaters (1857) verließ er Hamburg, studierte in Berlin Literatur, Philosophie u. Geschichte, schrieb Possen u. Singspiele. Zu seinem Freundeskreis gehörte u. a. Albert Hofmann, Literatur: Reinhard Roche: J. S. ›Wippchens der Begründer des »Kladderadatsch«, für den charmante Scharmützel‹. In: DU (1982), er später auch schrieb. Wieder in Hamburg, S. 105–108. – Ursula E. Koch: Ridendo dicere vergründete er das humoristisch-satir. Wochen- um: J. S. (1831–1916) – ein Meister des jüd.-berlin. blatt »Hamburger Wespen« (1862–67), das er Witzes. In: Revue d’Allemagne 14 (1982), als »Berliner Wespen« (1868–88. Zuerst als S. 252–266.– Dieter Hildebrandt: Wippchen oder Beilage der »Tribüne«, später im Selbstver- die Schlacht am Metaphernberge [ein Kabarettprolag) fortsetzte; das Blatt galt als politisch gramm angeregt v. J. S.]. Mchn. 1991. – Goedeke verdächtig, wurde oft beschlagnahmt, doch Forts. Walter Pape / Red. war es auch Ziel der Judenhetze. Um die Mitte der 1880er Jahre wurde S. zunehmend Steub, Ludwig, * 10.2.1812 Aichach/Obb., unpolitisch, so auch in den »Deutschen † 16.3.1888 München. – ReiseschriftstelWespen« (1888–94). Seit 1893 war er Redakler, Kulturhistoriker. teur des »Wippchen«, einer Beilage zum »Kleinen Journal«. S. gehörte zu den Be- S. entstammte kleinbürgerl. Verhältnissen. gründern der »Freien Bühne«, was ihn nicht 1823 zog die Familie nach München. Nach davon abhielt, antinaturalist. »Milieu«-Sati- dem Jurastudium ging er als staatsbayeriren zu schreiben, wie 1901 Fuhrmann Henschel scher Beamter 1834 mit König Otto in philfür das Berliner Kabarett »Überbrettl«. Von hellen. Begeisterung nach Griechenland, seinen stehenden Figuren der »Wespen« kehrte jedoch 1836 ernüchtert zurück (Bilder wurde die Figur des Redakteurs Wippchen aus Griechenland. Lpz. 1841. Vermehrt 1885) u. (seit 1877) am bekanntesten; mit ihm kari- ließ sich als Rechtsanwalt nieder. Als kiert er nicht nur den wilhelmin. Journalis- Schriftsteller widmete sich S. der kulturgemus, sondern auch das unkrit. Publikum. schichtl. Erwanderung Altbayerns u. (Süd-)Wippchen liefert aus dem idyllischen Bernau Tirols. Landschafts-, Brauchtums- u. Kulturfiktive grotesk-komische Sensationsnach- schilderungen begriff er als volkskundl. Errichten von realen Kriegsschauplätzen. forschung, wobei er sich als Vermittler zwi-

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Steube

schen den urwüchsigen bäuerl. Traditionen Steube, Johann Caspar, * 25.1.1747 Gotha, u. einem bürgerlich-städt. Lesepublikum sah. † 12.4.1795 Gotha. – Verfasser einer auSpekulative Erklärungsversuche wie Über die tobiografischen Reisebeschreibung. Urbewohner Rhätiens und ihren Zusammenhang Der aus ärml. Verhältnissen kommende S. mit den Etruskern (Mchn. 1843) wechselten mit erlernte trotz wissenschaftl. Neigungen das Populärem wie Onomatologische Belustigungen Schuhmacherhandwerk. Mittellosigkeit nöaus Tirol (Innsbr. 1879), Zur Namens- und Lantigte ihn, sich während seiner Gesellenwandeskunde der deutschen Alpen (Nördlingen 1885) derung als Soldat, Proviantmeister u. Kamoder Zur Ethnologie der deutschen Alpen (Salzb. 1887). Nach dem Vorbild der Erlebnisbe- merdiener zu verdingen. Seine Wanderjahre richte Riehls veröffentlichte S. eigene Wan- führten ihn durch ganz Europa. 1782 wieder dereindrücke, so u. a. Drei Sommer in Tirol in Gotha, versuchte er sich als Pelzhändler, (Mchn. 1846), Wanderungen im bairischen Ge- Übersetzer u. Reisebegleiter. S., der zeit seibirge (ebd. 1862) u. Altbairische Culturbilder nes Lebens von schweren Krankheiten heim(Lpz. 1869). Breite Anerkennung fanden die gesucht wurde u. auf die Ausübung seines kulturhistorisch kolorierten Novellen und Handwerks angewiesen blieb, starb in Armut. Über die Erlebnisse auf seinen WanderSchilderungen (Stgt. 1853. 2. Slg. 1881). Dagefahrten berichtete S. in Wanderschaften und gen stand sein in Geist u. Stil der JungdeutSchicksale (Gotha 1791. Neudr. hg. von Jochen schen verfasster Roman Deutsche Träume (3 Golz u. d. T. Von Amsterdam nach Temiswar. Bde., Braunschw. 1858) quer zum herrBln./DDR 1969. 21984). Das im Selbstverlag schenden Literaturgeschmack. erschienene Werk schildert in teils weitWeitere Werke: Herbsttage in Tirol. Mchn. schweifiger, teils sprunghafter, gleichwohl 1867. – Lyr. Reisen. Stgt. 1878. – Mein Leben. unterhaltsamer Manier die Abenteuer u. Breslau 1883. Fährnisse eines von Not u. eigensinnigem Literatur: Alois Dreyer: L. S. In: Oberbayer. Archiv 60 (1915), S. 1–154. – Gerta Schuster: L. S. Behauptungswillen geprägten HandwerkerDiss. Mchn. 1952. – L. S. Gedenkbüchlein der Stadt lebens. Die zwischen Autobiografie u. ReiseAichach zum 100. Todestag. Aichach 1988. – beschreibung schwankenden AufzeichnunEberhard Dünninger: L. S. (1812–1888). Zu Leben gen werden heute zunehmend als Quelle der u. Werk eines bayer. Schriftstellers des 19. Jh. In: Bildungsgeschichte des Handwerkertums Aus dem Antiquariat 1988, 3, S. 74–81. – Ders.: Die genutzt. Sie gehören jedoch mit ihrer um liGriechenlanderfahrung u. das Griechenlandbild terar. Gestaltung bemühten, faktenreichen des Schriftstellers L. S. In: Jakob Philipp FallmeDarstellungsweise eher in den Umkreis des rayer. Wissenschaftler, Politiker, Schriftsteller. Hg. abenteuerl. Reise- u. Lebensberichts eines Eugen Thurnher. Innsbr. 1993, S. 75–88. – Sabine John: Literar. Pfadfinder des Oberlandes. L. S. Johann Dietz oder Johann Christoph Sachse. Die Fragment gebliebenen Briefe über das (1812–1888) zum 100. Todesjahr. In: Bayernspiegel 1998, 3, S. 9–18. – Karl Stankiewitz: Vom Zipflwirt Bannat (Bd. 1, Eisenach 1793) konnten nicht zum Tatzelwurm. Wanderungen auf den Spuren mehr an den Achtungserfolg des Erstlingsdes Alpenerforschers L. S. (1812–1888). In: Ders.: werks anknüpfen. Sieben Wochen meines Lebens war ich reich. 20 literar. Wanderungen in Oberbayern. Mchn. u. a. 1999, S. 116–121. – Sigurd Paul Scheichl: Was man 1876 in Leipzig über Vorarlberg erfahren konnte. Ein Artikel v. L. S. aus der ›Gartenlaube‹. In: FranzMichael-Felder-Archiv 3 (2001), S. 11–28. – Goedeke Forts. Rolf Selbmann / Red.

Literatur: A. Schumann: J. C. S. In: ADB. – Rudolf Stadelmann u. Wolfram Fischer: Die Bildungswelt des dt. Handwerkers um 1800. Bln. 1955, S. 213 f. – Martin Beutelspacher: Kultivierung bei lebendigem Leib. Weingarten 1986, S. 139 f. – Alfred Opitz: Ein Schuhmacher auf dem ›Schriftstellertheater‹. Die ›Wanderschaften u. Schicksale von J. C. S.‹ im Kontext der spätaufklärer. Reiselit. In: Wanderzwang – Wanderlust. Formen der Raum- u. Sozialerfahrung zwischen Aufklärung u. Frühindustrialisierung. Hg. Wolfgang Albrecht. Tüb. 1999, S. 13–24. Winfried Siebers / Red.

Steuben

Steuben, Fritz, eigentl.: Erhard Wittek, * 3.12.1898 Wongrowitz bei Posen, † 4.6. 1981 Pinneberg. – Jugendbuchautor, Erzähler.

258 terd. 2001, S. 201–215. – Thomas Kramer: Heiner Müller am Marterpfahl. Bielef. 2006, S. 100–119. Reinhard Tenberg / Red.

Nach einer Buchhändlerlehre wurde S. Ab- Stibill, Rudolf, * 30.7.1924 Graz, † 30.1. teilungsleiter in der Frankh’schen Verlags- 1995 Ostenfeld bei Rendsburg. – Lyriker, handlung in Stuttgart, die später die meisten Erzähler. seiner Bücher veröffentlichte. Seit 1937 lebte Nach dem Erscheinen seines ersten Gedichter als freier Schriftsteller in Neustrelitz, Ha- bandes Vox humana (Graz/Salzb./Wien 1947) meln u. zuletzt in Pinneberg. galt S. als bedeutender Vertreter einer neuen In den 1930er Jahren wurde S. bekannt als österr. Schriftstellergeneration. Ein Virtuose Verfasser der – Wissenschaftlichkeit vortäu- des lyr. Handwerks, verfügte er souverän schenden – Abenteuer- u. Jugendbücher über über ein breites Repertoire tradierter u. traden histor. Indianerhäuptling Tecumseh: Der ditionsreicher Gedichtformen, vom SonetFliegende Pfeil (1930. 261996), Der rote Sturm tenkranz bis zum Ghasel. Auch befasste er (1931. 211996), Der Strahlende Stern (1934. sich intensiv u. produktiv mit allen Strö16 1997), Tecumseh, der Berglöwe (1935. 191996), mungen moderner Kunst u. Literatur, einTecumseh, der große Seher (o. J. 131997), Der Sohn schließlich des Surrealismus, wurde jedoch des Manitu (1938. 131998. Alle Stgt. Ausgabe in von der Kritik nach seinem zweiten Gedicht6 Bdn. Mchn. 2000). Vorbild dieser Romane band Die köstliche Flamme (Salzb. 1951) als sind James Fenimore Coopers Lederstrumpf- Traditionalist, als Rilke- u. HofmannsthalErzählungen, die S. in den 1960er Jahren Epigone abgestempelt. Enttäuscht über den bearbeitete u. in einer beispiellos verderbten zunehmenden Verlust an Resonanz, beendete Fassung herausgab. Einige von S.s martial. S. seine Laufbahn als freier Schriftsteller, Kriegserzählungen (Durchbruch anno achtzehn. verließ 1955 seine Heimatstadt Graz, wo er in Ein Fronterlebnis. Ebd. 1933) wurden während der Literaturabteilung des Rundfunks u. zuder NS-Zeit zur (Schul-)Lektüre empfohlen u. vor an der Herausgabe einer Kulturzeitschrift mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Nach mitgearbeitet hatte, u. nahm eine Stelle als dem Zweiten Weltkrieg schrieb er mehrere Lehrer an einer Waldorfschule in Rendsburg/ histor. Romane (Der weite Ritt. Gütersloh Schleswig-Holstein an. Erst zwanzig Jahre 1960) u. die Kindheitserinnerungen Dort hin- später meldete er sich als Lyriker wieder zurück, mit dem Band Markierungen des Lebens ter dem gläsernen Berge (Stgt. 1952). Weitere Werke: Männer. Ein Buch des Stolzes. (Graz/Wien/Köln 1975), einem aufschlussreiHeroische Anekdoten aus dem Kriege. Stgt. 1936. chen Längsschnitt durch seinen poetischen Werdegang: von den rhetorisch glatten, 301. Tsd. 1944. – Mississippi-Saga. Ebd. 1956. Literatur: Peter Aley: Jugendlit. im Dritten bildhaften u. melodiösen Gedichten der Reich. Gütersloh 1967. – Winfred Kaminski: Hero. Frühzeit, über humorvoll verspielte KinderInnerlichkeit. Studien zur Jugendlit. vor u. nach lyrik zu den formal gebrochenen, reimlosen, 1945. Ffm. 1987. – Piotr Korek: Zum Problem der spröden u. sperrigen Versen der Reifezeit. Rassenideologie in den Jugendbüchern v. Erhard Um 1970 arbeitete S. an dem größeren exWittek u. F. S. In: ZfG 11 (1990), H. 4, S. 402–407. – perimentellen Prosazyklus Sürtiker, von dem Manfred K. Kremer: Edle Wilde im ›Dritten Reich‹? lediglich Bruchstücke veröffentlicht wurden. Zur Rezeption der Indianer-Romane Karl Mays u. Mit seinem gänzlich anders gearteten zweiF. S.s In: Begegnung mit dem ›Fremden‹. Hg. Eijiro¯ teiligen autobiogr. Roman Stimmen des UngeIwasaki. Mchn. 1991, S. 443–450. – Barbara Haible: wissen (ebd. 1992) u. Atemwaage (ebd. 1995), in Indianer im Dienste der NS-Ideologie. Untersuchungen zur Funktion v. Jugendbüchern über dem er die Zeit von seiner frühesten Kindheit nordamerikan. Indianer im Nationalsozialismus. bis zu seinen Anfängen als Schriftsteller ReHbg. 1998. – W. Kaminski: Indianerbücher – die vue passieren lässt, ist ihm nicht nur ein heiml. Kriegsromane? Zum Beispiel v. F. S. In: aufschlussreiches zeit- u. lokalhistor. DokuSchuld u. Sühne? Hg. Ursula Heukenkamp. Ams- ment, sondern auch ein formal komplexes,

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ästhetisch anspruchsvolles literar. Alterswerk gelungen. Weitere Werke: Gedichte. Graz 1948 (Privatdr.). – Der Knabe u. das Meer. Ebd. 1958 (E.). – La ville imaginaire. Stgt. 1994 (L). – Die Leute aus Sonnenstadt. Wien/Mchn. 1964. Stgt. 1990 (Kinderbuch). Literatur: Alfred Holzinger: R. S. In: Wort in der Zeit 3 (1957), H. 1, S. 28 f. – Anja Ross: Zwischen zwei Zeitströmen. Nationalsozialismus u. Nachkriegszeit in den autobiogr. Büchern v. R. S. Diss. Hbg. 2001. Christian Teissl

Stiblin, Stüblin, Kaspar, Caspar, Gaspar(us) Stiblinus, * 1526 Amtszell bei Wangen/ Allgäu, † 1562 oder 1563 Würzburg. – Lehrer der Alten Sprachen (bonae litterae), Dichter u. Übersetzer. Über S.s Kindheit ist nichts bekannt; die immer wieder erwähnte Herkunft aus armen Verhältnissen ist nicht belegt, aber auch nicht unwahrscheinlich. 1548 wurde S. im kath. Freiburg i. Br. immatrikuliert, wo er aus den Mitteln verschiedener Bursen (Stipendien), also auf ›Freiplätzen‹, studieren konnte. Den Baccalaureus machte er 1549; bereits 1550 erwarb er den Grad des Magister artium u. begann im folgenden Jahr an der Artistenfakultät Latein zu unterrichten. Studien an einer höheren Fakultät sind nicht bekannt. Nachdem er 1553 Freiburg verlassen hatte, um sich vor der Pest in Sicherheit zu bringen, fand er eine Anstellung an der berühmten Humanistenschule im elsäss. Schlettstadt (Sélestat), wo der sechs Jahre zuvor gestorbene Humanist Beatus Rhenanus gelebt u. der Stadt seine bedeutende Bibliothek hinterlassen hatte. Dort war S. 1553–1559 als Lateinlehrer tätig; vermutlich gründete er auch eine Familie. Ein 1572 in der Freiburger Matrikel verzeichneter »Casparus Stiblinus aus Schlettstadt« könnte sein Sohn sein, der demnach um 1553 geboren wurde. In der ehemals glanzvollen Humanistenstadt, in der man die Reformation längst zurückgedrängt hatte u. die alte Kirche wieder den bestimmenden Einfluss ausübte, kam er mit dem Basler Verleger Johannes Oporin in Kontakt, dem »deutschen Aldus« (S.). Wie viele bedeutende Buchdrucker des 16. Jh. in Basel u.

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anderen europ. Zentren des Buchdrucks, eben auch Aldo Manuzio in Venedig, vereinigte Oporin die Rollen des Druckers u. Verlegers mit der Urteilsfähigkeit des tüchtigen Philologen. Mit ihm kooperierte S. in den folgenden Jahren als Autor; in Schlettstadt sind seine Hauptwerke entstanden, die alle in Basel gedruckt wurden. Schon sein erstes Buch enthält, im Anschluss an die Widmungsvorrede an die Äbtissin des Damenstiftes im elsäss. Masmünster (Masevaux/Vogesen), eine gesonderte Vorrede an den Verleger, dessen Urteil er sich unterwerfen wolle, auch wenn es strenger sein sollte als dasjenige Melanchthons, »bonarum hoc seculo literarum Phœnix«. Es ist ein Handbuch der Mädchenerziehung, im Besonderen künftiger Nonnen u. deren Leben im Kloster: Coropaedia, sive de moribus et vita Virginum sacrarum libellus plane elegans ac saluberrimis praeceptis refertus (Basel 1555). Beginnend mit der elterl. Erziehung, von den Mahlzeiten, der Aufmerksamkeit auf die Neigungen des Kindes bis zum frühen Sprachstudium (u. niemand dürfe zum Eintritt ins Kloster gezwungen werden), bietet die Abhandlung strenge Verhaltensregeln für das Klosterleben: Verachtung der Triebe, Warnungen vor Luxus u. Unmäßigkeit, Preis der Musik, Lektüre bes. der Heiligenlegenden; kritische Exkurse richten sich gegen verschiedene Dekadenzerscheinungen des zeitgenöss. Klosterlebens. Im Anhang, fast unscheinbar, doch im Untertitel wenigstens erwähnt, findet man das Werk, das S. als Einziges bis heute ein gewisses Interesse gesichert hat: den utop. Roman über den glückl. Inselstaat Macaria (etwa ›Seligland‹, nach Kytzler 1982) u. die Bewohner von dessen Hauptstadt Eudaemon (etwa: ›Glücksstadt‹). Dabei ist die Zusammenstellung beider Schriften in einem Band nicht ganz zufällig: Auch vom Leben im Kloster wird ja eine Art utop. Idealbild gezeichnet. Aber das nachfolgende kleine Werk von 50 Seiten ist immerhin die erste von einem dt. Autor verfasste Utopie nach Morus’ Utopia von 1516, ein halbes Jahrhundert vor Andreaes Christianopolis (1619): Commentariolus de Eudaemonensium Republica (›Kurze Skizze vom Staat der Einwohner von Eudaemon‹,

Stiblin

ebd., S. 73–122). Im Widmungsbrief (mit der Jahresangabe 1553) an den Studienfreund Jakob Brenz, damals Vorsteher des näml. Frauenklosters von Masmünster, sowie am Eingang des Textes bezeichnet der Verfasser seinen Bericht vom Staat der Eudämonenser als Ergebnis einer nächtl. Ausschweifung: »Nuperrime scholae molestias pertaesus, perque autumni tempus a functionis meae negotiis vacuus« – ›unlängst, der Mühen des Schuldienstes überdrüssig und in den Herbstferien von den Amtspflichten frei‹, habe er sich zur Erholung u. aus bes. Interesse eines Nachts in die Schriften der Griechen (bes. Platons) über die idealen Staatswesen vertieft; deren aus der Lektüre aufsteigende Anschauung (lustrare) habe ihn sozusagen auf die Gedankenreise nach Macaria u. deren Hauptstadt geführt, u. das dort Erfahrene sei der Inhalt dieser kleinen Frucht nächtl. Lektüre (lucubratiuncula). Im Rückblick auf den Aufenthalt u. die Gespräche mit den Bewohnern charakterisiert er dann die Einrichtungen u. Bürger des vollkommenen Inselstaats unter Aspekten, die man von Morus u. später von Bacon, Campanella, Andreae u. a. kennt: Topografie, polit. Institutionen u. soziale Struktur, Recht, Religion, Kunst, Wirtschaft; Fragen der Erziehung, der Familie, der Kinder u. der Rolle der Frau nehmen den größten Raum ein; auffällig ist die völlige Abwesenheit von Scherz u. Ironie, der Pessimismus des Schulmeisters u. eine Neigung zu Bestrafungsfantasien (Berns 2000). Der Band schließt mit einem weiteren Text: dem in eleg. Distichen gehaltenen Gedicht Peniae querela ad Iovem (›Die Klage der Armut, an Jupiter gerichtet‹, ebd., S. 123–127), in dem man die Stimme des von Geldsorgen bedrängten Autors zu hören glaubte. Das dritte, fachlich ehrgeizigste Werk S.s, eine zweisprachige Ausgabe von 18 Tragödien des Euripides mit eigenen Übersetzungen in lat. Versen, war nach jahrelanger Arbeit 1558 fertig, konnte aber erst 1562 in einem mehr als 800 Folioseiten starken Band von Oporin gedruckt werden: Euripides Poeta tragicorum princeps, in Latinum sermonem conversus, adiecto e regione textu Graeco: cum annotationibus et praefationibus in omnes tragoedias autore Gasparo Stiblino. Die Einleitung des Bandes gibt

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einen Einblick in die Entstehungsgeschichte dieses enormen Unternehmens, u. jedem Drama steht ein »argumentum« voran, ein kurzes Vorwort mit der Zusammenfassung des Inhalts. S. widmete das Werk Kaiser Ferdinand I., auf dessen Empfehlung er bereits vor der Publikation mit der vakanten Professur für Griechisch in Freiburg belohnt werden sollte. Doch die Universität lehnte den Wunschkandidaten des Kaisers ab, u. S. durfte 1559–1561 als Rektor der Freiburger Lateinschule amtieren, ehe er 1561 dem Ruf des Fürstbischofs Friedrich von Wirsberg auf die Lateinprofessur an dem neu gegründeten Paedagogium illustre in Würzburg folgte, einer der im 16. Jh. häufigen, auch ›Gymnasium illustre‹ genannten ›Gelehrtenschulen‹, aus denen in manchen Fällen – wie Helmstedt oder Altdorf – später eine Universität geworden ist. In Würzburg gelang dies zunächst nicht, es gab Startschwierigkeiten, zu wenige Studenten, u. die Schule verfiel bereits 1562/63 u. wurde geschlossen, nicht zuletzt auch infolge des frühen Todes S.s, der neben dem Latinisten u. nlat. Poeten Conrad Dinner gewiss zu ihren Koryphäen zählte. Nach der Berufung der Jesuiten u. dem abermaligen Versuch mit einer Hohen Schule hatte erst Fürstbischof Julius Echter mit der Gründung der Universität Würzburg (1582/ 87) einen dauerhaften Erfolg. Weitere Werke: Gedichte in: Thomas Naogeorgus: Regnum Papisticum. Basel: Johannes Oporin, 1559. – Epithalamium Clariss. Viri D. Adami Zechii [...] et Dorotheae Dilherae. Würzb. 1561. – De caede D. Melchioris Zobell, Herbipolensis Episcopi [...] carmen heroicum Caspari Stiblini et Elegeia Conradi Dinneri. Basel 1561. – Satyra in sicarios ac impiissimos latrones, qui [...] Episcopum Herbipolensem a. 1558 [...] interfecerunt. [Würzb. 1562]. – Ein schön herlich drost-Büchlein allen wahren Catholischen Christglaubigen Menschen [...] durch Casparum Stiblinum, aber jetzund verteutscht. Würzb. 1562. – Ecloga, O. Morata gewidmet. In: Olympia Fulvia Morata: Orationes, Dialogi, Epistolae, Carmina. Basel: Pietro Perna, 1562, S. 265–270. Ausgaben: De Eudaemonensium Republica. Con una introduzione e la bibliografia dell’autore a cura di Luigi Firpo. Torino 1959. – K. S. utopista. Con il testo originale del ›Eudaemonensium Republica‹, e la bibliografia dell’autore a cura di L. Firpo. Torino

261 1959. – Commentariolus de Eudaemonensium Republica (Basel 1555). Hg., übers. u. komm. v. Isabel-Dorothea Jahn. Regensb. 1994 (mit Biogr. u. Bibliogr.; zuverlässig u. grundlegend). Literatur: Jöcher. – Franz Xaver v. Wegele: Gesch. der Univ. Würzburg. 2 Bde., Würzb. 1882. Nachdr. Aalen 1969, bes. Bd. 1. – Paul Beck: Der Humanist K. Stüblin aus Amtszell. In: Diözesanarchiv von Schwaben 14 (1896), S. 127 f. – Joseph Gény: Die Reichsstadt Schlettstadt u. ihr Anteil an den socialpolit. u. religiösen Bewegung der Jahre 1490–1536. Freib. i. Br. 1900. – Walter Begley: Introduction. In: [Anon., d. i. Samuel Gott:] Nova Solyma. The Ideal City, or Jerusalem Regained. With Introduction, Translation, Literary Essays, Bibliography. 2 Bde., London 1902, Bd. 2, S. 165 f. – Luigi Firpo: Biogr. u. Bibliogr. in: K. S.: De Eudaemonensium Republica. Torino 1959, S. 5–32. – Ders.: K. S., utopiste. In: Les utopies à la renaissance. Colloque international (avril 1961). Bruxelles 1963, S. 107–133 (erw. Fassung der Biogr. v. 1959, ohne Bibliogr.). – Robert Klein: L’urbanisme utopique de Filarete à Valentin Andreae. In: ebd., S. 209–230. – L. Firpo: Der erste dt. Utopist: K. S. In: Der Staat 2 (1963), S. 451–470. – Susan Groag Bell: Johan Eberlin v. Günzburg’s ›Wolfaria‹. The first Protestant Utopia. In: Church History 36 (1967), S. 122–139. – R. Klein: La forme de l’intelligible. Écrits sur la renaissance et l’art moderne. Hg. André Chastel. Paris 1970. – Jean Servier: Der Traum v. der großen Harmonie. Eine Gesch. der Utopie. Mchn. 1971 (frz. 1967). – Ferdinand Seibt: Utopica. Modelle totaler Sozialplanung. Düsseld. 1972. Aktualisierte Neuausg. Mchn. 2001, S. 104–119 (Kap. Die Gegenreformation: Stiblinus 1555). – Michael Winter: Compendium Utopiarum. Typologie u. Bibliogr. literar. Utopien. 1. Teilbd.: Von der Antike bis zur dt. Frühaufklärung. Stgt. 1978, S. 38–40 (Nr. 48). – Günter Vogler: Von Eberlin zu Stiblinus. Utopisches Denken zwischen 1521 u. 1555. In: Reform, Reformation, Revolution. Hg. Siegfried Hoyer. Lpz. 1980, S. 143–150. – Jörg Jochen Berns: Roman u. Utopie. In: Utopieforsch. Hg. Wilhelm Voßkamp. Bd. 2, Stgt. 1982, S. 210–228. – Bernhard Kytzler: Zur nlat. Utopie. In: ebd., S. 197–209. – Ders.: S.s Seligland. In: Literar. Utopie-Entwürfe. Hg. Hiltrud Gnüg. Ffm. 1982, S. 91–100. – J. J. Berns: Utopie u. Policey. Zur Funktionsgesch. der frühen Utopistik in Dtschld. In: ebd., S. 101–116. – Gudrun Honke: Die Rezeption der ›Utopia‹ im frühen 16. Jh. In: ebd., S. 168–182. – Miriam Eliav-Feldon: Realistic Utopias. The Ideal Imaginary Societies of the Renaissance, 1516–1630. Oxford 1982. – J. J. Berns: Der Weg v. Amaurotum nach Laleburg. In: Lit. u. Kul-

Stiborius tur im dt. Südwesten zwischen Renaissance u. Aufklärung. Hg. Wilhelm Kühlmann. Amsterd. 1995 (Chloe, 22), S. 149–172. – Erich Kleinschmidt: Humanistische Frauenbildung in der frühen Neuzeit. Gaspar S.s ›Coropaedia‹ (1555). In: Ztschr. für dt. Altertum u. dt. Lit. 127 (1998), S. 427–442. – Sabine Rahmsdorf: Stadt u. Architektur in der literar. Utopie der frühen Neuzeit. Heidelb. 1999. – J. J. Berns: Caspar S.s Macaria-Utopie u. die utop. Satiretradition des Oberrheins. In: Simpliciana 22 (2000), S. 129–144. – Reinhold F. Glei: Philologen in Utopia. In: Nlat. Jb. 2 (2000), S. 39–55. – Giovanni Scimonello: Commentariolus de Eudaemonensium Republica. In: Dictionary of Literary Utopias. Hg. Vita Fortunati u. Raymond Trousson. Paris 2000, S. 132 f. – Richard Saage: Utop. Profile. Bd. 1: Renaissance u. Reformation. Münster 2001. – Walter Berschin: Nlat. Utopien im Alten Reich (1555–1741). In: Germania latina, Latinitas teutonica. Hg. Eckhard Keßler u. Heinrich C. Kuhn. Mchn. 2003, Bd. 2, S. 693–704. – J. J. Berns: Utopie & Vergessen am Beispiel der Inselutopie des Thomas More. In: Kulturelles Vergessen. Medien, Rituale, Orte. Hg. Günter Butzer u. Manuela Günter. Gött. 2004, S. 185–194. – Michael Lurje: Die Suche nach der Schuld. Sophokles’ ›Oedipus Rex‹, Aristoteles’ ›Poetik‹ u. das Tragödienverständnis der Neuzeit. Mchn./Lpz. 2004. – Christian Rivoletti: Strategie della finzione nelle utopie del Cinquecento europeo. Sulla ricezione dell’›Utopia‹ di Thomas More nei testi di Eberlin v. Günzburg, Antonio Brucioli, Anton Francesco Doni, K. S. e Tommaso Campanella. In: Morus. Utopia e Renascimento, III (Campinas, Brasil, 2006), S. 69–93. – Bibliography Utopian Writing, 1516–1798 (Clare Jackson, R. W. Serjeantson, 2009, Cambridge, Trinity College): www.trin.cam.ac.uk/rws1001/utopia/ bibliog.htm. Herbert Jaumann

Stiborius, Andreas, eigentl.: A. Stöberl, * um 1464 Pleiskirchen bei Altötting, † 1515 Wien. – Astronom, Mathematiker, Humanist u. Theologe. S. studierte seit 1479 an der Universität Ingolstadt (Magister 1484). Mit seinem Lehrer Celtis kam er 1497 nach Wien, wo er einen der beiden »mathematischen« Lehrstühle erhielt, die Maximilian I. an der Universität eingerichtet hatte. 1502 lehrte S. auch am Collegium poetarum et mathematicorum, doch wurde er 1503 Domherr bei St. Stephan u. war bis zu seinem Tod Pfarrer von Stockerau bei Wien.

Stickelberger

Für seine Vorlesungstätigkeit gab S. mit Georg Tannstetter astronomische u. mathemat. Werke heraus, darunter solche Peuerbachs u. Regiomontanus’. Mit Tannstetter erstellte er für Maximilian I. auf Anregung Papst Leos X. ein Kalendergutachten. S.’ astronomisches Hauptwerk (Opus umbrarum) hatte, dem allein erhalten gebliebenen Inhaltsverzeichnis zufolge, Sonnenuhrlehre (Gnomik) sowie kartografische Projektionen zum Inhalt. Als Theologe verfasste er vornehmlich pastoraltheolog. Werke. S. hinterließ eine große Bibliothek, bestehend aus Werken zur Astronomie (Astrologie), Mathematik, Theologie, Metaphysik u. Magie. Das in Tannstetters Viri mathematici (1514) überlieferte Inventar gewährt einen Einblick in eine Privatbibliothek zu Beginn des 16. Jh. Weitere Werke: Robert Grosseteste: Libellus Linconiensis de phisicis lineis [...]. Hg. A. S. Nürnb. 1503. Internet-Ed. in: VD 16. – Libellus de physicis lineis (zus. mit Georg Tannstetter). Wien 1503. – Tabulae eclypsium Georgij Peurbachij. Tabula primi mobilis Joannis de Monte regio. Hg. A. S (zus. mit G. Tannstetter). Wien 1514. Internet-Ed. in: VD 16. – De romani calendarii correctione consilium (zus. mit G. Tannstetter). Wien 1514. Literatur: Joseph v. Aschenbach: Gesch. der Univ. Wien. Bd. 1, Wien 1876, S. 88–104. – Günther: A. S. In: ADB. – Helmuth Grössing: Humanist. Naturwiss. Baden-Baden 1983, S. 174–181, 197 f. (mit weiterer Lit.). – D. Hayton: Instruments and demonstrations in the astrological curriculum. Evidence from the University of Vienna, 1500–1530. In: Studies in history and philosophy of biological and biomedical sciences 41 (2010), S. 125–134. Helmuth Grössing / Red.

Stickelberger, Emanuel, * 13.3.1884 Basel, † 16.1.1962 Uttwil/Kt. Thurgau. – Erzähler, Lyriker. Der Sohn eines Bankdirektors wuchs im Tessin auf, besuchte in Basel die Handelsschule u. gründete 1907 eine chem. Fabrik, die er 1926 aufgab, um als freier Schriftsteller in Basel u. ab 1948 in Uttwil zu leben. Als ExLibris-Sammler u. Erforscher der eigenen Familiengeschichte wurde S. auf autodidaktischem Weg zum Historiker u. fand mit Hans Waldmanns letzte Tage (Basel 1916) erstmals

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jene literar. Form u. Ambition, der er unter zeitweise recht großem Publikumserfolg treu blieb: die Gestaltung histor. Stoffe in gepflegter, gelegentlich etwas stilisierter Sprache u. einer an Conrad Ferdinand Meyer orientierten, oftmals in dramat. Steigerungen mündenden Kompositionsweise. Ein erster Höhepunkt war die zu Beginn des 19. Jh. im klerikalen Rom spielende Novelle Inimicos vestros diligite! (ebd. 1921; zus. mit Des Kranichs Ende): Ein Kardinal schickt den Enkel seines Erzfeinds, der sich ahnungslos in seine Gewalt begeben hat, in den sicheren Tod, besinnt sich aber eines besseren, als sein Blick auf die im Titel genannte Inschrift fällt. Er lässt den jungen Mann zurückholen, stürzt sich jedoch, von plötzl. Zorn erfasst, auf ihn u. wird von ihm niedergeschlagen. Sterbend noch attestiert er dem Gegner Schuldlosigkeit. Die Reihe seiner großen histor. Romane eröffnete S. mit Zwingli (Lpz. 1925), dem Der graue Bischof (Stgt. 1930), die dramat. Lebensgeschichte Heinrichs von Isny, des Ratgebers Rudolfs von Habsburg, folgte. Für die Verleihung des Dr. theol. h. c. der Universität Basel aus Anlass der Uraufführung seines Gedenkspiels zur 400jährigen Jubelfeier der Basler Reformation (Basel 1929) schrieb S. Calvin (Gotha 1931). Mit Zwischen Kaiser und Papst (Stgt. 1934) wandte er sich Arnold von Brescia zu, während er in Der Reiter auf dem fahlen Pferd (ebd. 1937) dem Mongolenherrscher Dschingis Khan den Schlesierherzog Heinrich den Frommen (1241) gegenüberstellte. Eine Hommage an die Geburtsstadt Basel war S.s letztes großes Werk: die Holbein-Trilogie (Der Mann mit den zwei Seelen. Stgt. 1942. Holbein in England. Aarau 1944. Künstler und König. Frauenfeld 1946). S., dessen Werk sich als Plädoyer für den Primat der abendländ. Kultur lesen lässt, war im »Dritten Reich« einer der meistgeschätzten Schweizer Autoren u. fiel nicht zuletzt deswegen nach 1945 rasch in Vergessenheit. Ausgabe: Ges. Werke. 12 Bde., Frauenfeld 1946–65. Charles Linsmayer

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Stieff, Christian, * 14.1.1675 Liegnitz, † 8.6.1751 Breslau. – Gelegenheitsdichter, politisch-publizistischer Schriftsteller. S., Sohn eines Bäckers, besuchte in Breslau zunächst das Elisabeth-, dann das Magdalenen-Gymnasium; 1697–1702 studierte er in Leipzig. Bis 1706 blieb S. als Privatgelehrter in Leipzig u. folgte dann einem Ruf als Professor der Geschichte u. Beredsamkeit an das Magdalenen-Gymnasium in Breslau, wo er 1709 Prorektor u. 1717 Rektor wurde (zgl. Bibliothekar). 1734 wechselte er als Rektor an das Elisabet-Gymnasium u. wurde zudem Inspektor sämtl. Stadtschulen. 1719 ernannte ihn die Berliner Akademie der Wissenschaften zum auswärtigen Mitglied. Nachhaltige Förderung erfuhr S. während seiner Schulzeit durch Christian Gryphius, unter dessen Aufsicht er die »Relationes hebdomadariae Wratislavienses« (Breslau 1695) redigierte, eine polit. Zeitung in lat. Sprache. Als Magister in Leipzig ordnete er berühmte Gelehrtenbibliotheken, übersetzte u. überarbeitete Manuskripte für Neuausgaben, widmete sich prähistor. Studien, denen er bereits früher nachgegangen war, u. verfasste die De urnis in Silesia Lignicensibus et Pilgramsdorfiensibus epistola (Breslau/Lpz. 1704). Neben seiner polyhistorischen Gelehrsamkeit zeigte S. beachtl. journalistische Fähigkeiten, die ihn in enge Beziehung zu ortsansässigen Verlegern brachten; außerdem pflegte er Kontakte zu berühmten Gelehrten des In- u. Auslands. Bereits 1702 schrieb er Rezensionen für die »Acta Eruditorum«. Mit S.s polit. Gelegenheitsschrift Relation von dem gegenwärtigen zustande des Moscowitischen Reichs (Ffm. 1706) lag erstmals eine Monografie in dt. Sprache vor, die nicht aus Kompilationen bestand u. sich eingehend mit den Neuerungen in Russland befasste. Die Relation setzte neue Maßstäbe in der Beurteilung Russlands u. diente Folgeschriften in weiten Teilen als Vorlage. Auch als Gelegenheitsdichter, Schuldramatiker, Erzähler u. Dichtungstheoretiker machte sich S. einen Namen: Sein Schlesischer Robinson (Breslau/ Lpz. 1723/24) verknüpft, abweichend vom literar. Erzählmuster der Robinsonade, die

Stieff

Biografie des Helden mit ausführlich geschilderten polit. Geschehnissen. Die anonym erschienene Anleitung zur Poesie (Breslau 1725) demonstriert das Bestreben S.s, die ältere doktrinäre Anweisungspoetik durch eine kritisch-historisch unterbaute Poetik zu ersetzen. Weitere Werke: Bibliotheca Carpzoviana sive Catalogus librorum quos [...] collegit [...] Frider. Benedictus Carpzovius. Hg. C. S. Lpz. 1700. Internet-Ed. in: ULB Sachsen-Anhalt. – Observationes philologicas circa orationem dominicam [...] submittent. Gottfried Olearius (Präses) u. C. S. (Respondent). Lpz. 1703. – Leben der weltberühmten Königin Christina v. Schweden [...]. Ebd. 1705. – Schles. histor. Labyrinth, oder kurtzgefaste Sammlung v. hundert Historien [...]. Breslau/Lpz. 1737. – Historia iubilaeorum scholasticorum in gymnasio Wratislaviensi Elisabetano publice celebratorum [...]. Breslau 1737. – Briefe: Briefwechsel (1697–1706) mit Christian Gryphius in der UB Breslau, Sign. R. 399, 1–3. Ausgaben: Andreae Gryphii Lebens-Lauff. In: Text + Kritik 7/8 (21980), S. 25–31 (aus: Schles. histor. Labyrinth [...]. Breslau/Lpz. 1747). – Das Breslauer Schultheater im 17. u. 18. Jh. Einladungsschr.en zu den Schulactus u. Szenare [...]. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Konrad Gajek. Tüb. 1994, S. 174–181, 377–380. – Schlesischer Robinson [...]. 2 Bde., Breslau/Lpz. 1723/24. Internet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. – Anleitung zur Poesie [...]. Breslau 1725. Internet-Ed. in: http://books.google.de. Literatur: Leben des seligen Herrn Rectors. C. S.s, in Breslau. In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. Lpz. 1751, S. 717–734. – Wohlverdientes Ehren-Gedächtniß, welches [...] C. S. [...] aufgerichtet worden. Breslau o. J. Internet-Ed. in: SLUB Dresden. – Elias Friedrich Schmersahl: Neue Nachrichten v. jüngstverstorbenen Gelehrten [...]. Bd. 2, Lpz. 1756, S. 162–166. – Bruno Markwardt: Gesch. der dt. Poetik. Bd. 1, Bln. 31964, Register. – Dietrich Eggers: Die Bewertung dt. Sprache u. Lit. in den dt. Schulactus v. Christian Gryphius. Meisenheim am Glan 1967. – Jürgen Fohrmann: Abenteuer u. Bürgertum. Stgt. 1981, S. 58 f. – Emmy Moepps: C. S.s ›Relation [...]‹. In: Russen u. Rußland aus dt. Sicht. Hg. Mechthild Keller. Mchn. 1987, S. 59–83. – HKJL, Bd. 2, Sp. 961–970 u. Register. – Hans-Georg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 4/1, Tüb. 2006, Register. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2000–2002. Emmy Moepps / Red.

Stiefmutter und Tochter

Stiefmutter und Tochter. – Anonyme Minnerede des 15. Jh.

264 Literatur: Victor Michels: Studien u. Forsch.en über die ältesten dt. Fastnachtsspiele. Straßb. 1896, 131, 178–181. – Karl Geuther: Studien zum Liederbuch der Klara Hätzlerin. Halle/Saale 1899, S. 37 f., 165 f. – Rolf Max Kully: Das Clärlein. Ein erot. Kalendergedicht auf das Jahr 1482 v. Johannes Erhard Düsch. In: ZfdA 107 (1978), S. 138–150. – Ingeborg Glier: S. u. T. In: VL. – Ann Marie Raso mussen: ›Ich trug auch ledig siben chind‹. Zur sozialen Konstruktion v. Weiblichkeit in der Minnerede ›S. u. T.‹. In: Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Hg. Wolfgang Harms u. C. Stephen Jaeger. Stgt./Lpz. 1997, S. 193–204. – Dies.: Mothers and Daughters in Medieval German Literature. Syracuse 1997, S. 189–221. Jacob Klingner

Der Ich-Sprecher gibt ein belauschtes Gespräch wieder, das Mutter (in einem Teil der Überlieferung: Stiefmutter) u. Tochter in ihrem Zimmer führen. Dem Heiratswunsch der Tochter begegnet die Mutter mit Lehren, wie sie »gut und er« (V. 18) gewinnen u. bewahren könne. Diese Lehren bestehen zum einen aus einem Bericht von ihrem eigenen Leben als Verführerin u. Betrügerin: Sie habe möglichst viele Männer parallel durch Prostitution u. Beutelschneiderei ökonomisch ausgenutzt. Sieben unehel. Kinder habe sie zur Erpressung von Schweigegeld eingesetzt u. mit einem nassen Schwamm bei passenden Stieglitz, Christian Ludwig, * 12.12.1756 Gelegenheiten reichen Tränenfluss simuliert. Leipzig, † 17.7.1836 Leipzig. – Architekturhistoriker, Zeichner; Verfasser von Zum anderen erklärt die Mutter der Tochter Gedichten u. Erzählungen. Schritt für Schritt, wie sie potentielle Liebhaber anlocken u. an sich binden kann. Sie rät Obwohl S. als Sohn eines Leipziger Rechtsihr aber auch, sich dem Angebot anzupassen gelehrten die ihm vorgeschriebene juristische u. auch einmal für geringes Geld zu prosti- Laufbahn einschlug u. im Lauf seines Lebens tuieren. Vor dem Alter solle sie den letzten Ämter wie die eines Prokonsuls, OberhofgeFreier zum Mann nehmen. Die Tochter will richts- u. Konsistorialadvokaten sowie eines sich an diese Lehre halten. Der Sprecher Kanonikus u. Propstes innehatte, spielte er schließt mit einer moralischen Verdammung eine nicht unbedeutende Rolle innerhalb der vom ausgehenden 18. Jh. an in Deutschland der beiden Frauen. Zwar gibt die Rahmensituation damit geführten Architekturdiskussion. Seine zahldeutlich eine Interpretation des Gesprächs als reichen Schriften lassen einen profunden ›negative Minnelehre‹ u. beklagenswerte Kenner der antiken Quellen, des Winckel›verkehrte Welt‹ vor. Neben das misogyne mann’schen Werks u. der zeitgenöss. europ. Bild der weibl. Manipulatorin tritt aber auch Kunst- u. Architekturtheorie, aber auch ein das (die moderne Forschung faszinierende) mangelndes lebendiges Verhältnis zur ArBild der emanzipiert u. ökonomisch reflek- chitektur erkennen. Vertrat er noch in seiner Geschichte der Baukunst der Alten (Lpz. 1792) tiert handelnden Frau. Der wohl aus Nürnberg oder Augsburg einen strengen Klassizismus, so wandte er stammende Text ist in unterschiedl. Umfang sich in Archaeologie der Baukunst der Griechen und (170–230 Verse) recht breit in elf Hand- Römer (2 Tle., Weimar 1801) der frz. Caraschriften überliefert. Der Straßburger Dichter ctère-Lehre zu, um schließlich in seinen späJohannes Düsch hat den Text zudem 1482 zu teren Werken Von altdeutscher Baukunst [...] (Lpz. 1820) u. Geschichte der Baukunst (Nürnb. einem Kalender-Einblattdruck umgearbeitet. 1827. 21836. Neuausg. 1837. Mikrofiche Ausgaben: Carl Haltaus (Hg.): Liederbuch der Mchn. 2005) auch die Gotik als gleichbeClara Hätzlerin. Quedlinb./Lpz. 1840. Neudr. Bln. rechtigten Baustil gelten zu lassen. In Beiträge 1966, S. 305–308. – Manfred Zimmermann: Die zur Geschichte der Ausbildung der Baukunst (Lpz. Sterzinger Miszellaneen-Hs. Innsbr. 1980, 1834) trat er zuletzt für einen den jeweiligen S. 143–149. – Ann Marie Rasmussen u. Sarah Westphal-Wihl: Ladies, Whores, and Holy Women. Bauaufgaben adäquaten Stilpluralismus ein. A Sourcebook in Courtly, Religious, and Urban – Im Zuge der enzyklopäd. Mode kompilierte Cultures of Late Medieval Germany. Kalamazoo, er eine Encyklopädie der bürgerlichen Baukunst 2010, S. 111–141. (5 Bde., ebd. 1792–98).

Stieglitz

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S. trat auch als Dichter hervor; 1787 erschienen seine Erzählungen aus den Ritterzeiten (Lpz./Weißenfels); 1801 veröffentlichte er ein Poem in acht Gesängen, Wartburg (Lpz.), u. 1834 in Friedrich von Raumers »Historischem Taschenbuch« Die Sage vom Doctor Faust mit eigenen Zeichnungen. Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Lpz.): Ueber die Baukunst der Ägypter. 1787. – Versuch über den Geschmack in der Baukunst. 1788. – Über den Gebrauch der Grotesken u. Arabesken. 1790. – Die Baukunst der Alten. 1796. – Versuch einer Einrichtung antiker Münz-Slg.en. 1809. – Über die Malerfarben der Griechen u. Römer. 1817. Literatur: Karl August Espe: Dr. C. L. S. Lpz. 1836. – NND 1836. 1. Tl. 1838 (Schriftenverz.). – F. Schnorr v. Carolsfeld: C. L. S. In: ADB. – Thieme/ Becker. – Hanno Walter Kruft: Gesch. der Architekturtheorie. Mchn. 1985. 21986. – Klaus Jan Philipp: C. L. S. (1756–1836). Der Beginn der Architekturgeschichtsschreibung in Dtschld. zwischen Klassizismus u. Romantik. In: Wiss. Ztschr. Bauhaus-Univ. Weimar 42 (1996), 2/3, S. 115–119. Ingrid Sattel Bernardini / Red.

Stieglitz, Heinrich, * 22.2.1801 Arolsen, † 23.8.1849 Venedig. – Lyriker, Reiseschriftsteller. S., Sohn eines vermögenden jüd. Kaufmanns, wurde 1814 getauft. Nach dem Schulbesuch in Gotha studierte er, zunächst planlos, später v. a. Philologie, in Göttingen (1820–1822; Relegation wegen eines als regierungsfeindlich interpretierten Lieds), Leipzig (1822–1824) u. Berlin (1824–1826; Dr. phil.). 1827 wurde er hier Kustos an der kgl. Bibliothek u. Lehrer am Joachimsthalschen Gymnasium. 1828 heiratete er die geistreiche, schwärmerisch veranlagte Charlotte Willhöft (* 18.6.1806); die Ehe blieb kinderlos. Immer schon seelisch labil, schwankte S. zwischen Selbstüberschätzung u. depressivem Selbstzweifel u. quälte sich mit übersteigerten Ansprüchen an sein Talent. Charlotte, die an S.’ Leiden lebhaftesten Anteil nahm, beging am 29.12.1834 Selbstmord, um durch diese (angeblich reiflich überlegte) Tat S. aufzurütteln u. durch den großen Schmerz zum wahren Dichter werden zu lassen (vgl. Theodor Mundts Charlotte Stieglitz, ein Denk-

mal. 1835 u. Karl Gutzkows Cypressen für Charlotte Stieglitz. 1835). Dieser Schritt erregte großes Aufsehen, bewirkte aber das Angestrebte keineswegs. S., der seine Berliner Stellungen aufgegeben hatte, reiste viel u. lebte bis zu seinem Tod (an der Cholera) v. a. in Venedig. S.’ Gedichte waren meist eng den Tendenzen des Zeitgeistes verpflichtet u. erregten wegen ihrer Formgewandtheit Aufmerksamkeit, die jedoch rasch verging, weil dem formalen Glanz weder die Intensität des Gefühls noch die Tiefe oder Originalität des Gedankens entsprach. Die bekanntesten Sammlungen sind Gedichte. Herausgegeben zum Besten der Griechen (zus. mit Ernst Grosse. Lpz. 1823), Stimmen der Zeit, Lieder eines Deutschen (ebd. 1832. 21834 mit Namensnennung) u. Bergesgrüße [...] (Mchn. 1839). Sein Hauptwerk sind die Bilder des Orients (4 Bde., Lpz. 1831–33). Sie enthalten lyrisch-epische Gedichte u. Dramen u. wollen, beeinflusst von Hegels Geschichtsphilosophie u. der Orientmode, ein Panorama östl. Kultur, Lebensformen u. Denkungsart geben. – Später entstanden mehrere historisch-polit. Reiseberichte (z. B. Ein Besuch auf Montenegro. Stgt./Tüb. 1841. Erinnerungen an Rom [...]. Lpz. 1848). Eine aufschlussreiche Selbstbiographie gab S.’ Neffe Louis Curtze postum heraus (Gotha 1865). Weitere Werke: Briefe an seine Braut Charlotte. Hg. Louis Curtze. 2 Bde., Lpz. 1859. – Von Charlotte Stieglitz: Gedichte u. Tagebücher. Hg. Franz Josef Görtz. Ffm. 1987. Literatur: Goedeke 13. – Michael Hinze: Ich habe viel Energisches an ihm bemerkt. Begegnungen mit dem Schriftsteller H. S. In: Goethe in Korbach. Autographen im Archiv der Alten Landesschule u. ihr Umfeld. Bearb. v. Hans-Rudolf Ruppel. Korbach 1990, S. 25–31. – Ders.: ›Ich verdanke Ihnen in der That genussvolle Stunden ...‹ Anmerkungen zur Biogr. des Arolser Dichters H. S. (1801–1849). In: Geschichtsbl. für Waldeck 78 (1990), S. 173–178. – Olga Ellermeyer-Zˇivotic´ : Aus den dt.-jugoslaw. Lit.-Beziehungen. H. S. (1801–1849) u. sein Verhältnis zu den Jugoslawen. Beograd 1991. – Ursula Wolkers: H. S. bei Goethe. In: Mein Waldeck 1999, 19, S. 1–3. – Zu Charlotte Stieglitz: Susanne Ledanff (Hg.): Gesch. eines Denkmals. Bln. u. a. 1986. – Olaf Briese: Von den ›Wehen unserer Zeit‹. Freitod der C. S. In: Aufbruch in die Bürgerwelt. Lebensbilder aus Vormärz

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u. Biedermeier. Münster 1994, S. 217–223. – Wulf Wülfing: Zum Mythos v. der ›dt. Frau‹: Rahelbettina-Charlotte vs. Luise v. Preußen. In: Nationale Mythen – kollektive Symbole. Funktionen, Konstruktionen u. Medien der Erinnerung. Hg. Klaudia Knabel, Dietmar Rieger u. Stephanie Wodianka. Gött. 2005, S. 145–174. Matthias Richter / Red.

Ebd. 1876. 141906. Habt’s a Schneid?! Ebd. 1877. 121906. Von Dahoam. In Bildern von Franz Defregger. Mchn. 1882) erfreut sich noch heute regionaler Beliebtheit: Seine lyr. Genrebilder aus dem Leben der bayerischen Landbevölkerung strahlen durch ihre Oszillation zwischen düster-satir. u. liebevoll-humoristischer Färbung einen eigentüml. Reiz aus.

Stieler, Karl, * 15.12.1842 München, † 21.4.1885 München; Grabstätte: Tegernsee, Friedhof. – Mundartdichter u. Publizist.

Ausgaben: Ges. Werke. 3 Bde., Stgt. 1907/1908. – Habt’s a Schneid. Das K.-S.-Hausbuch. Hg. Günter Goepfert. Mchn. 1975. Literatur: Wolfgang Johannes Bekh: Dichter der Heimat. Mchn. 1984, S. 49–64. – Günter Goepfert (Hg.): K. S. Pfaffenhofen 1985 (Bibliogr., Lit.). – Goedeke Forts. Adrian Hummel

Der Sohn des bayerischen Hofmalers Joseph Stieler erhielt nach Jurastudium in München (1862–1867), Praktikum am Bezirksgericht Traunstein (1867/68) u. Promotion in HeiStieler, Kaspar, Caspar, (David) von (seit delberg (1868/69) eine Anstellung am Baye1705), auch: Filidor der Dorfferer, * 25.3. rischen Reichsarchiv München (1869); seit 1632 Erfurt, † 24.6.1707 Erfurt. – Verfas1882 war er hier Assessor. ser poetologischer u. sprachwissenschaftWie seine Freunde Heyse u. Geibel Mitgl. licher Schriften, Lyriker, Dramatiker. der kgl. protegierten Künstlertruppe »Das Krokodil«, zählte S. zu den führenden Per- Nach dem Besuch des Erfurter Ratsgymnasisönlichkeiten der Münchener Kulturszene. Er ums studierte S. seit 1648 Medizin in Leipzig war beteiligt an der Herausgabe illustrierter u. Erfurt, 1649/50 in Marburg u. Gießen Prachtfolianten der Gründerzeit (u. a. Rhein- (ohne Abschluss). Wegen eines Duells relefahrt von den Quellen des Rheins bis zum Meere. giert, zog er nach Königsberg, wechselte das 1875/76. Bilder aus Elsaß-Lothringen. 1876. Ita- Fach (Theologie u. Rhetorik) u. wurde Hauslien. 1876. Alle Stgt.). Seine unverbrüchl. lehrer. 1654–1657 leistete er Militärdienst, Überzeugung von der regionalen Bestimmt- zuerst als Auditeur u. Richter, später als Ofheit der Literatur äußerte S. auch in verstreut fizier. Diese militärischen Erfahrungen flospublizierten Zeitungsartikeln oder Reisebe- sen später ein in seinen historisch aufrichten. Meist postum gesammelt (u. a. Durch schlussreichen Traktat Auditeur oder KriegsKrieg zum Frieden. Stimmungsbilder aus den Jah- schulteiß (1683, s. u. Werke). Ausgedehnte ren 1870/71 u. Aus Fremde und Heimat. Kultur- Reisen in die Niederlande, nach Frankreich, bilder aus Bayern. Beide Stgt. 1886), überra- Italien u. in die Schweiz schlossen sich an. schen diese Publikationen mit streng 1662 nahm S. sein Studium in Jena wieder auf deutschnationalen Tönen u. häufigen Anlei- (diesmal Jura), wurde aber im selben Jahr hen bei Heines iron. Sprachstil oder epi- Kammersekretär des Grafen Albrecht Anton grammat. Wortwitz. Nationaler Begeisterung von Schwarzburg-Rudolstadt. 1666–1676/77 treu ergeben, manchmal mittelalterl. Min- war er im Dienst der Ernestiner in Eisenach nesang nachgebildet u. von persönl. Proble- tätig, dann am Weimarer Hof (1680–1684/ men (Liebesverhältnis mit Sophie Kaulbach, 85). Inzwischen hatte sich S. als Literat einen Exkommunikation im Gefolge der Döllinger- Namen gemacht (1668 als »Der Spate« Mitgl. Affäre) erstaunlich unbelastet präsentiert sich der Fruchtbringenden Gesellschaft) u. konnte dagegen seine hochsprachl., dem Lob bür- seit 1690 als freier Schriftsteller in Erfurt legerl. Gefühlswerte u. begeisterter Gebirgsro- ben, für den Hof weiterhin als Rechtsberater mantik verpflichtete Lyrik (Hochlands-Lieder. tätig. 1879. Neue Hochlands-Lieder. 1881. Ein WinterDen Ruhm der Zeitgenossen sicherte sich S. idyll. 1885. Alle Stgt.). S.s an Kobell orien- als Verfasser von prakt. Lehrbüchern auf Getierte Mundartdichtung (u. a. Weil’s mi freut! bieten, für die eine korrekte Handhabung der

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dt. Sprache Erfolgsvoraussetzung war: Teutsche Sekretariat-Kunst (Nürnb. 1673. 1681. Ffm./Lpz. 1705), Der Allzeitfertige Secretarius (Nürnb. 1679. 1680. 1683. 1690), Der Teutsche Advocat (ebd. 1678. 1691/1695) u. Auditeur oder KriegsSchultheiß (ebd. 1683). In Zeitungs-Lust und Nutz (Hbg. 1695. 1697. Neudr. hg. von Gert Hagelweide. Bremen 1969), einer der ersten dt. Abhandlungen über das Pressewesen, zeigt er erstaunl. Gespür für die Möglichkeiten dieser neuen Publikationsform. S.s Interesse an der Förderung der dt. Sprache spiegelt sich jedoch v. a. in dem über 2000 Seiten starken Werk Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs (Nürnb. 1691. Faks. hg. von Gerhard Ising. 3 Bde., Hildesh.1968; dass. mit einem Nachwort von Stefan Sonderegger. Bern 1968). Dieses Vorarbeiten Schottelius’ aufgreifende, erste umfassende dt. Wörterbuch sicherte S. einen hervorragenden Platz in der Geschichte der dt. Sprachwissenschaft. Seine Poetik, Die Dichtkunst des Spaten (1685), liegt erst seit 1975 gedruckt vor (Hg. Herbert Zeman. Wien). Die Literaturgeschichte kennt S. vor allem als Verfasser der pseud. erschienenen Liedersammlung Die Geharnschte Venus oder LiebesLieder im Kriege gedichtet (Hbg. 1660. Faks. hg. von H. Zeman. Wien 1975. Neudr. hg. von Ferdinand van Ingen. Stgt. 1970). Ihre autobiogr. Grundlage ist die Beteiligung am Schwedisch-Brandenburgischen Krieg um Ostpreußen (1655–1657), ihre literar. Bedeutung liegt in der virtuosen Abwandlung der ganzen Palette der Liebesdichtung, von den Römern über Opitz u. Fleming bis zu Zesen u. den Nürnbergern. Neben dem bewundernswerten Formenreichtum halten v. a. die Andeutungen einer »gelebten« Liebe, die sich zwischen Werbung u. Abschied zu entfalten scheint, der Studentenulk u. der deftige erot. Humor den Blick gefangen. Die Verfasserschaft dieses wohl originellsten Liebesliederbuchs des 17. Jh. konnte erst 1897 endgültig geklärt werden (Köster). Daneben profilierte sich S. auch als Verfasser einer in Vers u. Prosa für die private Frömmigkeit bestimmten, oft allerdings anderen Autoren entlehnten Erbauungsliteratur. Im Dienst des Hofes entwickelte sich S.s dramat. Talent. Sechs Lustspiele für die zwi-

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schen 1665 u. 1667 veranstalteten Feste seines ersten Dienstherrn, die sog. Rudolstädter Festspiele, erschienen u. d. T. Filidors Traur / Lust und Mischspiele (Jena 1665); für den Weimarer Hof entstanden Bellemperie u. Willmut (beide ebd. 1680). In Anlehnung an die Commedia dell’arte führt S. hier eine Lustspielhandlung ein, die über geschickt konstruierte Intrigen (Verkleidungsmotiv) zur Auflösung der Verwicklungen führt. Zum ersten Mal in Deutschland wird hier auch eine Liebeshandlung im Dienerstand als festes Begleitmotiv auf die Bühne gebracht. Weitere Werke: Sehnl. Nachsehen. Königsb. 1655. – Christus Victor. Danzig 1657. – Melissa. Schäfferey. o. O. 1668. – Neu-Entsprungene Wasser-Quelle / Vor Gottes ergebene und geistlichdürstige Seelen [...]. Weinmar [sic] 1670. – Discursus de abbrevianda lite (Pseud.). Schaffh. 1676. – Idea rhetoricae Serotini (Pseud.). Nürnb. 1676. – Hoch-fürstl. Ehren-Altar. Gotha 1678. – Der Bußfertige Sünder. Nürnb. 1679. 1684. 1689. – Auditeur oder Kriegs-Schulteiß, das ist: richtige und unbetrügliche Anweisung / Wasmassen ein General- und RegimentsAuditör ihr hochangelegenes richterliches Amt [...] verwalten und beobachten sollen. Nürnberg 1683. – JEsus-Schall u. Wiederhall. Ebd. 1684. – Schattenriß der Welt. Ebd. 1684. – Polit. Briefverf. Hbg. 1695. – Der Allerneust-ankommende Secretarius. Ebd. 1699. 1708. – Mitherausgeber: Fünffaches Fürstl. Sächß. Trauer Gedächtnüß. Weimar 1670. – Briefe und Dokumente: Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft u. Beilagen. Die Zeit Herzog Augusts von Sachsen-Weißenfels (1667–1680). Hg. Martin Bircher unter Mitarb. v. Gabriele Henkel u. Andreas Hertz. Tüb. 1991. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 6, S. 3951–3972. – William Jervis Jones: German lexicography in the european context. A descriptive bibliography [...]. Bln. u. a. 2000, Nr. 1066–1073. – Weitere Titel: Albert Köster: Der Dichter der Geharnschten Venus. Marburg 1897. – Conrad Höfer: Die Rudolstädter Festspiele [...] u. ihr Dichter. Lpz. 1904. – Johannes Bolte: Eine ungedr. Poetik K. S.s. In: Sitzungsber.e der preuß. Akademie der Wiss.en, philosoph.-histor. Klasse. Bln. 1926, S. 97–122. – Gerhard Ising: Die Erfassung der dt. Sprache des ausgehenden 17. Jh. in den Wörterbüchern Matthias Kramers u. K. S.s. Ebd. 1956. – Herbert Zeman: K. S. Diss. masch. Wien 1965. – Martin Bircher: Ein neu aufgefundenes Frühwerk v. K. S. In: FS Max Wehrli. Zürich/Freib. i. Br. 1969, S. 283–297. – H. Zeman: Philipp v.

Stieröxel Zesens literar. Wirkungen auf K. S.s ›Geharnschte Venus‹ (1660). In: Philipp v. Zesen 1619–1969. Hg. Ferdinand van Ingen. Wiesb. 1972, S. 231–245. – Ders.: K. S.s ›Geharnschte Venus‹ – Aspekte literaturwiss. Deutung. In: DVjs 48 (1974), S. 478–527. – Volker Sinemus: Poetik u. Rhetorik im frühmodernen dt. Staat [...]. Gött. 1978, passim. – Stjepan Barbaric´ : Zur grammatikal. Terminologie v. J. G. Schottelius u. K. S. 2 Bde., Bern 1981. – H. Zeman: K. S. In: Dt. Dichter des 17. Jh. Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. 1984, S. 576–596. – F. van Ingen: K. S. In: Dt. Dichter Bd. 2, Stgt. 1988, S. 313–320. – Judith P. Aikin: Scaramutza in Germany. The Dramatic Works of C. S. University Park, Pa./London 1989. – Claude D. Conter: Zu Besuch bei K. S. ›Zeitungs Lust und Nutz‹. Ein Beitr. zur histor. Kommunikationsforsch. In: Publizistik 44 (1999), S. 75–93. – J. P. Aikin: Private Piety in Seventeenth-Century Germany and the Devotional Compilations of C. S. In: Daphnis 29 (2000), S. 221–279. – Dies: The Devotional Songs of C. S. In: ebd. 30 (2001), S. 97–158. – Klaus Conermann: ›Einnehmungs-Brieff‹ C. S.s entdeckt – oder über den merkwürdigen Umgang mit Aufnahmeurkunden u. Vollmachten in der Fruchtbringenden Gesellschaft. In: WBN 33 (2006), S. 97–117. – Michael Ludscheidt: ›der Geburt nach ein Erffurther‹. K. S. (1632–1707) – Gelehrter u. Dichter der Barockzeit. In: Mitt.en des Vereins für Gesch. u. Altertumskunde von Erfurt 68 [N. F.15] (2007), S. 45–72. – Ulrike Roggendorf: ›Wie können wir leben / wenn wir lieben‹. Zur Situierung von K. S.s ›Bellemperie‹. Bln. 2007. – Arnd Beise: Das Geschlecht eine Frage der ›Gewonheit‹ u. ›Aufferziehung‹. Gender-Inszenierung in K. S.s ›Der vermeinte Printz‹ (1665). In: ZfG 18 (2008), S. 512–529. – Wolfgang Neuber: ›Es hat sich wohl gevogelt‹. Rhetorik u. Zeremoniell in S.s Festspiel ›Der betrogene Betrug‹ (1667). In: Theatral. Rhetorik. Hg. W. Neuber u. Thomas Rahn. Tüb. 2008, S. 1–17. – M. Ludscheidt (Hg.): K. S. (1632–1707). Studien zum literar. Werk des ›Spaten‹. Bucha bei Jena. 2010. – Jörg Jochen Berns: Ztg. u. Historia. Die historiograph. Konzepte der Zeitungstheoretiker des 17. Jh. In: Ders: Die Jagd auf die Nymphe Echo. Bremen 2011 [zuerst 1983], S. 47–63. Ferdinand van Ingen / Wilhelm Kühlmann

Stieröxel, Stephan ! Taurinus, Stephanus

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Stifel, Styf(f)el, Stief(f)el(l), Michael, * um 1487 Esslingen, † 19.4.1567 Jena. – Mathematiker u. Theologe. Der Augustinereremit S. (1511 Priesterweihe) wurde 1522 wegen seines öffentl. Eintretens für Luther vom Orden ausgeschlossen. Er trat zum Protestantismus über u. ging nach Wittenberg zu Luther, der ihm mehrfach Pfarrbzw. Predigerstellen vermittelte (1523 am Hof des Grafen von Mansfeld, 1525 auf Schloss Tollet in Tirol, 1528 in Lochau). Lochau musste er wegen des Nichtzutreffens seiner Weltuntergangsprophezeiung verlassen. 1534 wurde er Pastor in Holzdorf; gleichzeitig studierte er in Wittenberg Mathematik (Magister). Nach dem Sieg der Hl. Liga 1547 floh S. nach Preußen, wurde 1551 Pfarrer in Haffstrom u. hielt an der Universität Königsberg theolog. u. mathemat. Vorlesungen. Theologische Kontroversen zwangen ihn zur Rückkehr nach Wittenberg (1554 Pfarrer in Brück). 1559 ging er als Magister nach Jena u. hielt dort mathemat. Vorlesungen. S., der über die Entschlüsselung bestimmter Bibelstellen mittels »Wortrechung« (Neuaufteilung der Summen der den Buchstaben entsprechenden Dreieckszahlen) zur Mathematik fand, ist der bedeutendste dt. Algebraiker des 16. Jh. Mit der Arithmetica integra (Nürnb. 1543 u. ö.), der Deutschen Arithmetica (ebd. 1545), dem Rechenbuch von der Welschen und Deutschen Practick (ebd. 1546) sowie der kommentierten Neuausgabe der Coss (Algebra) Christoff Rudolffs (Königsb. 1553 u. ö.) schuf er die für Jahrzehnte maßgebl. Lehrbücher. Besondere Verdienste erwarb er sich um die mathemat. Symbolik u. als Wegbereiter der Logarithmen. Weitere Werke: Ein schones künstlichs lied von der recht gegründten Ewangelischen leer Doctoris Martini Luthers. Straßb. 1522 u. ö. (Erstaufl. anonym). – Ein Rechen Büchlin Vom End Christ. Wittenb. 1532. – Ein sehr Wunderbarl. wortrechnung. o. O. 1553. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Joseph E. Hofmann: M. S. Wiesb. 1968. – Wolfgang Meretz: Standortnachweise der Drucke u. Autographen v. Heinrich Schreyber [...], Christoff Rudolff [...] u. M. S. In: AGB 16 (1976), S. 319–338. – Karin Reich: M. S. In: Maß, Zahl u. Gewicht. Ma-

269 thematik als Schlüssel zu Weltverständnis u. Weltbeherrschung. Hg. Menso Folkerts u. a. Weinheim 1989, S. 73–95, 373. – Dies.: Die Beziehung Martin Luthers zu M. S. In: Esslinger Studien 29 (1990), S. 17–36. – Daniel Heinz: M. S. In: Bautz 16 (1999), Sp. 1468–1472. – Matthias Aubel: M. S. Ein Mathematiker im Zeitalter des Humanismus u. der Reformation. Augsb. 2008. Fritz Krafft

Stifter, Adalbert, * 23.10.1805 Oberplan/ Moldau (heute: Horní-Planá/Tschechische Republik), † 28.1.1868 Linz; Grabstätte: ebd., St.-Barbara-Friedhof. – Epiker, Novellist, Maler, Pädagoge. S. wurde als Sohn des Leinenwebers, Flachsu. Garnhändlers Johann Stifter u. seiner Frau Magdalena in jener Böhmerwaldlandschaft geboren, die in vielen seiner Erzählungen von den tatsächl. sozialen u. histor. Verhältnissen vielfach abstrahiert u. zgl. topografisch präzis nachgebildet wird. Immer wieder wird der Böhmerwald (am Dreiländereck) zur konkreten Kulisse für das Wirken der gegenüber dem Menschen gleichgültigen Naturgesetzmäßigkeiten, deren Kenntnis dem Menschen Glück u. Überleben sichert, deren Unkenntnis dem Menschen Tod u. Verderben bringen kann (Die Mappe meines Urgroßvaters. 2. Fassung 1847. Granit. 1853). S.s Grundanliegen war es, die Literatur auf der Basis einer umfassenden Bildung des Schriftstellers in Geschichte, Philosophie u. Naturwissenschaft als eigenes Medium der Erkundung von Natur u. Sittlichkeit des Menschen zu behaupten. Literatur sollte »in der Ahnung und Vorausoffenbarung« schon darlegen können, was sich der wissenschaftl. Kenntnis noch entziehe (Über Stand und Würde des Schriftstellers. In: Constitutionelle Donau-Zeitung, 1848). In der Form der anthropolog. Erzählung werden Fragen zur conditio humana in den Prologen aufgeworfen, deren Beantwortung ohne explizite Belehrung mündige Leser erfordert, welche die implizite Suche nach einer naturgesetzmäßigen sozialen Ordnungen erkennen. Den mentalitätsgeschichtl. Hintergrund bilden dabei die epochalen u. in der Krise von 1848 erneuerten Verunsicherungen des Menschenbildes durch die Französische Revolution (Zuversicht. 1845).

Stifter

Der Tod des 1817 von einem umgestürzten Flachswagen erschlagenen Vaters kehrt in einem leitmotivischen Zug des Werks als Leerstelle des Abwesenden wieder. Für den ältesten Sohn in einer Familie mit fünf (lebenden) Kindern, zu denen sich in der neuen (1820 geschlossenen) Ehe der Mutter mit dem um sieben Jahre jüngeren Bäcker Ferdinand Mayer noch ein Stiefbruder gesellte, begann ein hartes u. entbehrungsreiches Leben, in dem sich S. eng an die Großeltern anschloss. Zusammen mit dem Großvater Augustin Stifter versorgte er die kleine Landwirtschaft; der Vater der Mutter, der Fleischhauer Franz Friepes, brachte seinen Enkel, gegen den Rat des Ortsgeistlichen, 1818 in die Lateinschule der Benediktiner nach Kremsmünster, wo S. bis 1826 die, wie er später meinte, glücklichste Zeit seines Lebens verbrachte. Die im 18. Jh. erbaute u. als erstes Hochhaus bezeichnete Sternwarte des Stifts, mit den darin stufenförmig angeordneten Sammlungen der Naturalia, Scientifica u. Artefacta, über denen ein Observatorium u., unter dem Dach des Turms, eine kleine Kapelle eingerichtet wurden, verdeutlicht nicht nur die wissenschaftl. Perspektive des Unterrichts in Kremsmünster, sondern auch S.s nie abgerissene Verbindung zur Physikotheologie u. zur Auslegung des »Buches der Natur«. Im Arzt Augustinus gestaltete S. später einen physikotheologisch geprägten Mediziner, der noch in der Formulierung der Eisregenbeschreibung seiner Tagebuchaufzeichnungen Brockes verpflichtet bleibt (Die Mappe meines Urgroßvaters II. 1847). Die josephinisch aufgeklärt-frommen Lehrer des Stifts Kremsmünster – besonders Placidus Hall – erweckten in ihm die Liebe zur Literatur ebenso wie die Neugierde des wissenschaftl. u. des künstlerischen Blicks auf u. in die Natur. Dieser zeigt sich auch in seinem malerischen u. zeichnerischen Werk, in dem mit einem extremen Interesse für die Details Landschaftsstimmungen u. Landschaftsgeschichtlichkeit (»Stimmung und Erdleben«, Möseneder, in: A. S. Dichter und Maler, Denkmalpfleger und Schulmann) geformt werden (Künstlerthematik in der Erzählung Nachkommenschaften. 1864). Mit der Aufnahme eines nicht abgeschlossenen Studiums der Jurisprudenz (1826 bis

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1830) begann S.s 22 Jahre dauernder Aufenthalt in Wien, wo er sich zwischen einem bürgerl. Beruf u. der Kunst zu orientieren suchte, seinen Ruhm als Novellist begründete u. wieder verlor, durch bohemeartige Lebensflucht (Verweigerung von Abschluss- u. Einstellungsexamina) u. Unentschiedenheit sein Leben in eine schwere Krise führte (Liebe zu Fanny Greipl). 1837 heiratete S. zum Entsetzen mancher Zeitgenossen die seinem Werk gegenüber verständnislose Putzmacherin Amalie Mohaupt (1811–1883). Er stilisierte die kinderlose Ehe zum Musterbild »wahrer ehelicher Liebe« u. beschwor noch zum Lebensende die himml. Zukunft der Eheleute. S.s finanzielle Situation war in dieser Zeit unsicher (zwei Pfändungen 1837 u. 1841). Seit 1830 versuchte er, als Vorleser u. Hauslehrer seine Existenz zu sichern. Dadurch verkehrte er auch, freilich stets als ein sozialer Außenseiter, im Salon der Fürstin Maria Anna Schwarzenberg u. unterrichtete Richard von Metternich, den ältesten Sohn des Staatskanzlers, 1843–1846 in Mathematik u. Physik. Von besonderer Bedeutung wurden für ihn zunächst seine aus der Alltagswelt in eine idealere Sphäre inniger Freundschaft zu Schülern hinausführenden Briefe; er verstand sie als seine eigentlichen literar. Schöpfungen, die aufbewahrt u. einmal herausgegeben werden sollten: »Sonst fahre ich ab und bin kein Schriftsteller gewesen« (an S. von Handel, 8.2.1837). Durch den Erfolg der in österr. Journalen u. Almanachen erscheinenden Erzählungen (Der Condor. Feldblumen. Das Haidedorf. Alle 1840. Der Hochwald. 1841. Durchbruch in der Einschätzung der Kritiker mit Abdias. 1842), durch journalistische Arbeiten (u. a. Beiträge zu dem Sammelband Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben. Pest 1844), v. a. aber durch die Begegnung mit dem Pester Verleger Gustav Heckenast (1841) besserte sich S.s Lage so rasch, dass er Zeit zum Schreiben gewann u. seine Erzählungen bereits 1844 für zwei Studien genannte Bändchen überarbeiten u. sammeln konnte. S.s Novellen wurden »Mode-Artikel, um die sich die Redaktionen gegenseitig« beneideten (Johann Gabriel Seidl, 1844), doch brach die Erfolgskurve schon 1847, besonders aber seit dem

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Revolutionsjahr ab. Sein großes episches Werk entstand also im Schatten des Erfolgs von höchstens neun Erzählungen (in den vier ersten Studien-Bändchen). Vor den Folgen der Revolution 1848, an der S., Wahlmann der inneren Stadt Wien für die Frankfurter Nationalversammlung, zunächst als fortschrittl. Liberaler Anteil nahm, wich er mit seiner Familie im Mai in das ruhigere Linz aus. Bildung wurde für ihn zum Zentralbegriff, den er den revolutionären Freiheitshoffnungen entgegensetzte: »Mein Gott, ich gäbe gerne mein Blut her, wenn ich die Menschheit mit einem Ruke auf die Stufe sittlicher Schönheit heben könnte, auf der ich sie wünschte« (an Heckenast, 6.3.1849). Literarische u. volkspädagog. Ideen u. Pläne standen für S. im Zentrum. Den Landschullehrer nannte er »einen der wichtigsten Männer im Staate« u. die Landschule »die höchste Schule des Staates« (Die Landschule. 1849), da »Erziehung die erste und heiligste Pflicht des Staates ist« (an Türck, 26.4.1849). 1850 wurde S. zum provisorischen, 1854 zum definitiven Schulrat (bis 1865), 1853 auch zum Landeskonservator von Oberösterreich (vgl. Über den geschnitzten Hochaltar in der Kirche zu Kefermarkt. Linz 1853) ernannt. Er erlebte, dass die liberalen Bildungsreformideen von 1848 im neoabsolutistischen Staat allmählich abgebaut wurden; anstatt für sein Ideal des weisen männl. Lehrers wirken zu können, betraf seine Amtstätigkeit häufig niedere Streitigkeiten der Kollegien, Alkoholprobleme im Lehrkörper u. bauliche Maßnahmen (vgl. Amtliche Schriften zu Schule und Universität [= Werke und Briefe. Bd. 10,1–3]). Das von ihm zusammen mit dem Linzer Realschulprofessor Johannes Aprent verfasste Lesebuch zur Förderung humaner Bildung in Realschulen [...] (Pest 1854) wurde auch auf kirchl. Einspruch hin für den Unterricht nicht zugelassen; nach Streitigkeiten im Linzer Lehrerkollegium, bei denen S. die Ersetzung des Direktors forderte, wurde ihm 1856 die Inspektion der Linzer Oberrealschule entzogen. Auch den Versuch, mit der Aufnahme der sechsjährigen Nichte Amalies, Juliana Mohaupt, als Pflegetochter der Ehe neue Kraft zu geben, musste S. als gescheitert empfinden. Im April 1859 wurde das Mädchen tot aus dem Wasser geborgen.

271

Seit 1863 zeigten sich Symptome einer Leberzirrhose; neben der Krankheit machte sich schon seit 1854, besonders seit 1863 eine zunehmende nervl. Zerrüttung bemerkbar. Am 26.1.1868 fügte sich der inzwischen Totkranke auf dem Krankenbett mit dem Rasiermesser einen tiefen Schnitt in den Hals bei, an dem er zwei Tage später starb. Mit 35 Jahren erst ist S. als Dichter an die Öffentlichkeit getreten u. wurde sogleich als ein Schüler Herders, Goethes u. Jean Pauls erkannt, mit denen er sich nicht nur in seinem Schreiben, sondern auch in seiner Pädagogik produktiv auseinandersetzte. Das Werk Jean Pauls hatte schon der Student (um 1830), »gleichsam auf einem Divan wohnend« (Heinrich Reitzenbeck, 1853), verschlungen u. im Sprachduktus der Briefe nachgeahmt. Freilich grenzt sich S.s pessimistische Anthropologie von der harmonisierenden Goethes deutlich ab, u. Jean Paul’sche Sprachwendungen u. Satire werden zunehmend aus dem Werk verdrängt. Hingewiesen worden ist auf die Nähe zu den diätet. Ansätzen Ernst von Feuchterslebens u. Philipp Karl Hartmanns; als Quellen für S.s ›sanftes Gesetz‹ sind zudem Karl von Rotteck u. Bernard Bolzano genannt worden. S.s Verhältnis zur kath. Kirche u. Konfession wird kontrovers diskutiert. »Der katholische Klassiker« (Paulsen) fußte einerseits im aufgeklärt-liberalen Katholizismus von Kremsmünster; auf der anderen Seite stand die Erfahrung eines erneuerten kirchl. Einflusses auf die Schule u. die fürsorgl. Zensurierung des eigenen Werks durch die »Pfaffenparthei« (Heckenast) bei Auswahlausgaben. Eichendorff räumte ein, man suche bei S. vergeblich einen expliziten Katholizismus, finde aber eine »allem Unkirchlichen durchaus fremde Gesinnung«, die »wie die unsichtbare Luft, die Jeder athmet«, die Werke durchziehe. S. hat einen einseitig konfessionellen Standpunkt für seine Werke abgelehnt. S.s Erfolg als Autor u. der jähe Absturz in der Kritiker- u. Publikumsgunst beruhten möglicherweise auch auf der engen Verbindung, die Naturwissenschaft u. Poesie in seinem Werk eingegangen sind. Die Studien wurden in Gutzkows »Telegraph für Deutschland« (1844) als »modern« deshalb

Stifter

bezeichnet, weil sie »Ergebnis einer poetisch wissenschaftlichen Anschauung des kosmischen Ganzen« seien. Zeitgenössische Wissenschaftsentwicklungen wie die (von der Wiener Schule exzessiv betriebene) anatomische Zergliederung des Körpers lehnte S. zugunsten holistischer Konzepte ab; Verbindung, nicht Trennung war das Ziel seiner Dichtung. So hat S. in der Erzählung Kalkstein (1853; Überarbeitung von Der arme Wohlthäter. 1847) gezeigt, dass der Streit über die wahren Beweggründe des Menschen von der Aufmerksamkeit für seine eigentl. Sittlichkeit u. Wirkung ablenke (u. damit eine Hermeneutik des Respekts formuliert). In der Rahmenerzählung zu Brigitta (2. Fassung, 1844) wird der Ausformung fiktiver Gestalten in der Literatur eine über die zeitgenöss. Seelenkunde hinausgehende Erkenntnismöglichkeit zugesprochen, der in der Binnenerzählung eine komplexe seelenkundlich-diätet. Gestaltung der Entwicklung Brigittas entspricht. Studien hat S. die überarbeiteten Fassungen seiner in sechs Bändchen erschienenen Erzählungen genannt (Bde. 5 u. 6, 1850), d.h. Übungen zu Einzelaspekten aus dem großen Gemälde eines neuen Natur- u. Menschenbildes, in dessen Zentrum das geschichtslose Gesetz der Natur u. die immer erneut zu erringende sittl. Ordnung sich begegnen. Die ›Studie‹ erlaubt dabei auch die gewaltsam-künstl. Vereinzelung der Figuren, die jenseits der sozialen Beziehungen in den Grundkonflikten ihrer Existenz gezeichnet werden (bes. Der Hagestolz. 1844). Die Naturräume werden in den Studien zu einem Ort der Bedrohung (Brigitta II; Die Mappe meines Urgroßvaters II) oder der Heilung (Der Waldsteig. 1844). Immer wieder spielt S. in diesen Texten mit den derzeitigen Grenzen wissenschaftl. Erkenntnis, wenn die Lektüre der Schriften Albrecht von Hallers zur Hypochondrie führen (Der Waldsteig), das Schicksal der blinden u. sehenden Ditha nur noch in Begriffen von Fatum u. Schicksal beleuchtet werden kann (Abdias), die Seelenkunde die Anlagen in einem Mädchen wie Brigitta nicht erklärt. Die Literatur ist den Rätseln verpflichtet, welche die Wissenschaft noch nicht gelöst hat, um den verborgenen Zusammenhang von Natur- u. Sittengesetz zu erkunden.

Stifter

Diesen Zusammenhang fasst S. auch in der Formulierung des ›sanften Gesetzes‹ der Vorrede zu den Bunten Steinen (2 Bde., Pest 1853). Im naiven Kinder- u. Großvaterglauben der kaum für Kinder geeigneten Erzählung Granit (urspr. Die Pechbrenner. 1848) erscheint das sanfte Gesetz noch als Moment der Einsicht in die Abhängigkeit des Menschen von einer Schöpfungsordnung; in der Erzählung Kalkstein erweisen sich die Kinder als abhängig von der immer unzulängl. Fürsorge des einzelnen Menschen, der sie behütet. Als die Bunten Steine erschienen, arbeitete S. längst intensiv an seinem Roman Der Nachsommer (3 Bde., Pest 1857). Hebbel kritisierte, S. setze offenbar »Adam und Eva als Leser« voraus, »weil nur diese mit den Dingen unbekannt sein können, die er breit und weitläufig beschreibt«. In der utop. Bildungswelt dieses Romans erscheint strukturierend der aus den Sammlungen der Sternwarte in Kremsmünster bekannte Erkenntnisweg. Als Stilfolien lassen sich Novalis’ Heinrich von Ofterdingen sowie Goethes Wahlverwandtschaften belegen, wobei S. eine Art von Kontrafaktur zu Goethes Roman geschrieben hat. In einer überlangen Exposition verdeutlicht er die Geduld, die alle Menschen brauchen, ehe sie liebesfähig werden, dann aber blendet der Roman rasch u. konzentriert auf die Erzählung der entsagenden Liebe zwischen Risach u. Mathilde zurück, um aus dieser Entsagung das Glück des jungen Paars, Heinrich u. Natalie, entstehen zu lassen. Die Problem- u. die Formkonstellation der Wahlverwandtschaften ist damit gleichsam umgekehrt, die bei Goethe eingefügte Novelle Die wunderlichen Nachbarskinder hat S. zum Thema seines Romans geweitet u. die Romanhandlung des älteren Textes im Schicksal Risachs u. Mathildes novellistisch konzentriert. Der auf Frantisˇ ek Palacky´s Darstellung der böhm. Erbfolge im 12. Jh. basierende Roman Witiko (3 Bde., Pest 1865–67) ist im Erzählduktus nicht historisierend, sondern episch präsentes MA. In der exzessiven Bearbeitung des Textes in den Handschriften zeigt sich das Bemühen, »dem ›schwarzen Abgrund‹ des drohenden Geschichtspessimismus« (Wiesmüller) eine ästhetische Ordnung der Dinge in der Sprache entgegenzusetzen. So

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ist S.s Werk bis zuletzt von den Verunsicherungen der aufklärerischen Geschichtsphilosophie durch Revolution u. Krieg geprägt. Die Rezeption hat ganz unterschiedl. Aspekte des Werks ins Zentrum gerückt. Schon zeitgenössisch wurden die ausufernden Naturschilderungen kritisiert, die für Heyse schließlich eine Fehlentwicklung in der Gattungsgeschichte der Novelle darstellten. Erschien Benjamin S.s Werk als »seelisch stumm«, da es nicht aus den inneren Erschütterungen lebe, wurde von anderen gerade die tiefe Humanität u. Gewaltlosigkeit im Umgang mit dem anderen Menschen in den Vordergrund gestellt (Staiger, Bonhoeffer), da S. nicht psychologisch sezierend, sondern mit ›Ehrfurcht‹ u. ›Respekt‹ mit den Figuren umgehe. Nadlers Versuch, S. als Dichter der Blutsgemeinschaft völkisch zu vereinnahmen, sagt gewiss mehr über die Zeit des Urteils als über S.s Werk aus. Der Unterschätzung S.s als Landschafts- u. Idyllendichter (Heyse, Klabund) hat nicht zuletzt Thomas Mann – wie vor ihm Ernst Bertram u. nach ihm Peter Handke – nachhaltig den Hinweis entgegengesetzt, »daß hinter der stillen, innigen Genauigkeit gerade seiner Naturbetrachtung eine Neigung zum Exzessiven, Elementar-Katastrophalen, Pathologischen wirksam ist«. In jüngeren Essays u. literar. Anverwandlungen wurden biogr. u. konstitutionelle Aspekte mit dem Werk verbunden (Stadler). Der bedeutendste Impuls für die Wahrnehmung von S. ging freilich von der Einsicht in seine Arbeitsweise u. das textanalyt. Potenzial der Handschriften aus. Bei kaum einem weiteren Autor der dt. Literatur existiert eine so komplexe Handschriftensituation, kaum ein weiterer hat so intensiv u. extensiv die eigenen Werke der immer erneuten Bearbeitung unterzogen. S.s letzter Roman war die vierte Fassung der Mappe meines Urgroßvaters – ein Text, der ihn über ein Vierteljahrhundert immer erneut in tief greifenden Veränderungen u. in der Arbeit an einem konsequent umgesetzten ästhetischen Programm beschäftigt hat. Ausgaben: Sämtl. Werke. Hg. August Sauer u. a. 25 Bde., Prag 1901 ff. Reichenberg 1927 ff. Hildesh. 1979 (= Prag-Reichenberger Ausg.). – Werke

273 u. Briefe. Hist.-krit. Gesamtausg. Hg. Alfred Doppler, Wolfgang Frühwald u. Hartmut Laufhütte. Stgt. u. a. 1978 ff. Literatur: Bibliografien: Eduard Eisenmeier: A. S. Bibliogr. Linz 1964. Forts.en 1971, 1978, 1983. – Goedeke Forts. – Zeitschrift: Vjs. A.-S.-Institut des Landes Oberösterr. (= VASILO). Ebd. 1952 ff. Seit 1994 u.d.T.: Jb. A.-S.-Institut des Landes Oberösterr. – Dokumentationen: A. S.s Leben u. Werk. In Briefen u. Dokumenten. Hg. Kurt Gerhard Fischer. Ffm. 1962. – A. S. Leben, Werk, Landschaften. Hg. Alois Großschopf. Linz 1968. – A. S. Schrecklich schöne Welt. Hg. Johann Lachinger u. Martin Sturm. Ebd. 1990 (= VASILO 39, F. 1/2). – Gesamtdarstellungen: Alois Raimund Hein: A. S. Prag 1904. Wien u. a. 21952. – Hans Dietrich Irmscher: A. S. Wirklichkeitserfahrung u. gegenständl. Darstellung. Mchn. 1971. – Martin Selge: A. S. Poesie aus dem Geist der Naturwiss. Stgt. 1976. – Sengle 3. – Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. S.Lektüren. Stgt./Weimar 1995. – Wolfgang Matz: A. S. oder Diese fürchterl. Wendung der Dinge. Wien 1995. – Peter Schoenborn: A. S. Sein Leben u. Werk. Bern/Tüb. 1999. – Mathias Mayer: A. S. Erzählen als Erkennen. Stgt. 2001. – Weitere Titel: Wolfgang Paulsen: A. S. u. der ›Nachsommer‹. In: Corona. FS Samuel Singer. Hg. Arno Schirokauer u. W. Paulsen. New York 1941, S. 228–251. – Moriz Enzinger: A. S.s Studienjahre (1818–30). Innsbr. 1950. – Ders.: Ges. Aufsätze zu A. S. Wien 1967. – Ders.: A. S. im Urteil seiner Zeit. Graz u. a. 1968. – A. S. Studien u. Interpr.en. Hg. Lothar Stiehm. Heidelb. 1968. – A. S. Studien zu seiner Rezeption u. Wirkung. Hg. J. Lachinger. 2 Bde., Linz 1995 u. 2002. – A. S. Dichter u. Maler, Denkmalpfleger u. Schulmann. Hg. Hartmut Laufhütte u. Karl Möseneder. Tüb. 1996. – S.-Studien. FS Wolfgang Frühwald. Hg. Walter Hettche u. a. Tüb. 2000. – Waldbilder. Hg. W. Hettche u. Hubert Merkel. Mchn. 2000. – Sanfte Sensationen. S. 2005. Hg. J. Lachinger u. a. Linz 2005. – History, Text, Value. Essays on A. S. Hg. Michael Minden, Martin Swales u. Godela Weiss-Sussex. Linz/London 2006. – S. u. Stifterforsch. im 21. Jh. Biogr. – Wiss. – Poetik. Hg. Alfred Doppler u. a. Tüb. 2007. – Ordnung – Raum – Ritual. A. S.s artifizieller Realismus. Hg. Sabina Becker u. Katharina Grätz. Heidelb. 2007. – Wolfgang Wiesmüller: Zur Krise geschichtsphilosoph. Positionen der Aufklärung bei A. S. In: Nachklänge der Aufklärung im 19. u. 20. Jh. FS Werner M. Bauer. Hg. Klaus Müller-Salget u. Sigurd Paul Scheichl. Innsbr. 2008, S. 43–54. Wolfgang Frühwald / Christian von Zimmermann

Stigel

Stigel, Stigelius, Johannes, * 13.5.1515 Gotha (daher: Gothanus), † 11.2.1562 Jena; Grabstätte: ebd., St. Michaelskirche. – Protestantischer neulateinischer Dichter. Der Sohn eines Schulmeisters studierte in Leipzig u. seit 1531 in Wittenberg (Magistergrad 1542) u. wurde dort einer der vertrautesten jüngeren Freunde u. Briefpartner Melanchthons, nach Camerarius ein »zweiter Helius Eobanus Hessus«, jedenfalls eine der produktivsten poetischen Stimmen des Protestantismus im 16. Jh. In Wittenberg widmete er sich, auch an der Medizin u. Naturkunde interessiert, altsprachl. Studien u. lehrte dort seit 1543 als Professor für Poesie. Wittenberg blieb seine geistige Heimat auch, als er 1547 an die neu gegründete ernestin. Universität Jena berufen wurde u. sich dort der sog. Gnesiolutheraner unter Führung des Flacius Illyricus erwehren musste. Der Briefwechsel mit Melanchthon setzt um 1535 ein. Die meisten von S.s Dichtungen sind postum in neun Büchern Poemata (Hg. Hiob Fincelius. Jena 1566–72 u. ö. Teilweise elektronisch lesbar in CAMENA), dazu in einer Ausgabe von Adam Siber (Bd. 1–2, Jena 1577) gesammelt worden. Neben autobiogr., meditativen u. religionspädagogisch motivierten Gedichten hielt sich S. an etablierte literar. Gattungen (Versifikationen von Psalmen u. des Katechismus; christl. Eklogen u. Fasti, d.h. Festtags- u. Kalenderdichtung, Hymnenpoesie in der Nachfolge altkirchl. Texte). Dabei fanden auch die großen Themen der Zeit in seinem Werk Widerhall. Dies gilt für den Fortgang der Reformation wie auch für die Historie des Reiches u. Kaiser Karls V., von dem er, als Begleiter Melanchthons auf dem Reichstag zu Regensburg, 1541 (oder 1542) den Dichterlorbeer empfing u. auf dessen Ankunft er eine Ekloge schrieb (Neudr. mit Übers. u. Kommentar HL, S. 584–595). Viele Stücke sind zum Gedächtnis an Zeitgenossen verfasst. Epitaphien (auf Hutten, Erasmus, Helius Eobanus Hessus, Justus Jonas, Melanchthon u. Paul Eber) hat Reusner seinen Icones (1587) beigegeben. Bemerkenswert unter anderem bleiben ein Zyklus de [XII] eclipsibus solis et lunae, dies u. Ähnliches im Kontext der astronomischen

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Interessen gerade Melanchthons (dazu Bauer Naturwiss.en seiner Zeit. Hg. Günther Frank u. 1998). Dazu treten mancherlei kulturge- Stefan Rhein. Sigmaringen 1998, S. 137–181. – schichtlich interessante Epigramme: etwa auf Walter Ludwig: Musenkult u. Gottesdienst. Evaneine Venus Lucas Cranachs, auf ein Bildnis gelischer Humanismus der Reformationszeit. In: Ders. (Hg.): Die Musen im Reformationszeitalter. des Melanchthons, auf die Themse-Schwäne Lpz. 2001, S. 9–51. – Lothar Mundt (Hg.): Joachim u. Luthers Gärtchen, auch ein Figurengedicht Camerarius: Eclogae / Die Eklogen. Tüb. 2004. – auf die dreifache päpstl. Krone (mit zusätzl. Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2003–2007 (mit Akro- u. Telestichon) als poetischer Ruf in Werkverz.). – Simone de Angelis: Anthropologien. Zeiten des Interims. Zusammen mit Georg Genese u. Konfiguration einer ›Wiss. vom MenSabinus (u. anfänglich Simon Lemnius) bildet schen‹ in der Frühen Neuzeit. Bln./New York 2010, S. den Kern des sog. älteren Wittenberger S. 54–63. Reinhard Düchting / Wilhelm Kühlmann Dichterkreises. Joachim Camerarius d.Ä. ehrte S. nach dessen Tod mit einer großen, griechisch geschriebenen, die Konflikte der Zeit allegorisch verschlüsselnden Trauerek- Stiller, Klaus, * 15.4.1941 Augsburg. – loge (Abdruck mit Erläuterungen bei Mundt Erzähler, Übersetzer, Essayist. 2004, S. 118–131, 276–290). Der Sohn eines Arztes studierte Romanistik Ausgaben: Janus Gruter (Hg.): Delitiae poetau. Germanistik in München, Grenoble u. rum Germanorum. Bd. 6, Ffm. 1612, S. 318–574 Berlin. Seine ersten Texte wurden 1961 in (elektronisch lesbar in CAMENA). – Lat. Gedichte dt. Humanisten. Ausgew., übers. u. erl. v. Harry C. den »Akzenten« veröffentlicht. S. knüpfte Schnur. Stgt. 1967, S. 394–404. – HL (Ausw. mit Kontakte zu Walter Höllerer u. dem LiteraÜbers., Komm. u. Bio-Bibliogr.) S. 571–605, rischen Kolloquium in Berlin, zu Hans Wer1286–1310. – Melanchthons Briefw. Regesten ner Richter, Peter Rühmkorf, Günter Grass u. bearb. v. Heinz Scheible. Stgt.-Bad Cannstatt Peter Weiss. Seit 1966 freier Rundfunkmit1977 ff. – Bärbel Schäfer: Die Anfänge der Univer- arbeiter, wurde er 1981 Mitarbeiter der Litesität Jena. J. S.s Briefw. im ersten Jahrfünft der raturredaktion des RIAS (ab 1994 DeutschHohen Schule (12.3.1548 – 31.5.1553). Ed., Übers. landRadio), deren Leitung er 1994–1996 inu. Komm. Neuried 2002. nehatte. S. lebt in Berlin. Literatur: Karl Hartfelder: J. S. In: ADB. – S.s erste, als bibliophiler Druck erschienene Adalbert Schroeter: Beiträge zur Gesch. der nlat. Buchveröffentlichung Die Absperrung (Olten Poesie Dtschld.s u. Hollands. Bln. 1909, bes. 1966) versammelt drei gesellschafts- u. ideoS. 152–164. – Georg Ellinger: J. S. als Lyriker. In: logiekrit. Erzählungen. In H. Protokoll (Ffm. Neue Jbb. für das klass. Altertum 20 (1917), 1970) montierte er Zitate aus TischgespräS. 374–398. – Ellinger 2, bes. S. 75–94. – Georg Goetz: Gesch. der klass. Studien an der Univ. Jena chen, Reden u. Texten Hitlers zu einem fik[...]. In: Ztschr. des Vereins für thüring. Gesch. tiven Protokoll. Ebenfalls bibliophil legte N. F., Beiheft 12 (1928), S. 1 ff. – Hans Henning S. 1992 aus teils veröffentlichten, teils neuen Pflanz: J. S. als Theologe. Diss. Breslau 1936. Ohlau Gedichten den Band Ach, das ferne Land (Bln.) 1936 (mit Biogr., Werkverz. u. ungedr. Briefen). – vor. Heinz Scheible in: Bibliotheca Palatina. AusstelIn den beiden Romanen Weihnachten. Als wir lungskat. Textbd. Bearb. v. Elmar Mittler. Heidelb. Kinder den Krieg verloren (Mchn./Wien 1980) u. 1986, S. 177 f. – Luise u. Klaus Hallof: Ehrungen Das heilige Jahr. Wie die Westheimer den Winter der Univ. Jena für den ersten Rektor Professor J. S. vergaßen (ebd. 1986) erzählt S. seine Erlebnisse [...]. In: Univ. u. Wiss. Hg. Siegfried Schmidt. Jena zwischen 1945 u. 1949. Die naiven Berichte 1986, S. 390–354. – Stefan Rhein: J. S. (1515–1562). von den Nachkriegsjahren in einer schwäb. Dichtung im Umkreis Melanchthons. In: Melankath. Kleinstadt sollen ironisch die schnell chthon in seinen Schülern. Wiesb. 1997, S. 31- 48. – B. Schäfer: J. S.s antiröm. Epigramme. In: ebd., einsetzende Verdrängung der NS-Zeit durch S. 51–68. – Thomas K. Kuhn: J. S. In: Bautz. – die Erwachsenen zeigen. In Vom Volke der Barbara Bauer: Philipp Melanchthons Gedichte Deutschen. Eine heillose Legende (Zürich/Mchn. astronom. Inhalts im Kontext der natur- u. him- 2000) glossiert S. z.T. ironisch-satirisch das melskundl. Lehrbücher. In: Melanchthon u. die stereotyp dt. Selbstverständnis von der ›ger-

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manischen‹ Abstammung bis zur Herkunft gegenwärtiger Tischsitten. Weitere Werke: Tgb. eines Weihbischofs. Bln. 1972. – Die Faschisten. Ital. Novellen. Mchn./Wien 1976. – Traumberufe. Ebd. 1977. – Dem Dichter – Sein Vaterland. Zehn Erzählungen. Mchn./Zürich 1991. – Herausgabe: Ital. Erzählungen des 20. Jh. Ebd. 1982. Literatur: Thomas Reschke: K. S. In: KLG. – Stephan Reinhardt: K. S. In: LGL. André Fischer / André Kischel

Stilling, Heinrich, * 28.2.1883 Frankfurt/ M., † 5.10.1947 Lugano. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker. Ursprünglich Bankkaufmann, arbeitete S. 1904–1914 in Basel u. nach dem Ersten Weltkrieg in Frankfurt/M. in diesem Beruf, ehe er dort sowie in Trogen/Kt. Appenzell u. Lugano als freier Schriftsteller lebte. Seit 1922 mit der Pianistin Emmy Zähringer verheiratet, wurde er 1927 als Bürger von Basel schweizerischer Staatsbürger. Als Autor machte S. mit dem Drama Der Abgrund (Lahr 1919), einem Kriegsstück mit deutlich revanchistischer, deutschnationaler Tendenz, erstmals auf sich aufmerksam. Später arbeitete er v. a. für Zeitungen u. brachte einzig noch den Kurzgeschichtenband Buntes Allerlei (Zürich 1937) u. den histor. Roman Eine wahre englische Katze (ebd. 1942. Engl. London 1984) zum Druck: Texte, die ihn als einen Prosaisten von unverwechselbarer Eigenart u. bestechender stilistischer Brillanz auswiesen. 40 Jahre nach seinem Tod kam auf Anregung seiner Witwe u. d. T. Nachtgedanken (Luzern 1987) eine Auswahl von S.s künstlerisch eher problemat., biografisch jedoch aufschlussreicher Lyrik heraus. Charles Linsmayer

illustrierte er zahlreiche Werke (u. a. seines Freundes Fischart) mit Holzschnitten. Großen Erfolg hatten S.s Neue künstliche Figuren biblischer Historien (zus. mit Fischart. Basel 1576). Zum hervorragendsten Maler der dt. Spätrenaissance geworden, schuf S. 1576–1578 die Bildnisse u. Deckengemälde des Neuen Schlosses in Baden-Baden (1689 zerstört). Spätestens seit 1583 befand er sich wieder in Schaffhausen. Nur handschriftlich überliefert ist S.s Ehebruchkomödie Comedia. Ein nüw schimpff spil von zweien Jungen Eeleute wie sey sich in fürfallender reiß beiderseitz verhalten (902 Knittelverse; 1580). Sie fand seit der Wiederentdeckung durch Jakob Baechtold als Zwischenglied in der Entwicklung vom Fastnachtspiel zum neueren Lustspiel Beachtung. Eine eigentl. Quelle ist nicht bekannt; doch nahm S. die Motive des Ehemanns auf Reisen, der Frauen- u. Pfaffenschelte auf u. kannte Burkhard Waldis’ Verserzählung Vom goldschmidt und einem koler (in: Esopus, gantz new gemacht [...]). Wie in mehreren eidgenöss. Dramen des 16. Jh. wird der Bauer aufgewertet. Er verhindert den Ehebruch u. hält dem lüsternen Pfarrer die Sünden vor. Der Narr hingegen tritt kaum mehr als belehrende Figur hervor, sondern beschränkt sich im Wesentlichen auf Prolog u. Epilog.

Stimmer, Tobias, * 17.4.1539 Schaffhausen, † 14.1.1584 Schaffhausen. – Maler, Zeichner, Dramatiker.

Ausgaben: Novae Tobiae Stimmeri sacrorum bibliorum figurae: versibus latinis et germanicis exposita [...]. Straßb. [1589] 1590. Internet-Ed. in: VD 16. – Mathias Holtzwart: Emblematum Tyrocinia. Mit einem Vorw. [...] v. Johann Fischart u. 72 Holzschnitten v. T. S. Hg. Peter v. Düffel u. a. Stgt. 1968. 2006. – Comedia v. zwei jungen Eheleuten (1580). Aufgrund des Textes v. Jacob Oeri (1891) hg., erläutert u. komm. v. Martin Stern. In: Fünf Komödien des 16. Jh. Hg. ders. u. Walter Haas. Bern/Stgt. 1989. – Flugbl. Bd. 4, Nr. 66 u. 310; Bd. 7, Nr. 8, 56, 62, 66, 82, 83, 84, 98, 105. – Johann Fischart: Sämtl. Werke. Bd. 2: Eulenspiegel reimenweis. Illustriert v. T. S. Bearb. Ulrich Seelbach u. a. Stgt.-Bad Cannstatt 2002.

Der Sohn eines Schulmeisters schuf in Schaffhausen erste Tafelbilder u. Fassadenfresken. Später zog S. nach Straßburg, wo er 1571–1574 24 Tafeln für das Gehäuse der astronomischen Münsteruhr malte. Für die Drucker Bernhard Jobin u. Theodosius Rihel

Literatur: Bibliografien: Miriam Usher Chrisman: Bibliography of Strasbourg imprints, 1480–1599. New Haven/London 1982, Register. – VD 16. – Weitere Titel: Ernst Polaczek: T. S. In: ADB. – Spätrenaissance am Oberrhein. T. S. 1539–84. Basel 1984 (Ausstellungskat.). – Gisela Bucher: Weltliche Genüsse. Ikonologische Studien zu T. S.

Stimulus amoris (1539–1584). Bern 1992. – Liliane Châtelet-Lange: T. S. In: NDBA, Lfg. 36 (2000), S. 3767. – Hans Georg Majer: Giovio, Veronese u. die Osmanen. Zum Sultansbild der Renaissance. In: Europa u. die Türken [...]. Hg. Bodo Guthmüller u. Wilhelm Kühlmann. Tüb. 2000, S. 345–371. – Kristina Bake: Geschlechtsspezif. Altern in einem LebensalterZyklus v. T. S. u. Johann Fischart. In: Alter u. Geschlecht [...]. Hg. Heike Hartung. Bielef. 2005, S. 114–133. – Ariane Mensger: Leuchtende Beispiele. Zeichnungen für Glasgemälde aus Renaissance u. Manierismus. Hg. Staatl. Kunsthalle Karlsruhe. Tüb. u. a. 2009. Hellmut Thomke / Red.

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Ludolf von Sachsen, Heinrich von St. Gallen oder Johannes von Kastl, weiter. Ausgaben: S. a. Hg. Collegium S. Bonaventurae. Quaracchi 21949 (Stimulus minor). – Schr.en Johanns v. Neumarkt. Hg. Joseph Klapper. Tl. 3, Bln. 1939 (Stimulus maior I; Übers. B, 2 Kap. v. A). – Franziskan. Schrifttum im dt. MA. Hg. Kurt Ruh. Bd. 1, Mchn. 1965, S. 299–309 (6 Kap. v. E). Literatur: Kurt Ruh: Bonaventura deutsch. Bern 1956, S. 272–278. – Ders.: Gesch. der abendländ. Mystik. Bd. 2, Mchn. 1993, S. 442–445. – Falk Eisermann: S. a. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Ders.: Der S. a. als literar. Dokument der normativen Zentrierung. In: Frühmittelalterl. Studien 31 (1997), S. 214–232. – Ders.: S. a. Inhalt, lat. Überlieferung, dt. Übers.en, Rezeption. Tüb. 2001. Christian Kiening

Stimulus amoris (Stachel der Liebe). – In die meisten mitteleuropäischen Volkssprachen übersetzter mystischer Traktat des Franziskaners Jakobus von Mailand, Stinde, Julius (Ernst Wilhelm), auch: J. Ende des 13. Jh. Steinmann, Wilhelmine Buchholz u. andere, * 28.8.1841 Kirchnüchel/Holstein, Der lat. Text, seit Anfang des 14. Jh. mehrfach † 8.8.1905 Olsberg/Ruhr; Grabstätte: erweitert (Stimulus maior I, Ia, II), gehört zu Lensahn/Holstein, Friedhof. – Journalist, den populärsten des mittelalterl. erbaul. Lyriker, Erzähler, Dramatiker. Schrifttums: In mehr als 500 Handschriften überliefert, wurde er u. a. Bernhard von Clairvaux, Bonaventura u. Hugo von Balma zugeschrieben – ein Ausdruck seines nicht besonders stark durch Ordensspezifika geprägten Charakters. In lockerer Kapitelfolge beschreibt der Traktat – in der erweiterten, dreigeteilten Fassung ausgehend von der Passion Christi – Voraussetzungen u. Wege des Menschen zur Kontemplation u. Gottesliebe, Formen u. Mittel der Perfektionierung u. des geistl. Aufstiegs, die Dialektik von beständiger sehnsüchtiger Bewegung der Seele u. endl. Ruhe eines »anschauenden Lebens«. Im Mittelhoch- u. Mittelniederdeutschen ist der Text seit der zweiten Hälfte des 14. Jh. in fünf verschiedenen Übertragungen (jeweils des Stimulus maior) greifbar, die meist im Umkreis monastischer Reformbewegungen entstanden. Sie folgen der lat. Vorlage eng, versuchen aber in ausladenderen Satzgefügen, mehrgliedrigen Konstruktionen u. Neuprägungen die dt. Sprache adäquat zu formen; in der Johann von Neumarkt zugeschriebenen Version (B) geht dies bis hin zur Verselbstständigung des sprachl. Flusses. Besonders die Passionsbetrachtungen wirkten in dt. u. lat. Erbauungsschriften, etwa bei

S., Sohn eines Pfarrers, verbrachte seine Jugend in Lensahn u. studierte nach dem Abitur am Eutiner Gymnasium Chemie in Kiel, Gießen u. Jena. Nach der Promotion (1863) war er bis 1866 Werkführer einer chem. Fabrik in Hamburg. Seine schriftstellerische Tätigkeit begann er 1865 als freier Mitarbeiter der Zeitschrift »Reform«, für die er Gedichte, Humoresken, Erzählungen, Theaterkritiken u. populärwissenschaftl. Beiträge schrieb. Als hauptberufl. Journalist arbeitete er u. a. für die »Spenersche Zeitung«, die Wiener »Presse«, das »Hamburger Gewerbeblatt« u. die »Fliegenden Blätter«. Daneben schrieb er für das Karl-Schultze-Theater in Hamburg sehr erfolgreich aufgeführte Volksstücke (Hamburger Leiden. 1875. Tante Lotte. 1875. Die Nachtigall aus dem Bäckergang. 1876. Die Familie Carstens. 1877. Alle Altona) u. die »romantische Oper« Ännchen von Tharau (Lübeck 1875; vertont von Ernst Catenhusen). 1876 ließ sich S. als freier Schriftsteller in Berlin nieder. Er verkehrte im Freundeskreis des A. D. R. (Allgemeiner Deutscher Reimverein) um Johannes Trojan, zu dem auch Heinrich Seidel gehörte. Seit 1879 schrieb S. für das »Deutsche Monatsblatt« Artikel unter

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dem Pseud. Wilhelmine Buchholz, die den Ursprung der Buchholz-Serie mit ihren humorvoll-satir. Schilderungen aus dem bürgerl. Berliner Alltag bilden u. alle von Karl Freund in Berlin verlegt wurden (Buchholzens in Italien. 1883. Die Familie Buchholz. 3 Tle., 1884–86. Frau Buchholz im Orient. 1888. Wilhelmine Buchholz’ Memoiren. 1895). Mit den auflagenstarken Buchholz-Bänden hat S., wie Seidel mit Leberecht Hühnchen, das »Berliner Klein- und Mittelbürgertum entdeckt und literaturreif gemacht« (Heuss). Die aufkommenden Kolportageromane parodierte S. in Emma, das geheimnisvolle Hausmädchen oder der Sieg der Tugend über die Schönheit (Bln. 1904). Weitere Werke: Ausgabe: Die Buchholzens. 5 Bde., Bln. 1985–89. – Einzeltitel: Das männl. u. weibl. Geschlechtsleben. Hbg. 1871. – In eiserner Faust. Ein Polizeiroman. Altona 1871. – Alltagsmärchen. Ebd. 1873. – Meistersingermotive. Eine Studie über Richard Wagners ›Meistersinger‹. Hbg. 1873. – Naturwiss. Plaudereien. Ebd. 1873. – Humoresken. Bln. 1892. – Der Liedermacher. Ebd. 1893 (R.). Literatur: Bibliografien: Ulrich Goerdten: Bibliogr. J. S. Bielef. 2001. – Goedeke Forts. – Weitere Titel: Johannes Trojan: S. In: BJ 10 (1905), S. 137–139. – Theodor Heuss: Wilhelmine Buchholz. In: Ders.: Vor der Bücherwand. Tüb. 1961, S. 193–196. – U. Goerdten: J. S. Bln. 1979 (Ausstellungsführer der Universitätsbibl. der FU Berlin I). – J. S. 1841–1905. Jubiläumsschrift zum 150. Geburtstag. Autobiographisches, Nachrufe, Bibliographie. Zusammengestellt v. U. Goerdten. Lensahn in Holstein 1991. – Verena Paulus: Der abonnierte Orient – Exotismus im Kolportageroman bei J. S. In: Orient- u. Islambilder. Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus u. antimuslim. Rassismus. Hg. Iman Attia. Münster 2007, S. 211–226. Hans-Albrecht Koch

Stirner, Max, eigentl.: Johann Caspar Schmidt, * 25.10.1806 Bayreuth, † 25.6. 1856 Berlin; Grabstätte: ebd., Friedhof der Sophiengemeinde. – Philosoph. Der Sohn eines Flötenmachers studierte nach dem Besuch des Bayreuther Gymnasiums Philosophie, Theologie u. Klassische Philologie seit 1826 mit Unterbrechungen in Berlin (u. a. bei Hegel, Schleiermacher, Marheineke, Boeckh, Lachmann). Hier leistete er nach dem Examen (1834/35; bedingte Fakultas für das

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Gymnasium) seine Probezeit an der königlichen Realschule, erhielt aber erst 1839 eine Anstellung (bis 1844) an einer privaten Lehranstalt für höhere Töchter. S.s Frau Marie Dänhardt brachte 1843 ein gewisses Vermögen mit in die Ehe. 1845 versuchte S. vergebens, in Berlin einen Milchvertrieb zu organisieren; 1853/54 geriet er in Schuldhaft u. lebte seither als Kommissionär. S., der sich mit den Junghegelianern im Berliner Club »Die Freien« traf, war diesen in vielem denkverwandt, kehrte sich jedoch schließlich scharf ab u. suchte sie in seiner Kritik an jeglichem das freie Ich einschränkenden Denken zu übertreffen. S.s frühe Aufsätze ebenso wie seine Zeitungsartikel – seit 1842 war er Korrespondent der von Marx herausgegebenen »Rheinischen Zeitung« u. der »Leipziger Allgemeinen Zeitung«, 1848 des Triester »Journals des oesterreichischen Lloyd« – bezeugen eine allg. Opposition gegen die Autorität von Staat u. Kirche, gegen Pressezensur u. die Behinderung der freien Lehre. Bald steigerte sich S. zu einer Kritik an allen normsetzenden Instanzen, v. a. an der Religion, durch die der Mensch mit sich selbst entzweit werde, am Staat, in dem er sich einem fremden Willen unterwerfe, u. an der Moral, die ihn hindere, sein eigener Herr zu sein. Der Aufsatz Das unwahre Prinzip unserer Erziehung oder Humanismus und Realismus (in: Rheinische Zeitung, 1842) fordert anstelle einer Erziehung zum »Philistertum« die Ausbildung »selbstschöpferischer«, »freier Persönlichkeit«. S.s Hauptwerk, Der Einzige und sein Eigentum (Lpz. 1845, recte 1844. Neuausg. Stgt. 1972. Ausführlich kommentierte Studienausg. hg. v. Bernd Kast. Freib. i. Br./Mchn. 2009), geht noch einen Schritt weiter. In einer umfassenden Kritik an Hegel, aber mehr noch an den Junghegelianern (Feuerbach, Bruno u. Edgar Bauer), am Liberalismus u. am Sozialismus (Proudhon, Weitling, Marx) lehnt S. nun nicht nur alle Autoritäten u. Institutionen ab, sondern jede Idee von Mensch u. Menschenrecht, das Geistige u. die Vernunft, auch Freiheit u. Humanität, weil sie das Ich an externe Mächte binden u. es mit sich selbst entzweien. Sie sind für S. ein »Spuk«, »Sparren« oder eine »fixe Idee« u. nur die

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Fortsetzung der alten religiösen Inhalte in die Ursachen des Nationalreichthums. Ebd. 1846/ neuer Gestalt. Sie wollen, dass das Ich sich an 47. Literatur: John Henry Mackay: M. S. Sein Leetwas »Heiligem«, an Prinzipien, orientiere, 3 u. hindern ihn, »ein mit sich einiger Egoist« ben u. sein Werk. Bln. 1898. 1914. Neudr. Freib. i. zu sein u. sein »Eigentum« (in S.s Diktion Br. 1977. – Hermann Schultheiss: S. Grundlagen zum Verständnis des Werkes ›Der Einzige u. sein nicht primär Habe u. Besitz, sondern Leben, Eigentum‹. Lpz. 1922. – Karl Löwith: Von Hegel zu Gefühl u. Eigenschaften des Ich, d. h. alles, Nietzsche. Zürich/Stgt. 1950 u. ö. – Henri Arvon: was in seiner Gewalt ist) zu genießen. An die Aux sources de l’existentialisme: M. S. Paris 1954. – Stelle eines erst noch zu realisierenden Ideal- Hans G. Helms: Die Ideologie der anonymen GeIchs tritt das wirkl. Ich, der »Eigner« oder sellsch. Köln 1966 (mit ausführl. Bibliogr.). – R. W. »Einzige«; an die Stelle des Staates setzt S. K. Patterson: The Nihilistic Egoist M. S. London den freien u. jederzeit aufkündbaren »Verein 1971. – Werner Schneiders: Der Standpunkt des von Ichen«. Gedanken u. Wahrheiten werden Egozentrismus (Zur Philosophie des Ich v. M. S.). In: Studi internazionali di Filosofia 4 (1972), nur soweit anerkannt, als sie nicht etwas S. 121–144. – Bernd Kast: Die Thematik des ›EigHöheres »über Mir«, sondern »unter Mir« ners‹ in der Philosophie M. S.s. Bonn 1979. – sind. Da das Ich nicht mit Begriffen oder Wolfgang Eßbach: Gegenzüge. Der Materialismus Namen belegt werden kann, kehrt im Einzi- des Selbst. Eine Studie über die Kontroverse zwigen »der Eigner in sein schöpferisches Nichts schen M. S. u. Karl Marx. Ffm. 1982. – Bernd A. zurück, aus welchem er geboren wird«. S.s Laska: Ein heiml. Hit. Editionsgesch. des ›EinziWerk beginnt u. endet deshalb mit dem gen‹. Nürnb. 1994. – Ders.: Ein dauerhafter Dissident. Wirkungsgesch. des ›Einzigen‹. Ebd. 1996. – (Goethes Vanitas-Gedicht entlehnten) Diktum Klaus Wannemacher: M. S. In: Demokratische »Ich hab’ mein Sach’ auf Nichts gestellt«. – Wege. Dt. Lebensläufe aus fünf Jahrhunderten. Hg. S.s Geschichte der Reaction (Bln. 1852. Neudr. Manfred Asendorf u. Rolf v. Bockel. Stgt./Weimar Aalen 1967) äußert sich skeptisch zur Fran- 1997, S. 620 f. – Der Einzige. Vierteljahresschr. des zösischen Revolution u. kritisch zur dt. Re- M.-S.-Archivs Leipzig. Lpz. 1998 ff. Forts.: Der aktion nach 1848, ist aber eine Sammlung Einzige. Jb. der M.-S.-Gesellsch. Ebd. 2008 ff. – von konservativen Stimmen zur Revolution Alexander Stulpe: Gesichter des Einzigen. M. S. u. die Anatomie moderner Individualität. Bln. 2010. – (u. a. Comte u. Burke). Maurice Schuhmann: Radikale Individualität. Zur S.s Werk fand in seiner Zeit einige BeachAktualität der Konzepte v. Marquis de Sade, M. S. tung u. provozierte vielfachen Widerspruch; u. Friedrich Nietzsche. Bielef. 2011. – John F. so kritisierten es Marx u. Engels als Versuch Welsh: M. S.’s Dialectical Egoism. A New Interdes kleinbürgerl. Ideologen, die ihn beherr- pretation. Lanham, Md. 2011. Ulrich Dierse / Red. schenden Mächte dadurch zu zerstören, dass er sie sich einfach aus dem Kopf schlägt. Bald Stockfleth, Heinrich Arnold, * 16.4.1643 aber in Vergessenheit geraten, wurde S. erst Hannover, † 8.8.1708 Münchberg/Obervon den (Individual-)Anarchisten des späten franken (damals auch: Mönchberg). – 19. Jh. (Mackay) wiederentdeckt. Man hat ihn Lutherischer Theologe; Erbauungsaber auch als Vorläufer Nietzsches oder des schriftsteller, Liederdichter, Mitverfasser Existentialismus interpretiert. Aus der Sicht eines Romans. des Philosophiehistorikers kann er ebenso als »eine letzte Konsequenz aus Hegels weltge- S. stammt aus einer Juristenfamilie. Er wuchs schichtlicher Konstruktion« angesehen wer- in Alfeld/Leine auf (häufig fälschlich als Geden (Löwith), in der Absicht freilich, diese zu burtsort genannt), wo sein Vater Johann Caspar Stockfleth das Amt des Syndicus überwinden. Weitere Werke: Kleinere Schr.en [...]. Hg. John übernommen hatte, u. besuchte das GymnaHenry Mackay. Bln. 1898. 21914. – Parerga. Kriti- sium in Göttingen. Nach dem frühen Tod des ken. Repliken. Hg. Bernd A. Laska. Nürnb. 1986. – Vaters kam er mit seiner Mutter Katharina Übersetzungen: Jean Baptiste Say: Ausführl. Lehr- von Landsberg, die sich wieder verheiratete, buch der prakt. Polit. Oekonomie. Lpz. 1845/46. – nach Franken. Er setzte seine Ausbildung am Adam Smith: Untersuchungen über das Wesen u. Gymnasium in Ansbach fort, wirkte eine

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Zeitlang als Hauslehrer bei Daniel Wülfer in Nürnberg u. nahm 1664 das Studium der Theologie in Altdorf auf (Magister 1666). 1668, im selben Jahr wie seine spätere Frau Maria Katharina, wurde er als »Dorus« in den Pegnesischen Blumenorden aufgenommen u. erhielt er nach Examen u. Ordination in Bayreuth die Pfarrei Equarhofen, 1669 wurde er zum Pfarrer u. Superintendenten nach Baiersdorf berufen; am 13.1.1669 krönte ihn Sigmund von Birken zum Dichter, am 19.4. desselben Jahres heiratete er Maria Katharina Frisch, verwitwete Hedenus (eine zweite Ehe, nach Maria Katharinas Tod, schloss er 1695). Nachdem er 1678 in Tübingen zum Lizentiaten der Theologie promoviert worden war (De sacrificio Caini et Abelis. Präses: Johann Adam Osiander; Respondent: H. A. S. Tüb. 1678), wurde er 1679 zusätzlich mit dem größeren Dekanat Neustadt/Aisch betraut. Es gab offenbar »Mißhelligkeiten«, u. nach vier Jahren übernahm er die weniger bedeutende Superintendentur in Münchberg, ein Amt, das er auch dann noch behielt, als er nach einer längeren Schwedenreise (1695) 1696 zum brandenburgisch-bayreuthischen Generalsuperintendenten, also zum höchsten kirchl. Würdenträger im Fürstentum, u. zum Direktor des Bayreuther Gymnasiums aufstieg. Die meisten der Veröffentlichungen S.s reflektieren die prakt. Arbeit als Seelsorger u. Kirchenmann. Seine Predigten, die eine Vorliebe für allegor. Bildlichkeit kennzeichnet, verschafften ihm den etwas hochgegriffenen Beinamen eines zweiten Chrysostomos; mit seinen Erbauungs- u. Andachtsbüchern suchte er einer verinnerlichten Frömmigkeit zu dienen (Sonntägliche Andachts-Stunden betitult: Die Hütte-Gottes bey dem Menschen [...]. Sulzbach 1677. Tägliche Haußkirche Oder Morgen- und Abend-Opffer. Münchberg 1698); seine Ausgabe der Lutherbibel, die erste im Fürstentum Brandenburg-Bayreuth, wurde sampt einer christlichen Anleitung zur täglichen HausKirche (Nürnb. 1683) mehrfach aufgelegt. Reformabsichten verfolgte S. mit den von ihm veröffentlichten Gesangbüchern; es ging ihm v. a. darum, die alten Texte (»Gute Andacht / böse Reimen«) den formalen Anforderungen u. dem Bildgebrauch der barocken

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Kunstdichtung anzupassen (Neu-quellender Brunn Israëls, oder: Neu-verbessertes Gesang- und Gebeth-Buch [...]. Münchberg 1690. Neu-verbessertes Marggräflich-Brandenburgisches GesangBuch [...]. Kulmbach 1690). Wegen »des ohne Noth so offt veränderten Textes«, so wird berichtet, sei »in der Kirchen bey dem Singen viel Confusion verursachet« worden, so dass Neuauflagen verboten wurden. Überdies kam es über einen angefügten Traktat zu einer theolog. Kontroverse mit dem Bayreuther Generalsuperintendenten Johann Jacob Steinhofer (dessen Nachfolger S. später wurde), die schließlich vom Markgrafen unterdrückt wurde. Von S.s eigenen Liedern blieb »Wunder-Anfang! herrlichs Ende« am bekanntesten (heute im bayer. Anhang des EKG). Ergebnis der Zusammenarbeit S.s mit seiner ersten Frau ist der allegor. Schäferroman Die Kunst- und Tugend-gezierte Macarie (2 Tle., Nürnb. 1669–73). Weitere Werke: Exercitium academicum de campanarum usu. Altdorf 1665. – Collegii metaphysici tomi secundi disputatio XXVIII ex Aristotelis lib. E. cap. 1. disputatio I. Präses: Johann Paul Felwinger; Respondent: H. A. S. Altdorf 1666. – Seltene Seltenheiten mit der reisenden Zeit zeitgewöhnlichen Reise-Geschencken [...]. Münberg 1686. – Briefe u. a. handschriftl. Material (u. a. ein eigenhändiger Lebenslauf S.s) im Archiv des Pegnes. Blumenordens, German. Nationalmuseum, Nürnberg. Ausgaben: Fischer/Tümpel 5, S. 139–144. – Die Kunst- u. Tugend-gezierte Macarie. 2 Tle., Nürnb. 1669–73. Nachdr. hg. u. eingel. v. Volker Meid. Bern 1978 (Werkverz. Bd. 1, S. 23*-37*). Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Johann Caspar Wetzel: Histor. Lebens-Beschreibung der berühmtesten Lieder-Dichter. Tl. 3, Herrnstadt 1724, S. 263 f. – Johann Herdegen: Histor. Nachricht v. deß [...] Hirten- u. BlumenOrdens [...] Anfang u. Fortgang [...]. Nürnb. 1744, S. 340–342. – Koch 3, S. 494 ff. – Albert Fischer: Zwei Kirchenlieder-Verbesserer gegen Ende des 17. Jh.: Christian v. Stöcken u. H. A. S. In: Bl. für Hymnologie 1885, S. 66–72. – Max v. Waldberg: H. A. S. In: ADB. – Volker Meid: Ungleichheit gleich Ordnung. Zur ›Macarie‹ (1669–1673) v. H. A. u. M. K. S. In: Schäferdichtung [...]. Hg. Wilhelm Voßkamp. Hbg. 1977, S. 59–66. – Hans Kreßel: H. A. S. (1643–1708). In: Erlanger Bausteine zur fränk. Heimatforsch. 26 (1979), S. 9–17. – Renate Jürgensen: Utile cum dulci. Mit Nutzen erfreulich. Die

Stockfleth Blütezeit des Pegnes. Blumenordens in Nürnberg 1644 bis 1744. Wiesb. 1994, Register. – Johannes Beer: H. A. S. In: Bautz. – Horst Weigelt: Gesch. des Pietismus in Bayern [...]. Gött. 2001, Register. – Jürgensen, S. 287–299 u. Register. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2011–2014. – Sigmund v. Birken: Werke u. Korrespondenz. Bd. 1 ff. Hg. Klaus Garber u. a. Tüb. 1988 ff., Bd. 1/I-II (2009), Register. Volker Meid / Red.

Stockfleth, Maria Katharina, geb. Frisch, verwitwete Hedenus, getauft 23.12.1634, † 19.8.1692 Münchberg/Oberfranken (damals auch: Mönchberg). – Romanschriftstellerin. Die Tochter des Nürnberger Geistlichen Johann Leonhard Frisch (1632 Diakon am Hl.Geist-Spital, seit 1649 Prediger an St. Egidien) u. der Kaufmannstochter Katharina Lang heiratete am 5.12.1653 Johann Konrad Hedenus (1619–1665; 1653 Hofprediger in Hilpoltstein, 1654 Diakon u. dann Professor in Altdorf, 1657 Pfarrer in Lauf bei Nürnberg). Aus dieser Ehe sind fünf Kinder hervorgegangen. 1668 wurde S. in den Pegnesischen Blumenorden aufgenommen (»Dorilis«); am 19.4.1669 heiratete die gekrönte Poetin Heinrich Arnold Stockfleth, »Dorus« im Blumenorden. Wie Glückwunsch- u. Widmungsgedichte bezeugen, beteiligten sich Dorus u. Dorilis am gesellschaftlichliterar. Treiben der Dichtervereinigung, u. mit ihrem Roman Die Kunst- und Tugendgezierte Macarie (2 Bde., Nürnb. 1669 u. 1673. Faks. hg. u. eingel. von Volker Meid. Bern/ Ffm./Las Vegas 1978) schließen sie sich an die hier geübte Form der moralisch-allegor. Schäferdichtung an. Der erste Band des Werks (Der verkehrte Schäfer) wird auf dem Titelblatt Dorus zugeschrieben, der zweite (Der Bekehrte Schäfer) Dorilis. Aber schon Herdegen bemerkt, dass »sie das meiste« an der Macarie gearbeitet habe. Dass dies auch schon für den ersten Teil gilt, bestätigen Birkens Tagebücher u. Briefe im Archiv des Pegnesischen Blumenordens. Der Roman schildert den Lebensweg des Schäfers Polyphilus, der seinen »Schäferstock« aus der Hand gelegt hat, um die Welt kennen zu lernen u. darin Kunst u. Tugend

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zu erwerben. In Thessalien findet er Macarie, die vollkommenste der Frauen, u. in einem versunkenen Schloss, das auf Erlösung wartet, die Königin Atychintida. Zwischen ihr u. Macarie bewegt sich nun sein Leben, bis es ihm nach mancherlei Rückfällen gelingt, sich vom Hof, dem Ort der Intrige u. des Lasters, u. von Atychintida loszureißen. Mit Macarie zieht er sich in ein geselliges Schäferleben zurück. Aus dem verkehrten Schäfer des Anfangs, der Glück u. Ansehen in der Welt suchte, ist ein der Tugend geweihter, bekehrter Schäfer geworden. Kritik an Hof- u. Adelsgesellschaft auf der einen, die Vorstellung einer auf Tugend u. Bildung gegründeten Lebensform auf der anderen Seite charakterisieren den Roman, der damit die der Schäferdichtung innewohnende Spannung zwischen geschichtlich-polit. Wirklichkeit u. dem Gegenbild eines idealen Arkadien aktualisiert u. – nicht zuletzt in Hinblick auf die bürgerl. Gelehrtenschicht – auf die spezif. Situation im barocken Fürstenstaat anwendet. Weitere Werke: s. Werkverz. in: Die Kunst- u. Tugendgezierte Macarie. Faks. a. a. O. – Briefe im Archiv des Pegnes. Blumenordens. German. Nationalmuseum, Nürnberg. Literatur: Georg Samuel Martius: Die Irdischu. himmlisch-gecrönte Dorilis (Leichenpredigt 1692). In: Ders.: Mit u. in der Zeit gebrochene / nun Vermehrte Trauer-Blumen / Oder Denck- u. DanckReden [...]. Jena 1708, S. 222–253. – Johann Herdegen: Histor. Nachricht v. deß [...] Hirten- u. Blumen-Ordens [...] Anfang u. Fortgang [...]. Nürnb. 1744, S. 337–340. – Arnold Hirsch: Bürgertum u. Barock im dt. Roman. Ffm. 1934. 2. Aufl. hg. v. Herbert Singer. Köln/Graz 1957, S. 107–117. – Volker Meid: Ungleichheit gleich Ordnung. Zur ›Macarie‹ (1669–73) v. Heinrich Arnold u. M. K. S. In: Schäferdichtung. Hg. Wilhelm Voßkamp. Hbg. 1977, S. 59–66. – Klaus Garber: Arkadien u. Gesellsch. In: Utopieforsch. Hg. W. Voßkamp. Bd. 2, Stgt. 1982, S. 60–62. – Jean M. Woods u. Maria Fürstenwald: Schriftstellerinnen, Künstlerinnen u. gelehrte Frauen des dt. Barock. Stgt. 1984, S. 122 f. – Dt. Lit. v. Frauen. Hg. Gisela Brinker-Gabler. 2 Bde., Mchn. 1988, Bd. 1, S. 222–247. – Renate Jürgensen: Utile cum dulci. Mit Nutzen erfreulich. Die Blütezeit des Pegnes. Blumenordens in Nürnberg 1644 bis 1744. Wiesb. 1994, Register. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2014–2016. – Jürgensen. – Weitere Lit. s. Artikel ›Heinrich Arnold Stockfleth‹.

281 – Isabelle Stauffer: Querelle im galanten Gewand. M. K. S.s ›Die kunst- u. tugendgezierte Macarie‹. In: Feministische Studien 25 (2007), S. 25–40. – Sigmund v. Birken: Werke u. Korrespondenz. Bd. 1 ff. Hg. Klaus Garber u. a. Tüb. 1988 ff., Bd. 1/ I-II (2009), Register. Volker Meid / Red.

Stockmann Literatur: Georg Friedrich Götz: Leben Herrn J. C. S.s. Hanau 1784. – Jörg Meidenbauer: Aufklärung u. Öffentlichkeit. Studien zu den Anfängen v. Vereins- u. Meinungsbildung in Hessen-Kassel 1770–1806. Darmst./Marburg 1991. Jörg Meidenbauer

Stockhausen, Johann Christian (bzw. Stockhausen, Juliane von, eigentl.: J. Christoph), * 20.10.1725 Gladenbach/ Gräfin von Gatterburg, * 21.12.1899 Lahr/ Oberhessen, † 4.9.1784 Hanau. – Zeit- Baden, † 28.4.1998 Ingelheim am Rhein. schriftenherausgeber u. Publizist; Verfas- – Romanautorin, Erzählerin. ser von (volks-)aufklärerischen Predigten.

Die Tochter eines Oberstleutnants besuchte die Einem Pfarrhaus entstammend, studierte höhere Mädchenschule u. heiratete 1924 FerS. 1741–1745 in Gießen u. Jena Theologie u. dinand Graf von Gatterburg. Seit 1932 lebte S. Philosophie, bevor er als Lehrer an den Uni- viele Jahre auf Schloss Eberstedt/Odenwald, versitäten Marburg u. Helmstedt wirkte. Seit später in Ingelheim. In ihren zahlreichen 1752 am Lüneburger Johanneum tätig, ging (kultur-)histor. u. biogr. Romanen schilderte er 1767 als Rektor ans Darmstädter Gymna- sie das Leben des Adels in der »guten alten sium u. war von 1769 bis zu seinem Tod Zeit«, etwa Maria Theresias in Die Soldaten der evang.-luth. Superintendent in Hanau. Kaiserin (Mchn. 1924). Zwei Romane widmete Wie viele Aufklärer in der Provinz suchte S. sie dem Leben des Arztes Philipp Franz von seine prakt. Tätigkeit in Lehr- u. Kirchenamt Siebold, der aus dem im frühen 19. Jh. noch durch Schriften zu Religion, Philosophie u. hermetisch abgeschlossenen Japan berichtete Moral, Naturkunde, Gewerbe u. Erziehungs- (Der Mann in der Mondsichel. Stgt. 1970. Die wesen zu ergänzen. Zugleich bemühte er abenteuerlichen Reisen des Philipp Franz von Siebold. sich, mit (gedruckten) Predigten u. Journalen Ebd. 1975). Der kath. Glaube bildet stets die neue Leserschichten zu erreichen. S. pflegte Grundlage ihrer Bewertung der Geschichte. S.s auch überregionale Kontakte, war Mitgl. Lebenserinnerungen erschienen u. d. T. Auf zahlreicher gelehrter Gesellschaften u. Mit- Immerwiedersehen. Begegnungen mit dem beginnenarbeiter u. a. des »Hannoverischen Maga- den Jahrhundert (Stgt. 1977). zins«, des »Neuen Hamburgischen MagaWeitere Werke: Das große Leuchten. Kempten zins« u. des »Wochenblatts der Theologie«. 1919. – Greif, Gesch. eines Geschlechts. 2 Bde., Bedeutung erlangte er als Mittelpunkt des Mchn. 1927/28. – Die güldene Kette. Ebd. 1938. – geistig-literar. Lebens in Hanau, einem Im Schatten der Hofburg. Heidelb. 1952. Georg Patzer / Red. Hauptort der Aufklärung in der Landgrafschaft Hessen-Kassel. Mit dem »Hanauischen Magazin« (7 Bde., Hanau 1778–84), das in Stockmann, Ernst, * 18.4.1634 (a. St.) typisch aufklärerischer Manier »Litteratur Lützen, † 28.4.1712 Allstedt. – Evangeli[...] gemeinnütziger« machen wollte, be- scher Prediger u. Dichter. gründete S. unter Mithilfe etlicher hess. Beamter das langlebigste u. bekannteste hess. S. ist heute hauptsächlich für seinen Beitrag Journal seiner Zeit. Mit Artikeln aus allen zur Entwicklung des Madrigals bekannt. Sein Lebensbereichen besaß das Blatt auch über- Vater, Paul Stockmann, Schiffs- u. Feldpreregional einen ausgezeichneten Ruf (vgl. z. B. diger Gustav Adolfs u. selbst geistl. Liederdichter, starb, ebenso wie die Mutter, 1636 an »Teutscher Merkur« 4, 1779, S. 278). der Pest. S. besuchte – gefördert von FreunWeitere Werke: Herausgeber: Bibl. der ausländ. den des Vaters, darunter Schütz – die Thoneuesten Lit. in Auszügen aus den besten Wochenu. Monatsschr.en für das Jahr 1770 [u. 1771]. 2 masschule in Leipzig, wo er 1654 auch sein Bde., Hanau 1772. – Ueber das alte u. das neue Studium begann, das er 1658 in Jena mit dem Christenthum. Ein Sonntagsblatt. 2 Tle., ebd. 1781 Magistertitel abschloss (vgl. dazu Applausus u. 1783. votivus, de summo in philosophia gradu, quem [...]

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est consecutus [...] E. S. Jena 1658). Danach In: ADB. – Karl Voßler: Das dt. Madrigal. Weimar wirkte er fast ein Vierteljahrhundert als 1898, S. 62–66. – Leif Ludwig Albertsen: Das Pfarrer in Beyernaumburg bei Sangerhausen, Lehrgedicht [...]. Aarhus 1967, Register. – Heiduk/ bis er 1682 als Superintendent nach Allstedt Neumeister, S. 105–107, 247–249, 477, 549. – ›Ihr sollet Schatz und nicht mehr Schütze heissen‹. berufen wurde. 1709 stieg er zum weimariGereimtes u. Ungereimtes über Heinrich Schütz. schen Oberkonsistorial- u. Kirchenrat auf. Eine Quellensammlung 1613–1834. Hg. Eberhard Noch in Beyernaumburg hatte S. ein in Möller. Altenburg 2003. – Elisabeth Rothmund: Alexandrinern verfasstes Lob des Landlebens Heinrich Schütz (1585–1672). Kulturpatriotismus (Jena 1681) herausgegeben, dem ein Lob des u. dt. weltl. Vokalmusik [...]. Bern 2004, Stadtlebens (Jena 1682) folgte. Bedeutender ist S. 183–192 u. Register. – Flood, Poets Laureate, jedoch seine Liedersammlung Poetische Schrift- Bd. 4, S. 2018–2021. Helmut K. Krausse / Red. Lust: Oder hundert geistliche Madrigalen (Lpz. 1660; erw., in 2 Tln. 1668–1701). Den Anstoß Stöber, August (Daniel Ehrenfried), * 9.7. dafür lieferte Caspar Ziegler, der mit seiner 1808 Straßburg, † 19.3.1884 Mülhausen; Schrift Von den Madrigalen (1653) das Madrigal Grabstätte: ebd., Cimetière Central. – Elbes. für die Komposition empfohlen hatte. sässischer Lyriker, Volkskundler, HerausVon S. wurden weitere Madrigalsammlungen geber. angeregt, darunter die Madrigalische SeelenLust (1697) des am Weimarer Hof wirkenden Als die »Brüder Grimm des Elsass« werden Salomon Franck, aus dessen späteren Dich- S., der älteste Sohn von Daniel Ehrenfried tungen Bach die Texte für einige seiner Stöber, u. sein Bruder Adolf (* 7.7.1811, schönsten Kantaten genommen hat. Eines der † 8.11.1892) gern bezeichnet. Während ihres Lieder S.s, »Gott, der wirds wohl machen«, Straßburger Theologiestudiums bildete sich fand schon früh den Weg in die evang. Ge- um die Brüder der Freundeskreis »Eugenia« (Mitgl. auch Georg Büchner). S. lebte danach sangbücher. S. hat das Madrigal in der geistl. Dichtung 1833–1838 als Privatlehrer u. Vikar bei der eingebürgert u. damit einen wichtigen Mutter in Oberbronn u. fing an, Sagen zu Schritt hin auf die von Neumeister propa- sammeln. Unter dem Einfluss der Schwäbigierte neue Kantatenform unternommen. schen Schule u. bes. des befreundeten Uhland Dieser hat S. in De poëtis germanicis (1695) ge- veröffentlichte er mit Adolf Alsa-Bilder. Vaterlobt, u. S. hat Neumeister in der Vorrede zur ländische Sagen und Geschichten (Straßb. 1836) – dritten Auflage seiner Madrigalischen Schrifft- mit kontroverser Resonanz: Während Menzel Lust (1704) als »meisterlichen« Kantaten- den »echten deutschen Geist« der Balladen rühmte, rechnete Büchner seine Freunde jedichter gerühmt. Weitere Werke: Hodegeticum pestilentiale ner Partei zu, »die immer rückwärts ins sacrum [...] autore M. Ernesto Stockmanno, P. L. C. Mittelalter greift, weil sie in der Gegenwart [...]. Lpz. 1667. Zeitz/Jena 21681. – Nucleus logicus keinen Platz ausfüllen kann«. ex optimis fere autoribus aristotelicis enucleatus 1839 hatte sich Adolf, der dem Pfarrberuf [...]. Lpz. 1677. – Lob des Landlebens, in alexan- treu blieb – auch der Dichtkunst (Gedichte. drinischen Versen entworffen. Jena 1681. – Al- Hann. 1845) –, in Mülhausen niedergelassen. städtische kleine Chronica, in alexandrinischen Freudig nahm S., seit 1838 Lehrer in Buchsreinen Versen [...]. Stolberg 1712. weiler, 1841 einen Ruf ans Collegium MülAusgaben: Liederausw. in: Fischer/Tümpel 4, hausen an (Pensionierung 1871); unverheiS. 394–398. – Ausw. in: Gedichte des Barock. Hg. ratet lebte er in der Familie seines Bruders. Ulrich Maché u. Volker Meid. Stgt. 2005, S. 244. Mit Abschluss der Balladensammlung ElsäsLiteratur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: sisches Sagenbuch (Straßb. 1842) vollzog sich Wohlverdiente [...] Denck- u. Ehren-Mahle, welche bei S. ein Wandel von der dichterischen Er[...] Ernesto Stockmann [...] auffgerichtet worden [...]. Stolberg o. J. (1712). Internet-Ed. in: HAAB höhung der Sagenstoffe hin zur getreul. Weimar. – Christoph August Heumann: Vita Er- Volksüberlieferung. Sein als Supplement genesti Stockmanni. Eisenach 1712. – Zedler, Bd. 40, dachtes Elsässisches Volksbüchlein (ebd. 1842) Sp. 256–259. – Koch 3 (31868), S. 409 ff. – l. u.: E. S. zeugt mit seinen Kinder- u. Volksliedchen,

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Spielreimen, Sprüchen u. Märchen – v. a. in Stöber, Daniel Ehrenfried, auch: Vetter der zweiten Auflage (Mülhausen 1859), die Daniel, * 9.3.1779 Straßburg, † 28.12. alle Mundarten des Elsass einschließlich der 1835 Straßburg. – Dichter, Übersetzer, frz. Patois enthält – von S.s veränderter Auf- Literaturhistoriker, politischer Publizist, fassung. Ausschlaggebend dafür war auch die Redakteur u. Herausgeber. persönl. Begegnung mit Jacob Grimm auf dem Frankfurter Germanistentag 1846. S. S. stammte aus literarisch gebildetem Elwidmete Grimm die Sagen des Elsasses (St. ternhaus u. trat, ermuntert durch Eulogius Gallen 1852. 21858. Neudr. Kierdorf 1979). Schneider, schon als Gymnasiast mit lyr. u. Bedeutend sind ferner S.s umfangreiche lite- dramat. Versuchen hervor, wirkte auch aktiv raturgeschichtl. Beiträge: Der Dichter Lenz und mit in einer »Literarischen Gesellschaft alsaFriederike von Sesenheim (Basel 1842) u. Der tischer Freunde«. Nach dem Jurastudium in Aktuar Salzmann, Goethes Freund und Tischge- Straßburg, Erlangen (1801/02) u. Paris arbeitete er 1806–1821 als Notar, dann als Adnosse in Strassburg (Mülhausen 1855). Als Dichter weithin vergessen, hat S. den vokat in Straßburg. Der Ertrag aus rund 30 Jahren schriftstelGrundstein zur elsäss. Volkskunde gelegt. Trotz seiner Liebe zur dt. Sprache, die ihn lerischer Produktion liegt bei etwa 75 selbstzuweilen auch nationale Töne wählen ließ, ständigen Veröffentlichungen, einem halben bezeugte er keine national verengte Einstel- Dutzend Übersetzungen (darunter F. J. Raylung zu Frankreich, als dessen Staatsbürger er nouard u. F. R. Chateaubriand) u. zahlreichen sich nie verleugnet hat. Beiträgen in Anthologien u. Zeitschriften. S.s Weitere Werke: Kurze Gesch. der neuesten frz. literar. Vorbilder waren Hölty u. Claudius; Revolution im Juli u. Aug. 1830. Straßb. 1830. – mit Hebel u. Pfeffel (Pate von S.s Sohn AuGesch. der schönen Lit. der Deutschen. Ebd. 1843. – gust) war er eng befreundet, mit Matthisson, Gedichte. Ebd. 1843. Mülhausen 21867. – FrankSeume u. Johann Georg Jacobi bekannt; reichs glorreiche Februarrevolution 1848. Ebd. Tieck, Voß u. Jacob Grimm verkehrten in 1848. – Zur Gesch. des Volksaberglaubens im Anfange des 16. Jh. Basel 1856. – E Fîrobe im é seinem Haus, das nach 1830 auch dt. polit. Sundgauer Wirtshüs. Mülhausen 1865 (D.). – Er- Flüchtlingen wie Harro Harring offenstand. zählungen, Märchen. Humoresken. Phantasiebil- S.s liberal-demokratisches Engagement für der u. kleinere Volksgesch.n. Ebd. 1873. – Die eine konstitutionelle Monarchie mit republiBrüder S. u. Gustav Schwab. Briefe [...]. Hg. Karl kan. Grundsätzen (»Volkssouveränität«) maWalter. Ffm. 1930. – Gedichte [kleine Ausw.]. nifestiert sich in polit. Gelegenheitsschriften Straßb. 2003. – Herausgeber: Erwinia. Straßb. 1838/ u. in seiner Übersetzung der Paroles d’un 39. – A. S. u. Friedrich Otte: Elsäss. Neujahrsbl. Ebd. 1843. Basel 1844–48. – Alsatia. Jb. für elsäss. croyant des Abbé Lamennais (1834). Die Bewahrung dt. Sprache u. Dichtung im Elsass Gesch. Mülhausen, Colmar 1850–74. Literatur: Ernst Martin: A. S. In: Jb. des Vo- (u. a. auch in seinen Dialektgedichten, dargesen-Clubs. Straßb. 1885. – Henri Ehrismann: A. unter ein »Lob Straßburgs«) u. der Kampf S. In: Bulletin du Musée historique de Mulhouse gegen die polit. Restauration waren S.s Le(1887). – Ernst Meininger: A la mémoire d’A. S. In: benswerk. ebd. (1908). – Karl Walter: Die Brüder S. Colmar Mit zahlreichen, fast durchweg deutsch1943. – Raymond Matzen: A. S. In: Encyclopédie de sprachigen Publikationen (darunter Denkl’Alsace. Straßb. 1985. – Ariane Martin: Eine unschriften, Predigten, Gedichte u. Reisebilder) bekannte Teilabschrift v. Oberlins Bericht ›Herr L......‹ durch A. S. In: Georg Büchner Jb. 9 trat S.s Sohn, der Theologe Adolf Ludwig (1995–99), S. 612–616. – Raymond Oberlé: A. S. In: Stöber (1810–1892), in mancher Hinsicht die NDBA. – Goedeke Forts. Peter Kallenberger / Red. Nachfolge seines Vaters an. Zu ihm s. Angelika Fox in: Bautz, Bd. 10, Sp. 1503–1507; eine Auswahl seiner Gedichte, darunter »Für Deutschland. Von einem Elsässer« mit einem Preis der deutschen »Muttersprache« (zuerst 1847), erschien 2003 in Straßburg.

Stöckel Weitere Werke: (Hg.): Alsat. Tb. Ebd. 1806–09. – Blätter dem Andenken Pfeffels gewidmet. Straßb. 1809. – Lyr. Gedichte. Straßb. 1811. – Kurze Gesch. u. Charakteristik der schönen Litteratur der Deutschen. Paris/Straßb. 1826. – Gradaus! Eine Volksschr. in Gesprächen. Straßb. 1830. – Vie de J. F. Oberlin, Pasteur à Waldbach au ban de la Roche. Paris u. a. 1831. – Sämmtl. Gedichte u. kleine prosaische Schr.en. 3 Bde., Straßb. 1835/36. – Gedichte [kleine Ausw. vornehmlich der Dialektgedichte]. Straßb. 2001. Literatur: Goedeke. – Jean-Luc Schweyer: D. E. S. (1779–1835). Témoin de son temps. Diss. Paris 1974. – August Wackenheim. La littérature dialectale alsacienne. Bd. 1, Paris 1993, S. 85–117. – Gérard Leser: D. E. S. In: NDBA. Jan-Christoph Hauschild / Wilhelm Kühlmann

Stöckel, Leonhard, * 1510 Bartfeld/Ungarn (heute Bardejov/Slowakei), † 7.6. 1560 Bartfeld. – Protestantischer Theologe, Dramatiker u. Schulmann. Aus einer Barfelder Bürgerfamilie stammend, nahm S., nach Schulunterricht in Bartfeld, Kaschau/Kosˇice (1522–26) u. am Elisabethgymnasium in Breslau, im Wintersemester 1530/31 in Wittenberg das Studium auf (enge Beziehungen zu Luther, v. a. aber zu Melanchthon), das er von 1534 bis 1536 für eine durch Melanchthon vermittelte Unterrichtstätigkeit in Eisleben unterbrach (dort Konflikt mit Agricola); ab Herbst 1539 leitete er (mit kurzer Unterbrechung von Herbst 1555 bis Jan. 1556) bis zu seinem Tod die Stadtschule seiner Geburtsstadt, in der er als führender Schul- u. Kirchenorganisator im Sinne der Wittenberger Reformation wirkte – Tätigkeiten, für die ihm der Ehrenname ›Praeceptor Hungariae‹ verliehen wurde. S. verfasste eine neue, an Melanchthons Unterricht der Visitatoren (1527) orientierte Schulordnung (die Leges scholae Bartfensis, Ms. 1540, Autograf einst im Besitz v. Klein, vgl. ders., 1789, S. 190; Ed. S. 332–341), arbeitete 1549 die sog. ›Confessio Pentapolitana‹ aus (Quinque civitatum [...] nomine elaborata confessio christianae doctrinae. Bartfeld 1560), die älteste luth. Bekenntnisschrift in Ungarn, die von den fünf kgl. Freistädten Nordost-Ungarns angenommen wurde, u. führte das protestantische Schuldrama ein (dazu Pukánszky).

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Am Anfang seiner schuldramat. Bemühungen stand wohl die Aufführung des Terenzischen Eunuchus in lat. Sprache 1553 sowie ein dt. Spiel von Kain und Abel, für das Heinrich Knausts Tragedia von verordnung der Stende oder Regiment, und wie Cain Abel seinen Bruder, göttlicher Ordnung halben, erschlagen [...] hat (Wittenb. 1539) die Vorlage gewesen könnte. Für 1554 ist in den Bartfelder Stadtrechnungen eine Comedia incontinentis et per legem Mosis damnati filii bezeugt, hinter der sich Leonhard Culmanns Drama Ein christenlich teütsch Spil, wie ein Sünder zu8 r Bu8 ß bekärt wirdt, Von der sünd Gsetz und Evangelion (Nürnb. 1539) verbergen dürfte, außerdem für 1555 u. 1558 ein Josephsdrama, für 1556 eine germanica comoedia vidue (vielleicht nach Joachim Greffs Die Tragoedia des Buchs Judith [...]. Wittenb. 1536) u. eine nach dem lat. Stück Sixt Bircks (Augsb. 1537) verfasste Susanna in dt. Sprache (gedr. u. d. T.: Historia von Susanna in Tragedien weise gestellet [...]. Wittenb. 1559), allerdings ohne Chorpartien. Durch ein beigefügtes Epigramm wird Susanna als von Papst u. Türken bedrohte Kirche gedeutet. Das Drama erhielt sich in einer Prosaversion als »Volksschauspiel« bis ins 19. Jh. S. ist darüber hinaus auch als Verfasser von Schulbüchern, etwa einer umfangreichen Exempelsammlung, und (z.T. erst postum erschienenen) theolog. Schriften hervorgetreten, darunter eine Predigtanleitung, v. a. aber die um 1552 entstandenen ›Annotationen‹ zu Melanchthons Loci communes, mit deren letzter Fassung sie 1561 in einem Band ediert wurden. Etliche andere Werke gelten als verschollen. Weitere Werke: Catechesis [...] pro iuventute Barthphensis composita. Bartfeld um 1556. – Apologia ecclesiae Bartphensis. Ebd. 1558. – Annotationes locorum communium doctrinae christianae Philippi Melanchthonis [...]. Basel 1561. – Apophthegmata illustrium virorum expositione latina et rythmis germanicis illustrata. Hg. Thomas Fábry. Bartfeld 1570. – Postilla seu enarrationes erotematicae Epistolarum et Evangeliorum anniversariorum [...]. Hg. Johannes Stöckel. Bartfeld 1596. Ausgaben: Formulae tractandarum sacrarum concionum, per Evangelia communium feriarum totius anni [...]. Bartfeld 1578. Internet-Ed. in: BSB

285 München. – Confessio christianae doctrinae quinque regiarum liberarumque civitatum in Hungaria superiore, Cassoviae, Leutschoviae, Bartphae, Epperiessini ac Cibinij. Kaschau 1613. – Zsuzsannadrámája és a bártfai német iskolai szinjáték a XVI. században [Susanna-Drama u. die Bartfelder dt. Schulbühne im 16. Jh.]. Einl. v. Klára Szilasi. Budapest 1918. – ›Confessio Pentapolitana‹. In: Gedenkbuch anlässlich der 400-jährigen Jahreswende der Confessio Augustana. Vorw. v. Viktor Bruckner. Lpz. 1930, S. 31–47. – Briefe: Eugen Abel: Unedierte Briefe v. Luther, Melanchthon u. L. S. In: Ungarische Revue 7 (1887), S. 705–724. – Epistulae Leonardi Stöckel. Hg. Daniel Sˇkoviera. In: Zborník Filozofickej Fakulty Univerzity Komenského, Gaecolatina et Orientalia 7–8 (1975–76, Bratislava 1978), S. 265–359. – D. Sˇkoviera: Epistularum Leonardi Stöckel supplementum duplex. In: Humanistica Lovaniensia 43 (1994), S. 295–303. Literatur: Bibliografien: Klein 1789, S. 190 f. – L. S. (1510–1560), pedagóg, ucˇitelˇ, humanista, reformacˇny´ spisovatelˇ. Personálna bibliografia. Bardejov 1991. – Kosch, Bd. 20, S. 262 f. – Weitere Titel: Christian Schesaeus: Oratio describens historiam vitae praecipuam clarissimi viri Leonharti Stöckelii [...]. Wittenb. 1563. – Johann Samuel Klein: Leonhardus Stoeckelius communis Ungariae praeceptor. Rinteln 1770. – Ders.: Nachrichten von den Lebensumständen u. Schr.en evang. Prediger in allen Gemeinen des Königreichs Ungarn [...]. Lpz./Ofen 1789, bes. S. 186–191. – Robert Pilger: Die Dramatisierungen der Susanna im 16. Jh. [...]. In: ZfdPh 11 (1880), S. 129–217, bes. 175 f. – Johannes Bolte: L. S. In: ADB. – Béla v. Pukánszky: Gesch. des dt. Schrifttums in Ungarn. Bd. 1, Münster 1931, S. 194–198. – Andrej Hajduk: Philipp Melanchthon u. L. S. In: Communio viatorum 20 (1977), S. 171–180. – Ders.: L. S. In: Zeichen der Zeit 34 (1980), S. 229–232. – K. Benda: L. S. In: Biogr. Lexikon zur Gesch. Südosteuropas. Hg. Mathias Bernarth u. a. Bd. 4, Mchn. 1981, S. 203 f. – Daniel Sˇkoviera: L. S. u. die Antike. Die klass. Bildung eines Schulhumanisten. In: Zborník Filozofickej Fakulty Univerzity Komenského, Gaecolatina et Orientalia 11–12 (1979–80, Bratislava 1981), S. 41–58. – A. Hajduk: Die Confessio Pentapolitana. In: Luth. Kirche in der Welt. Jb. des Martin-Luther-Bundes 29 (1982), S. 139–149. – Karl Schwarz: L. S. u. das reformator. Schulwesen in der Slowakei. In: brücken. Germanist. Jb. Tschechien-Slowakei N. F. 3 (1995), S. 279–298. – Max Josef Suda: Der Melanchthon-Schüler L. S. u. die Reformation in der Slowakei. In: Die Reformation u. ihre Wirkungsgesch. in der Slowakei [...]. Hg. Karl Schwarz u. a. Wien 1996, S. 50–66. – A.

Stöcker Hajduk: L. S. (1510–1560). Zˇivot a dielo. Bratislava 1999. – K. Schwarz: Praeceptor Hungariae. Über den Melanchthonschüler L. S. (1510–1560). Prvé augsburské vyznanie viery na Slovensku a Bardejov [Das erste Glaubensbekenntnis in der Slowakei u. Bartfeld]. Hg. Peter Kónya. Presˇov 2000, S. 47–67. – M. J. Suda: Der Einfluß Philipp Melanchthons auf die Bekenntnisbildung in Oberungarn (Confessio Pentapolitana, Confessio Heptapolitana u. Confessio Scepusiana). In: Melanchthon u. Europa. Tlbd. 1: Skandinavien u. Mittelosteuropa. Hg. Günter Frank u a. Stgt. 2001, S. 185–201. – Lore Poelchau: Christian Schesaeus’ Vita Leonhardi Stöckel. In: Scripturus vitam. Lat. Biogr. v. der Antike bis in die Gegenwart. FS Walter Berschin. Hg. Dorothea Walz. Heidelb. 2002, S. 1109–1115. – Márta Fata: Humanist. Einflüsse oberdt. u. melanchthon. Provenienz im ungar. Bartfeld. In: Humanismus in Ungarn u. Siebenbürgen [...]. Hg. Ulrich Andreas Wien u. Krista Zach. Köln u. a. 2004, S. 155–171. – Lˇudovít Petrasˇko: ›Mit der Weisheit der Minerva ausgerüstet‹. L. S., ein Schüler Melanchthons in Bartfeld. In: Germanoslavica 16 (2005), S. 69–80. – Zoltán Cespregi: Die ›Confessio Pentapolitana‹. Fragen nach Autorschaft u. Datierung. In: ›Nezamenitel’né je dedicˇstvo otcov ...‹ [...]. Hg. Jan Midriak u. a. Presˇov 2009, S. 73–85. Markus Mollitor / Reimund B. Sdzuj

Stöcker, (Hulda Caroline Emilie) Helene, * 13.11.1869 Elberfeld (heute zu Wuppertal), † 23.2.1943 New York. – Pazifistin, Frauenrechtlerin. Nach dem Schulbesuch in Elberfeld bildete sich die Kaufmannstochter bei Helene Lange am Berliner Victoria Lyzeum zur Lehrerin aus. S. studierte Nationalökonomie, Germanistik u. Philosophie in Berlin u. Glasgow u. wurde 1901 in Bern mit einer Arbeit Zur Kunstanschauung des XVIII. Jahrhunderts (Bln. 1902) promoviert. In Berlin lehrte sie, eine der ersten Frauen mit Doktorhut, an der Lessing-Hochschule u. gehörte 1905 mit Ellen Key u. Lily Braun zu den Begründerinnen des Bundes für Mutterschutz und Sexualreform, dessen Organ »Mutterschutz« (seit 1908 »Die neue Generation«) sie bis 1932 herausgab. 1898 hatte sie den gegen Helene Langes konservativen »Bund deutscher Frauenvereine« gerichteten »Verband fortschrittlicher Frauenvereine« mitbegründet. Neben der den meisten Frauenrechtlerinnen

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gemeinsamen Forderung nach allg. Frauen- tional intersections. In: Peace & change. A journal stimmrecht kämpfte sie für freie Liebe u. das of peace research (1998), S. 455–465. – Martina Hein: Die Verknüpfung v. emanzipator. u. eugen. Recht auf Abtreibung. 1892 zählte S. zu den Begründern der Gedankengut bei H. S. (1869–1943). Diss. Univ. Bremen 1998. – Volkmar Sigusch: Gesch. der SeDeutschen Friedensgesellschaft, war 1915 xualwiss. Ffm./New York 2008. – Catherine Leota Delegierte des Internationalen Frauenkon- Dollard: Radical reform. H. S., Ruth Bré, and Lily gresses in Den Haag u. wurde 1919 als Ver- Braun. In: Dies.: The surplus woman. Unmarried treterin des radikalen Flügels – sie propa- in Imperial Germany, 1871–1918. New York u. a. gierte die Pflicht zur Kriegsdienstverweige- 2009, S. 143–163. – Kristin McGuire: Feminist rung – zu einem der drei Vorsitzenden der Politics beyond the Reichstag. H. S. and Visions of Reform. In: Weimar Publics/Weimar Subjects. ReDFG gewählt (seit 1925 Schriftführerin). 1933 emigrierte S. nach Zürich, zog 1938 thinking the Political Culture of Germany in the über London nach Stockholm, wo sie an ihrer 1920s. Hg. Kathleen Canning, Kerstin Barndt u. K. McGuire. New York/Oxford 2010, S. 138–152. nicht vollendeten Autobiografie schrieb, u. Johannes Schulz / Red. floh 1941 über die Sowjetunion in die USA. S.s zahlreiche, von Nietzsches Philosophie Stöcklein, Joseph, * 30.7.1676 Oettingen/ des Lebens beeinflussten ZeitschriftenaufsätRies, † 28.12.1733 Graz. – Jesuit, Erbauze u. Flugschriften liegen z. T. gesammelt vor ungsschriftsteller, Herausgeber, Übersetin Die Liebe und die Frauen (Minden 1906. Erw. zer. 1908) u. Erotik und Altruismus (Lpz. 1924). Eine zusammenhängende Darstellung der sie Mit 24 Jahren trat S. als Priester in die zeitlebens beschäftigenden Neuen Ethik hat Österreichische Jesuitenprovinz ein u. erwarb sie nicht geschrieben. Den besten Einblick in sich eine solide Ausbildung in den theolog. ihre Theorie bietet S.s einziger Roman Liebe Fächern u. in den bibl. Sprachen. Zehn Jahre (Mchn. 1922. Revidiert Bln. 1927). Das tri- diente er als Feldkaplan in Ungarn (Türkenviale Genre der Liebe zwischen einer Kunst- kriege) unter Feldmarschall Guido Graf Starstudentin u. einem verheirateten Professor hemberg u. Prinz Eugen. In diese Zeit fällt nutzte S. zur Entfaltung ihrer Vorstellung seine Danckrede nach der Befreiung von Ofen von freier Liebe, die sie als Beziehung zweier (1712). Dreimal betreute er Kranke während selbstständiger u. vernünftiger Personen be- Pestepidemien. Während seiner Zeit als Vorsteher der Katechetischen Bibliothek in Graz griff. Weitere Werke: Verkünder u. Verwirklicher. veröffentlichte er katechetische Werke, PreBeiträge zum Gewaltproblem. Ebd. 1928. – Her- digten sowie Übersetzungen aus dem Franausgeberin: Karoline Michaelis: Eine Ausw. ihrer zösischen, darunter den Apokalypse-KomBriefe. Bln. 1912. mentar von Jacques Bénigne Bossuet (OffenLiteratur: Petra Rantzsch: H. S. Zwischen Pa- barung deß Heil. Johannis [...]. Augsb./Graz zifismus u. Revolution. Bln./DDR 1984. – Rolf v. 1718). Bockel: Philosophin einer ›neuen Ethik‹. H. S. S.s große u. bleibende Leistung ist die (1869–1943). Hbg. 1991. – Christl Wickert: H. Herausgabe von Briefen dt. Missionare aus S. 1869–1943. Frauenrechtlerin. Sexualreformerin den beiden Indien; 24 von insg. 40 erschieu. Pazifistin. Bonn 1991. – Gudrun Hamelmann: nenen Teilen hat er selbst zwischen 1726 u. H. S., der ›Bund für Mutterschutz‹ u. ›Die Neue 1732 redigiert. Die umfangreiche Edition hat Generation‹. Ffm. 1992. – Regina Braker: Bertha v. als erste Veröffentlichung dieser Art damals Suttner’s spiritual daughters. The feminist pacifism of Anita Augspurg, Lida Gustava Heymann, großes Aufsehen erregt u. verdient als Quelle and H. S. at the International Congress of Women für die Kultur- u. Missionsgeschichte, für die at The Hague, 1915. In: Women’s studies interna- Ordens- u. Zeitgeschichte, aber auch als tional forum 18 (1995), 2, S. 103–111. – Rolf v. Sprachdenkmal aus dem frühen 18. Jh. noch Bockel: H. S. In: Demokratische Wege. Dt. Le- heute Beachtung. bensläufe aus fünf Jahrhunderten. Hg. Manfred Asendorf u. R. v. Bockel. Stgt./Weimar 1997, S. 621–623. – R. Braker: H. S.’s pacifism. Interna-

287 Weitere Werke: (Kupfertitel) Der neue WeltBott mit allerhand nachrichten deren Missionarien Soc. Iesu [...]. 40 Tle., Augsb./Graz 1726–61. Ausgaben: Bayer. Bibliothek. Hg. Hans Pörnbacher. Bd. 2, Mchn. 1986, S. 980–992, 1295. – Allerhand so lehr- als geist-reiche Brief, Schrifften u. Reis-Beschreibungen [...]. Bonn 1997 (Nachdr. v. Tl. 36 des ›Neuen Welt-Bott‹: Brieffe aus dem Reich Cochinchina). Literatur: Bibliografie: De Backer/Sommervogel, Bd. 7, 1585 f. – Weitere Titel: Franz Keller: Leben, Thaten, Reisen u. Mission R. P. Josephi S. [...]. In: De Neue Welt-Bott. 29. Tl., Augsb./Graz 1755, Anhang, S. 141–154. – Bernhard Duhr: Gesch. der Jesuiten in den Ländern dt. Zunge. Bd. 4/2, Mchn./ Regensb. 1928, S. 155–158. – Lit. in Bayerisch Schwaben [...]. Hg. Hans Pörnbacher. Weißenhorn 1979, S. 109–112. – Die Jesuiten in Bayern 1549–1773 [...]. Hg. Joachim Wild u. a. Weißenhorn 1991, Nr. 222. – Claudia von Collani: J. S: In: Bautz. – Peter Downes: Die Wahrnehmung des Anderen. Jesuitenmissionare u. Indios im ›Neuen Welt-Bott‹. In: Sendung, Eroberung, Begegnung. Franz Xaver, die Gesellschaft Jesu u. die kath. Weltkirche im Zeitalter des Barock. Hg. Johannes Meier. Wiesb. 2005, S. 341–354. – Bernd Hausberger: El padre J. S. o el arte de inscribir el mundo a la fe. In: Desde los confines de los imperios ibéricos. Hg. Karl Kohut u. a. Ffm. 2007, S. 631–661. – Renate Dürr: Der ›Neue Welt-Bott‹ als Markt der Informationen? Wissenstransfer als Moment jesuit. Identitätsbildung. In: Ztschr. für histor. Forsch. 34 (2007), S. 441–466. Hans Pörnbacher / Red.

Stoecklin, Franziska, verh. Betz-S., * 11.9. 1894 Basel, † 1.9.1931 Basel. – Lyrikerin, Erzählerin; Malerin. Die Tochter eines Kaufmanns u. Schwester des Malers Niklaus Stoecklin wuchs in Basel auf, ging 1914 als Kunstschülerin nach Deutschland u. lebte, jung verheiratet, als Malerin u. Schriftstellerin in München, Frankfurt/M. u. Berlin. Nach der Trennung von ihrem Mann zog sie, schwer herzleidend, ins Tessin, wo sie im Kreis um das Ehepaar Ball-Hennings verkehrte u. von Rilke literarisch gefördert wurde. Sie starb in ihrer Heimatstadt in geistiger Umnachtung. Nach Abdrucken in Zeitungen u. Zeitschriften (u. a. in der »Aktion«) erschien ihre Lyrik gesammelt in den Bänden Gedichte (Bern 1920) u. Die singende Muschel (Zürich 1925) –

Stöffler

freie, oft reimlose Rhythmen, die v. a. durch eine eigenwillige, die Malerin verratende Farbsymbolik bedeutsam sind u. in oftmals ans Surreale grenzender, immer aber epischberichtender Weise die Themen Traum, Liebe, Tod u. Natur behandeln. Allerdings tritt die Liebe, die im ersten Band von zentraler Bedeutung ist u. stellenweise einen überraschend leidenschaftl. Ausdruck findet, im zweiten Band fast völlig hinter dem Thema Tod zurück. Nicht verschwiegen werden darf, dass den Versen gelegentlich etwas StilisiertGekünsteltes anhaftet – wohl dadurch bedingt, dass S. sich von der zeitgenöss. Lyrik u. vor allem auch von Rilke bewusst absetzen wollte. S.s Prosa (Liebende. Bern 1921. Traumwirklichkeit. Ebd. 1923) steht ihrer Lyrik sehr nahe u. beschränkt sich fast ganz auf die Darstellung geistig-seel. Vorgänge. Literatur: Olga Brand: F. S. In: Stilles Wirken. Schweizer Dichterinnen. Zürich 1949, S. 123–130. – Im Nachlass Hermann Hesse in der Schweizerischen Nationalbibliothek sind Briefe von F. S. erhalten. Charles Linsmayer

Stöffler, Johannes, * 10.12.1452 Justingen/Württemberg, † 16.2.1531 Blaubeuren; Grabstätte: Tübingen, St. Georgskirche. – Astronom, Mathematiker. Dem Besuch der Klosterschule in Blaubeuren folgte seit 1472 ein Artesstudium in Ingolstadt. 1477 übernahm S. eine Pfarrei in Justingen. 1511 wurde der inzwischen berühmte Mathematiker u. Instrumentenbauer (Himmelsgloben, Turmuhr des Konstanzer Münsters) Mathematikprofessor in Tübingen – von Ulrich von Württemberg aus einer Pfründe der Pfarrei Justingen abgesichert. Nach der Vertreibung Ulrichs 1519 musste S. seine Bezahlung beim Verweser des Herzogtums, Erzherzog Ferdinand von Österreich, einmahnen. Trotz bedrückender materieller Verhältnisse stieg S.s Ansehen als Lehrer: Melanchthon, Johannes Schöner u. Sebastian Münster zählten zu seinen Schülern; 1522 wurde er zum Rektor gewählt. Infolge der Pest von 1530 zog auch S. nach Blaubeuren. 1499 erschien S.s Almanach nova plurimis annis venturis inserentia (zus. mit Jakob Pflaum. Venedig 21504. 31506. 41513. Sämt-

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lich mit Ephemeriden für 1499–1531). Für Melanchthon in Südwestdeutschland [...]. Karlsr. den 25.2.1524 sagte S. eine große Konjunk- 1997, S. 75–85. – Karl Schmid u. Herbert Schmitt: tion von 20 Gestirnen voraus, bei der 16 Ge- Die astronom. Uhr am Tübinger Rathaus. Tüb. stirne in dem »wässerigen« Sternzeichen Fi- 1997. – Gerhard Betsch: M. J. S. u. die Anfänge der mathemat. Wiss.en an der Univ. Tübingen. In: sche stehen sollten; sie bedeute Veränderung Wanderschaft in der Mathematik. Hg. Magdalena in »universo fere orbi«. Gegen diese von Lai- Hyksˇová. Augsb. 2006, S. 28–40. – Ders.: Die Anen wie auch von Gelehrten als Sintflutpro- fänge der mathemat. Wiss.en an der Univ. Tübinphezeiung verstandene Voraussage verfasste, gen: J. S. u. Philipp Imsser. In: Tübingen in Lehre neben dem Franzosen Albert Pigghe u. dem u. Forsch. um 1500 [...]. FS Ulrich Köpf. Hg. Sönke Italiener Agostino Nifo, Georg Tannstetter Lorenz. Ostfildern 2008, S. 127–158. eine Schrift, die S.s Verteidigung Expurgatio Wolf-Dieter Müller-Jahncke / Red. adversus divinationum XXIIII anni suspitiones, a quibuscunque indigne sibi offusas (Tüb. 1523) Stökken, Christian von, * 15.8.1633 veranlasste. Rendsburg, † 4.9.1684 Rendsburg. – LuDas Calendarium romanum magnum (Oppen- therischer Theologe, Verfasser geistlicher heim 1518. Dt. u. d. T. Der newe groß römisch Gebrauchsliteratur. Calender [...]. Ebd. 1522) gibt S. als Anhänger der Astromedizin zu erkennen, enthält aber S. stammte aus einer bürgerl. Beamtenfamiauch Vorschläge zur Kalenderreform. S.s lie, studierte ab Sommer 1652 in Leipzig u. ab Ephemeriden wirkten insbes. auf den frz. Febr. 1655 in Rostock Philosophie u. Theologie (dort Magister artium am 15.5.1655) u. Astronomen u. Mathematiker Oronce Finé. Weitere Werke: Tabulae astronomicae. Tüb. erhielt nach kurzer Tätigkeit als Hauslehrer 1500. 21514. Internet-Ed. in: VD 16. – Elucidatio auf einem Gut im Schleswigschen die Pastofabricae ususque Astrolabii. Oppenheim [1512] renstelle in Trittau/Holstein (vgl. dazu Trit1513. Internet-Ed. in: VD 16. Köln 1594. Internet- tauischer Antritt in sich begreiffend zwo unterEd. in: ebd. – Engl. Übers.: Stoeffler’s Elucidatio [...]. schiedliche Predigten, so bei Antretung deß PfarrTransl. and ed. by Alessandro Gunella and John Dienstes zu Trittau im 1656 Jahr gehalten worden Lamprey from the Latin text published in Paris by [...]. Hbg. 1658). 1666 wurde er vom FürstGuillaume Cavellat, 1553. Cheyenne, Wyo. 2007. – bischof von Lübeck zum Hofprediger u. SuIn Procli Diadochi [...] commentarius. Ante hac perintendenten in die Residenzstadt Eutin nunquam typis excusus. Tüb. 1534. – Ephemeriberufen. 1674 verteidigte S. zur Erlangung dum opus [...]. Tüb. 1531. Internet-Ed. in: VD 16. des theolog. Doktorgrades in Kiel unter dem Literatur: Bibliografien: Schmidt, Quellenlexi- Vorsitz von Christian Kortholt die Dissertakon, Bd. 30, S. 295 f. – VD 16. – Weitere Titel: J. C. tion De virga Aaronis florida, ex Numer. C. XVII. Albert Moll: J. S. v. Justingen. Lindau 1877. – Karl (Kiel 1674. Internet-Ed. in: VD 17. Wittenb. Hartfelder: J. S. In: ADB. – Ernst Zinner: Gesch. u. 2 1685). 1677 Pastor u. Propst in Rendsburg, Bibliogr. der astronom. Lit. in Dtschld. zur Zeit der Renaissance. Stgt. 21964. – Manfred Büttner: J. S. u. war er seit 1678 zgl. Generalsuperintendent die Beziehungen zwischen Geographie u. Theolo- desjenigen Teils der Herzogtümer Schleswig gie im 16. Jh. Vortrag, geh. [...] anläßlich des u. Holstein, der unmittelbar dem König von 500jährigen Bestehens der Univ. Tübingen, am [...] Dänemark unterstand. In diesen Ämtern 25. Juni 1977 (23 Bl.). – Franz Stuhlhofer: Georg blieb er bis zu seinem frühen Tod. Tannstetter Collimitius. Diss. Wien 1979. – L’huS. ist ein typischer Repräsentant der luth. manisme allemand (1480–1540). Mchn. u. a. 1979, Staatskirche im Zeitalter des Absolutismus, Register. – Paola Zambelli: Fine del Mondo o Inizio ein Vielschreiber auf den übl. Gebieten geistl. della Propaganda? In: Scienze. Credenze occulte. Gebrauchsliteratur, trotz seines geistl. Amts Livelli di Cultura. Convegno Internazionale di nicht ohne literar. Ehrgeiz (1669 Mitgl. der Studi (1980). Florenz 1982, S. 291–368. – Ilse Günther: J. S. In: Contemporaries, Bd. 3 (1987), Deutschgesinnten Genossenschaft). BesondeS. 288 f. – Günther Oestmann: Schicksalsdeutung res Aufsehen erregte S. durch sein umfangu. Astronomie. Der Himmelsglobus des J. S. v. reiches Kleines Holsteinisches Gesang-Buch 1493. Stgt. 1993 (Ausstellungskat.). – Ders.: J. S., (Rendsburg 1680 u. ö.), das er in seinem Melanchthons Lehrer in Tübingen. In: Philipp Sprengel durchzusetzen bemüht war, als

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dessen Herausgeber er gegen die Regeln der Gattung mit Namen u. Porträt in Erscheinung trat u. in dem er viele Lieder der Reformationszeit doppelt abdruckte: in ihrem urspr. Wortlaut u. in einer von ihm nach der »izz-üblichen Poetischen Reim-Art« modernisierten Fassung. Weitere Werke: Pindarische Ode uber die Reise des [...] Hn. August-Friederichs [...] Hertzogen zu Schleßwig Holstein [...] nach u. aus dem Königreich Schweden [...]. Ratzeburg 1672. Internet-Ed. in: VD 17. – Die vernünfftige lautere Milch des Hl. Catechismi. Rendsburg 1681 (Aufl.n bis 1728; dän. Übers.). – Liedersammlungen: Neugestimmte DavidsHarfe, oder di Psalmen Davids [...]. Schleswig 1656. – Christi Ohnmacht der Christen Andacht, poetisch auffgesezzet [...]. Ratzeburg 1668. – Hl. HerzensSeuffzer [...]. Lübeck 1668. – Hl. Nachtmahls-Musik, auß des Thomas v. Kempen Andachten vom Sacrament [...]. Plön 1676. – Erbauungsbücher: Hl. Passions-Gemählte [...]. Ffm. 1674. Internet-Ed. in: VD 17. – Klahre Andeutung, u. wahre Anleitung zur Nachfolge Christi [...]. Plön 1678. Ausgaben: Fischer/Tümpel 4, S. 454–462. – Internet-Ed. mehrerer Texte in: dünnhaupt digital. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 6, S. 3973–3988. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 30, S. 297. – Kosch, Bd. 20, S. 286–291. – VD 17. – Weitere Titel: Carl Bertheau. C. v. S. In: ADB. – K. F. Otto: C. v. S. and Philipp von Zesen. In: MLN 88 (1973), S. 594–597. – Heiduk/Neumeister, S. 105, 247, 476 f. – Ders. u. Dieter Lohmeier: C. v. S. In: BLSHL Bd. 5, S. 246–248 (mit älterer Lit.). – Estermann/Bürger, Tl. 2, S. 1341. Dieter Lohmeier / Red.

Stoessl

Deutschen Orden vertrieben wurden. Danach verlagerten die Vitalienbrüder ihr Operationsgebiet in die Nordsee, fanden v. a. bei den Häuptlingen Ostfrieslands Aufnahme u. kaperten hauptsächlich Schiffe des Grafen von Holland u. der Hanse. Die Hanse, allen voran Hamburg, ging seit 1400 energisch gegen die Vitalienbrüder vor. Am 21.10.1400 wurde S. mit seiner Mannschaft in Hamburg hingerichtet, im folgenden Jahr Godeke Michels. Bis 1435 kam es immer wieder zu Aktionen der Vitalienbrüder, bis die Sibetsburg, der letzte Zufluchtsort der Vitalienbrüder, von Hamburg völlig zerstört wurde. Lübecker u. Hamburger Chroniken des 15. u. 16. Jh. hielten die Erinnerung an die Vitalienbrüder fest; vom Aufkommen des Störtebekerliedes um 1550 an konzentrierte sich der hauptsächl. Nachruhm der Vitalienbrüder auf S., dessen Leben in zahllosen Sagen u. Legenden in den folgenden Jahrhunderten in allen Literaturgattungen bis hin zu Opernlibretti ausgeschmückt wurde. Im 20. Jh. wurde S. zunehmend als edler Räuber charakterisiert, der für das Freiheitsideal der Menschheit eintritt, das in der DDR-Literatur noch eine sozialistische Komponente erhielt, denn die Vitalienbrüder wurden seit dem Ende des 14. Jh. auch als »Likedeeler«, also »Gleichteiler«, bezeichnet. Literatur: Matthias Puhle. Die Vitalienbrüder. Klaus S. u. die Seeräuber der Hansezeit. Ffm./New York 21994. – Hartmut Beckers: S. In: VL. – Wilfried Ehbrecht (Hg.): S. 600 Jahre nach seinem Tod. Trier 2005. Matthias Puhle

Störtebeker, † 21.10.1400 Hamburg. – Protagonist eines historischen Liedes u. zahlreicher Sagen. Stoessl, Otto, * 2.5.1875 Wien, † 15.9.1936 Wien. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker, Im Verfestungsbuch von Wismar wird Klaus Theater- u. Literaturkritiker. Störtebeker als »Nikolao Stortebeker« 1380 erstmals erwähnt. Seit 1394 tritt er im Zusammenhang mit Godeke Michels u. anderen als einer der Hauptleute der Vitalienbrüder auf, die vom mecklenburgischen Herzogshaus im Krieg mit Königin Margarete von Dänemark um die schwed. Königskrone zwischen 1389 und 1395 als Kaperer auf der Ostsee in Dienst genommen wurden, um das Reich Dänemark zu »schädigen«. Nach dem Friedensschluss von 1395 zogen sie sich auf die Insel Gotland zurück, wo sie 1398 vom

Der Sohn eines jüd. Arztes studierte in Wien Jura u. arbeitete nach der Promotion (1899) bei der Wiener Nordbahn. 1923 ließ er sich im Zuge des Beamtenabbaus als Hofrat pensionieren. Seit 1919 war er Burgtheaterkritiker bei der »Wiener Zeitung«; 1924 erhielt er mit Robert Musil den Literaturpreis der Stadt Wien. In der Zeitschrift »Die Wage« setzte er sich v. a. mit dem Naturalismus auseinander, der seine frühen Theaterstücke prägte.

Stötzer

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1906–1911 publizierte er in der »Fackel« Wien. 1948. – Herta Mreule: S.s spätere SchafBeiträge zu Fragen der Ästhetik u. Ethik. Im fensperiode. Diss. Ebd. 1948. – Françoise Derré: Ist Essay Lebensform und Dichtungsform (in: Fackel, der Roman ›Das Haus Erath‹ v. O. S. noch aktuell? Nr. 294/295, 1910, S. 5–11) fixiert er seine In: Akten des Internat. Symposiums. ›Arthur Schnitzler u. seine Zeit‹. Hg. Giuseppe Farese. Bern poetolog. Positionen, indem er gesellschaftl. 1985, S. 302–313. – Cornelia Fritsch: Der Kritiker Strukturen literar. Gattungen zuordnet. Der O. S.: Lebensphilosophie u. Kunstauffassung. Diss. mehrfach neu aufgelegte, oft mit Thomas Wien 1985. – Hans J. Schütz: O. S. In: Ders.: ›Ein Manns Buddenbrooks verglichene Roman Das dt. Dichter bin ich einst gewesen‹. Mchn. 1988, Haus Erath (Lpz. 1920. Bearb. Neuaufl. Lpz. S. 263–267, 329 f. – Werner M. Bauer: Ursprung u. 1928. Graz/Wien/Köln 1983. Nachw. von Identität. Zu den Ess.s v. O. S. In: ›Kakanien‹. Hg. Edwin Rollett), der zuerst in der »Arbeiter- Eugen Thurnher. Budapest u. a. 1991, S. 367–399. Zeitung« abgedruckt wurde, schildert in – Gilbert J. Carr: ›Alle zehn Tage anatomiere ich die dt. Sprache‹. Zum unveröffentlichten Briefw. Karl epischer Breite den Abstieg einer Wiener Kraus’ mit O. S. In: WW 41 (1991), H. 1, S. 62–72. – Seidenwarenfirma der franzisko-josephin. G. J. Carr: Zwischen Neoklassik u. Satire: O. S. – Ära über drei Generationen. Samuel Lublinski – Karl Kraus. In: MAL 27 (1994), S.s unzeitgemäße Romankunst ist formal H. 2, S. 21–38. – Joseph P. Strelka: O. S. Ein verdem Realismus des 19. Jh. verhaftet, mit dem gessener, großer Humorist. In: Ders.: Vergessene u. er sich in monografischen Studien (Adalbert verkannte österr. Autoren. Tüb. 2008, S. 29–50. – Stifter. Stgt. 1902. Gottfried Keller. Bln. 1904. Edward Timms: The sceptic and the idealist: O. S.’s Conrad Ferdinand Meyer. Bln. 1906) auseinan- dialectical imagination. In: Weg u. Bewegung. Hg. dersetzt. Trotz so gewichtiger Förderer wie Hans-Walter Schmidt-Hannisa u. a. Konstanz 2008, S. 145–160. – Primus-Heinz Kucher: O. S. In: ÖBL. Karl Kraus, der schon 1908 dem SchelmenJohann Sonnleitner / Red. roman Sonjas letzter Name (Mchn. 1908) Schönheit in Sprache u. Gestaltung u. einen ideenvollen Humor nachrühmte, blieb S., ein Stötzer, Gabriele, verh. Kachold, auch: genauer Erzähler, schon zu Lebzeiten ein Stötzer-Kachold, * 14.4.1953 Emleben/ zwar viel gerühmter, aber wenig gelesener Thüringen. – Erzählerin, Galeristin, FoAutor. tografin. Weitere Werke: Leile. Bln. 1898 (E.). – In den Mauern. Bln. 1907. U. d. T. Das Schicksal pocht an die Pforte. Wien 1956 (R.). – Negerkönigs Tochter. Bln. 1908 (E.). – Allerleirauh. Mchn. 1911 (N.n). – Egon u. Danitza. Ebd. 1911. Graz/Wien 1957 (E.). – Morgenrot. Ebd. 1912 (R.). – Was nützen mir die schönen Schuhe. Ebd. 1913 (E.). – Lebensform u. Dichtungsform. Ebd. 1914 (Ess.s). – Unterwelt. Ebd. 1917 (N.n). – Irrwege. Stgt. 1922 (N.n). – Johannes Freudensprung. Lpz. [1923] (N.n). – Sonnenmelodie. Eine Lebensgesch. Stgt. 1923. Graz/ Wien/Köln 1977. – Nachtgesch.n. Bln. 1926. – Die Schmiere. Ebd. 1927 (N.). – Antike Motive. Wien 1928 (L.). – Span. Reitschule. Ebd. 1928. – Menschendämmerung. Mchn. 1929 (N.n). – Nora, die Füchsin. Eine Theatergesch. Wien 1934. – Der Kurpfuscher [Entstanden 1925/26]. Nachw. v. Eckart Früh. Graz/Wien/Köln 1987 (R.). – Karl Kraus, O. S. Briefw. 1902–1925. Hg. Gilbert J. Carr. Wien 1996. Literatur: Samuel Lublinski: Der Erzähler O. S. In: Die Fackel. Nr. 309/310 (1910), S. 7–15. – Kurt Riedler: O. S. Sein Werk. Diss. Zürich 1939. – Magda Maetz: O. S. Leben u. Jugendwerke. Diss.

S., Tochter einer Buchhalterin u. eines Werkzeugmachers, absolvierte eine Ausbildung als medizinisch-techn. Assistentin in Erfurt. Sie holte das Abitur auf der Abendschule nach u. studierte in Erfurt bis zur Zwangsexmatrikulation 1976 Deutsch u. Kunsterziehung. Nach einjährigem Gefängnisaufenthalt war S. als Sachbearbeiterin in einer Schuhfabrik tätig u. schrieb erste literar. Texte. Seit 1980 lebt sie in Erfurt. Die Gefangenschaft wird in zügel los (Bln./ Weimar 1989, Ffm. 1990) zur existentiellen Metapher schlechthin erklärt. Damit stehen die Prosastücke im Kontext von S.s Haft (1977) in der Frauenvollzugsanstalt Hoheneck. Verurteilt wurde S., weil sie u. a. Unterschriften gegen die Biermann-Ausbürgerung gesammelt hatte. Vom Motiv der Gefangenschaft ausgehend, entwickelt S. andere Motive, die als ureigene Schlüsselerfahrungen erkennbar bleiben: Triebunterdrückung sowie körperl. u. intellektuelle Selbstbe-

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hauptung in einer Welt, die dem Leser v. a. als Männerwelt vorgestellt wird. S.s frühe Texte entziehen sich vorschnellem Einverständnis oder Ablehnung durch den Leser, da Verfremdungstechniken aufgeboten werden: Rhythmisch wiederkehrende Leitmotive, die konsequente Vermeidung von Passivsätzen, Kleinschreibung u. Einsparen von Satzzeichen unterstreichen den Eindruck, es bei jedem Text mit einem einzigen Satz zu tun zu haben. S. schrieb in einem Assoziationsstil ohne surrealistische Anwandlung, mit Kompromisslosigkeit als einer inhaltl. wie formalästhet. Kategorie. Spätere Texte (Die bröckelnde Festung. Mchn. 2002. Das Leben der Mützenlosen. Mchn. 2007) grenzen sich davon durch eine deskriptiv-distanzierte Schreibweise ab; polit. Opposition u. Gefangenschaft werden nun vielmehr aus der Position des Mahnens u. Erinnerns heraus thematisiert. Weitere Werke: Berührung ist nur eine Randerscheinung. Neue Lit. aus der DDR. Hg. Elke Erb u. Sascha Anderson. Köln 1985, S. 113–118. – mein erfurt mein mittelalter. In: Schöne Aussichten. Neue Prosa aus der DDR. Hg. Christian Döring u. Hajo Steinert. Ffm. 1990, S. 273–288. – grenzen los fremd gehen. Bln. 1992. – erfurter roulette. Mchn. 1995. – Ich bin die Frau von gestern. Ffm. 2005. Literatur: Gerrit-Jan Berendse: G. S.-K. Frau u. Avantgarde. In: Ders.: Grenz-Fallstudien. Essays zum Topos Prenzlauer Berg in der DDR-Lit. Bln. 1999, S. 112–126. – Carla Reckling: Zwischen den Zeiten u. Orten. G. S. – Eine Einf. In: Zwischen Trivialität u. Postmoderne. Lit. v. Frauen in den 90er Jahren. Hg. Ilse Nagelschmidt u. a. Ffm. u. a. 2002, S. 153–157. – Christiane Adamczyk: G. S. – Ein Interview. In: ebd., S. 158–165. – Udo Scheer: G. S. In: LGL. Hajo Steinert / Catharina Koller

Stolberg Stolberg, Agnes Gräfin zu, geb. von Witzleben, * 9.10.1761 im Oldenburgischen, † 15.11.1788 Neuenburg bei Oldenburg. – Almanachautorin. Von Goethe als »Engel-Grazioso« apostrophiert, heiratete die vielseitig gebildete u. musisch interessierte Hofdame an der fürstbischöfl. Residenz in Eutin am 11.6.1782 Friedrich Leopold Graf zu Stolberg Stolberg. Neben einzelnen Beiträgen für den von Voß redigierten »Hamburger Musenalmanach« (Wiegenlied; An ihren Stolberg) hinterließ die

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wenige Monate nach der Geburt ihres dritten Kindes verstorbene Gelegenheitsdichterin die empfindsam geprägte Prosaerzählung Aura, die von ihrem Ehemann unter der Verfasserangabe »Psyche« in seinen utopisch-idyll. Roman Die Insel aufgenommen wurde, der 1788 bei Göschen in Leipzig erschien. S.s Literaturbegeisterung wurde von anderen Frauen des nordelb. Adels (u. a. Frederike Juliane Gräfin von Reventlow, Friederike Luise Gräfin zu Stolberg Stolberg) geteilt. Literatur: Brigitte Schubert-Riese: Das literar. Leben in Eutin im 18. Jh. Neumünster 1975. – Horst Conrad u. Sabine Blickensdorf (Hg.): Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe an seine Ehefrauen Agnes v. Witzleben und Sophia v. Redern. Bearb. v. Horst Conrad u. Sabine Blickensdorf. Münster 2010. York-Gothart Mix

Stolberg Stolberg, Christian Graf zu, * 15.10.1748 Hamburg, † 18.1.1821 Windeby bei Eckernförde; Grabstätte: Kirche von Horslunde auf Lolland. – Lyriker, Dramatiker, Übersetzer. Als ältester Sohn Christian Günthers Grafen zu Stolberg Stolberg verbrachte S. zusammen mit seinem Bruder Friedrich Leopold eine ungewöhnlich freie Kindheit in Holstein u. auf Seeland. Nach der standesgemäßen Erziehung durch frz. u. dt. Hofmeister ging er, der pietistischen Tradition seines Elternhauses gemäß, mit seinem Bruder 1770 nach Halle, um Rechtswissenschaften zu studieren. Im Okt. 1772 wechselten die Brüder an die Göttinger Universität, wo sie durch die Vermittlung Boies mit den Mitgliedern des Göttinger Hains in enge Verbindung traten u. am 19.12.1772 in den Dichterbund aufgenommen wurden. Im April 1773 überbrachten sie Klopstock als persönl. Huldigung des Bundes den handschriftl. Sammelband Für Klopstock, der 91 Oden, Lieder, Balladen u. Übersetzungsproben enthielt u. das Interesse des Hamburgers an der Dichtergemeinschaft weckte. Nach Beendigung des Studiums (u. a. bei Johann Stephan Pütter) kehrte S. mit seinem Bruder im Sept. 1773 nach Altona zurück. 1774 nahmen sie über Boie Beziehungen zu Goethe auf u. reisten im Mai zusammen mit ihm u. dem späteren preuß. Staats-

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u. Kabinettsminister Heinrich Christian Kurt Graf von Haugwitz durch Süddeutschland u. die Schweiz. Im Juli trennten sie sich in Zürich von Goethe u. brachen zu einer Tour durch den Tessin nach Genf auf, wo sie Voltaire trafen. Im November trat S. mit seinem Bruder die Rückreise an, die sie über Ulm, Weimar, Dessau u. Berlin nach Kopenhagen führte. 1777 trennten sich die Lebenswege der Brüder: S. heiratete die 30-jährige Witwe Friederike Luise von Gramm, geb. Gräfin von Reventlow, u. ließ sich in Tremsbüttel nieder, wo er eine Stelle als Amtmann annahm. Es war v. a. das Verdienst von S.s literarisch interessierter Frau, dass Tremsbüttel ein Ort regen geistigen Austauschs wurde. Ähnlich wie Frederike Juliane Gräfin von Reventlow, Hausherrin auf Emkendorf, unterhielt sie enge Kontakte zu Baggesen, Boie, Claudius, Herder, Klopstock, Matthisson, Oehlenschläger, Anna Amalia von Sachsen-Weimar u. Voß. 1784 traf S. zusammen mit seinem Bruder während einer Erholungsreise nach Karlsbad u. Teplitz noch einmal in Weimar mit Goethe zusammen. 1800 verkaufte S. seinen Besitz in Tremsbüttel u. erwarb das Gut Windeby bei Eckernförde. 1815 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Kiel verliehen. 1816 sah er seinen Bruder, den er kaum mehr als ein Jahr überlebte u. dessen Tod ihm sehr nahe ging, ein letztes Mal. Als Schriftsteller u. Übersetzer stand S. im Schatten seines Bruders. Er hinterließ etwa 50 Gedichte, einen Balladenzyklus (Die weiße Frau. Bln. 1814), dramat. Werke u. Übersetzungsproben. Die meisten lyr. Texte S.s sind Casualcarmina; die wenigen, nicht aus äußeren Anlässen entstandenen Gedichte lassen Einflüsse von Bürger (Elise von Mannsfeld. Eine Ballade aus dem zehnten Jahrhundert; Der wahre Traum. Eine Ballade), Hölty (An die Unbekannte; Die Blicke. An Dora) oder Voß (Chorgesang aus einem unvollendeten Singspiele: Eros und Psyche) erkennen. Ähnlich pointiert wie die dramat. Versuche seines Bruders reflektieren S.s Schauspiele mit Chören (Lpz. 1787) die Frage der gerechten Herrschaft u. Staatsordnung. Ebenso wie in seinem bibl. Trauerspiel Belsazer (»Aus ist’s, Treiber, mit dir! Siehe, zerbrochen ist / Deine Geißel des Frohns, und in dem Staube liegt / Deiner wüthenden Herr-

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schaft / Völkervertilgender Königsstab!«), das er Klopstock widmete, schreckte S. auch in dem der Gräfin von Reventlow zugeeigneten, zusammen mit seiner Frau verfassten Schauspiel Otanes (»Ein Unding ist es, wenn ein Einziger / Zum Herrn der ganzen Menge sich erhebt, / Sie stolz mit Fersen stampft, und ungestraft / Verübt, was ihn sein Wille lehrt!«) nicht vor deutl. Kritik am höf. Absolutismus zurück. Unter seinen zahlreichen Übersetzungsproben (Anakreon, Bion, Horaz, Moschos, Musaios, Theokrit, die Batrachomyomachie sowie homerische Hymnen) ist die mit seinem Bruder abgesprochene Übersetzung der Chöre des Sophokles in Odenform (Lpz. 1787) hervorzuheben. Einen Teil seiner epigrammat. Dichtungen hat S. offenbar selbst vernichtet (vgl. An eine nicht kleine Schaar von dem Verfasser vertilgter Epigramme). 1805 ergriff er in einer anonymen Schrift Partei für den von den Altonaer Aufklärern um Nicolaus Funk befehdeten Kurator der Kieler Universität, Friedrich Karl Graf von Reventlow. Anders als sein Bruder hielt S. sein Leben lang an den literarästhet. Prämissen der Göttinger Hainbündler fest. Seinem Werk kommt heute nur noch histor. Interesse zu. Weitere Werke: Ges. Werke der Brüder C. u. Friedrich Leopold Grafen zu S. 20 Bde., Hbg. 1820–25. Neudr. Hildesh. 1974. – Briefw. zwischen Klopstock u. den Grafen C. u. Friedrich Leopold zu S. Hg. Jürgen Behrens. Neumünster 1964 (Anhang: Briefw. zwischen Klopstock u. Herder). Literatur: Otto Brandt: Geistesleben u. Politik in Schleswig-Holstein um die Wende des 18. Jh. Bln./Lpz. 1925. – Dieter Lohmeier: Herder u. der Emkendorfer Kreis. In: Nordelbingen 35 (1966), S. 103–132.36 (1967), S. 39–62. – Brigitte SchubertRiese: Das literar. Leben in Eutin im 18. Jh. Neumünster 1975. – York-Gothart Mix: Weibl. Literaturbegeisterung, die ›Bremer Beiträge‹ u. der empfindsame Freundschaftskult der ›wenigen Edlen‹. Die unveröffentlichten Briefe der Gräfin Charlotte Friederike Christiane zu S.-S. u. ihrer Söhne C. u. Friedrich Leopold an Johann Arnold Ebert. In: Lenz-Jb. 4 (1994), S. 123–142. York-Gothart Mix

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Stolberg Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu, * 7.11.1750 Bramstedt/Holstein, † 5.12.1819 Sondermühlen bei Osnabrück; Grabstätte: Friedhof Stockkämpen bei Tatenhausen. – Lyriker, Dramatiker, Romanautor, Essayist u. Übersetzer; Historiograf. S. erlebte als zweiter Sohn des aufklärerisch gesinnten Oberhofmeisters der dän. Königinwitwe, Christian Günther Graf zu Stolberg Stolberg, u. seiner pietistisch-schwärmerischen Ehefrau Christiane, geborene Gräfin zu Castell-Remlingen, eine für einen Standesherrn ungewöhnlich zwanglose Kindheit u. Jugend in Dänemark u. Schleswig-Holstein. Zum Freundeskreis der Familie zählten die aufgeklärten Adelskreise Nordelbingens ebenso wie die Dichter Johann Arnold Ebert u. Klopstock oder die Theologen Johann Andreas Cramer u. Balthasar Münter. Nach der häusl. Erziehung durch frz. u. dt. Hofmeister bezog S. mit seinem älteren Bruder Christian 1770 die Universität Halle, um Rechtswissenschaften zu studieren. 1772 wechselten beide an die Universität Göttingen, wo Boie sie mit den Hainbündlern bekannt machte. Noch im selben Jahr als Mitglieder aufgenommen, stellten sie 1773 die Verbindung zu Klopstock her, der den Dichterkreis als Verbündeten bei der Verwirklichung einer Gelehrtenrepublik ansah. Im Herbst 1773 in den Norden zurückgekehrt, unternahmen die Brüder 1775 gemeinsam mit Heinrich Christian Kurt Graf von Haugwitz u. Goethe eine früher verabredete Bildungsreise in die Schweiz, auf der sie mit Bodmer, Gessner, Klinger, Lavater, Lenz, Merck, Schlosser u. Voltaire zusammentrafen. Die Rückreise führte über Ulm, Gotha, Erfurt, Weimar, Dessau, Berlin u. Hamburg u. machte die Brüder mit Schubart, Ekhof, Carl Theodor Anton Maria von Dalberg, Wieland, Basedow u. Nicolai bekannt. Im Sommer 1776 schlug S. eine von Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach angetragene Stelle als Kammerherr aus u. ging als Gesandter des Fürstbischofs von Lübeck u. Herzogs von Oldenburg an den dän. Hof nach Kopenhagen. Nach dem Sturz seines Schwa-

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gers Andreas Peter von Bernstorff bekleidete er 1781–1783 das Hofamt eines Obermundschenken an der Eutiner Residenz. 1782 heiratete er Agnes von Witzleben. Längere Reisen führten ihn nach Weimar, wo er erneut mit Goethe zusammentraf, nach Karlsbad u. Teplitz sowie in diplomatischer Mission nach St. Petersburg. 1786–1788 war S. als Amtmann in Neuenburg bei Oldenburg tätig. Nach dem plötzl. Tod seiner Frau ging er 1789 als dän. Gesandter nach Berlin, wo er seine zweite Frau, Sophie Charlotte Eleonore von Redern, kennenlernte, die er 1790 heiratete. Mit ihr, seinem Sohn Ernst u. dem Hofmeister Georg Heinrich Ludwig Nicolovius brach er 1791 zu einer Reise in die Schweiz u. nach Italien auf, von der er 1793 zurückkehrte, um das Amt eines fürstbischöfl. Kammerpräsidenten in Eutin anzutreten. Seine Konversion zum kath. Glauben 1800 veranlasste ihn, sein Entlassungsgesuch beim Fürstbischof Peter Friedrich Ludwig einzureichen u. sich nach heftigen Kontroversen mit dem Eutiner Kreis (Friedrich Heinrich Jacobi, Nicolovius, Voß) in Münster u. dem nahen Lütkenbeck niederzulassen. Durch seine zweite Heirat finanziell unabhängig, widmete er sich fortan ohne Amt seinen religionsgeschichtl. Interessen. 1812–1816 lebte S. auf Schloss Tatenhausen bei Bielefeld, danach, bis zu seinem Tod, auf Schloss Sondermühlen bei Osnabrück. S.s frühe, Freiheit, Vaterland u. Natur huldigende Odendichtung (Mein Vaterland. An Klopstock; Der Harz; Die Natur; Die Freiheit. An Hahn) stand ganz in der Nachfolge Klopstocks. 1775, während seiner Reise in die Schweiz, löste er sich vom beherrschenden Einfluss seines Vorbilds u. wandte sich balladesken Dichtungen, freien Rhythmen u. dem Genre des sangbaren, gereimten Lieds zu, das er seit dieser Zeit als seine eigentl. poetische Ausdrucksform ansah. In der Eutiner Zeit nahm S. zunehmend Abstand von der abstrakten Rhetorik der frühen Freiheits- u. Vaterlandsgesänge u. entdeckte die heimische Landschaft als eigenständiges literar. Thema. 1782 gelang ihm mit dem seiner Braut gewidmeten Lied auf dem Wasser zu singen sein bedeutendster u. reifster lyr. Text. 1823 wurde das Gedicht, das als poetischer Aus-

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druck seines 1780 entstandenen dithyramb. Essays Über die Ruhe nach dem Genuss und über den Zustand des Dichters in dieser Ruhe angesehen werden kann, von Schubert vertont. Seine sympathet., pantheistisch geprägte Naturauffassung u. die Überzeugung, dass Dichtung bar aller poetolog. Einengungen unmittelbarer Begeisterung entspringen müsse, legte S. in seinen 1777 u. 1782 in Boies »Deutschem Museum« veröffentlichten Aufsätzen Über die Fülle des Herzens u. Über die Begeisterung dar. Zusammen mit der 1780 entstandenen Betrachtung Vom Dichten und Darstellen müssen die zwischen 1777 u. 1782 publizierten rhapsod. Essays S.s zu den eigenständigsten Prosazeugnissen des Sturm und Drang gerechnet werden. Mit seiner ebenfalls im »Deutschen Museum« publizierten, streng christlich argumentierenden Verurteilung von Schillers Elegie Die Götter Griechenlands provozierte S. 1788 eine weithin beachtete Debatte über Kunst, Antike, Religion sowie die Gewissens- u. Gedankenfreiheit des Dichters, an der sich neben den Kontrahenten auch Forster, Körner u. August Wilhelm Schlegel beteiligten. Im selben Jahr veröffentlichte S. bei Göschen in Leipzig den utopisch-idyll. Roman Die Insel, der, anders als das postum publizierte Hexameterfragment Die Zukunft oder der unvollendete Bildungsroman Numa, das einzige abgeschlossene epische Werk der Neuenburger Zeit blieb. Ähnlich wie Schiller mit seinem Trauerspiel Die Braut von Messina (1803) unternahm auch S. den Versuch, das antike Theater zu aktualisieren. Richtungweisend für die klassizistische Tragödienform waren S.s zwiespältig aufgenommene, antikisierende Chordramen Timoleon (Kopenhagen 1784), Theseus (Lpz. 1787) u. das 1786 entstandene, erst in den Gesammelten Werken publizierte Schauspiel Servius Tullius. S.s Dramen, die eindringlich auf die Tropik Hölderlins bis hin zu wörtl. Anklängen wirkten, kommt heute allerdings nur noch histor. Interesse zu. Als Resultate seiner intensiven Beschäftigung mit der Antike veröffentlichte S. Übersetzungen von Homers Ilias (Flensburg/Lpz. 1778), mehrerer Dramen von Aischylos (Hbg. 1802) u. ausgewählter Werke Platons (Kö-

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nigsb. 1796/97). Darüber hinaus beschäftigte er sich mit Aristophanes, Diodor, Euripides, Herodot u. Xenophon. Bahnbrechend wirkte vor allem S.s Ilias. In dieser er st en deutschsprachigen Übertragung eines Werks von Homer in Hexametern versuchte S. die homerischen Komposita u. Epitheta nachzubilden, was vielfach zu fantasievollen Wortneuschöpfungen führte. Seine bereits 1783 vollendete Übersetzung der Dramen von Aischylos beeinflusste Schiller nachhaltig bei der Konzeption der Braut von Messina. In der Tradition der Antike sah S. auch seine gesellschaftskrit. Jamben (Lpz. 1784). An diese sich frankophob u. aufklärungskritisch gerierenden Zeitsatiren knüpfte S. in seinen antirevolutionären Oden Die Westhunnen (Eutin 1794) u. Kassandra (ebd. 1796) an. Seine Distanz zum Geschichtsoptimismus u. zur Religionsskepsis der Spätaufklärer machte er auch in seiner vierbändigen Beschreibung Reise in Deutschland, der Schweiz, Italien und Sicilien in den Jahren 1791–92 (Königsb./Lpz. 1794) deutlich. Die entschieden christl. Prägung dieses Werks beeinflusste die frühromant. Autorengeneration u. ließ bereits wesentl. Leitgedanken seiner in 15 Bänden veröffentlichten Geschichte der Religion Jesu Christi (Hbg. 1806–18) erkennen. Als letzte Schrift S.s erschien 1820 in Hamburg, vom Bruder postum publiziert, als Replik auf die Angriffe von Voß die Kurze Abfertigung der langen Schmähschrift des Herrn Hofraths Voß. S. hinterließ ein umfangreiches, rhapsodisch anmutendes Werk, das ungeachtet offenkundiger ästhetischer Schwächen in vielfältiger Weise auf die nachfolgende Literatengeneration gewirkt hat. Weitere Werke: Ges. Werke der Brüder Christian u. F. L. Grafen zu S. 20 Bde., Hbg. 1820–25. Neudr. Hildesh. 1974. – Betrachtungen u. Beherzigungen der Hl. Schrift. 2 Bde., Hbg. 1819 u. 1821. – Die Zukunft. Ein bisher ungedr. Gedicht [...]. Hg. Otto Hartwig. In: AfLg 13 (1885), S. 82–115. – Numa. Ein Roman. Hg. Jürgen Behrens. Neumünster 1968. – Über die Fülle des Herzens. Frühe Prosa. Hg. ders. Stgt. 1970. – Briefe: Briefe F. L.s Grafen zu S. u. der Seinigen an Johann Heinrich Voß. [...]. Hg. Otto Hellinghaus. Münster 1891. – Aus einem frz. Familienarchiv. Stolbergiana u. Gallitziana. Hg. Detlev W. Schumann. In: Westfalen 39 (1961), S. 128–142. – Konvertiten-

295 briefe. Adam Müller u. Dorothea Schlegel an F. L. u. Sophie Stolberg. Hg. ders. In: LitJb N. F. 3 (1962), S. 67–89. – Briefw. zwischen Klopstock u. den Grafen Christian u. F. L. zu S. Hg. J. Behrens. Neumünster 1964 (Anhang: Briefw. zwischen Klopstock u. Herder). – Johann Heinrich Voß u. F. L. Graf zu S. Neun bisher unveröffentl. Briefe. Hg. ders. In: JbFDH (1965), S. 49–87. – Briefe. Hg. ders. Neumünster 1966. Literatur: Otto Brandt: Geistesleben u. Politik in Schleswig-Holstein um die Wende des 18. Jh. Bln./Lpz. 1925. – Pierre Brachin: Le cercle de Münster (1779–1806) et la pensée religieuse de F. L. S. Lyon/Paris 1951. – Detlev W. Schumann: Aufnahme u. Wirkung v. S.s Übertritt zur kath. Kirche. In: Euph. 50 (1956), S. 271–306. – P. Brachin: F. L. v. S. u. die dt. Romantik. In: LitJb N. F. 1 (1960), S. 117–131. – Jürgen Behrens: Numa. Ein unveröffentl. Roman v. F. L. Graf zu S. In: Jb. des Wiener Goethe-Vereins 69 (1965), S. 103–120. – Ingeborg u. J. Behrens: F. L. Graf zu S. Verz. sämtl. Briefe. Homburg v. d. H. 1968. – Dies.n: Nachtr. zum Verz. sämtl. Briefe [...]. In: JbFDH (1971), S. 179–182. – Siegfried Sudhof: Von der Aufklärung zur Romantik. Die Gesch. des ›Kreises v. Münster‹. Bln. 1973. – Brigitte Schubert-Riese: Das literar. Leben in Eutin im 18. Jh. Neumünster 1975. – J. Behrens: F. L. Graf zu S. Porträt eines Standesherrn. In: Staatsdienst u. Menschlichkeit [...]. Hg. Christian Degn u. Dieter Lohmeier. Ebd. 1980, S. 151–165. – Wolfgang Martens: S. u. die Französische Revolution. In: Les romantiques allemands et la Révolution française. Hg. Gonthier-Louis Fink. Straßb. 1989, S. 41–54. – Ottmar Wolf: Die Fürstin Amalie v. Gallitzin u. F. L. Graf zu S.-S. Ein Beitr. zur Stellung des Gallitzinkreises in der dt. Lit.- u. Geistesgesch. Engelsbach 1992. – Wolfgang Wucherpfennig: ›das Wort gesellig ist mir verhaßt worden‹. Freiheit u. Vaterland, Natur u. Familie bei F. L. Graf zu S. In: Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literar. Aufklärung. FS Wolfram Mauser. Hg. Ortrud Gutjahr u.a. Würzb. 1993, S. 352–367. – Westf. Autorenlex. 1. – York-Gothart Mix: Weibl. Literaturbegeisterung, die ›Bremer Beiträge‹ u. der empfindsame Freundschaftskult der ›wenigen Edlen‹. Die unveröffentlichten Briefe der Gräfin Charlotte Friederike Christiane zu S.-S. u. ihrer Söhne Christian u. F. L. an Johann Arnold Ebert. In: Lenz-Jb. 4 (1994), S. 123–142. – Marcel Monseler: La perception contrastée de l’Église catholique en Italie. J. G. Seume et F. L. S. In: L’image dans les lettres allemands et françaises au XVIIIe siècle. Das Bild Italiens in der dt. u. frz. Lit. des 18. Jh. Hg. G.L. Fink. Strasbourg 1994, S. 83–96. – Gert Theile: Aufschwung u. Refugium. Studien zu Dichtung u.

Stolberg Stolberg geistiger Welt F. L. Ss. Stgt. 1994. – Dirk Hempel: F. L. Graf zu S. (1750–1819). Staatsmann u. polit. Schriftsteller. Weimar 1997. – Ders.: Zeit für die Musen u. Zeit für den Genuss der Natur. F. L. Graf zu S. als Landvogt in Neuenburg. Oldenb. 2000. – Elmar Mittler u. Paul Kahl (Hg.): ›Wohne immer in meinem Herzen u. in den Herzen meiner Freunde allesbelebende Liebe!‹ F. L. Graf zu S. (1750–1819). Aus der literarisch-histor. Sammlung des Grafen Franz zu S. 1210-1750-2001. Ausstellungskat. Gött. 2001. – Frank Baudach (Hg.): F. L. Graf zu S. (1750–1819). Beiträge zum Eutiner Symposium im Sept. 1997. Eutin 2002. – Eleoma Joshua: F. L. Graf zu S. and the German Romantics. Oxford 2005. – Jenny Lagaude: Die Konversion des F. L. Graf zu S. Motive u. Reaktionen. Bln. 2006. – F. Baudach u. Ute Pott (Hg.): F. L. Graf zu S. (1750–1819). Standesherr wider den Zeitgeist. Ausst. der Eutiner Landesbibl. u. des Gleimhauses Halberstadt. Ausstellungskat. Eutin 2010. York-Gothart Mix

Stolberg Stolberg, (Henriette) Katharina Gräfin zu, * 5.12.1751 Bramstedt/Holstein, † 22.2.1832 Peterswaldau/Schlesien. – Erzählerin. S. erlebte im Kreis ihrer Geschwister eine glückl. Kindheit teils in Kopenhagen, teils auf dem Landschloss Rungsted auf Seeland. Sehr früh schon trat S., von Klopstock in das Studium der alten u. neuen Sprachen, der antiken u. zeitgenöss. Literatur eingeführt, in Wetteifer mit ihren älteren Brüdern Christian u. Friedrich Leopold. Sie knüpfte briefl. Beziehungen zu vielen bekannten Zeitgenossen: u. a. zu Voß, Gleim, Johann Georg Jacobi, zu den Zürcher Theologen Johann Jacob Heß, Johann Konrad Pfenninger u. Lavater. Eine lebenslange Freundschaft verband sie mit Claudius u. dessen Familie. 1771 kaufte S. sich in das adlige Damenstift Wallé auf Seeland ein, wohin sie sich während ihres langen, unruhigen Lebens immer wieder zurückzog. 1788 übernahm sie die Erziehung der beiden Töchter Friedrich Leopolds, der die Schwester durch seinen Übertritt zur römisch-kath. Kirche in heftige Gewissensqualen stürzte. Die eigene Konversion (1802) machte sie jedoch bald darauf wieder rückgängig. 1806–1817 lebte S. in »Seelenehe« mit Gottlob Friedrich Ernst Schönborn.

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Der Ausarbeitung ihrer poetischen Einfälle standen S.s Rastlosigkeit sowie ihre »Scheu vor der großen Mühe des Ordnens« entgegen, sodass sie nur die zwei romantisch-rhapsod. Erzählungen Rosalia u. Emma (in: Deutsches Museum, 1779), das Drama Moses (in: ebd., 1788), die Erzählung Fernando und Miranda (in: Jacobis Taschenbuch für 1795) u. das Gespräch Die Blumen (in: Jacobis Iris. Ein Taschenbuch für 1803) hinterließ. Literatur: Eduard Jacobs: K. Gräfin zu S.-S. In: ADB. – Christian Jenssen: Licht der Liebe. Lebenswege dt. Frauen. Hbg. 1938. – Waltraud Strickhausen: Im Schatten berühmter Brüder. K. Gräfin zu S.-S. (1751–1832). In: Claudius-Gesellsch. 6 (1997), S. 18–39. Julei M. Habisreutinger / Red.

Stoll, Heinrich Alexander, * 8.12.1910 Parchim, † 4.3.1977 Potsdam; Grabstätte: Thyrow bei Zossen. – Erzähler, Autor wissenschaftlicher Arbeiten zu Geschichte u. Archäologie.

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Bearbeiter u. Herausgeber war S. bestrebt, vergangene Kulturen – oft unter Verwendung belletristischer Mittel – zu verlebendigen u. neu zugänglich zu machen (Sagenbücher u. andere). Weitere Werke: Capri. Gött. 1937 (Tgb.). – Der Tod des Hypathos. Lpz. 1942 (N.). – Kampf um Troja. Bln./DDR 1954 (nach Gustav Schwab). – Rebellion um Leveke. Lpz. 1955 (N.). – Die Irrfahrten des Odysseus. Bln./DDR 1956. – Scherzo. Lpz. 1957 (E.en). – Die Taten des Herakles. Bln./ DDR 1957. – Der Zauberer v. San Silvestro. Ebd. 1959 (N.). – Laternenballade. Lpz. 1960 (E.). – Winckelmann. Seine Verleger u. seine Drucker. Stendal 1960 (Ess.). – Kudrun. Nibelungen. Bln./ DDR 1960. – Die Brücke am Janiculus. Ebd. 1962 (röm. Sagen). – Götter u. Giganten. Lpz. 1964 (R.). Literatur: H. S.: Von mir über mich. In: Evang. Pfarrerbl. Schwerin 11 (1970), S. 279 f. – H. A. S.: Bibliogr. Kalenderbl. F. 12. Bln./DDR 1970. – Ingeborg Lohfink: Eine Freundschaft um Johann Heinrich Voß. Aufschlußreicher Briefw. zwischen H. A. S. u. Siegfried Heuer. In: Dies.: Vorpommern. Begegnungen mit dem Land am Meer. Rostock 1991, S. 95–101. – Wolfgang Kaelcke: H. A. S. In: Ders.: Parchimer Persönlichkeiten. Tl. 4, Parchim 1999, S. 22–28. – Burkhard Unterdörfer: Der mecklenburg. Schriftsteller H. A. S. u. sein Erfolgsroman ›Der Traum von Troja‹. In: HeinrichSchliemann-Gesellsch. 2003, S. 55–64. Gunnar Müller-Waldeck / Red.

Der aus einer Beamtenfamilie stammende u. in Mecklenburg aufgewachsene S. studierte Geschichte u. Kunstgeschichte. 1936 mit einem Romanerstling über den mecklenburgischen Kirchenmann Theodor Klifoth hervorgetreten, hatte er, der sich entschieden für die Bekennende Kirche engagierte, Repressalien der Nationalsozialisten zu erdulden. Seit Stoll, Joseph Ludwig (fälschlich: Johann 1937 unternahm er Reisen nach Dänemark, Ludwig), Taufname: Joseph Anton Xaver in die Niederlande, die Schweiz u. nach ItaNepomuk, * 31.3.1778 Wien, † 22.6.1815 lien. Neben einem Studium der Archäologie Wien. – Lyriker, Dramatiker. begann er als Korrespondent ausländ. Blätter zu publizieren. 1943 wurde er zu einer Der Sohn des angesehenen Arztes Maximilian Strafeinheit eingezogen. In der Nachkriegs- Stoll u. der Franziska Molitor von Mühlfeld zeit wirkte der überzeugte Christ S. an der erbte nach dem frühen Tod der Eltern ein kulturellen Erneuerung Deutschlands mit u. beträchtl. Vermögen, das ihm lange Aufentwar 1957/58 an Stätten histor. Forschung tä- halte in Italien, Frankreich u. Belgien ertig. Von 1958 bis zu seinem Tod lebte er in möglichte. Danach lebte er in Berlin, wo er seinem Haus »Ithaka« im märk. Thyrow. bei Fichte Vorlesungen hörte, u. verbrachte Unter seinen historisch-biogr. Romanen, der anschließend einige Zeit in London. Nacherzählerischen Hauptleistung S.s, ragen her- dem sein Vermögen fast aufgebraucht war, vor Der Traum von Troja (Lpz. 1956; eine ließ er sich 1801 in Weimar nieder, wo er bald Schliemann-Darstellung), Die Höhle am toten in Kontakt zu Schiller u. Goethe trat, die ihn Meer (Bln./DDR 1960), der zweiteilige Jo- zeitweilig förderten. So wurde S.s Alexanhann-Heinrich-Voß-Roman Der Junge aus driner-Lustspiel Scherz und Ernst (eine freie Penzlin (ebd. 1962) u. Der Löwe von Eutin (ebd. Bearbeitung des Stücks Dèfiance et malice von 1966), schließlich der Winckelmann-Roman Michel Dieulafoy) 1803 zusammen mit Tod in Triest (ebd. 1968). Auch als Sammler, Schillers Wallensteins Lager aufgeführt, Goethe

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Das schmale Œuvre S.s besteht – soweit koppelte 1806 die Aufführung seiner Laune des Verliebten mit S.s Komödie Streit und Liebe erhalten – vornehmlich aus kurzen Verskomödien u. persönlich gehaltener Lyrik, die (auch u. d. T.: Das Duell). Über Goethes Empfehlung kam S. 1807 auf empfindsame u. anakreont. Vorbilder nach Wien, wo er eine Anstellung als Thea- verweist. Als Persönlichkeit wusste S. zu beterregisseur erhielt. Dort zählte er bald zu eindrucken, wie sein illustrer Bekannten- u. den bekanntesten Persönlichkeiten der Stadt Unterstützerkreis belegt. Ludwig van Beetu. war u. a. mit Friedrich Schlegel u. Ludwig hoven, Franz Schubert u. Carl Maria von van Beethoven befreundet. 1808 gab er mit Weber vertonten einige Lieder S.s. Weitere Werke: Amors Bild (1808 in: S. / Leo v. Leo von Seckendorff die Zeitschrift »Prometheus« heraus, zu deren Beiträgern Auto- Seckendorff: ›Prometheus‹, H. 2). – Der Socher u. ren wie Goethe, Wieland sowie August Wil- der Pocher (Lustspielfragm., Teildruck 1812 in Johelm u. Friedrich Schlegel zählten. Die Zeit- hann Erichsons ›Neuer Thalia‹). – Die Kunst zu fliegen (Dramenfragm., Teildruck ebd.). – Der schrift hatte sich zum Ziel gesetzt, zwischen wandernde Fatalist (brieflich erwähnt 1813, ungeWeimar u. Wien, zwischen Klassik u. Ro- druckt). – Gedichte in Seckendorffs Musenalmamantik zu vermitteln. Das von ihm 1809 nachen für 1807 u. 1808, Friedrich Schlegels herausgegebene Taschenbuch Neoterpe ent- ›Deutschem Museum‹, Johann Erichsons Musenhielt vornehmlich eigene Werke, darunter almanach für 1814. sein Meisterwerk Die Schnecken. Die den Literatur: Wurzbach. – Eberhard Sauer: J. L. S. frühromant. Lesedramen verwandte, origi- In: GRM 9 (1921), S. 313–319. – Rudolf Hauser: nelle Verskomödie ragt mit ihrem Wort- u. Zur Gesch. der Wiener Ztschr. Prometheus (1808). Bildwitz, ihrer absurden Handlung u. der In: Euph. 30 (1929), S. 308–328. – Herbert Seidler: Österr. Vormärz u. Goethezeit. Wien 1982, meisterhaften Versbehandlung aus dem S. 111–116. – Kosch. – Wynfrid Kriegleder: J. L. S. Schaffen S.s heraus. In: ÖBL. Peter-Henning Haischer 1809 schrieb S. anlässlich der Hochzeit Napoleons mit der Tochter des österr. Kaisers die Ode Die Vermählung des Genius. Napoleon Stolle, auch: der Alte S. – Mittelhochgewährte ihm nach einem persönl. Gespräch deutscher Sangspruchdichter, 13. Jh. ein Jahresgehalt. Dessen Unterstützung Genauere Angaben über Lebenszeit u. -umführte allerdings zum Verlust seiner Anstel- stände des schon in der Großen Heidelberger (C) lung am Theater, was ihn bald in finanzielle u. der Jenaer Liederhandschrift (J) als S. beSchwierigkeiten brachte. So plante S. ein zeichneten Sangspruchdichters sind nicht Epos auf Napoleon, um weitere Unterstüt- möglich. Schon in C hat er den Beinamen der zung zu erhalten. Für das Vorhaben bemühte »Alte«, wohl in Abgrenzung zu einem in der er sich um die Verwendung Wielands bei Kolmarer Liederhandschrift als »Junger Stolle« Napoleon, was Wieland aber verweigerte bezeichneten Dichter. Den Meistersängern (Brief an Ludwig Wieland, 4.6.1810). Justinus galt er als einer der zwölf Alten Meister. Die Kerner, der S. 1809 bei seinem Wiener Auf- Vornamen Stefan oder Friedrich, die Berufsenthalt kennen u. schätzen gelernt hatte, bezeichnung Panzermacher u. verschiedene vermittelte ihm zur gleichen Zeit einen Ver- Töne außer der »Alment« wurden ihm erst in leger für seine unvollständigen Poetischen der Meistersängertradition um 1500 zugeSchriften, von denen 1811 nur der erste Band schrieben. Als sicher kann wohl gelten, dass erschien. er der Erfinder der »Alment« (= gemeinNapoleons Niederlage bei Leipzig 1813 schaftlich genutztes Acker- u. Weidegebiet) besiegelte auch S.s Schicksal. Seine frz. Pen- ist, eines schon im 13. Jh. u. auch im späteren sion wurde nicht mehr gezahlt, der Dichter Meistergesang sehr beliebten Tones; die älstarb in größtem Elend in Wien (vgl. Ludwig teste sicher datierbare Strophe in der »AlUhlands Gedicht Auf einen verhungerten Dichter, ment« nimmt auf Ereignisse aus den Jahren 1816). Friedrich Schlegel bezahlte das Be- 1235/37 Bezug. Aufgrund der Überliefegräbnis. rungssituation ist nicht sicher, ob von S.

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überhaupt eine Textstrophe erhalten ist: In J, der wichtigsten Handschrift für die Überlieferung von Liedern in der »Alment«, sind 40 Strophen unter S.s Namen, alle in diesem Ton, überliefert; acht davon finden sich ebenfalls in der nach Textautoren ordnenden Handschrift C, werden dort allerdings anderen Dichtern zugeschrieben. Die Angabe S. ist also in J, wo die Texte auch sonst nach den Erfindern der Töne geordnet sind, auf den Erfinder der »Alment« zu beziehen u. sagt nichts über den Textdichter aus. Thematisch umfassen die in J überlieferten Strophen ein breites Spektrum: Geistliches, v. a. Marienpreis, Moraldidaxe, Herrscherkritik, Frauenpreis u. anderes. Formal zeigt sich große Vielfalt: so werden Exempel, Rätsel u. sprichwortartige Wendungen zur Darstellung benutzt. Ausgaben (der in J überlieferten Strophen): Wolfgang Seydel: Meister S. nach der Jenaer Hs. Diss. Lpz. 1892. – Volker Zapf: S. u. die Alment. Einf. – Edition – Kommentar. Gött. 2010. Literatur: Helmuth Tervooren: Einzelstr. oder Strophenbindung? Diss. Bonn 1967, S. 124–137. – Gisela Kornrumpf u. Burghart Wachinger: Alment. In: Gedenkschr. Hugo Kuhn. Stgt. 1979, S. 356–411. – Horst Brunner u. Johannes Rettelbach: ›Der vrsprung des maystergesangs‹. In: ZfdA 114 (1985), S. 229. – RSM 5 (Lit.). – G. Kornrumpf: S. In: VL. – Volker Zapf: ›Diß liet stet alleyn oder mangelt noch eins‹. Beobachtungen zur AlmentÜberlieferung u. editor. Konsequenzen. In: Schrift – Text – Edition. FS Hans Walter Gabler. Hg. Christiane Henkes u. a. Tüb. 2003, S. 127–136. Elisabeth Wunderle / Red.

Stolle, Ferdinand, eigentl.: Ludwig Ferdinand Anders, * 28.9.1806 Dresden, † 28.9. 1872 Dresden. – Journalist, Erzähler, Lyriker.

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freisinnig-oppositionelles Blatt die nach 1848 einsetzende Restauration u. wurde deshalb von dem Verleger u. Publizisten Ernst Keil (1816–1878) gekauft u. unter S.s Leitung als »Illustrirter Dorfbarbier« in besserer Ausstattung fortgeführt. Keil, der nach einer Haftstrafe wegen »Aufreizung zur Revolution« die bürgerl. Ehrenrechte verloren hatte, gewann den langjährigen Freund S. als »verantwortlichen Redakteur« für seine dem 48er-Erbe verpflichtete »Gartenlaube« (1853–1862, d.h. bis Keil auch offiziell die alleinige Verantwortung übernehmen konnte). Sein soziales Engagement bewies der durch seine Schriften wohlhabend gewordene S. auch durch verschiedene Stiftungen. Neben dem »humoristischen Roman« Deutsche Pickwickier (3 Bde., Lpz. 1841), einer Kleinstadtsatire, begründeten vor allem S.s insgesamt sechs histor. Romane um den von ihm hochverehrten Napoleon (u. a. 1813. 1838. Der neue Caesar. 1841. Napoleon in Ägypten. 1844. Alle Lpz.) seine außerordentl. Popularität. Napoleons Leistungen auf gesetzgeberischem, ökonomischem u. sozialem Gebiet werden dabei unter Kritik der folgenden Restaurationsepoche herausgestellt: In Elba und Waterloo (3 Bde., ebd. 1838) ziehen sich Anhänger des Kaisers nach seinem Scheitern resigniert aus dem verfinsterten Europa ins freie Louisiana zurück. Weitere Werke: Ein Weihnachtsbaum. Grimma 1847 (L.). – Palmen des Friedens. Lpz. 1855 (Lyrikanth.). – Ausgew. Schr.en in 30 Bdn., ebd. 2 1859–64. N. F. in 12 Bdn., ebd. 1865. Literatur: Rolf Baumgärtel: F. S. u. sein ›Illustrirter Dorfbarbier‹ v. Anno 1857. Braunschw. 1996. – Martin Krichbaum: F. S. u. Karl May. In: Mitt.en der Karl-May-Gesellsch. 29 (1997), 112, S. 14–18. – Barbara Beßlich: Der dt. NapoleonMythos. Lit. u. Erinnerung 1800–1945. Darmst. 2007, S. 270–277 u. ö. Volker Neuhaus / Red.

S., Sohn eines kgl. Leibpostillions, wurde früh Vollwaise u. von einem Onkel, dem Amtskassierer Stolle, erzogen, dessen Namen Stolle, Gottlieb, auch: Leander (von er aus Dankbarkeit annahm. Nach Besuch der Schlesien), * 3.2.1673 Liegnitz, † 4.3.1744 Kreuzschule studierte er seit 1827 in Leipzig Jena. – Lyriker, Litterärhistoriker. die Rechte u. arbeitete danach als Journalist u. freier Schriftsteller. 1844 gründete er eine Nach den Breslauer Gymnasialjahren, in deeigene Zeitschrift, »Der Dorfbarbier«, die nen er bereits Gelegenheitsgedichte u. Epidank der Popularität des Romanciers S. weite gramme verfasst hatte, nahm S. 1693 seine Verbreitung fand. Sie überlebte als einziges Studien der Jurisprudenz, des Naturrechts u.

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der Politik an der Universität Leipzig auf. Er u. deren Urhebern in der Stollischen Bibliothec. beschäftigte sich mit den Werken Christian Ebd. 1733–37. 1740. 1741. 1743 (Ztschr.). Ausgabe: Ausgabe: Neukirch, Bd. 4, Register; Thomasius’ u. Pierre Poirets u. übersetzte frz. Gedichte. 1695 verließ S. Leipzig u. war Bd. 5, bes. S. 520–624; Bd. 6, bes. S. 5–16, 359–433 während längerer Zeit in Schlesien Hofmeis- u. Register. Lit.: Literatur: Angelo George de Capua: G. S. and ter. 1701 immatrikulierte er sich an der Universität Halle. 1703/04 begleitete er seinen the Theme of Love in Poetry. In: Monatshefte Schützling Johann Ferdinand von Halmen- 53 (1961), 7, S. 347–352. – Neukirch, Bd. 5, S. XXII–XXX. – Martin Mulsow: Eine Reise durch die feld u. dessen Vetter auf einer Bildungsreise Gelehrtenrepublik. Soziales Wissen in G. S.s Jourdurch Deutschland u. nach den Niederlan- nal der Jahre 1703–1704. In: Kultur der Kommuden, von der verschiedene handschriftl. Fas- nikation. Die europ. Gelehrtenrepublik im Zeitalsungen eines Reisejournals überliefert sind. ter v. Leibniz u. Lessing. Hg. Ulrich Johannes 1705 verteidigte er an der Halle’schen Fride- Schneider. Wiesb. 2005, S. 185–201. – Historia liriciana eine Dissertation über heidn. Moral- teraria. Neuordnungen des Wissens im 17. u. 18. Jh. philosophie. In Jena, wohin er seinem Lehrer Hg. Frank Grunert u. Friedrich Vollhardt. Bln. Johann Franz Buddeus folgte, erlangte er 2007, Register. Hanspeter Marti 1709 den Magistergrad u. 1713 die Stellung eines Adjunkten an der Philosophischen FaStolper, Armin, * 23.3.1934 Breslau. – kultät. 1714 wurde er Direktor des GymnaDramatiker/Dramaturg, Erzähler, Lyrisiums in Hildburghausen, 1717 Professor der ker, Essayist. Politik an der Universität Jena. 1730 übernahm er den Vorsitz der Jenenser Deutschen S. begann 1952 in Jena ein Philosophie- u. Gesellschaft, 1738 das Amt des Universitäts- Germanistikstudium, wechselte aber wenig bibliothekars, 1743 einen zusätzl. Lehrauf- später in den Theaterbereich. Er arbeitete an trag für Ethik. Dem Leitbild des pragmatisch mehreren ostdt. Bühnen als Dramaturg, u. a. ausgerichteten, weltmänn. Gelehrten ver- in Senftenberg (1953–1959) u. Berlin pflichtet, sah er – wie Thomasius – seine (1961–1963: Deutsches Theater, 1963–1966: Aufgabe darin, die Studenten mit praxisrele- Volksbühne). Zudem leitete S. 1971/72 die Arbeitsgruppe »Neue Werke« am Landesvanten Kenntnissen auszurüsten. Die meisten Schriften S.s sind Kompilatio- theater Halle, bevor er 1972 Chefdramaturg nen aus seinen Vorlesungen. Nachdem er – am Deutschen Theater wurde. 1970 erhielt er auch in seinem Sinneswandel Thomasius zusammen mit Werner Mittenzwei den Lesfolgend – von seinen spiritualistischen Nei- sing-Preis der DDR, 1972 den Kunstpreis des gungen abgekommen war, wandte er sich FDGB. Seit 1976 lebt S. freischaffend in Berdem frühaufklärerischen Eklektizismus zu. lin. Der Durchbruch als Schriftsteller gelang In vier Handbüchern, von denen jedes den Gegenständen einer Fakultät gewidmet ist ihm mit dem viel diskutierten Industriestück (Kurze Anleitung zur Historie der Gelahrheit. Zeitgenossen (in: Theater der Zeit [TdZ] 24, Halle 1718. Jena 21724. 31727. 41736. Anlei- 1969, Nr. 11, S. 63–80. Urauff. Halle 1969), tung zur Historie der medicinischen Gelahrheit. das auf der Grundlage eines sowjetischen Jena 1731. Anleitung zur Historie der theologi- Filmszenarios zeigt, wie individuelles Hanschen Gelahrheit. Ebd. 1739. Anleitung zur His- deln im Großbetrieb zur gesellschaftsveräntorie der juristischen Gelahrheit. Ebd. 1745), dernden Tat werden kann. Ähnliches gilt für vermittelte S. den Wissbegierigen die seiner das Drama Himmelfahrt zur Erde (in: TdZ 26, Ansicht nach für einen klugen u. weisen 1971, Nr. 6, S. 52–72. Urauff. Halle 1971) nach Sergej Antonovs Novelle Der zerrissene Menschen erforderl. Bücherkenntnisse. Weitere Werke: Leanders Vorrede wieder die Rubel. Hier sucht S. am Beispiel des ambitioSchmeichler u. Tadler der Poesie. In: Herrn v. nierten Intellektuellen Vitali Pastuchow darHoffmannswaldau u. andrer Deutschen [...] Ge- zustellen, in welcher Weise sozialistische Eidichte. Tl. 6, Lpz. 1709. – Historie der heydn. Mo- geninitiative u. Forderungen des Kollektivs rale. Jena 1714. – Kurtze Nachricht v. den Büchern harmonisierbar sind. Das bedeutendste Werk

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des Autors (auch in dessen Selbstwahrneh- schwarzgerändert. Rostock 1982 (L.). – Ballade vom mung) ist das Schauspiel Klara und der Gänse- aufsässigen Eisenbahner. In: TdZ 41 (1986), Nr. 5, rich (in: TdZ 28, 1973, Nr. 10, S. 40–64. S. 51–63 (D.). – Unterwegs mit einem Entertainer. Urauff. Halle 1973. Neufassung 1977/78). In Rostock 1988 (E.en). – Lausitzer Bekenntnisse. Görlitz [1992]. – Wir haben in der DDR ein ganz der Tradition von Friedrich Wolfs Landstück schönes THEATER gemacht. Bln. 1999. – GespräBürgermeister Anna (1950) kehrt die Protago- che auf dem Friedhof mit dem anwesenden Herrn nistin nach acht Jahren Abwesenheit als en- Hacks. Bln. 2003. – karfreitag kommen die komgagierte Bürgermeisterin in ihr Heimatdorf munisten. zwanzig satir. feuilletons. Böklund zurück, wo sie harte Auseinandersetzungen 2008. – Beaujolais u. Bücher. Schkeuditz 2009. mit dem egoistischen LPG-Vorsitzenden Literatur: Hermann Kähler: Arbeit u. PersönHeinrich Basdorf bestehen muss. Der lineare lichkeit in Theaterstücken A. S.s. In: Stücke, a.a.O., Handlungsverlauf wird jedoch durch die S. 341–357. – Gottfried Fischborn: [Nachw.:] PoeFantasien des Gänserichs unterbrochen, in tische Diskussionsbeiträge für Theater. In: A. S.: denen S. das Hauptthema akzentuiert: »die Concerto dramatico, a.a.O., S. 218–232. – Martin Frage, wie soll man leben?« (zit. nach Sailer: Schmidt: [Nachw.:] Vom schönen Muß des Lebens. In: A. S.: Lausitzer Trilogie, a.a.O., S. 235–247. – Zur dramatischen Konzeption, a.a.O., S. 392). Marlis Sailer: Untersuchungen zum dramat. Werk Auch die Dramen Der Schuster und der Hahn (in: v. A. S. Diss. Halle-Wittenberg 1981. – Dies.: Zur TdZ 31, 1976, Nr. 1, S. 53–64. Urauff. Wei- dramat. Konzeption u. Autorenentwicklung v. A. S. mar 1976) u. Die Vogelscheuche (in: TdZ 35, In: Hallesche Studien zur Wirkung v. Sprache u. 1980, Nr. 6, S. 62–72. Urauff. Potsdam 1981), Lit. 9 (1985), S. 31–38. – Dies.: A. S. In: Lit. der Dt. die mit Klara und der Gänserich die sog. Lausit- Demokrat. Republik. Hg. Hans Jürgen Geerdts. zer Trilogie bilden (Bln./DDR 1980), enthalten Bd. 3, Bln./DDR 1987, S. 386–402, 611–614. Wolf Gerhard Schmidt surreale Elemente, mit deren Hilfe unterschiedlichste Lebensanschauungen dargestellt u. Außenseiterpositionen gerechtfertigt Stolterfoht, Ulf, * 8.6.1963 Stuttgart. – werden. Dasselbe Ziel verfolgt die Prosa- Lyriker, Übersetzer. sammlung Der Theaterprofessor und andere Käuze (Rostock 1977), durch die S. als Erzähler Nach einem Studium der Allgemeinen auf sich aufmerksam macht. Er versucht hier Sprachwissenschaft u. Germanistik in Tüin dreizehn Geschichten die Einzigartigkeit bingen u. Bochum, ersten literar. Erfolgen u. des Menschen herauszuarbeiten. Seit der der Übersiedelung nach Berlin, wo er seit Wende ist S. »ein Dichter ohne Verlag, ein 1994 lebt, legte S. 1998 den ersten Band seiDramaturg ohne Theater, ein Dramatiker nes fortlaufenden Projekts fachsprachen mit ohne Bühne« (Wählen Sie die Kandidaten der jeweils 9 x 9 Gedichten vor (bisher 4 Bde., Nationalen Front ... Notizen aus dem neuen Basel u. a. 1998–2009). Zentrales Interesse seiner Lyrik sind von Anfang an die MechaDeutschland. Bln. 1995, S. 3). Wie Peter Hacks nismen sprachgenerierter Sinnzuschreibung versteht er den Beitritt der DDR zur Bunu. deren Aporien. Mit dem Lyrikverständnis desrepublik als histor. Rückschritt u. verklärt von Vorbildern wie Reinhard Priessnitz u. in Meine geliebte stolze Republik (Böklund 2007) Oskar Pastior korrespondierend, zielt das die SED-Diktatur trotz gegenteiliger BeteueGedicht bei S. nicht auf Repräsentation, sonrungen (vgl. S. 12) zum antikapitalistischen dern dient der Analyse von VerstehensproBollwerk der Humanität (vgl. S. 250–252). zessen. Charakteristisch für S.s Schreiben ist Weitere Werke: Das Geständnis. In: TdZ 18 eine von Sprachwitz u. »kombinatorische[r] (1963), Nr. 24, S. 1–14 (D.). – Zwei Physiker. In: Ironie« (Sebastian Kiefer) getragene Verebd. 20 (1965), Nr. 24, S. 1–20 (D.). – Stücke. Bln./ schränkung von Experiment u. SprachtheoDDR 1974. – Jeder Fuchs lobt seinen Schwanz. Rostock 1978 (Ess.s). – Die Karriere des Seiltänzers. rie. Sozio-, ideo-, dialektale u. fremdsprachiNeun E.en u. ein Stück. Ebd. 1979. – Concerto ge Idiome sowie unterschiedlichste Intertexte dramatico. Nach Goethe, Voltaire u. Bulgakow. dienen als Materialbasis zur Reflexion u. linguistischer Bln./DDR 1979 (drei Dramen). – Poesie trägt einen sprachphilosophischer weiten Mantel. Bln./DDR 1982. – Weißer Flügel Theoreme (insbes. von Frege, Wittgenstein,

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Chomsky, Bense). Dabei werden referierende u. Abhängigkeit zwischen Eigen- u. Fremdu. performative Sprachreflexion miteinander text auf. S. wurde u. a. mit dem Christine-Lavantverflochten u. das Moment der Sprecherbeobachtung im expliziten Verweis auf die ei- Preis (2001), dem Anna-Seghers-Preis (2005), genen poetischen Verfahren (»geahme und dem Peter-Huchel-Preis (2008), dem Erlanger zitat«) u. die literaturbetriebl. Produktions- Literaturpreis für Poesie als Übersetzung (gemeinsam mit Barbara Köhler, 2009) u. bedingungen potenziert. Innerhalb dieser sprachreflexiven Poetik dem Heimrad-Bäcker-Preis (2011) ausgebedeutet das poetolog. Bekenntnis zu einem zeichnet. »antisemantische[n] Grundimpuls« sowohl Literatur: Sebastian Kiefer: Satzmaterial, IchAbgrenzung gegen mimet. Dichtungskon- material. In: NDL 51 (2003), H. 3, S. 157–167. – zepte als auch Distanznahme zu eindimen- Indra Noël: Sprachreflexion in der deutschsprasionaler gesellschaftskrit. Funktionsbestim- chigen Lyrik 1985–2005. Bln. 2007, S. 120–124. Daniel Graf mung. Keineswegs jedoch meint es ein Verharren in der Immanenz der metasprachl. Binnenlogik. S.s Lyrik hat vielmehr eine Stolterfoth, Wilhelmine Julie Adelheid eminent polit. Dimension, nicht nur weil sie von, * 11.9.1800 Eisenach, † 17.12.1875 als Sprachkritik zgl. Ideologiekritik betreibt, Wiesbaden. – Lyrikerin, Verfasserin von sondern auch weil sie in der Überblendung Reise- u. Sagenbüchern. von histor. Diskurs u. Gegenwartsbefund die Frage nach dem Selbstverständnis der polit. Ihre frühe Jugend verbrachte die Tochter eiLinken in postkommunistischer Zeit um- nes preuß. Oberstleutnants in Erlangen, wokreist, zuletzt am deutlichsten im nomentano- hin die Mutter nach dem Tod ihres Mannes manifest (Ostheim/Rhön 2009). Überhaupt 1805 gezogen war. 1812 trat S. in das von lässt sich gegenüber den frühen fachsprachen- Charlotte von Stein gegründete Fräuleinstift Texten seit dem preisgekrönten Langgedicht Birken bei Bayreuth ein. Nach einer Reise in holzrauch über heslach (Basel/Weil am Rhein die Rheingegend 1815 beschloss die Mutter, 2007) eine Zunahme narrativer Sprechweisen nach Bingen überzusiedeln. Vier Jahre später beobachten. Verweist der Titel auf den bezogen Mutter u. Tochter eine Wohnung in Stuttgarter Stadtteil als Herkunftsort des Langenwinkel bei Geisenheim, wo S.s wohlAutors, markiert jedoch bereits sein Status als habender Onkel Hans Karl Freiherr von Heißenbüttel-Zitat das Moment der Über- Zwierlein lebte. In dessen Bibliothek vertiefte formung, dem die »reste von biographie« S. ihre schon früh erworbenen Kenntnisse in unterworfen werden. der älteren dt. u. antiken Literatur. Hier beIntegraler Bestandteil von S.s Schreiben gann sie auch, ihre ersten Gedichte zu sind die Übersetzungen literar. Wahlver- schreiben, die in verschiedenen Zeitungen, wandter wie Gertrude Stein (Winning His Way Zeitschriften u. Anthologien publiziert wur/ wie man seine art gewinnt. Basel u. a. 2005) u. den (»Der Gesellschafter oder Blätter für Jeremy Prynne (Poems/Gedichte. Zus. mit Hans Geist und Herz«; »Morgenblatt für gebildete Thill. Heidelb. 2007), die zwischen Texttreue Stände«; Lieder vom Kölner Dome. Gesammelt u. Anverwandlung an den eigenen Individu- und mit einem Vorwort begleitet von J. B. Rousseau. alduktus vermitteln. Sie sind zgl. im Kontext Köln 1823; eine Aufstellung bei Carl W. von S.s übergeordneter Fragestellung nach Schindel: Die deutschen Schriftstellerinnen des 19. der (Un-)Möglichkeit hermeneut. Annähe- Jahrhunderts. Bd. 2, Lpz. 1825, S. 33 f.). rung zu sehen. Freie Übertragungen, die Nach dem Tod der Mutter 1825 lebte S. im »weniger mit hilfe des wörterbuchs als der Haus ihres Onkels. Zusammen mit dessen anklangsmaschinerie« zustande kommen Familie unternahm sie ausgedehnte Reisen (traktat vom widergang. Ostheim/Rhön 2005), nach England, in die Schweiz u. nach Oberwerfen vor dem Hintergrund einer sprach- italien. 1832 lernte S. die Witwe Jean Pauls experimentellen Poetik der Materialverar- kennen u. begleitete diese nach München, wo beitung die Fragen nach Unterscheidbarkeit sie in Kontakt mit August von Platen trat.

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Ihrem in Stanzenstrophen gegliederten ro- schichte des Landstrichs werden besonders mant. Versepos über die Geschichte des engl. volkstüml. Sagen, Legenden u. Bräuche in Königs Alfred aus dem 9. Jh. (Alfred. Roman- Erinnerung gerufen. Wie sehr solche Bände tisch-episches Gedicht in 8 Gesängen. Wiesb. den (Reise-)Bedürfnissen u. Interessen eines 1834) ist eine kurze histor. Einführung über nicht nur dt. bürgerl. Publikums entspraLeben u. Bedeutung des Titelhelden voran- chen, zeigt sich an den Übersetzung des gestellt. Diese Verbindung von Literarisie- Rheinischen Albums ins Französische (Album du rungen histor. u. regionaler (Sagen-)Stoffe Rhin [...]. Trad. de l’allemand par A. Peschier. mit Erläuterungen ist auch charakteristisch Mainz 1840). Nach der Eheschließung 1844 mit ihrem für S.s landeskundl. Publikationen u. Reisebücher, die alle S.s rheinischer Wahlheimat mittlerweile verwitweten, über 30 Jahre ältegewidmet sind (Rheinischer Sagen-Kreis. Ein Ci- ren Onkel schrieb u. publizierte S. allerdings clus von Romanzen, Balladen und Legenden des nicht mehr, sondern zog sich – auch nach Rheins. Nach historischen Quellen bearb. von A. v. dem Tod ihres Mannes 1850 – völlig ins PriS. [mit Lithografien nach Alfred Rethel]. Ffm. vatleben zurück. Bis zu ihrem Tod lebte sie 1835. Neudr. Walluf bei Wiesb. 1973). abwechselnd in Langenwinkel, Eltville, Wenngleich S. nicht als polit. Dichterin in Frankfurt u. zuletzt mit ihrer Schwester in Erscheinung getreten ist, so haben ihre bei- Wiesbaden. den Lyriksammlungen (Rheinischer SagenWeitere Werke: Malerische Beschreibung v. Kreis; Rheinische Lieder und Sagen. Ffm. 1839) Mainz u. der Umgegend. Mainz 1840. Nachdr. dennoch Anteil an der nationalistischen Ver- Kelkheim 1985. – Malerische Beschreibung v. herrlichung der Rheinlandschaft, wie sie zu- Wiesbaden u. der Umgegend. Mainz 1840. – Burg vor von Aloys Schreiber, Niklas Vogt u. Karl Stolzenfels. Romantische Dichtung. Mainz 1842. Literatur: Marlene Hübel: Albumblatt für A. v. Simrock vorangetrieben worden war. In ihren Rheinischen Liedern und Sagen finden sich neben S. Einer vergessenen Dichterin des Rheins zum Gedichten, die im Kontext des dt. Philhelle- 200. Geburtstag. In: Rheingau-Forum 4 (2000), S. 19–31. – Dies.: Erfolgreich, aber vergessen: A. v. nismus einzuordnen sind (Den Kriegern, die S. u. Kathinka Zitz. In: Romantik, Reisen, Realitänach Hellas ziehen, S. 92), auch zwei Loreley- ten. Frauenleben am Rhein. Hg. Bettina Bab u. Gedichte (Königin Lurley, Der Lurleyfischer, Marianne Pitzen. Bonn 2002, S. 58–65. – Susanne S. 179–184). Anders als in den bekannten Li- Kiewitz: Poetische Rheinlandschaft. Die Gesch. des terarisierungen der Sage von Brentano u. Rheins in der Lyrik des 19. Jh. Köln u. a. 2003. – Heine lebt die Loreley in S.s Gedichten in der Helmut Fischer: Volkslit. u. Identitätsstiftung. Die Rheinsagen u. die Bewußtmachung der RheinTiefe des Rheins. Anfang der 1840er Jahre pflegte S. regel- landschaft. In: Rheinisch-westfäl. Ztschr. für mäßigen Kontakt mit Levin Schücking u. Volkskunde 49 (2004), S. 33–55. Bernhard Walcher Ferdinand Freiligrath, deren Band Das malerische und romantische Westphalen S. kannte. Ihre durchaus auch als Gebrauchsliteratur Stoltz von Stoltzenberg, Stolcius de Stolanzusprechenden Darstellungen des Rheincenberg, Daniel, * 11.8.1600 Kuttenberg gaus (Beschreibung, Geschichte und Sage des (heute: Kutná Hora), † nach 1644. – NeuRheingaues und Wisperthales. Mit 13 Stahlstichen lateinischer Dichter u. paracelsistischer und einer Charte. Mainz 1840. Nachdr. KelkArztalchemiker. heim 1985. Rheinisches Album oder Beschreibung, Geschichte und Sage des Rheingaus und Wisper- Nach Besuch der Prager Universität (Magister thales mit der Umgegend. Mainz 1840. 2. Aufl. 1619) studierte S. in Leipzig (1620) u. Maru. d. T. Der malerische Rheingau und seine Umge- burg/Lahn (1621); Aufenthalte in Kassel, den bungen nebst den alten Sagen, die sich daran Niederlanden, England, Basel u. Frankfurt/O. knüpfen. Ebd. 1845. Repr. dieser Ausg. Ffm. schlossen sich an. Dann reiste der 1623 von 1929) zählen zu den ersten literarisch-ge- Johann Jacob Grasser zum Poeta laureatus schichtl. Erschließungen dieser Gegend. Ne- gekrönte Mediziner u. a. nach Italien (1624), ben Ereignis-, Territorial- u. Herrschaftsge- Prag, Genf, Paris u. Lyon (1627/28), später

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nach Kronstadt, Leszno (1635), Danzig, Riesenburg (1640) u. Kaschau (1644). Zu seinem umfängl. Bekanntenkreis zählten manche Alchemiker, Johann Daniel Mylius, Johann Hartmann (dem S. 1623 in Marburg als Hauslehrer diente), J. B. Großschedel, aber auch Daniel Meißner, Lukas Jennis, R. Fludd, Cornelius Drebbel, Philipp Hainhofer oder Comenius. Der paracelsistische Arztalchemiker u. Anhänger der Böhmischen Brüderunität trat in jungen Jahren als ein der humanistischrhetorischen Formkultur verhafteter Poet hervor. Er schuf zunächst eine Epigrammsammlung (Trias hexastichorum. Ffm. 1622) u. bereicherte mit kurzen Verskommentaren zu 160 »chymicosophischen Emblemata« die alchem. Picta-Poesis-Tradition des Barock (Hortulus hermeticus. Ffm. 1627. Engl. Edinburgh 1980). Sein lehrdichterisches Hauptwerk, das Viridarium chymicum (Ffm. 1624. Dt. u. d. T. Chymisches Lustgärtlein. Übers. von Daniel Meißner. Ffm. 1624. Nachdr. mit Einführung von Ferdinand Weinhandl. Darmst. 1964 u. ö.) vereinigt 107 Kupferstiche. Um diese zur Illustration alchem. Sachschriften geschaffenen »Figuren« erneut vermarkten zu können, verpflanzte sie der Verleger Lukas Jennis in ein »Stamm-, Freund- und Gesellenbuch« u. ließ sie von S. in knapp gefassten »poetischen Gemälden« erläutern, doch büßten die Kupfer bei dieser »Augen und Gemüt« gefälligen u. der Emblembuchmode zinsenden Darbietungsform alchem. Lehrguts ihren fachl. Unterrichtswert weitgehend ein. Zwar wurde das Lustgärtlein erneut gedruckt (Ffm. 1688 unter dem Namen von »Michael Meyer«) u. von der Alchemikerin Dorothea Juliane Wallich um 1700 kommentiert, ein lebhafteres Interesse nahm aber erst die neuzeitl. Esoterik: Das Lustgärtlein wurde nun als Kleines Mystisch-Magisches Bilderbüchlein für [...] A.B.C. Schüler der Fraternität vom Rosenkreuz publiziert (Lpz. 1925); seine vermeintl. Qualitäten als religiös-spirituelles Stundenbuch für Neorosenkreuzer veranlassten eine engl. Übersetzung (The little mystic-magic picture book. Chicago 1937), die in einer anthroposophisch inspirierten Christian Rosencreutz Anthology (Hg. Paul M. Allen.

Stoltz von Stoltzenberg

Blauvelt/New York 1968 u. ö.) weite Verbreitung fand. Mit einer frz. (Paris 1975), ital. (Florenz 1983) u. span. Übersetzung (Barcelona 1986) setzte sich die Viridarium-Rezeption unter Hermetikern weiter fort. – S. gehört zum Figurenarsenal von Walter Ummingers Roman Das Winterkönigreich (Stgt. 1994, Nr. 225). Weitere Werke: Oratio de bellorum ex astris praedictione. Prag 1618. – Carmen heroicum de libero syderum cursu. Ebd. 1619. – Distichen. In: Matthaeus Merian: Die Tageszeiten. Basel 1624. – Casualpoesie in: J. J. Grasser: Itinerarium historico politicum. Basel 1624; D. Meisner: Thesaurus philopoliticus. Ffm. 1625; J. B. Großschedel: Proteus mercurialis. Ffm. 1629. – Briefwechsel: De chymicis. In: Gregor Horst: Observationum medicinalium [...] libri quatuor. Ulm 1625, S. 318–328. – Korrespondence Jana Amosa Komenského. Hg. Jan Kvacˇala. Bd. 2, Prag 1902, Nr. 23, 26, 27. Auch in: J. A. Comenius: Antisozinian. Schr.en. Nachdr. Hg. Erwin Schadel. Hildesh. 1983, S. 1191–1288. Beilage 1 (A dextris et sinistris, 1662). Literatur: John Ferguson: Bibliotheca chemica. Bd. 2, Glasgow 1906, S. 410 f. – John Read: Prelude to chemistry. Cambridge/Mass. u. London 1966 (London 11936), S. 255–277. – Joachim Telle: Sol u. Luna. Hürtgenwald 1980, S. 64–66, 114–119. – Dietrich E. Sattler: Friedrich Hölderlin. 144 fliegende Briefe. Bde. 1/2, Darmst. 1981, S. 13–65. – Josef Hejnic u. Jan Martínek: Enchiridion renatae poesis Latinae in Bohemia et Moravia cultae. Bd. 5, Prag 1982, S. 198–203. – Pavel Trnka: Dziel/a alchemików czeskich XV-XVIII w. In: Kwartalnik Historii Nauki i Techniki 31 (1986), S. 781–795, hier S. 789–791. – Hans-Georg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 3, Tüb. 1988, S. 107–120. – Heike Hild: Das Stammbuch des Medicus, Alchemisten u. Poeten Daniel Stolcius als Manuskript des Emblembuches ›Viridarium Chymicum‹ (1624) u. als Zeugnis seiner Peregrinatio Academica. Diss. rer. nat. TU München 1991. – Wilhelm Kühlmann: Poeta, Chymicus, Mathematicus. Das Stammbuch des [...] S. In: Parerga Paracelsica. Hg. Joachim Telle. Stgt. 1992, S. 275–300. – Artur R. Boelderl: Alchimie, Postmoderne u. der arme Hölderlin. Wien 1995, S. 48–60. – Karin Figala: D. Stolcius v. Stolzenberg. In: Alchemie. Lexikon einer hermet. Wiss. Hg. Claus Priesner u. K. Figala. Mchn. 1998, S. 348–350. – Susan Sirc: Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ u. Stoltzius’ ›Chymisches Lustgärtlein‹. In: Polyvalenz u. Multifunktionalität der Emblematik. Hg. Wolfgang Harms u. Dietmar Peil. Tl. 1,

Stoltze

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Ffm. 2002, 333–354. – Jaumann Hdb., Bd. 1, S. 637 f. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2025 f. Joachim Telle

Stoltze, (Carl) Adolf, bis 1864: Retting, * 10.6.1842 Mainz, † 19.4.1933 Frankfurt/M.; Grabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – Dramatiker, Lyriker, Journalist, Prosaist.

das Kriegsdrama Die große Zeit (1916) u. das späte, mundartlich durchsetzte Historiengemälde über den plebejischen, auch antisemitischen Frankfurter Aufrührer von 1614–1616 Vinzenz Fettmilch (1928). Hinzu kamen reine Gelegenheitswerke sowie journalistische u. autobiogr. Schriften, z. B. die Weltstadtbilder (1906) über Berlin, Kindheitserinnerungen u. insg. vier Bände Humoresken (Ffm. 1892–1930) in Mundartprosa.

Der nichtehel. älteste Sohn Friedrich Stoltzes Ausgabe: Ges. Werke in 10 Bdn. Ffm. 1902–11. wuchs bei dessen lebenstüchtiger, dialektLiteratur: Lydia Lerner-Stoltze: A. S. Bearb. u. kundiger Mutter Christina Retting auf. Nach erg. v. Luise Bodensohn. Ffm. 1983. – Petra Breiteiner Lehre als Uhrmacher u. Feinmechaniker kreuz: Von Schnaken, Käwwern u. immergrünen fand S. bald zum Theater u. zur Publizistik. Blättern zum Gelbärgern. Der Frankfurter SchriftNeben dem Festspiel Germanias Trost (1861) steller A. S. als Zeitungsmann. Ffm. 1992. – Alfred für die Frankfurter Turngemeinde versuchte Estermann: Alt-Frankfurt auf der Bühne. A. S. u. er sich im nordischen u. patriotischen Hel- das Theater [Ausstellungskat.]. Ffm. 1992. – Goedeke Forts. Rainer Schönhaar † / Red. dendrama (König Hiarne. 1862. Ferdinand Schill. 1863). Journalist in Frankfurt/M. (seit 1864), Wien (1865), München (1866), gab er Stoltze, Friedrich (Philipp), * 21.11.1816 1870–1872 als humoristisch-satir. WochenFrankfurt/M., † 28.3.1891 Frankfurt/M.; schrift »Die Schnaken« heraus. Mit MundGrabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – Lyriartgedichten (Kraut und Rüben. Ffm. 1877) ker, Erzähler, Satiriker u. Journalist. fand er zunächst mehr Anklang als mit weiteren Dramen. Zum Durchbruch kam es erst Der Gastwirtssohn war zunächst Kaufmann am 31.12.1887 mit dem abendfüllenden Lo- in Frankfurt/M. u. Lyon, danach Lehrer bei kalschwank Alt-Frankfurt über den schwadro- Friedrich Fröbel in Thüringen, ab 1845 freier nierenden Handelsmann Hieronymus Muffel Schriftsteller. Er brachte mehrere selbstveraus der Zeit vor 1866 nach Art des Herrn fasste Zeitungen heraus, v. a. die »Frankfurter Hampelmann von Malß. Ähnlichen Dauer- Krebbel-Zeitung« (1852–79; unregelmäßig erfolg hatten die Mundartstücke Neu-Frank- u. unter verschiedenen Namen) u. die furt (1889) u. Verspekuliert (1892) sowie der »Frankfurter Latern« (1860–91; mit UnterEinakter Dodgeschosse (1905). Zuweilen nos- brechungen. Nachdr. der Jahrgänge 1860–71 talgisch, treffen sie mit freundl. Schärfe in 4 Bdn. Hg. Alfred Estermann. Vaduz 1981. Sprache u. Milieu des Frankfurter Klein- Reprint der Jahrgänge 1860–93 auf Mikrobürgertums u. Mittelstands. Anfangs dem fiches. Erlangen 1998). Arbeiterbildungsverein Lassalles zuneigend, S., der durch seinen Vater u. seine griff S. später sogar zu hurrapatriotischen Schwester Annett schon früh zur republikan. Nebentönen, wie in der Text- u. Lyriksamm- Bewegung gefunden hatte, setzte sich in seilung Humor und Ernst. Kriegserlebnisse in der nen bissigen Satiren immer wieder kritisch Heimat (Ffm. 1914). mit den polit. Zuständen in Deutschland Zeitweilig auch außerhalb Frankfurts an- auseinander – u. wurde dafür zeitweilig sogar erkannt wurden S.s teils in mehreren Dia- steckbrieflich gesucht. Als überzeugter Delekten, teils hochdt. abgefasste Schwänke Die mokrat war er antipreußisch u. großdt. eingemeinschaftliche Hochzeitsreise (Ffm. 1891. gestellt, wobei sein Nationalismus gelegentWien 1893), Fatale Geschichten (1894) u. Eh- lich in blinden Chauvinismus umschlug, v. a. renämter (1898). Noch weniger durchsetzen wenn er den »Erzfeind« Frankreich attakonnten sich die Problemstücke Vom gleichen ckierte. Als die preuß. Truppen 1866 in Stamme (Mchn. 1895) u. die Schuld der Schuld- Frankfurt einmarschierten, musste S. für losen (Ffm. 1896. Bln. 1898). Gleiches gilt für kurze Zeit ins Schweizer Exil gehen. Nach

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seiner Rückkehr wurde er im Ton deutlich moderater, blieb aber einer der schärfsten Kritiker Bismarcks. S. verfasste auch zahlreiche Mundartgedichte u. -erzählungen, die nur selten über den Rang von Gelegenheitsarbeiten hinausgelangten, ihm aber in Frankfurt ungebrochene Popularität sichern. Um die wissenschaftl. Beschäftigung mit seinem Werk u. seinem Nachlass kümmert sich ein Frankfurter Freundeskreis, der im S.-Turm ein kleines Museum unterhält u. regelmäßig Ausstellungen (mit kleinen Katalogen) veranstaltet. Ausgaben: Ges. Werke. 5 Bde., Ffm. 1892–1900. – Die schönsten Dichtungen in Frankfurter Mundart. Hg. Henriette Kramer. 5 Bde., Ffm. 1997/98. Literatur: Bibliografien: Werkverz. F. S. Bearb. v. Alfred Estermann. Vaduz 1983. – F. S. Die Veröffentlichungen, der Nachlaß, die Bibliothek. Ein Gesamtverz. Bearb. v. A. Estermann. Ffm. 1996.  Weitere Titel: Johannes Proelß: F. S. Ffm. 1905. Neubearb. v. Günther Vogt. Ffm. 1978. – Philippe Alexandre: Die Frankfurter Latern. Une publication satirique [...]. Diss. 2 Bde., Metz 1980.  Martin Berg (Hg.): F. S. – ein Frankfurter. Ffm. 1980.  Ich habe mit Frankfurt gelacht u. getrauert. Hg. Vereinigung der Freunde u. Förderer des Stoltze-Museums. Ffm. 1988.  ›O Freiheit, mein Alles, mein Glück u. mein Weh ...‹. Werk u. Leben des Schriftstellers F. S. Hg. dies. Ffm. 1997.  Ilse Walther-Dulk: Lichter aus Frankfurt. Der Briefw. F. S.s mit Albert Dulk 1867–1884. Weimar 2004. – Goedeke Forts. Hans Sarkowicz

Stolz, Alban, * 3.2.1808 Bühl/Baden, † 15.10.1883 Freiburg i. Br.; Grabstätte: Bühl, Friedhofskapelle. – Katholischer Theologe u. Erbauungsschriftsteller. Nach kontaktarmer Jugend u. dem Schulbesuch in Rastatt fand der Apothekerssohn über Jura-, Philologie- u. Theologiestudien in Freiburg u. Heidelberg zum Priesterberuf (Weihe 1833), arbeitete als Vikar u. Religionslehrer in Bruchsal (1842/43), erwarb 1845 den Doktortitel u. wurde 1848 Professor der Pastoraltheologie u. Pädagogik an der Universität Freiburg i. Br. Die Universität Wien verlieh ihm 1865 die Würde eines Ehrendoktors.

Stolz

Dort vertrat er, ein glutvoller, aber von Depressionen gefährdeter Asket, mit myst. u. romant. Schrifttum wohlvertraut, im badischen Kirchenkampf den ›ultramontanen‹ Standpunkt, bekämpfte den Deutschkatholizismus u. den aufklärerischen Rationalismus in der Nachfolge Wessenbergs (zahlreiche Streitschriften wie Licht, Fortschritt, Freiheit, angeschwärzt von A. S. Wien u. a. 1870). Obwohl man ihm oft mangelnde Liberalität u. seine grüblerische Art vorwarf, entfaltete sich S.’ Sprachbegabung zu großer Wirkung. Einige seiner Schriften wurden auch bei nichtkath. Lesern sehr populär. In erster Linie verfolgte S. ein pastorales Anliegen im Sinne fest kirchlich gebundener Moral, die er in ständiger Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist, v. a. in seinen »Kalendern für Zeit und Ewigkeit« (Villingen, dann Freib. i. Br. 1843–1888; mit Unterbrechungen), breiten Volksschichten nahebrachte. Einzelbände dieses Kalenders widmeten sich aktuellen Themen wie »Armuth und Geldsachen«, 1878; hier in der »Verabschiedung« (S. 90): »Bei Manchem mag dieser Kalender gewirkt haben, wie Wasser auf ungelöschtem Kalk; es wird ein gelinder Zorn geraucht haben, besonders bei den Herrenmäßigen. Es ist eben meine Art oder Unart so, daß ich vielmals ein Stemmeisen brauche, wo ein Kehrwisch es auch thät, und daß ich lieber mit einer Stahlfeder kritzle, als mit einer Gansfeder.« Ob in provozierenden Polemiken des Kalenders (etwa auch in »ABC für große Leute«, Freib. i. Br. 1864), den melanchol. Reflexionen der Tagebücher (z.B. Witterungen der Seele. Ebd. 1867), belletristischen Spiegelungen seiner Reisen (Spanisches für die gebildete Welt. Ebd. 1853. Gekürzte Fassung Lpz. 1983) oder Heiligenlegenden (Die heilige Elisabeth. Ebd. 1865): Immer blieb S. als Schriftsteller ein streitbarer Missionar u. die literar. Form Mittel der auf Tod u. Seligkeit hinweisenden, aber keineswegs weltfernen religiösen Mahnung – in dieser Hinsicht eher an Abraham a Santa Clara erinnernd als an die sonst in mancher Hinsicht zu vergleichenden protestantischen Kalenderschriftsteller Gotthelf u. Hebel. Dass S. in seinen Reisebüchern oft weniger kämpferisch, vergrübelt u. verkrampft auftritt als in anderen Werken, be-

Stolze

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stärkt die Annahme, dass seine Reisen auch als Schriftsteller. Graz 1931. – Bühler Blaue Hefte 2 Befreiungen waren, Absetzbewegungen aus (1958), Sonderheft A. S. – Wolfgang Leiser: Zwei der manchmal erstickenden Atmosphäre Kalendermänner u. eine Zeit. S. u. Albert Bürklin. kleinstädt. Eifersüchteleien u. permanenter In: Alemann. Jb. 1973/75, S. 420–433. – Elisabeth Mackscheidt: Erziehung für das Heil der Seele. Rollenzwänge. Krit. Lektüre des kath. Pädagogen A. S. Mainz S.’ heute veraltet wirkende Pädagogik 1982. – Klaus Roos: A. S. Freib. i. Br. 1983. – Gersetzte in geistl. Hinsicht auf Glaubensgehor- hard Kaller: A. S. In: Bautz. – Wilhelm Kühlmann: sam; theologisch wie literarisch lässt sich bei Lit. als Bekenntnis u. Kampf. A. S. In: Ders.: Literar. ihm kaum eine Entwicklung feststellen. Dem Miniaturen. Heidelb. 1996, S. 38–41. – Gerhard Typus des großbürgerlich-liberalen »Kultur- Kaller: A. S. In: Bautz 10 (1995), Sp. 1559–1561. – philisters« galt sein Hass ebenso wie dem Eda Sagarra: A. S.s ›Kalender für Zeit u. Ewigkeit‹. preuß. Hurra-Patriotismus. Die sozialen In: Vormärzlit. in europ. Perspektive. Hg. Martina Lauster. Bd. 3, Bielef. 2000, S. 223–236. – StephaKonflikte seiner Zeit beobachtete er, abseits nie Haberl: A. S. Ein Christlich-Sozialer als Antides Fortschrittspathos, mit wacher Aufmerk- semit. Freib. 2006. samkeit: »Ja gerade je besser der Mensch ist, Gerhard Stumpf / Wilhelm Kühlmann desto unbehaglicher wird es ihm, daß seine Brüder es schlimmer haben; und er wird ein Stolze, Alfred Otto, auch: Olaf HenriksCommunist aus Edelmuth, und ein solcher son, * 2.10.1889 Lindau, † 17.3.1954 war und wurde Gott selbst in seinem Sohn« Lindau. – Erzähler u. Lyriker. (in: Witterungen der Seele). Den Ideen eines Adolf Kolping folgend, gründete S. in Frei- Nach dem Geschichtsstudium in Berlin u. burg den ersten kath. Gesellenverein, bespit- München (Promotion 1914) u. Kriegsdienst zelt von den Behörden. Sein an die badische lebte S. bis 1928 in München. Dort gehörte er Kalendertradition anknüpfendes Eingehen 1924 neben dem Verleger Ernst Heimeran u. auf das Bedürfnis der Katholiken nach kul- den Schriftstellern Gottfried Kölwel u. Josef tureller Identität u. die humorvolle, oft Magnus Wehner – mit ihm stand er lange in scharfe Originalität seines Stils machten S. Briefwechsel – zu den Begründern der zum dem wohl am meisten gelesenen christl. Münchner »Argonauten«. Nach einigen Jahren in Weißenburg u. Augsburg zog S. 1936 Volksschriftsteller seiner Zeit. in die Schweiz, wo 1943 als »Mahnruf zum Weitere Werke und Ausgaben: (Erscheinungsort jeweils Freib. i. Br.): Ausgaben: Ges. Wer- Frieden« unter Pseud. der Roman Jan auf der ke. 10 Bde., 1870–72. Bis 1912 Bde. 11–21. Hg. weissen Insel (Zürich/New York) erschien. Im Julius Mayer. – Ges. Werke. Volksausg. 1898–1900. selben Jahr kehrte S. nach Lindau zurück u. Neuausg. 14 Bde., 1905–23. – Briefe: Fügung u. wurde 1945 Stadtarchivar. Seine histor. RoFührung. Hg. J. Mayer. 3 Bde., 1909–13. – A. S. u. mane u. Erzählungen behandeln vornehmdie Schwestern Ringseis. Hg. Alois Stockmann. lich Stoffe aus der Geschichte Lindaus. 1912. – Einzeltitel: Legende. 1851–60. – Besuch bei Sem, Cham u. Japhet. 1857 (Reiseber.). – Mörtel für die Freimaurer. 1862 (Polemik). – Der Mensch u. sein Engel. 1868 (Gebetbuch). – Erziehungskunst. 1873. – Nachtgebet meines Lebens. Hg. Jakob Schmitt. 1885 (Autobiogr.). – Predigten. Hg. ders. 1908. – Zwischen Zeit u. Ewigkeit. Kalendergesch.n. Freib. i. Br. 1947. – Trost im Leiden,. Freiburg/Schweiz 1953. – Aus meinem Wanderbuche. Lpz. 1964. Literatur: Joseph M. Hägele: A. S. Freib. i. Br. 1884. – Joseph Bernhart: A. S. Zur Würdigung des religiösen Schriftstellers. In: Hochland 5 (1907/08), S. 697–709. – Julius Mayer: A. S. Freib. i. Br. 1921. – Leo Grüner: A. S. als Volkspädagoge. Münster 1931. – Franz Hulshof: A. S. in seiner Entwicklung

Weitere Werke: Das Tor. Jena 1921 (L.). – Angela. Bln. 1926 (R.). – Unsterbl. Krähwinkel. Mchn. o. J. [1936] (E.en). – Ein Komet. Bad Wörishofen 1948 (R.). – Kleiner Lebensbericht. Ein Selbstporträt. In: Welt u. Wort 5 (1950). – Der Ratsadvokat im Turm. Zürich 1959 (E.en). – Nachlass: DLA. Literatur: Nachruf für Dr. A. O. S. Lindau 1954. – Manfred Bosch: ›... im Gewand älterer Zeiten die Fragen u. Kämpfe von heute‹: A. O. S. zwischen Lindauer Historie u. Pazifismus. In: Ders.: Bohème am Bodensee. Lengwil 1997, S. 255–257. Rolf Bulang / Red.

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Stomps, V(ictor) O(tto), auch: VauO, * 26.9. 1897 Krefeld, † 4.3.1970 (West-)Berlin. – Verleger; Romancier u. Essayist.

Stoppe Das große Rabenbuch. Hbg. 1977. – Martin Ebbertz: Vier Jahrzehnte Eremiten-Presse. Düsseld. 1989. – Albert Spindler (Hg.): Das Ungeheure v. Stierstadt oder ein Schloss am Taunus. Friedberg 1992. – Peter Seel: V. O. S. (1897–1970). In: Lit. v. nebenan. 1900–1945. 60 Portraits v. Autoren aus dem Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalen. Hg. Bernd Kortländer. Bielef. 1995, S. 340–347. – Hendrik Liersch (Hg.): Die fast vollständige Gesch. der Rabenpresse. Bln. 2007.

In Berlin aufgewachsen, nahm der Rechtsanwaltssohn als Freiwilliger am Ersten Weltkrieg teil. Er geriet in frz. Gefangenschaft, studierte anschließend seit 1919 (ohne Abschluss) u. war als Hilfsregisseur u. Dramaturg bei der Ufa tätig. S., ein Freund des BaMichael Scheffel / Red. rock, des Rokoko u. der Romantik, veröffentlichte nach 1925 skurrile, formal eigenwillige Gedichte, Epigramme, Fabeln, Glossen, ein Theaterstück, einen Roman u. eine Stoppe, Daniel, * 17.11.1697 Hirschberg/ poetische Autobiografie. Er verkörperte das Schlesien, † 12.7.1747 Hirschberg/Schlebürgerl. Ideal der persönl. Bildung durch sien. – Gelegenheitsdichter. Kunst u. Literatur. Als Sohn eines Schleierwebers wuchs der S.’ Bedeutung liegt in seiner Rolle als Ent- nachmals nahezu vergessene Dichter völlig decker u. Förderer zahlreicher junger Auto- mittellos auf; nur durch einen reichen Gönren. 1924 gründete er in Berlin die Druckerei, ner waren Schulbesuch (1712–1718/19) u. 1926 den Verlag Die Rabenpresse u. gab die Studium (1719–1722/23) in Leipzig möglich. literar. Zeitschriften »Der Fischzug« (1926), 1728 kehrte S. nach Hirschberg zurück, »Der weiße Rabe« (1932–34) u. »Löse und musste sich aber lange als Spezereienhändler Binde« (1937) heraus. Während des Zweiten u. nebenbei als Hauslehrer durchschlagen, da Weltkriegs geriet er in amerikan. Gefangen- er eine feste Anstellung als Konrektor (daschaft; in Reims gab er zusammen mit Hans mals: Unterlehrer) erst 1742 erlangte. Josef Mundt »Das Fragment«, eine literar. Indessen schuf er mit den Kantaten, Arien »POW-Zeitung«, heraus. Nach seiner Entlas- u. satir. Versepisteln in Der Parnaß im Sättler, sung gründete S. in Stierstadt den Verlag oder scherz- und ernsthafte Gedichte (Ffm./Lpz. Eremiten-Presse, gab die Zeitschriften »Kon- 1735; ›Sättler‹: Treffpunkt eines kleinen turen« (1952/53; zus. mit Hans Bender) u. poet. Zirkels) die heitere Poesie einer fröhlich »Streit-Zeit-Schrift« (1956–59) heraus u. rief sein wollenden Geselligkeit, hinter der im1967 in (West-)Berlin den Verlag Neue Ra- mer wieder die bittere Armut des Gelegenbenpresse wieder ins Leben. S. hat frühe heitsdichters, der sich ein kleines Zubrot Werke von Peter Huchel, Bertolt Brecht, verdiente, hervorschimmert. Vom Spätbarock Günter Eich u. Gottfried Benn verlegt. (Hoffmannswaldau u. Weise) geprägt u. von Weitere Werke: Ein Festtag. Lpz. 1925 (L.). – der Dichtung Günthers, den er verehrte, doch Artistisches ABC. Itzehoe 1926. Stierstadt 21953. – nicht erreichte, auch stark durch die LeipziDie neuen Dinge. Bln. 1929 (Ess.). – Der geheime ger Galanten (Mencke, Picander, Corvinus) Leierkasten. Ebd. 1932 (E.). – Die Fabel vom Peter beeinflusst u. im zweiten Band der Sammlung Lech. Ebd. 1934. – Die Fabel v. Paul u. Maria. Ebd. sehr zum Nachteil durch Gottscheds dikta1936. – Erinnerungen an Horst Schmohl. Ebd. torisch durchgesetzte Regeln gezügelt (S. war 1941. – Die Fabel um Anna Produmka. Reims 1946. – Fabeln der Traumgesichte. Ffm. 1947. – Tage, Mitgl. seiner Deutschen Gesellschaft), lag Jahre, Menschen. Ebd. 1949. – Der streitbare Pe- seine Stärke in der komisch-derben Umsetgasus. Stierstadt 1955. Wien 1990 (E.). – Gelechter. zung des »gemeinen Lebens« in einer mit Eine poet. Biogr. Ffm. 1962. – Babylonische Frei- urwüchsigen Silesiazismen durchsetzten heit. Isny 1964 (R.). – Fabel vom Bahndamm u. a. Poesie. Fabeln u. Texte. Hg. Hans Bender. Düsseld. 1977. Literatur: Günter B. Fuchs u. Harry Pross (Hg.): Guten Morgen VauO, ein Buch für den weißen Raben. Ffm. 1962. – Arno Waldschmidt u. a. (Hg.):

Weitere Werke: Erste [-Zweyte] Slg. von [...] teutschen Gedichten. 2 Bde., Ffm./Lpz. 1728/29. – Sonntags-Arbeit oder geistl. Gedichte [...]. Hirschberg 1737. – Neue Fabeln oder Moralische Ge-

Storch dichte, der dt. Jugend zu einem erbaul. Zeitvertreibe aufgesetzt. 2 Bde., Breslau 1738–40. Ausgaben: Der Parnaß im Sättler. Derbdreiste Lieder u. Episteln. Hg. Eberhard Haufe. Weimar 1977 (Ausw.). – Auswahl in: Dt. Fabeln aus neun Jahrhunderten. Hg. Karl Wolfgang Becker. Lpz. 1991. – Internet-Ed. mehrerer Texte in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. Literatur: E. Haufe: Nachw., a. a. O. – Elisabeth Herbrand: Die Entwicklung der Fabel im 18. Jh. [...]. Wiesb. 1975. – E. Haufe: D. S. als Textdichter Telemanns. In: Telemann u. seine Dichter. Red.: Günter Fleischhauer. Magdeb. 1978, S. 75–86. – Klaus-Peter Koch: Der Komponist Georg Philipp Telemann u. sein schles. Textdichter D. S. (1697–1747). In: Aufklärung in Schlesien im europ. Spannungsfeld [...]. Hg. Wojciech Kunicki. Wrocl/aw 1996, S. 161–176. – Lidija Pichtownikowa: Synergie des Fabelstils. Die dt. Versfabel vom 13.21. Jh. Aachen 2008. Ulrich Joost / Red.

Storch, (Bernhard) Ludwig, * 14.4.1803 Ruhla bei Eisenach, † 5.2.1881 Kreuzwertheim/Main. – Erzähler.

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u. sozialen Lebens ist dabei mit dem Blick für kulturhistorisch Interessantes verknüpft. Stoffliches Interesse überwog gegenüber Personenzeichnung u. Bautechnik, die sich insbes. an die Romane Spindlers sowie in den Pikanterien an die frz. Memoirenliteratur hielt. Als »reiche Gemälde« (Menzel) gelangen bes. Der Freibeuter (3 Bde., Lpz. 1834), Der Jakobstern. Eine Messiade (4 Bde., Ffm. 1836–38) u. Das Haus Fugger (1850. Dreibändige Abt. in: Ein deutscher Leineweber. 9 Bde., Lpz. 1846–50). Gelungener sind knappere, weniger histor. Material verwertende Romane wie Max von Eigl (3 Bde., ebd. 1844). S. übersetzte auch frz. histor. Romane u. schrieb Lyrik (Gedichte. Ebd. 1854), z. T. in jungdt. Manier; er zählt zu den Begründern der thüringischen Mundartdichtung. Seine bekanntesten Novellen sind Förberts-Henns (Lpz. 1830. Seit 1850 Vörwerts-Häns. Lpz.; über den Schreiner Johannes Hornschuh) u. Der Prophet Thüringens (Ffm. 1840 [zus. mit Die Feuerschlange]; über den Franziskanermönch Johannes Hilten).

Nach dem Tod (1810) des Vaters, der prakt. Ausgabe: Ausgew. Romane u. Novellen. 31 Bde., Arzt war, lebte S. in unerquickl. Verhältnis zu Lpz. 1855–62. seinem Stiefvater, einem PfeifenkopfbeschläLiteratur: Ludwig Fränkel: L. S. In: ADB. – Rolf ger, den seine Mutter, eine Cousine des R. A. Hecker: In Kreuzwertheim: L. S. Ein vergesDichters Friedrich Wilhelm Gotter, 1812 ge- sener Dichter. Eine Nach-Forsch. Kreuzwertheim heiratet hatte. Er scheiterte als Kaufmanns- 1999 (Bibliogr. S. 67–71). – Susanne Schmidtlehrling, holte 1818–1822 das Gymnasium in Knaebel: ›Man muß doch jemand haben, gegen den Gotha nach, wurde wegen eines intimen man sich ausspricht‹ – Ludwig Bechsteins Briefe an Dr. L. S. Aachen 2000. – Michael Schneider: Ein Verhältnisses zu einer Schuhmacherstochter (fast) vergessener Dichter. Vor 120 Jahren starb B. L. relegiert, wechselte an das Gymnasium in S. In: Kreuzwertheim, 2001 (2002), S. 80–109. – Nordhausen u. begann 1823 zunächst ein Heinrich Weigel u. Lotar Köllner: L. S. Beiträge zu Theologie-, dann ein Literatur- u. Pädago- Leben u. Werk des thüring. Schriftstellers. Bucha gikstudium in Göttingen, das er 1825 aufgab, bei Jena 2003. – H. Weigel: L. S. Sein Leben u. um seine Jugendliebe zu heiraten. Sich in Schaffen in einer Übersicht. In: Palmbaum 11 Zeitschriften- u. Verlagsgründungen versu- (2003), H.1/2, S. 169–186. – Ders.: L. S. u. die chend, zu unausgesetzter literar. Brotarbeit Ruhlaer Mundart. Erfurt 2008. Christian Schwarz / Bruno Jahn gezwungen, hatte S. ein unstetes Wanderleben, das ihn u. seine Familie durch fast ganz Deutschland führte u. das er, seit 1866 PenStorm, (Hans) Theodor (Woldsen), * 14.9. sionär der Schillerstiftung, in Kreuzwertheim 1817 Husum, † 4.7.1888 Hademarschen; beschloss. Eine enge Freunschaft verband S. Grabstätte: Husum, St.-Jürgen-Friedhof. mit Ludwig Bechstein, den er 1830 in Leipzig – Lyriker, Novellist; Herausgeber. kennen gelernt hatte. S. gehört – mit Rellstab u. Stolle – zu den S.s Leben u. Werk werden immer mit der Pionieren des histor. Romans, welche die »grauen Stadt am Meer« assoziiert; er gehört jüngere Vergangenheit für den Realismus durch Herkunft, Familie sowie Thematik reklamierten. S.s Bevorzugung des bürgerl. seines Œuvre in diese nordfries. Gegend. Dass

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er mindestens 20 Jahre außerhalb Husums verbracht hat, davon über zehn ganz außerhalb Schleswig-Holsteins, ändert im Grunde nichts an seiner Heimatverbundenheit u. der »Husumerei«, wie Fontane leicht ungnädig S.s engen, scheinbar provinziellen Themenkreis bezeichnete. Geboren ist S. als erstes Kind des Justizrats Johann Casimir Storm (1790–1874) u. seiner Frau Lucie, geb. Woldsen (1797–1879). Mütterlicherseits über die Familien Woldsen u. Feddersen hat S. enge Beziehungen zur alten Patrizierkultur der einst blühenden Handelsstadt Husum, die er in verschiedenen Novellen (etwa Abseits. In: Illustrierte Zeitung, Lpz. 1863. Von Jenseit des Meeres. In: Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte, 1864/65. Beim Vetter Christian. In: Der Salon, 1874. Die Söhne des Senators. In: Deutsche Rundschau, 1880), kulturhistor. Skizzen u. autobiogr. Aufzeichnungen festhält (bes. Der Amtschirurgus – Heimkehr. In: Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte, 1870/71. Von heut und ehedem. In: ebd., 1873/ 74). S. ist in einem gegen alle Religionsfragen indifferenten Elternhaus aufgewachsen; die Diesseitigkeit, die etwa das berühmte Gedicht Oktoberlied ausspricht, ist auf solche Kindheitseinflüsse sowie auf die allg. Weltbejahung der Realistengeneration zurückzuführen, nur schlägt seine Ablehnung einer Transzendenz gelegentlich in Pessimismus u. Melancholie um. Über Freunde in Lübeck (darunter Geibel) u. Kiel entstanden die ersten großen literar. Eindrücke u. Einflüsse: Goethe, Eichendorff, Heine, später Mörike, die für S. sein Leben lang poetische Leit- u. Fixsterne blieben u. seine Vorstellungen von Lyrik bestimmten. Die Jahre des Jurastudiums in Kiel u. Berlin 1837–1842 brachten, angeregt durch seine Freunde Tycho u. Theodor Mommsen, die ersten poetischen Versuche (dokumentiert in der gemeinsamen Publikation Liederbuch dreier Freunde. Kiel 1843). 1843 kehrte S. nach Husum zurück u. ließ sich als Advokat nieder. Die einseitig gebliebene, unglückl. Liebe zur zehn Jahre jüngeren Bertha von Buchan u. 1844 die Verlobung mit seiner Cousine, der Tochter des Segeberger Bürgermeisters, Constanze Esmarch (* 1825; Heirat 1846),

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sind Anlässe für eine rege lyr. Produktion. Die Gedichte an Constanze bestätigen den Eindruck, den Erich Schmidt später so wiedergab: »überhaupt leidenschaftliche, warme, sinnliche Natur«. Der Eros dieser Lyrik gilt jedoch auch Dorothea Jensen (1828–1903), für die 1847/48 S.s Liebe entbrannte. In Sachen Politik ließ S. sich auch eher durch Emotionen als durch Räsonnement bewegen: seine Teilnahme an der Volkserhebung 1848–1852 in Schleswig-Holstein, seine journalistische Tätigkeit, seine robuste antidän. Haltung, in polit. Gedichten festgehalten, führten zur Kassierung seiner Advokatur. Direkt vertrieben wurde S. nicht, ein Verweilen in dem Doppelherzogtum erschien ihm jedoch unmöglich. Es folgten die »Exiljahre« 1853–1864, zunächst als Assessor im preuß. Justizdienst in Potsdam, sodann 1856 als Kreisrichter in Heiligenstadt. S. war inzwischen der Verfasser von Immensee, zunächst in Biernatzkis Volksbuch für Schleswig, Holstein und Lauenburg auf das Jahr 1850 erschienen, 1852 als Buch (Bln.), u. eines Gedichte-Bands (Kiel 1852. 71885). Es war selbstverständlich, dass er in der Potsdamer Zeit Kontakt aufnahm zum literar. Verein »Tunnel über der Spree«. Zu den Mitgliedern, bes. Kugler u. Fontane, verhielt sich S. eher distanziert, bes. seine antipreuß. Gesinnung war dem Patrioten Fontane unangenehm. Dagegen entwickelte sich eine langjährige Freundschaft zu Heyse. In Heiligenstadt zeichnen sich die Entwicklungslinien von S.s späterer bürgerl. u. poetischer Existenz ab: polit. Ernüchterung, familiäre Sorgen (bis 1863 sechs Kinder), Geldnöte u. melancholisch-depressive Stimmungstrübungen, welchen er mit Musik u. Geselligkeit abzuhelfen versuchte. Eine Abwechslung bildeten die wenigen Reisen, 1855 zum verehrten Mörike u. 1865 zum respektierten Turgenjew. Dennoch sind in der Heiligenstädter Zeit die Meisternovellen seiner ersten Reife entstanden: Auf dem Staatshof (in: Argo, 1859), Im Schloß (in: Die Gartenlaube, 1862) u. Auf der Universität (Münster 1863). 1864 kehrte S. nach der dän. Niederlage als Stadtvogt nach Husum zurück. 1865 starb Constanze bei der Geburt des siebten Kindes; 1866 schloss er mit Dorothea Jensen eine

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zweite Ehe. Nach der Annexion SchleswigHolsteins durch Preußen wurde S. 1867 Amtsrichter. In den Husumer Jahren entstanden über 20 Novellen u. andere literar. Arbeiten (bekannteste: Draußen im Heidedorf. In: Der Salon, 1872. Viola tricolor. In: Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte, 1873/74. Aquis submersus. In: Deutsche Rundschau, 1876. Carsten Curator. In: Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte, 1878); die sechsbändigen Sämmtlichen Schriften (Braunschw. 1868) bestätigen seinen literar. Ruhm in den sich anbahnenden Gründerjahren. 1880 wurde S. pensioniert u. zog nach Hademarschen in seine »Altersvilla«. War er der Bürde des lästig gewordenen Berufs nun enthoben, so blieb doch die Sorge um Ausbildung u. Beruf der Kinder (1886 starb der älteste Sohn Hans an den Folgen von Alkoholismus). Wichtig sind in der Husumer u. Hademarschener Zeit die vielen Briefwechsel – u. a. mit Ludwig Pietsch, Emil Kuh, Heyse, Erich Schmidt, Keller, Wilhelm Petersen, Ada Christen –, die aufschlussreiche Zeugnisse zum privaten u. literar. Leben enthalten. In den letzten Lebensjahren entstanden mehr als zehn Novellen, darunter Hans und Heinz Kirch (in: Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte, 1882/83), Schweigen (in: Deutsche Rundschau, 1883) u. Der Schimmelreiter (in: ebd., 1888). S. starb nach langem Leiden an Magenkrebs. In der Selbsteinschätzung als Dichter hat S. immer seine Lyrik vorbehaltlos an erste Stelle gesetzt, ein Urteil, das auch Zeugen wie Fontane (»Als Lyriker ist er [...] unter den drei, vier Besten, die nach Goethe kommen«) u. Thomas Mann (»Perle fast neben Perle«) bestätigen. Seine Kriterien – »im möglichst Individuellen das möglichst Allgemeine« aussagen, »namentlich jede Phrase, das bloß Überkommene vermeiden; jeder Ausdruck muss seine Wurzel im Gefühl oder der Fantasie des Dichters haben«, »Jedes lyrische Gedicht soll Gelegenheitsgedicht im höhern Sinne sein« – werden in einigen der bekanntesten Anthologiegedichten dt. Sprache bestätigt: Er selbst schätzte bes. hoch Oktoberlied, Heute nur heute, Das Haus in der Heide, Die Nachtigall, Schließe mir die Augen beide, Einer Toten, Abschied, Für meine Söhne. S.s beide An-

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thologien – Deutsche Liebeslieder seit Johann Christian Günther. Eine Codification (Bln. 1859) u. Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius. Eine kritische Anthologie (Hbg. 1870) – verfahren mit dem lyr. Schaffen anderer nach den eigenen recht exklusiven Maßstäben: Elegisches, Sentimentales, Pathetisch-Rhetorisches wird ausgeschlossen zugunsten dessen, was S. in einer Aussage über Heine – u. im Grunde über sich selbst – zum Modell erhob: »Er, wie wenig Andere, hat gezeigt, was die einfachsten Worte vermögen, sobald nur die rhythmische Weise dazu gefunden ist; er erhob [...] das ›Stimmungsgedicht‹ zu einer eigenen Gattung, indem er mit einem seltenen Sinn für das Wesentliche den Hörer in eine das Gemüt ergreifende Situation versetzt und ihn dann schweigend diesem Eindruck überläßt« (Deutsche Liebeslieder). S.s spätere Äußerung, »Meine Novellistik ist aus meiner Lyrik erwachsen«, hat nicht selten Widerspruch hervorgerufen. Für die erste novellistische Höhenleistung, Immensee, mit den Liedeinlagen, den symbolischen Stimmungsbildern von Eros u. Entsagung, dürfte sie zutreffen, ebenfalls für den »Gelegenheitscharakter« vieler Novellen, die aus der persönl. u. sogar berufl. Erfahrung hervorgingen (Auf der Universität, Draußen im Heidedorf, Viola tricolor, Ein stiller Musikant. In: Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte, 1875). Es ist jedoch problematisch, S.s Novellistik auf eine einzige Formel reduzieren zu wollen, zumal sie – so S. selbst – »ziemlich verschiedene Töne« kennt u. im übrigen, oft durch Zeitdruck u. Geldnot bestimmt, von sehr unterschiedl. Qualität ist. Fest steht, dass S., wie auch Heyse, sein Novellenschaffen als eine Möglichkeit, »das Höchste der Poesie zu leisten«, betrachtete. Seine berühmte Aussage aus dem Jahr 1881 – »die heutige Novelle ist die Schwester des Dramas und die strengste Form der Prosadichtung. Gleich dem Drama behandelt sie die tiefsten Probleme des Menschenlebens; gleich diesem verlangt sie zu ihrer Vollendung einen im Mittelpunkte stehenden Konflikt, von welchem aus das Ganze sich organisiert, und demzufolge die geschlossenste Form und die Ausscheidung alles Unwesentlichen; sie duldet nicht nur, sie stellt

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auch die höchsten Forderungen der Kunst« – darf man indessen nicht vorbehaltlos auf S.s eigene Novellenkunst übertragen: Die meisten seiner Texte werden nicht von einer dramat. Strenge oder Konsequenz getragen, sondern es herrschen eher atmosphärische, erinnerungshafte, landschaftlich-stimmungshafte Elemente in ihnen vor, welche die Grundthematik von der Flüchtigkeit u. Unzulänglichkeit menschl. Erfahrung u. Bestrebungen unterstreichen. Die etwas sentimentalen Werte von Immensee sind noch im Spätwerk festzustellen; dagegen wendet sich S. von der Heiligenstädter Zeit an zunehmend sozialen Fragen zu, die den gesellschaftskrit. Ton von Im Schloß oder Auf der Universität bestimmen u. aktuelle Themen wie Vererbung, Kriminalität, Euthanasie u. sexuelle Hörigkeit aufgreifen, die gewisse Berührungspunkte mit dem Naturalismus aufweisen (Ein Bekenntnis. In: Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte, 1887/88. Schweigen. In: Deutsche Rundschau, 1883. John Riew’. In: ebd., 1885. Waldwinkel. In: ebd., 1874. Draußen im Heidedorf. Ein Doppelgänger. In: Deutsche Dichtung, 1886/87). In den histor. Novellen dagegen, deren Krönung Der Schimmelreiter darstellt, ist bei allen Zugeständnissen an den historisierenden Geschmack des Jahrhunderts eine zunehmende Beschäftigung mit unheiml. u. fantastischer Thematik – auf dem Sagen- u. Quellenstoff Schleswig-Holsteins fußend – festzustellen, welche die Authentizität histor. Gewährsleute u. Quellen, ja überhaupt die Glaubwürdigkeit u. Gültigkeit des Vergangenen in Frage stellt (Aquis submersus. Renate. In: Deutsche Rundschau, 1878. Eekenhof. In: ebd., 1879. Zur Chronik von Grieshuus. In: Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte, 1884/85. Ein Fest auf Haderslevhuus. In: ebd., 1885/86). Sie berühren sich insofern mit einer anderen kleinen Gruppe von Prosawerken, den Drei Märchen (Bulemanns Haus. Die Regentrude. Der Spiegel des Cyprianus. Hbg. 1866), als dort auch Fragen der menschl. Vereinsamung, »die dämonischen Abgründe des menschlichen Herzens« im nicht realistischen Rahmen zur Geltung kommen. Der Schimmelreiter gilt manchen als Kritik an Werten u. Normen der Gründerzeit – Selbst-

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heroisierung, Verlass auf Technik u. Fortschritt, Unterdrückung der Schwächeren –, wobei dieser Zeitbezug nur eine von vielen Komponenten ist, welche die Novelle zum einheitl. Gebilde u. zur packenden Erzählung machen. Ausgaben: Gesamtausgaben: Ges. Schr.en. 19 Bde., Braunschw. 1877–89. – Sämtl. Werke. Hg. Albert Köster. 8 Bde., Lpz. 1919/20. – Sämtl. Werke. Hg. Peter Goldammer. 4 Bde., Bln. 1956. Weimar 61986. – Sämtl. Werke. Hg. Karl Ernst Laage u. Dieter Lohmeier. 4 Bde., Ffm. 1987 f. – Teilausgaben: Sommergesch.n u. Lieder. Bln. 1851. – Novellen. Schleswig 1868. – Zerstreute Kapitel. Bln. 1873. – Vor Zeiten. Ebd. 1886 (N.n). – Briefe: T. S.: Briefw. [BW]. Krit. Ausg. Hg. in Verb. mit der T.-S.Gesellsch. Bln. 1991 ff. [vor Bd. 12.1991 ohne Zählung ersch. u. unter Stücktiteln nachgewiesen. Einige Bde. sind in der ungezählten Reihe ›Briefeditionen der T.-S.-Gesellsch.‹ ersch.]: Briefe in die Heimat aus den Jahren 1853–64. Hg. Gertrud Storm. Ebd. 1907. – Briefe an Friedrich Eggers. Hg. H. Wolfgang Seidel. Ebd. 1911. – Briefe an seine Braut. Hg. G. Storm. Braunschw. 1915. – Briefe an seine Frau. Hg. dies. Ebd. 1915. – Briefe an seine Kinder. Hg. dies. Ebd. 1916. – S. als Erzieher. Seine Briefe an Ada Christen. Hg. Oskar Katann. Wien 1948. – S.s Briefw. mit Theodor Mommsen. Hg. Hans-Erich Teitge. Weimar 1966. – T. S. – Paul Heyse. Hg. Clifford Albrecht Bernd. 3 Bde., Bln. 1969–74 (BW 1–3). – Briefe. Hg. P. Goldammer. 2 Bde., Bln./Weimar 1972. 21984. – T. S. – Erich Schmidt. Hg. Karl Ernst Laage. Bln. 1972–76 (BW 4–5). – T. S. – Eduard Mörike u. Margarethe Mörike. Hg. Hildburg u. Werner Kohlschmidt. Bln. 1978 (BW 6). – T. S. – Ernst Esmarch. Hg. Arthur Tilo Alt. Bln. 1979 (BW 7). – T. S. – Theodor Fontane. Briefw. Hg. Jacob Steiner. Bln. 1981. Neuausg. Hg. Gabriele Radecke. Ebd. 2011. – T. S. – Wilhelm Petersen. Briefw. Hg. Brian Coughlan. Ebd. 1984. – T. S. – Hartmuth u. Laura Brinkmann. Hg. August Stahl. Bln. 1986 (BW 10). – T. S. – Klaus Groth. Hg. Boy Hinrichs. Bln. 1990 (BW 11). – T. S. – Otto Speckter u. Hans Speckter. Hg. Walter Hettche. Bln. 1991 (BW 12). – T. S. – Gottfried Keller. Hg. K. E. Laage. Bln. 1992 (BW 13). – T. S. – Heinrich Schleiden. Hg. Peter Goldammer. Bln. 1995 (BW 14). – Dieter Lohmeier: Der Briefw. zwischen T. S. u. Ferdinand Tönnies. In: Stormlektüren. FS K. E. Laage. Hg. Gerd Eversberg. Würzb. 2000, S. 91–127. – T. S. – Constanze Esmarch. Hg. Regina Fasold. 2 Bde., Bln. 2002 (BW 15). – T. S. – Gebr. Paetel. Hg. Roland Berbig. Bln. 2006 (BW 16). – T. S. – Ernst Storm. Hg. David S. Jackson. Bln. 2007 (BW 17). – T. S.: Neue Doku-

Storz mente, neue Perspektiven. Hg. K. E. Laage. Bln. 2007. – Einzeltitel: Eine Halligfahrt. In: Westermanns illustrierte dt. Monatsh.e, 1871/72 (E.). – Pole Poppenspäler. In: Dt. Jugend, 1874 (E.). – Psyche. In: Dt. Rundschau, 1875 (E.). – Im Nachbarhause links. In: Westermanns illustrierte dt. Monatsh.e, 1875/76 (E.). – Der Herr Etatsrat. In: ebd., 1881 (E.). – Bötjer Basch. In: Dt. Rundschau, 1886 (E.). Literatur: Bibliografien und Forschungsberichte: Schr.en der T.-S.-Gesellsch. Heide 1952 ff. (enthält Jahresbibliogr.). – T. S. Bibliogr. Bearb. Hans-Erich Teitge. Bln. 1967. – Karl Ernst Laage: T. S. Leben u. Werk mit einem Handschriftenkat. Bln. 1988. – Goedeke Forts. – Gesamtdarstellungen: Gertrud Storm: T. S. Ein Bild seines Lebens. 2 Bde., Bln. 1912/13. – Robert Pitrou: La vie et l’œuvre de T. S. Paris 1920. – Thomas Mann: T. S. In: Leiden u. Größe der Meister. Bln. 1935 u. ö. – Laage (s. o.). – Georg Bollenbeck: T. S. Ffm. 1988. – Roger Paulin: T. S. Mchn. 1991. – K. E. Laage: T. S. Biogr. Heide 1999. – David A. Jackson: T. S. Dichter u. demokr. Humanist. Eine Biogr. Bln. 2001. – Volker Griese: T. S. Chronik seines Lebens. Husum 2002. – Clifford A. Bernd: T. S. The Dano-German Poet and Thinker. Oxford 2003. – Paul Barz: T. S. – Wanderer gegen Zeit u. Welt. Bln. 2004. – K. E. Laage: T. S.s öffentl. Wirken. Eine polit. Biogr. [Heide] 2008. – Zum Werk: C. A. Bernd: T. S.’s Craft of Fiction. Chapel Hill 1963. – Wege zum neuen Verständnis T. S.s. Vorträge u. Referate zum 150. Geburtstag. In: Schr.en der T.-S.-Gesellsch. 17 (1968). – Harro Müller: T. S.s Lyrik. Bonn 1975. – Winfried Freund: T. S. Stgt. 1987. – Walter Zimorski (Hg.): T. S. Studien zur Kunst- u. Künstlerproblematik. Bonn 1988. – Gerd Eversberg u. a.: S.-Lektüren. FS K. E. Laage. Würzb. 2000. – Renate Bürner-Kotzam: Vertraute Gäste – befremdende Begegnungen in Texten des bürgerl. Realismus. Heidelb. 2001. – Ingrid Schuster: Tiere als Chiffre. Natur u. Kunstfigur in den Novellen T. S.s. Bern u.a. 2003. – Christine Reiter: Gefährdete Kohärenz. Literar. Verarbeitung einer ambivalenten Wirklichkeitserfahrung in den Novellen T. S.s. St. Ingbert 2004. – No-Eun Lee: Erinnerung u. Erzählprozess in T. S.s frühen Novellen (1848–1859). Bln. 2005. – Louise Forssell: ›Es ist nicht gut, so ganz allein zu sein ...‹. Männlichkeiten u. Geschlechterbeziehungen in T. S.s später Novellistik. Stockholm 2006. – Malte Stein: ›Sein Geliebtestes zu töten‹. Literaturpsycholog. Studien zum Geschlechter- u. Generationenkonflikt im erzähler. Werk T. S.s. Bln. 2006. – Petra Weser-Bissé: Arbeitscredo und Bürgersinn. Das Motiv der Lebensarbeit in Werken v. Gustav Freytag, Otto Ludwig, Gottfried Keller u. T. S.

312 Würzb. 2007. – Nathalie Klepper: T. S.s späte Novellen. Bürgerl. Krisenerfahrungen im Umbruch zur Moderne. Marburg 2008. – Mareike Börner: Mädchenknospe – Spiegelkindlein. Die Kindfrau im Werk T. S.s. Würzb. 2009. – L. Forssell: Zur Körpersprache in T. S.s Novelle ›Der Schimmelreiter‹. ›Er reichte ihr die Hand u. drückte sie, als ob es zwischen ihnen keines weiteren Wortes bedürfe ...‹. Hbg. 2009. – Lars Korten: Poietischer Realismus. Zur Novelle der Jahre 1848–1888: Stifter, Keller, Meyer, S. Tüb. 2009. – Aiko Onken: Erinnerung, Erzählung, Identität. T. S.s mittlere Schaffensperiode (1867–1872). Heidelb. 2009. – Einzelaspekte: Günter Spurgart (Hg.): T. S. im Film. Lübeck 1987. – Heiner Mückenberger: T. S. – Dichter u. Richter. Eine rechtsgeschichtl. Lebensbeschreibung. Baden-Baden 2001. – G. Eversberg: T. S. als Schüler. Heide 2006. – K. E. Laage: ›Wenn ich doch glauben könnte!‹ T. S. u. die Religion. Heide 2010. – Handschriftlicher Nachlass: Archiv der T.-S.-Gesellsch. Husum. Nissenhaus Husum. Schleswig-Holsteinische Landesbibl. Kiel. Roger Paulin

Storz, Claudia, verh. Bürli, * 13.6.1948 Zürich. – Erzählerin, Dramatikerin. S. studierte in Zürich u. Oxford Anglistik, Germanistik u. Kunstgeschichte u. wurde über Gewolltes Mißverständnis in der Werbesprache promoviert. 1973–1981 unterrichtete sie am Gymnasium in Aarau, wo sie seitdem als freie Schriftstellerin lebt. Für ihr literar. Schaffen wurde sie u. a. 1978 mit dem Rauriser Literaturpreis, 1981 mit dem ConradFerdinand-Meyer-Preis u. 2002 mit dem Literaturpreis des Kantons Solothurn ausgezeichnet. Der Ausgangspunkt für ihren ersten Roman, Jessica mit Konstruktionsfehlern (Zürich 1977), ist S.’ eigene Situation als Teilinvalidin infolge einer unheilbaren Darmkrankheit. Ohne Selbstmitleid u. mit trotzigem Humor beschreibt sie, wie die Studentin Jessica »eine Welt aufbauen muß, in der die Krankheit Platz hatte«. Über das persönl. Schicksal hinausgehend, wird die gesellschaftl. Ausgrenzung von Kranken eindrücklich dargestellt. Die Technik der Vermischung von Zeitebenen, das Nebeneinander von Erzählgegenwart, Rückblenden u. Traum, wird auch in den weiteren Romanen angewandt. In Die Wale kommen an Land (ebd. 1984) wer-

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den authent. Zeitungsmeldungen über die über Krankheit. In: Schweizer Monatshefte 58 Gefährdung des ökolog. Gleichgewichts als (1978), S. 142–148.– Elke Kasper: C. S. In: KLG . – zusätzl. dokumentarische Ebene eingesetzt. Eva Lia Wyss: Lyrikerinnen 1980–1993. Eine BeErzählt wird die Entwicklungsgeschichte ei- standsaufnahme u. drei Einblicke: Erika Burkart, C. S. u. Sabine Reber. In: Und schrieb u. schrieb wie ner jungen Frau mit Rückblenden auf ihre ein Tiger aus dem Busch. Hg. Elisabeth Ryter. ZüKindheit. – S.’ Werk zeigt eine wache Sensi- rich 1994, S. 243–259. bilität für die gesellschaftl. Randposition der Guido Stefani / Elke Kasper Frau. Im Roman Das Schiff (Zürich/Frauenfeld 1989) sucht Nema auf einer Schiffsreise über Storz, Gerhard, auch: Georg Leitenberger, den Atlantik einen Ausweg aus einer schwe- * 19.8.1898 Rottenacker bei Biberach/Riß, ren persönl. Krise: »Man sagt das doch so: † 30.8.1983 Leonberg. – Literaturwissenetwas über Bord werfen [...] ein neues Leben schaftler, Pädagoge, Kulturpolitiker. anfangen.« Kindheit ist das gemeinsame Thema der Der Sohn eines Pfarrers studierte nach der Biografie Burgers Kindheiten (ebd. 1996) u. dem Teilnahme am Ersten Weltkrieg in Tübingen Roman Quitten mit Salz (ebd. 1999. Tb. Mchn. Klassische Philologie u. Germanistik. Nach 2001). S. unternimmt eine Annäherung an Staatsexamen u. Promotion (1923) wirkte S. den Schweizer Schriftsteller Hermann Bur- zunächst als Schauspieler, Dramaturg u. Reger, der sich am 28.2.1989 selbst tötete. Sie gisseur in Karlsruhe, Mannheim u. Saarbrügeht von der These aus, dass die Grundsub- cken, ehe er seit 1932 als Gymnasiallehrer für stanz von Burgers Werk seine Kindheit sei, Alte Sprachen u. Deutsch in Biberach u. die sie in zehn Urgeschichten herauszu- Schwäbisch Hall tätig war. Seit 1935 schrieb destillieren sucht. Eine andere Kindheit wird S. sprachkrit. Glossen für die »Frankfurter aus der Perspektive des argentin. Mädchens Zeitung«, die deutlich gegen den Ungeist des Mayuli erzählt. Bereits neunjährig u. mit nationalsozialistischen Regimes gerichtet Erfahrungen wie Obdachlosigkeit u. Armut waren. Sie bilden den Kern des bekannten, wird sie von liberalen Schweizer Eltern ad- zusammen mit Dolf Sternberger u. Wilhelm optiert. Das Mädchen fällt in das Leben von Emanuel Süskind verfassten Werks Aus dem Toni u. Jasmin wie ein Komet. Mayuli hatte Wörterbuch des Unmenschen (Hbg. 1957. Erw. über die Sprachsich Eltern wie aus der Fernsehserie »Dallas« mit Zeugnissen des Streites 3 kritik. Hbg./Düsseld. 1968. Nachdr. Ffm./ gewünscht. Sie nimmt ihre Adoptiveltern, die Bln. 1989). Politisch unbelastet, wurde S. nicht schlagen u. nicht schreien, absolut nicht ernst. Beide Seiten sind überfordert. Der Ge- nach dem Zweiten Weltkrieg Oberstudiendidichtband Federleichter Viertelmond (Bern/Wet- rektor in Schwäbisch Hall u. gab 1948–1968 tingen 2005) bietet einen umfassenden zusammen mit Friedrich Maurer u. Robert Überblick über S.’ lyr. Schaffen seit 1969. Ulshöfer die Zeitschrift »Der Deutschunterricht« heraus, welche didaktisch anspruchsEinzelne Abteilungen enthalten Liebes-, Navoll zwischen universitärer Germanistik u. tur- u. Flussgedichte. Insgesamt schlägt sich Gymnasialunterricht vermittelte. Seine wisin vielen Gelegenheitsgedichten S.’ Weltläusenschaftl. Bücher (u. a. Der Dichter Friedrich figkeit nieder. Schiller. Stgt. 1959. 41968. Eduard Mörike. Ebd. Weitere Werke: Auf der Suche nach Lady Gre1967. Der Vers in der neueren deutschen Dichtung. gory. Zürich 1981 (R.). – Immaculata. Urauff. Aarau Stgt. 1970. Nachdr. 1987. Heinrich Heines ly1985 (D.). – Gesch. mit drei Namen. Ebd. 1986 (E.en). – Noahs Tochter. Libretto für ein Oratorium. rische Dichtung. Ebd. 1971) erzielten – nicht Urauff. Aarau 1988. – Die große Frau Agnes. Mys- zuletzt wegen ihrer stilistischen Qualität, die terienspiel. Urauff. Königsfelden 1991. – Meyers auch auf Laien als Leser Rücksicht nahm – Stollen. Urauff. 1991. – Zäntume luteri Liebi. eine ungewöhnlich breite Wirkung. 1958–64 gehörte S., Mitgl. der CDU, als Urauff. 2003.– Wörter schreiben mich wach. In: orte 31 (2007), H. 151, S. 8–39. Kultusminister der baden-württembergiLiteratur: Jürgen Serke: Frauen schreiben. schen Regierung unter den MinisterpräsiHbg. 1979, S. 317 f. – Hermann Burger: Schreiben dentenGebhard Müller u. Kurt Georg Kie-

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singer an. Danach lehrte S. zunächst als Storz, Oliver, * 30.4.1929 Mannheim, Gastprofessor in den USA, ehe er auf Anre- † 6.7.2011 Egling/Obb. – Erzähler, Rogung Wolfgang Schadewaldts eine Honorar- mancier, Drehbuchautor, Feuilletonist. professur an der Universität Tübingen erNach dem Studium in Tübingen war der hielt. In der 68er-Bewegung sah der bei aller Sohn von Gerhard Storz zunächst Lehrer. Weltläufigkeit konservativ gesinnte S. nichts 1957–1960 arbeitete S. als Redakteur der als die Zerstörung der Universität. Allem ab»Stuttgarter Zeitung« u. wurde Dramaturg u. hold, was ihm als Tagesmode erschien, setzte Produzent bei der Bavaria in München. Er er sich in dem Buch Sprachanalyse ohne Sprache verfasste Drehbücher für zeitkrit. Fernseh- u. (ebd. 1975) kritisch mit der modernen LinSpielfilme, bearbeitete Dramen für das Fernguistik auseinander. sehen, führte auch Regie u. schrieb Essays zu 1966 wurde S. Präsident der Deutschen medientheoret. Fragen. Seit 1974 lehrte er Akademie für Sprache und Dichtung in Theatertheorie an der Stuttgarter Hochschule Darmstadt u. erhielt in Anerkennung seiner für Darstellende Kunst u. zog schließlich als sprachpädagog. Arbeit den Konrad-Duden- freier Autor u. Regisseur nach Deining bei Preis. Sein erzählerisches Werk umfasst u. a. München. Er erhielt bedeutende Fernsehden Roman Der Lehrer (Ffm. 1937; unter preise. Pseud.) u. die Erzählungen Musik auf dem Im Mittelpunkt von S.’ erstem Roman, Lande (Ffm. 1940), Die Einquartierung (Stgt. Nachbeben (Mchn. 1977), steht ein Journalist, 1946) u. Reise nach Frankreich (ebd. 1948). Von der auf ihn angesetzte Killer erwartet. Im seinem erzählerischen Talent zeugen auch Roman Die Nebelkinder (Hbg. 1986) erzählt S. die beiden autobiogr. Bände Im Lauf der Jahre. ironisch-humorvoll, oft aus der Perspektive Ein Lebensbericht aus der ersten Jahrhunderthälfte Heranwachsender, von der NS-Zeit in einer (ebd. 1973) u. Zwischen Amt und Neigung. Ein schwäb. Kleinstadt. Im Roman Die FreibadcliLebensbericht aus der Zeit nach 1945 (ebd. 1976). que (Mchn. 2008) thematisiert er den letzten 1942 übersetzte er Die Verschwörung des Catili- Kriegssommer, das Kriegsende u. die unmitna (Stgt.). S. war der Vater des Schriftstellers telbare, chaotische Nachkriegszeit im Erleben Oliver Storz. von jugendl. Gymnasiasten einer Kleinstadt Weitere Werke: Das Theater der Gegenwart. nahe Heilbronn, die eigentlich kein HeldenEine zeitkrit. Betrachtung. Karlsr. 1927. – Laien- tum mehr im Sinn haben, am Ende aber doch brevier über den Umgang mit der Sprache. Ffm. noch in den Krieg ziehen müssen. 1937. – Der immerwährende Garten. Tüb. 1940 (E.; unter Pseud.). – Jeanne d’Arc u. Schiller. Eine Studie über das Verhältnis v. Dichtung u. Wirklichkeit. Mchn. 1946. – Goethe-Vigilien. Stgt. 1953. – Figuren u. Prospekte. Ausblicke auf Dichter u. Mimen, Sprache u. Landschaft. Stgt. 1963. – Und dennoch Sprachrichtigkeit. Mannh. 1966. – Schwäb. Romantik. Stgt. 1967. – Klassik u. Romantik. Eine stilgeschichtl. Darstellung. Mannh. u.a. 1972. – Capriccios. Stgt. 1978.

Literatur: Zum 70. Geburtstag v. G. S. In: Jb. Dt. Akademie für Sprache u. Dichtung 1968 (1969), S. 140–149. – Über Lit. u. Gesch. FS G. S. Hg. Bernd Hüppauf u. Dolf Sternberger. Ffm. 1973 (mit Bibliogr.). – Clara Menck: G. S. Ein Therapeut der Sprache. In: ebd. 1978, S. 88 f. – Fritz Martini: G. S. In: DU 4 (1978), S. 5–7. – Andreas Thomasberger: G. S. In: IGL. – Klaus-Jürgen Matz: G. S. In: BadenWürttembergische Biographien. Bd. 4. Hg. Fred Ludwig Sepaintner. Stgt. 2007, S. 357–362. Hans-Albrecht Koch

Weitere Werke: Lokaltermin. Mchn. 1962 (E.). – Ritas Sommer. Gesch.n aus unserer Zeit. Hbg. 1984. Walter Olma

Stosch, Friedrich Wilhelm, * 25.12.1648 Kleve, † 20.8.1704 Berlin; Grabstätte ebd. – Philosophischer Schriftsteller. Über S.s Biografie ist wenig bekannt; ältere Darstellungen konnten inzwischen jedoch durch Auswertung von Archivmaterial korrigiert werden (Döring). Als Sohn des Berliner Hofpredigers Bartholomäus Stosch verbrachte er seine Jugend in Berlin. Das Studium der Philosophie, Theologie u. Jurisprudenz in Frankfurt/O. brachte ihn nicht nur in Bekanntschaft mit Naturrechtslehren u. cartesian. Gedankengut, sondern sehr wahrscheinlich auch mit den dogmenkrit. Argu-

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menten des aus Osteuropa eindringenden Sozinianismus. Auf eine Reise durch Italien, Frankreich u. die Niederlande folgte die Anstellung als Geheimer Kammersekretär am Berliner Hof. In den achtziger Jahren wandte er sich medizinischen Fragen zu, wahrscheinlich auch unter dem Einfluss des als Leibarzt des Kurfürsten tätigen Cartesianers Theodor Craanen. 1692 erschien anonym u. mit falschem Druckort Amsterdam – recte: wahrscheinlich Guben an der Neiße – sein einziges Werk, das einen »beispiellosen Eklat« (Winfried Schröder) hervorrufen sollte: Concordia rationis et fidei (Neudr. hg. von W. Schröder. Stgt.-Bad Canstatt 1992; Zitat S. 10). Das Werk erschien trotz der Titelangabe 1692 vermutlich erst ein Jahr später (s. Döring). Unter dem Deckmantel eines apologetischen Vorhabens (wörtlich: Übereinstimmung von Vernunft u. Glauben) präsentiert S. dort auf engstem Raum einen weltanschaul. Entwurf, der sich als Kritik u. Alternative zum christl. Weltbild versteht. In thesenhaft aneinandergereihten Definitionen entwirft der Autor eine materialistische Kosmologie u. Anthropologie (Kap. I) sowie eine empiristische Erkenntnistheorie (Kap. II–III), aus denen dann eine deterministische Handlungslehre (Kap. IV) abgeleitet wird. Sie dient dem Zweck, anthropolog. u. eth. Grundannahmen der christl. Dogmatik zu entkräften: Wenn der Mensch keinen freien Willen besitze, sei er nicht schuldfähig u. habe kein göttl. Strafgericht zu erwarten; wenn die menschl. Seele sterblich sei, könne es keine jenseitigen Höllenstrafen geben. Gut u. Böse seien demnach nur utilitaristisch zu bestimmen (Kap. V), das moralisch höchste Gut bestehe dagegen, wie es in Anschluss an den Neuepikureismus Gassendis heißt, in der von Leidenschaften befreiten Gemütsruhe. Als Grundlage für das gesellschaftl. Zusammenleben empfiehlt S. die Bestimmungen des Naturrechts (Kap. VI–IX), die er nach dem Vorbild von Grotius u. Pufendorf in Form eines dreiteiligen Pflichtenkatalogs vorträgt (Pflichten gegenüber Gott, sich selbst u. anderen Menschen). Obwohl die Schrift lange Zeit als zentraler Beleg für die frühe dt. Spinoza-Rezeption

Stosch

angesehen wurde, bleibt die Aneignung spinozan. Gedankenguts nur oberflächlich. Neuere Quellenstudien (W. Schröder) erweisen den Text als eklekt. Montage zahlreicher Autoren des 17. Jh. (neben Spinoza v. a. Gassendi, Locke, Pufendorf, Th. Craanen), die gerade in der Fragmentierung u. Zusammenschau radikalisiert werden. Die Ablehnung von dogmat. Kernsätzen wie der Gottheit Christi, den ewigen Strafen u. der Existenz von Engeln u. bösen Geistern weisen große Ähnlichkeiten zu sozinian. Lehren auf. Eine bewusst irreführende Zitierweise u. zahlreich eingestreute Lehrsätze der protestantischen Orthodoxie sollen dazu dienen, den radikalaufklärerischen Charakter der Schrift für den oberflächl. Leser zu verschleiern (dazu bes. Schröder 1987). Im Dez. 1693 wurde S. verhaftet u. seines Amtes enthoben. Es wurde eine Kommission eingesetzt, um den Vorgang zu untersuchen, der mit Samuel Pufendorf u. Philipp Jakob Spener zwei Gelehrte von europ. Rang angehörten. Entgegen einer verbreiteten Meinung sollte S. nicht als Spinozist, sondern als Sozinianer angeklagt werden: Die Prozessakten (abgedr. in Concordia 1992) enthalten keinen Hinweis auf Spinoza. Mehrere Gnadengesuche (ebd., S. 245–293) an den Kurfürsten, in denen S. sich gegen seine Verhaftung u. die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zur Wehr setzte, blieben vorerst wirkungslos. Theologen aus Berlin u. Frankfurt/O. erarbeiteten eine Widerlegung, die Anfang 1694 vorlag. Am 17.3.1694 widerrief S. seine Thesen; das Buch wurde öffentlich vom Henker verbrannt, sein Besitz bei Strafe von 500 Talern verboten. Diesen Maßnahmen fiel nahezu die gesamte Auflage von ursprünglich 100 Stück zum Opfer, sodass heute nur noch wenige Exemplare erhalten sind. Im 18. Jh. erfolgte die Rezeption des Werks hauptsächlich über Abschriften. S. konnte sein Amt wieder einnehmen, wurde bald zum Hofrat befördert u. 1701 im Zuge der preuß. Krönung sogar geadelt. Dieses überraschend tolerante Vorgehen erklärt sich zum einen aus dem Einfluss von S.s Vater u. der Verwandtschaft mit hochrangigen Hofbeamten, zum anderen aus dem religionspolit. Kurs des preuß. Hofes u. einem

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theolog. Liberalismus, der sich nicht zuletzt unter dem Einfluss des frz. Réfuge entfaltet hatte. Trotz zahlreicher Widersprüche u. geringer Originalität bleibt sein einziges Werk bedeutsam als repräsentatives Zeugnis der radikalen Frühaufklärung in Deutschland u. als ihr vielleicht prominentester Beitrag zur europäischen ›littérature clandestine‹. Literatur: Erich Wenneker: F. W. S. In: Bautz (Lit.). – Winfried Schröder: Spinoza in der dt. Frühaufklärung. Würzb. 1987. – Detlef Döring: Frühaufklärung u. obrigkeitl. Zensur in Brandenburg. F. W. S. u. das Verfahren gegen sein Buch ›Concordia rationis et fidei‹. Bln. 1995. – W. Schröder: Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- u. Religionskritik des 17. u. 18. Jh. Stgt.-Bad Canstatt 1998. Björn Spiekermann

Stowasser, Josef Maria, * 10.3.1854 Opava/Troppau, † 24.3.1910 Wien; Grabstätte: ebd., Zentralfriedhof. – Schulmann; Klassischer Philologe u. Übersetzer. Sohn eines Apothekerprovisors, studierte S. 1872–1876 in Wien Klassische Philologie, war seit 1878 (Lehrbefähigung für Klassische Philologie 1879) Gymnasiallehrer in Wien, Freistadt/Oberösterr., zuletzt am Realgymnasium Wien; 1908 trat er, bereits schwer krank, in den Ruhestand. S., eine begeisternde u. unkonventionelle Lehrerpersönlichkeit (zu seinen Schülern zählte u. a. Eduard Castle), hat als Nachdichter Ungewöhnliches, als wissenschaftlich arbeitender Schulmann Bleibendes geleistet. Er gab Epigramme der Anthologia Palatina in der von ihm als adäquat erachteten Form des oberösterr. Schnaderhüpfels (u. umgekehrt) wieder (Griechische Schnadahüpfeln. Wien 1903); in seinen Anthologien Griechenlyrik u. Römerlyrik (beide Heidelb. 1909. 21910) verwendete er in volksbildnerischer Absicht das jeweils passende dt. Versmaß u. den Endreim. Seine einzigartige Belesenheit u. Sprachbeherrschung kamen ihm auch für seine zahlreichen, z. T. nicht ohne Widerspruch gebliebenen Beiträge zur lat. Etymologie zugute. Eponym, nicht nur im österr. Schulbereich, wurde S. jedoch durch sein LateinischDeutsches Schulwörterbuch (Prag/Wien/Lpz. 1894; mehrere Aufl.n. Nachdr. Wien 1969),

v. a. in der Bearbeitung (von Michael Petschenig u. Franz Skutsch) als Der kleine Stowasser (Wien/Lpz. 1913; zahlreiche Aufl.n. Neubearb. Wien 1979), mit dem er das Wörterbuch als Lehrbuch für den Sprachunterricht, aber auch für alle anderen Kulturfächer einzuführen suchte. Literatur: Mitt.en des Vereins der Freunde des humanist. Gymnasiums 11 (1910), S. 10–21, 27 f. – Eduard Castle: S. In: Nagl-Zeidler-Castle 3. Wien 1930, S. 728 f. – Hans Fischl: J. M. S. In: Erziehung u. Unterricht (1954), S. 129–135. – J. M. S. In: ÖBL. Hubert Reitterer

Stoy, Johann Siegmund, * 18.6.1745 Nürnberg, † 19.12.1808 Nürnberg. – Evangelischer Theologe u. Pädagoge. S. studierte Theologie, Kirchengeschichte u. Kirchenrecht sowie Philosophische Moral seit 1762 in Altdorf, seit 1765 in Leipzig; zu seinen akadem. Lehrern gehörten Gellert u. Gottsched. S. wurde 1767 Frühprediger in St. Walburg auf der Veste in Nürnberg, 1774 Pfarrer in Henfenfeld. 1777 heiratete er Barbara Magdalena Paulus. 1782 gründete er eine Erziehungsanstalt in Nürnberg u. wurde Professor der Pädagogik. S. war als »Asterio der dritte« Mitgl. des Pegnesischen Blumenordens. S.s Goldener Spiegel für Kinder (3 Tle., Nürnb. 1778–81. 41810. Später auch u. d. T. Goldener Spiegel, ein Lesebuch für kleine Knaben. Ebd. 5 1831) enthält voneinander unabhängige kurze Texte, in denen gemäß der Aufklärungs-Pädagogik Tugenden belohnt u. Laster bestraft werden. S.s Bilder-Akademie für die Jugend (1 Bildbd., 2 Textbde., ebd. 1780–84) gibt in Anlehnung an Basedows Elementarwerk (1774), jedoch weniger utilitaristisch, eine am Tugendsystem des Christentums u. der Aufklärung orientierte Beschreibung der Welt, die als allg. Handbuch für Erzieher, für den Privatunterricht u. für die öffentl. Schulen gedacht ist. Weitere Werke: Betrachtungen einer stillen Seele über die Hülfe v. oben. Nürnb. 1774. – Hundert u. fünfzig Räthsel. Ebd. 1779. – Bibel für Kinder. Ebd. 1781. – Gesangbuch für Kinder. Ebd. 1781. – Kleine Biogr. für Kinder. Ebd. 1788. – Kurzer Entwurf einer ganz unerhörten Gesch., zur Beherzigung u. Warnung. Ebd. 1801.

317 Literatur: Will/Nopitsch 8. – Theodor Brüggemann u. Hans-Heino Ewers: Hdb. zur Kinder- u. Jugendlit. 1750–1800. Stgt. 1982. – Anke te Heesen: Das Werkzeug des Begreifens. Die BilderAkademie für die Jugend (1780–84) des J. S. S. Diss. Oldenb. 1994. – HKJL 1750–1800, bes. S. 1099–1114. Wolfgang Biesterfeld / Red.

Strachwitz, Moritz (Karl Wilhelm Anton) Graf von, * 13.3.1822 Frankenstein/ Schlesien (heute: Zabkowice S´laskie), † 11.12.1847 Wien; Grabstätte: Schloss Peterwitz bei Frankenstein, Familiengruft. – Lyriker. S. stammte aus einem alten schlesisch-kath. Adelsgeschlecht. Dem Wunsch seines Vaters gemäß, der als Gutsbesitzer zgl. hoher Verwaltungsbeamter war, studierte er seit 1841 in Breslau Rechtswissenschaft. Für drei weitere Semester wechselte er im Herbst des folgenden Jahres nach Berlin. Dort stürzte er sich in das gesellschaftl. Leben, fand aber auch Anschluss an den literar. Verein »Tunnel über der Spree«, wo er bald (so Fontane) zum stilbildenden »Mittelpunkt« wurde, »zugleich aller Stolz und Liebling«. Im Sommer 1843 unternahm S. eine Reise nach Skandinavien. Nach Studienabschluss wieder in seine Heimat zurückgekehrt, legte er 1844 in Breslau das Auskultatorenexamen ab. Fast ein Jahr arbeitete er als Referendar beim Kreisgericht Grottkau, bevor er sich als Privatmann auf dem väterl. Gut Peterwitz literar. Neigungen widmete. Seit längerem von angegriffener Gesundheit, erkrankte er auf einer Reise nach Italien in Venedig schwer u. starb während der hektisch eingeleiteten Heimfahrt. Als 20-Jähriger legte S. mit den Liedern eines Erwachenden (Breslau 1842) seinen ersten Gedichtband vor; der zweite, die Neuen Gedichte, wurde kurz vor seinem Tod ausgeliefert (datiert Breslau 1848). Bereits die Sammlung aus der Gymnasial- u. frühen Studienzeit weist ihn als ein Formtalent von hohen Graden aus. Als Erbe der Romantik, als den er sich selbst sieht, greift er bes. gern auf eine Fülle von Vorgaben zurück, an denen er seine Möglichkeiten erprobt: auf Sonette, Terzinen u.

Strachwitz

Stanzen wie auf Oden, Ghaselen oder Volksliedstrophen. Ihr zentrales Motiv ist ein leidenschaftl., jugendlich-aristokratischer Vitalismus, der herausfordernd seinen Widerspruch zu der in konventioneller Enge u. Handlungslähmung befangenen Zeit betont. Gegen die »philisterhafte Häuslichkeit« u. das mehrfach angegriffene frühkapitalistische »Ellenkrämertum« setzt S. den »Drang nach Tat und Abenteuer«. Polemisch distanziert er sich von der Weltschmerzpoesie wie von der Tendenzdichtung des Vormärz, deren Pathos er freilich nicht nur in einigen demonstrativen Herwegh-Bezügen verpflichtet bleibt. In Liebesgedichten machen Stimmungen der Desillusionierung flüchtiger Amouren zunehmend dem leidenschaftl. Preis von »edler Herrin« u. »reiner Minne« Platz. Der nachgelassene Terzinenzyklus Venedig verbindet die Trauer über »verlorene Liebe« mit dem Bewusstein des nahen Todes. Als polit. Lyriker sympathisiert S. vage mit einer geeinten dt. Monarchie. Zum Schutz vor revolutionären Bestrebungen wie vor Tyrannei u. vor äußeren Gefahren wirbt er für ein wechselseitiges Vertrauensverhältnis zwischen »Fürst und Volk« (Germania). Die Folie für S.’ Sehnsüchte nach der Wiederkehr aristokratischer Männlichkeit, die sich im Kampf erfüllt, ist die idealisierte Welt nordischen u. mittelalterl. Heldentums, die er in seinen Balladen beschwört. Anknüpfend an skandinav. Heldenlieder u. die englischschott. Volksballade, gelten sie als Höhepunkt seines Werks. Ihr vorherrschender Typ ist die reine Handlungsballade. Die Protagonisten sind ihrer selbst gewisse Tatmenschen, rasch zur Gewalttätigkeit entschlossene Einzelkämpfer zumal, ohne Reflexion u. psycholog. Vertiefung. Auch stilistisch ist der Aktivismus das hervorstechende Kriterium seiner Balladen. S. hat eine Vorliebe für die Chevy-Chase-Strophe mit ihrer vorwärtsdrängenden Dynamik. Schon die Expositionen verzichten oft auf den epischen Bericht: In knapper, abgerissener Diktion stimmen sie auf die atemlose Bewegtheit des Geschehens ein. Die Historie ist dabei vornehmlich Kolorit des in grellen Farben vergegenwärtigten Heldentums. Die weithin bekannteste von S.’

Strahl

Balladen, Das Herz von Douglas, rühmt die stolze, wagemutige Gefolgschaftstreue bis in den Tod. S.’ Gedichte waren im 19. Jh. äußerst erfolgreich. Häufig wurden sie auch vertont, so von Loewe, Schumann u. Brahms. Vor allem aber prägte er über seine Wirkungsgeschichte die Vorstellungen, die sich mit der Ballade verbanden, lange u. nachhaltig. Zu denen, die das bei ihm vorherrschende Muster weiterführten, zählten der junge Fontane, Dahn u. Liliencron. Börries von Münchhausen erhob S. zum Vorbild für seine antimodernkonservative Balladentheorie. Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg ist S.’ vordergründiges Heldenideal jedoch zutiefst fragwürdig geworden. Ausgabe: Sämtl. Lieder u. Balladen. Hg. Hanns Martin Elster. Bln. 1912. Literatur: A.K.T. Tielo (d.i. Kurt Mikoleit): Die Dichtung des Grafen M. v. S. Bln. 1902. Neudr. Hildesh. 1977. – Börries Frhr. v. Münchhausen: Die Meister-Balladen. Stgt./Bln. 1923, S. 9–31. – Katharina Danzig: Gehalt u. Form der Balladen des Grafen S. Diss. Lpz. 1932. – Hanns Gottschalk: S. u. die Entwicklung der held. Ballade. Würzb.-Aumühle 1940. – Winfried Freund: Die dt. Ballade. Paderb. 1978, S. 88–94. – Maja Maria Gräfin Strachwitz: M. Graf S., Dichter zwischen Tradition u. Revolution. Bd. 1, St. Michael 1982. Bd. 2, hg. v. Ralph Falkenstein. Ffm. 1999. – Walter Dimter: M. v. S. 150. Todestag. In: Ostdt. Gedenktage 1997, S. 221–225. – Hans-Joachim Koppitz: M. Graf S. zu seinem 150. Todestage. In: Jb. der Schles. Friedrich-Wilhelms-Univ. zu Breslau 40/41 (2000), S. 187–208. – Goedeke Forts. Hans-Rüdiger Schwab / Red.

Strahl, Rudi, * 14.9.1931 Stettin (heute: Szczecin, Polen), † 4.5.2001 Berlin. – Dramatiker, Lyriker, Erzähler, Kinderbuch- u. Filmautor. S., Sohn eines Schlossers, übersiedelte 1948 in die SBZ. Nach dem Abitur war er acht Jahre lang Soldat u. Offizier bei der NVA (Hauptmann, Stabschef eines Bataillons) u. besuchte in dieser Zeit 1957/58 das Institut für Literatur »Johannes R. Becher« in Leipzig. 1959–1961 war er Redakteur der satir. Zeitschrift »Eulenspiegel«, seit 1961 freischaffender Schriftsteller, 1983 u. 1987 »writer in

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residence« u. Gastdozent an Universitäten in den USA. Seine Bücher sind in mehr als fünf Millionen Exemplaren verbreitet u. wurden in 26 Sprachen übersetzt; seine Bühnenstücke hatten mehr als 570 Inszenierungen. S. war einer der erfolgreichsten Autoren der DDR u. der meistgespielte Lustspielautor. Seit 1973 Mitgl. des Schriftstellerverbands der DDR, gehörte er ab 1978 dessen Präsidium an. 1980 wurde er Mitgl. des P.E.N.Zentrums der DDR. S. erhielt u. a. 1974 den Lessing-Preis, 1977 den Goethe-Preis der Stadt Berlin, 1980 den Nationalpreis der DDR, 1997 u. 1999 Hauptpreise für Volkstheaterstücke des Landes Baden-Württemberg. Der Tod seines Sohnes Bob Strahl (1959–1997), ebenfalls Schriftsteller (Wohl und Wehe. Bln. 1996. Eine unsterbliche Seele und andere Letzte-Minuten-Geschichten. Bln. 1999; teilveröffentlicht in: NDL 47, 1999, H. 5, S. 106–109) u. verheiratet mit der Funkredakteurin u. Fernsehmoderatorin Janine Strahl-Oesterreich, erschütterte S. sehr u. ließ ihn in eine Trauer fallen, von der er sich nicht völlig erholte. Nach Erzählungen (Sturm auf Stollberg. Bln./ DDR 1955), Lyrik (u. a. Souvenirs, Souvenirs. Bln./DDR 1961) u. anekdot. Erzählungen (Zwischen Zapfenstreich und später. Bln./DDR 1956) wurde die Komödie In Sachen Adam und Eva (Urauff. Bln./DDR 1969), in der über die Ehetauglichkeit des Autoschlossers Adam u. der Kinderschwester Eva das Publikum befinden darf, ein großer Erfolg. Ähnlich erfolgreich war Ein irrer Duft von frischem Heu (Urauff. Bln./DDR 1975. Als Film 1977. Als Oper von Wilhelm Neef, Urauff. 1981), dramaturgisch S.s überzeugendstes Stück, in dem der Konflikt zwischen einem Monsignore auf der Suche nach Wundern u. einem »Wunder« vollbringenden Funktionär zum Glück für alle führt. Arno Prinz von Wolkenstein (Urauff. 1977) kombiniert VerwunschenMärchenhaftes mit Alltäglichem, blinder Gehorsam u. dogmat. Rechthaberei entlarven sich selbst. Als sich S. mit Flüsterparty (1978. Bln./DDR 1989) dem Problem des Ausverkaufs moralischer Werte für Valuta zuwandte, wurde das Werk weder gespielt noch gedruckt. Ähnlich erging es dem Stück Das Blaue

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Weitere Werke: Ausgaben: Stücke. Bln./DDR vom Himmel u. dem Film Hände hoch oder ich schieße. Das Stück Er ist wieder da (Urauff. Bln./ 1978. – Der Schlips des Helden u. a. heitere dramat. DDR 1979), das von Lethargie u. Aufbruch Texte. Ebd. 1981. – Einzeltitel: Einer schwieg nicht. handelt, wurde erst nach der Straffung der Ebd. 1957 (P.). – Aufs Happy-End ist kein Verlaß. Ebd. 1963 (R.). – Meine Freundin Sybille. Ebd. 1963 Handlung u. der Umarbeitung unter Mit- (E.; als Film 1967). – Von Mensch zu Mensch. Verse wirkung von Peter Hacks, der damit sein u. Prosa. Halle 1969. – Noch mal ein Ding drehn. »postrevolutionäres« Theater belegen wollte, Urauff. 1971. Bln./DDR 1972 (Kom.). – Keine Leuu. d. T. Barby (Urauff. 1984) zum Erfolg. Mit te, keine Leute. Urauff. 1973. – Von Augenblick zu Mein Zustand ist ernst, aber nicht hoffungslos Augenblick. Bln./DDR 1976 (Heitere Verse u. szen. (Bln./DDR 1989) kehrte S. zur Prosa zurück: Miniaturen). – Schöne Ferien. Urauff. 1981. – Das In der traditionellen Form des Briefromans Blaue vom Himmel. 1984 (D.). – Menschen. Maswird gezeigt, wie ein erfolgreicher Mann ken. Mimen in kleiner Prosa, Vers u. Szene. Bln./ DDR 1984. – Leben u. leben lassen. Monologe nebst durch krit. Selbstbetrachtung zu einer neuen einer versteckten Liebeserklärung für eine dramat. Sicht seiner selbst gelangt. S. schrieb 21 Möglichkeit. Halle/Lpz. 1989. – Ein seltsamer abendfüllende Bühnenstücke, zahlreiche Heiliger oder Ein irrer Duft von Bibernell. Bln. Einakter u. szen. Miniaturen, zehn Filmsze- 1995 (Forts. v. ›Ein irrer Duft von frischem Heu‹). – narien u. 23 Fernsehspiele. Zu seinem Werk Endlich in Schlaraffialand. Erzähltes u. Erdichtegehören ferner elf Fernsehaufzeichnungen tes. Bln. 1997. Literatur: Gottfried Fischborn: ... ein lieber bzw. TV-Eigeninszenierungen, TV-Spezials für Inge Keller, Ursula Werner, Kurt Böwe, Gott sein. Ernste Anmerkungen zu heiteren StüHarald Juhnke u. v. a., 13 Hörspiele, mehrere cken v. R. S. In: Theater der Zeit 29 (1974), H. 7, Romane u. Erzählungen, sechs Gedichtbän- S. 11–13. – Ders. u. Wolfgang Kröplin: Interview mit R. S. In: WB 27 (1981), H. 9, S. 74–85. – G. de, elf Kinderbücher, zahlreiche Kritiken, Fischborn: Die Volkskomödien R. S.s. In: ebd., Humoresken, Satiren für den »Eulenspiegel« S. 86–97. – Jochanaan Christoph Trilse: R. S. In: u. das »Magazin« sowie Kabarett-Texte für Lit. der Dt. Demokrat. Republik. Hg. Hans Jürgen das Berliner Kabarett »Die Distel«. Geerdts. Bd. 3, Bln./DDR 1987, S. 403–420, S.s Stücke beziehen ihre Grundsituationen 614–617. – Peter Reichel: Meine Leute, meine von der Salon- u. Boulevarddramatik des 19. Leute. R. S. In: Ders.: Auskünfte. Beiträge zur Jh., sind aber ohne die DDR-Wirklichkeit neuen DDR-Dramatik. Ebd. 1989, S. 355–361. – nicht zu denken. Für S., für den die Komödie Rüdiger Bernhardt: ›Lust an Geschichten‹. Zum Tod von R. S. In: unsere zeit, 18.5.2001, S. 13. lebensnäher war als die erbarmungslose TraRüdiger Bernhardt gödie, war das Lustspiel eine »Verabredung: daß zwar Schlimmes zu befürchten ist, aber nicht stattfindet« (Interview in: Neues Stramm, August, * 29.7.1874 Münster, Deutschland, 5./6.9.1981). Seine Stücke lie- † 1.9.1915 bei Gorodec; Grabstätte: ben den Feiertag, die Freizeit und den Ur- Stahnsdorf bei Berlin, Südwestfriedhof. – laub, immer als Ergebnis u. Folge produkti- Lyriker, Dramatiker. ver Arbeit. »Scharf gegensätzlich dramatisch« (Brief an Nach 1989 veröffentlichte S., der mit seiner Herwarth Walden, 22.3.1914) sind S.s Leben Begabung nach der Wende keine Schwierig- u. Werk gekennzeichnet von dem zeittypikeiten in Film u. Fernsehen hatte, verstärkt schen Konflikt zwischen bürgerlich-wilhelProsa u. mehrere Fernsehspiele, ehe er sich min. Wertvorstellungen u. dem Ausbruch in wieder vorrangig dem Theater widmete (Ein die Kunst. seltsamer Heiliger; Kein Bahnhof für zwei; Schluss Verwaltungsbeamter u. nach der Promotimit dem Sächsischen Genitiv oder Eigentum ist on über das Welteinheitsporto in das ReichsDiebstahl. Urauff. Wittenberg 1995; Wacker postministerium aufgestiegen, Reservist der oder Vorsicht an der Bahnsteigkante. Urauff. preuß. Armee mit dem höchsten für ZivilisCottbus 1997). S.s Stücke erlebten vor 1989 ten erreichbaren Offiziersrang des Hauptim Jahr um die 30 Inszenierungen, nach 1989 manns, Gatte der Unterhaltungsschriftstelleetwa zehn. rin u. Journalistin Else Krafft, der Tochter

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eines Redakteurs der »Vossischen Zeitung«: Ehrgeizig u. pflichtbewusst hatte sich S. aus kleinbürgerl., religiös geprägtem Milieu emporgearbeitet u. dabei berufl. Qualifikation u. das Prestige eines Militärrangs, private musische Neigungen u. bürgerl. Streben nach umfassender Bildung erfolgreich vereint. Doch mit dem Durchbruch zum eigenen dichterischen Stil 1912/13 war über S. »das Dichten plötzlich gekommen wie eine Krankheit« (Inge Stramm). »Aus Triebgewalt aus Natur« – so nannte S. später die Quellen des Dichters – revoltierte er mit Worten »gegen gemachte Ordnung« (Brief, 30.6.1915). Fast gleichzeitig entstanden bis zum Kriegsausbruch mehrere Einakter (Die Unfruchtbaren, Rudimentär, Sancta Susanna, Die Haidebraut, Erwachen, Kräfte), die als Sturm-Bücher (Bln. Neudr. Nendeln/Liechtenstein 1973) zwischen 1914 u. 1916 erschienen, das Gedicht Menschheit (Bln. 1917) u. der Zyklus Du. Liebesgedichte (ebd. 1915. Neudr. Münster 1988). Während des Kriegs, den S. »in seinem entsetzlichsten Grauen« (Brief, 23.2.1915) als Kompanieführer u. zuletzt als Bataillonskommandeur im Westen u. an der österr.russ. Ostfront erlebte, arbeitete er am Drama Geschehen (Bln. 1915) u. am Kriegsgedichtzyklus Tropfblut (ebd. 1919). S. fiel durch einen Kopfschuss bei Brest-Litowsk. S.s Verleger Herwarth Walden widmete dem Freund das Titelblatt des »Sturm« vom Sept. 1915 als Traueranzeige. Seit der für S. wie für Walden wichtigen ersten Begegnung im März 1914 war S. das literar. Leitbild des Sturm-Kreises u. der dort entwickelten Wortkunst-Theorie. Denn S. wagte im dt. Frühexpressionismus den entscheidenden Schritt zur Abstraktion, der – von Holz in seinen metrisch-rhythm. Experimenten vorformuliert – von Marinetti im Futurismus, von Schönberg in der Musik, von Kandinsky in der Malerei vollzogen wurde. S.s »Hinneigung zum Futurismus« (Brief an Else Stramm, 29.12.1914) zeigt sich an der Zerstörung grammat. u. syntakt. Regeln u. traditioneller Versformen. Seine »parole in libertà« bilden häufig Ein-Wort-Zeilen, sind als Verbalsubstantiva semantisch uneindeutig u. der hierarch. Satzform enthoben, sodass sie als Material für neue Ordnungsformen,

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etwa eines konstruktiven Reihungsprinzips von Wiederholung u. Variation, zur Verfügung stehen: Verfahrensweisen, die formalisiert u. abstrakt von Franz Richard Behrens, dadaistisch u. als reine Klangpoesie von Kurt Schwitters u. Otto Nebel übernommen u. später in der konkreten Poesie von Gerhard Rühm u. Ernst Jandl, auch von Arno Schmidt wieder verwendet wurden. In dieser Hinsicht gilt S. als Ahnherr der ›konkreten Poesie‹. S.s Wortverkürzungen u. Neologismen – bekannt ist »schamzerpört« aus dem Gedicht Freudenhaus – zielen auf größte Ausdrucksintensität, auf das »einzige, allessagende Wort« (Brief, 11.6.1914). Unter Einbeziehung der klangl., rhythm., sogar der visuellen Qualitäten soll das Sprachzeichen ein bestimmtes Erleben zgl. benennen, darstellen u. als »Gefühlswecker« (Brief, 22.5.1914) beim Leser oder Hörer hervorrufen. Die bewusste Konstruktion der Gedichte u. Dramen zielt auf die Unmittelbarkeit der Expression; die analytisch genaue Wortwahl will – nach dem Begriff des S. bekannten Neukantianers Hans Vaihinger – einen »Empfindungskomplex« ausdrücken. Inhaltlich gefüllt werden die erkenntnistheoret. Reflexionen durch die widersprüchl. Gleichzeitigkeit von Angst u. Begehren, Wollen u. Abwehr als Thema der Liebesgedichte. Liebeskampf, Verabredung, Erfüllung, Untreu beschreiben typenhafte Grundsituationen, Mondblick, Mondschein, Abendgang greifen darüber hinaus auf traditionelle romant. Topoi zurück. S. überhöhte dabei das zunächst noch sinnl. Konkrete der erot. Vereinigung zur visionären All-Einheit von Seele u. Welt. Die Geschlechterpolarität von »Ich« u. »Du« wird Moment eines kosm. Mystizismus – am deutlichsten im Drama Geschehen –, zu dessen Totalitätskonzeption S. die amerikan. Transzendentalphilosophen Ralph Waldo Trine u. Prentice Mulford anregten. Existenziell äußerte sich dieser Mystizismus während des Kriegs in einem Glauben an das Schicksal zykl. Werdens u. Vergehens u. an den Weltgeist, dessen stumpf pervertiertes Walten im Werttod – so ein Titel in Tropfblut – S. jedoch in Wirrnis u. innere Zerrissenheit angesichts der »sinnlosen Widersprüche« stürzte: »Es bäumt sich alles in mir dagegen

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und doch fühle ich mich hingezogen. Ich fliehe und stürze in einem Schlage! [...]. Eigenartig Tod und Leben ist eins« (Briefe, 14.12.1914, 27.5.1915). Ausgaben: Dichtungen. 2 Bde., Bln. 1919. – Dein Lächeln weint. Ges. Gedichte. Mit einer Einl. v. Inge Stramm. Wiesb. 1956. – Das Werk. Wiesb. 1963. – Rex William Last: A computer-assisted concordance to the poetry of A. S. Hull 1972. – Krit. Ess.s u. unveröffentl. Quellenmaterial aus dem Nachl. des Dichters. Bln. 1979. – Briefe an Nell u. Herwarth Walden. Ebd. 1988. – Die Dichtungen. Mchn. 1990. Literatur: Christoph Hering: Gestaltungsprinzipien im lyrisch-dramat. Werk A. S.s. Diss. Bonn 1950. – Elmar Bozzetti: Untersuchungen zu Lyrik u. Drama A. S.s. Diss. Köln 1961. – Peter Michelsen: Zur Sprachform des Frühexpressionismus bei A. S. In: Euph. 58 (1964), S. 276–302. – C. Hering: A. S.: ›Untreu‹. In: Gedichte der ›Menschheitsdämmerung‹. Hg. Horst Denkler. Mchn. 1971, S. 97–105. – Christopher R. B. Perkins: A. S.’s Poetry and Drama. A Reassessment. Diss. Hull 1972. – Jeremy Adler: On the Centenary of A. S. An Appreciation of ›Geschehen‹, ›Rudimentär‹, ›Sancta Susanna‹ u. ›Abend‹. In: Publications of the English Goethe Society, New Series 44 (1973/74), S. 1–40. – Bernd Helmut Neumann: Die kleinste poet. Einheit. [...] Untersuchungen an Hand der Lyrik v. Conrad Ferdinand Meyer, Arno Holz, A. S. u. Helmut Heißenbüttel. Köln 1977. – J. Adler: The Arrangement of the Poems in S.’s ›Du / Liebesgedichte‹. In: GLL 33 (1980), H. 2, S. 124–134. – Lothar Jordan: Zum Verhältnis traditioneller u. innovativer Elemente in der Kriegslyrik A. S.s. In: Das Tempo dieser Zeit ist keine Kleinigkeit. Zur Lit. um 1918. Hg. Jörg Drews. Mchn. 1981, S. 112–127. – J. Adler: Von der Mystik zur Avantgarde: A. S.s ›Erinnerungen‹. In: Gedichte u. Interpr.en. Bd. 5. Hg. Harald Hartung. Stgt. 1983, S. 200–210. – Kurt Möser: Lit. u. die ›Große Abstraktion‹. Kunsttheorien, Poetik u. ›abstrakte Dichtung‹ im ›Sturm‹. Erlangen 1983. – Ders.: ›Nach der strammen ›Sturm‹-Methode gedichtet‹ – Parodien u. andere Textverarbeitungen im Umfeld der Lyrik A. S.s. In: DU 37 (1985), H. 6, S. 58–73. – Volker Pirsich: Der Sturm. Herzberg 1985. – Joseph L. Brockington: Vier Pole expressionist. Prosa: Kasimir Edschmid, Carl Einstein, Alfred Döblin, A. S. New York u.a. 1987. – Jean M. Chick: Form as expression. A study of the lyric poetry written between 1910 and 1915 by Lasker-Schüler, S., Stadler, Benn, and Heym. New York u.a. 1988. – Hubertus Opalka: Linguistische Struktur u. poet. Text. Zur Verfremdung in S.s Gedicht ›Schwermut‹. In: Seminar 24 (1988),

Stranitzky S. 359–381. – L. Jordan (Hg.): A. S. Lit., Kunst, Kultur im Expressionismus. Eine interdisziplinäre Veranstaltungsfolge. Programmheft. Münster 1990. – Thomas Maier: Die Kriegslyrik A. S.s u. das Problem der expressionist. Abstraktion. In: Lit. für Leser (1990), S. 155–170. – Walter Huder: A. S. Impressionist im Banne des Expressionismus. In: Ders.: Von Rilke bis Cocteau. Bln. 1992, S. 56–69. – Kristina Mandalka: A. S. Sprachskepsis u. kosm. Mystizismus im frühen zwanzigsten Jh. Herzberg 1992. – Maurice Godé: Un mimétisme exacerbé. La poésie d’A. S. In: Cahiers d’études germaniques 25 (1993), S. 33–45. – L. Jordan (Hg.): A. S. Beiträge zu Leben, Werk u. Wirkung. Bielef. 1995. – Jörg v. Brincken: Verbale u. non-verbale Gestaltung in vorexpressionist. Dramatik. A. S.s Dramen im Vergleich mit Oskar Kokoschkas Frühwerken. Ffm. u. a. 1997. – H. Radrizzani: Aspects de la poétique d’A. S. In: A. S.: Gedichte u. Prosa. Seyssel 2001, S. 251–267. – Georg Philipp Rehage: ›Wo sind Worte für das Erleben‹. Die lyr. Darstellung des Ersten Weltkrieges in der frz. u. dt. Avantgarde (G. Apollinaire, J. Cocteau, A. S., W. Klemm). Heidelb. 2003. – Anastassia Volkova: Kunst ist Gabe u. nicht Wiedergabe. Amimet. Gestaltungstendenzen in der expressionist. Lyrik als Niederschlag europ. Kunstströmungen im frühen 20. Jh. Eine Studie an exemplar. Texten A. S.s u. Otto Nebels. Ffm. u. a. 2004. – Petra Jenny Vock: ›Der Sturm muß brausen in dieser toten Welt‹. Herwarth Waldens ›Sturm‹ u. die Lyriker des ›Sturm‹-Kreises in der Zeit des Ersten Weltkriegs. Kunstprogrammatik u. Kriegslyrik einer expressionist. Ztschr. im Kontext. Trier 2006, S. 196–258. Bernadette Ott / Red.

Stranitzky, Joseph Anton, * 1676 Steiermark (Graz?), † 19.5.1726 Wien. – Zahnu. Mundarzt, Marionettenspieler, Wanderschauspieler, Wegbereiter des Wiener Volkstheaters. Nach dem frühen Tod seines Vaters, eines Lakaien († 1684), u. seiner Mutter, einer Trödlerin († 1689), reiste S. in Süddeutschland u. Österreich als Marionettenspieler umher; zwischen 1699 u. 1702 kann er in München u. Augsburg nachgewiesen werden. Spätestens seit 1705 war er mit Maria Monika verheiratet, lebte in Wien u. legte zwei Jahre später das Examen als Zahn- u. Mundarzt ab. Bevor er mit seinem Ensemble von Wanderschauspielern, den »Teutschen Komödianten«, 1712 (oder 1710?) in das neu errichtete Kärntnertortheater einziehen konnte, trat er

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in einer alten Bretterhütte am Neuen Markt u. im Ballhaus in der Teinfaltstraße auf. S.s Theater gilt als erstes »stehendes« deutschsprachiges Theater. Bis dahin dominierte in Wien das ital. Theater, das mehr durch Pantomime, Musik u. Ballett wirkte als durch seine sprachl. Darbietungen. Außerdem führte S. in Wien das Marionettenspiel weiter u. praktizierte als Zahnarzt. Seit 1714 erwarb er in u. um Wien Häuser u. Grundstücke, mit denen er vermutlich auch einen lukrativen Weinhandel betreiben konnte, sodass er seinen Erben ein stattl. Vermögen hinterlassen konnte. Mit der komischen Figur »Hanswurst«, einem Salzburger »Sauschneider« in ländl. Tracht u. mit grünem Hut, hat S. eine tölpelhaft-pfiffige Kontrastfigur zu den heldenhaften, galanten Personen des barocken Dramas kreiert, dessen Vorbilder im »Pickelhäring« u. »Skaramutza« der dt. Wanderbühne, im »Kilian Brustfleck« des steiermärk. Komödianten Johann Valentin Petzold u. der Puppenfigur »Policinello« zu finden sind. Hanswurst vermittelt einerseits zwischen Publikum u. Schauspielern, andererseits macht er alles Überspannte lächerlich mit derben Worten u. Gebärden. Durch die Sesshaftigkeit von S.s Ensemble konnte der Hanswurst zu einer Rolle heranwachsen, mit der v. a. die Wiener Gesellschaft u. landestypische Elemente thematisiert wurden. Hanswurst wurde zu einer Erfolgsfigur, die auch nach S.s Tod auf der Bühne zu sehen war. In seinen Stegreifauftritten als Hanswurst verwendete S. bereits jene drei wichtigen Formen, die das Wiener Volkstheater seit der zweiten Hälfte des 18. Jh. prägten: Posse, Zauberspiel u. Parodie. Daher gilt er als dessen Wegbereiter. Über S.s literar. Nachlass können heute keine zweifelsfreien Auskünfte erteilt werden. Seine bekanntesten Stücke, die von Rudolf Payer herausgegebenen Wiener Haupt- und Staatsaktionen, gehen auf ein Manuskript von fünfzehn, zumeist umgearbeiteten ital. Libretti (Operntexte) zurück. Die Sammlung wurde 1724 von einem wohl mitteldt. Kopisten angefertigt; S. wird als Autor durch z. T. nachträglich eingefügte Ergänzungen für drei Stücke genannt.

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Zur Sammlung gehören: 1. Der besiegte obsieger Adalbertus, könig in Wälschlandt, 2. Triumph römischer tugendt und tapferkeit oder Gordianus der Grosse, 3. Die allgemeine treu oder Hanswurst der listige (Cafena), 4. Grosmütiger wethstreit der freundschafft, liebe und ehre oder Scipio in Spanien, 5. Der tempel Dianae oder der spiegel wahrer und treuer freundschafft (Ifigenia), 6. Was sein soll, daß schickt sich wohl oder die unvergleichliche beständigkeit zweyer verliebten (Astromdes), 7. Der großmüthige überwinder seiner selbst (Cosroes), 8. Triumph der ehre und deß glückes oder Tarquinius Superbus, 9. Der betrogene ehmann (Admetus), 10. Sieg der unschuldt über haß und verrätherey oder scepter und cron hat tugendt zum lohn (Alfonsus), 11. Nicht diesem, den es zugedacht, sondern dem dass glücke lacht oder der großmüthige frauenwechsel unter königlichen personen (Pirrhus), 12. Die gestürzte tyrannay in der person deß messinischen wüttrichs Pelifonte, 13. Die enthaubttung deß weltberühmten wohlredners Ciceronis, 14. Die verfolgung auß liebe oder die grausame königin der Tegeanten Atalanta u. 15. Die glorreiche marter des heyligen Joannes von Nepomukh, in dem die Legende des Heiligen erzählt wird. Ohne Zweifel führte S.s Ensemble diese Stücke in Wien auf; er selbst übernahm die Rolle des Hanswursts. Die Libretti wurden für das Theater in Sprechstücke mit wenig Gesang umgeschrieben u. ihr Textumfang etwa verdoppelt. Sie nehmen Stoffe aus der antiken Mythologie, der röm. u. zeitgenöss. Geschichte auf. Teilweise tragen sie sentimentale Züge, nehmen also Anregungen der empfindsamen Dichtung auf. In der lange Zeit S. zugeschriebenen Lustigen Reyss-Beschreibung aus Saltzburg in verschiedene Länder (1721/26?), einer Parodie auf adlige Kavaliersreisen, spielt Hanswurst den fahrenden Helden; als Verfasser gilt heute der Satiriker Johann V. Neiner (1669-um 1748). Bei dieser Schrift, die zwei Fortsetzungen fand u. zum Teil autobiogr. Züge S.s trägt, handelt es sich um eine Neujahrsgabe bzw. einen poetischen Neujahrswunsch, der als Dank oder in Erwartung von Spenden u. Geschenken großzügigen Gönnern des Theaters überreicht wurde. Ein anderes Stück, die Ollapatrida des durchgetriebenen Fuchsmundi, als deren Verfasser ebenfalls S. galt, ist vor kur-

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zem mit überzeugenden Argumenten dem aus Ostrau bei Halle/Saale stammenden Johann Friedrich Gräfe zugeschrieben wurden (Rudin 2008). Ausgaben: Hanß-Wurstes almanach auf dieses jahr, da ich des gelds bedürftig war. In: Wiener allg. Theaterztg. v. Adolf Bäuerle 13 (1820), Nr. 64. – Der Wiener Hanswurst. S.s u. seiner Nachfolger ausgew. Schr.en. Hg. Richard M. Werner. Tl. 1: Lustige reyss-beschreibung aus Saltzburg in verschiedene länder. Tl. 2: Ollapatrida des durchgetriebenen Fuchsmundi. Wien 1886. – Fritz Homeyer: S.s Drama vom ›Heiligen Nepomuck‹. Bln. 1907 (Nachdr. New York 1970), S. 145–202. – Wiener Haupt- u. Staatsaktionen. Hg. Rudolf Payer v. Thurn. 2 Bde., Wien 1908/10. Nachdr. Nendeln 1974. – Türckisch-bestraffter hochmuth oder das anno 1683 von denen Türcken belagerte u. von denen Christen entsetzte Wienn u. Hanswurst. Hg. Fritz Brukner. Innsbr. u. a. 1933. – Dichtung aus Österreich. Drama. Hg. Heinz Kindermann u. Margret Dietrich. Wien 1966 (S. 84–115: Türckisch-bestraffter hochmuth). – Hanswurstiaden. Ein Jahrhundert Wiener Komödie. Hg. Johann Sonnleitner. Salzb./Wien 1996 (S. 7–69: Der großmüthige überwinder seiner selbst). – Internet-Ed. mehrerer Werke in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. – Dt. Dramen v. Hans Sachs bis Arthur Schnitzler. CD-ROM. Digitale Bibl. 2009 (Die enthauptung des weltberühmten wohlredners Ciceronis; Türckisch-bestraffter hochmuth), beide Stücke auch unter: www. zeno.org. Literatur: Bibliografien: Bibliographia Dramatica et Dramaticorum. Hg. Reinhart Meyer. Abt. 1, Bd. 2, Tüb. 1986, S. 1003–1014. – Kosch. – Weitere Titel: Karl Weiß: Wiener Haupt- u. Staatsactionen. Ein Beitr. zur Gesch. des dt. Theaters. Wien 1854 (zusammenfassende Wiedergabe der Stücke). – Fritz Brukner u. Franz Hadamowsky (Hg.): Die Wiener Faust-Dichtungen v. S. bis zu Goethes Tod. Wien 1932. – Harald Rehm: Die Entstehung des Wiener Volkstheaters im Anfang des 18. Jh. Diss. Mchn. 1936. – Otto Rommel: Der wiener. Hanswurst als Dramatiker. In: Jb. der Gesellsch. für Wiener Theaterforsch. (1944), S. 105–131. – Berta Schindler: Krit. Untersuchung des geistigen Eigentums in den Werken v. J. A. S. Diss. Wien 1946. – O. Rommel: Die Alt-Wiener Volkskomödie. Wien 1952. – Margarethe Wölfel: Mundartkrit. Untersuchungen der Werke J. A. S.s. Diss. Wien 1963. – Walter Zitzenbacher: Hanswurst u. die Feenwelt. Von S. bis Raimund. Graz u. a. 1965. – Nikolaus Britz: J. A. S. u. Wien. Kleiner literar. Stadtführer. Wien/Heidelb. 1968. – Reinhild-Ursula Traitler:

Strasser Antike Mythologie u. antiker Mimus im Wiener Volkstheater v. S. bis Raimund. 2 Bde., Wien 1973. – Reinhard Urbach: Die Wiener Komödie u. ihr Publikum. S. u. die Folgen. Wien 1973. – Helmut G. Asper: Spieltexte der Wanderbühne. Ein Verz. der Dramenmanuskripte des 17. u. 18. Jh. in Wiener Bibl.en. Wien 1975. – Herbert Zeman: Die AltWiener Volkskomödie des 18. u. frühen 19. Jh. – ein gattungsgeschichtl. Versuch. In: Die österr. Lit. Ihr Profil v. den Anfängen im MA bis ins 18. Jh. (1050–1750). Hg. ders. Tl. 2, Graz 1986, S. 1299–1333. – Herwig Würtz: Hanswurst u. das Zaubertheater. Von S. zu Raimund. Wien 1990. – Neujahrsgaben aus dem Wiener Theater v. S. bis Nestroy. Hg. Franz Hadamowsky. Wien u. a. 1993. – Friedrich Sengle: Aufklärung u. Rokoko in der dt. Lit. Hg. Sabine Bierwirth. Heidelb. 2005, S. 224–228. – Christopher Meid: Die griech. Tragödie im Drama der Aufklärung. ›Bei den Alten in die Schule gehen‹. Tüb. 2008. – Bärbel Rudin: Morgenröte der Comédie italienne in Dtschld. Das gelöste Rätsel um den Autor der Ollapatrida-Collage (1711). In: WBN 35 (2008), S. 1–21. Mario Müller

Strasser, Charlot, * 11.5.1884 Bern, † 4.2. 1950 Zürich. – Psychiater; Erzähler, Lyriker, Essayist. Der Berner Professorensohn u. Medizinstudent debütierte 20-jährig mit dem gefühlsselig-epigonalen Lyrikband Ein Sehnen (Bern 1904), wandte sich unter dem Einfluss seiner russ. Mitstudentin u. späteren Ehefrau Vera Eppelbaum (1884–1941) jedoch in Pamphleten u. kämpferischen Gedichten schon bald den Ideen des russ. Sozialismus u. Anarchismus zu. Nach weiteren Studien in Leipzig, München u. Berlin hielt sich S. längere Zeit in Russland u. Japan sowie als Schiffsarzt in Südamerika auf, um dann seine Ausbildung an der psychiatr. Klinik Burghölzli in Zürich zu beenden. Ab 1913 führte er mit seiner Frau in Zürich eine psychiatr. Praxis u. nahm in vielfältiger Weise – u. a. als Mitgl. der städt. Literaturkommission u. als Volkshochschulreferent – am kulturellen Leben des sog. »roten Zürich« der 1920er u. 1930er Jahre teil. S.s Ruhm als Autor gründete auf jenen sozial einfühlsamen, schillernd-exotischen Texten, in denen er die Erlebnisse seiner Reisen literarisch gestaltete: Reisenovellen aus

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Rußland und Japan (Zürich 1911), Das Pestschiff. terhaltungsautoren, insbes. in OffizierskreiSüdamerikanisches (Frauenfeld/Lpz. 1918) u. sen. Anders als mit seinen Dramen war S. Exotische Erzählungen (Lpz. 1921). Einem auch mit seinen Bergromanen (u. a. Der weiße schweizerischen Thema dagegen galt S.s ein- Tod. Stgt. 1897. 111905) sehr erfolgreich. ziger Roman, Geschmeiß um die »Blendlaterne«, Weitere Werke: Der blaue Brief. Bln. 1891 mit dem 1933 die von ihm mitgetragene (Lustsp.). – Montblanc. Stgt. 1899 (R.). – AltheiBüchergilde Gutenberg Zürich eröffnet wur- delberg, du feine. Ebd. 1902 (R.). – Du Schwert an de. In der Spiegelung eines bunten Figuren- meiner Linken. Ebd. 1912 (R.). – Das dt. Wunder. kaleidoskops stellt er die Geschichte der Ebd. 1916 (R.). – Volk in Wehr. Ebd. 1933 (R.). Wolfgang Weismantel Exilstadt Zürich während des Ersten Weltkriegs dar, behandelt aber die Asylanten auf eine seltsam ressentimentgeladene Weise Strauß, Botho, * 2.12.1944 Naumburg/ pauschal als dekadente Versager bzw. NutzSaale. – Dramatiker, Erzähler, Essayist u. nießer des Kriegs. Die satir. Brillanz seiner Lyriker. frühen sozialistischen Kampfschriften erreichte S. jedoch wieder im lyr. Pamphlet Die Der Sohn eines Lebensmittelberaters ging in braune Pest (Zürich 1933. Abgedr. in Werner Remscheid u. Bad Ems zur Schule, studierte Webers Anthologie Belege. Ebd. 1979), einer fünf Semester Germanistik, Theaterwissender entschiedensten schweizerischen Kampf- schaft u. Soziologie in Köln u. München, war ansagen an den Nationalsozialismus. Seit 1967–1970 Autor u. Redakteur der Zeitschrift 1935 schrieb S. praktisch nur noch psychiatr. »Theater heute« in Hannover, arbeitete Fachliteratur u. dokumentierte in Publika- 1970–1975 als Dramaturg u. Übersetzer für tionen wie Der haltlose Mensch (zus. mit Vera die Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer Strasser-Eppelbaum. Bern 1935) einen an u. lebt seitdem als freier Schriftsteller in Eugen Bleuler orientierten autoritär-repres- Berlin. Seit 1974 erhielt S. zahlreiche Aussiven Standpunkt, der in merkwürdigem zeichnungen, u. a. 1982 den Mülheimer DraGegensatz zu seiner polit. Haltung zu stehen matikerpreis für Kalldewey, Farce, 1989 den scheint. Büchner-Preis u. 2001 den Lessing-Preis. In seinen frühen Arbeiten als TheaterkritiLiteratur: Daniel Heinrich: Dr. med. C. S. Ein Schweizer Psychiater als Schriftsteller, Sozial- u. ker war S. durch das kultursoziolog. Denken Kulturpolitiker. Diss. Zürich 1987. der Frankfurter Schule, insbes. durch die äsCharles Linsmayer thetische Theorie Adornos geprägt. Der von S. gesuchte Zusammenhang zwischen Gesellschaftskritik u. avancierter künstlerischer Stratz, Rudolf, * 6.12.1864 Heidelberg, Form zeigte sich beispielhaft in Peter Steins † 17.10.1936 Gut Lambelhof/Chiemsee. – Bremer Torquato Tasso-Inszenierung 1969, zu Erzähler u. Dramatiker. der S. anmerkte: »Indem hier das Theater das Nach einem Geschichts- u. Philosophiestudi- ihm angetragene bürgerliche Schönheitsbeum in Leipzig, Berlin u. Göttingen wurde der dürfnis gleichsam zynisch in aristokratischer Sohn eines Kaufmanns 1885 Offizier in Übersteigerung erfüllt, vermag es dann wieDarmstadt. Bereits 1887 setzte S. jedoch seine derum auch, den Bürger an seinem Pläsir irre Studien in Heidelberg fort, unternahm aus- zu machen« (in: Theater heute 10, 1969, H. 5, gedehnte Reisen durch Europa u. Afrika, bis S. 13). Diesen Befund machte S. in seinen eier sich 1890 als freier Schriftsteller in Berlin genen Stücken u. Prosatexten zur inhaltl. niederließ. 1891–1893 arbeitete er als Kriti- Voraussetzung: Er zeigt eine heutige Bürker für die »Kreuzzeitung«, lebte danach bei gergesellschaft immer wieder in ihrem »irren Heidelberg u. seit 1905 in Oberbayern. Mit Pläsier«, in verzweifelten Vergnügungsverstark national gefärbten Romanen um suchen, in komisch-melanchol. LiebesnarrMännlichkeitsideale verkörpernde Helden heit, in den Verwirrungen aller Lebenssinne. Handwerklich erprobt sich S. zunächst in orientierte er sich am Zeitgeschmack u. gehörte um 1900 zu den beliebtesten dt. Un- Bearbeitungen u. Übersetzungen für Stein-

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Inszenierungen an der Schaubühne. 1972 debütierte der Dramatiker S. mit dem Rätselspiel Die Hypochonder (Bln. 1972. Urauff. Hbg. 1972): ein fiebrig-fantastischer Spuk um Krankheit, Erotik, Intrigen u. Mord, eine Mischung aus Raymond Roussel u. Alfred Hitchcock, aus Maeterlinck’schem Symbolismus u. der Psychodramatik von Musils Schwärmern, angesiedelt in einem spätromant. Amsterdam der Jahrhundertwende. In Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle (in: Theater heute 15, 1974, H. 13. Buchausg. Mchn. 1979. Urauff. Stgt. 1975) treffen sieben Personen in einem heruntergekommenen Hotel am Rhein aufeinander, wo eine junge Frau Goldstücke spuckt wie der alte Märchenesel, wo das Paar Doris u. Günther für die Deutsche Amateurtanzmeisterschaft trainiert, Doris plötzlich verschwindet u. von einem körpergleichen Double ersetzt wird. Diese Spiele mit dem Surrealen, mit Wiedergängern, Traum- u. Wahnbildern setzt S. in seinen beiden Erzählungen Marlenes Schwester (Titelgeschichte des Buchs) u. Theorie der Drohung (Mchn. 1975) fort; er verknüpft dabei Handlungsmotive der Schwarzen Romantik (ein Vorbild ist E. T. A. Hoffmann) mit den Erklärungsmodellen der neueren Psychoanalyse (Jacques Lacan). Neben Kroetz wurde S. zum führenden Dramatiker der westdt. Nachkriegsgeneration mit seinem dritten Stück Trilogie des Wiedersehens (Mchn. 1976. Urauff. Hbg. 1977). In einem bundesdt. Kunstverein sind vor der Eröffnung einer Ausstellung mit dem Titel »Kapitalistischer Realismus« 16 Zeitgenossen versammmelt, deren wechselnde private u. berufl. Beziehungsgeplänkel ein pointiertes Milieumosaik des bundesrepublikan. Mittelstands ergeben. Diese an der Dramaturgie von Gorkis Sommergästen in S.’ eigener Bearbeitung u. an den Stücken Tschechows geschulten Bilder aus dem bürgerl. Seelenleben steigert S. zum zehnteiligen Stationendrama Groß und klein (Mchn. 1978. Urauff. Bln. 1978). Irrlichterte die junge Frau Susanne wie ein autistisches Kulturgroupie zuvor durch die Binnenfluchten der Trilogie des Wiedersehens, so nimmt das große kleine Fräulein Lotte-Kotte aus Remscheid-Lennep ihren Weg nun durch die Hohlräume der Außenwelt, endend als neurot. Stadtstreicherin, im

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Wahn, eine der unerkannten 36 Gerechten des alttestamentar. Gottes zu sein. Wie einst Indra in Strindbergs Traumspiel findet Lotte auf ihrer ird. Reise kein menschl. Zuhause. Auch fortan projiziert S. die tragikomischen Zeitgeister auf mythologischmetaphys. Grundmuster. In der Szenenfolge Kalldewey, Farce (Mchn. 1981. Urauff. Hbg. 1982) verspinnen sich die Sage von Orpheus u. Eurydike sowie Anspielungen auf Mozarts Zauberflöte u. die antiken Bakchen mit einer Travestie des Sex- u. Psychotherapiewahns; im Drama Der Park (Mchn. 1983. Urauff. Freib. i. Br. 1984) leben die Geister u. Götter des Shakespeare’schen Sommernachtstraums in einem westdt. Stadtpark wieder auf u. treiben ihren Spuk mit einer Gesellschaft, in der eine unglückl. Liebende leibhaftig mit einem Baum verwächst u. in der einer ihrer typischen Vertreter den doppelsinnigen Namen Mittenzwei trägt; u. in Die Fremdenführerin (Mchn. 1986. Urauff. Bln. 1986) verhext der bocksfüßige Pan die Liebe eines akademischromant. Griechenlandtouristen zu einem fremden, in die Fremde verführenden Mädchen von heute. – Jedesmal ist die Dramaturgie mit Zeiten, Räumen u. magischen Einbrüchen kaleidoskophaft kühn u. die Fallhöhe der Figuren riskant. Nicht immer gelingt die Balance oder Dialektik zwischen der Jetztzeitgeschichte u. einer neu beschworenen, nur außerhistorisch zu beglaubigenden Transzendenz. Die Steigerung der trivialen Alltagserfahrung zum emphat. Ausnahmezustand gelingt S. bisher am dichtesten in seiner Erzählung Die Widmung (Mchn. 1977) u. in der essayistischen Kurzprosa-Sammlung Paare, Passanten (ebd. 1981). In der Widmung zieht sich ein junger, von seiner Freundin verlassener Berliner Buchhändler ins »Reich seiner Trennung« zurück, erobert sich dieses Reich als tagebuchschreibender Don Quijote u. wird dabei, körperlich u. materiell ausgezehrt, zu einem »Sozialfall der Liebe«, ist am Ende der aberwitzig ernüchterte Narr seines erot. Missgeschicks. Paare, Passanten, ein ProsaPanoptikum zeitgenöss. Beobachtungen u. Reflexionen, erinnert formal an Benjamins Einbahnstraße u. Denkbilder sowie an Adornos Minima Moralia, die Reflexionen aus dem be-

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schädigten Leben. S. diagnostiziert den Schwund erotischer Emotionen in der permissiven hochindustriellen Konsumgesellschaft, beschreibt Ersatzängste u. -freuden, beleuchtet Zusammenhänge zwischen instrumenteller Vernunft u. sozialen Neurosen u. fragt nach »eine[r] Kunst, die sich das Entzücken an der vollendeten Normalität versagt und sich noch einmal den heiklen Forderungen des Symbolischen stellt«. Damit deutet S. auch auf ein Projekt voraus, das er in seinem umfänglichsten Roman, Der junge Mann (Mchn. 1984), einmal beiläufig als die »Mythenumschrift der Bundesrepublik« kennzeichnet. Das Buch hebt an wie eine moderne Version des Wilhelm MeisterMotivs (der Weg eines jungen Mannes zum Theater), doch aus dem beginnenden Bildungsroman wird ein vielschichtiger, oft verzettelter Bilderbogen: voll märchenhafter Visionen, Metamorphosen u. Allegorien, ein Konvolut der »Mythe und Metapher« für Welt, Gott, Zeit, Demokratie u. Diktatur, Kunst u. Leben. S., der sich selbst nicht journalistisch äußert u. Interviews oder andere Stellungnahmen zu seinem Werk verweigert, avancierte damit – neben Handke – zu einer der Reizfiguren im »neudeutschen Literaturstreit« Mitte der 1980er Jahre. Der Vorwurf geht auf Irrationalismus, Gegenaufklärung, pathet. (falsche) Erhabenheit der Sprache oder gar »ästhetische Demagogie« (Karlheinz Bohrer im »Merkur«). Auch mit den Stücken Besucher (Urauff. Mchn. 1988), Die Zeit und das Zimmer (in: Besucher. Drei Stücke. Mchn. 1988. Urauff. Bln. 1989) u. Schlußchor (Mchn. 1991. Urauff. ebd. 1991) arbeitet S. weiter als Seismograf u. zgl. als Mythologe der bundesrepublikan. Zeitgeschichte. Die Trilogie Schlußchor greift aus dem privaten Beziehungsgeflecht einer witzig u. manchmal grotesk parlierenden Berliner Party- u. Kneipen-Gesellschaft zur Zeit der Berliner Maueröffnung im Nov. 1989 über in eine gewagte Schlußallegorie: Ein adliges Fräulein, Tochter eines konservativen Widerstandskämpfers gegen Hitler, befreit in einem Zoo den dt. Märchenvogel Greif, besingt u. verflucht den zahmen Adler als »kastrierte Chimäre«, als »schlappes Wappen(tier)!«, um ihn am Ende zu zerreißen u.

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zu verschlingen – eine Mischung aus Leda u. Penthesilea, eine neue Mänade als Leidfigur zum Finale der dt.-dt. Nachkriegszeit. Erst nach der heftigen Debatte, die 1993 um den Essay Anschwellender Bocksgesang (in: Der Spiegel, 1.12.1993) entbrannte u. durch die der Dichter als Konservativer stigmatisiert wurde, schenkte man seinem publizistischen Werk (Der Gebärdensammler. Texte zum Theater. Ffm. 1999. Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit. Mchn./Wien 1999. Erw. 2004) größere Aufmerksamkeit. In Kritiken, Vorworten, Reden, Würdigungen, Abhandlungen u. zeitbezogenen Kommentaren verfolgt er konsequent seit Anfang der 1970er Jahre ein kulturpolit. Ziel, die Freiheit des reflektierenden Subjekts gegen die Verflachungen der demokratischen Öffentlichkeit sowie den Egoismus des Wohlstands zu verteidigen. Dazu gehört v. a. die Rettung kultureller Kontinuität, insbes. seine Versuche, vergessene Autoren (u. a. Hans Henny Jahnn, Konrad Weiß) dem literaturhistor. Gedächtnisschwund zu entreißen: »Wer lesen kann, muß (in einem Kulturstaat: muß!) sich dem Heben und Bergen von verschollenen Schätzen widmen!« Gelegentlichen Versuchen, ein längeres erzählendes Werk (Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich. Mchn./Wien 2003) oder geschlossene erzählende Kurzprosa (Mikado. Ebd. 2006) zu schaffen, steht die kontinuierl. Fortsetzung von Sammlungen mit Prosafragmenten (Beginnlosigkeit. Reflexionen über Fleck und Linie. Ebd. 1992. Wohnen, dämmern, lügen. Ebd. 1994. Die Fehler des Kopisten. Ebd. 1997. Der Untenstehende auf Zehenspitzen. Ebd. 2004. Vom Aufenthalt. Ebd. 2009) gegenüber. Sie erweisen sich nicht nur als aphoristische, tagebuchartige Speicherung von Lektüren, philosophischen Reflexionen, zeitkrit. Befunden, autobiogr. Ereignissen, sondern auch als poetolog. Vortrag, Schreibtraining u. allmähl. Verfertigung von Ideen für Bühnenarbeiten. Das theatral. Denken prägt Thematik sowie Handlungsverlauf der Prosa, sodass manche Erzählungen ohne größere Eingriffe szenisch umgesetzt werden könnten. Die Novelle Die Unbeholfenen (ebd. 2007) besteht fast vollständig aus einer Erörterung über

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den gegenwärtigen Zustand des menschl. Bewusstseins, deren Teilnehmer vergeblich nach einem symbolischen Bild der intellektuellen Unbeholfenheit des modernen Menschen suchen. Auch im 21. Jh. bilden jedoch Dramen das Rückgrat der literar. Tätigkeit von S. Zwar schöpft er immer wieder Stoffe aus literar. Tradition (Ithaka. Schauspiel nach den HeimkehrGesängen der Odyssee. Ebd. 1996. Urauff. Mchn. 1996. Jeffers-Akt: I und II. 1998. Urauff. Bln. 1998. Schändung. Nach dem ›Titus Andronicus‹ von Shakespeare. Ebd. 2005. Urauff. Paris 2005, Bln. 2006), denn die Verwurzelung des Menschen in der Geschichte sowie eine bewusste Aufrechterhaltung des künstlerischen Dialogs mit der Vergangenheit gehören zu seinem poetolog. Credo, aber den Hauptstoff seiner Theaterstücke bildet der Alltag (Der Narr und seine Frau heute abend in Pancomedia. Ebd. 2001. Urauff. Bochum 2001. Leichtes Spiel. Neun Personen einer Frau. Reinb. 2009. Urauff. Mchn. 2009). In grotesken Zusammenkünften des Realen u. Traumhaften registriert S. sprachl. Eigentümlichkeiten, ungeschriebene Regelwerke sozialen Handelns, große u. mikroskopische Regungen von Leidenschaften, aus denen ein buntes Panorama der abendländ. Gegenwart entsteht. Wie ein roter Faden zieht sich durch diese der Gedanke, dass vitale u. geistige Kräfte des Menschen der Macht seiner techn. Schöpfungen erliegen. In dem Essay Wollt ihr das totale Engineering? (in: Die Zeit 52/2000) prognostiziert der Dichter: »So werden die Maße der Technik immer feiner und die des Geistes immer gröber.« Demnach zieht der Protagonist in Das blinde Geschehen (Urauff. Wien 2011), ein Schöpfer von Computerspielen, seine Herrschaft in der virtuellen Welt dem echten Leben vor. Weitere Werke: Jeannine. Dialogskizze aus Vorarbeiten zu ›Der Park‹. In: Text + Kritik 81 (1984), S. 1–5. – Sieben Türen. Bagatellen. In: Besucher. a. a. O. – Angelas Kleider. Urauff. Steir. Herbst Graz 1991. – Theaterstücke. Bd. 1–4. Mchn. 1991–2006. – Das Gleichgewicht. Stück in drei Akten. Mchn./Wien 1993. – Die Ähnlichen. Zwei Theaterstücke. Ebd. 1998. – Der Kuß des Vergessens. Vivarium rot. In: Die Ähnlichen. a. a. O. – Lotphantasie. In: Theaterstücke. Bd. 3. Mchn.

Strauß 1999. – Unerwartete Rückkehr. Ebd. 2002. – Die eine u. die andere. Stück in zwei Akten. Ebd. 2005. – Nach der Liebe beginnt ihre Gesch. In: Theater der Zeit 60 (2005), H. 9, S. 61–79. – Prosa: Schützenehre. Düsseld. 1975 (E.). – Rumor. Mchn. 1980 (R.). – Niemand anderes. Ebd. 1987 (Skizzen, Reflexionen). – Fragmente der Undeutlichkeit. Ebd. 1989 (Reflexionen, Aphorismen). – Über Liebe. Gesch.n u. Bruchstücke. Ausw. Hg. Volker Hage. Stgt. 1989. – Isolationen. In: Der Pfahl 3. Hg. Axel Matthes. Mchn. 1989. – Kongreß. Die Kette der Demütigungen. Ebd. 1989 (E.). – Das Partikular. Mchn./Wien 2000. – Der Mittler. Münster 2006. – Lyrik: Diese Erinnerungen an einen. der nur einen Tag zu Gast war. Mchn. 1985. – Kritiken und Essays: Versuch, ästhet. u. polit. Ereignisse zusammenzudenken. Texte über Theater 1967, 1971–86. Ffm. 1987. – Der Schlag. In: Der Spiegel, 8.10.2001. – Paare im Paniklauf. In: Der Spiegel 4.3.2002. – Orpheus aus der Tiefgarage. Über Gene, Liebe u. die Verbrechen der Intimität. In: Der Spiegel, 21.2.2004. – Übersetzungen und Bearbeitungen: Henrik Ibsen: Peer Gynt (zus. mit Peter Stein). In: Programmbuch der Schaubühne am Halleschen Ufer. Bln. 1971. – Kleists Traum vom Prinzen Homburg (zus. mit P. Stein). In: ebd. 1972. – Sommergäste nach Gorki. In: ebd. 1974/75. – Eugène Labiche: Das Sparschwein. Ffm. 1981. Literatur: Sammelbände und Kongressberichte (mit Bibliografien): B. S. Symposium. Dokumentatieboek (CREA. Universiteit van Amsterdam). Amsterd. 1981. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): B. S. (Text + Kritik. H. 81). Mchn. 1984. 2., neubearb. Aufl. 1998. – S. lesen. Hg. Michael Radix. Mchn. 1987. – Unüberwindl. Nähe. Texte über B. S. Hg. Thomas Oberender. Bln. 2004. – Christoph Parry u. Hans Wolfschütz: B. S. In: KLG. – Einzeluntersuchungen: Henriette Herwig: Verwünschte Beziehungen, verwebte Bezüge. Tüb. 1986. – Monika Sandhack: Jenseits des Rätsels. Versuch einer Spurensicherung im dramat. Werk v. B. S. Ffm. 1986. – Ursula Kapitza: Bewußtseinsspiele. Drama u. Dramaturgie bei B. S. Ffm. 1987. – Helga Kaussen-Mandelartz: Enigmat. Denkbilder u. hermet. Denkfiguren. Eine Untersuchung der Werke ›Die Hypochonder‹, ›Theorie der Drohung‹, ›Der Park‹ u. ›Rumor‹. Aachen 1990. – Katrin Kazubko: Spielformen des Dramas bei B. S. Hildesh. 1990. – Christine Winkelmann: Die Suche nach dem ›großen Gefühl‹. Wahrnehmung u. Weltbezug bei B. S. u. Peter Handke. Bern/Ffm. 1990. – Jan Eckhoff: Der junge B. S. Literar. Sprache im Zeitalter der Medien. Tüb. 1999. – Stefan Willer: B. S. zur Einf. Hbg. 2000. – Andreas Englhart: Im Labyrinth des unendl. Textes. B. S.’ Theaterstücke 1972–1996. Tüb. 2000. –

Strauß Dorothee Fuss: Das Bedürfnis nach Heil. Zu den ästhet. Projekten v. Peter Handke u. B. S. Bielef. 2001. – Michael Wiesberg: B. S. Dichter der GegenAufklärung. Dresden 2002. – Nadja Thomas: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. B. S. u. die ›Konservative Revolution‹. Würzb. 2004. – Dirk Michael Becker: B. S. Dissipation. Die Auflösung v. Wort u. Objekt. Bielef. 2004. – Oliver van Essenberg: Kulturpessimismus u. Elitebewusstsein. Zu Texten v. Peter Handke, Heiner Müller u. B. S. Marburg 2004. – Christoph Kappes: Schreibgebärden. Zur Poetik u. Sprache bei Thomas Bernhard, Peter Handke u. B. S. Würzb. 2005. – Torsten Hoffmann: Konfigurationen des Erhabenen. Zur Produktivität einer ästhet. Kategorie in der Lit. des ausgehenden 20. Jh. (Handke, Ransmayr, Schrott, S.). Bln. u. a. 2006. – Sebastian Reus: Unglückl. Bewusstsein. Denken ohne Dialektik bei B. S. Würzb. 2006. – Eva C. Huller: Griech. Theater in Dtschld. Mythos u. Tragödie bei Heiner Müller u. B. S. Köln u. a. 2007. – Ralf Havertz: Der Anstoß. B. S.’ Essay ›Anschwellender Bocksgesang‹ u. die Neue Rechte. Eine krit. Diskursanalyse. 2 Bde., Bln. 2008. – Christian Bauer: sacrificium intellectus. Das Opfer des Verstandes in der Kunst v. Karlheinz Stockhausen, B. S. u. Anselm Kiefer. Mchn. u. a. 2008. – Helga Arend: Myth. Realismus – B. S.’ Werk v. 1963 bis 1994. Trier 2009. – Christopher Ebner: Steiner, Murdoch, S. Elemente einer Ästhetik des Absoluten. Graz 2009. – Harald Zils: Autonomie u. Tradition. Innovativer Konservatismus bei Rudolf Borchardt, Harold Bloom u. B. S. Würzb. 2009. – Renata Plaice: Spielformen der Lit. Der moderne u. der postmoderne Begriff des Spiels in den Werken v. Thomas Bernhard, Heiner Müller u. B. S. Würzb. 2010. Peter von Becker / Robert Rduch

Strauß, David Friedrich, * 27.1.1808 Ludwigsburg, † 8.2.1874 Ludwigsburg; Grabstätte: ebd. – Protestantischer Theologe u. Schriftsteller. Der Sohn eines verarmten Kaufmanns besuchte die Lateinschule in Ludwigsburg u. von 1821 an das niedere Seminar Blaubeuren, das der Ausbildung einer württembergischen Theologenelite diente. Zusammen mit Friedrich Theodor Vischer u. dem späteren Historiker des Bauernkriegs Wilhelm Zimmermann wechselte S. 1825 ins Tübinger Stift, um Philosophie u. Theologie zu studieren. Neben der Philosophie Schellings u. Hegels prägte ihn hier bes. die idealistische Geschichtstheologie seines alten Blaubeurer

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Lehrers Ferdinand Christian Baur. Nach glanzvoll bestandenem Examen, Vikariat, theolog. Promotion u. Lehrtätigkeit als Repetent am niederen Seminar in Maulbronn unternahm S. im Herbst 1831 eine Magisterreise nach Berlin. Schüler Hegels gaben ihm dort ihre Vorlesungsmitschriften, sodass er sich noch unpublizierte Teile des Systems aneignen konnte. S. konzentrierte sich dabei auf das Kardinalproblem der Hegel’schen Religionsphilosophie, die Zuordnung von religiöser Vorstellung u. philosophischem Begriff. In krit. Auseinandersetzung mit der Glaubenslehre Schleiermachers entwickelte er das Programm einer kritisch-spekulativen Dogmatik, die dem von religiösen Zweifeln, wachsender Kirchendistanz u. idealistischem Wissenschaftsglauben geprägten frühliberalen Bürgertum eine bleibende Vernünftigkeit des Christentums demonstrieren sollte. Durch histor. Kritik der vorstellungshaften »Schale« der kirchl. Überlieferung sollte der begriffl. »Kern« der christl. Wahrheit freigelegt werden. 1832 kehrte S. nach Tübingen zurück u. begann als Stiftsrepetent eine äußerst erfolgreiche Lehrtätigkeit in der Philosophischen Fakultät. Als Vorarbeit zur spekulativen Dogmatik veröffentlichte er Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet (2 Bde., Tüb. 1835/36. Lpz. 221924. Neudr. der 1. Aufl. Tüb. 1984), eine schonungslose Analyse der neutestamentl. Evangelien. Die Unterscheidung von Vorstellung u. Begriff verknüpfte S. mit Einsichten der romant. Mythenforschung zur These, dass alle neutestamentl. Überlieferung myth. Charakter habe. Diese Mythen seien »geschichtsartige Einkleidungen urchristlicher Ideen, gebildet in der absichtslos dichtenden Sage«. Die neutestamentl. Berichte über das Leben Jesu von Nazareth seien keine Schilderungen histor. Ereignisse. Sie stellten myth. Darstellungen des überzeitl. Vernunftgehalts der christl. Idee einer vollkommenen Versöhnung von Absolutem u. Endlichem dar. Die primitive oriental. Urgemeinde habe sich die bleibende Wahrheit von Jesu Verkündigung – die Botschaft der Versöhnung von Gott u. Mensch u. der Überwindung aller Entzweiung – nur aneignen können, indem sie Jesus zum ewigen Gottessohn

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mythologisch erhöht habe. Auch in der späteren kirchl. Lehrbildung sei Jesus zum exklusiven Subjekt der Idee der Gott-MenschEinheit verklärt worden. So bleibe die überkommene Christologie durch die logische Aporie bestimmend, Gott u. Mensch als in einem histor. Individuum vereint zu denken. Diese Aporie löse sich auf, wenn anstelle des Individuums »Jesus von Nazareth« die menschl. Gattung als Träger der christolog. Prädikate erkannt werde. Das für ein akadem. Publikum geschriebene Leben Jesu hatte liberale polit. Implikationen, die S. selbst zwar nicht thematisierte, die aber die öffentl. Debatte über das Buch bestimmten. Unter den Bedingungen des restaurativen Polizeistaats musste die Bestreitung der histor. Zuverlässigkeit der neutestamentl. Überlieferung als fundamentaler Angriff auf die Legitimität des monarchischen Systems wahrgenommen werden. Indem S. die christolog. Prädikate von Jesus auf die Gattung übertrug, sozialisierte er das Privateigentum des Kirchenchristus – die Göttlichkeit – zum Gemeinbesitz der Gattung, sodass jeder Mensch Teilhaber göttl. Freiheit wurde. Aufgrund des Proteststurms, den schon der erste Band des Leben Jesu ausgelöst hatte, wurde der 27-jährige Autor im Juli 1835 aus dem Tübinger Stift u. später aus dem Kirchendienst entlassen sowie an einer akadem. Karriere gehindert. Eine Berufung als Dogmatikprofessor nach Zürich führte 1839 dazu, dass die liberale Kantonsregierung gestürzt u. S. vor dem Antritt des Lehramts pensioniert wurde. Die heftigen literar. Auseinandersetzungen um das Leben Jesu, die zur Spaltung der Hegel’schen Schule in Rechts- u. Linkshegelianer führten, erlaubten es S. jedoch, das Leben eines freien Schriftstellers zu führen. Sein von der zeitgenöss. Kritik gefeiertes schriftstellerisches Talent u. vielfältige Kontakte innerhalb der liberalen Bildungselite sicherten seinen Werken hohe Auflagen. Zahlreiche Übersetzungen machten ihn auch im Ausland als einen bürgerl. Erfolgsschriftsteller bekannt, der wie kein anderer Theologe des 19. Jh. kulturpolit. Kontroversen über die Plausibilität der christl. Tradition in einer von Aufklärung u.

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polit. Reform bestimmten modernen Gesellschaft provozierte. 1840/41 veröffentlichte S. in Tübingen sein zweites theolog. Hauptwerk, Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft dargestellt (2 Bde. Neudr. Ffm. 1982). Seine Kritik der überkommenen Kirchenlehre suchte er spekulativ in einer pantheistischen Lehre vom göttl. Alleben aufzuheben. Die radikale Religionskritik von Linkshegelianern wie Bruno Bauer, Ludwig Feuerbach u. Arnold Ruge lehnte S. ab, weil sie die erhoffte Aristokratie der Gebildeten zu einer Herrschaft von »Pöbel« u. »Masse« zu verfälschen drohe. Trotz seiner Kritik des preuß. Königs Friedrich Wilhelm IV. (Der Romantiker auf dem Throne der Cäsaren, oder: Julian der Abtrünnige. Mannh. 1847) verschärfte er in der Revolution von 1848/49 seine Demokratiekritik u. profilierte sein Ideal von konstitutioneller Monarchie u. Geistesaristokratie zunehmend konservativer. Nach der erfolglosen Kandidatur für das Paulskirchenparlament ließ sich S. 1848 in die württembergische Kammer wählen, legte aber schon Ende des Jahres sein Mandat nieder, da er sich seinen pietistischen Gegnern von einst politisch näher als der linken Kammermehrheit fühlte. In zahlreichen histor., philosophisch-theolog. u. ästhetischen Studien sowie in damals viel gelesenen Biografien von Schubart, Frischlin, Ulrich von Hutten (2 Bde., Lpz. 1858–60) u. Reimarus entwickelte er nun einen nationalen Kulturidealismus, der anstelle des alten Kirchenglaubens dem aufgeklärten, durch Wissenschaft u. Fortschrittsglauben geprägten Bürger Lebenssinn stiften sollte. Die von den protestantischen Liberalen im Gefolge Schleiermachers konzipierten Versuche, christl. Tradition u. modernes Autonomiebewusstsein zu vermitteln, stellten nur ideolog. »Halbheiten« dar, die weder den modernen Naturwissenschaften, insbes. dem Darwinismus, noch den polit. Erfordernissen einer kleindt. Reichseinigung unter preuß. Vorherrschaft entsprächen. Allein eine nachchristliche ästhetische Humanitätsreligion könne dem einzelnen ein Gefühl innerer Harmonie vermitteln sowie einer von Industrialismus u. techn. Fortschritt geprägten

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Bürgergesellschaft als Wertefundament die- 1988. – Klaus Kinzler: D. F. S. In: Bautz 11 (1996). – nen. In offenen Briefen an Ernest Renan ver- Thomas K. Kuhn: D. F. S. In: TRE 32 (2001). – teidigte S. 1870/71 den Deutsch-Französi- Werner Zager: Liberale Exegese des Neuen Testaschen Krieg. In seinem Bestseller Der alte und ments. D. F. S. – William Wrede – Albert Schweitzer – Rudolf Bultmann. Neunkirchen-Vluyn 2004. – der neue Glaube (Lpz. 1872. Bonn 151903) erDers. (Hg.): Führt Wahrhaftigkeit zum Unglauben? klärte S. seine von Klassik u. Neuhumanis- D. F. S. als Theologe u. Philosoph. Ebd. 2008. mus geprägte Bildungsreligion zur zivilreliFriedrich Wilhelm Graf / Red. giösen Integrationsbasis für das neue dt. Reich. Mit dieser von Nietzsche als »bourgeoiser Philisterglaube« verhöhnten HumaStrauß, Emil, * 31.1.1866 Pforzheim, nitätsreligion nahm S. tief greifenden Ein† 10.8.1960 Freiburg i. Br. – Romancier, fluss auf kirchenkrit., freireligiöse GruppieErzähler, Dramatiker. rungen im dt. Bürgertum sowie auf die Arbeiterkulturbewegung der von ihm scharf Der Sohn eines Schmuckfabrikanten stammte bekämpften Sozialdemokratie. Paradoxer- mütterlicherseits aus einer österr. Musiker-, weise nahmen ihn im kirchl. Protestantismus väterlicherseits aus einer badischen Pfarrersprimär antiliberale Traditionalisten u. poli- familie. S. studierte – ohne Abschluss – Phitisch Konservative in Anspruch: als Symbol- losophie, Germanistik u. Volkswirtschaft in gestalt liberaler Flachheit u. Zeuge dafür, Freiburg i. Br., Lausanne u. Berlin, wo er sich dass eine neuzeitl. Autonomie rechtfertigen- mit Max Halbe, Richard Dehmel u. den Brüde Theologie notwendig im Antichristentum dern Hart befreundete; Moritz Heimann u. Gerhart Hauptmann wurden seine Schwäger. ende. Weitere Werke: Streitschr.en zur Vertheidi- S. unternahm landwirtschaftlich-lebensregung meiner Schr. über das Leben Jesu u. zur formerische Experimente: 1890–1892 mit Charakteristik der gegenwärtigen Theologie. Tüb. Emil Gött in Süddeutschland, 1892/93 in 1837. – Christian Friedrich Daniel Schubart’s Leben Brasilien, wo er anschließend ein Internat in seinen Briefen. 2 Bde., Bln. 1849. Neudr. Kö- leitete. Von 1894 an lebte er – mit Unterbrenigst./Taunus 1978. – Hermann Samuel Reimarus chung durch Jahre in der Dresdner Künstu. Seine Schutzschr. für die vernünftigen Verehrer lerkolonie Hellerau (1911–1915) u. in Suna/ Gottes. Lpz. 1861. – Das Leben Jesu für das dt. Volk Italien – an wechselnden Orten in Südbearb. Ebd. 1864. – Voltaire. 6 Vorträge. Ebd. 1870. deutschland, z. T. wieder als Selbstversorger. 13 1924. – Ges. Schr.en. Hg. Eduard Zeller. 12 Bde., 1925 ließ er sich als freier Schriftsteller in Bonn 1876–78. – Ausgew. Briefe v. D. F. S. Hg. E. Freiburg nieder. Zeller. Ebd. 1895. – Briefw. zwischen S. u. Friedrich Seit 1926 war S. Mitgl. der Sektion für Theodor Vischer. 2 Bde., Stgt. 1952. Dichtkunst der Preußischen Akademie der Literatur: Bibliografien in: Horton Harris: D. F. S. and his Theology. Cambridge 1973, S. 287–295. Künste, die er – als zu linkslastig – mit Erwin – Friedrich Wilhelm Graf: Kritik u. Pseudo-Spe- Guido Kolbenheyer u. dem Freund Wilhelm kulation. D. F. S. als Dogmatiker im Kontext der Schäfer 1931 verließ. 1930 Mitgl. der NSDAP positionellen Theologie seiner Zeit. Mchn. 1982, geworden, wurde S. 1933, nach der UmbilS. 613–616 (Erg.). – Goedeke Forts. – Weitere Titel: dung der Akademie, wieder berufen, widerEduard Zeller: D. F. S. in seinem Leben u. seinen setzte sich allerdings – vergeblich – allen Schr.en. Bonn 1874. – Adolf Hausrath: D. F. S. u. propagandistischen Aktivitäten. Sein unumdie Theologie seiner Zeit. 2 Bde., Heidelb. 1876 u. strittener erzählerischer Rang u. sein Eintre1878. – Theobald Ziegler: D. F. S. 2 Bde., Straßb. ten für eine »völkische Erneuerung deutscher 1908. – Jörg F. Sandberger: D. F. S. als theolog. Lebensgemeinschaft« brachten ihm während Hegelianer. Gött. 1972. – Dietz Lange: Histor. Jesus des »Dritten Reichs« hohe Auflagen u. zahloder myth. Christus. Gütersloh 1975. – Jean-Marie Paul: D. F. S. et son époque. Paris 1982. – Marilyn reiche Ehrungen ein, darunter die GoetheChapin Massey: Christ Unmasked. The Meaning of Medaille u. die Ehrenbürgerwürde Freiburgs The Life of Jesus in German Politics. Chapel Hill (1946 wieder aberkannt). 1956 wurde ihm 1983. – Wolfgang Eßbach: Die Junghegelianer. vom Land Baden-Württemberg der ProfessoSoziologie einer Intellektuellengruppe. Mchn. rentitel ehrenhalber verliehen.

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Mit seinem erfolgreichen ersten Roman – obwohl seine Stücke an Reinhardts DeutFreund Hein (Bln. 1902. Neudr. Kirchheim schem Theater in Berlin u. am Königlichen 1982. Stgt. 22006) schlug S. ein Thema an, das Residenz-Theater in München uraufgeführt auch Hermann Hesse u. Robert Musil variie- wurden – der Erfolg versagt. ren sollten: die Schülertragödie. PsycholoWeitere Werke: Menschenwege. Bln. 1899. gisch einfühlsam gestaltete S. hier den Kon- Neudr. Kirchheim 1978 (E.en). – Don Pedro. Bln. flikt zwischen einem musikalisch begabten 1899 (D.). – Engelwirt. Bln. 1901. Neudr. Kirch2 Jungen u. seiner ihm nicht feindlich gesinn- heim 1992 (E.). – Kreuzungen. Bln. 1904 (R.). – ten, aber kunstfernen Umwelt u. beschrieb Hochzeit. Ebd. 1908 (D.). – Der nackte Mann. Ebd. das Leiden des Schülers an den inhumanen 1912 (R.). – Der Spiegel. Ebd. 1919 (E.). – Vaterland. Stgt. 1923 (D.). – Dreiklang. Mchn. 1949 (E.en). – Zwängen der Schule, vor denen er sich in den Ludens. Erinnerungen u. Versuche. Ebd. 1955. Tod flüchtet. Die zutiefst individualistische Literatur: Arnold Zweig: Verweis auf E. S. In: Suche nach dem eigenen Weg abseits bürgerl. Die Weltbühne 25 (1929), S. 184 f. – Josef HofmilKonvention, die aktive Aneignung dauerhaf- ler: E. S. In: Corona 3.6 (1933), S. 755–784. – Fritz terer als der modernen Werte treibt S.’ pro- Endres: E. S. Ein Versuch. Mchn. 1935. – Robert blemat., oft intellektuelle Helden. Ort ihrer Fritzsch: Die Beziehungen zwischen Mann u. Frau Erlösung ist, abseits der Großstadt, das »total bei E. S. Diss. Erlangen 1953 (mit krit. Überblick platte Land« (A. Döblin), vorrangig das über die Lit.). – Adolf Abele: E. S. Wesen u. Werk. süddt.-alemann., das S. liebevoll, aber ohne Diss. Mchn. 1955. – Wahr sein kann man. Zu Leben Pathos u. fern aller Heimattümelei beschrieb. u. Werk v. E. S. Pforzheim 1990 (Symposion). – In dem Roman Das Riesenspielzeug (Mchn. Konrad Strauß: Erinnerungen an meinen Vater E. S. 1935) verarbeitete S. seine lebensreformeri- Kirchheim 1990. – Johanna Bohley: Erziehung zur Heimat? Die Heimat- u. Identitätsmodelle bei E. S. schen Experimente mit Emil Gött als Versuch In: Dichtung im Dritten Reich? Hg. Christiane eines Philologen, eine Siedlungsgenossen- Caemmerer. Opladen 1996, S. 231–244. – Joachim schaft nichtentfremdeter Menschen zu grün- Noob: Der Schülerselbstmord in der dt. Lit. um die den. Nach vitalistischem Schema siegt das Jahrhundertwende. Heidelb. 1998. – Emil Gött: O Gesund-Ursprüngliche über das »Kranke«, Academia! Drama in fünf Aufzügen. Anh. mit undie Welt der Zivilisation, die Juden u. Sozia- veröffentlichten Briefen v. E. S. Hg. Volker Schupp. listen. Rassistische u. völk. Ausfälle finden Eggingen 2003. – Jan Ehlenberger: Adoleszenz u. sich auch in dem Roman Lebenstanz (Mchn. Suizid in Schulromanen v. E. S., Hermann Hesse, 1940). Hier zieht sich ein aus dem Ersten Bruno Wille u. Friedrich Torberg. Ffm. u.a. 2006. Ruth Fühner / Red. Weltkrieg heimgekehrter, von Deutschland enttäuschter Studienrat auf einen Bauernhof zurück u. vollendet eine einst unglücklich Strauß, Ludwig, auch: (Arieh) Ludwig abgebrochene Liebesgeschichte. Beide Male Strauss, Pseud.: Franz Quentin, Strawotist die Selbstverwirklichung des Individuums sch, Arijeh ben Menachem, * 28.10.1892 nur um den Preis der Isolation möglich, aber Aachen, † 11.8.1953 Jerusalem. – Lyriker, vereinbar mit dem nationalsozialistischen Erzähler, Dramatiker u. Essayist; LiteraGedanken einer Erneuerung der dt. Volksgeturwissenschaftler. meinschaft aus dem Bauerntum. Die Novelle Der Laufen (in: Hans und Grete. Aus einer Familie hess. Landjuden stamBln. 1909) ist – im Gewand einer Liebesge- mend, wuchs S. in einer akkulturierten schichte – eine frühe ökolog. Kritik der in- Aachener Kaufmannsfamilie auf u. schloss dustriellen Nutzung der Natur durch ein das Realgymnasium 1913 mit dem Abitur ab. Wasserkraftwerk am Rhein. Der Schleier (Bln. Seit 1908 veröffentlichte er unter dem Pseud. 1920), S.’ wegen ihrer klassizistischen Klar- Franz Quentin Gedichte, u. a. in dem von heit am meisten geschätzte Erzählung, vari- Philipp Keller herausgegebenen Aachener Aliert eine Episode aus Goethes Unterhaltungen manach (1910), an dem sich auch Walter Hadeutscher Ausgewanderten u. eines von S.’ Lieb- senclever u. Karl Otten beteiligten. Vier Gelingsthemen: weibl. Charaktergröße ange- dichtsammlungen folgten bis 1927, darunter sichts männl. Verrats. Als Dramatiker blieb S. Wandlung und Verkündung (Lpz. 1918). Ein

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1913 begonnenes philolog. Studium in München u. Berlin musste wegen einer schweren Traumatisierung im Ersten Weltkrieg abgebrochen werden. Bereits 1913 lernte S. Martin Buber, seinen späteren Schwiegervater, kennen, dessen Dialogphilosophie ihn ebenso beeinflusste wie Gustav Landauers Idee einer neuen Gemeinschaft. Früh engagierte sich S. zusammen mit Fritz Mordechai Kaufmann in der jüd. Jugendbewegung sowie in kulturzionistischen Kreisen, was sich insbes. in Übertragungen jidd. (Ostjüdische Liebeslieder. Bln. 1920) u. neuhebr. Dichtung (Chaim Nachman Bialik. Gedichte. Bln. 1921) niederschlug, aber auch in Artikeln in jüd. Zeitschriften u. Novellen (Der Mittler. Bln. 1916). 1918 wurde S. Mitgl. des linkssozialistischen Hapoël Hazaïr, der politisch für ihn zeitlebens Richtschnur blieb. Seit 1919 lebte S. als freier Schriftsteller, Privatgelehrter u. Dramaturg in Berlin u. Düsseldorf, ehe er mit Arbeiten über seinen bedeutendsten Anreger Hölderlin 1928/29 in Frankfurt/M. promoviert u. in Aachen habilitiert wurde (Das Problem der Gemeinschaft in Hölderlins »Hyperion«. Lpz. 1933). Bis zum Boykott durch die Nationalsozialisten lehrte S. als Leiter des Deutschen Instituts an der TH Aachen. 1935 siedelte er mit seiner Familie nach Palästina über, das ihm seit einer Reise 1924 als mögliche neue jüd. Heimat »Erez Israel« bereits vertraut war. Der Gedichtzyklus Land Israel (Bln. 1935) entstand 1934 nach einer weiteren Orientierungsreise dorthin. Nach der Übersiedlung arbeitete S. zunächst in einem Kibbuz, dann als Lehrer u. Erzieher im Jugenddorf Ben Shemen. Eine zunehmende Herzkrankheit erzwang 1949 die Übersiedlung nach Jerusalem, wo S. zunächst an einem Lehrerseminar, dann als Dozent für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Hebräischen Universität tätig war u. nicht wenige jüngere Literaturwissenschaftler beeinflusste. Ein Band mit hebr. Lyrik (Shaot wa-dor. Shirim [Stunde und Epoche. Gedichte]. Jerusalem 1951) sowie Bände mit Gedichten (Heimliche Gegenwart. Heidelb. 1952) u. aphorist. Kurztexten (Wintersaat. Zürich 1953) konnte S. noch selbst veröffentlichen; weitere Werke erschienen postum.

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Die Tradition, auf die sich S. als Dichter wie als Wissenschaftler berief, war die der dt. Klassik u. Romantik, v. a. Hölderlin; hinzu kam die »klassische Moderne«, insbes. Rilke u. George, von dessen Meisterkult er sich allerdings 1918 distanzierte. Mit den expressionistischen Generationsgenossen verband S. die Unbedingtheit seines ethischen u. ästhetischen Engagements; sprachlich-formal unterschied er sich von ihnen durch seinen auf Maß u. Harmonie gerichteten Stil. Die Wiederentdeckung seines Werks erfolgte v. a. im Kontext eines neuen Interesses für die Beziehungsgeschichte von Deutschen u. Juden: Mit seiner Betonung einer unauflösl. gleichrangigen Verbindung der dt. wie der jüd. Seite kann sein Leben wie sein dichterisches u. wissenschaftl. Werk als exemplarisch für die dt.-jüd. Literatur des 20. Jh. gelten. Weitere Werke: Werkausgaben: Ges. Werke in 4 Bdn. Hg. Hans Otto Horch u. Tuvia Rübner. Gött. Bd. 1: Prosa u. Übertragungen. 1998. Bd. 2: Wissenschaftliche Prosa. 1998. Bd. 3/1 u. 3/2: Lyrik u. Übertragungen. 2000. Bd. 4: Dramen, Epen, Vermischte Schr.en. 2001. – Dichtungen u. Schr.en. Hg. Werner Kraft. Mchn. 1963. – Werke und Briefe in Einzelausgaben: [Franz Quentin:] Sonnenhymnus. Aachen 1911. – Die Flut. Das Jahr. Der Weg. Gedichte 1916–1919. Bln. 1921. – Das Ufer. Gedichte. Bln. 1922. – Tiberius. Ein Drama. Mchn. 1924. – Der Reiter. Novelle. Ffm. 1929. – Die Zauberdrachenschnur. Märchen für Kinder. Bln. 1932. Erw. Neuaufl. Bln. 1936. – Nachtwache. Gedichte 1919–1933. Hbg. 1933. – Kleine Nachtwachen. Sprüche in Versen. Bln. 1937. – Fahrt u. Erfahrung. Geschichten u. Aufzeichnungen. Hg. W. Kraft. Heidelb./Darmst. 1959. – Briefw. Martin Buber – L. S. Hg. T. Rübner u. Dafna Mach. Ffm. 1990. Literatur: L. S. 1892–1992. Beiträge zu seinem Leben u. Werk. Mit einer Bibliogr. [v. Rolf Bulang u. Hartmut Erlemann]. Hg. Hans Otto Horch. Tüb. 1995. – H. O. Horch: Dt. Lit. – jüd. Lit. –Weltlit. L. S. als Literaturwissenschaftler. In: Jüd. Intellektuelle u. die Philologien in Dtschld. 1871–1933. Hg. Wilfried Barner u. Christoph König. Gött. 2001, S. 285–297. – Kerstin Rückwald: Zionismus, Sozialismus, Universalismus. L. S. Studien zu Leben u. Werk v. 1906 bis 1935. Aachen 2009. Hans Otto Horch

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Strauß und Torney, Lulu, Luise, von, * 20.9.1873 Bückeburg, † 19.6.1956 Jena; Grabstätte: ebd., Nordfriedhof. – Lyrikerin, Erzählerin, Romanautorin; Übersetzerin.

Strauß und Torney zählungen. Düsseld. 1966. – Einzeltitel: Gedichte. Gött. 1898. – Lucifer. Bln. 1907 (R.). – Das Leben der hl. Elisabeth. Jena 1926. – Das verborgene Angesicht. Ebd. 1943 (Autobiogr.). – Theodor Heuss – L. v. S. u. T. Ein Briefw. Düsseld. 1965. – Als wir uns fanden, Schwester, wie waren wir jung. Agnes Miegel an L. v. S. u. T. Briefe 1901 bis 1922. Hg. Marianne Kopp u. Ulf Diederichs. Augsb. 2009. – Herausgeberin: Eugen Diederichs. Leben u. Werk. Jena 1936. Literatur: Liselotte Zander: Balladen der L. v. S. u. T. Eine Würdigung nach Gehalt u. Gestalt. Diss. Greifsw. 1951. – Winfried Freund: L. v. S. u. T. Eine Meisterin der dt. Ballade. In: Niedersachsen 81 (1981), S. 1–11. – Rothtraut Hesse: ›Das Meerminneke‹. Eine quellenkundl. Untersuchung zu L. v. S. u. T.s Roman. In: Neoph. 73 (1989), H. 1, S. 90–107. – Westf. Autorenlex. 3. – Gisela Horn: L. v. S. u. T.-Diederichs: Ein Beispiel weibl. Anpassung. In: Entwurf u. Wirklichkeit. Hg. dies. Rudolstadt 2001, S. 311–325. – Gert Oberembt: Repräsentieren u. Redigieren zum Wohl der ›Volkskraft‹. Die Dichterin a. D. L. v. S. u. T. als Vorsitzende der Droste-Gesellsch. In: Eine literar. Gesellsch. im 20. Jh. Hg. Jochen Grywatsch u. Ortrun Niethammer. Bielef. 2003, S. 117–150. – Ulf Diederichs: Agnes Miegel, L. v. S. u. T. u. das Haus Diederichs. Die Gesch. einer lebenslangen Freundschaft. Bad Nenndorf 2005.

Nach dem Besuch der höheren Schule wurde die Tochter eines Generalmajors u. Kammerherrn freie Schriftstellerin. 1903 lernte sie in München Theodor Heuss kennen, mit dem sie 13 Jahre eine enge Brieffreundschaft verband. 1916 heiratete sie den Verleger Eugen Diederichs u. zog mit ihm nach Jena, wo sie bis zu ihrem Tod wohnte. S. gehörte schon früh zum Kreis um Münchhausens »Göttinger Musenalmanach«. In ihren populären Balladen (Balladen und Lieder. Lpz. 1902. Neue Balladen und Lieder. Bln. 1907. Jena 71923. Reif steht die Saat. Jena 1919) stellte S. ihre neuromant. Sehnsucht nach einem harmon. Leben mit der Natur gegen die entseelte industrialisierte Welt. In ihrem organischen Weltbild bestimmen die elementaren Gewalten, »Blut« u. »Erde« das Schicksal des Einzelnen. In ihren naturalistischen Bauernromanen u. -erzählungen, die wie die Balladen histor. Hans Sarkowicz / Red. Stoffe behandeln, schilderte sie zwar gesellschaftl. Konflikte u. die Mühen der dörfl. Welt, aber sie demonstrierte auch eine deutl. Nähe zu der späteren Blut-und-Boden-Ideo- Strauß und Torney, Viktor (Friedrich) logie. Entsprechend wurde sie nach 1933 ge- von (seit 1851), * 18.9.1809 Bückeburg, feiert: Ihr Roman Judas (Bln. 1911. U. d. T. Der † 1.4.1899 Dresden. – Lyriker, Erzähler, Judashof. Jena 1937), in dem ein Bauernhof Romancier, Übersetzer; Wissenschaftler, durch Trunksucht u. Streit unterzugehen Politiker. droht, galt als Muster für die literar. Umset- S. trat nach dem Jurastudium in Erlangen, zung des Erbhofgedankens. Auch ihr Wie- Bonn u. Göttingen 1832 in den schaumburgdertäuferroman Der jüngste Tag (Jena 1922) lipp. Staatsdienst ein; 1836 schloss er noch war für die NS-Literaturkritik »gestaltetes ein Theologiestudium an. 1850 als KabiVolksschicksal«. Dafür zeigte sich S., die nach nettsrat zum Bundestag in Frankfurt abgedem Tod ihres Mannes nur noch wenig pu- ordnet, trat S. als aristokratisch gesinnter blizierte u. vornehmlich an Übersetzungen Politiker hervor; Vormärz, Liberalismus soarbeitete, politisch konzessionsbereit. So wie religiöse Neuerer jeder Art wie z. B. die schrieb sie ihre Erzählung Das Meerminneke sog. Lichtfreunde (Schrift oder Geist? Bielef. (publiziert zus. mit Der Hof am Brink. Bln. 1845; der Rationalismus auch schon in dem 1906) in Rücksicht auf die NS-Rassengesetze partiell autobiogr. Roman Theobald, 3 Bde., um (Jena 1944) u. veränderte die Titelfigur, ebd. 1839) waren polem. Zielscheiben des eine span. Jüdin, sinnentstellend in eine orthodoxen Protestanten. 1866 zog er sich, muslimische Maurin. aus dem Dienst entlassen, ins Privatleben Weitere Werke: Ausgaben: Reif steht die Saat. zurück; seit 1872 lebte S., jetzt mit dem NaJena 1926 (Balladen). – Tulipan. Balladen u. Er- menszusatz seiner Frau (seit 1832) Albertine

Streckfuß

von Torney, in Dresden. Im Sinne Pestalozzis sprach sich S. für die Förderung der einfachen Stände aus. Volkspädagogische Ziele u. religiöse Unterweisung verfolgen seine geistl., polit., kulturkrit. u. Natur-Gedichte (Bielef. 1841) u. das Erbauungsbuch Das Kirchenjahr im Hause (2 Bde., Heidelb. 1845). Richard (Bielef. 1841) u. Robert der Teufel (Heidelb. 1854) aktualisieren die antike Epenform für christl. Heldensagen. Im Alter widmete sich S. religionsgeschichtl. Forschungen (Der altägyptische Götterglaube. 2 Bde., Heidelb. 1889 u. 1891) u. übersetzte Lao-tzus Taò-te-king (Lpz. 1870. Denklingen 1989) u. Schi-king. Das kanonische Liederbuch der Chinesen (Heidelb. 1880). Weitere Werke: Erzählungen. 3 Bde., Heidelb. 1845–55. – Gudrun. Ffm. 1851 (Schausp.). – Polyxena. Ebd. 1851 (Trag.). – Altenberg. 4 Bde., Lpz. 1866 (R.). – Novellen. 3 Bde., ebd. 1871. Literatur: Franz Dibelius: V. v. S. u. T. In: Beiträge zur sächs. Kirchengesch, H. 22 (1908), S. 101–120. – Lulu v. Strauß u. Torney: Vom Biedermeier zur Bismarckzeit. Aus dem Leben eines 90jährigen. Jena 1933 (Biogr.). – Westf. Autorenlex. 2. – Helge Bei der Wieden: V. v. S. u. T. In: Bautz. – Goedeke Forts. Richard Heckner / Red.

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trierte er sich auf Zeit- u. kriminalistische Sensationsromane, in denen die Integration der verschiedenen Klassen u. Stände in den neuen Staat überprüft u. die Gültigkeit kaufmännischer/bürgerlicher Wertvorstellungen, die Forderung, soziale Stellung sei durch Leistung zu legitimieren, betont wird. In zwölf dieser 24 Romane u. langen Erzählungen spielen Polizeibeamte eine wichtige Rolle. In regelrechten Detektiverzählungen wie z. B. Der Sternkrug u. Der tolle Hans (beide Bln. 1870) wird die kriminalistische Arbeit strukturbildend. Wiewohl er neben Temme u. Ewald August König als dt. Autor von Detektivgeschichten bekannt blieb, wurden nur noch wenige seiner Werke neu aufgelegt, u. a. Robert Blum (ebd. 1850) u. seine Schilderungen der 48er-Revolution (Die Staatsumwälzungen der Jahre 1847 und 1848. Ebd. 1849. Die Demokraten. Ebd. 1850. Neudr. Gießen 1977). Weitere Werke: Vom Fischerdorf zur Weltstadt. Berlin seit 500 Jahren. Bln. 1863. – Die Weltgesch. dem Volke erzählt. Ebd. 1865. – Berlin im 19. Jh. Ebd. 1867. – Der Oberförster v. Magrabowo. Stgt. 1887. Neuausg. Bln. 1939. Literatur: Goedeke Forts. Hans-Otto Hügel / Red.

Streckfuß, Carl Adolph, auch: Adolph Carl, * 10.5.1823 Berlin, † 11.10.1895 Streckfuß, (Adolf Friedrich) Karl, auch: Berlin. – Erzähler u. Sachbuchautor. Leberecht Fromm, * 20.9.1779 Gera, † 26.7.1844 Berlin. – Übersetzer; Lyriker, Nach einem Landwirtschaftsstudium vereiErzähler. telten dem jüngsten Sohn von Karl Streckfuß u. aktiven Demokraten seine 1848–1851 veröffentlichten polit. Schriften eine Karriere im Staatsdienst. In einem Hochverratsprozess wegen »Anreizung zur gewaltsamen Umwälzung des preußischen Staates« wurde er 1851 zwar freigesprochen; da aber die Zensur seine Werke für den Zeitschriften- u. Kolportage-Buchhandel nicht freigab, war ihm die Schriftstellerei praktisch unmöglich geworden. Fast ein Jahrzehnt betrieb er ein Zigarrengeschäft »en gros und en détail«, ehe er in den 1860er Jahren seine (lokal-)polit. Tätigkeit (1872–1874 Mitgl. des Berliner Stadtrats) u. das Schreiben von Sachbüchern u. histor. Romanen wieder aufnahm. Den größten Erfolg erzielte S. dabei mit seinen Berlin-Büchern. Seit 1870 konzen-

Der Sohn eines Buchhalters in einer Wollwarenfabrik studierte 1797–1800 in Leipzig Jura. Zunächst in sächs. (seit 1811) u. russ. Diensten (seit 1813), stieg S. in der preuß. Verwaltung (seit 1815) bis zum Geheimen Oberregierungsrat (1823) u. Mitgl. des Staatsrats (1840) auf. Während er 1804–1806 als Erzieher in Wien lebte, hatte S. Zugang zum literar. Salon Caroline Pichlers. Durch diesen Umgang angeregt, begann er Gedichte, Märchen, (Vers-)Erzählungen, auch einige Romane zu veröffentlichen. Literarhistorisch von Bedeutung sind seine Übersetzungen aus dem Italienischen, das er 1801–1803, als er als Hauslehrer bei seinem Onkel in Triest wohnte, intensiv studiert hatte. 1818–1820

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brachte S. Ariosts Rasenden Roland (5 Bde., Halle), 1822 Tassos Befreites Jerusalem (2 Bde., Lpz.) heraus. Besonders erfolgreich wurde seine Übersetzung von Dantes Göttlicher Komödie (3 Bde., Halle 1824–26. 91871), für deren Popularität er durch Teilabdrucke in Zeitschriften sorgte. Es folgten noch – auf Anregung Goethes – eine Übertragung von Manzonis Trauerspiel Adelgis (Bln. 1827) u. eine Arbeit über Torquato Tassos Leben (ebd. 1840) mit Proben aus den Gedichten Rinaldo u. Aminta u. dem Dialog Der Familienvater. 1834 gab er im Auftrag von Theodor Körners Mutter dessen Sämtliche Werke (ebd.) heraus. Eine Gesamtausgabe der wichtigsten Übersetzungen von S. (ohne das Trauerspiel) erschien 1841 in Halle. Literatur: Ludwig Fränkel: K. S. In: ADB. – Karl Streckfuß: A. F. K. S. Jena 1941. Hans-Otto Hügel

Streeruwitz, Marlene, * 28.6.1950 Baden/ Niederösterreich. – Verfasserin von Hörspielen, Theaterstücken, Prosa u. Essays. Nach dem Abitur studierte S. in Wien zunächst Jura, dann Slawistik u. Kunstgeschichte. Später arbeitete sie u. a. als Journalistin u. Redakteurin. 1987 wurde ihr erstes Hörspiel gesendet, 1989 debütierte sie als Regisseurin im Rundfunk, 1991 im Theater. S. hatte verschiedene Gastdozenturen inne, u. a. in Tübingen (1995/96), Frankfurt/M. (1997/98) u. Berlin (2001/02). Sie erhielt u. a. den Hermann-Hesse-Preis (2001) u. den Walter-Hasenclever-Preis (2002). Auf sich aufmerksam machte S. Anfang der 1990er Jahre mit Theaterstücken, in denen sie die sozialen Beziehungen in der spätkapitalistischen Gegenwart als von tödl. Gewalt, zyn. Machtstreben u. hemmungsloser Besitzgier bestimmt darstellt. 1992 wurde sie von der Zeitschrift »Theater heute« zur Nachwuchsdramatikerin des Jahres gekürt. In der letzten Dekade des 20. Jh. war sie eine der meistgespielten Autorinnen auf deutschsprachigen Bühnen. Waikiki Beach. (Urauff. Köln 1992), S.’ Theaterdebüt, handelt von der Bürgermeistersgattin Helene Hofrichter u. dem Chefredakteur Michael Peciwal, die in einem Ab-

Streeruwitz

bruchhaus während eines ihrer Rendezvous von einer Schlägergruppe überfallen werden. Michael flieht, Helene wird ermordet. Über ihrer Leiche schließen Michael u. Helenes Ehemann, die polit. Gegner sind, ein Stillhalteabkommen. Waikiki Beach. enthält bereits die wichtigsten antiillusionistischen Gestaltungsformen der Theatertexte S.’. Der Handlungsverlauf wird durch einmontierte Parallelszenen aus dem Fundus der Theatergeschichte, Wiederholungen einzelner Szenen u. die Erstarrung zum Tableau unterbrochen. Die Figuren nehmen Doppelrollen ein. Die Rede besteht aus Zitaten u. ist in ein Stakkato von Worten fragmentiert. S. benutzt Kunstmittel, die Wirklichkeit nicht abbilden, sondern hervorbringen u. an den (ko)produzierenden Zuschauer appellieren. In ihren poetolog. Essays begründet S. die Verwendung dieser artizifiellen Verfahren mit der Forderung nach einer ideologiekrit. »Entkolonisierung der Weiblichkeit«, die Frauen zu einer eigenen Sprache verhilft (Können. Mögen. Dürfen. Sollen. Wollen. Müssen. Lassen. Frankfurter Poetikvorlesungen. Ffm. 1998). Auch die Erzähltexte, die S. seit 1996 überwiegend veröffentlicht, stehen im Zeichen einer feministisch inspirierten Auseinandersetzung mit männlich codierten Darstellungsformen. Meist handeln sie von einer beschädigten weibl. Existenz zwischen Fremd- u. Selbstbestimmung, von der aus personaler oder Ich-Perspektive in der Technik des Bewusstseinsstroms erzählt wird. Verführungen. 3. Folge. Frauenjahre. (Ffm. 1996), S.’ Prosadebüt, modifiziert die Gattung des klass. Bildungsromans. Helene Gebhardt ist von ihrem Mann verlassen worden u. muss sich mit ihren zwei kleinen Kindern alleine durchschlagen. Versuche, neue Beziehungen zu Männern einzugehen, missglücken. Als sie erfährt, dass ihre beste Freundin sie mit ihrem Ehemann betrügt, beschließt sie, ihr Leben zu verändern: Sie reicht die Scheidung ein, klagt auf Unterhalt, kündigt ihren ungeliebten Job u. beginnt eine Umschulung. Einen Aufbruch schildert auch Lisa’s Liebe. 1.–3. Folge. (Ffm. 1997), der in Aufmachung, Figurenkonzeption u. Fabel das Genre des Groschenromans parodiert. Die in die Jahre gekommene Volksschullehrerin Lisa Liebich

Streich

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hat sich in den örtl. Landarzt verliebt. Doch fahrt. Ffm. 2000. Erneut u. d. T. Norma Desmond. das Happy-End bleibt aus. Der Liebesbrief, A Gothic SF-Novel. Ffm. 2002. – Tagebuch der den sie ihm schreibt, wird nicht beantwortet. Gegenwart. Wien u. a. 2002. – Gegen die tägl. BeLisa gibt schließlich das Warten auf u. reist leidigung. Vorlesungen. Ffm. 2004. – Morire in levitate. Ffm. 2004 (N.). – Der Abend nach dem nach New York. In Nachwelt. Ein Reisebericht. Begräbnis der besten Freundin. Ffm. 2008 (E.). – (Ffm. 1999) reflektiert S. auf die Grenzen der Bildgirl. Collagen. Hg. Marius Babias. Köln 2009. – Gattung Biografie. Margarethe Doblinger ›Das wird mir alles nicht passieren ...‹. Wie bleibe plant, eine Lebensgeschichte der Bildhauerin ich FeministIn. Ffm. 2010 (E.en). Anna Mahler, der Tochter Gustav Mahlers, zu Literatur: M. S. Begleitheft zur Ausstellung der schreiben, scheitert aber daran, dass sie keine Stadt- u. Universitätsbibl. Frankfurt a. M., 14. Jaangemessene Form findet. Die Hauptfigur nuar bis 20. Februar 1998. Hg. Stadt- u. Universiverknüpft die Reflexion der Darstellbarkeit tätsbibl. Ffm. 1998. – Nele Hempel: M. S. – Gewalt fremden Lebens mit der Frage nach dem Ge- u. Humor im dramat. Werk. Tüb. 2001. – M. S. im lingen des eigenen Lebens. S. hat in den Ro- Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks. Köln 2001. – man authent. Interviews integriert, die sie Katharina Döbler: M. S. In: LGL. – Claudia mit Zeitzeugen geführt hat. Partygirl. (Ffm. Kramatschek: M. S. In: KLG. – M. S. Hg. Heinz Ludwig Arnold. Mchn. 2004 (Text + Kritik. H. 164). 2002) ist eine aktualisierte Version von Edgar – ›Aber die Erinnerung davon.‹ Materialien zum Allan Poes Erzählung The Fall of the House of Werk v. M. S. Hg. Jörg Bong, Roland Sphar u. Oliver Usher. S. verwirft das Klischee der weibl. Lei- Vogel. Ffm. 2007. – M. S. Hg. Günther A. Höfler u. che u. verkehrt die Chronologie des Erzäh- Gerhard Melzer. Graz/Wien 2008. lens: Statt Madeline Ascher (Usher) stirbt ihr Peter Langemeyer Bruder Rick (Roderick); Madelines Leben wird unter Verzicht auf eine kausale Ereig- Streich, Albert, * 26.5.1897 Brienz/Kt. nisfolge rückläufig von der Gegenwart aus Bern, † 7.12.1960 Interlaken. – Lyriker, erzählt u. endet mit der Kindheit. In ihren Erzähler. späteren Romanen befasst S. sich kritisch mit den Auswirkungen des Neoliberalismus auf Der aus einer kinderreichen TagelöhnerfaBewusstsein u. Körperverhalten des Einzel- milie stammende S. besuchte die Primar- u. nen (Jessica, 30. Ffm. 2004. Entfernung. 31 Ab- Sekundarschule in Brienz, musste dann aber, schnitte. Ffm. 2006. Kreuzungen. Ffm. 2008). In statt die gewünschte Lehrerausbildung anKreuzungen. schildert sie die Handlung erst- zutreten, als Hilfskraft bei Wildbachverbaumals aus der Sicht einer männl. Hauptfigur, ungen arbeiten. 1916 trat er eine Lehre als eines Managers u. Multimillionärs, dessen in Schriftsetzer an, konnte den Beruf jedoch der Vision einer »vollendeten Selbstschöp- wegen Bleiunverträglichkeit nicht ausüben u. fung« gipfelndes Macht- u. Besitzstreben mit war in der Folge u. a. als Holzschnitzer, Straßenarbeiter, Hilfsschaffner bei der BriIronie u. grotesker Komik dargestellt wird. Weitere Werke: Waikiki-Beach. Sloane Square. enz-Rothorn-Bahn, Polizeidiener in Brienz u. Zwei Stücke. Ffm. 1992. – New York. New York. zuletzt als Verwalter der GemeindeausElysian Park. Zwei Stücke. Ffm. 1993. – Tolmezzo. gleichskasse tätig. Als Lehrling kam er durch Eine symphon. Dichtung. Ffm. 1994 (Stück). – die Hefte des »Vereins zur Verbreitung guter Ocean Drive. Ein Stück. Ffm. 1994. – Bagnacavallo. Schriften« erstmals mit der Literatur in Brahmsplatz. Zwei Stücke. Ffm. 1995. – Sein. Und Kontakt u. begann selbst, erste Gedichte u. Schein. Und Erscheinen. Tübinger Poetikvorle- Geschichten zu schreiben, die z.T. in einer sungen. Ffm. 1997. – Waikiki-Beach. Und andere Lokalzeitung publiziert wurden. Orte. Die Theaterstücke. Mit einem Vorw. v. ElEiner breiteren Öffentlichkeit wurde S. friede Jelinek. Ffm. 1999. – Und. Sonst. Noch. Aber. erstmals 1934 durch das Hörspiel Sunnäsiits Texte. 1991 [recte 1989] –1996. Wien 1999 (Essays). – Und. Sonst. Noch. Aber. Texte II. 1996–1998. am Rothoorän (»Auf der Sonnenseite des RotWien 2000 (Ess.s). – Majakowskiring. Ffm. 2000 horns«) bekannt, was ihn veranlasste, hoch(E.). – Dauerkleingartenverein ›Frohsinn‹. A Gothic deutsch geschriebene Brienzer Sagen (InterlaSF-Novel. In: Countdown läuft. Sieben Hefte mit ken 1938) zu publizieren. Sein wahres KönZukunft. Hg. Bodo Baumunk u. Thomas Wohl- nen aber wurde erst in den Bänden Underwägs

Streit

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(ebd. 1944), Sunnigs und Schattmigs (Bern 1958) u. Der Heiwwäg (Meiringen 1961) sichtbar: in einer Lyrik, die dem nur einigen Tausend Menschen geläufigen Brienzerdeutsch eine verblüffende Musikalität u. Wortgewalt abgewinnt, die jedoch, obwohl sie ihr strukturell u. thematisch zugehört, eine gänzlich unsentimentale, den Verlust u. die Fragwürdigkeit von Heimat an die Stelle ihres Lobpreises setzende Spielart von Heimatliteratur darstellt. S. hat seine Kindheit u. sein Ringen um die Dichtkunst in der leider nur in einem ersten Teil vollendeten Erzählung Tschuri (Bern 1956) auf bewegende Weise beschrieben. Ausgabe: Ges. Werke. 3 Bde., Bern 1970–78. Literatur: Erwin Heimann: A. S.s Leben u. Schaffen. In: Ges. Werke. Bd. 3, Bern 1978. – Barbara Stehli: A. S. In: Helvet. Steckbriefe. 47 Schriftsteller aus der dt. Schweiz seit 1800. Bearb. vom Zürcher Seminar für Literaturkritik mit Werner Weber. Zürich/Mchn. 1981, 234–239. Charles Linsmayer

Streicher, (Johann) Andreas, * 13.12.1761 Stuttgart, † 25.5.1833 Wien; Grabstätte: ebd., Zentralfriedhof. – Musiker, SchillerBiograf.

bung von Schillers Jugendjahren an, wobei ihm dessen Schwester Christophine Reinwald half. Obwohl Caroline von Wolzogen, die seit 1807 selbst an einer Schiller-Biografie arbeitete, die Veröffentlichung zu hintertreiben versuchte, erschien das Werk postum, wenn auch unvollständig u. (auf S.s Wunsch) anonym, u. d. T. Schiller’s Flucht von Stuttgart und Aufenthalt in Mannheim (Stgt./Augsb. 1836). Erst 1956 wurden die Fragment gebliebenen Schlusskapitel veröffentlicht (Reinhard Buchwald: Das unbekannte Schlußkapitel von Andreas Streichers Schillerbuch. In: Festschrift für Eduard Castle. Wien 1955, S. 137–155); 1974 folgte die erste Ausgabe des kompletten Werks (Schiller-Biographie. Hg. Herbert Kraft. Mannh. u. a. 1974). Literatur: Hermann Rollett: A. S. In: Ders.: Begegnungen. Wien 1903, S. 21–28. U. d. T. Schillers Jugendfreund A. S. in: GoetheJb. (Wien) 59 (1955), S. 96–99. – Theodor Bolte: Die Musikerfamilien Stein u. S. Wien 1917. – Eduard Castle: A. S.s Bemühungen um ein würdiges Grabmal für Schiller. In: Goethe Jb. (Wien) 57 (1953), S. 12–27. – Herbert Meyer: Schillers Flucht [...]. Mannh. 1959. – Paul Raabe: Einl. In: A. S.: Schillers Flucht. Neu hg. v. P. Raabe. Stgt. 1959, S 5–37. – Dietrich Germann: A. S. u. sein Schiller-Buch. Über den Nachl. [...]. In: WB 14 (1968), S. 1051–1059. – Uta GoeblStreicher, Jutta Streicher u. Michael Ladenburger: ›Diesem Menschen hätte ich mein ganzes Leben widmen mögen‹. Beethoven u. die Wiener Klavierbauer Nannette u. A. S. [Ausstellungskat.]. Bonn 1999. – Dies.: ›... den Sprung der Freiheit mit ihm zu wagen‹: A. S. u. Schiller. In: SchillerZeit in Mannheim [Ausstellungskat.]. Hg. Alfried Wieczorek u. Liselotte Homering. Mainz 2005, S. 43–48. – Christoph Öhm-Kühnle: A. S. In: MGG 2. Aufl. Bd. 16 (Personenteil). – Ders.: ›Er weiß jeden Ton singen zu lassen‹. Der Musiker u. Klavierbauer J. A. S. (1761–1833) – kompositor. Schaffen u. kulturelles Wirken im biogr. Kontext. Diss. Tüb. 2008 (Online-Ressource). – Herbert Jacob: A. S. In: ÖBL. Andreas Meier / Red.

Der im Waisenhaus aufgewachsene S. lebte bereits mit 17 Jahren von Klavierstunden. Sein Plan, die musikal. Ausbildung bei Carl Philipp Emanuel Bach in Hamburg zu vervollständigen, scheiterte jedoch, da seine geringen finanziellen Mittel zerflossen, als er nach seiner Abreise aus Stuttgart (22.9.1782) den Freund Schiller nach Mannheim mitnahm u. dort längere Zeit unterstützte. Seit Mitte der 1780er Jahre in München wohnend, lernte er Nannette, die Tochter des Augsburger Klavierbauers Johann Andreas Stein, kennen, die er 1794 heiratete. Das Ehepaar zog nach Wien, wo Nannette, zuerst mit ihrem Bruder Matthäus, seit 1802 mit T., eine Streit, Monica (Marianna), * 3.1.1948 HilKlavierfabrik betrieb. Die Streichers führten bringen. – Psychotherapeutin; Lyrikerin, einen der wichtigsten musikal. Salons in Erzählerin. Wien. Sie sorgten auch für den alternden Beethoven. S. wuchs im Saarland auf, machte eine Lehre S.s Bemühungen um ein würdiges Grabmal als Industriekauffrau u. studierte 1971–1978 für seinen im Weimarer Kassengewölbe bei- Politologie u. Psychologie an der FU Berlin. gesetzten Freund regten ihn zur Beschrei- Als Klinische Psychologin u. Psychothera-

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peutin tätig, eröffnete sie 1986 eine eigene Praxis in Berlin. In ihren Gedichten u. Erzählungen verarbeitet S. persönl. Erfahrungen. Die Sammlung Issi Marocco. Erzählungen über Gewalt (Bln. 1982) reflektiert die in der Kindheit ertragene, von der Familie, bes. vom Vater, u. von der kath. Dorfgemeinschaft ausgeübte Gewalt. Doch auch die alltägl. Gewalt zwischen Erwachsenen am Arbeitsplatz, in der Wohngemeinschaft, auf der Straße macht sie sich zum Thema. In dem autobiografisch geprägten Roman Joschi – Eine Kindheit nach dem Krieg (Hbg. 1984) setzt sich S. mit der Vergangenheit der Eltern auseinander. Aus der Sicht eines acht- bis zwölfjährigen Mädchens wird die Geschichte einer Kindheit in einem saarländ. Dorf in den 1950er Jahren erzählt. Weitere Werke: Busy to be free – Liebe ist Ausland. Gedichte 1979–82. Bln. 1983. – Vollmondhotel. Erzählungen aus Japan. Bln. 1994. – Oh Jamaica oh Jamaica oh. Bln. 1995 (L.). – Wohin mit dem Ego? Spiritualität u. Psychotherapie. Bln. 2001. Ilse Auer / Red.

Strelow, Ina, * 9.11.1958 Berlin. – Erzählerin, Dramatikerin, Hörspielautorin, Essayistin, Journalistin u. Moderatorin. S. begann 1981 das Studium der Journalistik, das sie jedoch nach kurzer Zeit abbrach. Stattdessen ließ sie sich drei Jahre später zur Buchhändlerin ausbilden. Anschließend arbeitete sie als Verlagsredakteurin u. Sprecherin beim DEFA-Synchronstudio, Rundfunk u. Fernsehen der DDR. Nach einem Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig (1991–1993) arbeitete sie wieder im Verlagswesen sowie als Regieassistentin u. Dramaturgin. S., die in Berlin lebt, nahm 2006 am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. In ihrem Roman Tagmond, königinnenblau (St. Ingbert 2004) erzählt S. die Geschichte einer Frau, die sich an einen fremden Ort zurückzieht, um dort zu schreiben. Damit sie die Einsamkeit ertragen kann, erschafft sie sich einen Mann, den sie dirigieren u. in die Geschichte, die sie verfasst, hineinschreiben kann. Im Romanverlauf verschwimmt mehr u. mehr die Grenze zwischen der Welt des

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Erdachten u. der Realität, bis sie schließlich zu verschwinden droht. S. erhielt 1992 u. 2003 ein Stipendium der Stiftung Kulturfonds der Neuen Bundesländer u. 1999 ein Aufenthaltsstipendium des Künstlerhauses Schloss Wiepersdorf. Weitere Werke: 88. Mit sechs Zeichnungen v. Frank Siewert. Bln. 1992. – Los. Mit sieben Zeichnungen v. Thomas H. Weber. Bln. 1992. – ... oder vergehen. Mit acht Linolschnitten v. Maren Grützmacher. Bln. 1993. – Unter einer Haut. Mit sieben Serigrafien v. Kai Hösselbarth. Bln. 1994. – Sirenengestein. Mit Fotografien v. Andreas Rost. Bln. 1995. – Spinnenseide. Mit sieben Linolschnitten v. Michael Würzberger. Bln. 1995. – Wolfshunger. Mit sieben Siebdrucken nach Fotografien v. Klaus Bendler. Bln. 1995. – Natternhemden. Tl. 1. Mit Siebdruck v. Pontus Carle. Tl. 2. Mit sieben Siebdrucken v. Manfred Moorkamp. Bln. 1996. – Bin ausgebrannt u. zapple noch. Mchn. 1997 (R.). – Der Mann Die Frau Der Herr. Mchn. 1999 (R.). – Nachtherz. Mit Linoldruck v. Silka. Bln. 2001 (R.). Ingo Langenbach

Stresau, Hermann, * 19.1.1894 Milwaukee/USA, † 24.8.1964 Göttingen. – Übersetzer, Kritiker, Erzähler. In Frankfurt/M. aufgewachsen, studierte S. in Berlin, München u. Göttingen u. war 1929–1933 städt. Bibliothekar in Berlin. Als freier Schriftsteller, Übersetzer (u. a. von William Faulkner) u. Mitarbeiter der »Frankfurter Zeitung« u. der »Neuen Rundschau« lebte er nach 1938 in Göttingen. S., der dem Irrationalen mit einer an angelsächs. Vorbildern geschulten Vernunft beizukommen trachtete, diagnostizierte in seinem Tagebuch der NS-Zeit Von Jahr zu Jahr (Bln. 1948) – einem nüchternen Dokument der inneren Emigration – die »Anarchie menschlicher Werte«, auch bei der Intelligenz. Die Erben des Schwertes. Ein Nibelungenroman (Ffm. 1940) schildert das tragische Scheitern Siegfrieds in einer von Schuld u. Macht beherrschten myth. Welt. In Thomas Mann und sein Werk (Ffm. 1963), in dem er sich mit einem seiner Leitbilder beschäftigte, zeigt sich ein bes. Interesse an dem »Heilsbringer« der Joseph-Romane, einer glücklicheren Variante von S.s Siegfried-Gestalt.

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339 Weitere Werke: Joseph Conrad. Der Tragiker des Westens. Bln. 1937. – Dt. Tragiker. Hölderlin, Kleist, Grabbe. Hebbel. Mchn. 1939. – Adler über Gallien. Ffm. 1942. Neudr. 1966 (histor. R.). – An der Werkbank. Bln. 1947 (E.). – Das Paradies ist verriegelt. Stgt. 1954 (R.). – G. B. Shaw in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1962. 11 1993 Literatur: Karl Krolow: Gedenkwort für H. S. In: Jb. der Dt. Akademie für Sprache u. Dichtung (1964), S. 193–195. – Gernot Kunze: H. S. u. Max Wieser. Zwei Beispiele bibliothekar. Zeitgeistes während der Nazidiktatur. Hann. 1990. Hartmut Dietz / Red.

Der Stricker, mittelhochdeutsch: der Strickaere, erste Hälfte des 13. Jh. – Verfasser von Romanen, Erzählungen, Bispeln, Reden u. Gebeten. Die histor. Existenz des S., dessen Schaffenszeit sich auf etwa 1220–1250 festlegen lässt, ist quellenmäßig nicht belegt. Sein Name, der in einigen seiner Dichtungen u. zweimal bei Rudolf von Ems genannt wird u. sich auch als Autorzuschreibung in der Textüberlieferung findet, kann konkret einen Beruf (Seiler) oder metaphorisch die Tätigkeit des Dichtens bezeichnen, kann Pseudonym oder auch Eigenname sein. Hinweise in seinen Werken lassen es möglich erscheinen, dass der S. dem Stand der fahrenden Berufsliteraten angehörte. Aufgrund mundartl. Merkmale wird seine Herkunft aus rhein- oder ostfränk. Gebiet vermutet. Seine literar. Tätigkeit übte er wahrscheinlich zeitweise in Österreich (speziell Niederösterreich) aus, worauf die Erwähnung von Land, Örtlichkeiten u. polit. Umständen in verschiedenen Texten schließen lässt. Seine Adressaten fand der S. vor allem in adligen, vielleicht auch in klerikalen Kreisen. Mäzene oder Auftraggeber sind nicht bekannt; eine Verbindung zum Wiener Herzogshof Leopolds VI. kann erwogen, aber nicht nachgewiesen werden. Im Spiegel seiner für die dt. Literatur des 13. Jh. höchst innovativen Dichtungen stellt sich der S. als scharfer analyt. Geist mit hohem rationalen Anspruch u. dem Fundus einer weitgefächerten Gelehrsamkeit dar. Er ist lateinisch gebildet, kennt sich in antiker, zeitgenöss., auch altfrz.

Literatur aus, besitzt rhetorisches u. juristisches Wissen u. ist insbes. theologisch versiert. Neben glaubensprakt. Unterweisung bereitet er für ein Laienpublikum schwierige dogmat. u. moraltheolog. Inhalte auf. Die Werke sind im Metrum der höf. Dichtung, dem vierhebig alternierenden Reimpaarvers, abgefasst. Neben zwei Romanen, welche die höf. Großepik repräsentieren, ist unter dem Namen des S. ein umfangreiches Corpus von Kleindichtung verschiedener Texttypen überliefert. Für eine Werkchronologie, etwa im Sinne einer Entwicklung von der bereits etablierten Großform zur neuen Kleinform, sind weder externe noch innerliterar. Kriterien fassbar. Thematische u. formale Bezüge zwischen den Texten deuten durchaus auf die Möglichkeit paralleler Entstehung von Werken aus verschiedenen Gattungsbereichen hin. Besonders produktiv wirkt der S. auf dem Gebiet der Kleindichtungen, deren Darstellungsformen er in die dt. Literatur einführt. Er orientiert sich an traditionellen literar. Stoffen u. Gattungen wie den mlat. Exempla (›narrationes‹), den antiken u. mlat. Fabeltraditionen (v. a. Avian, Romulus, Anonymus Neveleti) u. dem altfrz. Fabliau, aber auch an der zeitgenöss. Predigtpraxis u. der mündl. Erzählüberlieferung. Mit Aneignungsverfahren wie Übernahme, Variation, Modifizierung u. Weiterentwicklung führt der S. Traditionen fort, bildet aber auch eigene Genera aus, die ihrerseits traditionsbildend wirken. Das Corpus umfasst (gemäß der Gesamtausgabe von Moelleken) 166 Texte im Umfang von acht bis etwa 1000 Versen. Allerdings lässt sich die Verfasserschaft für die als S.Texte geltenden Stücke nicht generell sichern, da sich die Autorzuweisungen in den sie im Verbund mit anderen Kleindichtungen überliefernden Sammelhandschriften (Überlieferungsbeginn um 1260/80 mit dem Wiener Codex 2705) zumeist nicht auf Einzeltexte, sondern auf Textgruppen beziehen. Auch könnten angesichts der Popularität des S.schen Werks einige Stücke anonymer Nachahmer aufgenommen sein. Eine präzise gattungstypolog. Bestimmung u. Systematisierung der S.schen Kleindichtung ist aufgrund vielfältiger

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Überschneidungen in thematischer, motivischer, formaler, struktureller u. intentionaler Hinsicht schwierig, zumal kein Gattungsbewusstsein fixiert ist. Doch lassen sich die Texte nach dem derzeitigen, frühere Klassifizierungsversuche kritisch auswertenden Forschungsstand (repräsentiert durch die Studien von Holznagel) zumindest im Großen nach Merkmalen, die auch rezipientenbezogene Kriterien einschließen, mit einer gewissen Trennschärfe gruppieren. Entsprechend der narrativen (Erzählung im epischen Präteritum) oder diskursiven (Sachverhaltserörterung im Präsens) Gestaltung bzw. der Kombination beider Darstellungsweisen lässt sich die Texttypen-Trias von Erzählung (1), Bispel (2) u. Rede (3) unterscheiden. 1. Die Erzählungen sind entweder rein narrativ angelegt, also allein durch die epische Handlung konstituiert, oder die Handlung (Teil A) wird durch einen diskursiven Schlussteil (B) in Form eines Epimythions ergänzt, das argumentativ-moralisierend, oft sentenzhaft verdichtet, eine Lehre vermittelt. Das Publikum erhält sowohl übergreifende Einsichten in die Verbindlichkeit der göttl. Weltordnung als auch im direkten Appell konkrete Verhaltensmaximen durch Warnung, Mahnung oder Anweisung. Das Epimythion wird vom S. variabel verwendet; es kann global auf die gesamte Geschichte bezogen sein, punktuelle Auslegung von Einzelaspekten bieten oder zur thematisch erweiterten, den Erzählhorizont überschreitenden Didaxe expandieren. Der Rezipient einer derartigen Erzählung hat die Denkoperation der Generalisierung zu vollziehen, indem er den erzählten Einzelfall (A) auf die allg. Lebensregel (B) bezieht. Liegt eine Erzählung ohne Epimythion vor, ist der Rezipient dazu angehalten, eine in der Handlung selbst transportierte Nutzanwendung zu erkennen u. herauszupräparieren. Das die Kleindichtungen gesamtheitlich charakterisierende didakt. Profil zeigt sich in den Erzählungen also graduell verschieden: mitunter nur unscharf fassbar als textintegrierte Lehre, demonstrativ deutlich dagegen im Epimythion. Mit der Vorführung richtigen oder falschen menschl. Verhaltens werden positive u. negative Beispiele gegeben, die auf

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die Vergegenwärtigung ethischer, moralischer u. rechtl. Normen in ständ., berufl. oder persönl. Kontexten abzielen. Erzähltechnisches Kennzeichen ist die konzentrierte, einsträngige, auf eine Pointe zulaufende, von wenigen namenlosen Personen getragene ortu. zeitlose Handlung. Das fiktive Geschehen ist stark dialogisch geprägt, sodass sich mitunter die narrativen Passagen auf kurze Situationsbeschreibungen oder bloße Sprecherangaben reduzieren. Die nach vorgegebenen Rollenmustern typisierten Personen agieren im Rahmen festgelegter Konstellationen. Als Erzähltypen sind Mären (umstrittener, letztlich aber akzeptierter Terminus von Fischer) u. Fabeln zu unterscheiden. Während im Märe menschl. Handlungsträger agieren, tritt das Personal der Fabeln in traditioneller Weise in Gestalt anthropomorphisierter Tiere (teils auch Pflanzen) auf, in deren typkonstanten Eigenschaften u. Handlungen sich gemäß dem Prinzip der uneigentl. Darstellungsweise menschl. Grundhaltungen offenbaren. Im Subtypus des schwankhaften Märes wird die Komik dem moralischen Belehrungszweck dienstbar gemacht. In Formen von drastisch-grotesker Realitätsverzerrung fungiert sie als Mittel zur Erkenntnisstiftung. Ein vom S. öfter variiertes Schema legt einen durch einen Ordnungsverstoß entstandenen Konflikt auf der Ebene sozialer Ordnungen u. Bindungen (Ehe, Rechtsordnung, ständ. Ordnung) zugrunde, der zwischen mitunter nur zwei Personen (z.B. Ehepartner) in der Konfrontation von Klugheit (als List, Betrug oder Täuschung ) u. Torheit ausgetragen wird u. den Repräsentanten der ›tumpheit‹ zum Unterlegenen u. verlachten Opfer macht. Nach dem Schwankprinzip von Aktion u. Gegenaktion kann der zunächst Geschädigte mit einer klugen Replik die Kontroverse als Sieger beenden, sodass ein gutes (Wiederherstellung der gestörten Ordnung) oder ein böses Ende möglich ist. 2. Während bei der Erzählung die Lehre aus der Handlung abgeleitet ist, dient umgekehrt im genuin didakt. Gattungsrahmen des Bispels (aus mhd. ›bî-spel‹ = Bei-Erzählung) die Geschichte allein als Illustration zur Untermauerung der diskursiv entfalteten

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Lehre. Das Bispel weist generell die konstituierende Zweiteiligkeit von narrativem Bildteil (A) u. erörterndem Auslegungsteil (B) auf. Der diskursive Teil B überträgt entsprechend der von der bibl. Exegese übernommenen Auslegungsmethodik die wesentl. Merkmale der fiktiven Erzählung schrittweise im Modus des Vergleichs auf Einzelelemente des geistlichen oder moralischen Lehrgegenstandes. So hat der Rezipient beim Nachvollzug der Argumentation eines Bispels zwei Denkoperationen zu leisten (in Abgrenzung zum Texttypus Erzählung, s.o.). Durch Analogisierung ist die Erzählung von Teil A (Grundsphäre) als Modell für den in Teil B dargelegten Sachverhalt (Vergleichssphäre) zu verstehen, während zudem durch Generalisierung das als singulär dargestellte Geschehen von Teil A zu verallgemeinern ist. Die Bindung von Teil A an Teil B wird besonders durch formal-strukturelle Korrespondenzen u. sprachl. Rekurrenzen gestützt. Zum knapp-prägnant erzählten Exempel kann die Handlungssubstanz von Fabeln (Tierbispel) u. Erzählungen ohne Komik werden. Das pädagog. Anliegen des Bispels ist vor allem geistl. Unterweisung mit katechetischer oder theologisch-dogmat. Ausrichtung (wie Bußsakrament, Sünden- u. Gnadenlehre, Trinitätsdogma u. Eucharistie), wobei sowohl größere Sachkomplexe als auch singuläre Phänomene (z.B. ausgewählte Todsünden) dargestellt werden. Hinzu kommt ein breites Spektrum weiterer, nicht explizit theologischer, die Regeln des menschl. Lebens betreffender Sujets, die teils auch in den selbstständigen Erzählungen behandelt werden (z.B. richtiges oder falsches ständ. u. soziales Verhalten; Minne- u. Eheproblematik). Kritik wird an gegenwärtigen Missständen (z.B. an der aktuellen polit. Lage oder am Amtsmissbrauch von Klerikern) geübt. 3. Die Rede, eine traktatartig erörternde Form von Lehrdichtung, ist grundsätzlich diskursiv gestaltet. Die Aussagehaltung ist objektiv-konstatierend, monologisch mit einem zur Lehrinstanz stilisierten Sprecher-Ich oder (seltener) dialogisch, wobei narrative Einschübe möglich sind. Es werden im Wesentlichen dieselben Gegenstände wie im Bi-

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spel behandelt, auch hier mit dem Schwerpunkt auf geistl. Didaxe, daneben Inhalte der Moral-, Ritter-, Standes- u. Naturlehre, die mitunter in scharfe Polemik gefasst sind. Der Typus der Rede ist auch durch die wirkungsvolle Darstellungsform der Klage, v. a. als Zeitklage mit konkretem Gegenwartsbezug, repräsentiert. Ein vom S. zugunsten der Anschaulichkeit häufig verwendeter Subtypus der Rede ist die dem Bispel strukturell verwandte zweiteilige Gleichnisrede. Sie besteht ebenfalls aus einem Bild- (A) u. einem Auslegungsteil (B), doch sind beide Teile diskursive Erörterungen. Der Auslegungsgegenstand der Grundsphäre (A) wird als etwas Allgemeingültiges in Form einer Sachverhaltsdarstellung, Zustandsschilderung oder Vorgangsbeschreibung wiedergegeben. Die hier behandelten Gegenstände entstammen oft Bereichen des tägl. Lebens, die dem Publikum vertraut sind. Da die Vergleichssphäre (B) mit der durch die Auslegung vergegenwärtigten Lehre auf der Ebene des Allgemeingültigen verbleibt, ist dem Rezipienten zwar die Denkoperation der Analogisierung aufgegeben, nicht aber die der Generalisierung eines erzählten Einzelkasus (in Abgrenzung zu Erzählung u. Bispel, s.o.). Die Gruppe der Gebete, in denen tradierte Schemata adaptiert werden (Sündenklage, Bußgebet, Gebet zum Messopfer, Passionsgebet, Marienlitanei usw.), deutet auf einen prakt. Bezug zur Seelsorge (Gebrauch als Gemeindegebete) hin. Thematisch korrelieren sie mit den geistl. Dichtungen, typologisch nehmen sie als Halbmonologe (Anrufung einer nicht unmittelbar präsenten Instanz) eine Sonderstellung ein. Zwei weitere Werke stehen in enger Verbindung zur Kleindichtung, setzen sich von dieser aber aufgrund ihres größeren Umfangs, ihrer je eigenen Bauweise u. ihres komplexeren Inhalts ab: Der Pfaffe Amis, der mittelalterl. Vorläufer des Eulenspiegel, ist der negative Titelheld des ersten dt. Schwankromans, der als Serie von zwölf durch das biogr. Prinizp konzeptionell verbundenen Episoden konstruiert ist. Die Komik als Gattungskonstante stellt die Affinität der Einzelepisoden zum schwankhaften Märe her, doch ist beim Amis die Komik satirisch

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verschärft. In einem ›mundus perversus‹, einer verkehrten, von Laster u. Torheit beherrschten Welt, benutzt der Kleriker seine skrupellos instrumentalisierte Schlauheit zum unrechtmäßigen Erwerb von Reichtum, den er zur Ausübung der durch Maßlosigkeit freilich pervertierten Tugend der ›milte‹ benötigt. Die von Paris bis Konstantinopel mit ›liegen unde triegen‹ (Lügen u. Betrügen) als Wort- u. Tatbetrug ausgeführten Anschläge sind gegen Angehörige hoher u. niederer Stände u. Gruppierungen (u. a. König, Herzog, Kleriker, Städter, Bauer) gerichtet, die dem intellektuell Überlegenen, der ihre Verhaltens- u. Reaktionsmuster seiner Betrugsplanung zugrundelegt, zum Opfer fallen. Den Betrogenen mangelt es an Erkenntnis, sei es durch Regel- u. Normgebundenheit oder durch eigene Sündhaftigkeit. So kann in der Gesamtheit der Episoden ein über die Wirkung der aggressiven Schwankkomik vermitteltes warnendes Beispiel für die sündige Verfasstheit der Welt gesehen werden. Die abschließende Läuterung des Helden, der nach seiner Heimkehr mit seinem Reichtum in ein Zisterzienserkloster eintritt u. zuletzt das Seelenheil erlangt, ist allerdings nicht an die Handlung zurückzubinden u. lässt ambivalente Deutungsmöglichkeiten zu. In der Frauenehre, einer Rede in Ich-Form, verbindet der S. Minne- u. Tugendlehre, indem er die Minne nach ihrem Wesen u. Wirken in Entsprechung zur ›caritas‹ als der obersten theolog. Tugend als höchste Tugend (›der tugende küniginne‹) darstellt, durch die alle anderen Tugenden erst zur rechten Wirkung gelangen können. Trägerin u. Vermittlerin dieser Tugenden ist die vorbildliche, sittlich-moralisch gefestigte Frau, mit deren Lob der S. zunächst an den höf. Frauenpreis anknüpft, das Thema dann aber universal ausweitet, indem er die Frau zur Verbindungsinstanz zwischen Gott u. dem Mann erhebt. Bemerkenswert ist das neue poetische Verfahren der Kombination verschiedener Typen literar. Darstellungsweise, insbes. der Einschub einer Allegorie (die ›vrouwe‹ als Tugendbaum) u. eines Bispels (Bispel vom Ackermann) in den diskursiven Grundtext. Partiell antizipiert der S. mit der Frauenehre

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das erst im 14. Jh. fest etablierte Genus der »Minnerede«. Die beiden Romane, mit denen der S. unterschiedliche epische Traditionen aufgreift, sind gattungsgenetisch wichtige Werke. Karl der Große ist eine Bearbeitung des um 1170 entstandenen Rolandsliedes des Klerikers Konrad, der mit der Übertragung der altfrz. Chanson de Roland der christl. Heldenepik den Weg in die dt. Literatur eröffnet hat. Historischer Kern der die Auseinandersetzung zwischen Christentum u. Heidentum in den providentiellen Rahmen der Heilsgeschichte einbindenden Dichtung ist der 788 mit einer Niederlage endende Spanienfeldzug Karls des Großen gegen die Sarazenen. Die Fassung des S. modernisiert die Vorlage sprachlichstilistisch u. erzähltechnisch nach Maßgabe der poetischen Prinzipien der höf. Dichtung u. nimmt, teils selbstständig, teils im Rückgriff auf andere Zeugen des Sagenkreises um Karl u. Roland, substantielle Veränderungen vor (Voranstellung einer Vorgeschichte von Karls Jugend, Kürzung oder Erweiterung von Textpassagen, Aufnahme neuer Handlungssegmente, Verlängerung der Schlusspassage), die eine neue Konzeption erkennen lassen. Im Zentrum des S.schen Romans steht die Figur Karls des Großen, der mit Darstellungselementen der Hagiografie unter biogr. Aspekt zum heiligen Herrscher, zu ›sante Karle‹, stilisiert wird. So bildet der Heidenkampf die zentrale Episode des persönl. Heilsweges der Karlsvita, u. zugleich wird Karl mit dem göttl. Auftrag, sein Herrschertum in den Dienst der Errichtung des Römischen Weltreichs zu stellen, zum Träger einer progressiven Phase im Fortlauf der in der Weltgeschichte sich konkretisierenden Heilsgeschichte auserwählt. Für die ihm damit übertragene Aufgabe der Missionierung von ›Spanje‹ wird dem Herrscher nach Gottes Ratschluss der Chanson-Held Roland als kampftüchtiger Helfer zugeordnet, der in dem so konstituierten Zwei-Helden-Modell im Mittelteil des Werks als Handlungsträger an die Stelle Karls tritt. Nach dem zunächst erfolgreichen Bekehrungs- u. Eroberungsfeldzug überträgt Karl die Königswürde von ›Spanje‹ an Roland, der nun als christl. Herrscher die militärische Konfrontation mit

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dem heidn. König Marsilies zu bestehen hat. Infolge eines Komplotts zwischen dem christl. Verräter Genelun u. den Heiden endet der Krieg in der Katastrophe des Untergangs aller Beteiligten (gemäß dem realhistor. Faktum der Niederlage), wobei die Christen als Märtyrer, die Heiden als Verdammte sterben. Dann aber wird Karls Rachefeldzug gegen die unter Führung Paligans, des Oberhauptes aller heidn. Reiche, in ›Spanje‹ eingetroffene heidn. Heeresmacht zum metaphys. Kampf zwischen Gottes- u. Teufelsreich, der zuletzt durch einen göttlich verfügten Zweikampfsieg Karls über Paligan für die Christen entschieden wird. Dass der Karl im Zuge seiner Rezeption (komplett oder ausschnittweise) Aufnahme in große kompilatorische Werke der Historiografie (z.B. Weihenstephaner Chronik, Weltchronik Heinrichs von München) findet, dokumentiert entsprechend der mittelalterl. Auffassung von der Präsenz u. Offenbarung Gottes im Geschichtsverlauf das Verständnis des Werks als chronologisch verortetes Zeugnis geschichtl. Überlieferung. Mit seinem Artusroman Daniel von dem blühenden Tal schreibt der S. die in der dt. Literatur von Hartmann von Aue begründete Gattungstradition fort. Man zählt Daniel zu den nachklass. Vertretern, deren Handlungsgang nicht wie im klass. Artusroman durch die persönl. Krise des ritterl. Protagonisten strukturiert ist. Der noch unvollkommene Held muss nach schwerwiegendem Fehlverhalten auf einem zweiten Aventiureweg seine individual- u. sozialethische Integrität zurückgewinnen (Doppelweg-Struktur). Im Horizont dieses narrativen Musters, besonders in der Auseinandersetzung mit Hartmanns von Aue Iwein, sind beim S. die Rollen des ritterl. Helden u. des Königs Artus, die Personenkonstellation u. die Handlungsstruktur neu entworfen. Der Königssohn Daniel kommt bereits als vorbildlicher, die normativen Vorgaben des arturischen Rittertums optimal erfüllender Ritter an den Artushof, wo König Artus alsbald mit der Unterwerfungsforderung des mächtigen Herrschers Matur von Cluse konfrontiert wird. Um sein Reich zu retten, muss Artus auf die Provokation Maturs mit einem Kriegszug reagieren. Den Sieg erringt er nach einem

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Zweikampf mit dem durch sein Schwert sterbenden Herausforderer u. dem Gewinn von vier Schlachten. Die dem König zugewiesene handlungsaktive Rolle (gegenüber seiner stat. Existenz im klass. Artusroman) begründet die personale Konfiguration des auch im Karl verwendeten Zwei-Helden-Modells, dessen Repräsentanten hier König Artus als kriegführender Herrscher u. Daniel als der für ihn kämpfende Ritter sind. Mit seinem herausragenden kriegerischen Einsatz in den Schlachten trägt Daniel entscheidend zum Sieg bei u. wird nach der Friedensherstellung von Artus zum König von Cluse erhoben. Die für einen Artusroman untypischen, breit ausgeführten Schlachtschilderungen haben ihren literar. Ort in der vom S. mit dem Karl (vor oder nach dem Daniel) aufgegriffenen ›Chanson de geste‹-Tradition, u. so verwundert es nicht, dass sich Parallelen in der epischen Inszenierung des Kampfgeschehens u. (auch wörtliche) sprachl. Übereinstimmungen mit dem Rolandslied u. dem Karl finden. Der ritterl. Aventiureweg, das strukturelle Grundelement der Artusepik, ist im Daniel ein separater Handlungsstrang, der formal-kompositorisch u. inhaltlich mit der Artus-Kriegshandlung verknüpft u. zuletzt in diese überführt wird. Daniel gerät in drei Ländern in existenzielle Bewährungssituationen in Form von Hilfstaten, die ihm die Überwindung von Kreaturen einer dämonischen Gegenwelt, die über magische Machtmittel verfügen, abverlangen. Nach ihrer Tötung erweisen die von der Terrorgewalt erlösten Bewohner der usurpierten Länder Daniel ihre Dankbarkeit durch Kampfhilfe für Artus’ Streitmacht in Cluse, mit der sie sich in die arturische Gemeinschaft eingliedern. Charakteristisch für den ritterl. Helden im Daniel ist sein intellektuelles Vermögen, das die Befreiungstaten gelingen u. ihn auch übermächtige Gegner besiegen lässt. Daniel agiert in seinen Aventiuren nicht nur als Zweikämpfer mit Körperkraft, sondern speziell durch kluges Taktieren, welches das Verhalten der Widersacher vorausschauend kalkuliert. Auch seine letzte, die Fortexistenz des Artusreiches sichernde Heldentat, die Rettung des entführten Königs Artus aus der Gewalt eines in magischen Künsten bewan-

Der Stricker

derten, über außerordentl. Stärke u. Klugheit verfügenden Vasallen Maturs, vollbringt er mithilfe einer rational entwickelten Gegenstrategie. Das im Text vorzugsweise mit dem semantisch breit gefüllten Begriff des ›list‹ wiedergegebene Vermögen des situationsgerechten Gebrauchs der Verstandeskraft wird in einem programmat. Exkurs als Derivat der Tugend der Weisheit u. als Fähigkeit, Gut u. Böse zu unterscheiden, bewertet. Mit dem als Rede im autoritativen Lehrgestus gehaltenen Lob des ›list‹ eröffnet der S. dem Publikum neben prinzipieller Erkenntnis – wohl mit der Absicht der Rezipientensteuerung – eine Verstehensperspektive auf seinen außergewöhnl. Artusroman. Ausgaben: Karl der Große. Hg. Karl Bartsch. Quedlinb./Lpz. 1857. Nachdr. mit einem Nachw. v. Dieter Kartschoke. Bln. 1965. – Die bisher unveröffentlichten geistl. Bispelreden des S.s. Hg. Ute Schwab. Gött. 1959. – Die Kleindichtung des S.s. Hg. Wolfgang W. Moelleken u. a. 5 Bde., Göpp. 1973–78. – S.s ›Frauenehre‹. Hg. Klaus Hofmann. Marburg 1976. – Des S.s ›Pfaffe Amis‹. Hg. Kin’ichi Kamihara. Göpp. 1978. – Tierbispel. Hg. U. Schwab. Tüb. 31983. – Der Pfaffe Amis. Ein Schwankroman aus dem 13. Jh. in zwölf Episoden. Hg. Hermann Henne. Göpp. 1992. – Der S. Erzählungen, Fabeln, Reden. Hg., übers. u. komm. v. Otfrid Ehrismann. Stgt. 1992. – Daniel von dem Blühenden Tal vom S. Aus dem Mittelhochdeutschen übertr. v. Helmut Birkhan. Essen 1992. – Der S. Der Pfaffe Amis. Hg., übers. u. komm. v. Michael Schilling. Stgt. 1994. – Daniel von dem Blühenden Tal. Hg. Michael Resler. Tüb. 21995. – Novellistik des MA. Märendichtung. Hg., übers. u. komm. v. Klaus Grubmüller. Ffm. 1996. – Daniel von dem Blühenden Tal. Ed. and Transl. by Michael Resler. Cambridge 2003 [mhd. – englisch] (Lit.). – Stefanie Weber: S.s ›Karl der Große‹. Analyse der Überlieferungsgesch. u. Ed. des Textes auf Grundlage von C. Hbg. 2010. Literatur: Allgemeines, Gesamtwerk: Hedda Ragotzky: Gattungserneuerung u. Laienunterweisung in Texten des S.s. Tüb. 1981. – Guido Schneider: ›Er nam den spiegel in die hant, als in sîn wîsheit lêrte‹. Zum Einfluß klerikaler Hofkritiken u. Herrschaftslehre auf den Wandel höf. Epik in groß- u. kleinepischen Dichtungen des S. Essen 1994. – Sabine Böhm: Der S. Ein Dichterprofil anhand seines Gesamtwerkes. Ffm. 1995. – Karl-Ernst Geith, Elke Ukena-Best u. Hans-Joachim Ziegeler: Der S. In: VL (Lit.). – Michael Egerding: Probleme mit dem Normativen in Texten des S.s. Vorüberle-

344 gungen zu einem neuen Strickerbild. In: ABäG 50 (1998), S. 131–147. – Kleindichtung: Klaus Grubmüller: Meister Esopus. Mchn. 1977. – Stephen L. Wailes: Studien zur Kleindichtung des S.s. Bln./ Bielef./Mchn. 1981. – Hanns Fischer: Studien zur dt. Märendichtung. 2. Aufl. hg. v. Johannes Janota. Tüb. 1983. – H.-J. Ziegeler: Erzählen im SpätMA. Mchn. 1985. – Christa Ortmann u. H. Ragotzky: ›significatio laicalis‹. Zur Autorrolle in den geistl. Bispeln des S.s. In: Die Vermittlung geistl. Inhalte im dt. MA. Hg. Timothy R. Jackson u. a. Tüb. 1996, S. 237–253. – Franz-Josef Holznagel: Autorschaft u. Überlieferung am Beispiel der kleineren Reimpaartexte des S.s. In: Autor u. Autorschaft im MA. Hg. Elisabeth Andersen u. a., Tüb. 1998, S. 163–184. – H.-J. Ziegeler: Maere. In: RLW. – Maryvonne Hagby: ›man hat uns für die warheit ... geseit‹. Die S.sche Kurzerzählung im Kontext mlat. ›narrationes‹ des 12. u. 13. Jh. Münster u. a. 2001. – H. Ragotzky: Die ›Klugheit der Praxis‹ u. ihr Nutzen. Zum Verhältnis erzählter Gesch. u. lehrhafter Fazitbildung in Mären des S.s. In: PBB 123 (2001), S. 49–64. – F.-J. Holznagel: Bîspel. In: Kleine literar. Formen in Einzeldarstellungen. Stgt. 2002, S. 54–70. – Jürgen Schulz-Grobert: Verserzählung. In: ebd., S. 241–258. – Helmut Dworschak: Milch u. Acker. Körperliche u. sexuelle Aspekte der religiösen Erfahrung. Am Beispiel der Bußdidaxe des S.s. Bern 2003. – F.-J. Holznagel: Verserzählung – Rede – Bîspel. Zur Typologie kleinerer Reimpaardichtungen des 13. Jh. In: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachl. Literalität v. 1200–1300. Hg. Christa Bertelsmeier-Kierst u. Christopher Young. Tüb. 2003, S. 291–306. – Rüdiger Schnell: Erzählstrategie, Intertextualität u. ›Erfahrungswissen‹. Zu Sinn u. Sinnlosigkeit spätmittelalterl. Mären. In: Wolframstudien 18 (2004), S. 367–404. – K. Grubmüller: Die Ordnung, der Witz u. das Chaos. Eine Gesch. der europ. Novellistik im MA. Tüb. 2006. – Mittelalterl. Novellistik im Kontext. Kulturwiss. Perspektiven. Hg. Marc Chinca. Bln. 2006. – Die Kleinepik des S.s. Texte, Gattungstraditionen u. Interpretationsprobleme. Hg. Emilio González u. Victor Millet. Bln. 2006 (Lit.). – Pfaffe Âmis: H. Fischer: Zur Gattungsform des ›Pfaffen Amis‹. In: ZfdA 88 (1957/58), S. 291–299. – Werner Röcke: Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des dt. Schwankromans im SpätMA. Mchn. 1987. – Stephen L. Wailes: The Ambivalence of Der S.’s ›Der Pfaffe Amis‹. In: Monatshefte 90 (1998), S. 148–160. – W. Röcke: Schwankroman. In: RLW. – Johannes Melters: ›ein frölich gemüt zu machen in schweren zeiten ...‹. Der Schwankroman in MA u. Früher Neuzeit. Bln. 2004. – Ruth Sassenhausen: Das Ritual als Täuschung. Zu manipulierten Ritualen im ›Pfaffen Amis‹. In: Ztschr. für Literatur-

345 wiss. u. Linguistik 144 (2006), S. 55–79. – Peter Strohschneider: Kippfiguren. Erzählmuster des Schwankromans u. ökonom. Kulturmuster in S.s ›Amis‹. In: Text u. Kontext. Fallstudien u. theoret. Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik. Hg. Jan Dirk Müller. Mchn. 2007, S. 163–190. – Mario Klarer: Spiegelbilder u. Ekphrasen. Spekulative Fiktionspoetik im ›Pfaffen Amis‹ des S.s. In: Das Mittelalter 13 (2008), S. 80–106. – Maria E. Müller: Vom Kipp-Phänomen überrollt. Komik als narratolog. Leerstelle am Beispiel zykl. Erzählens. In: Histor. Narratologie. Hg. Harald Haferland u. Matthias Meyer. Bln. 2010, S. 69–97. – Die Frauenehre: Hans-Herbert Räkel: Die ›Frauenehre‹ v. dem S. In: Österr. Lit. zur Zeit der Babenberger. Hg. Alfred Ebenbauer u. a. Wien 1977, S. 163–176. – E. Ukena-Best: Die Allegorie v. der ›vrouwe‹ als ›boum der tugende‹ in der ›Frauenehre‹ v. dem S. In: Vom vielfachen Schriftsinn im MA. FS Dietrich Schmidtke. Hg. Freimut Löser u. Ralf G. Päsler. Hbg. 2005, S. 543–578. – Silke Andrea Rudorfer: Die Minne bei Ulrich v. Liechtenstein, dem S. u. Hartmann v. Aue. Neuried 2008. – Karl der Große: Udo v. der Burg: S.s Karl der Große als Bearb. des Rolandsliedes. Göpp. 1974. – K.-E. Geith: Carolus Magnus. Studien zur Darstellung Karls des Großen in der dt. Lit. des 12. u. 13. Jh. Bern/Mchn. 1977. – Rüdiger Brandt: ›erniuwet‹. Studien zu Art, Grad u. Aussagefolgen der Rolandsliedbearb. in S.s ›Karl‹. Göpp. 1981. – Dorothea Klein: S.s ›Karl der Große‹ oder Die Rückkehr zur geistl. Verbindlichkeit. In: Wolfram-Studien 15 (1998), S. 299–323. – E. Ukena-Best: ›Du solt ouch hin ze Spanje varn. got wil dich dâ mit êren‹. Providentia Dei, Herrschertum u. poet. Konzeption im ›Karl‹ des S. mit Blick auf das ahd. ›Ludwigslied‹. In: Leuvense Bijdragen 89 (2000), S. 327–362. – Bernd Bastert: Konrads ›Rolandslied‹ u. S.s ›Karl der Große‹. Unterschiede in Konzeption u. Überlieferung. In: Eine Epoche im Umbruch, a.a.O., S. 91–110. – Gerhard Wolf: ›Sante Karle‹, das Wesen der ›list‹ u. die Wirkung der ›natûre‹. Hybride Formen in der ›Rolandslied‹-Bearb. des S.s. In: ›Vir ingenio mirandus‹. FS John L. Flood. Hg. William J. Jones u. a. Bd. 1, Göpp. 2003, S. 91–115. – B. Bastert: ›der Cristenheyt als nücz als kein czelffbott‹. Karl der Große in der dt. erzählenden Lit. des MA. In: Karl der Große in den europ. Lit.en des MA. Konstruktion eines Mythos. Hg. B. Bastert. Tüb. 2004, S. 127–147. – Rachel E. Kellett: Single Combat and Warfare in German Literature of the High Middle Ages. S.s ›Karl der Große‹ u. ›Daniel von dem blühenden Tal‹ Leeds u. a. 2008. – B. Bastert: Chanson de geste-Rezeption im deutschsprachigen Raum. Helden als Heilige. Tüb. 2010. – Daniel von dem Blühenden Tal: Helmut J. R. Birkhan: Motiv- u.

Stricker Handlungsschichten in S.s ›Daniel‹. In: German Narrative Literature of the Twelfth an Thirteenth Centuries. FS Roy Wisbey. Hg. Volker Honemann u. a. Tüb. 1994, S. 363–389. – Regina Pingel: Ritterl. Werte zwischen Tradition u. Transformation. Zur veränderten Konzeption v. Artusheld u. Artushof in S.s ›Daniel von dem blühenden Tal‹. Ffm. 1994. – V. Honemann: Daniel monologisiert, der Riese berichtet, drei Damen erzählen. Aspekte der Figurenrede im ›Daniel von dem Blühenden Tal‹ des S. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in MA u. Früher Neuzeit. Hg. H. Haferland u. Michael Mecklenburg. Mchn. 1997, S. 221–232. – Christoph Huber: ›Ars et prudentia‹. Zum ›list‹-Exkurs im ›Daniel‹ des S. In: Ars et Scientia im MA u. in der Frühen Neuzeit. Hg. Cora Dietl u. a. Tüb./Basel 2002, S. 155–171. – Hans Jürgen Scheuer: Bildintensität. Eine imaginationstheoret. Lektüre des S.schen Artusromans ›Daniel von dem Blühenden Tal‹. In: ZfdPh 124 (2005), S. 23–46. – Markus Wennerhold: Späte mhd. Artusromane. ›Lanzelet‹, ›Wigalois‹, ›Daniel von dem Blühenden Tal‹, ›Diu Crône‹. Würzb. 2005 (Lit.). – Almudena Otero Villena: Zeitauffassung u. Figurenidentität im ›Daniel von dem Blühenden Tal‹ u. ›Gauriel von Muntabel‹. Gött. 2007. – R. G. Päsler: Hartmann beim Wort genommen? Überlegungen für eine neue Lektüre von S.s ›Daniel von dem Blühenden Tal‹. In: ›vorschen‹, ›denken‹, ›wizzen‹. Vom Wert des Genauen in den ›ungenauen Wissenschaften‹. FS Uwe Meves. Hg. Matthias Janssen u. a. Stgt. 2009, S. 111–119. Elke Ukena-Best

Stricker, Stricerius, Johannes, * um 1540 Grube/Ostholstein, † 23.1.1599 Lübeck. – Dramatiker. Nach dem Besuch des Katharineums in Lübeck studierte S. seit 1560 kurze Zeit Theologie in Wittenberg. 1561 wurde er Pastor in Cismar, 1575 in Grube. Die Kritik am unmoralischen Lebenswandel des holsteinischen Adels, zunächst geäußert in Predigten, dann in seinem Hauptwerk De Düdesche Schlömer, machte ihn zum Ziel eines Mordversuchs. Er floh nach Lübeck, wo er Prediger der Burgkirche wurde. Sein Jedermann-Spiel, das er Bischof Eberhard von Holle widmete, setzte die Buß- u. Rechtfertigungslehre Melanchthons so um, dass der Adel die Kritik an Hochmut, Völlerei u. Unterdrückung auf sich beziehen musste. Der Schlömer (Schlemmer) ist ein lebenslustiger Adliger, der nach seinem Tod angeklagt

Strigenitz

u. von Moses zur Verdammnis verurteilt wird. Nach der Reue, die er dem Pfarrer in der Beichte zeigt, erfährt er Gottes Gnade. Ohne jede Konfessionspolemik vermag die Figur des Pfarrers den rechten Glauben darzulegen u. den Schlömer als warnendes Beispiel darzustellen. Von der Narrenfigur stammen Kommentare aus weltl. Sicht. S. hält die Dialoge u. Reden der Personen in großer Nähe zu Bibelstellen, was noch durch viele Marginalien betont wird. S.s Drama, Hauptwerk der mittelniederdt. Literatur, wird bis heute aufgeführt (u. a. Cismar 1951 ff.). Das niederdt. Original seines Geistlich Spiel von dem erbermlichen Fall Adams und Euen (o. O. 1602) ist nicht überliefert. Ausgaben: De Düdesche Schlömer. Lübeck 1584. Frankf./O. 1593. Hochdt.: Der deutsch Schlemmer. Magdeb. 1588. – Niederdt. Ausg. v. Johannes Bolte. Norden/Lpz. 1889 (mit Einl.). – De dütsche Slömer. Hg. Heinrich Schmidt-Barrien. Gött. 1984 (neuniederdt.). – Niederdt. Ausg. mit Komm. u. Einl. In: Dt. Spiele u. Dramen des 15. u. 16. Jh. Hg. Hellmut Thomke. Ffm. 1996, S. 567–822 u. 1089–1136. Literatur: Johannes Bolte: Stricerius. In: ADB 36. – Dieter Glade: Der Dt. Schlemmer. In: Stader Jb. (1975), S. 27–58. – Dieter Lohmeier: J. S. In: BLSHL 5 (1979), S. 255 f. – Thomas W. Best: Everyman and Protestantism in the Netherlands and Germany. In: Daphnis 16 (1987), S. 13–32. – Hans-Uwe Hartert: Pastor J. S., ein Geistlicher in Grube im 16. Jh. Begleitbuch mit Ergänzungen zu der Ausstellung im Gruber Dorf-Museum 2007. Grube 2007. Wolfgang Harms

Strigenitz, Gregor, * 9.2.1548 Meißen, † 16.5.1603 Meißen. – Kirchenleitender luth. Theologe, Prediger. S., der Sohn eines Meißener Tuchmachers u. Ratsmitglieds, empfing einen Tag nach seiner Geburt die Taufe, besuchte die Stadtschule in Meißen u. 1562–1567 als Stipendiat seiner Vaterstadt die dortige Fürstenschule. Ein kurfürstl. Stipendium ermöglichte es ihm, 1567–1572 in Leipzig zu studieren, wo er am 4.3.1572 zum Magister promoviert wurde. Im selben Jahr wurde er Schulrektor in Döbeln u. im Frühjahr 1573 Pfarrer in Wolkenstein/Erzgebirge. 1581–1587 war S. Hofprediger u. Assessor des Konsistoriums in Wei-

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mar, 1587–1589 Superintendent in Jena u. 1590–1593 Superintendent in Orlamünde. Nach der Amtsenthebung des dem sog. Kryptocalvinismus zugehörigen Meißener Superintendenten Balthasar Sartorius (1534–1609) erwirkte Herzog Friedrich Wilhelm I. von Sachsen-Weimar (1562–1602) die Berufung des Gnesiolutheraners S., der am 7.1.1594 von Polykarp Leyser (1552–1610) in die Ämter des Meißener Superintendenten u. Assessors des Konsistoriums eingeführt wurde. S. gehört zu den bedeutendsten luth., außerhalb des akadem. Kontextes wirkenden Theologen der zweiten Hälfte des 16. Jh. Sein gedrucktes Œuvre umfasst eine beträchtl. Menge größerer, z.T. mehrfach wiederaufgelegter Predigtsammlungen zu alt- u. neutestamentl. Textkomplexen – z.B. zur Sintfluterzählung, zum Propheten Jona, zur Weihnachts- sowie zur Passions- u. Ostergeschichte. Hinzu kommen zahlreiche Gelegenheitssermone, insbes. Hochzeits- u. Leichenpredigten. Letztere erschienen postum in der Sammelausgabe Exequiae Christianae (Lpz. 1621). Sowohl hinsichtlich der Geschichte der praktizierten Homiletik als auch bezüglich der sich im Medium ›Kanzelrede‹ manifestierenden Kunst der Bibelauslegung des frühen Luthertums nimmt S., dessen Schriften eine beachtl. Wirkung beschieden war, eine prominente Stellung ein. S.’ Predigtstil zeugt von ausgeprägter geistlichrhetorischer Befähigung, frommer Gelehrsamkeit (pia eruditio), seelsorglich-prakt. Sensibilität, enger Anlehnung an Luthers Predigten, narrativem Geschick sowie einer Vorliebe für Exempelgeschichten u. geistl. Liedgut. Wie sehr es S. einesteils um die tröstl. applicatio der reformatorischen Botschaft der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade in all ihren Facetten bis hin zur tröstl. Verkündigung des Todes als eines durch Jesu Christi Sterben zum Schlaf gewordenen, andererseits aber auch um die konkrete ethische Weisung u. den konsequenten Ruf zur Umkehr zu tun ist, verdeutlicht S.’ mit Abstand verbreitetstes (von der Theologischen Fakultät zu Jena bevorwortetes) Werk mit dem Titel Conscientia: Das

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ist, Einnfeltiger unnd gründtlicher Bericht, vom Gewissen deß Menschen (Jena 1593. Ulm 71654). Seine letzte Predigt hielt S. am 1.1.1603 u. erkrankte daraufhin schwer. Eine entsprechende Bitte seines Freundes S. erfüllend, hielt der Neukirchener Pfarrer Paul Kirchbach d.J. (ca. 1550–1607) am 19.5.1603 die Leichenpredigt über den von S. selbst gewählten Text Phil 1,22–24. Die gedruckte Leichenpredigt teilt biogr. Daten mit, die auf Aufzeichnungen des Verstorbenen zurückgehen. Ausgaben: Internet-Ed. mehrerer Werke in: VD 16. Literatur: Bibliografien: VD 16. – Nachweise bei: Jolanta Gelumbeckaite• : Bibliogr. der selbständig gedruckten Werke G. S.’ In: G. S. (1548–1603). Ein luth. Kirchenmann in der zweiten Hälfte des Reformations-Jh. Eine Gedenkschrift zum 400. Todestag. Hg. Johann Anselm Steiger. Neuendettelsau 2003, 287–381. – Weitere Titel: Paul Kirchbach d.J.: Justa Funebria. Lpz. 1620, S. 1–58 (= Leichenpredigt auf G. S.). – J. A. Steiger (Hg.): G. S. (s.o.). Hierin Faks. der Leichenpredigt sowie folgende Beiträge: J. A. Steiger: Aaronitischer Segen, Katechismuspredigt u. Kirchenordnung. Zu G. S.’ Neujahrs-Predigt (1602) über den aaronit. Segen (Num 6,24–26), S. 11–73; Christian Herrmann: Trost durch die Jungfrauengeburt Christi. Seelsorgliche Weihnachtspredigten des luth. Predigers G. S., S. 75–102; Alexander Bitzel: ›Er schreibe es dem Teufel zu, und nicht mir‹. Erwägungen zu G. S.’ Predigten über das Gewissen, S. 105–127; Matthias Richter: Der Tod als Schlaf – Analogia mortis et somni. Zur Leichenpredigt auf G. S. u. zu zwei Zitaten bei Johann Gerhard, S. 129–169; Claudia Steiger-Hoffleit: G. S. als Liedprediger, S. 173–227; Vanessa Lohse: Verzweiflung u. Verheißung des Predigtamtes. Oder: ›Desperatio facit praedicatorem‹, S. 229–286. Johann Anselm Steiger

Strittmatter, Erwin, * 14.8.1912 Spremberg/Niederlausitz, † 31.1.1994 Dollgow, Kreis Gransee. – Dramatiker, Erzähler. S., als Nachkomme slaw. Sorben in der Niederlausitz aufgewachsen u. von dieser Region geprägt, erlernte das väterl. Bäckerhandwerk, arbeitete als Kellner, Tierwärter, Chauffeur, Hilfsarbeiter u. wurde nach der Bodenreform in der SBZ Kleinbauer. Der überzeugte Anhänger einer sozialistischen Umgestaltung (SED-Mitgl. seit 1947) engagierte sich für die

Strittmatter

Bildung landwirtschaftl. Genossenschaften (als Journalist, Agitator u. Gemeinde-Amtsvorsteher). Später übernahm er wichtige kulturpolit. Funktionen (1959 war er Sekretär des DDR-Schriftstellerverbands, anschließend bis 1983 einer von vier Vizepräsidenten). Unter den wendigen Funktionären der Berliner Metropole, in die es ihn 1951 gezogen hatte, fand er sich indes nie zurecht; er kehrte 1954 auf eine LPG in der nördl. Mark Brandenburg zurück: Seit 1957 lebte S. als Schriftsteller u. Ponyzüchter zusammen mit seiner Frau, der Lyrikerin Eva Strittmatter, auf dem »Schulzenhof« in Dollgow. Dieser »nicht aus dem Proletariat, sondern mit dem Proletariat« aufgestiegene Schriftsteller (Brecht über S.) war einer der beliebtesten u. erfolgreichsten DDR-Autoren. Im Westen wurde er meist ignoriert oder gar als »Blut-und-Boden-Dichter mit marxistischer Verbrämung« (Reich-Ranicki) diffamiert – ein Urteil, das Ratlosigkeit gegenüber einem Autor zum Ausdruck bringt, der Erzähltraditionen des 19. Jh. (Dorfgeschichte) beerbte u. sich zgl. zum Sozialismus bekannte. Widersprüche prägten auch S.s Verhältnis zur eigenen polit. Führung: Obwohl mehrfach ausgezeichnet, hat er ihr nie das Wort geredet u. ist so in den letzten Jahren zwangsläufig schweigsamer geworden. Geblieben ist ein notor. Hang zum Geschichtenerzählen. Schon das Erstlingswerk (Ochsenkutscher. Potsdam 1950), die Lebensgeschichte eines Kutscherjungen in Kaiserreich u. Nationalsozialismus, zeugt von einem immensen sprachschöpferischen Talent. Zwar war auch die – von Brecht überarbeitete u. inszenierte – »Bauernkomödie« Katzgraben (Urauff. Ost-Berlin 1953. Bln./DDR 1953) mit ihren grell-kräftigen Bildern von der Geburt der neuen Gesellschaft auf dem Land ein großer Erfolg; dennoch hat der Autor selbst sie später als »überholt, verjährt, einfach naiv« abgehakt u. sich wieder der Prosa zugewandt. Nach Kinderbüchern (Tinko. Ebd. 1954. Pony Pedro. Ebd. 1959), die ebenfalls im bäuerl. Milieu der Nachkriegszeit spielen, u. anderen Prosaarbeiten erschien 1963 Ole Bienkopp (Bln./Weimar u. Köln 1989), »der Bauernroman der DDR-Literatur überhaupt« (Emmerich): Ole Hansen, gen. Bienkopp,

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einst Waldarbeiter, jetzt Neubauer, setzt gegen alle Widerstände die Gründung einer LPG durch, scheitert aber an der Trägheit der Parteibürokratie u. an der eigenen Ungeduld; in der Nacht, bevor ein lange angeforderter Bagger eintrifft, stirbt er an Erschöpfung – beim Versuch, für die Genossenschaft dringend benötigten fruchtbaren Boden von Hand freizulegen. Wegen des vorgeblich pessimistischen Schlusses wurde das Buch in der DDR heftig kritisiert. Mehr als zwei Jahrzehnte arbeitete S. an einer Trilogie über das Leben des Journalisten u. Tagelöhners Stanislaus Büdner, die zgl. prägende histor. Prozesse des 20. Jh. thematisiert (Der Wundertäter. Bd. 1, Bln./DDR 1957. Bd. 2, Bln./Weimar 1973. Bd. 3 u. d. T. Büdner und der Meisterfaun. Ebd. 1980. Köln 1990). Literarisch von unterschiedl. Qualität, hat auch dieses Werk kulturpolit. Wirbel ausgelöst. 1961 stoppte der S. Fischer Verlag wegen des Mauerbaus die Auslieferung der Lizenzausgabe von Band 1. Der dritte Band erschien in der DDR mit mehrjähriger Verzögerung u. wurde von manipulierten Rezensionen u. Vertriebsbehinderungen begleitet, weil S. darin das offizielle Selbstbild der NachkriegsDDR korrigiert u. auch den Stalinismus beim Namen genannt hatte. Die vordergründig bloß Naturidylle evozierende Kleinprosa, der S. sich nach dem Streit um Ole Bienkopp verstärkt zugewandt hatte (Schulzenhofer Kramkalender. Bln./Weimar 1966, Gütersloh 1969. 3/4 Hundert Kleingeschichten. Bln./Weimar 1971), darf weniger als Rückzug gedeutet werden denn als Verfeinerung jenes Hangs zum detailbesessenen Beobachten u. Geschichtenerzählen, den er im bislang letzten Werk zur Meisterschaft kultivierte: Alltagsgeschichten, beiläufige Beobachtungen, Erinnerungen, Abschweifungen u. scheinbar zufällige Episoden gruppieren sich im stark autobiogr. Roman Der Laden (2 Bde., Bln./ Weimar 1983 u. 1987. In einem Band: Köln 1989. Tb.-Ausg. 3 Bde., Bln. 1998. Verfilmt 1998. Regie: Jo Baier) zum lebendigen Mosaik einer kleinbürgerlich-agrar. Welt, der S. zeitlebens verbunden blieb. Dialektgeprägtes, gewissermaßen mündl. Erzählen verbindet sich mit poetisch verdichteter Sprache zu einem unverwechselbaren Stil.

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So enthusiastisch S. sich einst für eine neue Gesellschaft engagiert hatte, so nüchtern konstatierte er schließlich, durch »das Leben unter zwei Diktaturen« sei »vielen Menschen unseres Landes die Zivilcourage abhanden« gekommen (Die Lage in den Lüften. Aus Tagebüchern. Bln./Weimar 1990). Resigniert hat er trotzdem nicht; eine Fortsetzung seiner mit Der Laden begonnenen Autobiografie erschien u. d. T. Letzte Meldungen (Weimar 1993). Anderthalb Jahrzehnte nach seinem Tod brachte ein Zeitungsartikel des Literaturwissenschaftlers Werner Liersch über S.s Dienst bei der nationalsozialistischen »Ordnungspolizei« in Böhmen den Autor noch einmal ins öffentl. Gespräch. Liersch warf ihm nicht etwa die Beteiligung an Verbrechen vor, sondern das Schweigen über seinen Dienst bei der Ordnungspolizei (u. möglicherweise dort erlangte Informationen über Kriegsverbrechen). Angesichts eher spekulativer Fakten schien diese Debatte ein Problem (postumer) Rivalität unter DDR-Intellektuellen. An der Bedeutung von S.s literar. Werk ändert sie so wenig wie seine – von der Witwe Eva S. im Gespräch mit Irmtraud Gutschke berichtete – Fundamentalkritik am letzten sowjetischen KP-Chef Gorbatschow u. seiner Politik der Perestroika. Weitere Werke: Eine Mauer fällt. Bln./DDR 1953 (E.). – Die Holländerbraut. Urauff. Ost-Bln. 1960. Bln./DDR 1961 (D.). – Ein Dienstag im Sept. 16 Romane im Stenogramm. Bln./Weimar 1971. – Die blaue Nachtigall oder Der Anfang v. etwas. Ebd. 1972. – Selbstermunterungen. Ebd. 1981. – Wahre Gesch.n aller Ard(t): aus Tagebüchern. Ebd. 1982. – Grüner Juni. Eine Nachtigall-Gesch. Ebd. 1985. Literatur: Klaus Jarmatz: Werte der Wirklichkeit u. Poesie. Zu S.s poet. Konzept. In: WB (1982), H. 8, S. 5–16. – E. S.: Leben u. Werk. Analysen, Erörterungen, Gespräche. Bearb. u. erw. Bln./DDR 1984 (mit Bibliogr.). – Lew Kopelew: Ein Wundertäter sattelfest. In: Ders.: Der Wind weht, wo er will. Hbg. 1988. – Günther Drommer: E. S. In: LGL. – Irmtraud Gutschke: Eva Strittmatter. Leib u. Leben. Bln. 2008. – Werner Liersch: E. S.s unbekannter Krieg. In: Frankfurter Allg. Sonntagszeitung, Nr. 23, 8. 6. 2008, S. 28. – Frauke MeyerGosau: E. S. In: KLG. Hannes Krauss

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Strittmatter, Eva, geb. Braun, * 8.2.1930 Neuruppin, † 3.1.2011 Berlin. – Lyrikerin, Kinderbuchautorin. Nach dem Studium der Germanistik, Romanistik u. Pädagogik arbeitete S. beim Deutschen Schriftstellerverband (DDR) u. als Literaturkritikerin bei dessen Publikationsorgan, der Zeitschrift »Neue Deutsche Literatur«. Ende der 1950er Jahre veröffentlichte sie Kinderbücher u. begann Gedichte zu schreiben. Ihr erster Gedichtband, Ich mach ein Lied aus Stille, erschien in der DDR 1973 (Bln./ Weimar. Nachw. Hermann Kant. 71987. Tb.Ausg. Bln. 2002). Nicht nur Kollegen u. Kritiker reagierten wohlwollend auf S.s unprätentiöse Dichtung. Der Erfolg beim Publikum machte die mit Erwin Strittmatter verheiratete S. in der DDR zu einer der bekanntesten u. auflagenstärksten Lyrikerinnen. S.s Gedichte sind fast immer gereimt u. in liedhaften Rhythmen gehalten. Formale Konventionalität u. sprachl. Schlichtheit formuliert sie als poetisches Programm: »Ich will so deutlich schreiben, / Daß die Leute an meinem Ort / Meine Gedichte lesen.« Allerdings gerät sie in ihrem Bemühen um Einfachheit gelegentlich an die Grenze zur Naivität. Anknüpfend an die traditionelle Naturlyrik des 19. Jh. stellt S. das intensive Erleben von Natur u. Landschaft als individuelle Gegenwelt zur eiligen »Weltstadt« dar. Ihre Texte halten Erinnerungsbilder fest u. sprechen von Freundschaft u. Liebe. Besonders in den 1980er Jahren machte S. die Reflexion über das eigene Schreiben oft zum Thema ihrer Gedichte. Diese Linie setzt sie in den folgenden Lyrikbänden fort, wenngleich in Der Schöne (Obsession) (Bln. 1997. Tb.-Ausg. 2001) die Auseinandersetzung mit dem eigenen Innenleben u. ihrem Selbstverständnis als (schreibende) Frau motivisch dominiert. Auch die weiteren, nach dem Tod Erwin Strittmatters 1994 veröffentlichten Gedichte zeugen mit neuer Radikalität vom Lieben u. der selbstreflexiven Bestandsaufnahme. Liebe und Haß. Die geheimen Gedichte (Bln. 2000. Tb.Ausg. 2002) versammelt bisher unveröffentlichte Gedichte aus dem Entstehungszeitraum 1970–1990, die von Begegnungen mit Menschen u. Orten erzählen. Der Winter nach

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der schlimmen Liebe. Gedichte 1996/97 (Bln. 2005. Tb.-Ausg. 2006) knüpft thematisch an den Schönen an u. verarbeitet in noch gesteigerter Form Motive des Alterns u. Verlusts der Anziehungskraft sowie der Sehnsucht. In Wildbirnenbaum (Bln. 2009. Tb.-Ausg. 2011) verdichten sich die genannten Motive u. kulminieren in einer Parallelisierung von Lieben u. Dichten. Das Nachdenken über Literatur u. die Entstehung des eigenen Werks steht auch in S.s Brief- u. Essaybänden im Vordergrund. An Freunde, Kollegen u. Leser gerichtet sind die Briefe aus Schulzenhof (Bln./Weimar 1977. Bln. 7 1991. Bd. 2, Bln./Weimar 1990. Bd. 3, Bln. 1995. Tb.-Ausg. Bd. 1–3. Bln. 1996). Literarische Essays seit 1968, die sich ebenfalls zu einem subjektiven Blick bekennen, versammelt der Band Poesie und andre Nebendinge (Bln./Weimar 1984. 41989. Tb.-Ausg. Bln. 2005), in dem sie auch dem Wesen der Kunst nachspürt. Mai in Piesˇ t’any (Bln./Weimar 1986. 31990. Tb.-Ausg. Bln. 1998) bündelt in Prosa Betrachtungen über den Mikrokosmos der Eheleute S. während des jährl. Kuraufenthalts in der Slowakei sowie Rückblicke u. Reflexionen über die Zwänge des alltägl. Lebens u. das Leben als Schriftstellerin. Zeitkritische Reflexionen nehmen in S.s Werk eine untergeordnete Stellung ein, wenngleich sie v. a. in ihrer Prosa die Umstände der literar. Produktion in der DDR stellenweise thematisiert. Weitere Werke: Mondschnee liegt auf den Wiesen. Bln./Weimar 1975. 71988. Tb.-Ausg. Bln. 2001. – Die eine Rose überwältigt alles. Bln./Weimar 1977. 71990. Tb.-Ausg. Bln. 1997. – Zwiegespräch. Bln/Weimar 1980. 51990. Tb.-Ausg. Bln. 1999. – Heliotrop. Bln./Weimar 1983. 31985. Tb.Ausg. Bln. 21999. – Beweis des Glücks. Gedichte. Eine Ausw. Lpz. 1983. 31988. – Atem. Bln./Weimar 1988. 21989. Tb.-Ausg. Bln. 2004. – Die heiml. Freiheit der Einsamkeit. Gedichte. Ausw. 1973–1988. Ffm. 1989. – Unterm wechselnden Licht. Ausgewählte Gedichte. Mit Aquarellen v. Marianne Gábor. Bln./Weimar 1990. Bln. 22006. – Einst hab ich drei Weiden besungen. Gedichte. Bln. 1991. – Allein. Ein Gespräch mit Klaus Trende. Fotos v. Marlene Trende. Cottbus 1996. – Du liebes Grün. Ein Garten- u. Jahreszeitenbuch (zus. mit Erwin Strittmatter). Mit Fotos v. Lennart Fischer u. Rainer J. Fischer. Bln. 2000. Tb.-Ausg. 2008. –

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Hundert Gedichte. Hg. K. Trende. Bln. 2001. – Morgens, abends. Gedichte. Mchn./Lpz. 2001. – Gedichte u. Selbstauskünfte (Tonträger). Gelesen v. E.S. Mit einem Feature v. Bernd Koß. Bln. 2002. – Landschaft. Gedichte. Hg. u. mit einem Ess. v. K. Trende. Bilder v. Gerhart Lampa. Cottbus 2005. – Landschaft aus Wasser, Wacholder u. Stein. Ein Jahreszeitenbuch (zus. mit E. Strittmatter). Hg. Almut Giesecke. Mit Fotos v. Anke Fesel. Bln. 2005. – Sämtl. Gedichte. Bln. 2006. – Für meine Schulzenhof-Freunde. Hg. Heinz Hellmis. Bln. 2008. – Irmtraud Gutschke u. E. S.: E. S. Leib u. Leben. Bln. 2008. Tb.-Ausg. 2010. – Seele seltsames Gewächs. E. S. mit bekannten u. unbekannten Gedichten. Mit 7 farbigen Bildern v. Linde Kauert. Bln. 2008. – In einer anderen Dämmerung. Gedichte u. Selbstauskünfte (Tonträger). Ausw. u. Regie Matthias Thalheim. Feature v. B. Koß. Bln. 2009. – Rengha Rodewill u. E. S.: Zwischenspiel. Lyrik, Fotografie. Lpz. 2010. – Auf einmal war es schon das Leben. Gedichte, Ess.s. Ausw. v. A. Giesecke. Mit einem Nachw. v. Kerstin Decker. Bln. 2011. – Herausgaben: Erwin Strittmatter: Vor der Verwandlung. Aufzeichnungen. Bln. 1995. 32009. – Erwin Strittmatter. Eine Biogr. in Bildern (zus. mit Günther Drommer). Bln. 2002. – Erwin Strittmatter: Gesch.n ohne Heimat. Bln. 2002. Tb.-Ausg. 2004. – Ders.: Kalender ohne Anfang u. Ende. Notizen aus Piesˇt‘any. Bln. 2003. Tb.-Ausg. 2005. – Kinderbücher: Brüderchen Vierbein. Ein Märchen. Illustrationen v. Hildegard Haller. Bln. 1959. 81982. Neuausg. mit Illustrationen v. Ingeborg Meyer-Rey. Weinheim/ Basel 2004. – Vom Kater, der ein Mensch sein sollte. Mit Bildern v. Hans Baltzer. Bln. 1960. – Großmütterchen Gutefrau u. ihre Tiere (zus. mit Paul Schultz-Liebisch). Bln. 1974. 51985. – Ich Schwing mich auf die Schaukel. Illustrationen v. Albrecht v. Bodecker. Bln. 1974. 61984. – Der Igel (zus. mit P. Schultz-Liebisch). Bln. 1978. 41985. – Der Zwergenriese. 7 Erzählungen. Illustrationen v. Barbara Schumann. Bln. 1987. 21989. Literatur: Irmela Schneider: E. S. In: KLG. Uta Angerer / Tina Winzen

Strittmatter, Thomas, * 18.12.1961 St. Georgen/Schwarzwald, † 29.8.1995 Berlin. – Dramatiker, Erzähler, Hörspiel- u. Drehbuchautor; Bildender Künstler. S., Sohn eines Maschinenschlossers, wuchs in St. Georgen im südlichen Schwarzwald auf, studierte nach dem Abitur 1981 Malerei u. Grafik an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe u. lebte ab 1986 als Autor in München. 1993 zog er nach

Berlin, wo er 1995 an Herzversagen starb. Bekannt geworden mit seinem Theaterdebüt Viehjud Levi (Urauff. Stuttgart 1982), galt S. rasch als hoffnungsvoller, vielseitig begabter Autor. Insgesamt erhielt er 16 Preise u. Stipendien, darunter zweimal (1981 u. 1983) den Landespreis für Volkstheaterstücke Baden-Württemberg. Viehjud Levi spielt im Schwarzwald vor dem Zweiten Weltkrieg. Der umherziehende jüd. Viehhändler Levi lebt in enger wirtschaftl. Symbiose mit dem Bauer Horger; der aufkeimende Antisemitismus kommt in Gestalt von NS-affizierten Bahnarbeitern in die Gegend, die gewachsenes Mit-, zumindest Nebeneinander zerstören. In seiner Prägnanz, seiner verknappten Handlung u. sparsamen Sprache, die mehr andeutet denn erklärt, berührt das »Volkstheaterstück« (S.) ebenso wie durch die dichte Atmosphäre u. Figurenzeichnung. Seine Schwarzwälder Milieuskizze zeige »den alltäglichen Faschismus einfach als Faktum in einem präzis porträtierten Milieu« (W. Schulze-Reimpell, FAZ). Auf den herausragenden Erstling folgte – nicht minder gefeiert, erneut im Schwarzwald verortet u. als »Volkstheaterstück« verstanden – Polenweiher (Urauff. Konstanz 1984), das, allerdings mit literarhistor. Einsprengseln versehen, wiederum vom Verschweigen u. Verdrängen in der NS-Zeit u. in den ersten Nachkriegsjahren handelt. Mit seinen nachfolgenden, an die unmittelbare Gegenwart heranrückenden Stücken (u. a. Untertier. Urauff. Graz 1991. Irrlichter – Schrittmacher. Urauff. München 1992) konnte S. nicht mehr an die ersten Bühnenerfolge anknüpfen, ebenso wenig mit dem »Märchenstück für Erwachsene«, Die Liebe zu den drei Orangen (Urauff. Veendam, Groningen 1987. Dt. Erstauff. München 1988). Äußerst positiv aufgenommen wurde hingegen sein Romandebüt Raabe Baikal (Zürich 1990), ein Anti-Entwicklungsroman, angesiedelt in einer ländlich-archaischen Welt (u. doch im Deutschland der 1980er Jahre spielend), in dem »die Ausgrenzung des Todes aus unserem Leben« (S.) wie auch das Außenseiterdasein an sich bestimmende Themen sind. Im Mittelpunkt stehen der Zögling Raab u. seine Internatsmitschüler. Ihre Le-

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Weitere Werke: Der Fürst vom Teufelstein benswege kreuzen sich mit denen anderer randständiger Gestalten u. enden mit dem [nach Heinrich Hansjakob]. SWF 1983 (Hörsp.). – 3 Aufbruch in ein keineswegs als »heil« ver- Bildgesch.n u. 2 andere. Stgt. 1984. – Hamburger Flasche oder Warum verläßt Artaud gelangweilt standenes sibir. Utopia. den Panzerkreuzer Potemkin? SWF 1986 (Hörsp.). Die Verfilmung dieses fantasievoll-skurri- – Der Kaiserwalzer. Urauff. Bielef. 1986 (D.). Als len, kaleidoskopartig in viele Kleinstkapitel Hörsp., SWF 1992. – Gesualdo. Als Ms. gedr. Bad aufgespaltenen Romans war von S. fest ins Homburg 1986. Urauff. Dortmund 1998 (D.). – Auge gefasst; häufig griff er einmal gefun- Viehjud Levi u. a. Stücke. Zürich 1992. – Bohai, dene Themen in unterschiedl. Medien u. Be- Bohau. Arte/SWF 1995 (Drehb., TV-Film). arbeitungen wieder auf: Von Viehjud Levi Literatur: Jens Dirksen: T. S. In: KLG. – Gunna existieren neben der alemann. Urfassung eine Wendt: Der Tod ist eine Maschine aus Eis. Annähochdt. Fassung (1983, ed. 1985) sowie eine herung an T. S. Mchn. 1997. – Volker Michel: ›Ich Hörspielversion (SWF 1982). Auch Didi Dan- komme auch vom Lande und bin ganz froh darum‹. T. S. u. St. Georgen im Schwarzwald. Marbach/ quarts gleichnamiger Kinofilm (1999) baNeckar 2001. – Petra Ernst. T. S. In: LGL. – Helmut sierte ursprünglich auf einem noch von S. Böttiger: Der Schwarzwald ist überall. T. S. In: selbst entwickelten Drehbuchentwurf. Polen- Ders.: Nach den Utopien. Eine Gesch. der weiher (1984) ist vom Autor selbst für Radio deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Wien (1985) u. Fernsehen (1986, jeweils für den 2004, S. 78–84. Volker Michel SWF) bearbeitet worden. Besondere Erfolge als Drehbuchautor feierte S. zusammen mit dem Filmregisseur Jan Schütte (Drachenfutter. Strobl, Andreas, getauft 30.8.1641 Titt1987. Winckelmanns Reisen. 1990. Auf Wieder- moning/Salzach, † 15.10.1706 Buchbach sehen Amerika. 1993). Die jeweiligen Protago- bei Mühldorf/Inn. – Katholischer Predinisten: zwei Immigranten aus China u. Pa- ger. kistan auf der Suche nach Asyl in Hamburg, Der Sohn des Weißgerbers Georg Strobl erein norddt. Handlungsreisender auf der Suhielt traditionsgemäß den Vornamen seines che nach dem Lebensglück, schließlich in Taufpaten Andreas Pernhartinger. Unter dem Amerika eingewanderte osteurop. Juden auf 27.10.1660 ist er als »Logicus« in den Matrider Suche nach dem alten Europa. Was ihren keln der Salzburger Benediktineruniversität Erfolg bei Publikum u. Kritik gleichermaßen verzeichnet. Seine priesterl. Laufbahn begann ausmachte, war – neben der lakonisch-witzi- er 1666 als Kooperator in Waging; 1673 trat gen Erzählweise – die unaufdringl. Sympa- er in das Salzburger Kollegiatsstift Laufen thie, die Schütte u. S. für ihre Figuren, die ein, wirkte laut Einträgen in dortigen Rechsich auf ihre ganz eigene Weise Heimat ver- nungsbüchern als Seelsorger in Stadt u. Umsichern wollen, an den Tag legten. gebung u. wurde nach einem VisitationsproZuletzt arbeitete S. an einem Zyklus von tokoll als »fromm, gelehrt und exemplasieben Monologen, in denen er »sprachlich- risch« bezeichnet. 1695 übernahm er die evolutionäre Vorgänge poetisch darstellen« Pfarre in Buchbach. wollte. Postum erschienen 1996 zwei davon Für einen Landgeistlichen, der kaum über unter dem Sammeltitel Milchmusik (Ffm.). seine engere Heimat hinausgekommen ist, Beklemmend wirkt im zweiten Text Kolk, wie war S. ein erstaunlich emsiger Autor. Nach das nach manchen tierischen Metamorphosen Erbauungsschriften wie dem Horologium sciawieder Mensch gewordenen Erzähler-Ich sein tericum mysticum, das ist: Geistliche Sonnen-Uhr vermeintlich unmittelbar bevorstehendes (Salzb. 1688. Nürnb./Sulzbach 1696) u. Das Ende halluziniert. Hier tritt S.s Begabung geistliche teutsche Karten-Spil (Sulzbach 1691. zum ruhigen, präzisen Beobachten zutage, zu 21693. Salzb. 1696. Der anderte Theil, oder Zulesen auch als ein leises Plädoyer für eine satz deß geistlichen Karten-Spills [...]. Salzb. Resensibilisierung: Angesichts permanenter 1696. Nürnb. 1708) brachte er u. d. T. Ovum Reizüberflutung sollen alle Sinne wieder zu paschale novum oder neugefärbte Oster-Ayr (Salzb. ihrem Recht kommen. 1694. 21700) Osterpredigten zum Druck (2

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Bde. folgten ebd.: Noch ein Körbel voll Oster-Ayr gelächter. Brauchtüml. Kanzelrhetorik u. ihre kul[...], 1698 u. 1708). Eine Sammlung von turkrit. Würdigung seit dem ausgehenden MA. Kirchweihpredigten erschien als Geistliche Ffm. 1980. – Bayer. Bibliothek. Hg. Hans PörnbaKurzweil, bey so betrübt- und schweren Zeiten cher. Bd. 2, Mchn. 1986, S. 605–613, 1295 f., 1339. – Philip V. Brady: Barockpredigt: A. S. In: Hdb. der (Landshut 1694. Nürnb. 1695. 1702); jeweils Lit. in Bayern. Hg. Albrecht Weber. Regensb. 1987, als Dominicale u. Festivale angelegt sind S. 197–205. – Maria Zoglauer: A. S., ein Meister der Geistliches Fisch-Netz, in dem Wort Gottes ausge- Barockpredigt. In: 1200 Jahre Buchbach. Red. dies. worffen (Sulzbach/Nürnb. 1695. 21697. Buchbach 1988, S. 29–36. – Urs Herzog: Geistl. Nürnb. 1701), Geistlicher Artzney-Schatz Wohlredenheit. Die kath. Barockpredigt. Mchn. (Nürnb. 1701–09), Aussgemachter Schlüssel zu 1991, Register. – E. Moser-Rath: Kleine Schr.en zur dem geistlichen Karten-Spihl (Augsb. 1708) u. ein populären Lit. des Barock. Hg. Ulrich Marzolph Himmlisches Predig-Buch oder Lust-Hauß (ebd. u. a. Gött. 1994, passim. – P. Brady: A. S.s hundert Ostereier. Zur Charakteristik einer eigenartigen 1709). Predigtsammlung. In: Religion u. Religiosität im S. verfügte offensichtlich über eine reich- Zeitalter des Barock. Hg. Dieter Breuer. 2 Tle., haltige Handbibliothek u. zitierte mit Vor- Wiesb. 1995, Tl. 1, S. 277–284. liebe Autoren aus dem Jesuitenorden wie BiElfriede Moser-Rath † / Red. dermann, Drexel, Georg Stengel, Benignus Kybler u. andere. Von Stengel übernahm er die Titel zum Ovum paschale novum u. zum Strobl, Karl Hans, * 18.1.1877 Iglau/MähGeistlichen Fisch-Netz. Abraham a Sancta Clara, ren, † 10.3.1946 Perchtoldsdorf bei Wien. dessen Judas der Ertz-Schelm er mehrfach be- – Lyriker, Erzähler. nützte, scheint er sich geistig verwandt gefühlt zu haben, doch auch im Aesop, im Der Kaufmannssohn trat als Mittelschüler der Schildbürgerbuch u. in zeitgenössischer deutschnationalen Verbindung »Teutonia« Schwankliteratur hat er offensichtlich mit bei u. beteiligte sich als Jurastudent an den Vergnügen gelesen u. daraus seinen beachtl. Ausschreitungen bei den Badeni-Unruhen in Prag. Nach der Promotion 1900 erhielt S. die Vorrat an Fabeln u. heiterem Erzählgut beStelle eines Schriftführers am Iglauer Kreiszogen. Dem im Barock wiederbelebten mitgericht u. ließ sich bald nach Brünn versettelalterl. Brauch, die Zuhörerschaft am zen, wo er dem »Wagnerverein« beitrat. Sein Ostermontag mit einem fröhl. Ostermärlein krasser Deutschnationalismus, den er auch zum »risus paschalis« zu ermuntern, ist S. als Theaterkritiker an den Tag legte, brachte regelmäßig nachgekommen, ohne dabei die ihn in Konflikte mit tschech. Vorgesetzten, sittlich-religiöse Belehrung zu versäumen. Er sodass er 1913 aus dem Staatsdienst auskann als »Erzähler auf der Kanzel« schlechtschied, nachdem ihm der Staackmann Verlag hin gelten. Nicht umsonst haben die Brüder die Leitung der Zeitschrift »Der Turmhahn« Grimm bei ihm Anleihen für ihre Kinder- und angeboten hatte. Seine Zeit als FrontberichtHausmärchen gemacht. Nicht weniger farbig erstatter schilderte er in Ein gute Wehr und sind S.s Schilderungen des Brauchtums u. Waffen (Lpz. 1915) u. K. P. Qu. Geschichten und seine realistisch wiedergegebenen Alltagser- Bilder aus dem Österreichischen Kriegspressequarfahrungen eines Landgeistlichen. tier (Reichenberg 1928). Als Hausbesitzer in Literatur: Bibliografien: Kat. gedr. deutschspra- Perchtoldsdorf blieb er nach 1918 in Österchiger kath. Predigtslg.en. Hg. Werner Welzig. reich, für dessen »Anschluss« er literarisch u. Bd. 1, Wien 1984, S. 254 f.; Bd. 2., ebd., S. 783 f. – politisch agitierte. Er stilisierte sich im StänVD 17. – Weitere Titel: Robert Böck: Pfarrer A. S. v. destaat zum verfolgten Illegalen. Von Hitler Buchbach. In: Bayer. Jb. für Volkskunde (1953), 1937 mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet, S. 149–158. – Ders.: Das Geistl. Kartenspiel des A. S. In: ebd. 1955, S. 201–210. – Elfriede Moser- wurde er Ende 1938 zum Landesleiter der Rath: Predigtmärlein der Barockzeit. Bln. 1964, Reichsschrifttumskammer Wien ernannt. S.s Beschäftigung mit der literar. Moderne S. 213–275, 461–470. – Valentin Hertle: A. S. als Modellfall der bayer. Barockpredigt. Diss. Mchn. blieb für seine eigene Produktion folgenlos. 1965. – Volker Wendland: Ostermärchen u. Oster- Abgesehen von den sog. »heiteren« u. fan-

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tastischen Romanen (Gespenster im Sumpf. Lpz. Reichsschrifttumskammer. In: Lit. unter dem Ha1920) bestimmten meist die auf die Monar- kenkreuz. Hg. Peter Becher u. Ingeborg Fiala-Fürst. chie zurückgehenden Nationalitätenkonflik- Prag 2005, S. 224–253. – Vera Schneider: Wachte seine von rassistischen Ideologemen posten u. Grenzgänger. Deutschsprachige Autoren in Prag u. die öffentl. Herstellung nationaler durchsetzten Texte, die auf der dt. SuperioIdentität. Würzb. 2009. – K. Gradwohl-Schlacher: rität beharrten u. die parlamentar. Demo- K. H. S. In: ÖBL. Johann Sonnleitner / Red. kratie denunzierten. Das Genre des histor. Romans (z. B. Bismarck. 3 Bde., ebd. 1915–19. Paderb. 2005) schien ein probates Medium Strodtmann, Adolph (Adolf) Heinrich, für die Legitimation der dt.-völk. Herr* 24.3.1829 Flensburg, † 17.3.1879 Steschaftsansprüche. glitz (heute zu Berlin). – Lyriker, Biograf, Weitere Werke: Die Weltanschauung der Moderne. Lpz. 1902. – Arno Holz u. die jüngstdt. Bewegung. Bln. 1902. – Die Vaclavbude. Eine Prager Studentengesch. Lpz. 1902. – Der Fenriswolf. Ebd. 1903 (R.). – Alfred Mombert. Von Gott u. vom Dichten. Minden 1906. – Die Nibelungen an der Donau. Bln. 1907 (Festsp.). – Der Schipkapaß. Lpz. 1908 (R.). – Eleagabal Kuperus. Mchn. [1910]. Lpz. 2006. – Das Frauenhaus v. Brescia. Ebd. 1911 (R.). – Die knöcherne Hand u. Anderes. Mchn. 1911. – Das Wirtshaus ›Zum König Przemysl‹. Lpz. 1913 (E.). – Die vier Ehen des Mathias Merenus. Ebd. 1914 (R.). – Lemuria. Seltsame Gesch.n. Mchn. 1917. Graz 2008. – Rest weg! 2 Bde., Wien 1919/20 (N.n). – Madame Blaubart. Bln. [1920] (R.). – Der dunkle Strom. Lpz. 1922 (R.). – Groteske Histörchen. Mchn. 1923. – Verlorene Heimat. Jugenderinnerungen aus dt. Ostland. Stgt. 1924. – Der Goldberg. Lpz. 1926 (R.). – Heerkönig Ariovist. Bln. 1927 (R.). – Die Fackel des Hus. Lpz. 1929 (R.). – Das Grab des weißen Königs. Ebd. 1930 (R.). – Od. Die Entdeckung des mag. Menschen. Ebd. 1930 (R.). – Prag. Gesch. u. Leben einer Stadt. Prag 1931. – Goya u. das Löwengesicht. Lpz. 1932 (R.). – Kaiser Rotbart. Ebd. 1935 (R.). – Dorf im Kaukasus. Ebd. 1936 (R.). – Die Runen u. das Marterholz. Dresden 1936 (R.). – Heimkehr. Bln. 1941 (R.). – Glas u. Glück. Ebd. 1942 (R.). – Erinnerungen. Lpz. 1942–44. Literatur: Ferdinand Schmatz: K. H. S.s Bismarcktrilogie. Zur völk.-nationalen u. nationalsozialist. Lit. in Österr. Diss. Wien 1982 (mit Bibliogr.). – Günter Wackwitz: K. H. S. (1877–1946). Sein Leben u. sein phantastisch orientiertes Frühwerk. Diss. 2 Bde., Halle 1981. – Hermann T. Hierl: Die Konstruktion der Identität in der deutschsprachigen phantast. Lit. des Fin de Siècle. Diss. Wien 2002. – Marta Maschke: Der dt.-tschech. Nationalitätenkonflikt in Böhmen u. Mähren im Spiegel der Romane v. K. H. S. Als Ms. gedr. Bln. 2003. – Susanne Fritz: Die Entstehung des ›Prager Textes‹. Prager deutschsprachige Lit. v. 1895 bis 1934. Dresden 2005. – Karin Gradwohl-Schlacher: Der Schriftsteller als Funktionär. K. H. S. u. die

Kritiker, Übersetzer, Herausgeber. Der Sohn des auch als Lyriker bekannten Pädagogen Sigismund Strodtmann (1797–1888) studierte in Kiel. Nach Beteiligung 1848 am antidän. Aufstand u. Gefangenschaft (Lieder eines Kriegsgefangenen auf der Dronning Maria. Hbg. 1848) lebte er seit Okt. 1848 in Bonn als Schüler Gottfried Kinkels, von dessen polit. Ideen er maßgeblich beeinflusst wurde. S. wurde Mitgl. in dem von Kinkel gegründeten »Demokratischen Verein« u. schrieb zahlreiche Beiträge für die ebenfalls von Kinkel bzw. später von dessen Frau Johanna herausgegebene »Bonner Zeitung« bzw. »Neue Bonner Zeitung«. Nach der Teilnahme an den Revolutionen in der Pfalz u. in Baden wurde Kinkel im Juni 1849 inhaftiert. Das Kinkels Haftbedingungen anklagende Lied vom Spulen (aufgenommen in die radikal-demokratischen Lieder der Nacht. Bonn 1850) führte 1849 zu S.s Relegation. Seine Biografie Kinkels (Gottfried Kinkel. Wahrheit ohne Dichtung. Biographisches Skizzenbuch. 2 Bde., Hbg. 1850/51) enthält neben der Lebensschilderung auch zahlreiche Gedichte u. wichtige Reden des Bonner Revolutionärs. Im Dez. 1850 traf S. den mittlerweile aus dem Zuchthaus geflohenen Kinkel in Paris u. ging anschließend mit diesem ins Exil nach London, von wo er 1852 nach Philadelphia/ USA aufbrach. Neben journalistischen Arbeiten publizierte S. dort auch eine »nach dem Englischen frei bearbeitete« Übersetzung von Harriet Beecher-Stowes Onkel Tom’s Hütte oder Leben unter Verstoßenen (Philadelphia 1853). 1856 kehrte er nach Hamburg zurück, wo er 1863/64 »Orion. Monatsschrift für Kunst und Litteratur« herausgab; seit 1871 lebte er in Steglitz.

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Zwar schrieb S. auch weiterhin, jetzt im chen u. Literaturen. Der Fall A. S. (1829–1879). Bln. Ton gemäßigte, stärker nach innen gekehrte 1994. – Helga Essmann: Übersetzungsanthologien Lyrik (Gedichte. Lpz. 1857; 2., stark verm. als Anthologien v. Übersetzungen? A. S.s ÜbertraAufl. 1870; 3., neu verm. Ausg. 1878 als Ge- gungen aus dem Amerikanischen in Anthologien des 19. u. frühen 20. Jh. In: Weltlit. in dt. Versansammt-Ausgabe bei Reclam), doch der Schwerthologien des 19. Jh. Hg. Helga Essmann u. Udo punkt seiner Arbeit verlagerte sich auf Über- Schöning. Bln. 1996, S. 497–507. – Goedeke Forts. setzungen aus dem Französischen (MontesArno Matschiner / Bernhard Walcher quieu) u. Englischen (Byron, Shelley, Tennyson, George Eliot). Seine politisch-radikale Stromer, Stromeir, Ulman, * 6.1.1329 Vergangenheit spiegelt sich freilich in seinem Nürnberg, † 3.4.1407 Nürnberg. – ChroInteresse für die frz. Proletarierdichtung wi- nist. der (Die Arbeiterdichtung in Frankreich. Ausgewählte Lieder französischer Proletarier. In den S. entstammte einem berühmten Nürnberger Versmaßen der Originale übersetzt und mit bio- Patriziergeschlecht u. war seit etwa 1360 an graphisch-historischer Einleitung versehen; nebst den Aktivitäten der Stromer’schen Handelseinem Anhang Victor Hugo’scher Zeitgedichte. gesellschaft beteiligt, deren Leitung er 1370 London/New York/Hbg. 1863). Als Überset- übernahm. Seit 1371 gehörte er dem regiezer u. Vermittler amerikan. Literatur (Ameri- renden Inneren Rat an u. entwickelte sich im kanische Anthologie. Dichtungen der amerikani- Zuge seiner Politik mit dem Schwäbischschen Litteratur der Gegenwart in den Versmaßen Rheinischen Städtebund zum führenden Poder Originale übersetzt. Hildburghausen 1870. litiker der Reichsstadt. Er verfügte über Amerikanische Anthologie. Theil 1: Dichtungen. jahrzehntelange finanzielle bis persönl. BeTheil 2: Novellen. Lpz. 1875. Weitere Aufl.n ziehungen zu den pfälz. Wittelsbachern. Von ebd. 1880 u. 1898) fand S. große Beachtung u. anderen Ämtern abgesehen, hatte er seit 1396 wurde noch von den Herausgebern amerikan. als erster Oberster Hauptmann das höchste Anthologien des frühen 20. Jh. (Julius Hart, städt. Amt inne. 1390 gründete er die erste Papiermühle mit Stampfwerken auf dt. BoKarl Knortz) intensiv rezipiert. Pionierleistungen auf dem Gebiet der Edi- den. S. starb infolge der Nürnberger Pesttion sind die von S. besorgten Briefe von u. an epidemie des Winters 1406/1407. Nach eigener Angabe 1360, codicolog. u. Gottfried Bürger. Ein Beitrag zur Literaturgeinhaltl. Merkmalen zufolge nicht vor 1385, schichte seiner Zeit (4 Bde., Bln. 1874. Neudr. Bern 1970) sowie die nach Vorarbeiten (Hein- begann S. an seinem Püchel von mein geslecht rich Heine’s Wirken und Streben. Dargestellt an vnd von abentewr zu schreiben, das als Autoseinen Werken. Hbg. 1857) erste »Kritische graf erhalten ist (106 Bl.). Er stellt darin zuAusgabe« der Sämmtlichen Werke Heines (21 nächst die Herkunft seiner Familie bis zu Bde., Hbg. 1861–66), aus der auch eine seinem Ururgroßvater zurückreichend dar u. Werkauswahl mit Lebensbeschreibung her- verzeichnet seine Kinder u. Enkel; Vervorgegangen ist (Heinrich Heine’s Leben und wandtschafts- u. Heiratsbeziehungen zu anWerke. 2 Bde., Bln. 1867–69. Ebd. 21873/74. deren Nürnberger Geschlechtern werden daHbg. 31884. Reprint der 3. Aufl. Hildesh. bei dokumentiert. Weiterhin erzählt S. Stadtu. Reichsgeschichte u. notiert wirtschaftlich [geplant] 2010). u. rechtlich Wissenswertes. S. zeigt sich als Weitere Werke: Brutus! Schläfst Du? Zeitgevielseitig orientierter Zeitgenosse, für den dichte. Hbg. 1863. – Rohana, ein Liebesleben in der wirtschaftl. Handeln, polit. Kalkül u. geneaWildnis. Ebd. 1857 (Vers-E.). – ›Alldeutschland in Frankreich hinein!‹ Kriegserinnerungen. Bln. log. Bewusstsein untrennbar miteinander 1871. – Das geistige Leben in Dänemark. Bln. 1873. verbunden sind. Im deutschsprachigen Raum – Dichterprofile. Literaturbilder aus dem neun- bilden seine Aufzeichnungen das erste erhaltene Beispiel eines Quellentyps, in dem zehnten Jh. Stgt. 1878. Literatur: Ludwig Fränkel: A. H. S. In: ADB. – sich Familienbuch u. Selbstzeugnis mit der Erika K. Hulpke u. Ulrike Christine Sander (Hg.): Darlegung histor. u. pragmat. WissensbeÜbersetzer im Spannungsfeld verschiedener Spra- stände verbinden.

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S. arbeitete sein Püchel selbst einmal um, strich politisch-wirtschaftl. sowie persönl. Angaben u. erweiterte es insbes. um Familiennachrichten. Eine dritte Fassung aus dem 15. Jh. bietet nur den histor. Teil in chronikal. Anordnung. S.s viel gerühmtes u. oft benütztes Werk ging in die Chronistik Nürnbergs ein u. wurde in allen drei Versionen bis ins 18. Jh. kopiert u. um Nachträge ergänzt. Ausgaben: Karl Hegel (Hg.): Die Chroniken der dt. Städte. Bd. 1: Nürnberg. Lpz. 1862, S. 25–106. Literatur: Walter E. Vock: U. S. (1329–1407) u. sein Buch. Nachträge zur Hegelschen Ausg. In: Mitt.en des Vereins für Gesch. der Stadt Nürnberg 29 (1928), S. 85–168. – U. S. [...] Teilfaks. der Hs. HS 6146 des German. Nationalmuseums Nürnberg. Kommentarbd. bearb. v. Lotte Kurras. Bonn 1990. – Dies.: U. S. In: VL (Lit.). – Joachim Schneider: U. S. In: LexMA. – Ders.: Typologie der Nürnberger Stadtchronistik um 1500. Gegenwart u. Gesch. in einer spätmittelalterl. Stadt. In: Städt. Geschichtsschreibung im SpätMA u. in der frühen Neuzeit. Hg. Peter Johanek. Köln/Weimar/Wien 2000, S. 181–203, bes. S. 183–187. – Michael Diefenbacher: U. S. In: Stadtlexikon Nürnberg. Hg. ders. u. Rudolf Endres [...]. 2., verb. Aufl. Nürnberg 2000, S. 1053 f. (URL: http://www.stadtarchiv.nuernberg.de/stadtlexikon/index.html). – Thomas Zotz: Der Stadtadel im spätmittelalterl. Dtschld. u. seine Erinnerungskultur. In: Adelige u. bürgerl. Erinnerungskulturen des SpätMA u. der Frühen Neuzeit. Hg. Werner Rösener. Gött. 2000, S. 145–161. – Sabine Schmolinsky: Selbstzeugnisse finden oder: Zur Überlieferung erinnerter Erfahrung im MA. In: Self-Fashioning / Personen(selbst)darstellung. Hg. Rudolf Suntrup u. Jan R. Veenstra. Ffm. u.a. 2003, S. 23–49, bes. S. 40 f. – Barbara Schmid: Schreiben für Status u. Herrschaft. Dt. Autobiographik in SpätMA u. früher Neuzeit. Zürich 2006, bes. S. 67–71. – Birgit Studt: Erinnerung u. Identität. Die Repräsentation städt. Eliten in spätmittelalterl. Haus- u. Familienbüchern. In: Haus- u. Familienbücher in der städt. Gesellsch. des SpätMA u. der Frühen Neuzeit. Hg. dies. Köln/ Weimar/Wien 2007, S. 1–31, bes. S. 6–8. – URL: http://www.handschriftencensus.de/werke/5950.

schule in Engelberg seinen ersten, noch ganz in der idealistischen Bildungstradition stehenden Gedichtband Frühe Feier (Luzern 1930). S. studierte Medizin u. Psychiatrie in Zürich, Basel, Bern, München u. Paris, promovierte 1937 zum Dr. med. u. war nach seiner Assistentenzeit an der BurghölzliKlinik in Zürich 1943–1946 Oberarzt an der Nervenheilanstalt Rheinau u. 1947–1969 Chefarzt des Nervensanatoriums Kilchberg bei Zürich. Seither praktizierte er frei in Zürich u. war zgl. Leiter der Stahlhandelsfirma seiner Familie in Solothurn. Diese berufl. Auslastung ließ nur ein schmales lyr. Œuvre zu, das jedoch weit von jegl. Dilettantismus entfernt ist u. zumindest bis 1964, als S. für ein Vierteljahrhundert verstummte, mit der schweizerischen u. westdt. literar. Avantgarde Schritt hielt. Die Modernität von Bänden wie Lyrische Texte (Köln 1953) oder Signaturen, Klangfiguren (Hbg. 1964) beruhte allerdings weit weniger auf einer bewussten Anlehnung an neueste zeitgenöss. Tendenzen als vielmehr auf einer angeborenen Musikalität u. einer spielerischen Freude am sprachlich Innovatorischen. Auch thematisch ist S.s Lyrik keineswegs revolutionär, sondern befasst sich mit den großen Fragen der europ. Tradition – Liebe, Tod, Kunst, Natur –, vertieft allerdings die Gedankenführung häufig aus der spezif. Sehweise des erfahrenen Seelendeuters heraus. S. blieb seinen Anliegen u. seiner Schreibweise auf hohem künstlerischen Niveau, aber in größerer Kargheit u. Bemessenheit der Mittel treu, als er sich mit Poetische Zeit (Zollikon 1990) noch einmal zu Wort meldete. Literatur: Gerhard Piniel: Der Lyriker U. M. S. In: Schweizer Rundschau 69 (Solothurn 1970), S. 106–118. – Alois M. Haas: Kraft der Ekstase. Zum Tod v. U. M. S. In: NZZ, 5.9.2000, S. 32. Charles Linsmayer

Sabine Schmolinsky

Strubberg, Friedrich (Frédéric) August, auch: Armand, * 18.3.1806 Kassel, † 3.4. Strub, Urs Martin, * 20.4.1910 Olten/Kt. 1889 Altenhaßlau bei Gelnhausen. – RoSolothurn, † 18.8.2000 Zürich; Grabstät- mancier, Dramatiker. te: ebd., Friedhof Enzenbühl. – Lyriker. Der Sohn vermögender Eltern publizierte schon im Jahr seiner Matura in der Stifts-

Der kaufmännisch ausgebildete Fabrikantensohn S. übersiedelte 1826 nach einem angebl. Duell in die USA u. führte v. a. in Texas

Strubel

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ein wechselvolles Leben in seinem erlernten Bamberg/Braunschw. 1978, S. 88–110. – Ralf-Peter Beruf sowie als Arzt u. Siedler; unter anderem Märtin: Wunschpotentiale. Gesch. u. Gesellsch. in war er 1846/47 als Direktor der dt. Einwan- Abenteuerromanen v. Retcliffe, Armand, May. Ködererkolonie Friedrichsburg, Texas, tätig. nigst./Taunus 1983, S. 89–134. – Juliane Mikoletzky: Die dt. Amerikaauswanderung des 19. Jh. in Viele Details dieser Jahre sind v. a. wegen beder zeitgenöss. fiktionalen Lit. Tüb. 1988. – Peter J. schönigender Selbstdarstellungen S.s nicht Brenner: Reisen in die Neue Welt. Die Erfahrung voll geklärt; eine angebl. Begegnung mit Nordamerikas in dt. Reise- u. AuswandererberichCharles Sealsfield in Mexiko z. B. hat offenbar ten des 19. Jh. Tüb. 1991. – Andreas Graf: Abennie stattgefunden. 1854 kehrte S. mittellos in teuer u. Geheimnis. Die Romane Balduin Mölldie Heimat zurück. Erst jetzt nutzte er seine hausens. Freib. i. Br. 1993. – Jeffrey L. Sammons: Reiseerfahrungen zu einer einträgl. Produk- Ideology, Mimesis, Fantasy. Gerstäcker, Karl May, tion von mehr als 40 Abenteuer- u. Reise- and Other German Novelists of America. Chapel Hill, NC 1998, S. 99–110. – Goedeke Forts. – Judith romanen, z. T. zuerst in Fortsetzungsform E. Martin: The ›Tragic Mulatto‹ in Three Nineteerschienen, die sein Pseud. sehr populär enth-Century German Antislavery Texts. In: Germachten. Trotz ihres realistisch schildernden man Studies Review 32 (2009), S. 357–376. – Duktus sind viele Werke in idealisierender u. Wynfrid Kriegleder: Armand S. in Texas. In: romantisierender Weise autobiographisch Amerika im europ. Roman um 1850. Varianten getönt. S.s Leben in der Wildnis beschreiben transatlant. Erfahrung. Hg. Alexander Ritter. Wien u. a. An der Indianergrenze (4 Bde., Hann. 1859) 2011. Richard Heckner / Stefan Höppner u. Aus Armand’s Frontierleben (3 Bde., Lpz. 1868) sowie die Skizzen Bis in die Wildniss (4 Strubel, Antje Rávic, * 12.4.1974 Potsdam. Bde., Breslau 1858), seine Erlebnisse in den – Erzählerin, Übersetzerin. Oststaaten Der Krösus von Philadelphia (4 Bde., Hann. 1870). Auch bei zeitgeschichtlich- S. wuchs in Ludwigsfelde auf, wurde nach polit. Hintergrund (Sklaverei in Amerika, oder: dem Abitur 1992 Buchhändlerin u. studierte seit 1994 Literaturwissenschaften, AmerikaSchwarzes Blut. 3 Bde., ebd. 1862. Mexiko. 4 nistik u. Psychologie in Potsdam u. in New Bde., ebd. 1865) sind S.s Romane v. a. dem York, wo sie zeitweise als Beleuchterin am Motiv des edlen u. tragischen Helden verWings Theatre arbeitete. »Rávic« ist eine pflichtet. Seit 2010 erscheint eine »Marburpseudonyme Ergänzung ihres bürgerl. Nager Ausgabe« von S.s gesammelten Werken. mens. S. lebt in Potsdam. Die spärl. Forschung untersucht S. meist Ihr Debüt gab S. 2001 mit Offene Blende im Kontext der Abenteuer- u. Kolportageli(Mchn.), einem in New York spielenden Roteratur seiner Zeit. Seine Werke werden meist man über eine aus der DDR ausgewanderte als klischeehaft u. epigonal eingeordnet. Jejunge Frau. Die (erotische) Beziehung zu eiffrey Sammons hat jedoch auf interessante ner westdt. Fotografin wird zu einer vielParallelen zu den später publizierten Ameri- schichtigen Auseinandersetzung mit ihrer ka-Romanen Karl Mays hingewiesen. ostdt. Identität (»[...] wer fühlt sich schon so Weitere Werke: Amerikan. Jagd- u. Reise- wie sein Land!«). Im selben Jahr erhielt S. den abenteuer aus meinem Leben in den westl. India- Ernst-Willner-Preis der Klagenfurter Literanergebieten. Stgt. 1858. Neuaufl. Marburg 2010. – turtage u. brachte ihr zweites Buch heraus, Szenen aus den Kämpfen der Mexikaner u. Nordden »Episodenroman« Unter Schnee (Mchn.), amerikaner. Breslau 1859. Neuaufl. Marburg 2011. in dem sie die Spurensuche nach ostdt. u. – Der Sprung vom Niagarafall. 4 Bde., Hann. 1863. – Saat u. Ernte. 5 Bde., Lpz. 1866. – Die Quadrone. weibl. Identitäten fortsetzt, indem sie eine Schauspiel. Kassel 1869. – Vornehm u. bürgerlich lesb. Beziehung im tschech. Skiort Harrachov literarisch seziert. Wie Offene Blende wurde (1878). Marburg 2010. Literatur: Leroy H. Woodson: American Negro Unter Schnee von der Kritik begeistert aufgeSlavery in the Works of F. S., Friedrich Gerstäcker nommen. Verhaltener fiel die Kritik bei Fremd and Otto Ruppius. Washington, D.C. 1949. – Gehen (Hbg. 2002) aus, einem »Nachtstück«, Gunter G. Sehm: Armand. Biogr. u. Bibliogr. Wien in dem S. sich der Elemente des Krimis u. der 1972. – Rudolf Beissel: Von Atala bis Winnetou. Farce bedient.

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Ein großer Erfolg gelang S. 2004 mit dem Roman Tupolew 134 (Mchn.), dem eine 1978 tatsächlich versuchte »Republikflucht« mittels Entführung eines poln. Flugzeugs zugrunde liegt. Mit fiktionaliertem Personal u. anhand der leitenden Metapher des »Schachts« legt S. die Geschichte dieser Flucht in verschiedenen Perspektiven u. im Wechsel von Zeitebenen frei (Splitter der Familienvorgeschichte, Auszüge aus dem Verfahren des amerikan. Militärgerichts), wobei es ihr nicht nur gelingt, ein Stück DDR zu erfassen, sondern auch die Täuschungen des Erinnerns u. die Möglichkeiten des Erzählens (»Eine Geschichte hat viele Schlupflöcher.«) überzeugend in eine dichte, souverän konstruierte literar. Form zu bringen. In Kältere Schichten der Luft (Ffm. 2007) folgt S. in der Szenerie eines schwed. Sommercamps ihrer Protagonistin Anja, der vertraute Wahrnehmungen entgleiten u. die sie sich in einer Geschlechtergrenzen überschreitenden, halb imaginierten Liebschaft zu einer mysteriösen Frau selbst begegnet. S. hat am Leipziger Literaturinstitut unterrichtet u. zahlreiche Preise u. Stipendien erhalten. Nach längeren Aufenthalten in Kalifornien (u. a. an der Villa Aurora) übersetzte sie Werke von Joan Didion. Weitere Werke: Vom Dorf. Abenteuergesch.n zum Fest. Mchn. 2007. – Gebrauchsanweisung für Schweden. Mchn./Zürich 2008. Literatur: Thomas Kraft: A. R. S. In: LGL. – Lea Müller-Dannehausen: ›... scheiß neue Lust am Erzählen!‹ Untersuchungen zum Erzählen in Terézia Moras ›Alle Tage‹ u. A. R. S.s ›Tupolew 134‹. In: Zwischen Inszenierung u. Botschaft. Zur Lit. deutschsprachiger Autorinnen ab Ende des 20. Jh. Hg. Ilse Nagelschmidt, L. Müller-Dannhausen u. Sandy Feldbacher. Bln. 2006, S. 197–214. – Emily Jeremiah: Disorienting Fictions: A. R. S. and PostUnification East German Identity. In: GLL 62 (2009), S. 220–232. Oliver Müller

Struck, Karin, * 14.5.1947 Schlagtow bei Greifswald/Vorpommern, † 6.2.2006 München; Grabstätte: ebd., Waldfriedhof. – Erzählerin, Essayistin. Im Alter von sechs Jahren flüchtete S., Tochter eines Bauern, mit der Familie nach Westfalen, wo sie zur Schule ging. Während des

Struck

Studiums in Bochum, Bonn u. Düsseldorf (Germanistik, Romanistik u. Psychologie) engagierte sie sich im Sozialistischen Deutschen Studentenbund u. war vorübergehend Mitgl. der DKP. Nach dem großen Erfolg ihres ersten Romans Klassenliebe (Ffm. 1973) brach sie ihre Dissertation über Arbeiterliteratur ab u. widmete sich ganz ihrer schriftstellerischen Tätigkeit. Sie lebte in NeuAnspach im Taunus, Münster, Hamburg, Gütersloh u. seit 1998 in München. S. wurde u. a. mit dem Rauriser Literaturpreis des Landes Salzburg (1974) u. dem AndreasGryphius-Preis der Esslinger Künstlergilde (1976) ausgezeichnet. 1988 war sie Writer in Residence an der University of Queensland in Brisbane, Australien; 1991 erhielt sie den Lebensschutzpreis der Stiftung »Ja zum Leben«. S.s Texte sind durch eine sehr persönl. Schreibweise in der Nähe autobiogr. Bekenntnisliteratur gekennzeichnet, ihre Themen sind jene, die seit Ende der 1960er Jahre diskutiert wurden: die Infragestellung herkömml. bürgerl. Werte (Disziplin, Ehe, Bildung, Status), die Orientierungs- u. Hilflosigkeit der Individuen, die zu Abhängigkeiten, Drogensucht u. Alkoholkonsum führen, die Frauenrolle (Mutter/Tochter, Ehefrau/ Geliebte) sowie die Auswirkungen dieser Tatbestände auf die menschl. Beziehungen. Die zumeist weibl. Protagonisten sind durch Übersensibilität charakterisiert u. laufen ständig Gefahr, an ihren Gefühlen zu scheitern. Im Mittelpunkt steht S.s emphat. Bekenntnis zur Liebe als alles erlösender Kraft: Liebe zwischen den Geschlechtern, zur Kreatur u. Natur. Der Anspruch, möglichst alle emotionalen sowie sexuellen Bedürfnisse zu leben, führt die Frauen in Konflikte, einerlei, ob sie als Arbeiterkind ein Studium absolvieren (wie in Klassenliebe), ob sie aus einer Ehe in neue Beziehungen ausbrechen (Lieben. Ffm. 1977) oder ob sie sich den Zwängen des Berufs entziehen, um sich in einer naturnahen Umgebung zu regenerieren (Finale. Geschichte eines unentdeckten Pferdes. Hbg. 1984. Neu durchges. Ausg. Mchn. 1992). Hinsichtlich der Hauptfigur stellt Bitteres Wasser (Mchn./ Hbg. 1988) eine Ausnahme dar: Die Auseinandersetzungen um Liebe, Sexualität, Ab-

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hängigkeit werden aus männl. Perspektive u. Annegret Soltau: Annäherungen an Ingeborg geschildert – als der Versuch eines Mannes, Bachmann. Darmst. 2003, S. 5–32. Literatur: Hans Adler u. Hans-Joachim sich auf dem Umweg über den Alkoholentzug seiner patriarchalen Rollen zu entledi- Schrimpf (Hg.): K. S. Ffm. 1984 (mit Bibliogr.). – Manfred Jurgensen: K. S. Eine Einf. Bern 1985. – gen. S.s Werke, anfangs mehrheitlich positiv Claudine Crestien: K. S. L’engagement personnel et social de l’écrivain et la création littéraire dans aufgenommen, unterlagen zunehmend der l’œuvre romanesque. 1973–1988. Diss. Univ. Lille Kritik. Wenn Klassenliebe von Feministinnen 1989 (Mikrofiche-Ausg.). – Joanne Leal: The Polinoch als »sinnliches«, »ehrliches« u. »her- tics of ›Innerlichkeit‹. K. S.’s ›Klassenliebe‹ and ausforderndes« Buch bezeichnet worden war, Verena Stefan’s ›Häutungen‹. In: Gendering Gerwurden bereits dem Roman Die Mutter (Ffm. man Studies 1 (1997), S. 130 ff. – Westf. Autoren1975) unzureichende Reflexion, die Ver- lex. 4. – Ilka Scheidgen: Kein Schreiben ohne Auswechslung von Liebesbedürfnis u. Selbstmit- lotung des Schmerzes: K. S. In: Dies.: Verrückt leid angelastet. S.s Bekenntnis zu Sinnlich- genug, an das Paradies zu glauben. Autorenporkeit, Erotik u. Mutterschaft, das nicht nur träts. Mchn. 2002, S. 71–83. – Emily Jeremiah: Citing motherhood: maternal thinking and mimipositiv, sondern auch als gefährl. Annähecry in K. S.’s ›Die Mutter‹ and Barbara Frischmuth’s rung an patriarchale Festlegungen (die Frau ›Sternwieser-Trilogie‹. In: Text u. Welt. Hg. als »Mutter, Heilige oder Hure«) gesehen Christoph Parry. Vaasa 2002, S. 216–222. – Walwurde, führte zu kontroversen Diskussionen. traud Müller-Ruch u. Hermann Ruch: K. S. In: Bemängelt wurde auch S.s fehlende Distanz LGL. – Morwenna Symons: Intertextual conneczum Erzählten sowie die ostentative Ver- tions. Structures of feminine identification in the nachlässigung der Konstruktion u. Form. Die works of K. S. In: Women in German Yearbook 20 Erzählweise ist unmittelbar u. subjektiv; S. (2004), S. 145–162. – Malgorzata Czarnecka: Kon/ benutzte gern Stilmittel wie Tagebuchauf- strukcja mitu matki w prozie K. S. Wroclaw 2005. – Ulrich Breuer: Nackt wandern. K. S.s ›Klassenliebe‹ zeichnungen, Träume u. assoziative Gedanim Bekenntnisdiskurs (der siebziger Jahre). In: LiLi kenreihungen. 32 (2006), S. 103–127. – Hans Wolfschütz: K. S. In: Zunehmend widmete sich S., Mutter von KLG. – Gunter Geduldig: Von der Rolle. Eine Ervier Kindern u. 1996 zum kath. Glauben innerung an die Schriftstellerin K. S. In: Der Litekonvertiert, dem Kampf gegen die »Abtrei- raturbote 23 (2008), H. 92, S. 35–44. – Ariane bungsgesellschaft«. Dem Roman Blaubarts Neuhaus-Koch: K. S. u. die Arbeiterlit. Von der Schatten (Mchn./Lpz. 1991), der auf der Folie ästhet. Erziehung der Lohnarbeiter – ein Dissertades Märchenstoffs vom Ritter Blaubart das tionsprojekt. In: Schreibwelten – Erschriebene Thema Schwangerschaftsabbruch behandelt, Welten. Zum 50. Geburtstag der Dortmunder Gruppe 61. Hg. Gertrude Cepl-Kaufmann u. Jasmin folgte 1992 die essayistische Streitschrift Ich Grande. Essen 2011, S. 267–272. sehe mein Kind im Traum. Plädoyer gegen die AbMaria Kohli-Kreß / Bruno Jahn treibung (Ffm./Bln./Wien 1992). Auch mit Männertreu (Mchn. 1992), einem Band mit Geschichten vom »Neuen Mann« (»Nicht alle Strunk, Heinz, auch: Jürgen Dose, Männer sind korrupt, nicht alle sind krimi- Fleischmann, eigentl.: Mathias Halfpape, nell. Die meisten sind anständig, warum hat * 17.5.1962 Hamburg. – Verfasser von mir das keiner gesagt«), u. Ingeborg B. Duell mit Hörspielen, Theaterstücken u. Romanen; dem Spiegelbild (Mchn. 1993), einer Auseinan- Musiker, Kabarettist, Kleinkünstler, dersetzung mit Ingeborg Bachmann, konnte Schauspieler. sie nicht mehr an frühere Erfolge anknüpfen. Nach dem Abitur 1983 u. einer musikal. Weitere Werke: Die liebenswerte Greisin. Ausbildung zum Saxophonisten u. QuerflöPfaffenweiler 1977 (E.). – Trennung. Ffm. 1978 (E.). – Die Herberge. Pfaffenweiler 1981 (E.). – Kindheits tisten war S., damals noch unter seinem Ende. Journal einer Krise. Ffm. 1982. – Zwei bürgerl. Namen Mathias Halfpape, jahrelang Frauen. Münster 1982 (E.). – Glut u. Asche. Eine Mitgl. der Tanz- u. Showband »Tiffanys«, die Liebesgesch. Mchn./Hbg. 1985. – Zerstörung durch auf Schützenfesten, Hochzeiten u. Ä. zur Männer: Monolog für eine Schriftstellerin. In: K. S. Unterhaltung in norddt. Kleinstädten u.

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Dörfern auftrat. Von 1992 an exponierte er sich v. a. humoristisch unter dem Künstlernamen Heinz Strunk. Er veröffentlichte Hörspiele u. Stücke z.T. auf Solo-Alben (Spaß mit Heinz. 1993. Der Mettwurstpapst. 1994. Einz. 2003. Trittschall im Kriechkeller. 2005. Mit Hass gekocht. 2006. Der Schorfopa. 2007), z.T. in Zusammenarbeit mit anderen Künstlern, wie etwa der Musikband »Die Ärzte« (Die Bestie in Menschengestalt. 1993), der Viva-Moderatorin Charlotte Roche (Lesung aus der medizinischen Doktorarbeit Penisverletzungen bei Masturbation mit Staubsaugern. 2005–2007) u. in verschiedener Form (Tonträger, Musicals, Bühnenstücke) mit Jacques Palminger u. Rocko Schamoni als »Studio Braun« (Gespräche 1. 1998. Fear of a Gag Planet. 2002. Ein Kessel Braunes. 2004. Phoenix – wem gehört das Licht. 2005–2008. 20.000 Jahre Studio Braun. Ein Jubiläum feiert Geburtstag. 2007. Dorfpunks – Die Blüten der Gewalt. 2008). Neben seinen Auftritten in Unterhaltungssendungen von Funk u. Fernsehen (»Sat 1 Wochenshow«, 1998; als Jürgen Dose im Berliner Radio Fritz, 2000/ 2001; in der Sendung »Fleischmann TV« bei Viva, 2003) wirkte S. als Schauspieler u. a. in Derby (1999), Immer nie am Meer (2007; auch Drehbuch, gemeinsam mit Antonin Svoboda u. a.) u. in dem Kurzfilm Zeit (2007) mit. Einem breiten Publikum wurde S. durch seinen autobiografisch gefärbten Roman Fleisch ist mein Gemüse. Eine Landjugend mit Musik (Reinb. 2004) bekannt, der sich mehr als 300.000-mal verkaufte, von S. selbst als Regiearbeit am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg u. d. T. Phoenix – wem gehört das Licht dramatisiert u. 2007 unter der Regie von Christian Görlitz als Kinofilm (mit Maxim Mehmet in der Hauptrolle) unter dem Buchtitel verfilmt wurde. Anfang 2010 wurde der Roman unter seinem Originaltitel am Kleinen Schauspielhaus in Wuppertal unter der Leitung von Iwona Jera aufgeführt. Fleisch ist mein Gemüse erzählt die Geschichte des jungen Heinz aus Hamburg-Harburg, der jahrelang als Saxophonist mit der Amateurkapelle »Tiffanys« im norddt. Hinterland auftritt u. sich nebenbei um seine psychisch kranke Mutter bis zu ihrem Sterben kümmert. Heinzer, wie er von seinen Freunden genannt wird, hat eine äußerst labile Psyche

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u. versucht sein Leiden unter starker Akne u. unerfüllten sexuellen Wünschen u. a. mit Alkohol, derbem Essen u. auch Glücksspiel zu kompensieren. Aufgrund des »trocken-lakonischen, anrührend-wahrhaftigen Tons« (FAZ, 17.4.2008) u. der »eigenartigen Mischung aus Perfektionismus und Dilettantismus« (FAZ, 24.9.2005) erzeugt S. die passende Stimmung, um das norddt., monotontriste Kleinkünstlermilieu in seinem Roman in kurzen Strichen zu entwerfen. Auch wenn S. die durch Komik gebrochene u. zugleich von dieser getragene Tragik des labilen Antihelden rücksichtslos realistisch bloß- u. darstellt, liest sich das Buch mit seiner durchdachten Erzählstruktur u. der dem Helden innewohnenden Humanität wie ein »dokumentarischer, zeitgenössischer Bildungsroman aus der Provinz« (ebd.). S.s zweiter Roman, Die Zunge Europas (Reinb. 2008), beschreibt eine Woche im Leben des Gagschreibers Markus Erdmann, dessen Leben gleichfalls von Eintönigkeit, Selbstzweifeln u. tiefer Traurigkeit gezeichnet ist, allesamt laut S. Voraussetzungen für »wahre Komik«, die im Gegensatz zum in »industrieller Massenfertigung produzierten Humor« sich aus »Drama, Tragik, Weltanschauung, Brüchen, Differenzen« speist. Aufgrund der Einsichten in den »Verblendungszusammenhang« der Konsumgesellschaft gelingt S. eine kulturkritisch durchsetzte Schilderung aus einem beschädigten, trostlosen Leben, das erst »erträglich wird durch die bezwingende Komik, die er auch diesmal dem Leiden abgewinnt« (FAZ, 15.10.2008). Dank der Autor-Figuren-Konstruktion trägt der Roman postmoderne Züge, die, gepaart mit selbstironischen, essayistisch-geschwätzigen Betrachtungen, dem Helden die vorweggenommene Selbstkritik übertragen, indem dieser ein gleichnamiges fiktionales Buch als »rundum misslungenes Ärgernis“ verreißt. Der Roman gipfelt in einer detailgenauen, desillusionierenden Beschreibung der kalten Oberfläche der mittels Drogenkonsum aufgeputschten, mitleidlosen Hamburger Nachtszene. S.s kurz darauf erschienener, ebenfalls autobiografisch grundierter Roman Fleckenteufel (Reinb. 2009) erzählt von der evang. Som-

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merfreizeit des sechzehnjährigen Thorsten an der Ostsee im Jahr 1977. Die drastischen, als »Ekelkunst« diskutierten Schilderungen pubertärer Sexualfantasien u. massiver Darmprobleme mit Flatulenzorgien können die wahren Nöte des Heranwachsenden nicht dauerhaft verbergen: Scham u. Schuld. Die darin begründete Tiefenqualität (vgl. auch FAZ, 23.1.2009) hebt die Geschichte deutlich ab von dem Bestseller Feuchtgebiete (Köln 2008) von Charlotte Roche, als dessen »satirische Replik« S. seinen Roman angekündigt hatte. Die marketingopportune Ähnlichkeit in der Aufmachung wurde z.T. von der Kritik beanstandet, ohne dass dieser Winkelzug als provokante Reaktion auf die Mechanismen des Literaturbetriebs reflektiert wurde.

tonangebenden Bibliografen nach Daniel Georg Morhof in Erscheinung. In den folgenden Jahren bemühte sich S. um die Zusammenstellung kommentierender selektiver Fachbibliografien u. brachte es mit diesem durchaus didaktisch motivierten Vorhaben zu einigem Erfolg, der ihm allerhand Titel u. Ämter wie auch neuerl. Professuren in Jena eintrug. Neben seinen literärgeschichtl. Schriften machte sich S. vor allem als Verfasser von histor. Werken einen Namen, die über Beiträge zur Kirchen- u. Rechtsgeschichte bis hin zur Universalgeschichte reichen, u. welche nach seinem Tod 1738 durch Historiker wie Christian Gottlieb Buder oder Johann Georg Meusel angesehene Neubearbeitungen fanden.

Friederike Reents

Weitere Werke: De iure bibliothecarum. Halle 1702. – Bibliotheca iuris selecta. Jena 1703. – Bibliotheca philosophica. Jena 1704. – Bibliotheca antiqua. Jena 1705. – Selecta bibliotheca historica. Jena 1705. – Historia iuris. Jena 1718. – Ausführl. Historie der Religions-Beschwerden. Lpz. 1722. – Einl. zur Teutschen Reichs-Historie. Jena 1724. – Kurtzer Begriff der Universal-Historie. Jena 1726. – Academ. Rede v. gelehrten Betrügern. Sorau 1734. – Bibliotheca Saxonica. Halle 1736.

Struve, Burkhard Gotthelf, * 26.5.1671 Weimar, † 25.5.1738 Jena ; Grabstätte: ebd., Kollegienkirche. – Polyhistor, Journalist, Historiker, Bibliograf u. Bibliothekar.

Der Sohn des Juristen Georg Adam Struve besuchte ab 1684 die Stiftsschule in Zeitz u. Literatur: Jöcher. – Zedler. – Paul Mitzschke: wurde dort in das Haus des mit der Familie B. G. S. In: ADB. – Lotte Hiller: Die Geschichtswiss. befreundeten Rektors Christoph Cellarius an der Univ. Jena in der Zeit der Polyhistorie aufgenommen. Nachdem S. sich unter Cella- (1674–1763). Jena 1937. – Ottmar Feyl: Die neurius’ Einfluss bes. für die Historie u. die Al- zeitl. Anfänge der Universitätsbibl. Jena. tertumswissenschaften erwärmt hatte, im- 1650–1750. In: Gesch. der Universitätsbibl. Jena matrikulierte er sich 1687 an der Universität 1549–1945. Hg. Karl Bulling. Weimar 1958, Jena u. setzte seine Studien 1690 in Helm- S. 141–224. – Lutz Geldsetzer: Vorw. zum Neudr. stedt sowie in Frankfurt/O. unter Samuel In: B. G. S.: Bibliotheca Philosophica. Düsseld. 1970. – Martin Gierl: Pietismus u. Aufklärung. Stryk fort. Im Aug. 1697 erhielt er das BiGött. 1997, Register. – Stefan Benz: Bibliogr. u. bliothekariat in Jena u. promovierte schließ- Gesch. Überlegungen vornehmlich am Beispiel v. lich 1702, bewogen durch universitätsinterne Habsburgica. In: Mitt.en der Gesellsch. für BuchReibereien, in Halle bei Stryk zum Dr. jur. forsch. in Österr. 2 (2006), S. 7–29. mit einer Dissertation über das BibliotheksWiebke Hemmerling recht. Zurück in Jena, begann er nach einer zeitweiligen Mitarbeit an den Halleschen Struve, Elise Ferdinande Amalie, geb. »Observationes selectae ad rem litterariam Düsar (auch: Dusar), * 2.10.1824 Mannspectantes« (Halle 1700–1705) seine erste heim, † 13.2.1862 Staten Island/New Zeitschrift, die »Acta litteraria ex manuYork. – Verfasserin demokratisch-revoluscriptis eruta atque collecta« (Jena tionärer Schriften, historischer Romane u. 1703–1720), zu publizieren. 1704 erhielt S. belletristischer Literatur. die Professur für Geschichte in Jena u. trat mit seiner bis in das späte 18. Jh. hinein stark S. entstammt einer unehel. Verbindung der rezipierten Introductio in notitiam rei litterariae gebürtigen Mannheimerin Elisabeth Siegrist et usum bibliothecarum (Jena 1704) als einer der mit dem Offizier Alexander von Sickingen,

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der die Familie früh verließ. 1827 wurde sie von dem Sprachlehrer Friedrich Düsar adoptiert, als dieser ihre Mutter heiratete. Düsar, dessen Familie aus Frankreich eingewandert war, partizipierte an der freiheitlich-fortschrittl. Gesinnung im Mannheim der 1840er Jahre u. stand der demokratischen Bewegung nahe. Er ermöglichte S. u. ihrem jüngeren Bruder Pedro trotz zunehmender finanzieller Schwierigkeiten eine solide, vorrangig sprachl. Ausbildung. So übte S. für wenige Jahre den Beruf der Erzieherin u. Lehrerin für Deutsch u. Französisch aus, womit sie maßgeblich zum Unterhalt der Familie beitrug. In diese Zeit fällt ein frühes Verlöbnis, das jedoch bereits gelöst war, als sie im Sept. 1845 den charismat. Publizisten u. späteren Revolutionsführer Gustav Struve (1805–1870) kennen lernte, den sie noch im selben Jahr heiratete. Gustav Struve war nach seinem Ausscheiden aus dem diplomatischen Dienst 1832 nach Mannheim übergesiedelt, wo er als Advokat praktizierte u. seit Juli 1845 die Redaktion des »Mannheimer Journals« leitete; 1847 folgte die Gründung des »Deutschen Zuschauers«. In seinen Artikeln u. Pamphleten wandte er sich gegen alle Formen polit. Repression, insbes. gegen die Pressezensur. Dass S. die sozialkrit. Prinzipien ihres Mannes teilte, bildete die Grundlage ihres gemeinschaftlichen polit. u. publizistischen Engagements. Mit Ausbruch der Badischen Revolution im März 1848 folgte S. ihrem Gatten auf dessen Zügen (Heckerzug, April 1848). Die Pläne der Freischärler fanden jedoch im Scheitern des Septemberaufstands ein vorzeitiges Ende. A. u. G. S. wurden, getrennt voneinander, in Freiburg inhaftiert. Während ihrer achtmonatigen Gefangenschaft verfasste S. Skizzen über die frz. Revolutionsheldin Manon Roland, mit der sie sich emphatisch identifizierte, die sie später im »Deutschen Zuschauer« veröffentlichte (Eine Republikanerin. 1851). Zeitgleich begann G. S. sein historiografisches Hauptwerk, die Weltgeschichte in neun Büchern (1856–1860), an deren Fortschrift A. S. erhebl. Anteil hatte. Aufgrund ihrer aktiven Beteiligung an der Revolution wird S. sozial- wie literaturhistorisch dem Kreis couragierter Frauen wie Emma Herwegh (1817–1904), Mathilde

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Franziska Anneke (1817–1884) oder Johanna Kinkel (1810–1858) zugerechnet. Aufgrund ihrer autobiogr. Erinnerungen aus den badischen Freiheitskämpfen (Hbg. 1850), die sie den dt. Frauen widmete, wurde sie auch mit Malwida von Meysenburg (1816–1903) u. Fanny Lewald (1811–1889) verglichen. Formalästhetisch aussagekräftiger als die mitunter parteilich-subjektiven Memoiren, die sie im Schweizer Exil veröffentlichte u. die alle drei Erhebungen in Baden nachzeichnen, sind die parallel erschienenen Historischen Zeitbilder (Bremen 1850). In dem dreiteiligen Zyklus überträgt S. die Erfahrung von polit. Krise u. Instabilität auf analoge Umbruchssituationen der europ. Neuzeit. Die Enttäuschung über das Versagen des Volks als Träger staatl. Souveränität prägt die geschichtspessimistische Grundhaltung der drei Erzählungen. So verwahrt sich S. in Westminster davor, Oliver Cromwell heroisch als Bezwinger Karls I. zu verklären, dessen absolutistischer Herrschaftswillen u. restaurative Maßnahmen sein Land in den Bürgerkrieg geführt hätten. Das weibl. Pendant zu dem reaktionären Stuart gestaltet u. radikalisiert S. in Heloise Desfleurs mit Katharina de’ Medici. Als heiml. Regentin u. Königsmutter zeichnet sie für den Tod tausender Hugenotten in der Bartholomäusnacht 1571 verantwortlich, vor deren Hintergrund die Geschichte der fiktiven titelgebenden Protagonistin spielt. Die Zeit der Religionskämpfe bildet abschließend auch die Folie für das dritte ›Zeitbild‹. Am Fall von Magdeburg, das durch kaiserl. Truppen unter Tilly 1631 vollständig zerstört wurde, exemplifiziert S. die vernichtende Gewalt des Dreißigjährigen Krieges u. das Leid der Bevölkerung (»Magdeburger Hochzeit«). In den Werken der Exilzeit vollzieht sich dann der Wandel vom Geschichts- hin zum autobiografisch gefärbten Zeitroman, der die Ereignisse in Baden aus weibl. Perspektive wiedergibt (Eine Proletarierin. Roman aus der Revolutionszeit, Die Tochter des Gefangenenwärters, beide New York, 1858/59). In den USA, wo die Struves über Stationen in der Schweiz, Frankreich u. England Zuflucht fanden, engagierte sich S. auch publizistisch für die einheimische Frauenrechtsbewegung. Ein Konvolut von Artikeln (zum

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Wahlrecht, Bildungs- u. Sozialwesen), Pläne zur Herausgabe eines Frauenalmanachs u. Fragmente (u. a. Die Lehrerin, Schicksale einer deutschen Auswandererfamilie, Das Kind des Freiherrn) sind im Nachlass Gustav S.s verzeichnet. In der zeitgenöss. Kritik fielen S.s belletristische Arbeiten weitgehend durch, wenn auch das despektierl. Votum mehr S.s. polit. Agitation gilt. Gleichwohl werden kompositor. wie gestalterische Defizite aufgedeckt. So paart sich die pädagogisch-aufklärerische Bemühtheit mit oberflächl. Geschichtsbehandlung, mangelnder Stringenz der Handlungsführung u. schemat. Charakterisierungen. Jedoch verhüllen die für engagierte Literatur bzw. Tendenzdichtung charakterist. sentimentale Grundierung u. der oftmals pathet. Ton ihrer Prosa nicht, dass S. literar. Ambitionen hatte, die über die Tagesschriftstellerei hinausgingen. Rezeptionshistor. Studien belegen, dass die zwanglose, unmittelbare Darstellung des Geschehens, die mittels szen. Erzählens u. dramat. Modus die Historie verlebendigt, beim Publikum Erfolg hatte. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. zählte S. neben Karl Gutzkow (1811–1878), F. Lewald u. Louise Mühlbach (1814–1873) zur Gruppe der Erfolgsautoren, deren Bände in den Leihbibliotheken besonders häufig nachgefragt waren. S. starb an den Folgen der Geburt ihres dritten Kindes auf Staten Island/New York. Weitere Werke: Heftiges Feuer. Die Gesch. der bad. Revolution 1848, erzählt v. A. u. G. S. Bern 1849. Hbg. 1850. Nachdr. mit einer Einf. v. Irmtraud Götz v. Ohlenhausen u. einem Nachw. v. ders. Freib. i. Br. 1998. – Die Zitherschlägerin. 1850 (R.). – Frauenrechte sind Menschenrechte! Schr.en der Lehrerin, Revolutionärin u. Literatin A. S. Mit einem Geleitwort v. Hans Fenske. Hg. Monica Marcello-Müller. Herbolzheim 2002. Literatur: Pataky. – Brümmer. – Anna Blos: Frauen der dt. Revolution 1848. 10 Lebensbilder u. ein Vorw. Dresden 1928, S. 67–70. – Ursula Linnhoff (Hg.): ›Zur Freiheit, oh, zur einzig wahren‹. Schreibende Frauen kämpfen um ihre Rechte. Köln 1979, S. 143–148. – Gerlinde Hummel-Haasis: Schwestern zerreißt eure Ketten. Mchn. 1982, S. 203–220. – Daniela Weiland: Gesch. der Frauenemanzipation in Dtschld. u. Österr. Biogr.n – Programme – Organisationen. Düsseld. 1983,

362 S. 262. – Michael Kunze: Der Freiheit eine Gasse. Traum u. Leben eines dt. Revolutionärs. Mchn. 1990. – Sylvia Paletschek: Frauen im Umbruch. Untersuchungen zu Frauen im Umfeld der dt. Revolution v. 1848/49. In: Frauengesch. gesucht – gefunden? Auskünfte zum Stand der histor. Frauenforsch. Hg. Beate Fieseler. Köln 1991, S. 47–64. – Sabine Kienitz: Frauen in der Revolution 1848/49. Handlungsspielräume u. Geschlechtersymbolik. In: Südwestdeutschland – die Wiege der dt. Demokratie. Hg. Otto Borst. Tüb. 1997, S. 166–184. – Irmtraud Götz v. Olenhusen: ›Wohlstand, Bildung u. Freiheit für Alle ohne Unterschied der Geburt, des Standes u. des Glaubens‹. A. (1824–1862) u. G. (v.) S. (1805–1870). In: Die Achtundvierziger. Lebensbilder aus der dt. Revolution 1848/49. Hg. Sabine Freitag. Mchn. 1998, S. 63–80. – Wilfried Sauter: ›... ich will es, wenn Du zum Besten der großen Sache stirbst‹. In: Frauen in der bürgerl. Revolution. Hg. Johanna Ludwig u.a. Bonn 1998, S. 161–179. – Renate Büntgens: Biogr. A. S. (1824–1862). In: ›Ihr werdet für ewige Zeiten Euch ein ruhmvolles Denkmal setzen‹. Wie Frauen 1848/ 49 die Revolution unterstützten. Hg. Anne Junk. Offenburg 1999. – Kosch. – Marion Freund: ›Mag der Thron in Flammen glühn!‹ Schriftstellerinnen u. die Revolution v. 1848/49. Königst./Ts. 2004. – Ansgar Reiß: Radikalismus u. Exil. G. S. u. die Demokratie in Dtschld. u. Amerika. Stgt. 2004, S. 433–435. – M. Freund: A. S. (1824–1862). Revolutionärin u. Schriftstellerin – ihr doppelter Kampf um Freiheits- u. Frauenrechte. In: Akteure eines Umbruchs. Männer u. Frauen der Revolution v. 1848/49. Hg. Helmut Bleiber, Walter Schmidt u. Susanne Schötz. Bd. 2, Bln. 2007, S. 689–732. Julia Ilgner

Struve, Gustav (von), auch: Gustav Carl, * 11.10.1805 München, † 21.8.1870 Wien. – Publizist u. Revolutionär. Der Sohn eines russ. Staatsrats u. späteren Gesandten in Baden wuchs seit 1817 in Karlsruhe auf u. studierte 1822–1826 in Göttingen u. Heidelberg Jura. Er war 1827–1829 Attaché bei der Oldenburgischen Bundestagsgesandtschaft in Frankfurt/M. u. 1828/30 Landgerichtsassessor in Jever, bemühte sich erfolglos zunächst in Göttingen, dann in Jena um die Lehrerlaubnis an der Universität u. ließ sich schließlich 1836 als Oberhofgerichtsadvokat in Mannheim nieder, wo neben dem Roman Manadaras’ Wanderungen (Mannh. 1843 [anonym]. Ebd. 1845.

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Lpz. 1906) mehrere dramat. u. lyr. Werke entstanden. In den 1840er Jahren begann S. zu bundesrechtl., staatswissenschaftl. u. polit. Themen zu publizieren, u. a. Briefe über Staat und Kirche (Mannh. 1846). Als Redakteur des »Mannheimer Journals« (seit Juli 1845) stand er, zeitweise inhaftiert, im Dauerkonflikt mit der Zensurbehörde, deren Vorgehen er in den Actenstücken [...] (3 Bde., Heidelb. 1845/46) dokumentierte. Er setzte sich für den Deutschkatholizismus ein u. gründete im Febr. 1847 die Zeitung »Deutscher Zuschauer«, die er später von Basel aus weiter herausgab. Den Adelstitel legte S., seit 1845 mit Amalie Düsar verheiratet, Ende 1847 ab. Er war im Vorparlament Sprecher der revolutionär gesinnten Minderheit u. schloss sich im Verlauf der 48er-Revolution der Aufstandsbewegung in Baden an. Über das Scheitern u. die Fraktionskämpfe der Radikalen berichtet er in seiner Geschichte der drei Volkserhebungen in Baden (Bern 1849. Nachdr. Lpz. 1977. Freib. i. Br. 1980). Im Sept. 1848 zusammen mit seiner Frau verhaftet u. im Frühjahr 1849 in einem Schwurgerichtsprozess wegen Hochverrats verurteilt – die Anklage gegen Amalie S. wurde fallen gelassen –, wurde S. im Zuge der badischen Mairevolution aus dem Gefängnis befreit. Das Exil führte S. – nach Aufenthalten in der Schweiz und in Großbritannien – im April 1851 nach Amerika, wo er sich in der Antisklavereibewegung engagierte, Abraham Lincoln im Wahlkampf unterstützte u. auf Seiten der Union am Sezessionskrieg teilnahm. Mit einer in der Untersuchungshaft 1848/49 begonnenen Weltgeschichte in neun Büchern (New York 1853–60. Neuausg. Coburg 1864. 1866. Nachträge: Coburg 1864 u. 1867) u. dem Drama Abelard und Eloise (ebd. 1855; Urauff. am 29.1.1855 am Deutschen Theater) blieb er weiterhin schriftstellerisch tätig. 1858/59 hatte S. die Redaktion der vom »Allgemeinen Arbeiter-Bund« herausgegebenen Zeitschrift »Sociale Republik« inne. 1863 kehrte er – nach dem Tod seiner Frau u. nach Nachrichten über eine Amnestie in Baden – zurück, schloss sich zunächst Fedor Streit an, wandte sich dann aber vom Nationalverein ab u. siedelte 1869 mit seiner zweiten Frau Katharina nach Wien über.

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S. wurde nach einer »Selbstbekehrung« 1832 Vegetarier u. arbeitete seine vegetar. Überzeugung zu einer umfassenden Lebenslehre aus (Pflanzenkost, die Grundlage einer neuen Weltanschauung. Stgt. 1869); mehrere Jahre hindurch beschäftigte er sich intensiv mit Phrenologie (u. a. Handbuch der Phrenologie. Heidelb. 1843). Weitere Werke: Gedichte. Mannh. 1840 [unter Pseud.]. Ebd. 1847. – Die Verfolgung der Juden durch Emicho. Ebd. 1842 [unter Pseud.]. Ebd. 1847 (D.). – Handbuch berühmter Männer des neunzehnten Jh. 2 H.e, Heidelb. 1845/46. – Briefw. zwischen einem ehemaligen u. einem jetzigen Diplomaten. Mannh. 1845. – Polit. Briefe. Ebd. 1846. – Grundzüge der Staatswiss. 4 Bde., Mannh., dann Ffm. 1847/48. – Das Seelenleben oder die Naturgesch. des Menschen. Bln. 1869. Wien 1873. – S.s Nachlass befindet sich im Bundesarchiv, Koblenz. Literatur: M[oritz] W[ilhelm] Löwenfels: G. S.’s Leben, nach authent. Quellen u. von ihm selbst mitgetheilten Notizen. Basel 1848. – Karl Ackermann: G. v. S., mit bes. Berücksichtigung seiner Bedeutung für die Vorgesch. der bad. Revolution. Mannh. 1914. – Jürgen Peiser: G. S. als polit. Schriftsteller u. Revolutionär. Jena 1973. – Mathias Reimann: Der Hochverratsprozeß gegen G. S. u. Karl Blind. Der erste Schwurgerichtsfall in Baden. Sigmaringen 1985. – Mathias Tullner: G. v. S. Streiter für die Republik. In: Männer der Revolution v. 1848. Hg. Helmut Bleiber u. a. Bd. 2, Bln./ DDR 1987, S. 245–271. – Paul Nolte: Gemeindebürgertum u. Liberalismus in Baden 1800–1850. Tradition – Radikalismus – Republik. Gött. 1994. – J. Peiser: G. (v.) S. In: Demokratische Wege. Dt. Lebensläufe aus fünf Jahrhunderten. Hg. Manfred Asendorf u. Rolf v. Bockel. Stgt./Weimar 1997, S. 633–635. – Irmtraud Götz v. Olenhusen: ›Wohlstand, Bildung u. Freiheit für Alle ohne Unterschied der Geburt, des Standes u. des Glaubens‹. A. (1824–1862) u. G. (v.) S. (1805–1870). In: Die Achtundvierziger. Lebensbilder aus der dt. Revolution 1848/49. Hg. Sabine Freitag. Mchn. 1998, S. 63–80. – Ansgar Reiß: Radikalismus u. Exil. G. S. u. die Demokratie in Dtschld. u. Amerika. Stgt. 2004. – Wilhelm Kühlmann: ›Mit Herz u. Kopf‹ (F. Hecker). Lied u. Liedpublizistik im Umkreis der Bad. Revolution. In: Von der Spätaufklärung zur Bad. Revolution. Hg. Achim Aurnhammer, W. Kühlmann u. Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Freib. i. Br. u. a. 2010, S. 785–805, bes. S. 792–798. Bruno Jahn

Struzyk

Struzyk, Brigitte, * 2.4.1946 SteinbachHallenberg/Thüringen. – Lyrikerin, Prosaautorin, Übersetzerin, Herausgeberin. Nach einer Ausbildung zur Agrotechnikerin (1964) studierte S. 1965–1969 Theaterwissenschaften in Leipzig, war anschließend Dramaturgin in Görlitz u. Zwickau u. arbeitete 1970–1982 als Lektorin im AufbauVerlag. 1982–1990 als freie Schriftstellerin tätig, war sie 1990–1998 Referentin in den Berliner Bezirksverwaltungen Prenzlauer Berg u. Pankow. Seit 1998 ist sie wieder freie Schriftstellerin. S. war 1976–1979 Mitgl. der von ihr mitbegründeten »Gruppe 46« u. gehört seit 1991 dem P.E.N.-Zentrum Deutschland an. Neben mehreren Stipendien erhielt sie u. a. den Lion-Feuchtwanger-Preis (1991) u. die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung (1992); 2004 war sie Stadtschreiberin zu Rheinsberg. S.s Gedichte sind oft mitunter sarkastisch formulierte Alltagsbeobachtungen (z. B. Weimarer Hinterhof in: Poesiealbum 134. Bln. 1978, S. 22: »In den Blumenkästen zeugen Pelargonien von begoßner Schönheit und Beständigkeit«), die in Poesie verwandelt werden, dergestalt eine gewöhnl. Beschäftigung der Menschen umkehrend, nämlich »Außergewöhnliches in Alltag« zu »verwandeln« (Es ist höchste Eisenbahn. Rheinsberg 2005, S. 12). Von Anfang an artikuliert sich das Unbehagen über die hergebrachte u. auch in der DDR fortbestehende Ungleichheit der Geschlechter (vgl. den Leitfaden zur Emanzipation in: Leben auf der Kippe. Bln./Weimar 1984, S. 74: »Unsere Revolution ist Kohlen schleppen«). Es sind »Gedichte, die sich entschieden dem Utopischen verweigern« u. die »Unbehaustheit des Ichs« in einer »bedrohlichen Lebenswelt« thematisieren (Ursula Heukenkamp). Eine zentrale Bezugsfigur wurde für S. »Caroline Michaelis, Böhmer, Schlegel, Schelling«, deren Suche nach einem genuin weibl. Selbstentwurf im Patriarchat S. eine zwischen 1973 u. 1987 entstandene, aus Momentaufnahmen komponierte poetische Biografie widmete, in der das spezielle Interesse dem »Zusammenhang zwischen [...] Erotik und Politik« galt (Caroline unterm Freiheitsbaum. Bln./Weimar bzw. Darmst./Neu-

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wied 1988. Ffm. 1991. Bln. 2002). Die eigene Entwicklung ist das Thema der »RückSichten« genannten Prosastücke des in den 1980er Jahren begonnenen Bands In vollen Zügen (Bln. 1994). Die so genannte Wende unterstützte S. als Mitgl. des ›Neuen Forums‹, wie sie sagt, »auf der Straße«. S. ist überzeugt davon, dass keine Repression auf Dauer bestehen kann (Leben auf der Kippe, S. 68: »Alle Mauern sind Schnee / [...] Selbst der strengste Winter hat Angst vor dem Frühling«). Für S. ist Dichtung ein Mittel, sowohl der Herkunft zu entkommen (ebd., S. 60: »In kleinen Räumen bin ich groß geworden, [...] bin ich hochgeflogen, [...] sprach ich große Worte, [...] ließ ich Türen offen«) als auch die Realität zu verändern (Es ist höchste Eisenbahn, S. 14: »Die Wirklichkeit ist der Schatten des Wortes«). Ursprung u. Thema der Literatur ist für S. das ungeplante Leben. »Die Spontanität steht am Anfang – sie ist nicht kalkulierbar. Leben ist eben nicht kalkulierbar, sondern ein Stoff, aus dem auch Träume genährt werden.« Weitere Werke: Blindband. Illustriert v. Sabine Herrmann. Bln. 1988 (L.). – Der wild gewordene Tag. Bln./Weimar 1989 (L.). – Rittersporn. Illustriert v. Katharina Kranichfeld. Bln. 1995 (L.). – Zugzwang. Gedichte u. Prosa. Bamberg 2001. – Die Linde am Rhin. Illustriert v. Karl-Georg Hirsch. Lpz. 2006 (L.). – Märzreise u. weitere Gedichte. Illustriert v. K.-G. Hirsch. Lpz. 2009 (L.). – Übersetzungen: Marusˇa Krese: Yorkshire-Tasche. Klagenf. u. a. 2003 (L.). – Nachdichtungen in: Schönes Babylon. Gedichte aus Europa in zwölf Sprachen. Hg. Gregor Laschen. Köln 1999. – Süß ist es zu leben. Tschech. Dichtung v. den Anfängen bis 1920. Ausgew. u. komm. v. Ludvík Kundera u. Eduard Schreiber. Mchn. 2006. – Herausgaben: Frank Wedekind: Greife wacker nach der Sünde (zus. mit Antonie Günther). Bln./Weimar 1973. – Smoking braucht man nicht. Moskauer Skizzen 1918–1932 (zus. mit A. Günther). Bln./Weimar 1975. – Franz C. Weiskopf: Das Eilkamel. Bln./Weimar 1978. – Thomas Theodor Heine: Ich warte auf Wunder. Bln./DDR 1984. – Auf wieviel Pferden ich geritten... Der junge Friedrich Wolf. Eine Dokumentation (zus. mit Emmi Wolf). Bln./Weimar 1988. – Elke Erb: Nachts, halb zwei, zu Hause. Texte aus drei Jahrzehnten. Lpz. 1991. – Was über dich erzählt wird (zus. mit Richard Pietraß). FS Elke Erb. Bln. 1998.

365 Literatur: Ursula Heukenkamp: [S.]. In: Frauen Lit. Gesch. (1985). Hg. Hiltrud Gnüg u. Renate Möhrmann. Stgt. 21999, S. 337 f. – Dorothea Gelbrich: ›Was ich gebe, sind Winke‹. In: DDR-Lit. im Gespräch. Hg. Siegfried Rönisch. Bd. 3, Bln 1986, S. 250–259. – Marieluise de Waijer-Wilke: Gespräch mit B. S. In: Dt. Bücher 18 (1988), H. 4, S. 249–259. – Dorothea Böck: Ein Weib v. schärfstem Verstand. In: NDL 37 (1989), H. 8, S. 150–154. – Hannes Krauss: Alltagskonturen großer Lebensversuche: Anmerkungen zu ›Caroline unterm Freiheitsbaum‹ v. B. S. In: WB 36 (1990), H. 1, S. 172–174. – Ders.: Die Kunst zu erben – zur romant. Rezeption (nicht nur) romant. Lit.: Über Sigrid Damm, Christa Moog u. B. S. In: Neue Ansichten. The reception of romanticism in the literature of the GDR. Hg. Howard Gaskill u.a. Amsterd./Atlanta 1990, S. 41–52. – Eva Kaufmann: Zur Verleihung des Feuchtwanger-Preises an B. S. In: Das Argument 34 (1992) H. 2, Nr. 192, S. 239–241. – Doris Koller: Biogr. Schreiben u. Selbstreflexion. Frauen der Romantik in Lebensbeschreibungen v. Schriftstellerinnen der DDR. Regensb. 1994, passim. – Laura McGee Jackson: S., In vollen Zügen. In: Focus on Literature 2 (1995), H. 2, S. 207–210. – Birgit Waberski: Die großen Veränderungen beginnen leise. Lesbenlit. in der DDR u. den neuen Bundesländern. Bln. 1997, S. 252–259. – Anne Lequy: ›unbehaust‹? Die Thematik des Topos in Werken wenig(er) bekannter DDR-Autorinnen der siebziger u. achtziger Jahre. Eine feminist. Untersuchung. Ffm. 2000, S. 178–180, 379–385, 452, 595. – E. Kaufmann: Aussichtsreiche Randfiguren. Neubrandenburg 2000, S. 28–36, 167–169. – Wulf Kirsten: B. S. In: Kosch 21 (2001), Sp. 157 f. – Simon Ward: ›Zugzwang‹ oder ›Stillstand‹? – Trains in the Post-1989 Fiction of B. S., Reinhard Jirgl and Wolfgang Hilbig. In: Recasting German Identity. Hg. Stuart Taberner u. Frank Finlay. Rochester u. a. 2002, S. 173–189. – Helen Bridge: Women’s Writing and Historiography in the GDR. Oxford 2002, S. 154–166. – Gerrit-Jan Berendse: B. S. In: KLG. – Eva Kaufmann: B. S. In: Metzler Lexikon DDR-Literatur. Hg. Michael Opitz u.a. Stgt./Weimar 2009, S. 332 f. Arnd Beise

Stubenberg, Johann Wilhelm von, * 22.4. 1619 Neustadt an der Mettau/Böhmen, † 15.3.1663 Wien. – Übersetzer. S. entstammte einem alten steiermärk. Adelsgeschlecht. Er erlebte eine unruhige Jugend, bedingt einerseits durch den frühen u. gewaltsamen Tod des Vaters u. andererseits durch die im Zuge der Gegenreformation

Stubenberg

nach der Schlacht am Weißen Berg (1620) verstärkt einsetzende Verfolgung der österr. Protestanten durch das Habsburger Kaiserhaus. Seine Erziehung in der protestantischen Landschaftsschule zu Loosdorf u. durch Hauslehrer wurde standesgemäß mit einer mehrjährigen Kavalierstour durch Italien, Frankreich u. die Niederlande beendet, auf der er auch die für seine spätere literar. Tätigkeit wichtigen Fremdsprachenkenntnisse erwarb bzw. vervollkommnete. Erst 1641 konnte er die Erbschaft seines Onkels Georg Stubenberg d.Ä. in Niederösterreich antreten; der väterl. Besitz in Böhmen war konfisziert worden. 1642–1657 führte er auf Schloss Schallaburg bei Steyr das Leben eines gebildeten u. vielseitig interessierten Landedelmannes. Der Entschluss, seinen niederösterr. Besitz zu veräußern u. in protestantisches Gebiet umzusiedeln, ließ sich nicht verwirklichen. S. verbrachte seine letzten Lebensjahre in Wien. S.s literarhistor. Bedeutung liegt nicht in eigenständigen Werken, sondern in seiner umfangreichen übersetzerischen Tätigkeit u. seinen vielfältigen literar. u. persönl. Beziehungen. Außer einer Reihe von Widmungsgedichten ist lediglich eine Abhandlung über Pferdezucht (Norma seu regula armentorum equinorum, recte ac perfecte instituendorum [...]. Wien 1662) als selbstständiges Werk zu nennen. Bei den Übersetzungen lassen sich nach der Gattungszugehörigkeit zwei Gruppen unterscheiden: zuerst die, vielfach von Harsdörffer angeregten, Übersetzungen zeitgenöss. ital. u. frz. Romane. Bedeutend sind hier v. a. die Eromena (4 Tle., Nürnb. 1650–52. Nachdr. hg. v. Martin Bircher. 3 Bde., Bern 1989) des Giovanni Francesco Biondi, der Wettstreitt der Verzweifelten (Ffm. 1651) des Giovanni Abrogio Marini u., als Nachzügler, die Clelia der Madeleine de Scudéry (5 Tle., Nürnb. 1664). S. wandte sich später hauptsächlich Schriften zu, die seinen philosophischen Interessen u. pädagog. Intentionen eher entsprachen, obwohl diese auch schon die Auswahl der übersetzten Romane mitbestimmt hatten. Neben die anhaltende Rezeption der Romania traten hier auch Übersetzungen nlat. Traktate Francis Bacons (Getreue Reden: die

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Sitten- Regiments- und Haußlehre betreffend. dro [...]. Nürnb. 1656. – Ferrante Pallavicino: GeNürnb. 1654. Fürtreffliche Staats- Vernunfft- und teutschter Samson [...]. Ebd. 1657. – Charles Sorel: Sitten-Lehrschrifften. Ebd. 1654). S., der mit Von menschl. Vollkommenheit [...]. Ebd. 1660. – seinem Vorbild Harsdörffer u. mit Zesen als G. F. Loredano: Andachten Uber die 15. StaffelPsalmen [...]. Ffm. 1669. – Giovanni Battista einer der bedeutendsten Übersetzer seines Manzini: Dem Weisen ist verboten zu dienen [...]. Zeitalters bezeichnet werden muss, war mit Ffm./Regensb. 1671. allen seinen Übersetzungen bestrebt, einen Ausgaben: Internet-Ed. der ›Norma‹ u. der Beitrag zur Entwicklung des Deutschen als meisten Übersetzungen in: HAB Wolfenbüttel Literatursprache zu leisten, insbes. durch die (dünnhaupt digital). – Sigmund v. Birken: Werke u. konsequente Eliminierung bzw. Eindeut- Korrespondenz. Bd. 9: Der Briefw. zwischen S. v. schung von Fremdwörtern. Birken u. G. P. Harsdörffer, J. Rist, J. G. Schottelius, Das geringe Interesse der österr. Kaiser an J. W. v. S. u. G. v. Windischgrätz. Hg. Hartmut dt. Literatur u. S.s konfessionsbedingte Iso- Laufhütte u. a. 2 Bde. (Texte u. App./Komm.), Tüb. lation in seiner kath. Umgebung ließen ihn 2007. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Kontakte zu Schriftstellern in protestantischen dt. Gebieten suchen. So unterhielt er Bd. 6, S. 3989–4003. – Frank-Rutger Hausmann: intensive Briefwechsel u. auch persönl. Kon- Bibliogr. der dt. Übersetzungen aus dem Italien. v. den Anfängen bis 1730. Bd. 1, Tüb. 1992, Nr. 0042, takte zu Birken u. Harsdörffer, die beide auch 0136, 0602, 0607, 0609, 0642, 0663, 0664, (0851). – durch Anregungen, Manuskriptkorrekturen, Alberto Martino: Die ital. Lit. im dt. Sprachraum die Vermittlung von Verlegerkontakten u. Ä. [...]. Amsterd. u. a. 1994, Register. – VD 17. – Weiaktiv S.s literar. Tätigkeit unterstützten. Seit tere Titel: Martin Bircher: J. W. v. S. (1619–63) u. 1648 der Fruchtbringenden Gesellschaft sein Freundeskreis. Bln. 1968. – Volker Sinemus: (»Der Unglückselige«, FG 500) zugehörig, Poetik u. Rhetorik im frühmodernen dt. Staat [...]. nahm er zu verschiedenen anderen Mitglie- Gött. 1978, Register. – Klaus Conermann: Die dern schriftl. (etwa zu Neumark u. Schotteli- Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellsch. us) oder persönl. Kontakt auf (u. a. 1652 Reise 1617–1650 [...]. Lpz. 1985, S. 627–630. – Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 1167; Tl. 2, S. 1343 f. – Alnach Weimar zu Herzog Wilhelm IV. von brecht Classen: J. W. S. In: German Baroque WriSachsen-Weimar). S. war mit einer Reihe von ters, 1580–1660. Hg. James Hardin. Detroit/Lonprotestantischen Adligen in Österreich be- don 1996 (DLB, Bd. 164), S. 339–343. – Die dt. freundet, die seine literar. Neigungen teilten Akademie des 17. Jh. Fruchtbringende Gesellu. für deren Aufnahme in die Fruchtbrin- schaft. Hg. Klaus Conermann. R. I, Abt. A, Bd. 3, gende Gesellschaft er sich z.T. erfolgreich Tüb. 2003, Register; R. II, Abt. C, Bd. 1–2, Tüb. einsetzte. In dieser kleinen Gruppe österr. 1997, Register. – Stina Rahel Schwarzenbach: Mitglieder (Wolfgang Helmhard von Hoh- ›Stratonica‹ u. ›Demetrius‹. Zwei Barockromane berg, Gottlieb Amadäus von Windischgrätz, ital. u. dt. Eine vergleichende Untersuchung [...]. Bern 2002. – Italo M. Battafarano: Dell’arte di traGeorg Adam von Kuefstein, Christoph Dietdur poesia [...]. Bern 2006, S. 241. – Franz M. Eybl: rich von Schallenberg, Rudolf von Dietrich- Protestant. Autoren aus dem Österr. der Gegenrestein u. a.) zählte er zu den aktivsten, obwohl formation. Wolf Helmhard v. Hohberg, J. W. v. S., ihm der langsame Niedergang der Gesell- Catharina Regina v. Greiffenberg, Johann Beer. In: schaft durchaus bewusst war. Eine wichtige Protestantismus u. Lit. Ein kulturwiss. Dialog. Hg. Rolle spielte S. auch für die junge Catharina Michael Bünker u. a. Wien 2007, S. 395–412. Regina von Greiffenberg, die in seiner unMichael Auwers / Red. mittelbaren Umgebung lebte u. deren Freund, literar. Förderer u. Mentor er war. Stucken, Eduard (Ludwig), * 18.3.1865 Weitere Werke: Übersetzungen: Giovanni Francesco Loredano: Geschicht-reden: Das ist, freywillige Gemüths-Schertze [...]. Nürnb. 1652. – Luca Assarino: König Demetrius [...]. Ebd. 1653. – François de Grenaille: Frauenzimmer Belustigung [...]. Ebd. 1653. – G. F. Loredano: Andachten. Ulm 1654. – Giovanni Abrogio Marini: Printz Kalloan-

Moskau, † 9.3.1936 Berlin. – Dramatiker, Erzähler, Lyriker. S. stammte aus wohlhabendem Elternhaus; sein Vater, ein deutsch-amerikan. Kaufmann, hatte sich in Moskau niedergelassen, wo S. 1873–1876 das Gymnasium besuchte. In

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Stuckenschmidt

Dresden, nach dem Umzug der Familie, einer Zivilisation, der deutl. Affinitäten zu nahm er , mit Unterbrechung durch eine den diffusen Endzeitstimmungen von S.s kaufmänn. Lehre in Bremen, die Schule wie- Gegenwart aufweist. Der vielfach übersetzte der auf u. legte 1886 das Abitur ab. Nach dem Roman wurde zeitweise stark rezipiert; das Militärdienst 1886/87 begann er 1888 in allgemeine Interesse an dem Stoff verdeutBerlin ein Studium, dessen Bandbreite auf die licht auch G. Hauptmanns Drama Der weiße vielfältigen Interessen verweist, die auch S.s Heiland, das ebenfalls aus kulturkrit. Perliterar. Werk beeinflussen: Neben Botanik u. spektive das Ende des Aztekenreichs gestalGeologie widmete er sich insbes. oriental. u. tet. amerikan. Sprachen. 1890/91 nahm S. an eiWeitere Werke (Erscheinungsort jeweils Bln.): ner wissenschaftl. Orientexpedition teil, die Wisegard. 1895 (D.). – Yrsa. 1897 (D.). – Balladen. ihn (u. a. über Ephesus u. Pergamon) in das 1898 (L.). – Lanvâl 1903 (D.). – Die Gesellsch. des syr. Sendschirli führte. S.s Interesse am Alten Abbé Châteauneuf. 1909 (D.). – Lanzelot. 1909 (D.). Orient prägt auch seine umfangreichste wis- – Astrid. 1910 (D.). – Romanzen u. Elegien. 1911 senschaftl. Arbeit, die fünfteilige Monographie (L.). – Merlins Geburt. 1913 (D.). – Die Hochzeit Adrian Brouwers. 1914 (D.). – Das Buch der TräuAstralmythen der Hebräer, Babylonier und Ägypter me. 1916 (L.). – Tristram u. Ysolt. 1916 (D.). – Das (Lpz. 1896–1907). In ihr versucht S., Sagen- verlorene Ich. 1922 (D.). – Vortigern. 1924 (D.). – motive verschiedener Kulturkreise astrono- Lariòn. 1926 (R.). – Im Schatten Shakespeares. 1929 misch zu deuten (ähnlich geht er auch in der (R.). – Giuliano. 1933 (R.) – Die Insel Perdita. 1935 Abhandlung Der Ursprung des Alphabets und die (L.). – Die segelnden Götter. 1937 (E.). – Gedichte. Mondstationen [Lpz. 1913] vor). 1938 (L.). Seine literar. Laufbahn begann S. als DraLiteratur: Edith Gmainwieser: E. S.s dramat. matiker. Am Beginn einer Reihe von neuro- Kunstwerk. Wien 1938. – Ingeborg Carlson: E. S. mant. Gralsdramen steht das »Mysterium in Eine Monogr. Diss. Erlangen-Nürnb. 1961. – Dies.: fünf Akten« Gawân (Bln. 1901). In dem ur- E. S. (1865–1936). Ein Dichter u. seine Zeit. Bln. sprünglich auf zwölf Teile angelegten, später 1978. – Ursula Schulze: Lanzelot im Jugendstil. E. auf acht Stücke beschränkten Zyklus (Ge- S.s dramat. Bilder der Artus- u. Gralswelt. In: MARezeption. Hg. Jürgen Kühnel. Göpp. 1982, samtausgabe: Der Gral, ein dramatisches Epos. S. 573–588. – Bettina Hey’l: Geschichtsdenken u. Bln. 1924) greift S. auf zentrale Elemente der literar. Moderne. Zum histor. Roman in der Zeit Artussage zurück, v. a. auf die angelsächs. der Weimarer Republik. Tüb. 1994, S. 161–172. – Tradition von Malorys Le Morte D’Arthur, die Matthias E. Kornemann: Vom Astralmythos zum durch Tennysons Idylls of the King, aber auch Roman. Gestalt u. Verwandlung des Motivs im durch die Kunst u. Dichtung der Präraffaeli- Roman E. S.s. Glienicke/Bln. 1998. – Brunhild E. ten populär geworden war. S. interessiert an Blum: Mythos im Historismus. Zum Verständnis v. dem Stoff bes. der Gegensatz zwischen Gut u. Raum u. Zeit bei E. S. Wien/Mülheim (Ruhr) 2009. Christopher Meid Böse, der in den Dramen jeweils unterschiedlich dargestellt wird; eine Auflösung scheint jedoch erst in ferner Zukunft mögStuckenschmidt, Hans Heinz, * 1.11. lich. Trotz etlicher erfolgreicher Aufführun1901 Straßburg, † 15.8.1988 Berlin. – gen einzelner Dramen, u. a. auf den ReinMusikwissenschaftler u. -kritiker. hardtbühnen, konnten sich S.s mythisierende, höchst artifizielle MA-Imaginationen Der Offizierssohn schrieb bereits mit 19 Jah(wohl auch wegen ihrer komplexen, nicht ren als Berliner Korrespondent Musikkritiselten verworrenen Verssprache) nicht dau- ken für die Prager Zeitschrift »Bohemia«. In erhaft behaupten. den folgenden Jahren lebte er als freier MuEinen großen Erfolg konnte S. mit dem sikkritiker in Hamburg, Berlin, Wien, Paris u. Roman Die weißen Götter verbuchen (Bln. Prag, wo er die Avantgarde der europ. Musik 1917–22), der die Eroberung Mexikos durch von Satie über Milhaud bis zu Janácˇek u. den Konquistadoren Hernán Cortés darstellt. Strawinsky kennenlernte. Gemeinsam mit Unter dem Eindruck der Katastrophe des Josef Rufer leitete er 1923/24 den KonzertErsten Weltkriegs schildert S. den Untergang zyklus »Neue Musik« in Hamburg, 1927/28

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die Konzerte der Berliner Novembergruppe. derte ›Amerikanisierung‹ des Musikkritikers H. H. 1929 wurde er Nachfolger von Adolf Weiss- S. In: America on my mind. Hg. Alexander Stephan mann bei der »B. Z. am Mittag«. Von bes. u. Jochen Vogt. Mchn. 2006, S. 123–132. – Frank Bedeutung war für S. die Begegnung mit Böhme: H. H. S. In: Hamburgische Biogr. Hg. Franklin Kopitzsch u. Dirk Brietzke. Bd. 4, Gött. Schönberg, an dessen Berliner Analyse-Semi2008, S. 340 f. – Werner Grünzweig u. Christiane naren er 1931/32 als Gasthörer teilnahm. Niklew (Hg.): H. H. S. Der Deutsche im KonzertHöhepunkt der nun einsetzenden lebenslan- saal. Hofheim am Taunus 2010. gen Beschäftigung mit dem Komponisten ist Peter König / Red. die große Biografie Arnold Schönberg (Zürich 1951. Erw. 1974), in der erstmals dessen Stuckrad-Barre, Benjamin von, * 27.1. Nachlass ausgewertet u. zahllose Dokumente 1975 Bremen. – Journalist, Schriftsteller. u. Quellen nutzbar gemacht wurden. Das Engagement für die neue Musik u. für S.-B. wurde als jüngstes von vier Geschwisjüd. Musiker hatte 1934 Schreibverbot zur tern einer Pastorenfamilie in Bremen geboFolge, dem sich S. durch Übersiedlung nach ren. Bereits während der Schulzeit in GötPrag zunächst entziehen konnte. Nach dem tingen schrieb er für eine Stadtzeitung u. Zweiten Weltkrieg war er Leiter der Abtei- wirkte bei der Organisation eines Literaturlung »Neue Musik« beim RIAS Berlin; 1947 festivals mit. Nach dem Abitur 1994 begann wurde er Musikkritiker der »Neuen Zei- er ein Germanistikstudium in Hamburg, das tung«. Wieder gemeinsam mit Josef Rufer er bald wieder abbrach. Stattdessen startete er gab er die Zeitschrift »Stimmen« (1947–50) seine journalistische Karriere in Form von heraus. 1955 erhielt er eine Professur für diversen Praktika, u. a. bei der Tageszeitung »taz«. 1995 wurde er Redakteur des MusikMusikgeschichte an der TH Berlin. S. begleitete die Entwicklung der Musik magazins »Rolling Stone«; 1996 erhielt er als Produktmanager des Labels »Motor Music« eines ganzen Jahrhunderts. In unzähligen weitere Einblicke in das Musikbusiness, die Musikkritiken bekämpfte er die Standardier später literarisch verarbeitete. 1997 zog S.sierung des Musikgeschmacks u. versuchte, B. nach Köln, um dort für Friedrich Küpdas ästhetische Bewusstsein des Publikums persbusch u. Harald Schmidt zu arbeiten. für die spezif. Qualitäten der neuen Musik zu Daneben schrieb er weiterhin für verschiedeschärfen. Dazu kamen geschichtl. Darstelne Zeitungen u. Zeitschriften. lungen der Schöpfer der neuen Musik (Ffm. Der literar. Durchbruch gelang S.-B. 1998 1958) u. Biografien zu Boris Blacher (Bln. 1963. mit dem Roman Soloalbum (Köln), der die Erw. 1985) u. Maurice Ravel (Ffm. 1966), die – jüngste deutschsprachige Popliteratur bewie auch die Schönberg-Biografie – weniger gründete u. S.-B. zum bekanntesten u. ummusikwissenschaftl. Werkanalysen vorlegen strittensten Vertreter dieser Strömung als die Spiegelung der Persönlichkeit im machte. Die Lesereise mit seinem ersten Buch Werk aufdecken wollen. verarbeitete er in der Erzählung Livealbum Weitere Werke: Musik des 20. Jh. Mchn. 1969. (ebd. 1999). Im selben Jahr brachte er zum – Die Musik eines halben Jh. 1925–76. Ebd. 1976 ersten Mal eine Sammlung seiner journalis(Ess.). – Zum Hören geboren. Ein Leben mit der tischen Arbeiten aus den Jahren 1996–1999 Musik unserer Zeit. Ebd. 1979 (Autobiogr.). – heraus (Remix. Ebd.), wirkte als Mitgl. des Schöpfer klass. Musik. Bln. 1983. ›popkulturellen Quintetts‹ (mit Joachim BesLiteratur: Aspekte der neuen Musik. Prof. H. sing, Christian Kracht, Eckhart Nickel u. H. S. zum 65. Geburtstag. Kassel 1968. – Christian Alexander von Schönburg) an dem GeMartin Schmidt: Protokoll im ›Leverkuehn Case‹. sprächsprotokoll Tristesse Royale (Bln.) mit u. Arnold Schönberg versus Thomas Mann nebst einer krit. Dokumentation zu dessen Darstellung durch wechselte zu den »Berliner Seiten« der den Schönberg-Biographen H. H. S. In: Musik u. »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Diese Biogr. Hg. Cordula Heymann-Wentzel u. Johannes verließ er jedoch bald wieder, um den ErLaas. Würzb. 2004, S. 425–442. – Jessica Gienow- zählband Blackbox. Unerwartete Systemfehler Hecht: Hier sprechen die Steine nicht. Die verhin- fertigzustellen, der Ende 2000 (Köln) er-

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schien. 2001 schrieb S.-B. zunächst eine Ko- vokativer, stark polarisierender Akteur der lumne für den »Stern«, arbeitete dann für dt. Literatur- u. Medienszene wahrgenomden »Spiegel«, brachte weitere journalisti- men. Seine Berühmtheit verdankt das mesche Texte u. d. T. Deutsches Theater (ebd.) diale Gesamtkunstwerk S.-B. in erster Linie heraus, wirkte bei TV-Produktionen (Drehar- einer neuartigen Inszenierung von Literatur, beiten, NDR) mit u. moderierte eine wöchentl. in der Lesereisen als multimediale UnterhalTalkshow des Musiksenders MTV (»Lesezir- tungsevents gefeiert werden, u. dem Experikel«). Während er gleichzeitig mit privaten mentieren mit unterschiedlichsten MedienProblemen sowie aggressiven Anfeindungen formen. Inzwischen werden S.-B.s Texte im durch Öffentlichkeit u. Feuilleton zu kämp- Schulunterricht behandelt u. in Hochschulfen hatte, wurde die von ihm praktizierte seminaren erforscht. Durchdringung von Kunst u. Leben immer Weitere Werke: Transkript. Köln 2001. – Am mehr zu einem Problem, da die Grenzen Trallafitti-Tresen. Das Werk v. Udo Lindenberg in zwischen Inszenierung u. Wirklichkeit zu- seinen Texten (hg. u. besprochen v. B. v. S.-B. u. nehmend verschwammen. Ende 2002 zog Moritz v. Uslar). Hbg. 2008. – Tonträger: Liveresich S.-B. daher zunächst nach Zürich, wo er cordings. Mchn. 1999. – Bootleg. Ffm. 2000 (2 für die »Weltwoche« schrieb, und schließlich CDs). – Voicerecorder. Ausgew. Aufnahmen der Blackbox-Tournee. Mchn. 2001. – Deutsches phasenweise ganz aus der Öffentlichkeit zuTheater. Bochum 2002. – B. v. S.-B. trifft Johannes rück, um seine Kokain- u. Alkoholsucht sowie Brahms. Hbg. 2002. – Autodiscographie. Balladen Depressionen u. Essstörungen zu bekämpfen. vom äusseren Leben. Ffm. 2003. – Festwertspeicher Therapie u. Entzug wurden von der Foto- der Kontrollgesellschaft – Remix 2. Wölpinghausen grafin Herlinde Koelbl begleitet u. sowohl 2004. – B. v. S.-B. liest aus ›Rohstoff‹. Bln. 2004. – fotografisch als auch filmisch dokumentiert. Poesiealbum Udo Lindenberg. Eine Ausw. seiner 2004 meldete sich S.-B. mit der Text- besten Lied-Texte, vorgelesen v. Bryan Adams u. a. sammlung Festwertspeicher der Kontrollgesell- Hg. B. v. S.-B. Köln 2004. – Was.Wir.Wissen. Boschaft – Remix 2 (ebd.), dem Film Ich war hier chum 2005. – Auch Deutsche unter den Opfern. sowie mit Koelbls Dokumentation Rausch und Bochum 2010. – TV-Sendungen: Style. NDR 1999. – Blackbox – Director’s Cut. MTV 2001. Ruhm zurück. 2005 entstanden das Buch Literatur: Markus Tillmann u. Jan Forth: Der Was.Wir.Wissen (Reinb.) u. die Fernsehreihe Pop-Literat als ›Pappstar‹. Selbstbeschreibungen u. »Stuckrad bei den Schweizern«. Nach dem Selbstinszenierungen bei B. v. S.-B. In: Selbstpoetik Umzug nach Frankfurt, wo er 2006 die Sen- 1800–2000. Ich-Identität als literar. Zeichenrecycdung »Nightline« des Radiosenders You-FM ling. Hg. Ralph Köhnen. Ffm. u. a. 2001, moderierte, kehrte S.-B. 2007 nach Berlin S. 271–283. – Moritz Baßler: B. v. S.-B. In: LGL. – zurück u. schrieb zusammen mit Helmut Christoph Deupmann: B. v. S.-B. In: MAutL, Dietl das Drehbuch für dessen Film Berlin S. 727–729. – Ute Paulokat: B. v. S.-B. Literatur u. Mitte. Umfassende Anerkennung u. Achtung Medien in der Popmoderne. Ffm. u. a. 2006. – erwarb er sich 2010 mit den in Auch Deutsche Sandra Mehrfort: Popliteratur. Zum literar. Stelunter den Opfern (Köln) versammelten Repor- lenwert eines Phänomens der 1990er Jahre. Karlsr. 2008. tagen. Ute Paulokat S.-B. verfolgt den Ansatz, sich in das hineinzubegeben, was er untersucht, dabei zu Studentenabenteuer. – In zwei Versionotieren, was er sieht, u. die Dinge durch nen überlieferte mittelalterliche Schwankkommentarlose Beschreibungen für sich erzählung des 13. u. eventuell Anfang sprechen zu lassen, ohne fertige Schlussfol14. Jh. gerungen mitzuliefern. Durch seinen lakon. Humor u. seine präzise Beobachtungsgabe In der anonymen Version A des Schwanks zeichnet er sich als großer Reporter seiner (472 Reimpaarverse, zweite Hälfte des 13. Jh.) Zeit aus. Während man ihm in dieser Rolle erbitten zwei reisende Studenten Unterkunft schon immer viel Talent zusprach, wurde der im Haus einer Familie mit einem Kleinkind Schriftsteller S.-B. hingegen lange als sog. u. einer erwachsenen Tochter, in die sich eiPopliterat diskreditiert u. lediglich als pro- ner der Studenten verliebt. Er schleicht sich

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in ihr Bett, als die Gäste im gemeinsamen Erotik in der dt. Märendichtung. Göpp. 1978, Schlafgemach der Gastgeber untergebracht S. 62–64, 142–145, 366 f. – Hanns Fischer: Studien 2 werden. Sein Freund stellt die Wiege des zur dt. Märendichtung. Tüb. 1983, S. 201, 391 f., Kindes zu seinem Bett, bringt es zum Wei- 417 f. (Bibliogr.) u. ö. – Hans-Joachim Ziegeler: Erzählen im SpätMA. Mchn. 1985, S. 288–296 u. nen, so dass die zum Kind eilende Mutter sich Register. – Rolf Max Kully: Rüdeger v. Munre. In: irrtümlich zu ihm legt u. die plötzl. Leiden- VL. – Peter G. Beidler: Chaucer’s Reeve’s Tale, schaft ihres vermeintl. Gatten genießt. Wäh- Boccaccio’s Decameron, IX, 6, and Two ›Soft‹ Gerrenddessen irrt sich sein von der Tochter zu- man Analogues. In: The Chaucer Review: A Journal rückkehrender Kamerad ebenfalls im Bett of Medieval Studies and Literary Criticism 28 und erzählt dem Hausherrn, den er für den (1994), S. 237–51. – R. M. Kully: S. A. In: VL. Freund hält, sein Liebesabenteuer. Es kommt Ulla Williams / Red. zur Prügelei, doch kann die Frau ihren Gatten überzeugen, dass alles ein Teufelsspuk war. Schlussmoral: Fremde Gäste soll man nicht Studion, Simon, * 6.3.1543 Urach, † nach im eigenen Schlafzimmer beherbergen. dem 19.2.1605 in Maulbronn. – Verfasser In der auf 1450 Reimpaarverse erweiterten, religionspolitischer Schriften, Historiker, zwischen Märe u. Roman anzusiedelnden u. Poet. mit parodistischen Anleihen aus der höf. Dichtung geschmückten Version B eines Rü- Der Sohn eines am Stuttgarter Hof tätigen diger von Munre (um 1300, westl. Mittel- Kochs studierte seit 1561 unter maßgebl. deutschland) wird das Motiv der Überlistung Einfluss Samuel Heylands an der Universität der »huote«-Figur weiter entfaltet. Den Stu- Tübingen u. erwarb dort 1565 die Magisterdenten gelingen weitere Liebesabenteuer mit würde. Nach kurzer Lehrtätigkeit am StuttMutter u. Tochter, zumal die Ehefrau ihrem garter Pädagogium (1565) lebte S. als Ludischließlich völlig verwirrten Mann weisma- magister in Marbach/Neckar, bis er auf Befehl chen kann, dass hier die Kobolde Irregang u. Herzog Friedrichs I. vom 19.2.1605 wegen Girregar (nach denen B auch benannt wird) theologisch heterodoxer Lehren seine schulam Werk waren; vor diesen warnt zum meisterl. Stellung verlor. S. starb als Pfründner des Klosters Maulbronn. Schluss der Dichter. S. sammelte römerzeitl. Altertümer (sie International verbreitet ist das Motiv der verstellten Wiege; den mhd. Fassungen bes. bilden heute den Grundstock des Römischen nahe sind die frz. Fabliaux De Gombert et des Lapidariums im Württembergischen Landesmuseum Stuttgart) u. verband seine Nachdeux clers u. Le meunier et les deux clers. Ausgaben: Studentenabenteuer A: Wilhelm Steh- richten über aktuelle Funde mit Darlegungen mann: Die mhd. Novelle vom S. Bln. 1909. Nachdr. zur württembergischen Herrschergeschichte New York 1970 (krit. Ausg.). – Hanns Fischer: (Vera origo illustrissimae domus Wirtembergicae Schwankerzählungen des dt. MA. Mchn. 1967, cum venerandae antiquitatis Romanis in agro S. 132–141 (nhd. Übertragung). – Manfred Lem- Wirtembergico conquisitis et explicatis monumenmer: Deutschsprachige Erzähler des MA. Lpz. tis. 1597. Stuttgart. LB. Cod. hist. 28 57; 1977, S. 161–171. – Paula Hefti (Hg.): Codex Zweitfassung: Ratio nominis et originis [...] ilDresden M 68. Bern/Mchn. 1980, S. 88–102. – Stu- lustrissimae domus Wirtembergicae fideliter inquidentenabenteuer B: Friedrich Heinrich v. der Hagen: sita. 1597. Cod. hist. 28 137). Seine VerwurGesammtabenteuer. Bd. 3, Stgt./Tüb. 1850. Nachzelung in der späthumanistischen Formkuldr. Darmst. 1961, S. 43–82. tur verdeutlichen manche Casualdichtungen, Literatur: Stehmann, a. a. O. – Theodore M. darunter eine Elegia auf den Tod von Johann Andersson: Rüdiger v. Munre’s ›Irregang u. GirreBrenz (In: Jakob Heerbrand: Oratio funebris, de gar‹: a courtly Parody? In: PBB 93 (1971), S. 311–350. – Frauke Frosch-Freiburg: Schwank- vita et morte [...] Ioannis Brentii. Tüb. 1570), u. mären u. Fabliaux. Göpp. 1971, S. 119–128. – Ste- handschriftlich gebliebene Werke: ein Großphen L. Wailes: Students as Lovers in the German poem von über 10.000 Hexametern (1575; Fabliau. In: Medium Aevum 46 (1977), S. 196–211, entstanden anlässlich der Vermählung Herhier S. 196–199. – Heribert Hoven: Studien zur zog Ludwigs von Württemberg) sowie eine

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Ekphrasis in Distichen (Spottgedicht auf Papst u. Mönchtum). Aufmerksamkeit wurde S. in der neueren Historiografie vorab aufgrund seiner handschriftlich gebliebenen Naometria (Tempelmesskunst) zuteil, einem Herzog Friedrich 1596 u. 1604 in unterschiedl. Fassung überreichten Werk (Stuttgart. LB. Cod. theol. 28 34. Cod. theol. 48 22ab; Ms. HB XI 42 [»Tobiae Hessi et Studionis Prophetica«]: Naometria-Auszüge u. Brief S.s an Heß). In den Bahnen der chiliastischen Drei-Reiche-Lehre Joachims von Fiore belehrt S. mittels einer »mystischen Arithmetik« (Anonymus, 1783, S. 522) bzw. gewisser Zahlen- u. Zeitrechnungen über endzeitl. Geschehnisse (Ankunft Christi, Zeitalter des Hl. Geistes, Letztes Gericht) u. eine vom göttl. Strafgericht ausgenommene Societas von Gott Auserwählter, der Kreuzgezeichneten (»cruce signati«). Dieses Zeugnis eines »politisch brisanten Chiliasmus«, in dem sich S. neben M. Luther als ein endzeitl. Zeuge inszenierte u. Herzog Friedrich »eine führende Rolle bei der Tötung des Papstes zuschrieb« (Brecht, 1988, S. 31), war dem paracelsistischen Juristen Tobias Heß bekannt, der neben J. V. Andreae u. Christoph Besold bei der Entstehung der rosenkreuzerischen Reformschriften in Tübingen eine wichtige Rolle spielte, sodass man in S.’ »cruce signati« bzw. »Militia Crucifera Evangelica«, bei S. Anhänger der Reformen eines Luther u. U. Zwingli, Vorgänger der fiktiven Rosenkreuzerbruderschaft meinte erblicken zu dürfen. – S. gehört zum Personenarsenal in Walter Ummingers Briefroman Das Winterkönigreich (Stgt. 1994). Weitere Werke: Casualien (Trostgedichte, Hochzeitscarmina) aus den Jahren 1563, 1564, 1583 u. 1586 (siehe VD 16). – Brief an Michael Mästlin (Stuttgart. LB. Cod. math. 48 14b, Bl. 59a60b). Ausgaben: Segebrecht (1999), S. 247–252: Elegia auf den Tod von J. Brenz (1570). – Antiphonaire de la Rose-Croix. Kassette 4. Le Tremblay-Omonville 2000 (Motette v. Johann Brauhart aus der Naometria). Literatur: Wilhelmus ab Indagine: Neue Erläuterungen, die Gesch. der Rosenkreuzer u. Goldmacher betreffend. In: Wirtembergisches Repertorium der Litteratur. Stgt. 1783, Stück 3, Nr.

Stürzer IX, S. 512–559, hier S. 521–528. – Theodor Schmid: Ein literar. Fund vom Kloster Alpirsbach. In: Bl. für Württemberg. Kirchengesch. N. F. 18 (1914), S. 85–94 (mit Ekphrasis-Textprobe in dt. Übers.). – Arthur Edward Waite: The Brotherhood of the Rosy Cross Being Records Of The House Of The Holy Spirit In Its Inward And Outward History. London 1924 (Nachdr. Secaucus, New Jersey 1973), S. 39–54, 639–643. – Walter Hagen: Magister S. S. Lat. Dichter, Historiker, Archäologe u. Apokalyptiker 1543-? (frühestens 1605). In: Schwäb. Lebensbilder 6 (1957), S. 86–100. – Frances A. Yates: The Rosicrucian Enlightenment. London 1972, S. 33–35. – Will-Erich Peuckert: Das Rosenkreutz. Mit einer Einl. hg. v. Rolf Christian Zimmermann. 2., neugefaßte Aufl. Bln. 1973 (Pansophie. Tl. 3), s.v. – John Warwick Montgomery: Cross and Crucible. Johann Valentin Andreae (1586–1654) Phoenix of the Theologians. Bde. 1/2, The Hague 1973, s.v. – Roland Edighoffer: RoseCroix et société idéale selon Johann Valentin Andreae. Bde. 1/2, Paris 1982/87, s.v. – Martin Brecht: Chiliasmus in Württemberg im 17. Jh. In: PuN 14 (1988), S. 25–49, hier S. 30–32. – Eberhard Kulf: Der Marbacher Lateinschullehrer S. S. (1543–16?) u. die Anfänge der Württemberg. Archäologie. In: Ludwigsburger Geschichtsbl. 42 (1988), S. 45–68. – Reinhard Breymayer: Das ›Königliche Instrument‹. Eine religiös motivierte meßtechn. Utopie bei Andreas Luppius (1686), ihre Wurzeln beim Frührosenkreuzer S. S. (1596) u. ihre Nachwirkung beim Theosophen Friedrich Christoph Oetinger (1776). Mit einem unbeachteten Fragment eines Briefes v. Johannes Kepler. In: Das Andere wahrnehmen. Beiträge zur europ. Gesch. August Nitschke zum 65. Geburtstag gewidmet. Hg. Martin Kintzinger u. a. Köln 1991, S. 509–532, hier S. 528–531. – Tübinger Epicedien zum Tod des Reformators Johannes Brenz (1570). Hg. Wulf Segebrecht. Ffm. 1999, S. 149–156. Joachim Telle

Stürzer, Rudolf, * 19.9.1865 Udine, † 5.1. 1926 Wien. – Journalist u. Erzähler. S. wurde als Sportjournalist u. durch seine Mitarbeit in dem meistgelesenen Witzblatt der österreichisch-ungarischen Monarchie, der »Muskete«, bekannt. In einer Reihe von Erzählungen u. Skizzen, als deren gelungenste Die Lamplgasse (Wien 1921) hervorzuheben ist, porträtierte er Wiener Kleinbürger, v. a. aus der Vorstadt, mit ihrem typischen Idiom. S. verfestigte in seinen humorvollen Erzählungen das Klischee vom leichtlebigen

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Wiener mit seiner Freude an ird. Genüssen u. Spottsucht, vermischt mit dem Hang zur Sentimentalität. Den Werken sind Übersetzungen der Wiener Mundartausdrücke nachgestellt; ein Wörterbuch der Wiener Mundart, an dem S. in seinen letzten Lebensjahren arbeitete, wurde nicht vollendet. Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Wien): Weaner u. Wiener. 1917 (E.en). – Alles für die Katz u. sechs andere Wiener Dummheiten. 1919 (E.en). – Auf stolzen Rossen. 1922 (E.en). – Der tote Hund u. a. lustige Gesch.n. 1923. – Lustige Gesch.n aus dem Wiener Leben. 1924. – Schwankende Gestalten. 1926 (E.en). – Seht’s Leutln, so war’s. Hg. Hugo Greinz. 1941. Literatur: Irene Nawrocka: R. S. In: ÖBL. Gerald Leitner / Red.

Stumpf, Johannes, * 23.4.1500 Bruchsal, † 1577/78 Zürich. – Reformierter Pfarrer, Historiograf. Der Sohn eines Gerbers u. Schultheißen studierte nach Schulbesuchen u. a. in Landau u. Straßburg ab 1519 in Heidelberg u. wurde 1521 Johanniter. Nach der Priesterweihe war er ab 1522 Prior des Johanniterhauses u. Pfarrer in Bubikon. Hier schloss er sich der Reformation an. Der Freund Zwinglis u. Bullingers wurde 1532 zgl. Dekan des Kapitels von Oberwetzikon, 1543 Pfarrer von Stammheim u. 1548 zgl. Dekan des Kapitels Stein am Rhein. 1562 zog er sich nach Zürich zurück. Der Chronist Heinrich Brennwald, dessen Tochter er 1529 heiratete, weckte S.s Interesse für die Schweizer Geschichte. S. setzte dessen Schweizer Chronik fort u. ergänzte sie durch eine Reformationschronik (bis 1534, handschriftlich; darin die früheste Biografie Zwinglis). Nach Darstellungen des Abendmahlstreits zwischen Luther u. Zwingli (handschriftl. 1538. Hg. Fritz Büsser. Zürich 1960) u. des Konstanzer Konzils (Des [...] Conciliums zu Costentz gehalten, kurtze [...] beschreybung [...]. Ebd. 1541) erschien S.s grundlegendes historisch-topograf. Werk Gemeiner loblicher Eydgnoschafft Stetten, Landen und Völckeren Chronick wirdiger thaaten beschreybung (ebd. 1547. Auszug ebd. 1554 u. d. T. Schwytzer Chronica [Internet-Ed. in: VD 16]; mit der

Reformationschronik. Hg. Ernst Gagliardi u. a. 2 Bde., Basel 1953–55). Es folgte 1556 Keyser Heinrychs des vierdten [...] Historia (ebd.). 1563 erschien ein Traktat Vom jüngsten tag (ebd.) u. 1573 in Basel eine Sammlung von Lobsprüchen auf die 13 Orte der Eidgenossenschaft (Die dryzehen Ort, der loblichen Eydgnosschafft. Hg. Jacob Bächtold. Zürich 1890). Ausgaben: Ein Reiseber. des Chronisten J. S. aus dem Jahr 1544. Hg. Hermann Escher. Basel 1884. – Gemeiner loblicher Eydgnoschafft Stetten. Zürich 1547/48. Nachdr. 2 Bde., Winterthur 1975. – Germania Teytschland, die ander Landtafel des anderen bu8 chs. Zürich 1547. Nachdr. mit Begleittext v. Franz Wawrik. Braunschweig 2007. – Landtafeln (Zürich 1548). Der älteste Atlas der Schweiz. Nachdr. hg. v. Arthur Dürst. Langnau am Albis. 1975. – Landtaflen [...]. Zürich 1556. Internet-Ed. in. VD 16. – Sammelband enthaltend zumeist Briefe u. Aktenstücke aus dem Besitz von J. S., Joh. Rud. S. u. ihren Nachkommen. Zürich 2005 (Mikrofilm). Literatur: Bibliografien: Kosch, Bd. 21, Sp. 232–234. – VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Attilio Bonomo: J. S., der Reformator u. Geschichtsschreiber. Genua 1923 (mit der nach 1564 entstandenen Autobiogr. S.s). – Hans Müller: Der Geschichtsschreiber J. S. [...]. Diss. Zürich 1945. – Maria-Grazia Huber-Ravazzi: Die Darstellung der Umwelt der Eidgenossenschaft in der Zeit v. 1477 bis 1499 in der Berner Chronik des Valerius Anshelm, der Schweizerchronik des Heinrich Brennwald, der Luzerner Chronik des Diebold Schilling u. in der Chronik ›Eydgnoschafft‹ des J. S. Zürich 1976. – Rainer Henrich: Zu den Anfängen der Geschichtsschreibung über den Abendmahlsstreit bei Heinrich Bullinger u. J. S. In: Zwingliana 20 (1993), S. 11–51. – Erich Wenneker: J. S. In: Bautz (mit älterer Lit.). – Wilfried Kettler: Trewlich ins Teütsch gebracht. Lat.-dt. Übersetzungsschrifttum im Umkreis des schweizer. Humanismus. Bern 2002. – Rudolf Gamper: Repräsentative Chronikreinschriften in der Reformationszeit. In: Aegidius Tschudi u. seine Zeit. Hg. Katharina Koller-Weiss u. a. Basel 2002, S. 269–286. – Peter Ziegler: J. S., Prior u. Pfarrer zu Bubikon. In: Jahrheft der Ritterhausgesellsch. Bubikon 71 (2007), S. 6–17. Barbara Könneker / Red.

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Stuppäck, Hermann, auch: Heinrich Sicking, * 28.9.1903 Wien, † 15.12.1988 Salzburg. – Lyriker, Journalist, Verleger, Kulturkritiker u. -politiker.

Sturm Weiteres Werk: Die Rüpelsteiner Krippenschachtel. Kassel 1956 (Weihnachtsspiel). Literatur: Johannes Sachslehner: Ein Mythos wird angeschlossen. Zur Machtübernahme der Nazis im Burgtheater. In: Austriaca (Rouen 1988), H. 26, S. 127–135. – Barbara Hoiß: Alte Größen, neue Vorbilder? Ein Blick auf den Briefw. zwischen H. S. u. Franz Tumler. In: Mitt.en aus dem Brenner-Archiv 26 (2007), S. 103–118.

S. studierte an der Wiener Hochschule für Welthandel; nebenbei betrieb er musikwissenschaftl. Studien bei Alfred Orel. Seit 1922 arbeitete er als Kaufmann. 1931 wechselte er Johannes Sachslehner / Red. zum Journalismus: In der »Oesterreichischen NS-Illustrierten«, dem »Notschrei« u. anderen Postillen publizierte er vornehmlich zur Sturm, Storm, Caspar, Kaspar, Beiname: NS-Kulturpolitik, eine Tätigkeit, die ihn Teutschlandt, * 1475 Oppenheim, † 4.6. schließlich auf den Posten eines Landeskul- 1552 Nürnberg. – Reichsherold. turleiters innerhalb der illegalen Landeslei- Als Sohn eines kurpfälz. Beamten genoss S. tung der österr. NSDAP brachte. Unter seiner wohl eine höhere Schulbildung. 1515 stand er Führung, unterbrochen von insg. fünf Ver- im Dienst des Mainzer Erzbischofs, 1520 erhaftungen, die letzte im April 1936 wegen nannte ihn Karl V. zum »Erenhold genant Hochverrats, planten die »nationalen« Auto- Teutschlandt«, d.h. zu dem Reichsherold, der ren um Jelusich den Ernstfall: Innerhalb von amtierte, wenn sich der Kaiser nicht auf 24 Stunden sollten im Augenblick des »Um- welschem Reichsgebiet befand. Kurz darauf bruchs« alle kulturpolitisch wichtigen Posi- wurde S. von Dürer porträtiert. Landesweite tionen von »zuverlässigen« Kameraden be- Popularität gewann S., als er 1521 für das setzt werden – ein Vorhaben, das im März freie Geleit Luthers zum Wormser Reichstag 1938 in die Tat umgesetzt wurde. Als ver- zu sorgen hatte; die Reise wurde zu einem dienter Parteigänger wurde S. Pressechef der Triumphzug des Reformators. Im Nebenamt NSDAP Wien, 1943 Generalkulturreferent war S. Herold des pfälz. Kurfürsten (seit (seit 1941 dessen Stellvertreter) u. Leiter der 1522) u. Berichterstatter für den Nürnberger Staatlichen Kunstverwaltung. Rat, der ihm nach der Pensionierung 1538 Mit zwei Gedichtbänden (Die blauen Hügel. eine Pfründe im Heilig-Geist-Spital gewährWien 1935. Unter dem wachsenden Mond. Mchn. te. 1940) dokumentierte er auch literarisch seine In Schriften zum Zeitgeschehen machte S. unbedingte Unterstützung für den »Erwähl- privilegierte Augenzeugenschaft geltend; am ten« Adolf Hitler. wirksamsten in Warlicher bericht, wie von den 1945 kam S. in ein amerikan. Internie- dreyen Churfürsten [...] Frantz von Sickingen über rungslager; nach seiner Überstellung an die zogen, der Sickingens Ende aus nächster Nähe österr. Behörden wurde er 1947 ohne Ver- schildert. Der Bericht erschien noch im Jahr fahren freigelassen. Bereits 1948 war er Ge- des Feldzugs 1523 in mindestens drei Druschäftsführer des Pilgram Verlags in Linz, der cken in Mainz u. Straßburg u. wurde bis 1626 zur neuen Heimstätte so mancher »Ehemali- aufgelegt. Vier Flugschriften über den ger« wurde. Als Gründer u. Cheflektor des Reichstag zu Augsburg 1530 behandeln leEuropäischen Buchklubs, Mitarbeiter des diglich Zeremoniell u. repräsentative VeranÖsterreichischen Rundfunks u. Präsident der staltungen: Mit seiner Geschichts beschreybung Sommerakademie für Bildende Kunst in (Augsb. 1530) will S. im Vergänglichen das Salzburg sowie Präsident des Salzburger Dauernde, will er Reputation u. Nachruhm Kunstvereins (1961–1976) konnte er das kul- des Herrschers sichern, getreu seinem Amtsturelle Leben in der Zweiten Republik unge- verständnis, das die Herolde als Nachfolger stört mitbestimmen – wohl eines der ex- der antiken »Heroes«, als »gut mittel zwytremsten Beispiele für das Misslingen einer schen den göttern und den menschen«, beehrl. Auseinandersetzung mit der NS-Ver- greift. Seine Berufsauffassung, die er in Magangenheit. ximilians Theuerdank beglaubigt findet, führt

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sein Traktat Eyn kurtzer begriff und anzeygung: wie [...] das ampt, nam unnd bevehle der Erenholden auffkummen (Mainz 1524) programmatisch aus. In Die kleyn fürstlich Chronica [...] biß auff diß letzst Regiment des Rö. Reichs (Straßb. 1544) hat S. seine histor. Kenntnisse u. Bekenntnisse summiert, in einer umfangreichen Sammlung sorgfältig gemalter Wappen hat er den Erfahrungshorizont seines Amts festgehalten. Weitere Werke: Der Fürsten Schatz. Ebenbildt auß göttlicher u. heydnischer geschrifft [...]. Straßb. 1536 (Ausg. eines Spruchgedichts v. Hans Sachs). Ebd. 1538. Internet-Ed. in. VD 16. – Die vier namhaffsten königreich: nemlich des Königs der Teuffel, der Esel, der Menschen, u. der König [...]. Ffm. 1538. Ausgaben: Das Wappenbuch des Reichsherolds C. S. Bearb. Jürgen Arndt. Neustadt/Aisch 1984. – Der Bericht C. S.s über den Feldzug ›dreier Kriegsfürsten‹ gegen Sickingen 1523. Nachdr. hg. v. Wolfgang Reiniger. Bad Kreuznach 2005. – Internet-Ed. etlicher Werke in: VD 16. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Gustav Roethe: K. S: In: ADB. – D. Theodor Kolde: Der Reichsherold C. S. u. seine literar. Tätigkeit. In: ARG 4 (1906/1907), S. 117–161. – Albert Barthelmeß: Der Reichsherold C. S. u. Nürnberg. In: Das Wappenbuch des Reichsherolds C. S., S. 9–16 (Lit. S. 17–19, 37 f.). – Gerhard Markert: Menschen um Luther. Eine Gesch. der Reformation in Lebensbildern. Ostfildern 2008, S. 86–88. Hartmut Kugler / Red.

Sturm, Christoph Christian, * 25.1.1740 Augsburg, † 26.8.1786 Hamburg. – Evangelischer Prediger, Erbauungsschriftsteller.

bibl. Inhalten, namentlich der Erlösungstat Christi, in der Natur eine Quelle göttl. Offenbarung. Die Unterhaltungen mit Gott in den Morgenstunden auf jeden Tag des Jahres (ebd. 1768) wollen mit ihren schlichten Andachten Frömmigkeit als Lebenshaltung im Alltag verankern helfen. Dass S. Kinder zum Zielpublikum verschiedener Erbauungsschriften machte (v. a. Gebete und Lieder für Kinder. Ebd. 1771. Vollständiges Gesangbuch für Kinder von reiferm Alter. Ebd. 1777), zeugt vom pädagog. Anspruch seines Werks. Mit den Unterhaltungen der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu (ebd. 1771) wollte S. zgl. Verstand u. Herz der Leser ansprechen. Sein Hauptwerk Betrachtungen über die Werke Gottes im Reiche der Natur und der Vorsehung auf alle Tage des Jahres (2 Tle., ebd. 1772) war über die Konfessionsgrenzen hinaus anerkannt u. wurde in verschiedene Sprachen übersetzt. Mit der Beschreibung von meist alltägl. Naturgegenständen u. -ereignissen wollte S., indem er naturkundl. Fachwissen hinzufügte, den Leser zur Erbauung u. zur Verehrung des Schöpfergottes anleiten. S.s erbaul. Naturschilderungen verdienen, trotz ihrer religiösen Zielsetzung, im Hinblick auf die in der Goethezeit verbreitete säkularisierte Naturverehrung Beachtung. Weitere Werke: Die Bestimmung des Menschen beym Landleben. Lpz. 1764. – Predigten für Kinder v. reiferm Alter. Ebd. 1771. – Slg. geistl. Gesänge über die Werke Gottes in der Natur. Halle 1774. – Predigten über die Sonntagsepisteln. 4 Tle., ebd. 1774/75. – Gesangbuch für Gartenfreunde u. Liebhaber der Natur. Hbg. 1781. Literatur: Jacob Friedrich Feddersen: C. C. S.s [...] Leben u. Charakter. Hbg. 1786 (mit Schriftenverz.). – HKJL 1750–1800, S. 743 f. Hanspeter Marti / Red.

1761 erlangte S. in Jena den philosophischen Magistergrad u. setzte dann seine Studien in Halle fort, wo er 1763–1765 am Pädagogium Sturm, Johann Christoph, * 3.11.1635 unterrichtete. 1767 wurde er Prediger in Hilpoltstein/Mittelfranken, † 26.12.1703 Halle, 1769 in Magdeburg, 1778 Hauptpastor Altdorf. – Mathematiker, Physiker, an St. Petri in Hamburg. Wegen seiner aufAstronom. klärerischen Predigten wurde er von Johann Melchior Goeze angegriffen. Nach dem Studium in Jena (bei Erhard WeiS. hat sich durch seine meist in mehreren gel) u. Leiden (bei dem Cartesianer Johannes Auflagen erschienenen Andachtsbücher u. de Raei) wurde S. zunächst Landpfarrer. 1669 durch seine Sammlungen geistl. Lieder einen erhielt er die Professur für Mathematik u. Namen gemacht. Schon Der wahre Christ in der Physik an der Universität Altdorf. Er war der Einsamkeit (Halle 1761) erkennt neben den erste Übersetzer der Werke des Archimedes

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ins Deutsche. Nach 1670 schrieb er aber ausschließlich auf Lateinisch. Die nachhaltigste Wirkung erzielte S. durch die erstmalige Einführung von Experimenten in den akadem. Unterricht. Experimente erweitern die Reihe der natürl. Phänomene, zu deren Erklärung dann verschiedene (alte u. neue) Hypothesen unparteiisch gegeneinander abgewogen werden; die jeweils wahrscheinlichste Hypothese wird ausgewählt. Diese Methode der freien, an keine Schule (»Sekte«) gebundenen Auswahl ist der Kerngedanke der »philosophia eclectica«. Die Vorzüge der Eklektik wurden in einer einflussreichen Dissertation von 1679 herausgearbeitet, wobei alle großen Philosophen zu Eklektikern erklärt wurden. Es blieb nicht beim Programm der Eklektik. In seinem (unvollendeten) Hauptwerk führte S. den Prozess der Auswahl am Themenkatalog der gesamten Naturwissenschaft durch. Der probabilistische Ansatz wurde allerdings verlassen; S. hielt schließlich eine demonstrative Gewissheit für erreichbar. Werke: Collegium experimentale sive curiosum. 2 Bde., Nürnb. 1676 u. 1785. – De Philosophia Sectaria et Electiva Diss. Altdorf 1679. – Physica Electiva sive Hypothetica. 2 Bde., Nürnb. 1679 u. 1722. Neudr. Hildesh. 2006 (das Ms. v. Bd. 3 ging verloren). Literatur: Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgesch. mit Hinweisen auf die Philosophieu. Wissenschaftsgesch. Stgt.-Bad Cannstatt 1994, S. 309–357. – Hans Recknagel: Die Nürnberg. Univ. Altdorf u. ihre großen Gelehrten. o. O. [Altdorf] 1998, S. 142–149. – M. Albrecht: J. C. S. In: Ueberweg, Bd. 4/2 (2001), S. 942–947. – Volker Herrmann u. Kai Thomas Platz: Der Wahrheit auf der Spur. J. C. S. (1635–1703). Büchenbach 2003. – Hans Gaab, Pierre Leich u. Günter Löffladt: J. C. S. (1635–1703). Ffm. 2004 (S. 250–328: Primärbibliogr.). Michael Albrecht

Sturm, Johannes, * 1.10.1507 Schleiden/ Eifel, † 3.3.1589 Marlenheim/Elsass. – Humanist u. Schulreformer. Der Sohn eines Rentmeisters der Grafen von Manderscheid besuchte seit 1522 die Schule der Brüder vom gemeinsamen Leben in Lüttich. 1524 wechselte S. (mit Johannes Sleidanus) an das Collegium trilingue in Löwen,

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wo er mit dem dortigen Erasmuskreis, namentlich dem Drucker Dirk Martens, in Verbindung kam. Seit 1529 studierte er in Paris Medizin u. las am Collège de France acht Jahre über Cicero, Demosthenes u. die Dialektik. Gegen 1533 bekehrte er sich zur Reformation u. verwickelte sich in die Bemühungen, Franz I. für sie zu gewinnen. Vor den zunehmenden Verfolgungen floh er 1536 nach Straßburg u. fand bei Bucer Zuflucht. S. erwies sich als idealer Fortsetzer der Reform des Straßburger Schulwesens. Er entwarf für die Bedürfnisse des reformierten Klerus wie der Stadtbürger u. des Adels ein einheitl. städt. Schulwesen, das eine »sapiens atque eloquens pietas« anstrebte u. streng nach (Halb-)Jahresklassen mit lückenlosem zehnjährigen Curriculum durchorganisiert war. Die von S. entwickelte Straßburger Akademie erhielt 1566 ein kaiserl. Privileg zur Verleihung der Grade des Baccalaureus u. Magister artium u. konnte damit Prediger ausbilden. S.s Schulmodell hatte breiten Erfolg. Direkten Anteil hatte er an den Schulprojekten von Schulpforta (1548), Lauingen (1565) u. anderen; in Basel u. Genf, in Kurpfalz, Württemberg u. Braunschweig, aber auch im poln. Krakau (1586 wurden S.s pädagog. Schriften in Thorn ediert) ist sein Einfluss nachweisbar. Im Sinne seines lebensprakt. Bildungsideals suchte S. selbst als Diplomat für die Straßburger Reformation auf Reichstagen u. als Theologe bei Religionsgesprächen zu wirken. Er stand mit hervorragenden Reformatoren u. zahlreichen gelehrten Humanisten (u. a. Budé, Roger Ascham, Ramus) in Verbindung u. korrespondierte mit Fürsten u. Königen, etwa Franz I. u. Elizabeth I. 1555 wurde er vom Kaiser geadelt. Eine Türkenschrift widmete er 1584 Rudolf II. Zahlreiche frz. Protestanten fanden bei ihm Asyl; er mobilisierte sein gesamtes Vermögen u. nahm hohe Darlehen für die Hugenotten auf. Sein entschiedenes Eintreten für die Linie Bucers nach dessen Fortgang aus Straßburg 1548 u. dem Tod des Stettmeisters Jacob Sturm 1553 führte zu seiner Isolierung, sodass er 1581 sein Amt als »rector perpetuus« aufgeben musste u. sich auf sein Gut bei Marlenheim zurückzog.

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S.s umfangreiches publiziertes Werk entspricht den Schwerpunkten seines öffentl. Wirkens. Seine Straßburger Tätigkeit begann 1537/38 mit Gutachten (Rathschlag an die Schulherren) u. Programmen wie De amissa dicendi ratione libri duo sowie De literarum ludis recte aperiendis (1538), denen in den 1540er Jahren oft nachgedruckte Schriften zur Dialektik (De demonstratione dialecticorum partitionum), zur Rhetorik (Dialogi de partitione oratoria), zur Poetik (Scholae in artem Poeticam) u. »Copia verborum« folgten. Diese wurden in der Thorner Ausgabe von 1586 (Institutiones literatae) zusammengefasst. S.s zahlreiche Ausgaben lat. u. griech. Klassiker enthielten als genau bestimmte Teile des Curriculum entsprechende Scholien, Annotationen u. Kommentare. S. edierte Galen (1531), Homer, Aristoteles, Platon, Aischines, Pindar, Hermogenes von Tarsos, Euklid; von den Lateinern v. a. Cicero, Plautus, Horaz. Hinzu kamen v. a. Melanchthons Dialectica (1538) u. Beatus Rhenanus’ Rerum Germanicarum libri tres (1551) mit S.s Vita des Verstorbenen. Unter den vermischten Gelegenheitsschriften fallen neben Werbungen an den Adel, öffentl. Schulen zu besuchen, mehrere »Consolationes« auf, so zum Ableben Jacob Sturms an den Senat Straßburgs 1543 u. zum Tod Johann Christoph Botzheims 1577. Die Kontroversschriften nahmen um 1579 bis 1581 großen Raum ein. Neben Schriften gegen den Straßburger Lutheraner Pappus – namentlich die Antipappi tres (1579) u. die Quarti Antipappi tres partes (Neustadt 1580) – standen solche gegen die Tübinger Professoren Lukas Osiander u. Jacob Andreae. Gegen Letzteren erschienen sie deutsch, so der Vortrab, wahrhaftiger und bestendiger Gegenbericht wider J. Andree Schmidleins Lesterbericht u. die Commonitio oder Erinnerungsschrift (beide Neustadt 1581). Weitere Werke: Neuere Ausgaben: De Literarum ludis recte aperiendis (1538) u. a. In: Die evang. Schulordnungen des 16. Jh. Hg. Reinhold Vormbaum. Gütersloh 1858, Bd. 1/1, S. 653–745. – Classicae Epistolae [...]. Hg. Jean Rott. Paris/Straßb. 1938 (mit frz. Übers.). – Briefe u. Auszüge in: L’Alsace au Siècle de la Réforme, 1482–1621. Nancy 2 1991, S. 257–276. – J. S. (1507–1589). Pädagoge

376 der Reformation. Zwei seiner Schulschriften aus Anlass seines 500. Geburtstages. Lat.-dt. Leseausg. Hg. Bernd Schröder. Jena 2009. – Einzeltitel: De literarum ludis recte aperiendis liber. Straßb. 1538. Nachdr. Straßb. 2007. – Nobilitas literata ad Werteros fratres. Straßb. 1549. – De educatione principum ad Guilhelmus ducem Juliacensis. Ebd. 1551. – Consolatio de morte Erasmi Argentinensis Episcopi. Ebd. 1569. – Ad Philippum comitem Lippianum de exercitationibus Rhetoricis. Ebd. 1575. Literatur: Bibliografien: Charles Schmidt: La vie et les travaux de J. S. Straßb. 1855, S. 314–331. – Jean Rott: Bibliogr. des œuvres imprimées du recteur Strasbourgeois J. S. In: Actes du 95e congrès national des sociétés savantes. Bd. 1, Paris 1975, S. 319–404. – Weitere Titel: C. Schmidt: La vie [...]. s.o. – Ernst Laas: Die Pädagogik des J. S., historisch u. kritisch beleuchtet. Bln. 1872. – Walter Sohm: Die Schule J. S.s u. die Kirche Straßburgs in ihrem gegenseitigen Verhältnis (1530–1581). Mchn. 1912. – Hermann Paasch: J. S.s u. Calvins Schulwesen. Diss. Münster 1915. – Ernst Schwabe: Die Entstehung von J. S.s Ausg. ausgew. Cicerobriefe. In: Jbb. für Klass. Altertum [...] 44 (1919), S. 1–14. – Gerhard Meyer: Die Entwicklung der Straßburger Univ. aus dem Gymnasium u. der Akadmie J. S.s. Ffm. 1926. – J. Rott: L’humanisme et la réforme pédagogique en Alsace. In: Bulletin de l’association G. Budé. 1939, S. 66 ff. – Léon Halkin: Jean S. et le collège Saint-Jérôme de Liège. In: Bulletin de l’institut archéologique Liégeois 67 (1949/50), S. 103–110. – J. Rott: Le recteur strasbourgeois Jean S. et les Protestants français. In: Actes du colloque L’Amiral de Coligny et son temps (Paris, 24–28 octobre 1972). Paris 1974, S. 407–425. – Anton Schindling: Humanist. Hochschule u. freie Reichsstadt. Wiesb. 1977. – Bruno Singer: Die Fürstenspiegel in Dtschld. im Zeitalter des Humanismus u. der Reformation. Mchn. 1979. – James Michael Weiss: The Technique of Faint Praise. J. S.s Life of Beatus Rhenanus. In: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance 43 (1981). S. 291–302. – Thomas A. Brady: La famille Sturm aux XVe et XVIe siècles. In: Revue d’Alsace 108 (1982), S. 29–44. – Ders.: A contemporary German version of J. S.s funeral eulogy of Jacob Sturm. In: Bibl. d’Humanisme et Renaissance 28 (1966), S. 680 f. – Pierre Mesnard: The Pedagogy of J. S. (1507–1589) and its Evangelical Inspiration. In: Studies in the Renaissance 13 (1966), S. 200–219. – Jean François Collange: Philippe Melanchthon et J. S. In: Revue d’histoire et de philosophie religieuses 68 (1988), S. 5–18. – Barbara Sher Tinsley: J. S.s method for humanistic pedagogy. In: Sixteenth century jour-

377 nal 20 (1989), S. 23–41. – Donald Gilman: From Dialectics to Poetics: J. S.s Definition of Dialogue. In: Acta Conventus Neo-Latini Hafniensis. Hg. Rhoda Schnur u. a. Tempe 1994, S. 419–427. – Hans-Josef Krey: J. S. In: Bautz (online mit aktualisierter Bibliogr.). – Jaumann Hdb. – Matthieu Arnold: Le projet pédagogique de J. S. (1507–1589). In: Revue d’histoire et de philosophie religieuses 87 (2007), S. 385–413. – Ders.: J. S. In: NDBA Lfg. 36 (2000), S. 3819–3821. – Ders. (Hg.): J. S. (1507–1589). Rhetor, Pädagoge u. Diplomat. Tüb. 2009. – A. Schindling: Jean Calvin et l’école de J. S. In: Jean Calvin – les années strasbourgeoises (1538–1541). Straßb. 2010, S. 79–92.

Sturm Weitere Werke: Israelit. Lieder. Halle 1867. – Neue Harfenklänge für Israel. Jüd. Poesien. Lpz. 1891. Literatur: Brümmer 6. – A. Freybe: S. In: RE. – Friedrich Wilhelm Trebge: J. S. – ein vogtländ. Heimatdichter. In: Der Heimatbote 42 (1996), 5, S. 10–14. – Friederike Böcher: 300 Jahre J. S. – 190. Geburtstag u. 110. Todestag. In: Thüringer Museumshefte 15 (2006), 1, S. 92–94. – Goedeke Forts. Richard Heckner / Red.

Sturm, Marcelin, eigentl.: Nikolaus S., * 9.7. (6.5.?) 1760 Rötz/Oberpfalz, † 9.12. Heinz Holeczek / Red. 1812 Hiltersried/Oberpfalz. – Dichter u. Komponist volkstümlicher Lieder. Sturm, Julius (Karl Reinhold), auch: J. Der Sohn eines Schusters besuchte das LyzeStern, * 21.7.1816 Köstritz, † 2.5.1896 um in Amberg u. begann anschließend in Leipzig. – Lyriker, Fabeldichter, evangeIngolstadt ein Studium der Rechte, das er jelischer Theologe. Der Pastorensohn S. studierte 1837–1841 in Jena Theologie. Bei seiner anschließenden Hauslehrertätigkeit in Heilbronn lernte er u. a. Justinus Kerner u. Nikolaus Lenau kennen. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Erzieher des Erbprinzen Heinrich XIV. Reuß wurde S. Gymnasiallehrer in Meiningen. 1857 übernahm er das Pfarramt in Köstritz. S. gehört neben Spitta, Knapp u. Gerok zu den bekannteren der als Lyriker hervorgetretenen protestantischen Theologen u. Pfarrer des 19. Jh. In rund 20 Bänden variiert er in immer neuen Ansätzen Motive u. Formen wie das erbaul. Lied (Fromme Lieder. Lpz. 1852. Neue fromme Lieder. Ebd. 1858) u. die Hauspredigt (Hausandacht in frommen Liedern unserer Tage für stille Morgen- und Abendstunden. Ebd. 1866) sowie Natur, Liebe, Vaterland (ebd. 1884). Ähnlich wie diese Sammlung zeigen S.s Gedichte (ebd. 1850. 61891) ein biedermeierl. Naturverständnis, fordern aber auch nachdrücklich die dt. Einheit in einem monarchischen Ständestaat u. mahnen die Besinnung auf dt. Größe z. B. durch den Barbarossa-Mythos an. Trotz gewandten Wortgebrauchs sind S.s Gedichte wenig anschaulich u. von zumeist dünnem Erlebnisgehalt. Er benutzt durchweg tradierte lyr. Formen u. Metren. Als konservativer sozialkrit. Fabelautor trat er mit Spiegel der Zeit in Fabeln (ebd. 1872) u. Neues Fabelbuch (ebd. 1881) hervor.

doch nach vier Jahren abbrach. Da es ihm misslang, seinen Lebensunterhalt in München zu finden, trat er dort ins Kloster der Augustinereremiten ein. Nach dem Theologiestudium 1788 zum Priester geweiht, wirkte er als Collector in Seemannshausen, dann als Prediger in München. 1800 aus Gesundheitsgründen als Vikar ins oberpfälz. Kloster Schönthal versetzt, blieb er nach dessen Säkularisierung 1802 dort als Kooperator u. schließlich Kommorantpriester. S.s einzige literar. Veröffentlichung ist die Sammlung von 23 Liedern in bair. Mundart mit eigenen Melodien. Sie entstanden meist während seiner Studentenzeit, einige aber noch nach 1790. In vielstrophigen, oft derbgrobianischen Knittelversen schildern sie humorig-satirisch u. mit überströmender Bildfantasie ländl. Leben, geißeln adligen u. kirchl. Sittenverfall. Bäuerliche Liebesverse wechseln ab mit Quodlibets; frisch-naive Gesänge, die auch im Volk weite Verbreitung fanden (Der Kirchtag, Die Hölle), mit Liedern, die in barocker Manier Vanitas-Gedanken predigen oder im Stil der Blumauer’schen Travestien mit bibl. Anspielungen operieren. S. steht in einer geistlich-volkstüml. Tradition des bayr. Kulturraums, aus der auch Anton von Bucher, Ferdinand Joly u. Maurus Lindemayr schöpften. Ausgabe: Lieder zum Theil in baier. Mundart. In Musik gesetzt nach den eigenen Melodien des Verf.

Sturm v. dem kgl. Advocaten Giehrl in Neunburg vorm Walde. o. O. 1819. Literatur: Hyacinth Holland: N. S. In: ADB. – Manfred Knedlik: Urwüchsige Sprachgewalt: vor 250 Jahren wurde der Sänger, Dichter u. Komponist M. S. geboren. In: Lit. in Bayern 26 (2010), H. 101, S. 49–51. Reinhard Wittmann / Red.

Sturm, Vilma, auch: Anne Detrois, Luise Fels, Katharina, Antoine Stahl, * 27.10. 1912 München-Gladbach, † 17.2.1995 Bonn. – Erzählerin, Hörspielautorin, Journalistin, Essayistin u. Übersetzerin.

378 Nebenbei. Ffm. 1972. – Achtzig Jahre Krieg u. Frieden. Düsseld. 1991. – Gongschläge. Journalist. Texte aus fünf Jahrzehnten. Mit einem Vorw. v. Hans Bender. Ffm. 1992. – Vorne – wo ist das? Mit Bildern v. Werner Steinbrecher. Weilerswist [2001]. Literatur: Heinrich Böll: Eine heimatlose Katholikin. V. S.s ›Barfuß auf Asphalt [...]‹. In: Ders.: Vermintes Gelände. Köln 1982, S. 209–214. – Mechtild Höflich: V. S. Die Lust, etwas zu verändern. In: Mit Wissen, Widerstand u. Witz. Hg. Christine v. Weizsäcker u. a. Freib. i. Br. 1992, S. 118–131. – Hans-Rüdiger Schwab: V. S. Das Dilemma der Nacktschnecke. In: Eigensinn u. Bindung. Hg. ders. Kevelaer 2009, S. 469–483. Eva Maria Thüne / Red.

Nach dem Abitur studierte S. zunächst in Bonn u. München, gab das Studium aber auf Sturz, Stürz, Helfrich Peter, * 16.2.1736 u. besuchte eine Handelsschule. Ihre Romane Darmstadt, † 12.11.1779 Bremen. – Prou. Erzählungen lassen S.s vaterländ. Gesinsaist. nung erkennen. So bezeichnete sie die Legion Condor als »tapfere Scharen«, die auf »Spa- S., als ältester von zwei Söhnen eines Kabiniens Boden für Freiheit und Gerechtigkeit« nettsekretärs in Darmstadt geboren, erhielt stritten (Ulrike. In: Mädchen und Soldaten. trotz des frühen Todes seines Vaters (1741) Dülmen 1940). Von 1949 an arbeitete sie für eine gediegene Grundausbildung am dortidie »Frankfurter Allgemeine Zeitung«; 1959 gen Pädagog. In Verbindung mit Hofmalern, wurde sie Redaktionsmitglied. bes. Christian Ludwig Frhr. von Löwenstern S.s Reiseessays reflektieren das Zeitgesche- u. Johann Christian Fiedler, lernte S. das hen; sie beruhen auf der genauen Beobach- Zeichnen u. Malen, Fertigkeiten, die er auch tung der Menschen u. ihrer Umgebung (Un- in späteren Jahren noch ausübte. Mit dem terwegs am Rhein, an der Mosel und anderswo. Studium der Kameralwissenschaften u. der Ffm. 1959. Im grünen Kohlenpott. Duisburg Jurisprudenz in Jena (seit 1753), Göttingen 1965. Aufenthalte zwischen Island und Istanbul (seit 1755) u. an der Landesuniversität in sowie hierzuland. Ffm. 1966). Die Schriften der Gießen (seit 1756) strebte S. eine Laufbahn im 1980er Jahre dokumentieren das tiefe christ- öffentl. Dienst an. Er wandte sich dem dilich-humane Empfinden u. Engagement S.s plomatischen Dienst zu u. wurde zunächst (Mühsal mit dem Frieden. Stgt. 1981; mit Vorw. Sekretär beim Baron Johann Wenzel von von Heinrich Böll. Krankenbettaufzeichnungen. Widmann, einem kaiserl. Gesandten an Freib. i. Br. 1988), das dem Milieu gilt, »aus mehreren Höfen im Reich. Als Privatsekretär dem sie stammt, an dem sie hängt, das sie des Kanzlers Adolph Gottlob von Eyben in zum Nachdenken auffordern möchte; trotz Glückstadt kam S. auf Gesandtschaftsreisen aller Rückschläge und Enttäuschungen, die nach Wetzlar wie nach Wien. 1763 unterblieb sie erlebt« (Böll). Die Autobiografie Barfuß auf eine Anstellung in Hessen-Darmstadt, da Asphalt – Ein unordentlicher Lebenslauf (Köln dem Landgrafen das gewünschte Gehalt zu 1981. Mchn. 1985. 41991) gibt Aufschluss hoch war. Über Kontakte zum dän. Hof geüber die polit. Orientierungslosigkeit S.s. In langte S. 1765 nach Kopenhagen, wo er verdem Band Alte Tage (ebd. 1986. Mchn. 1992) trauter Mitarbeiter des Grafen Johann Hartsetzte sich die Autorin mit dem Altern, mit wig von Bernstorff wurde. Zugleich kam er Krankheit u. Schmerz sowie mit ihrem En- hier mit der dt. Dichtergruppe am dän. Hof gagement in der Friedensbewegung ausein- um Klopstock u. Gerstenberg in persönl. ander. Kontakt. Nach dem Tod König Friedrichs V. Weitere Werke: Andrea – irgendwoher. Dül- nahm S. 1768/69 an der Reise des jungen, men 1938. – Die Kreatur. St. Gallen 1953 (E.en). – geisteskranken Nachfolgers Christian VII.

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nach England u. Frankreich teil. Dabei begegnete er Dichtern, Philosophen, Theaterleuten u. Künstlern, u. a. David Garrick, Dr. Johnson, Angelica Kauffmann, der Clairon, Marmontel, Diderot, Helvétius u. d’Alembert. Die Reisekutsche teilte S. mit Struensee, der nach der Entmachtung Bernstorffs die dän. Regierungsgeschäfte leitete u. radikale Reformen durchzusetzen trachtete. Damals erhielt S. die Führung mehrerer Ressorts der Regierung. Als Struensee anfangs 1772 bei der Kopenhagener Palastrevolution gestürzt wurde, gehörte auch S. zu den Verdächtigten. Er wurde für mehrere Monate inhaftiert, dann zwar als unschuldig entlassen, aber nach Oldenburg, dem »dänischen Sibirien«, versetzt. Hier fand S. seine letzte Anstellung. Mit Eingaben u. auf verschiedenen Reisen suchte er sich zu rehabilitieren u. seine Stellung zu verbessern. Glücklich war seine Ehe mit Sara Sophie Wilhelmine, geb. Mazar de la Garde, einer Dänin frz.-schweizerischer Herkunft. In Bremen, wo er unerwartet auf einer Dienstreise starb, dankte er noch auf dem Totenbett brieflich seiner Frau für das ehel. Glück. Von drei Kindern war eines kurz zuvor an der Pockenimpfung gestorben, eines wurde erst nach seinem Tod geboren. Neben seinen künstlerischen Arbeiten steht S.’ literar. Leistung. Sie begann während des Studiums mit sporad. Beiträgen zu den Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft, der S. in Jena beigetreten war, oder mit einem Lobgedicht auf den in Paris wirkenden Kupferstecher Johann Georg Wille. In Dänemark folgten zunächst kleine Schriften, die staatsbürgerl. Fragen u. die Aufgaben der dortigen Kunstakademie behandeln. Mit den Menechmen oder zwey Wochenschriften von gleicher Statur in vier Aufzügen (Kopenhagen 1767) zerstörte S. einen verspäteten Nachfahren der Moralischen Wochenschriften, den »Nordischen Sitten-Freund« eines heute vergessenen Nikolaus Breding. Anlässlich der Eröffnung des Hamburger Theaterunternehmens legte S. ein gedrucktes Drama vor, Julie. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Mit einem Brief über das deutsche Theater an die Freunde und Beschützer desselben in Hamburg (Kopenhagen/Lpz. 1767), das einen vielverschlungenen engl. Brief-

Sturz

roman, Lady Julia Manderville von Frances Brooke, bühnengerecht dialogisiert u. dabei – ein Vorbote des Sturm und Drang – für die Rechte des Individuums u. des Individualismus gegenüber den Normen der Konvention eintritt. Lessings Laokoon (1766) führte zu einer damals nur briefl. Kritik von S., die Lessing bei der Fortsetzung berücksichtigen wollte. Die literar. Hauptleistung von S. besteht in seiner Kurzprosa, den Essays. Sie sind von frz. u. bes. von engl. Vorbildern angeregt, klammern autobiogr. Bezüge weitgehend aus u. werden statt dessen von Literatur, Kunst oder Ereignissen angeregt, wie Zeitungen u. Zeitschriften sie in S.’ Blickfeld führten. S.’ Essays bilden die geschliffenste dt. Prosa des 18. Jh. Aus diesen Arbeiten, die durch eine Vielfalt von urbanen u. bürgerl. Themen gekennzeichnet sind, ragen etwa die Briefe, im Jahre 1768 auf einer Reise im Gefolge des Königs von Dänemark geschrieben heraus, deren erste Vorformen sich auf französisch in einer Kopenhagener Zeitschrift des Jahres 1771 finden, ebenso die Prosahumoreske Die Reise nach dem Deister (zuerst in: Hannoverisches Magazin, 1778). Haupterscheinungsort der kleineren Essays ist Boies 1776 gegründetes »Deutsches Museum«. S.’ einzige Buchveröffentlichung damals, Erinnerungen aus dem Leben des Grafen Johann Hartwig Ernst von Bernstorf (Lpz. 1777), gilt bis weit ins 19. Jh. als Muster für die »Charakteristik«, eine Sonderform des biogr. Schrifttums. Die noch von S. begonnene Ausgabe, Schriften. Erste Samlung (ebd. 1779), blieb mit dem ersten Band stecken. Ein Freund von S., der Oldenburger Arzt Gerhard Anton Gramberg, bereitete bei einem Bremer Verleger eine Zweite Sammlung vor, deren gesamte Auflage vor der Auslieferung von dem Leipziger Verleger des ersten Bandes erworben u. vertrieben wurde (ebd. 1782. Neudr. beider Sammlungen: Mchn. 1971). 1786 erschien ebendort eine von Boie besorgte »neue verbesserte Auflage«. Mehrere unrechtmäßige Nachdrucke spiegeln weiterhin das zeitgenöss. Interesse für S. Mit Wieland u. Zimmermann erhielt S. das höchste Honorar der damals in Deutschland führenden Weidmannschen Verlagsbuchhandlung. Zu seinem Freundeskreis gehörten

Stutz

Lessing, Klopstock, Gerstenberg, Leisewitz, Wieland, Lichtenberg, Lavater, Herder u. Hamann. Der Frühverstorbene, auf den man große Hoffnungen gesetzt hatte, wurde vielerorts beklagt u. betrauert. Goethe, Schiller, ja, anscheinend noch Heinrich von Kleist nutzten S.’ Stil u. vielfältige Themen als Vorbild u. Anregung. Seine urbane u. gefeilte Stil- u. Sprachkunst geriet angesichts der neuen Originalitätsforderungen des Sturm und Drang jedoch schon bald in Vergessenheit, die bis heute weitgehend andauert. Ausgabe: Die Reise nach dem Deister. Prosa u. Briefe. Bln./DDR 1976. Literatur: Max Koch: H. P. S. nebst einer Abh. über die Schleswigischen Literaturbriefe. Mchn. 1879. – Ludwin Langenfeld: Die Prosa H. P. S.’. Diss. Borna/Lpz. 1935. – Adalbert Schmidt: H. P. S. [...]. Reichenberg 1939. – Jaikyung Hahn: H. P. S. [...]. Leben u. Werke mit einer Ed. des vollst. Briefwechsels. Stgt. 1976. – Jörg-Ulrich Fechner: H. P. S. 1736–79. Drei Ess.s. Darmst. 1981. – Ders.: H. P. S. auf dem Weg zum dt. Stilisten. Ein Hinweis auf eine vergessene dän. Ztschr. In: Grenzerfahrung – Grenzüberschreitung. FS Phillip M. Mitchell. Hg. Leonie Marx u. Herbert Knust. Heidelb. 1989, S. 64–77. – Wolfgang Lukas: Anthropologie u. Theodizee. Studien zum Moraldiskurs im deutschsprachigen Drama der Aufklärung (ca. 1730 bis 1770). Gött. 2005. Jörg-Ulrich Fechner

Stutz, Jakob, * 27.11.1801 Isikon bei Hittnau/Kt. Zürich, † 15.5.1877 Bettswil. – Dramatiker, Lyriker, Autobiograf. Nach dem frühen Tod der Eltern war S., neuntes von 16 Kindern eines wohlhabenden Bauern, Baumwollgarn- u. Holzhändlers, gezwungen, seinen Lebensunterhalt als »Mühle- und Mähbub«, später als Weber, Stricker u. Hausknecht zu verdienen. Weitgehend autodidaktisch erwarb er sich elementare Schulkenntnisse u. wirkte 1827–1836 als Lehrer an Thomas Scherrs Blinden- u. Taubstummenanstalt in Zürich, 1836–1841 in ähnl. Stellung in Schwellbrunn/Appenzell; beide Male wurde er wegen homosexueller »Vergehen« entlassen. 1842 errichtete T. die Einsiedelei Jakobszell bei Sternenberg, wo er nach pietistischkatholisierenden Neigungen lebte, einen Freundeskreis um sich scharte u. einen Lese-

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kreis gründete. Nach erneuter Verurteilung u. Kantonsverweisung war er Hauslehrer, Hausknecht u. Kellner in den Kantonen St. Gallen u. Glarus. Die letzten zehn Lebensjahre verbrachte er bei einer Schwester. S. ist der Hauptvertreter der aufklärerischrealist. Dialektdichtung der ersten Jahrhunderthälfte in der Schweiz. Seine zumeist in fünffüßigen Jamben verfassten Dialoge (Gemälde aus dem Volksleben [...]. 6 Bde., Zürich 1831–53) waren äußerst populär. S.’ Hauptanliegen waren Volksaufklärung, Volksbildung u. die Verteidigung der Landbevölkerung gegen städt. Herrschaftsansprüche. Der Brand von Uster (in: Gemälde [...]. Bd. 3, 1836) ist die erste ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Elend der Textilarbeiter im Gefolge der Mechanisierung. Außerdem verfasste S. zahlreiche Dramen, meist Lustspiele, für Volks- u. Schulbühnen (u. a. Winterabende in Schwellbrunn. St. Gallen 1841) u. eine volkskundlich u. literaturgeschichtlich gleichermaßen bedeutende hochdt. Autobiografie (Siebenmal sieben Jahre aus meinem Leben. Pfäffikon 1853–55. Neuausg. Frauenfeld 1983. Zuletzt ebd. 2001). Weitere Werke: Tagebücher 1827–31. Bearb. v. David Meili. Wetzikon 1972. – (Hg.): Ernste u. heitere Bilder aus dem Leben unseres Volkes, 1850–55 (Ztschr.). – Ausgew. Texte. Wetzikon 2001. Literatur: Jakob Senn: Ein Kind des Volkes. Bern 1888 (Erinnerungen an S.). – Jakob Christoph Heer: Die zürcher. Dialektdichtung. Zürich 1889, S. 32–50. – Ursula Brunold-Bigler: J. S.’ Autobiogr. [...] als Quelle populärer Lesestoffe im 19. Jh. In: Schweizer. Archiv für Volkskunde 75 (1979), S. 28–42. – Marie-Madeleine Stöckli: J. S. In: Helvet. Steckbriefe. Hg. Werner Weber. Zürich/Mchn. 1981, S. 240–246 (mit Bibliogr.). – Jakob Messikommer: J. S., 1801–1877: Zürcher Oberländer Volksdichter u. Zeitzeuge. Beiträge u. Würdigungen. Wetzikon 2001. – Ueli Müller: Verstossen u. vergessen, verehrt u. verklärt. Zum Leben u. Wirken des Zürcher Oberländer Volksdichters J. S. In: Heimatspiegel 2001, 11, S. 82–87. – Walter Müller: J. S. 1801–1877. Stationen eines Lebens. Zürich 2001. – J. S. 1801–1877, der Volksdichter aus Isikon im Spiegel der Presse. Rückblick auf ein erfolgreiches Jubiläumsjahr. Fehraltorf 2002. – Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb./Basel 2006, S. 427 f. – Mischa Suter:

381 Die ›Rappenkasse‹ des J. S. Erziehung zur Sparsamkeit u. die Ökonomie symbol. Güter im 19. Jh. In: Traverse 16 (2009), 3, S. 120–133. – Goedeke Forts. Rémy Charbon / Red.

Stutz, Johann Ernst, * Febr. 1733 Zerbst, † 28.10.1795 Bone bei Zerbst. – Romanautor, Verfasser religiöser u. sprachwissenschaftlicher Schriften. Anerkennung erwarb sich der Prediger in vier Landgemeinden bei Zerbst v. a. als Sprachwissenschaftler. Mit einer detaillierten Deutschen Sprachlehre (Potsdam 1790. 21811), der ein Kleiner Beitrag zur Beförderung Deutscher Sprachrichtigkeit vorangegangen war (Zerbst 1789), beteiligte er sich an den Bemühungen der Aufklärer um hochsprachl. Normierung. Zu Moritz’ unvollendetem Grammatischen Wörterbuch der deutschen Sprache verfasste er den zweiten Band (Bln. 1794. Neudr. Hildesh./ New York 1970. Zuletzt ebd. 1996. OnlineAusg. Mchn. 2007). Der Beförderung häuslicher Glückseligkeit, der seine 1786 erschienene Predigtsammlung dienen will (Tl. 1, Lpz.), ist auch sein literar. Œuvre verpflichtet. Seit 1780 veröffentlichte S. in rascher Folge mehrbändige, zumeist empfindsame Familien- u. Erziehungsromane ähnlicher Machart. Eine dürftige, episodisch gedehnte Fabel um Trennung u. Wiedervereinigung einer Familie, wie z. B. in der Sommerfeldschen Familiengeschichte, oder Erziehung mit ihren Früchten (2 Bde., Bln., Frankf./ O. 1788), wird ergänzt durch prakt. Verhaltensregeln, pädagog. Exkurse oder Stellungnahmen zu aktuellen Fragen. Mit dem »Zweiten Theil« von Julchen Grünthal. Eine Pensionsgeschichte (Bln. 1788. 21798) knüpfte S. an Friederike Helene Ungers gleichnamigen Erfolgsroman an, dessen tragischem Schluss er mit Einsicht u. Besserung der Protagonistin noch eine versöhnl. Wende gibt. Während die zeitgenöss. Kritik S.’ »gute Kanzelgaben« würdigte, stieß seine Belletristik bereits zu Lebzeiten auf Ablehnung. Weitere Werke: Predigten für den Christen, der die Mode nicht liebt. Lpz. 1780. – Ludwig Freudenthal [...]. 2 Tle., Liegnitz/Lpz. 1780. – Peter Vollmuth. Am Ende wird er ein ganz anderer Mann [...]. 2 Tle., Bln. 1780/81. – Frohmanns u. Oestlings

Stymmelius Familiengesch., für Eltern u. Kinder. Breslau 1793. – Kleine dt. Sprachlehre zum Schulgebrauche. Potsdam 1793. Josef Morlo / Red.

Stymmelius, Christophorus, eigentl.: Christoph Stummel, * 22.10.1525 Frankfurt/O., † 19.2.1588 Stettin. – Schuldramatiker. Der Sohn eines Kaufmanns besuchte die Universität seiner Heimatstadt (Magister 1546). In Wittenberg, im Umkreis Melanchthons (Briefwechsel), bildete er sich weiter (1551 bis etwa 1553) u. übernahm dann verschiedene Lehr- u. Pfarrstellen. Als Prediger in Stettin (seit 1555) war er zeitweise in die Auseinandersetzungen um den sog. Kryptocalvinismus verwickelt. S. vertrat den luth. Standpunkt. Bereits aus den Frankfurter Jahren (geschrieben 1545) stammt sein bedeutendstes Stück, Studentes. Comoedia de vita studiosorum (Frankf./O. 1549 u. ö.; insg. 21 Ausgaben. In Bearbeitungen noch im 17. Jh. gedruckt). Unter dem Einfluss von Macropedius u. Gnaphaeus (Acolastus) liefert S. ein didaktisch akzentuiertes Panorama der bürgerl. Arbeitsmoral widersprechenden Lebensführung im Freiraum der Universität. »Philomathes«, der studentische Musterknabe, wird den mit sprechenden Namen gekennzeichneten Lasterfiguren gegenübergestellt. Indem S. auch die Kämpfe mit den Handwerksgesellen, der Stadtwache u. der Bürgerschaft einbezieht, entwickelt sich eine realistisch wirkende Milieustudie, die in den späteren Studentenstücken (z.B. von Wichgrev u. Schoch) Resonanz fand. Dramaturgische Elemente entnahm S. der röm. Komödie. Wie ansatzweise schon in den Studentes fügte er auch in ein 1576/77 verfasstes Bibeldrama (Isaac immolandus. Comoedia sacra) Chöre ein, um das moralische Fazit der Akte zusammenzufassen. Weitere Werke / Ausgaben: Iudicium Paridis. Frankf./O. 1549. – Comoediae duae. I. Isaac. De immolatione Isaac. II. Studentes [...] Accesserunt et alia eiusdem authoris Poematia. Stettin 1579. – F. Hermann Meyer: Studentica [...]. Als Anhang: Die Studenten. Lpz. 1857 (erste dt. Übers.). – Lachmann (s. Literatur).

Styrzel(ius)

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Literatur: Goedeke 2, S. 138. – v. Bülow: C. S. In: ADB. – Georg Voss: C. S. Jahresber. des KaiserWilhelms-Gymnasium zu Aachen. 1898/99 u. 1901/ 1902 (Werkverz.). – Fritz Richard Lachmann: Die ›Studentes‹ des C. S. u. ihre Bühne. Als Anhang eine Übers. [...]. Lpz. 1926. Nachdr. Nendeln 1978. – Otto Clemen: Zur Lebensgesch. C. S.’ In: Ztschr. für Gesch. der Erziehung u. des Unterrichts 27 (1937), S. 51–54. – Wolfgang F. Michael: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern u. a. 1984, S. 104–106. – HKJL, Bd. 1, Sp. 1199 f. – Ulrich Rasche: Cornelius relegatus u. die Disziplinierung der dt. Studenten (16. bis frühes 19. Jh.). Zugleich ein Beitr. zur Ikonologie student. Memoria. In: Frühneuzeitl. Universitätskulturen. Hg. Barbara Krug-Richter u. Ruth-E. Mohrmann. Köln u. a., S. 157–221. Wilhelm Kühlmann

Styrzel(ius), Styrtzel, Stürzel, -ius, Johann(es) Georg(ius), * 12.4.1591 Augsburg, † 17.4.1668 Rothenburg o. d. Tauber. – Lateinischer Dichter u. fruchtbarer Briefschreiber.

lat. Briefwerk (ca. 4000 Briefe geschrieben, davon bisher ca. 700 bibliografisch erfasst). Für die Vernetzung, die Erfahrungswelt u. die Mentalität des dt. Späthumanismus stellt diese gelehrtenbürgerl. Korrespondenz einen bisher kaum erschlossenen Fundus dar. Einen Teil seiner Lyrik, überwiegend Kasualgedichte, sammelte er in einer Reihe von Gedichtsammlungen. Werke: Psalmi aliquot Davidici carmine trochaico expressi. Rothenburg o. d. T. 1626. – Elogia Reverendi Ministerii Evangelici Augustani. Augsb. 1652. – Lusus metrici. Nördlingen 1652. – Ablegmina Epigrammatica. Nördlingen 1652. – Monostichorum Trochaicorum centuria alia nova. Ebd. 1653. – Ablegminum epigrammaticorum pugillus (I-IV). Ebd. 1655–58. – Quinque eximia [...] poëmata. Augsb. 1665. – Elogiorum insignium virorum centuria. Nördlingen 1665. – Briefe: Epistolae quaedam selectae ad Christ. Hoeflichium & Nic. Rittershusium. Hg. Georg Theodor Strobel(ius). Nürnb. 1768. Lesbar im Internetportal CAMENA, Abt. CERA. – Verz. der verstreuten Drucke u. größeren Handschriftenbestände (Augsb., Hbg., Wolfenb. u. Straßb.) bei Schnurr (s. u.), N. Krüger (s. u.) u. Estermann/Bürger.

Der Sohn des Augsburger Ratsschreibers Johannes Styrzel (1545–1608) besuchte in seiLiteratur: Franz Anton Veith: Bibliotheca Auner Heimatstadt das berühmte Gymnasium gustana. Alphabetum XI. Augsb. 1795, S. 169–210. zu St. Anna, betreut von Georg Henisch – Jürgen Bücking: Das Geschlecht der Stürtzel v. (Hensisius) u. David Höschel, studierte in Buchheim (1491–1790). In: Ztschr. für die Gesch. Jena, dann Jurisprudenz in Tübingen (1611) des Oberrheins 118 (1930), S. 239–278. – Nilüfer u. Altdorf (1613–1616). Einige Jahre lang Krüger: Supellex Epistolica Uffenbachii et Wolfiopraktizierte er in der Kanzlei seines Bruders rum. Kat. der Uffenbach-Wolfschen Briefslg. 2 Matthäus in Neuburg/Donau bzw. in Ulm. Teilbde., Hbg. 1978, hier Teilbd. 2, S. 1008 f. – Seit 1624 lebte er in Rothenburg o. d. T., wo Ludwig Schnurrer: Bürgermeister J. G. S. er bald, gefördert auch durch Einheirat in das (1591–1668). Ein Rothenburger Lebensbild aus der örtl. Patriziat, bis zu den höchsten Stellen in Zeit des Dreißigjährigen Krieges. In: Jb. Verein Altder Verwaltung aufstieg (1628 Mitgl. des In- Rothenburg 1987/88, S. 33–55. Abgedruckt mit neren Rats, 1633 Reichsrichter, 1635 Bür- gekürztem wiss. Apparat auch in: Fränk. Lebensbilder. Bd. 13, Neustadt/Aisch 1990, S. 62–74. – germeister, vierzehn Mal wiedergewählt). Frieder Seebass: Die Schrift ›Paraenesis votiva pro Seine kulturelle Bedeutung liegt in der regen pace ecclesiae‹ (1626) u. ihr Verfasser. Ein Beitr. zu Anteilnahme, die er am Schaffen zahlreicher den Arndtschen Streitigkeiten. In: PuN 22 (1996), prominenter Gelehrter u. Literaten in der S. 124–173, bes. S. 148–158. Wilhelm Kühlmann weiteren Region (z.B. J. V. Andreae u. B. Schnurr von Lendsiedel), am Oberrhein Suchensinn. – Liederdichter, vor 1400. (Rompler, Moscherosch, Boeckler u. der Umkreis der Straßburger ›Tannengesell- Der Berufsdichter u. -sänger S. scheint sich schaft‹), in Nürnberg (Harsdörffer u. Birken), vorwiegend in Bayern u. Franken aufgehalten aber auch in ganz Deutschland (z.B. J. B. zu haben u. war offenbar auch bayerischer Schupp u. J. P. Lotichius) nahm. Diese An- Herkunft. 1386 erhielt er vom Nürnberger teilnahme ist dokumentiert sowohl in zahl- Rat zum Lohn für sein Singen die beträchtl. reichen Begleitgedichten wie auch v. a. in einem fast nur handschriftlich überlieferten

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Suchenwirt

Summe von zehn Gulden. Ende 1389 u. im Horst Brunner u. Helmut Tervooren. Bln. 2000, S. Frühjahr 1392 weilte er am Hof in Straubing. 237–251. Frieder Schanze / Red. S.s erhaltenes Werk umfasst ein Reimpaargedicht u. 23 Lieder (bei einem weiteren Suchenwirt, Peter, zweite Hälfte 14. Jh. – ist die Autorschaft nicht gesichert). Sie sind Verfasser kürzerer Reimpaardichtungen. z.T. in kleineren Gruppen, z.T. verstreut überliefert. Eine Sammlung seiner Lieder, die Zwischen 1377 u. 1395 ist S. in mehreren sich in der ersten Hälfte des 15. Jh. im Besitz Archivalien mit Frau u. Kindern in Wien der Grafen Katzenelnbogen befand, ist ver- nachweisbar. Die Lage seines Hauses inmitschollen. S. hat alle seine Dichtungen, um sie ten denen anderer Hofangestellter legt nahe, als sein Eigentum zu markieren, im Schluss- dass auch er während dieses Zeitraums am teil mit seinem Namen signiert. Seine meist Hof Herzog Albrechts III. von Österreich drei- oder vierstrophigen Lieder stehen (1349/50–1395) tätig gewesen ist. Zuvor war durchweg im gleichen Ton; ihre von S. er- er möglicherweise als Fahrender unterwegs – fundene Melodie griffen andere Textdichter diese Annahme stützt sich auf die Inhalte nur selten auf. Mit diesem Ton steht S. in der einzelner Werke (Von dem Pfennig), deren Tradition der Sangspruchdichtung, deren Darstellung der Erzählerfigur (Der Minne breites Themenrepertoire er aber in charak- Schlaf) sowie auf den sprechenden Namen terist. Weise reduziert. Er versteht sich dezi- ›Suchenwirt‹, der (wie bei anderen Berufsdiert als Helfer, Lehrer u. Lobsprecher der dichtern seit dem 13. Jh.) als ein Art KünstFrauen, u. zwar der Ehefrauen, deren Würde lername mit der Bedeutung ›(Ich) suche einen er höher ansetzt als die der Priester: Frauen- Gast- bzw. Auftraggeber‹ zu verstehen ist. lob, Frauenlehre u. Minnelehre sind die Die meisten der S. zugeschriebenen Werke Hauptthemen seiner Dichtung. S. greift auf schließen mit diesem Namen in Form einer Verfassersignatur. die traditionelle Minnelyrik zurück, bedient Den Ereignissen zufolge, auf die sie Bezug sich aber viel lieber der Darbietungsschemata nehmen, entstanden S.s 52 Reimpaardichu. Inszenierungsformen der in der zeitgetungen (mit insg. rund 12.200 Versen) im nöss. Literatur florierenden Minnerede u. Zeitraum zwischen 1365 u. 1402. Dazu gekommt so dem Publikumsgeschmack entgehören v. a. über zwanzig panegyr. Reden auf gen. Vor allem der Dialog hat es ihm angetan, verstorbene Adlige, u. a. auf den König Ludden er von exemplarischen Rollenfiguren wie wig von Ungarn, Herzog Heinrich von Frau, Jungfrau, Priester usw. bestreiten lässt Kärnten, Herzog Albrecht II. u. Herzog, Alu. in den er sich manchmal persönlich einbrecht III. von Österreich, Burggraf Albrecht mischt. Neben der Frauenthematik spielt von Nürnberg, Graf Ulrich von Cilli oder Anderes kaum eine Rolle. Nur dem geistl. Ulrich von Wallsee, deren GebrauchssituatiLied zollte S. mit einem Marienlied u. einer on noch genauer zu beschreiben bleibt: Die Trinitätsallegorie seinen Tribut. Totenklagen u. Ehrenreden sind wohl entAusgaben: Emil Pflug, s. Literatur. – Die klei- weder anlässlich des Begräbnisses oder zum neren Liederdichter des 14. u. 15. Jh. Hg. Thomas Jahresgedächtnis der Verstorbenen verfasst Cramer. 4 Bde., Mchn. 1977–85. Bd. 3, S. 292–339. (u. vorgetragen?) worden. Weil sie verschieBd. 4, S. 327–334. denen Herren aus weit auseinanderliegenden Literatur: Emil Pflug: S. u. seine Dichtungen. Herrschaftsgebieten gewidmet sind, glaubt Breslau 1908. – Frieder Schanze: Meisterliche man, dass S. sie v. a. während seiner Zeit als Liedkunst zwischen Heinrich v. Mügeln u. Hans Fahrender angefertigt haben müsse, doch Sachs. Bd. 1, Mchn. 1983, S. 137–145. Bd. 2, ebd. standen die meisten Gepriesenen in Kontakt 1984, S. 26 ff. – RSM 5. – F. Schanze: S. In: VL (Lit.). – Michael Baldzuhn: Blattverluste im S.-Korpus der zum Wiener Hof (einige gehörten der Ritter›Kolmarer Liederhandschrift‹. In: ZfdPh 119 gesellschaft St. Georg an), sodass auch dieser (2000), S. 427–433. – Margreth Egidi: Dissoziation als Auftraggeber u. Adressat in Frage kommt. u. Status der Ich-Rolle in den Liedern S.s. In: Neue In Wien entstanden auch, noch zu Lebzeiten Forsch.en zur mhd. Sangspruchdichtung. Hg. des Autors u. vermutlich unter dessen Mit-

Suchenwirt

wirken, die ältesten Überlieferungsträger, allen voran Cod. 13045 der Österreichischen Nationalbibliothek. Die bis zu mehreren hundert Verse umfassenden Ehrenreden folgen einem stereotypen Aufbau: Einleitung, Hauptteil mit Charakterschilderung, Aufzählung der Taten des Verstorbenen (»argumentum a gestis«), Preisformel u. Fürbitte, Schluss mit Wappenbeschreibung u. Autorsignatur. Individuell gestaltet sind sie v. a. sprachlich u. rhetorisch. Da die panegyr. Texte kurze Blasonierungen der Wappen der gepriesenen Personen enthalten, gilt S. in Literatur- u. Geschichtswissenschaft als der erste namentlich bekannte Herold innerhalb des dt. Sprachraums. Doch auch wenn zahlreiche Parallelen zu den Wappen- u. Ehrenreden des fläm. Herolds Gelre (Beyeren), der in Diensten der Herzöge von Geldern u. Bayern stand, dafür sprechen, dass S. diesen kannte, u. obwohl sich in seinen Texten die ältesten literar. Belege für die Bezeichnung ›Herold‹ (»erald«) im deutschsprachigen Schrifttum finden, gibt es für eine Heroldstätigkeit S. keinen Beleg, zumal in Rechnungsbüchern derselben Zeit andere Herolde im Dienst des Wiener Hofes erscheinen. Sowohl als Fahrender als auch während seiner Beschäftigung am Hof war der Berufsdichter im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit tätig, offenbar als Reimsprecher u. Publizist, als Laienprediger u. Propagandist, vielleicht sogar als Diplomat u. Politiker, vermutlich auch als Schreiber u. Rezitator. Neben den Ehrenreden u. Totenklagen hat S. weltl. u. geistl. Reimpaargedichte mit laienkatechetischer Funktion (Die sieben Freuden Mariä, Die zehn Gebote u. Weiteres), polit. Ereignisdichtungen (Von Herzog Albrechts Ritterschaft über die Preußenfahrt Albrechts III., Der Rat von dem Ungelt über die Einführung der Weinsteuer von 1365 usw.) u. Fürstenspiegel (Aristoteles Räthe, Vom Würfelspiel, Von dem Pfennig) sowie minneallegor. Erzählungen (Der Minne Schlaf, Die schöne Abenteuer, Die Minne vor Gericht u. a.), rhetorische Fingerübungen (Aequivocum, Der Freund-Sinn) u. Parodien (Gumolf Lapp von Ernwicht) angefertigt. Dabei bediente er sich der gesamten Bandbreite poetischer Darstellungsmittel. Vorbil-

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der dafür waren ihm u. a. Wolfram von Eschenbach, Konrad von Würzburg oder Heinrich der Teichner, nachgewirkt hat er u. a. bei Hugo von Montfort, Michael Beheim oder Hans Schneider. S.s Werke stehen im Kontext der volkssprachigen u. lat., weltl. wie geistl. Dichtung u. Übersetzungsliteratur im Umfeld von Universität, Hof u. den Klöstern in u. um Wien, sodass eine Klassifizierung des Berufsdichters S. als Herold der Vielfalt seines dichterischen Gesamtwerks nicht gerecht wird. Ausgaben: P. S.’s Werke aus dem vierzehnten Jahrhunderte. Ein Beytrag zur Zeit- u. Sittengesch. Zum ersten Male in der Ursprache aus Handschriften hg. u. mit einer Einl., histor. Bemerkungen u. einem Wörterbuche begleitet v. Alois Primisser. Nachdr. der Ausg. Wien 1827. Wien 1961. – G. E. Friess (Hg.): Fünf unedirte Ehrenreden P. S.s. In: Sitzungsber.e der philosophisch-histor. Classe der kaiserl. Akademie der Wiss.en. Bd. 88 (1877). Wien 1878, S. 99–126. – Wolfgang Achnitz: P. S.s Reimtraktat ›Die zehn Gebote‹ im Kontext deutschsprachiger Dekaloggedichte des MA. Mit Texted. u. einem Abdruck der Dekalog-Auslegung des Johannes Künlin. In: PBB 120 (1998), S. 53–102. Literatur: Otfried Weber: P. S. Studien über sein Wesen u. Werk. Greifsw. 1937. – Stephanie Cain Van D’Elden: P. S. and Heraldic Poetry. Wien 1976. – Claudia Brinker: Von manigen helden gute tat. Gesch. als Exempel bei P. S. Bern u. a. 1987 (mit Bibliogr.). – Silvia Schmitz: Das Ornamentale bei S. u. seinen Zeitgenossen. Zu strukturellen Zusammenhängen zwischen Herrschaftsrepräsentation u. poet. Verfahren. In: Höf. Repräsentation. Das Zeremoniell u. die Zeichen. Hg. Hedda Ragotzky u. Horst Wenzel. Tüb. 1990, S. 279–302. – C. Brinkerv. der Heyde: P. S. In: VL. – Hans Blosen: Literar. Text im Gebrauch. S.s Reimpaarrede vom ›Würfelspiel‹ in protestant. Umformung. In: ›Durch aubenteuer muess man wagen vil‹. FS Anton Schwob. Hg. Wernfried Hofmeister u. Bernd Steinbauer. Innsbr. 1997, S. 19–26. – W. Achnitz: Die schlafende Minne. Die Rezeption der Kunstauffassung Konrads v. Würzburg bei P. S. In: Euph. 96 (2002), S. 349–368. – H. Blosen: Lektüre mittelalterl. Hss. als Problem – aus der Sicht des Editionsphilologen. In: ›In tiutscher zungen rehtiu kunst‹. Festg. Heinz-Günther. Hg. Horst P. Pütz u. Gerhard Schildberg-Schroth. Frankf. 2003, S. 9–25. – W. Achnitz: Die gestörte Hochzeit. Lit. u. Gesch. in den Ehrenreden des vermeintl. Herolds P. S. In: Mittelalterl. Lit. u. Kultur im Deutschordensstaat

Suchten

385 in Preußen – Leben u. Nachleben. Hg. Sieglinde Hartmann, Gisela Vollmann- Profe u. Jarosl/aw Wenta. Torun´ 2008, S. 483–498. Wolfgang Achnitz

Suchten, Alexander von, * um 1520 Danzig, † 7.11.1575 Linz/Oberösterreich. – Neulateinischer Dichter u. paracelsistischer Sachschriftsteller. Der Patriziersohn besuchte das Elbinger Gymnasium u. studierte seit 1540 in Löwen Medizin. Nachdem er im Zuge der Ächtung seines ›häretischen‹ Oheims Alexander Sculteti 1545 seine 1538 erlangte Frauenburger Domherrenstelle u. ermländ. Güter verloren hatte, hielt sich S. unter dem Schutz Herzog Albrechts I. von Preußen in Königsberg auf (1545). Seine ›Paracelsische Wende‹ fiel in die Zeit, als S. von 1549 bis etwa 1553 in Heidelberg u. Weinheim/Bergstraße lebte u. dort in Diensten des Pfalzgrafen Ottheinrich stand. Dann zog S. nach Polen (1554), diente König Sigismund August in Wilna/Vilnius (1561), schloss sein Medizinstudium in Italien ab u. kehrte nach Königsberg zurück (1563). Nachdem ihm eine leibärztl. Stellung am herzoglich-preuß. oder königlich-poln. Hof verwehrt blieb, wandte sich S. nach Straßburg (vor 1570; ärztl. Zusammenwirken mit M. Toxites) u. Speyer (1570), um sich dann als Landschaftsarzt in Linz zu betätigen. – Zum Bekanntenkreis S.s zählten namhafte Humanisten (Guilielmus Gnapheus, Georg Sabinus, Eustachius von Knobelsdorf), Wilhelm Rascalon, Paul Skalich u. paracelsistische Mediziner (C. Pithopoeius, Jacobus Montanus, Michael Toxites); er korrespondierte u. a. mit Herzog Albrecht u. Bartholomaeus Schobinger (St. Gallen). Fachliche Gegner erwuchsen S. in Konrad Gessner (Zürich), Augsburger Ärzten (Lukas Stenglin, A. P. Gasser) und J. Crato, von denen ihn manche des ›Arianismus‹ bezichtigten. S.s Nachruhm beruht hauptsächlich auf alchemomedizinischen Lehrdichtungen u. Prosaschriften, während seine Dichtung nichtmedizin. Inhalts bald der Vergessenheit verfiel. Schulhumanistisch-dichterische Ansprüche mit fachl. Unterweisung verband S. in einem Lehrgedicht De vera medicina (in:

Paracelsus: Medici libelli. Hg. B. Flöter. Köln 1567 u. ö.) u. weiteren Elegien (befindlich in De secretis antimonii, 1570). Mit einer zweiteiligen Antimoniummonografie (De secretis antimonii. Hg. M. Toxites. Straßb. 1570 u. ö. Clavis alchemiae. In: Zween Tractat/ Vom Antimonio. Mömpelgard 1604. In: Antimonii mysteria gemina. Hg. Johann Thölde. Lpz. 1604 u. ö.) gelang S. ein für die Geschichte der medizinisch-pharmazeutischen Fachsprache belangvolles Hauptwerk der Chemiatrie. Manche Schriften kennzeichnen scharfe Autoritätenkritik, ein wider ›Glauben‹ u. Buchwissen gerichteter Empirismus u. Anteilnahme an der christl. Revolte wider den antiken Paganismus. Die anhaltende Aktualität der Sachschriften S.s in der frühneuzeitl. Alchemomedizin schlug sich in Nachdrucken, einer Sammelausgabe (Chymische Schrifften. Hg. Ulrich C. von Dagitza. Hbg. 1680), lat. (Georg Forberger, Basel 1575) u. engl. Übersetzungen (Robert Child, London 1670), aber auch in einer Explicatio tincturae physicorum [...] Paracelsi (in: Pandora. Hg. B. Figulus. Straßburg 1608), einer paracelsistischen Concordantia chymica (in: Cabala chymica. Hg. F. Kieser. Mühlhausen 1606) u. in weiteren Pseudo-Suchteniana nieder. Sein Werk fand namhafte Herausgeber u. Kommentatoren (M. Toxites, J. Thölde, Joachim Tancke, Benedictus Figulus, Joachim Morsius), wurde von Rist im Philosophischen Phoenix (1638) verarbeitet, im Londoner Samuel-Hartlib-Kreis assimiliert (George Starkey) u. noch von Johann Ehrd von Naxagoras (Alchymia denudata. Tl. 2, 1727) energisch verteidigt. Weitere Werke: Jugenddichtungen. In: Prima Aelbigensis scholae foetura. Hg. Guilielmus Gnapheus. Danzig 1541. – Epistola Lucretiae ad Eurialum. Königsb. 1546. – Vandalus. Königsb. 1547 (mit Elegie De morte Petri Bembi). – Gelegenheitsdichtungen. In: G. Gnapheus: Antilogia. o. O. 1550 u. ö. – Ärztl. Konsilien für Hzg. Albrecht I. (1563). – De Visione Dei. In: P. Scalichius: Apologia. o. O. 1567. – De lapide philosophorum. In: R. Lullus: Libelli chemici. Hg. Michael Toxites. Basel 1572 u. ö. – De tribus facultatibus. In: Pandora. Hg. Benedictus Figulus. Straßb. 1608 u. ö. – Ad dialogum de morte. In: Valentin Weigel: Dialogus de christianismo. Halle 1614.

Sucro Ausgaben: CP I (2001), Nr. 31–33 (Zwei Briefe an Herzog Albrecht, De secretis antimonii-Vorrede). – CP III (2011), Nr. 119 (Brief von B. Schobinger an A.v.S.). – Weitere Textproben bieten Molitor (1882), Haberling (1929 u. 1931), Telle (2006). Literatur: Carl Molitor: A. v. S. In: Altpreuß. Monatsschr. 19 (1882), S. 480–488. – Karl Sudhoff: Ein Beitr. zur Bibliogr. der Paracelsisten im 16. Jh. In: Centralbl. für Bibliothekswesen 10 (1893), S. 316–326, hier S. 391–400. – Ders.: Ein Nachtr. zur Bibliogr. der Paracelsisten im 16. Jh. In: ebd. 11 (1894), S. 169–172, hier S. 171 f. – John Ferguson: Bibliotheca chemica. Bd. 2, Glasgow 1906, S. 415–417. – Karl Schottenloher: Pfalzgraf Ottheinrich u. A. v. S. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins N. F. 41 (1927), S. 602–604. – Wilhelm Haberling: A. v. S. In: Ztschr. des Westpreuß. Geschichtsvereins 69 (1929), S. 175–230 (mit Werkverz.). – Ders.: Neues aus dem Leben des Danziger Arztes u. Dichters A. v. S. In: (Sudhoffs) Archiv für Gesch. der Medizin 24 (1931), S. 117–123. – WillErich Peuckert: Pansophie. Bln. 21956, s.v. – Wl/odzimierz Hubicki: A. v. S. In: Sudhoffs Archiv 44 (1960), S. 54–63. – Hans Schmauch: A. v. S. In: Altpreuß. Biogr. 2 (1967), S. 716 f. – Carlos Gilly: Zwischen Erfahrung u. Spekulation. In: Basler Ztschr. für Gesch. u. Altertumskunde 77 (1977), S. 57–137, hier S. 75–83. – Rudolph Zaunick: Der sächs. Paracelsist Georg Forberger. Hg. Hans-Heinz Eulner u. Kurt Goldammer. Wiesb. 1977, s.v. – Claus Priesner: A. v. S. In: Alchemie (1998), S. 351 f. – CP I (2001), S. 544–584. – Ralf Bröer: Friedenspolitik durch Verketzerung. Johannes Crato (1519–1586) u. die Denunziation der Paracelsisten als Arianer. In: Medizinhistor. Journal 37 (2002), S. 139–182. – C. Gilly: Un bel trattato ermetico del Paracelsismo. Il ›De tribus facultatibus‹ di A. v. S. In: Magia, Alchimia, Scienza dal ’400 al ’700. Hg. ders. u. Cis van Heertum. Florenz 2002, S. 185–192. – CP II (2004), s.v. – Joachim Telle: Johann Arndt – ein alchem. Lehrdichter? Bemerkungen zu A. v. S.s ›De lapide philosophorum‹ (1572). In: Strenae nataliciae. Nlat. Studien. FS Wilhelm Kühlmann. Hg. Hermann Wiegand. Heidelb. 2006, S. 231–246. – Oliver Humberg: Die Verlassenschaft des oberösterr. Landschaftsarztes A. v. S. († 1575). In: Wolfenbütteler RenaissanceMitt.en 31 (2007), S. 31–50. – J. Telle: A. v. S. In: DSB 24 (2008), S. 550–553. Joachim Telle

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Sucro, Christoph Joseph, * 4.12.1718 Königsberg/Neumark, † 8.6.1756 Coburg. – Philosoph; Lehr- u. Fabeldichter. Der Predigersohn S. besuchte in Magdeburg das Gymnasium. Ab 1738 studierte er in Halle Theologie u. Philosophie bei den Brüdern Sigmund Jakob u. Alexander Gottlieb Baumgarten, mit denen er mütterlicherseits verwandt war. Von Letzterem wurde er 1743 promoviert u. hielt zunächst Vorlesungen in Mathematik u. Metaphysik. 1745 erhielt er eine Berufung an das akadem. Gymnasium in Coburg für die Fächer Griechisch, Weltweisheit u. Beredsamkeit. Er galt als »Muster eines vernünftigen Lehrers«. S. blieb seinen beiden Universitätslehrern zeitlebens verbunden: Er war beteiligt an dem von S. J. Baumgarten geleiteten Übersetzungsprojekt der englischen Allgemeinen Welthistorie (18 Bde., Halle 1744–59). A. G. Baumgartens Ästhetikkonzept beeinflusste S.s philosophische u. poesiolog. Schriften, welche die sinnl. Erkenntnis in den Mittelpunkt stellen u. nach deren Einfluss auf die Dichtkunst fragen (Versuche vom Menschen u. Philosophische Gedanken von den Träumen. In: Kleine deutsche Schriften. Hg. Gottlieb Christoph Harleß. Coburg 1770). In Anlehnung an Haller präsentierte er seine Texte oft in der Form von Lehrgedichten. Er hat sich aber auch als Fabeldichter einen Namen gemacht (Versuche in Lehrgedichten und Fabeln. Halle 1747. Auch in: Kleine deutsche Schriften, a. a. O.) u. trat mit Gelegenheitsdichtung hervor. Weitere Werke: De praestantia religionis revelatae prae naturali. S. J. Baumgarten (Präses); C. J. S. (Auctor). Halle 1743. 21753. – Pulchritudinis quae in litteris elegantioribus quaeritur naturam exponit [...] C. J. S. Coburg 1745. – De furore poetico disserit [...]. Ebd. 1747. – Die Landlust. Ebd. 1748. – Der Druide. Eine moralische Wochenschr. 2 Tle., Bln. 1749–50. Internet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. – De arte mnemonica commentatio [...]. Coburg 1749. – Rei poeticae rationes strictim exponit [...]. Ebd. 1751. – Philosophische Gedanken von angebohrnen Begriffen [...]. Ebd. 1754. Ausgabe: Versuche in Lehrgedichten u. Fabeln (Halle 1747). Mit einem Nachw. hg. v. Yvonne Wübben. Hann. 2008.

387 Literatur: Bibliografie: Wilhelm Risse: Bibliographia philosophica vetus [...]. Hildesh. 1998. – Weitere Titel: Den frühen Verlust ihres geliebtesten Ehegattens u. Vaters, Herrn C. J. S. [...] beklagen desselben [...] Wittbe u. Kinder [...]. Coburg 1756. – Thilo Krieg: S., C. J., Dichter u. Ästhetiker (1718–1756). In: Das geehrte u. gelehrte Coburg 3 (1931), S. 40–43. – Leif Ludwig Albertsen: Das Lehrgedicht [...]. Aarhus 1967, Register. – HansGeorg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 5/ 2, Tüb. 1991, Register. Stefan Iglhaut / Red.

Sudermann, Daniel, * 24.2.1550 Lüttich (Liège), † 1631 (?) Straßburg. – Erbauungsschriftsteller, Kirchenlieddichter. Der Sohn des Malers u. Goldschmieds Lambert Sudermann bereiste als Kind West- u. Mitteleuropa. Nach Jahren als Hofmeister u. Erzieher wurde S. 1585 Vikar u. Lehrer am Straßburger Bruderhof, wo er junge protestantische Adlige unterrichtete. S., der kath. getauft war u. eine calvinistische Schule besucht hatte, war seit 1580 mit den Lehren Schwenckfelds in Berührung gekommen, zu denen er sich 1594 bekannte; er gab zahlreiche Schriften seines Lehrers heraus. Bedeutsam ist S.s Tätigkeit als Sammler, Kompilator u. Editor mittelalterl. myst. Texte (u. a. Johannes Tauler, Meister Eckhart, Heinrich Seuse, Jan van Ruysbroeck), von denen er bei der Auflösung des Straßburger Klosters St. Nikolaus in undis 1592 etliche Handschriften erwerben konnte. Der Verbreitung myst. u. spiritualistischen Gedankenguts diente auch das eigene literar. Schaffen S.s. Von seinen zahlreichen Meisteru. Kirchenliedern ist »Es kommt ein Schiff, geladen« am bekanntesten, das auf eine Vorlage Taulers zurückgeht (in: Etliche hohe geistliche Gesänge [...]. Straßb. 1626). Fast alle Werke S.s weisen Versform auf, u. die meisten sind mit Kupferstichen illustriert (z. B. Schöne ausserlesene Figuren und hohe Lehren von der begnadeten liebhabenden Seele [...]. o. O. [Straßb.] o. J. [ca. 1620]. Internet-Ed. in: HAB Wolfenb. Hohe geistreiche Lehren und Erklärungen: Uber die fürnembsten Sprüche deß Hohen Lieds Salomonis [...]. Straßb./Ffm. 1622. Centuria similitudinum omni doctrinarum genere plenarum [...]. Straßb. 1624. Similitudinum [...] centuria secunda [...]. Ebd. 1626). In seinen zahlreichen illustrier-

Sudermann

ten Flugblättern tritt S.s Bemühen um eine weite Verbreitung seiner Texte hervor. Dennoch bleiben viele seiner Werke unediert, darunter eine Sammlung kurzer geistl. Sinnsprüche, die auf Nachfolger wie Abraham von Franckenberg, Daniel Czepko oder Angelus Silesius vorausweisen. Weitere Werke: Von der Tochter Sion [...]. o. O. u. J. – XXV. schöne ausserlesene Figuren u. hohe Lehren [...]. o. O. [Straßb.] u. J. [ca. 1625]. – Funffzig schöne ausserlesene sinnreiche Figuren, auch Gleichnussen Erklärungen [...]. o. O. u. J. Ausgaben: Schone außerlesene sinnreiche Figuren, auch Gleichnussen Erklärungen Gebettlein u. hohe lehren [...] in teutsche Reimen verfaßt. o. O. u. J. Internet-Ed. in: HAB Wolfenb. – Wackernagel, Bd. 1, S. 666–703; Bd. 5, S. 546–676. – Ausw. in: Wir vergehn wie Rauch v. starken Winden. Dt. Gedichte des 17. Jh. Hg. Eberhard Haufe. 2 Bde., Bln. 1985, Register. – Internet-Ed. mehrerer Schwenckfeldt-Ed.en u. vieler (Einblatt-)Drucke in: VD 16 bzw. VD 17. Literatur: Bibliografien: Pieper (s. u.). – Kosch, Bd. 21, Sp. 306–308. – VD 16. – VD 17. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 30, S. 492 f. – Weitere Titel: Martin Goebel: Die Bearb.en des Hohen Liedes im 17. Jh. Diss. Halle 1914. – Gottfried Hermann Schmidt: D. S. Diss. masch. Lpz. 1923. – Lebensbilder der Liederdichter u. Melodisten. Bearb. v. Wilhelm Lueken. (Hdb. zum Evang. Kirchengesangsbuch, Bd. II, 1). Bln. (auch Gött.) 1957, S. 134 f. – Hans Hornung: Der Handschriftensammler D. S. u. die Bibl. des Straßburger Klosters St. Nikolaus in undis. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 107 (1959), S. 338–399. – Eucharis Becker: Untersuchungen zu dem Tauler zugeschriebenen Lied ›Es kumpt ein Schiff geladen‹. In: Johannes Tauler. Hg. Ephrem Filthaut. Essen 1961, S. 77–92. – Peter C. Erb: Medieval spirituality and the development of protestant sectarianism. In: Mennonite quarterly review 51 (1977), S. 31–40. – Monica Pieper: D. S. als Vertreter des myst. Spiritualismus. Stgt. 1985. – Hans-Georg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 3 u. 5/1, Tüb. 1988–91, Register. – Thomas Gandlau: D. S. In: Bautz. – Roger Trunk: D. S. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 1999 (22001), S. 317 f. – Gérard Cames: D. S. In: NDBA, Lfg. 36 (2000), S. 3822. – Caroline Gritschke: ›Via Media‹. Spiritualistische Lebenswelten u. Konfessionalisierung. Das süddt. Schwenckfeldertum im 16. u. 17. Jh. Bln. 2006. – Ute Evers: Das geistl. Lied der Schwenckfelder. Tutzing 2007. Michael Schilling / Red.

Sudermann

Sudermann, Hermann, * 30.9.1857 Matzicken/Ostpreußen, † 21.11.1928 Berlin; Grabstätte: ebd., Friedhof HalenseeGrunewald. – Erzähler u. Dramatiker. Der Sohn eines Bierbrauers entstammte einer alten Bauernfamilie, die ihres mennonitischen Glaubens wegen aus Holland vertrieben wurde u. sich in Ostpreußen niederließ. Ein Vorfahre war Daniel Sudermann. Sein Studium der Philologie u. Geschichte in Königsberg (seit 1875) u. Berlin (seit 1877) finanzierte S. mittels einer Hauslehrerstelle bei Hans Hopfen. 1882 wurde er Chefredakteur beim liberalen »Deutschen Reichsblatt«. 1891 heiratete S. die Erzählerin Klara Lauckner, geb. Schulz. Seine schriftstellerischen Anfänge fielen mit dem Durchbruch des Naturalismus zusammen, obgleich S. an den Theoriediskussionen der 1880er Jahre nicht beteiligt war. 1886 erschien seine erste Erzählsammlung, Im Zwielicht (Bln.); es folgte der autobiogr. Roman Frau Sorge (ebd. 1887), dessen idealistischer Held sich im Sinne der jungen Naturalisten mit der Ideologie des Besitzbürgertums auseinandersetzt. Seinen ersten großen Erfolg verbuchte S. mit dem gesellschaftskrit. Drama Die Ehre (ebd. 1889), aufgeführt im Berliner Lessingtheater fünf Wochen nach der Premiere von Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, neben dem S. nun, etwa bis zur Jahrhundertwende, als führender Dramatiker des dt. Naturalismus galt. Die Ehre, die einen festen Platz im Spielplan der neu gegründeten Freien Volksbühne beanspruchen konnte, verwertet geschickt die aktuelle Berliner Situation, namentlich die miteinander kontrastierenden Wohnverhältnisse des Bürgertums (Vorderhaus) u. des Proletariats (Hinterhaus), um die Auswirkungen eines korrupten Ehrbegriffs auf eine Arbeiterfamilie zu verdeutlichen. S.s zweites Stück, das Künstlerdrama Sodoms Ende (ebd. 1891), beruht teilweise auf dem tragischen Fall Karl Stauffer-Berns: Ein talentierter junger Künstler lässt sich durch die von ihm im Grunde verachtete Gesellschaft des Berliner Westens blenden u. wird schließlich als Künstler u. Mensch zugrunde gerichtet. Nach diesem Misserfolg gelang es S. in Heimat (Stgt.

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1893), seinem weitaus erfolgreichsten Stück, das Thema des Konflikts zwischen Bürgertum u. Künstlerexistenz mit der Problematik der unterschiedl. Moralvorstellungen zweier Generationen effektvoll zu verbinden. Die Heldin, Magda Schwartze, hatte sich als junge Frau den Heiratsplänen ihres autoritären Vaters nicht gefügt u. ihre Heimat in der Provinz verlassen, um sich in Berlin durchzuschlagen. Als Opernsängerin berühmt geworden, kommt sie in die Heimatstadt zurück. Im analyt. Verfahren nach Ibsen’schem Muster wird ihre Vergangenheit aufgedeckt: ihr Verhältnis mit dem Regierungsrat Keller u. ihr gemeinsames unehel. Kind. Der Vater fordert nun die Heirat der beiden; sie wäre um des Schwerkranken willen bereit, auf Karriere u. erreichte Emanzipation zu verzichten, kann sich aber nicht dazu durchringen, ihr Kind zu verleugnen. Der Vater droht ihr mit der Pistole, bevor er, vom Schlag getroffen, stirbt. Seinen Erfolg verdankte das Stück v. a. der Rolle Magdas, die um die Jahrhundertwende u. a. – Beleg für die internat. Ausstrahlung des S.schen Werks – von Sarah Bernhardt u. der Duse, 1938 auf der Leinwand von Zarah Leander gespielt wurde. Anders als das zeitgenöss. Publikum ging die Theaterkritik wegen des melodramat. Schlusses mit dem Stück hart ins Gericht. Wie Harden u. Mehring fühlte sich auch Kerr in seinem schon 1890 geäußerten Urteil bestätigt: Das Bemühen um Bühnenwirksamkeit im konventionellen Sinn ziehe den scheinbaren Ernst der Problematik in Frage. Trotz S.s Replik (Verrohung in der Theaterkritik. Bln./ Stgt. 1902) hat sich Kerrs Votum bewährt. In den späten 1890er Jahren kehrte S. dem Naturalismus den Rücken. Anleihen des Symbolismus verarbeitet S., der mit Johannes (Stgt. 1898) auch eine bibl. Tragödie verfasste, in Die drei Reiherfedern (ebd. 1899); 1911 folgte das Versdrama Der Bettler von Syrakus (Stgt./Bln.). Im Grunde blieben ihm jedoch die sprachl. u. strukturellen Erneuerungsbestrebungen der literar. Moderne fremd; seine frühen Erfolge ließen sich nicht wiederholen. Zunehmend wandte er sich der Erzählprosa zu – ohne sich neuere Techniken aneignen zu können; in Anknüpfung an die Tradition des Poetischen Realismus kam dafür das heimat-

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verbundene Element seiner Kunst in den Litauischen Geschichten (ebd. 1917. Darin u. a. Die Reise nach Tilsit, Miks Bumbullis) zu seiner schönsten Entfaltung. Eine anschaulich farbige Autobiografie ist sein Bilderbuch meiner Jugend (ebd. 1922. Neuaufl. Mchn. 1988. Zuletzt Beltheim-Schnellbach 2009). Ausgaben: Romane u. Novellen. 6 Bde., Stgt./ Bln. 1919. 10 Bde., ebd. 1928–30. – Dramat. Werke. 6 Bde., ebd. 1923. – Briefe: Briefe an seine Frau. Hg. Irmgard Leux. Ebd. 1932. Literatur: Karl Bleibtreu: Die Verrohung der Lit. Ein Beitr. zur Haupt- u. Sudermännerei. Bln. 1903. – Alfred Kerr: S. In: Ders.: Das neue Drama. Bln. 1915, S. 146–192. – Kurt Busse: H. S. Stgt./Bln. 1927. – Ludwig Goldstein: Wer war S.? Königsb. 1928. – Thomas Duglor (Hg.): H. S. [...]. Troisdorf 1958. – Herbert Reinoss (Hg.): Das H.-S.-Buch. Gütersloh 1972. Mchn. 1985. – Ingrid Nohl: Das dramat. Werk H. S.s. Diss. Köln. 1973. – Dorothea Kuhn (Hg.): H. S. Porträt u. Selbstporträt. Marbach 1978. – Dies.: Zum Nachl. v. H. S. In: JbDSG 24 (1980), S. 458–470. – Walter T. Rix (Hg.): H. S. Würzb. 1980. – Bärbel Beutner: H. S. Dramatiker u. Erzähler. Hbg. 1995. – Karl Leydecker: Marriage and divorce in the plays of H. S. Ffm. u. a. 1996. – Peter Noss: H. S. In: Bautz. – Werner Sulzgruber: H. S.: ›Heimat‹. Betrachtungen u. Analysen zu einem vergessenen Schauspiel. Wien 1997. – Klaus Bohnen: H. S. u. Georg Brandes: ein unveröffentlichter Briefw. In: Åndelige rum. FS Wolf Wucherpfennig. Hg. Karin Bang u. Uwe Geist. Roskilde 2002, S. 21–38. – Bernd Fischer: H. S. in Blankensee. Bln. 2002. – Reiner Friebe: Von ›Meisterstück‹ bis ›nichts ist echt‹: H. S. in den Briefen Theodor Fontanes mit einem unveröffentlichten Brief Fontanes an Eugen Wolff. In: Fontane-Bl. 83 (2007), S. 17–35. – Regina Hartmann: Ostpreuß. ›Kindheits-Muster‹: H. S. u. Fritz Skowronnek. In: Ostpreußen, Westpreußen, Danzig. Eine histor. Literaturlandschaft. Hg. Jens Stüben. Mchn. 2007, S. 399–407. – Stefan Goldmann: Sigmund Freud u. H. S. oder die wiedergefundene, wie eine Krankengesch. zu lesende Novelle. In: Jb. der Psychoanalyse 58 (2009), S. 11–35. John Osborne / Red.

Der Sünden Widerstreit. – Geistliche Dichtung, Ende des 13. Jh. »Der sunden widerstrît« (V. 3428) benennt ein anonymer thüringischer Dichter im späten 13. Jh. ein geistlich-allegor. Gedicht größeren Umfangs (3524 Verse). Der Titel be-

Der Sünden Widerstreit

zieht sich auf das vornehmlich verwandte Motiv des Kampfes der Tugenden gegen die Laster; der Autor bevorzugt die Bezeichnung »des lîben Cristes bûchelîn« (V. 3430). Christus u. die untrennbar mit ihm verbundene »minne« bilden Ausgangs- u. Endpunkt des stets aufs Neue variierten Appells, auf der Basis des guten Willens die Sünde zu unterwerfen u. sich als »gotes riter« zu erweisen (V. 437 u. ö.). Ein solcher zu werden steht jedem Menschen frei u. ist mit einem angenehmen Leben in der Welt verbunden. Das Anwachsen dieser neuen Ritterschaft sollte die Welt in einen »minneorden« (V. 502) im Dienst an Gott verwandeln. Die mächtig gewordenen Heere der Sünde werden in den Personifikationen der sieben Laster unter Führung der »valschen minne« u. zahlreicher ihnen zugeordneter übler Eigenschaften dargestellt. Ihnen steht das Heer der Tugenden unter Leitung der »minne« gegenüber, zu dessen Waffen auch gute Werke u. Gebete gehören. Die Mitte des Werks bildet die Klage der Sünde vor dem Teufel, der in einer langen Rede seine Ohnmacht Christus u. den Truppen der »minne« gegenüber erklärt u. das Wiederaufleben der Laster ankündigt. Der S. W. ist die erste selbstständige deutschsprachige allegor. Dichtung in der Tradition der Psychomachia des Prudentius. Die Mitüberlieferung in zwei der drei vollständigen Handschriften sowie Entsprechungen zum Passional in Reimtechnik, Wortschatz u. in der Verbindung geistl. mit höf. Vorstellungen rücken das Werk in den Umkreis des Deutschen Ordens. Ausgaben: Der S. W. Hg. Victor Zeidler. Graz 1892 (nach 3 Hss.). – Bruchstücke: Hg. Hans Ferdinand Maßmann. In: Germania 10 (1853), S. 184 f. – Hg. Julius Zacher. In: ZfdA 13 (1867), S. 330–332. Literatur: Karl Helm u. Walther Ziesemer: Die Lit. des Dt. Ritterordens. Gießen 1951, S. 71, 187. – Ingeborg Glier: Kleine Reimpaargedichte u. verwandte Großformen. In: Die dt. Lit. im späten MA. Tl. 2. Hg. dies. Mchn. 1987, S. 109. – Dietrich Schmidtke: Der S. W. In: VL. – Petra Hörner: ›Der S. W.‹. Belege gegen eine Ordenszuweisung. In: ZfdPh 121 (2002), S. 408–423. Sabine Schmolinsky / Red.

Sündenklagen

Sündenklagen ! Millstädter Sündenklage, ! Vorauer Sündenklage Süskind, Patrick, * 26.3.1949 Ambach/ Starnberger See. – Erzähler, Dramatiker, Drehbuchautor. Der Sohn von W. E. Süskind studierte Geschichte in München u. Aix-en-Provence u. schrieb zehn Jahre lang Drehbücher fürs Fernsehen, bevor er 1981 mit dem Schauspiel Der Kontrabass (Zürich 1984) als Theaterautor debütierte. Der Einakter war in der Spielzeit 1984/85 mit über 500 Aufführungen an 25 Theatern das meistgespielte Stück an deutschsprachigen Bühnen u. verlieh als geistreich-unterhaltsames Monodram dem rasch wachsenden internat. Ruhm seines Verfassers auch im Ausland zusätzl. Glanz. S. wurden u. a. der Tukan-Preis (1987), der FAZLiteraturpreis (1987) (Annahme beider Ehrungen abgelehnt) u. die Goldene DiogenesEule (1997) zuerkannt. Er lebt in München, in Seeheim am Starnberger See u. in Südfrankreich. Im Frühjahr 1985 erschien S.s Roman Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders (Zürich), das spektakulärste dt. Buchmarktereignis der 1980er Jahre: Er wurde in 46 Sprachen übersetzt u. 2006 von Tom Tykwer verfilmt. Erzählt wird das Leben des Waisenknaben Jean-Baptiste Grenouille, der – an einem Julitag 1738 auf dem Pariser Fischmarkt geboren – zu einer der »genialsten und abscheulichsten Gestalten dieser an genialen und abscheulichen Gestalten nicht armen Epoche« heranwächst. Grenouille ist ein Triebtäter, der aus niedersten Beweggründen tötet, ein Lustmolch mit einem eingeschränkten Sinn fürs Sinnliche u. ohne eigentl. Lust an der Lust. Ihn lockt nicht das Weib, sondern allein der Duft, der die jungfräul. Körper seiner Opfer umgibt wie eine geheimnisvolle Aura. Den reinen Duft will er, nichts sonst: ein Monstrum, in dem einige Rezensenten den Phänotyp des ausgehenden 20. Jh. zu erkennen glaubten. So überschwenglich die Begeisterung über den Roman war, so reserviert die Aufnahme der Novelle Die Taube (Zürich 1987). Ihr Held ist Jonathan Noël, Wachmann einer Pariser

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Bank, ein Eremit, der seine Tage verrinnen lässt wie Sandkörner in der Eieruhr u. sich nach zwei Jahrzehnten völliger Ereignislosigkeit – durch eine Taube auf seiner Türschwelle aus der festgefügten »Lebensordnung« gedrängt – in die furchtbare Kindheit zurückversetzt fühlt: ins Jahr 1942, als seine Eltern in ein Lager verschleppt werden u. das Kind in der Fremde Unterschlupf sucht, bis der Krieg vorüber ist. Die Geschichte von Herrn Sommer (Zürich 1991) zeigt einen menschenscheuen, durch die Gegend herumirrenden Sonderling, für den der ihn beobachtende Ich-Erzähler aufgrund seines eigenen Isolationsbewusstseins Seelenverwandtschaft empfindet. Beiden Figuren ist eine Selbstabgrenzung u. die Auflehnung gegen gesellschaftl. Zwänge gemeinsam. Sommers Worte: »Ja so lasst mich doch endlich in Frieden« drücken zugleich S.s Weltwahrnehmung aus; der die Öffentlichkeit meidende Einzelgänger gehört nach wie vor zu den großen Unbekannten der Medienwelt. Weitere Werke: Drei Gesch.n. Zürich 1995 (E.en). – Über Liebe u. Tod. Zürich 2006 (Ess.). – Drehbücher: Ein ganz normaler Wahnsinn. 1980. – Monaco Franze. 1981–83. – Kir Royal. 1986. – Rossini – oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief. 1997. – Vom Suchen u. Finden der Liebe. 2005 (alle zus. mit Helmut Dietl). Literatur: Thomas Söder: P. S. ›Die Taube‹. Versuch einer Deutung. Freib. 1992. – Tomasz Mal/yszek: Ästhetik der Psychoanalyse. Die Internalisierung der Psychoanalyse in den literar. Gestalten v. P. S. u. Sten Nadolny. Wrocl/aw 2000. – Maria Cecilia Barbetta: Poetik des Neo-Phantastischen. P. S.s Roman ›Das Parfum‹. Würzb. 2002. – Frank Degler: Aisthet. Reduktionen. Analysen zu P. S.s ›Der Kontrabaß‹, ›Das Parfum‹ u. ›Rossini‹. Bln. 2003. – Susanne Dunstmair: P. S. In: LGL. – Andreas Pfister: Der Autor in der Postmoderne. Mit einer Fallstudie zu P. S. Freib. 2004. – David Freudenthal: Zeichen der Einsamkeit. Sinnstiftung u. Sinnverweigerung im Erzählen v. P. S. Hbg. 2005. – Angelika Buß: Intertextualität als Herausforderung für den Literaturunterricht am Beispiel v. P. S.s ›Das Parfum‹. Ffm. 2006. – Alexander Kissler: Alles über P. S.s ›Das Parfum‹. Mchn. 2006. – Günther Stark: S.s ›Parfum‹ im Kampf zwischen Eros u. Liebe. Baden-Baden 2006. – Katharina Arnold: Von Erdäpfeläckerchen u. goldenen Flakons. Triviale Elemente in der postmodernen Lit. am Beispiel v. Robert Schneiders ›Schlafes Bruder‹ u. P.

391 S.s ›Das Parfum‹. Marburg 2008. – Andreas Blödorn u. Christine Hummel (Hg.): Psychogramme der Postmoderne. Neue Untersuchungen zum Werk P. S.s. Trier 2008. – Paul Michael Lützeler u. Stephan K. Schindler (Hg): Gegenwartslit. Germanistisches Jb. Schwerpunkte: I. Lit. u. Film. II. Lit. u. Erinnerung. Tüb. 2008 (Bd. 7). – Peter V. Zima: Der europ. Künstlerroman. Von der romant. Utopie zur postmodernen Parodie. Tüb./Basel 2008. – David Wieblitz: Geniale Bestseller. Der ›Genieroman‹ als Erfolgsrezept. Marburg 2009. – Bernd Matzkowski: Erläuterungen zu P. S., Das Parfum. Hollfeld 2010. – Veronika Sager: Zwischen Sinnlichkeit u. Grauen. Zur Dialektik des Geniegedankens in P. S.s ›Das Parfum‹ u. Tom Tykwers Verfilmung. Marburg 2010. – Eckhard Franke: P.S. In: KLG. Franz Josef Görtz / Ewa Mazurkiewicz

Süskind, W(ilhelm) E(manuel), * 10.6. 1901 Weilheim/Obb., † 17.4.1970 Tutzing. – Erzähler, Übersetzer, Journalist.

Süßkind von Trimberg

S. übersetzte seit 1922 Werke aus dem Englischen (Robert Louis Stevenson, Tanja Blixen, Herman Melville u. William M. Thackeray) u. äußerte sich mehrfach zum Problem des literar. Übersetzens. Didaktische Früchte seiner Sprachsensibilität sind die vielfach wiederaufgelegte »Sprachlehre für Erwachsene« Vom ABC zum Sprachkunstwerk (Stgt. 1940. Neubearb. v. Thomas Schlachter, mit einer biogr. Notiz v. Erich Kuby. Zürich 1996. 22006) u. die zusammen mit Dolf Sternberger u. Gerhard Storz herausgegebene polem. Artikelsammlung Aus dem Wörterbuch des Unmenschen (Hbg. 1957. Ffm. 1989 nach der erw. Ausg. von 1967). Weitere Werke: Das Morgenlicht. Stgt. 1926 (E.). – Pferderennen. Mchn. 1950. – Wer hätte das von uns gedacht? Boppard 1959 (Text zu einem Bildbd. v. Hans Erich Köhler). – Mit sechzig Jahren ... Ein Selbstporträt. In: Welt u. Wort 16 (1961), S. 179 f. – Der nicht ganz eiserne Kanzler. Jünglingsjahre der BR Dtschld. Boppard 1965. – Gekannt, verehrt, geliebt. 50 Nekrologe aus unserer Zeit. Mchn. 1969. – Dagegen hab’ ich was. Stgt. 1969. Literatur: Joachim Günther: Nachruf auf W. E. S. In: NDH 17 (1970), S. 221–223. – Daniel Göske: Herman Melville in dt. Sprache. Ffm. 1990, S. 125–155. – William J. Dodd: Die Sprachglosse als Ort des oppositionellen Diskurses im ›Dritten Reich‹. Beispiele v. Dolf Sternberger, Gerhard Storz u. W. S. aus den frühen 1940er Jahren. In: WW 53 (2003), H. 2, S. 241–251. – Hartwig Wiedow: W. E. S. Studien. Hagen 2004. 2., erw. Aufl. 2007. – Mark Fiedler: Sprachkritik am öffentl. Sprachgebrauch seit 1945. Gesamtüberblick u. korpusgestützte Analyse zum ›Wörterbuch des Unmenschen‹. Tönning/Lübeck/Marburg 2005. – William J. Dodd: Jedes Wort wandelt die Welt: Dolf Sternbergers polit. Sprachkritik. Gött. 2007.

S. entstammte einer schwäb. Pastoren- u. Bauernfamilie, besuchte das Gymnasium in München u. begann dort ein Studium der Jurisprudenz u. Geschichte, das er zugunsten der freien Schriftstellerei aufgab. Erste Prosaversuche des von Klassik u. Romantik beeinflussten S. wurden im »Neuen Merkur« u. in der »Neuen Rundschau« abgedruckt u. 1927 von der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart, in deren Lektorat S. seit 1928 mitarbeitete, als Erzählband mit dem Titel Tordis veröffentlicht. S.s erzählerisches Hauptwerk, der Roman Jugend (Stgt. 1930), behandelt das Schicksal der Nachkriegsjugend. Von jungen zeitgenöss. Autoren wie Joachim Maaß, Frank Thiess u. Klaus Mann, mit dem S. befreundet war, wurde das Werk als repräsentatives Buch Michael Scheffel / Red. der Nachkriegsgeneration hoch geschätzt. Mary und ihr Knecht (ebd. 1932), S.s zweiter u. Süßkind von Trimberg. – Sangspruchletzter Roman, dessen Handlung ebenfalls in dichter, zweite Hälfte des 13. Jh. der zeitgenöss. Gegenwart angesiedelt ist, beschäftigt sich mit einer nicht standesge- Die Große Heidelberger Liederhandschrift (C) mäßen Liebesbeziehung. überliefert von S. zwölf Strophen in sechs 1933–1943 war S. Herausgeber der Zeit- Tönen; sie bezeichnet ihn als Juden u. damit schrift »Die Literatur«. Nach dem Krieg be- als einzigen jüd. Vertreter der dt. Lyrik des richtete er von den Nürnberger Prozessen (Die MA. Die Autorminiatur zeigt S. zusammen Mächtigen vor Gericht. Mchn. 1963); seit 1949 mit einem Bischof u. zwei weiteren Christen war er leitender Redakteur der »Süddeut- vielleicht in einem Religionsgespräch. Wähschen Zeitung«. rend die Miniatur S. in gehobener sozialer

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Stellung abbildet, beklagt das Ich in Ton V geprägt u. mitunter Ausdruck von Antisemiseine Armut u. den Hunger seiner Kinder u. tismus; die jüngere Diskussion verortet S. – schwört seiner törichten Kunst am Hof gei- oft unter Annahme eines pseudobiogr. Spiels ziger Herren ab, um »nach der Lebensart alter mit der jüd. Identität – stärker im allgemeiJuden« demütig seines Weges zu ziehen. Dies nen Gattungsspektrum des Sangspruchs des wurde kontrovers gedeutet: als fiktive Rolle, 13. Jh. Friedrich Torberg stellt S. in seinem aus der C die Zuschreibung u. die bildl. Dar- Roman als tragische Figur des Ausgegrenzten stellung gewonnen hätte, was S.s Judentum dar. in Abrede stellt; als unechte Zuweisung an Ausgaben: KLD 1, S. 421–425. KLD 2, den jüd. Dichter; oder, was plausibel nicht S. 513–516. – Bauschke (s. Lit.), S. 68–83 (mit bestritten werden kann, als authent. Text, der Übers. u. Komm.). – Ton V. In: Wapnewski 1989 (s. Lit.; mit Übers. u. Komm.). – Nachdichtung: F. Torsich auf eine biogr. Situation bezieht. S. ist als jüd. Name belegt, der Sänger aber berg (s. Lit.). Wiederabdr. in: S. v. T. Mhd. Gedichte urkundlich nicht eindeutig zu identifizieren, mit den Nachdichtungen. Hg. mit einem Nachw. v. Norbert H. Ott. Reicheneck 1981. – Grosse/RauSpuren weisen nach Würzburg oder Kontenberg (s. Lit.). stanz. Der Name deutet auf Trimberg bei Literatur: Ludwig Rosenthal: S. v. T. In: HaSchweinfurt, die Mundart der Lieder enthält nauer Geschichtsbl. 24 (1973), S. 69–100. – Peter mitteldt. Elemente. Als Entstehungszeit der Wapnewski: Ein Fremder im Kgl. Liederbuch. S. v. Töne u. Texte kommt die zweite Hälfte des T. In: Akten des 7. Internat. Germanistenkongres13. Jh. in Frage. ses. Hg. Albrecht Schöne. Bd. 1, Gött. 1985, Die Strophen behandeln traditionelle S. 111–125. – Manuela Jahrmärker: Die Miniatur Sangspruchthemen der Lebensführung, Ver- S.s v. T. in der Maness. Liederhs. In: Euph. (1987), haltens- u. Morallehre; auf zeitaktuelle polit. S. 330–346. – P. Wapnewski: Der fünfte Ton des Fragen geht S. nicht ein. Das Lob auf den Juden S. v. T. In: PBB (1989), S. 268–284. – BurgTugendadel (I,1) wird über das Motiv des hart Wachinger: S. v. T. In: VL. – Edith Wenzel: S. Tugendelixiers aus Treue, Anstand, Freige- v. T., ein dt.-jüd. Autor im europ. Kontext. In: Interregionalität der dt. Lit. im europ. MA. Hg. bigkeit, Tapferkeit u. »mâze« veranschauHartmut Kugler. Bln./New York 1995, S. 143–160. licht (I,2); Memento-mori-Gedanken verwei- – Dietrich Gerhardt: S. v. T. Berichtigungen zu eisen mit einer Parallele zum Talmud auf den ner Erinnerung. Bern 1997. – Ricarda Bauschke: jenseitigen Nutzen tugendhaften Handelns ›ich wil in alter juden leben mich fürwert ziehen‹. (I,3) u. verweigern mit ihrer Betonung der S. v. T. – Ein jüd. Autor in der Maness. Hs. In: Sterblichkeit des Menschen eine zuversichtl. Juden in der dt. Lit. des MA. Religiöse Konzepte – Heilsgewissheit (IV,1). Ein an die Psalmen Feindbilder – Rechtfertigungen. Hg. Ursula anklingender Gebetshymnus (III,1) kann Schulze. Tüb. 2002, S. 61–86. – Albrecht Hausgleichermaßen jüd. wie christl. Frömmigkeit mann: Das Bild zu S. v. T. in der Maness. Liederhs. zugeordnet werden. Der Lobpreis auf die von In: Kulturen des Manuskriptzeitalters. Ergebnisse der Amerikanisch-Deutschen Arbeitstagung an der Gott eingerichtete Weltordnung wird mit Georg-August-Univ. Göttingen vom 17. bis 20. Vergleichen zur Tierwelt illustriert (IV,2–3). Oktober 2002. Hg. Arthur Groos u. Hans-Jochen Strophen in Ton V u. VI nehmen die Per- Schiewer. Gött. 2004, S. 87–112. – Rezeption: spektive des sozialen Außenseiters ein, so Friedrich Torberg: S. v. T. Ffm. 1972 u. ö. – Siegetwa eine Haussorge, die im allegor. Na- fried Grosse u. Ursula Rautenberg: Die Rezeption mensspiel mit »Wo-heb-auf« u. »Finde- mittelalterl. dt. Dichtung. Tüb. 1989, S. 264 f. nichts« formuliert ist (V,1) u. in eine HeiChristoph Huber / Sandra Linden schestrophe mündet (V,2), oder auch Unrecht durch äußeren Zwang in der Klage des Wolfs Süßmilch, Johann Peter, * 3.9.1707 Ber(VI). In der Thematisierung sozialer Ungelin, † 22.3.1767 Berlin. – Evangelischer rechtigkeit erreicht S. durchaus ein krit. PoTheologe; Begründer der Demographie. tential, das sich jedoch im Rahmen des im Sangspruch Üblichen bewegt. S.s Vater ermöglichte seinem Sohn eine S.s Beurteilung in der frühen Forschung gründl. Schulbildung in Berlin u. in Halle, war durch die Frage nach seinem Judentum wo S. seit dem 24.4.1727 Theologie studierte.

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Am 10.4.1728 immatrikulierte er sich in Jena, trieb dort auch naturwissenschaftl. Studien u. unterrichtete Mathematik. 1732 brach er die akadem. Laufbahn ab, wurde in Berlin Hofmeister, dann Feldprediger u. nahm 1740 am schles. Feldzug teil. Nach seiner Heirat erhielt S. 1741 eine Dorfpfarre, wurde jedoch schon im folgenden Jahr, inzwischen durch das Buch Die göttliche Ordnung (1741) berühmt geworden, Propst an der Petri-Kirche in Berlin. Bis zu seinem Tod wirkte er dort als Prediger, Konsistorialrat, im Armendirektorium, als Zensor u. Mitgl. der Akademie der Wissenschaften; v. a. seine Tätigkeit für das Schulwesen (Gymnasialreform, Realschule, Hebammenschule) blieb in Erinnerung. S.s Die göttliche Ordnung folgt dem Paradigma der Physikotheologie, der empir. Erforschung der Natur zum Aufweis kontingenter Ordnungen als Zeugnisse Gottes in seiner Schöpfung, mit der Besonderheit, dass er die menschl. Gesellschaft in ihrem generativen Verhalten als »natürlichen«, d. h. nicht intendierten Prozess untersuchte u. mathematisch-statistische Methoden anwandte. S. polemisierte gegen die herrschende Auffassung, Kriege, Seuchen u. Hungersnöte seien »naturgemäße« Regulative. Vor allem durch Analyse des Heiratsverhaltens, der Geburtlichkeit u. der Sterblichkeit belegte er seine These, dass die natürl. Bevölkerungsordnung durch »sanfte« Faktoren bewirkt werde, u. postulierte unter »normalen« sozio-ökonomischen Bedingungen die Harmonie zwischen subjektiver Rationalität, sozialer Zweckmäßigkeit u. objektiver Gesetzmäßigkeit. Die breite Datenbasis, die Einbeziehung sämtl. Themenbereiche u. der meisten Publikationen zur »Politischen Arithmetik« u. Statistik geben dem Werk enzyklopäd. Charakter, v. a. in der zweiten, auf das Vierfache erweiterten Auflage. Dort rückt außerdem die Politik in den Mittelpunkt, die Verwirklichung des bibl. Vermehrungsgebots durch eine »naturgemäße«, d. h. überwiegend agrarische u. durch mittleren Besitz strukturierte Gesellschaft. S. formulierte radikale Forderungen zur Bauernbefreiung u. Verteilung der großstädt. Bevölkerungen. Die Gedancken von den epidemischen Kranckheiten und dem grösseren Sterben des 1757ten Jahres sind eine

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frühe Kritik am Pauperismus der Manufakturarbeiter. Die späte, v. a. durch Herders Gegenschrift berühmte Untersuchung über den Ursprung der Sprache zeigt die biblizistische Bindung seines physikotheolog. Denkens, die letztlich auch den außerordentl. Erfolg seines Hauptwerks begrenzte. Die Auflösung der Physikotheologie einerseits (Kant), die ökonomische Theorie von Adam Smith u. die Bevölkerungslehre von Malthus andererseits drängten es am Beginn des 19. Jh. in die Vergessenheit. 1990 wurde die ›J.-P.-S.-Gesellschaft für Demographie e. V.‹ gegründet (seit 2001 mit der ›Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft‹ [gegr. 1952] zur ›Deutschen Gesellschaft für Demographie‹ vereinigt). Weitere Werke: De creatione et gubernatione hujus mundi, itemque ficta regni Christi resignatione. Präses: Johann Friedrich Wucherer; Respondent: J. P. S. Jena 1730 (möglicherweise verschollen). – Dissertatio de cohaesione et attractione corporum. Präs.: Georg Erhard Hamberger; Resp.: J. P. S. Jena 1732. – Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe. Bln 1766. Nachdr. Köln 1998. Ausgaben: Die göttl. Ordnung in den Veränderungen des menschl. Geschlechts, aus der Geburt, Tod u. Fortpflanzung desselben, erwiesen. Vorw. Christian Wolff. Bln. 1741. Nachdr. Bln. 1977. Paris 1998. Düsseld. 2001. Hildesh. 2008 (= C. Wolff: Ges. Werke. Abt. III, Bd. 118). 2., umgearb. Aufl. 2 Bde., 1761/62. 3., verb. Aufl. 2 Bde., 1765. Nachdr. Gött. u. a. 1988. 4., verb. u. durch Christian Jacob Baumann erg. Aufl. 3 Bde., 1775/76. – Gedanken von den epidem. Kranckheiten u. dem grösseren Sterben des 1757ten Jahres [...]. Bln. 1758. Nachdr. in: Ursprünge der Demographie (s. u. Lit.), S. 263–242. – Die königl. Residenz Berlin u. die Mark Brandenburg im 18. Jh. Schr.en u. Briefe. Hg. Jürgen Wilke. Bln. 1994. Literatur: Vincenz John: J. P. S. In: ADB. – Arno Borst: Der Turmbau von Babel [...]. Bd. 3/2, Stgt. 1961. Nachdr. Mchn. 1995, S. 1487–1490 u. Register (in Bd. 4). – Ingeborg Esenwein-Rothe: J. P. S. als Statistiker. In: Die Statistik in der Wirtschaftsforsch. FS Rolf Wagenführ. Hg. Heinrich Strecker u. a. Bln. 1967, S. 175–201. – Charles E. Stangeland: Pre-Malthusian Doctrines of Population. New York 1967. – Jacqueline Hecht: J. P. S.: Point Alpha ou Omega de la Science Démographi-

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que naïve? In: Annales de Démographie Historique (1979), S. 101–134. – J. Hecht: J. P. S. ›L’Ordre divin‹ [...]. Bd. 1: Études critiques, biogr., correspondance, bibliogr. Bd. 2: L’œuvre de J. P. S.: ›L’ordre divin‹ (Traduction). Bd. 3: Index [...]. Paris 1979–84. – Ursprünge der Demographie in Dtschld. Leben u. Werk J. P. S.s. (1707–1767). Hg. Herwig Birg. Ffm. u. a. 1986. – Wolfgang Neugebauer: J. P. S. [...]. In: Berlin in Gesch. u. Gegenwart. Jb. des Landesarchivs Berlin. Hg. Hans J. Reichhardt. Bln. 1985, S. 33–68. – Propst J. P. S. aus Zehlendorf, Leben u. Wirken eines Universalgelehrten des 18. Jh. [...]. Hg. Kurt Trumpa. Bln. 1993. – Jutta Steinmetz: Vollkommenheit u. Ordnung bei J. P. S. Eine Pilotstudie. In: Beiträge zur Gesch. der Sprachwiss. 7 (1997), S. 265–276. – Joachim Gessinger: J. P. S., göttl. Ordnung u. universale Struktur der Sprachen. In: Formen der Aufklärung u. ihrer Rezeption [...]. FS Ulrich Ricken. Hg. Reinhard Bach. Tüb. 1999, S. 271–284. – Vademecum zu dem dt. Klassiker der Bevölkerungswiss. Hg. Herbert Hax. Düsseld. 2001 (= Kommentarbd. zum Nachdr.). – Dae Kweon Kim: Sprachtheorie im 18. Jh., Herder, Condillac u. S. St. Ingbert 2002. – J. Steinmetz: Wiederentdecken, aufdecken. J. P. S.s. ›Versuch eines Beweises [...]‹ (1766) als (sprach)wiss. Arbeit der Aufklärungszeit. Hann.-Laatzen 2003. – Naomi Miyatani: Ein histor. Aspekt der Sprachursprungstheorie im 18. Jh. Hamann ›zwischen‹ S. u. Herder. In: Doitsu Bungaku. Neue Beitr. 3 (2004), S. 56–74. – BBHS, Bd. 8, S. 184–189. – Eckart Elsner: Mit Ordnung zur Vernunft, der Statistiker S. u. der Dichter Lessing. Eine Begegnung. Kamenz 2007. Horst Dreitzel / Red.

Süverkrüp, Dieter, * 30.5.1934 Düsseldorf. – Liedermacher.

Wortwitz bürgerl. antikommunistische Affekte aufs Korn (Die erschröckliche Moritat vom Kryptokommunisten) u. beziehen Stellung zu polit. Fragen. Um Aktualität u. agitatorische Wirkung bemüht, passte sie S. immer wieder den sich ändernden polit. Gegebenheiten an. Daneben wandte er sich auch an Kinder: Baggerführer Willibald (1971. U. d. T. Da kommt der Willibald. Mchn. 1974; mit Schallplatte), Das Auto Blubberbumm (1976), Pauline spielt Gitarre (1988). S. arbeitete häufig mit Franz Josef Degenhardt, Hanns Dieter Hüsch, Wolfgang Neuss (Quartett ’67. 1967) u. Ernst Hilbich (Süverkrüps Laube. Sechsteilige Fernsehserie, 1968–71) zusammen. Seither erweitert er seine medialen Möglichkeiten ständig, etwa mit dem Melodram Alwin und Alwine. Ein Musikerschicksal (Urauff. Köln 1976). Seit den 1980er Jahren arbeitete S. auch wieder als Grafiker (Typen. Bildmappe zus. mit Hans Georg Lenzen. Bln. 1980. Landschaften aus dem Ruhrgebiet. Ebd. 1981) u. zeichnete für die FernsehSendung mit der Maus (WDR), in der er auch als Professor Knobel zu sehen war. Er hatte 1992/ 93 den Stiftungs-Lehrstuhl für Poetik an der Folkwang-Schule inne, schrieb Hörspiele, Libretti u. Bühnenmusiken. Mit dem Ende des »Ostblocks« ging eine vorsichtige Distanzierung von einigen sozialistischen, nicht aber von antikapitalistischen Positionen einher. 2010 erhielt S. den Deutschen KleinkunstPreis. Weitere Werke: Poesiealbum 130. Bln./DDR 1978. – Wir sind, wenn es gestattet ist, die Jugend (zus. mit der SDAJ). Dortm. 1980. – Jetzt siehst Du mal die Welt. 1981 (Filmmusik). – Das Ding in Ü. an der Ö. Ein Text. Essen 1993. – S.s Liederjahre 1963–1985 ff. Düsseld. 2002 (Lieder mit Komm.en). – Dantons Tod. 2005 (Bühnenmusik).

S. war nach dem Studium an der Werkkunstschule (1952–1954) Werbegrafiker in seiner Heimatstadt u. trat, musikal. Autodidakt, bis 1973 als Jazzgitarrist auf. Von 1959 Klaus-Peter Walter an entstanden erste Schallplatten mit eingedeutschten Liedern der Französischen Revolution (C¸a ira. Dt.: A, das geht ’ran); der Süvern, Johann Wilhelm, * 3.1.1775 LemSchallplatte Lieder der deutschen Revolution go, † 2.10.1829 Berlin. – Altphilologe, (1973) folgten 1986 Vertonungen von Texten Übersetzer; Schulreformer. Erich Mühsams (Ich lade euch zum Requiem). Seit 1960 schrieb S. eigene Texte zu seinen Der Sohn eines luth. Predigers u. Scholarchen Kompositionen, die seit 1962 in dem von ihm studierte seit 1793 Theologie in Jena, dann mitbegründeten Düsseldorfer Pläne Verlag seit 1795 Altertumswissenschaften bei Wolf erschienen. Frühe Lieder nehmen aus klas- in Halle u. trat 1796 als Schulamtskandidat in senkämpferischer Perspektive satirisch u. mit das 1787 von Gedike errichtete philologisch-

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Suhrkamp

Weitere Werke: Aeschylos Sieben gegen Thepädagog. Seminar in Berlin ein. Seit 1796 publizierte S. histor. Aufsätze, Übersetzun- ben. Halle 1797 (Übers.). – Sophokles Trachiniegen griech. Tragiker u. altphilolog. Abhand- rinnen. Bln. 1802. (Übers.). – Über den Kunstcharakter des Tacitus. Ebd. 1823. – Über einige histor. lungen. u. polit. Anspielungen in der alten Tragödie. Ebd. Nach leitenden Posten an den Gymnasien 1824. – Über den histor. Charakter des Dramas. in Thorn (seit 1800) u. Elbing (seit 1803), wo Ebd. 1825. – Über Aristophanes Wolken. Ebd. er die Kaufmannstochter Marie Klugmann 1826. – Über Aristophanes Vögel. Ebd. 1827. – heiratete, u. aufgrund einiger Reformschrif- Über die Absicht des Ödipus auf Kolonos. Ebd. ten zur Reorganisation des Gymnasialwesens 1828. – Hans-Georg Große-Jäger u. Karl-Ernst sowie zum westpreuß. Schulwesen über- Jeismann (Hg.): Die Reform des Bildungswesens. haupt mit den Reformkreisen um den Frei- Schr.en zum Verhältnis v. Pädagogik u. Politik. herrn vom Stein in Verbindung gekommen, Paderb. 1981 (mit Bibliogr. u. weiterer Lit.). Literatur: Catalogus Bibliothecarum J. W. S. erhielt S. 1806 den Ruf auf eine Professur für o. O. 1830. – Wilhelm Dilthey: J. W. S. In: ADB. – alte Philologie in Königsberg, wo er 1807/ Karl-Ernst Jeismann: J. W. S. in Münster, Juli 1815. 1808 die mit Fichtes Reden an die deutsche Na- Ein Beitr. zur Gesch. der Bildungsreform in Preution verglichenen Vorlesungen über die politische ßen. In: Westfalen 58 (1980), S. 164–171. – Peter Geschichte von Europa (Einleitungs-Vortrag. In: Mast: J. W. S. In: Wissenschaftspolitik in Berlin. Nemesis 1, 1814, S. 429–445) hielt, in denen Hg. Wolfgang Treue. Bln. 1987, S. 107–118. – Ruer u. a. das Bildungsideal einer neuhumanis- dolf Lassahn: J. W. S. In: Bautz. – Barbara Schneitischen Pädagogik propagierte. Seine libera- der: Sprache als Medium der Bildung. Zum Wandel len, an die Philanthropen u. an Pestalozzi in der Begründung des Sprachunterrichts bei Wilgleichermaßen anknüpfenden schulreforme- helm v. Humboldt, J. W. S. u. Johannes Schulze. In: Deutschunterricht u. Lebenswelt in der Fachgesch. rischen Ansichten brachten S. 1808 nach Hg. Ortwin Beisbart. Ffm. u. a. 1993, S. 37–58. Berlin in die Sektion für Kultus u. Unterricht Carsten Zelle / Red. im preuß. Innenministerium, wo er, bis er 1818 »hinausmanövriert« (Dilthey) wurde, neben Humboldt der »geistreichste und tä- Suhrkamp, Peter, eigentl.: Johann Heintigste Kopf« (Spranger) war. Der von S. rich S., * 28.3.1891 Kirchhatten/Oldenmaßgeblich bestimmte Schulgesetzentwurf burg, † 31.3.1959 Frankfurt/M.; Grabfür Preußen (1819) überlebte die Restauration stätte: Sylt, Keitumer Friedhof. – Verlenicht. Politisch resigniert, knüpfte S., seit ger; Essayist u. Erzähler. 1815 ordentl. Mitgl. der Akademie der Wis- Der Bauernsohn war seit 1911 Volksschulsenschaften, wieder an seine altertumswis- lehrer u. im Ersten Weltkrieg freiwilliger senschaftl. Studien an. Frontoffizier. Bis 1929 lehrte S. an der Insbesondere in der bedeutenden Schrift Odenwaldschule u. der Freien SchulgemeinÜber Schillers Wallenstein in Hinsicht auf die de Wickersdorf u. wurde dann Redakteur im griechische Tragödie (Bln. 1800) suchte S. auf Ullstein Verlag. 1932 machte ihn Gottfried dem Hintergrund von Schillers u. Friedrich Bermann Fischer zum Chefredakteur der Schlegels geschichtsphilosophischer Replik »Neuen Rundschau« u. berief ihn 1933 in den auf die »Querelle des Anciens et des Moder- Verlagsvorstand. Der in Deutschland verblienes« einen neuen Zugang zur griech. Tragö- bene Verlagsteil des S. Fischer Verlags erhielt die zu erlangen. Doch während diese durch 1936 eine neue Gesellschaftsform; die Leidie Erregung von Mitleid u. Furcht kathar- tung wurde S. übertragen. Ihm gelang es tisch »hindurchgeht« u. in eine Stimmung trotz höchster Gefährdung, die Geschäfte versetzt, »welche ein gedeihliches fröhliches aufrechtzuerhalten. 1944 wurde er verhaftet Menschenleben macht«, lässt nach S.s An- u. im Konzentrationslager Sachsenhausen sicht, die Hegel in seiner Wallenstein-Rezen- interniert. sion (1800/1801) teilte, Schillers Drama den Nach der Rückkehr der Erben von S. FiZuschauer in »Kleinmuth«, »Erbitterung« u. scher ergaben sich Differenzen über die »Ängstlichkeit« zurück. Konzeption der Verlagsführung, die 1950 mit

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einem Vergleich beigelegt wurden. Von den Sulzer, Alain Claude, * 17.2.1953 Basel. – 48 Autoren, die sich zwischen den Erben von Prosaautor. S. Fischer u. S. entscheiden konnten, votierS. absolvierte zuerst eine Ausbildung zum ten 33 für S. u. seinen neuen Suhrkamp VerBibliothekar u. arbeitete später als Journalist. lag, darunter Brecht, Rudolf Alexander Heute lebt er als freier Schriftsteller im elsäss. Schröder, Max Frisch u. Hermann Hesse. S. Vieux-Ferrette u. in Basel. Bereits seine ersten entwickelte den Suhrkamp Verlag zu einem beiden Bücher, der Roman Das Erwachsenender renommierten Häuser der dt. Nachgerüst (Mchn. 1983) u. die Erzählung Bergelson kriegszeit. Auf seine Initiative gehen die erste (Mchn. 1985), deuteten an, dass mit S. ein Werkausgabe von Brecht u. die Übersetzung Autor die literar. Bühne betrat, der besondevon Proust zurück; er förderte Hans Magnus ren Wert auf stilistische Sorgfalt u. Prägnanz Enzensberger u. Martin Walser u. erschloss legte. Die darin angelegten Zentralmotive mit den Werken von Walter Benjamin u. Homosexualität u. Künstlerschaft entfalteten Adorno dem dt. Lesepublikum die von den sich im Folgenden mit einem Faible fürs ExNationalsozialisten vertriebenen dt.-jüd. Au- zentrische. Im Erzählband Das Künstlerzimmer toren. (Stgt. 1988) repräsentieren der betagte Geiger Schließlich ist S. als kulturkrit. Autor Paganini u. die alternde Operdiva Malibran zahlreicher Beiträge für die »Neue Rund- ein virtuoses Künstlertum, das in der moschau« u. als Erzähler (Munderloh. Ffm. 1957) dernen Welt dem Tod geweiht ist. S. fokuszu nennen, der europ. Geisteshaltung u. siert dabei die enge Verkettung der phänoVerbundenheit mit seiner norddt. Heimat zu menalen Sensibilität seiner Helden mit einer vermitteln wusste. grotesken, kränkl. Körperlichkeit, die er Weitere Werke: Der Leser. Reden u. Aufsätze. schonungslos präzise einfängt. Der opulente Hg. u. mit einem Nachw. v. Hermann Kasack. Ffm. Roman Urmein (Stgt. 1998) folgt diesen Spu1960. – Briefe an die Autoren. Hg. u. mit einem ren. In einer Künstlerklause in den Bergen Nachw. v. Siegfried Unseld. Ffm. 1961. – Hermann treffen sich ästhetische Exzentriker zu einem Hesse – P. S. Briefw. 1945–59. Hg. S. Unseld. Ffm. Fest der Sinne, indem sie hochleben lassen, 1969. was der Dekadenz geweiht ist. Die poetische Literatur: Siegfried Unseld: P. S. Zur Biogr. Raffinesse ist dabei mit einer narrativen eines Verlegers in Daten, Dokumenten u. Bildern. Lebhaftigkeit aufgeladen, die Lücken getrost Ffm. 1975. Erw. 1991. 2004. – Dirk Grathoff (Hg.): in Kauf nimmt. Dennoch behält das Buch eine P. S. (1891–1959). Vom Bauernsohn aus Kirchhatten zum Frankfurter Verleger. Eine Ausstellung artifizielle Eigenständigkeit, die S.s Handzum 100. Geburtstag am 28. März. Oldenb. 1991. – schrift verrät. Ebenfalls ein Künstler ist der Protagonist Ursula Reinhold: ›Beiträge zur Humanität‹. Der Verleger P. S. In: Unterm Notdach. Nachkriegslit. im Roman Ein perfekter Kellner (Zürich 2004), in Bln. 1945–1949. Hg. Ursula Heukenkamp. Bln. worin Kunst u. Liebe in tragischer Verwick1996, S. 175–196. – Walter Obschlager: Aus dem lung zusammenfallen. Der Kellner Erneste, Briefw. Max Frisch – P. S. In: Geehrter Herr – lieber auch er Repräsentant einer vergehenden Freund. Schweizer Autoren u. ihre dt. Verleger. Hg. Welt, beherrscht sein Metier mit Stil u. Rätus Luck. Basel u. a. 1998, S. 245–270 (Ausstel- Feingefühl. Dahinter verbirgt sich jedoch lungskat.). – Helmut Schanze: Samuel Fischer – P. eine verlorene Liebe, die Jahrzehnte zurückS. – Siegfried Unseld. Vorüberlegungen zu einer liegt. 1935 lernte er als Lehrkellner den Verlegertypologie im 20. Jh. In: Geschäft mit Wort u. Meinung. Hg. Günther Schulz. Mchn. 1999, gleichaltrigen Jakob kennen, der seine ZuS. 147–164. – Wolfgang Schopf (Hg.): ›So müßte ich neigung zugunsten einer Anstellung als ein Engel u. kein Autor sein‹ – Adorno u. seine Liebhaber u. Sekretär beim Großschriftsteller Frankfurter Verleger. Der Briefw. mit P. S. u. Klinger verrät. S. erzählt diese melodramat. Siegfried Unseld. Ffm. 2003. – Rainer Gerlach: Die Geschichte mit distinguierter Diskretion u. Bedeutung des Suhrkamp-Verlags für das Werk v. stellt so einen vollendeten Einklang her zwiPeter Weiss. St. Ingbert 2005. schen ihr u. dem unglückl. Helden. Die IntiChristoph Groffy / Red. mität der (homosexuellen) Liebe wirkt dabei

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nie anzüglich. Der Roman Privatstunden (Zürich 2007) behandelt die scheue Zuneigung eines jungen Ostflüchtlings Ende der 1960er Jahre zu seiner verheirateten Deutschlehrerin. Dieser Text zeichnet sich erneut durch erzählerische Eleganz aus, anders als der Roman Zur falschen Zeit (Bln. 2010): Geschildert wird die Liebesgeschichte eines jungen homosexuellen Mannes, den soziale Konvention in eine Ehe u. in den Selbstmord treiben. Sein 17-jähriger Sohn holt die verdrängte Geschichte ans Licht zurück, indem er in Paris einen alten Freund des Vaters besucht. S. erzählt eindringlich, vertraut aber seinem Gewissheit suchenden Ich-Erzähler nicht restlos u. tauscht ihn in der Romanmitte gegen einen auktorialen Erzähler aus. Weitere Werke: Die siames. Brüder. Stgt. 1990 (R). – Annas Maske. Zürich 2001 (N). – Herausgaben: Das literar. Menü. Mit Rezepten v. Eckart Witzigmann. Ffm. u. a. 1997. – Das literar. Menü No. 2. Mit Rezepten v. Heinz Winkler. Ffm. u. a. 1998. – Antonius Anthus: Vorlesungen über die Eßkunst. Mit einem Vorw. v. A. C. S. Ffm. 2006. – Übersetzungen: Daniel Stauben: Eine Reise zu den Juden auf dem Lande. Augsb. 1986. – Jean Echenoz: Ein malays. Aufruhr. Stgt. 1989. – Jules Renard: Die Magd Ragotte. Stgt. 1991. – Georges Feydeau: Zu früh. Zu spät. Köln 1994. – Charles Cros: Verdreht, vernünftig, sauber. 8 Monodramen. Köln 1995. – Victorien Sardou: Die verfolgte Unschuld. Kom. in drei Akten. Köln 1995. Literatur: Tilman Krause: Die große Liebe [zu: ›Ein perfekter Kellner‹]. In: Die Welt, 4.12.2004. – Angelika Overath: Kleinere Fluchten [zu: ›Privatstunden‹]. In: NZZ, 5.1.2008. – Joseph Hanimann: Eine Ewigkeit bis viertel nach sieben [zu: ›Zur falschen Zeit‹]. In: FAZ, 20.7.2010. Beat Mazenauer

Sulzer, Johann Georg(e), * 16.10.1720 Winterthur, † 27.2.1779 Berlin. – Philosoph. S., Sohn eines Winterthurer Ratsherrn, kam nach dem Tod seiner Eltern (1734) nach Zürich u. absolvierte am akadem. Gymnasium, wo er u. a. von Bodmer u. Breitinger unterrichtet wurde, den theolog. Kursus (1736–1741). Nach kurzem Vikariat ging er 1743 als Hofmeister nach Magdeburg. Hier gewann er Anschluss an Berliner Gelehrtenkreise (Euler, Maupertuis) u. befreundete sich

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mit Gleim u. Lange sowie mit den aufgeklärten Theologen Sack u. Spalding. 1747 kam er als Mathematikprofessor ans Joachimsthalsche Gymnasium nach Berlin; 1750 wurde er Mitgl. der kgl. Akademie der Wissenschaften. Im selben Jahr heiratete er Katharina Keusenhof, eine Magdeburger Kaufmannstochter († 1760). Als S. 1763 seine Professur niederlegte, um als Privatgelehrter in die Schweiz zurückzukehren, berief ihn Friedrich II. an die neu gegründete Ritterakademie. 1775 ernannte er ihn zum Direktor der philosophischen Klasse der Akademie der Wissenschaften. Zunehmende Kränklichkeit trübte S.s letzten Lebensabschnitt. Er starb an einem Lungenleiden. S.s Philosophie prägten Wolff u. Shaftesbury sowie die auf die method. Beobachtung gegründete Naturforschung Johann Jakob Scheuchzers u. Johannes Gessners. Naturwissenschaftliche Themen bestimmen das Frühwerk. S. schrieb ein Gespräch von den Cometen (Zürich 1742), eine Untersuchung Von dem Ursprung der Berge (ebd. 1746) u. gab Scheuchzers Natur-Geschichte des Schweitzerlandes mit eigenen Anmerkungen u. Zusätzen neu heraus (ebd. 1746). Ganz der frühaufklärerischen Physikotheologie u. Theodizee verpflichtet, kulminierte S.s Interesse an der Naturlehre im Versuch einiger moralischer Betrachtungen über die Werke der Natur (Vorrede von August Friedrich Wilhelm Sack. Bln. 1745) u. den Unterredungen über die Schönheit der Natur (ebd. 1750. 21770 zus. mit den Moralischen Betrachtungen. 31774. Neudr. der 2. Aufl. Ffm. 1971), die in Anlehnung an Abbé Pluches Le spectacle de la nature (Paris 1732–50) u. Shaftesburys Naturhymnus (The Moralists. London 1709. Dt. von Johann Joachim Spalding. Bln. 1745) aus der »wunderbaren Ordnung« der Natur den Nachweis ihrer göttl. Einrichtung ziehen. Seit 1751 veröffentlichte S. Aufsätze in den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften (in frz. Sprache), deren wichtigste auch deutsch vorliegen: Vermischte philosophische Schriften (Lpz. 1773. 21781. 31800). Postum gab Friedrich von Blanckenburg einen zweiten Teil heraus: Vermischte Schriften [...] Nebst einigen Nachrichten von seinem Leben, und seinen sämtlichen Werken (ebd. 1781. 21800. Beide

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Teile als Neudr. Hildesh./New York 1974). Im Zentrum dieser Abhandlungen, die S.s zeitgenöss. Ruhm begründeten, steht die Seelenlehre; ihre Themen reichen von der Genietheorie (1757) bis zur Frage nach der Materialität oder Immaterialität der Seele (1771) u. ihrer Unsterblichkeit (1775–79). Von Leibniz’ Begriff der petites perceptions aus tastete sich S. bereits zu einer frühen Psychologie des Unbewussten u. der Fehlleistungen vor (1759). Fundament seiner Seelenlehre ist die »Wissenschaft der Empfindungen« (1751/52. 1763). In krit. Wendung gegen die rationalistische Psychologie (Descartes, Wolff), die als Essentia animae das Vorstellungs- u. Erkenntnisvermögen ansah, fasste S. die menschl. Seele als ein Wesen, das weit mehr durch »dunkle Empfindungen« als durch das Licht der Vernunft geleitet werde. Und dies – durch die in Anlehnung an Shaftesburys moral sense gefasste »Empfindung für Gut und Böse« – auch in moralicis (1769). Hauptwerk S.s ist eine in Form eines enzyklopäd. Kunstlexikons vorgelegte Ästhetik: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt (2 Tle., Lpz. 1771 u. 1774). Angeregt durch Jacques Lacombes Dictionnaire portatif des Beaux-Arts (Paris 1752), aus dem er auch einige Artikel übernahm, schrieb S. fast 20 Jahre an diesem Werk. Der Anteil anderer Verfasser ist nicht restlos geklärt. Wieland steuerte die Artikel Naiv u. Hirtengedichte bei, Bodmer den Artikel Politisches Trauerspiel u. etwa 20 weitere. Für die fachmusikal. Artikel zog S. den Bachschüler Johann Philipp Kirnberger, später dessen Schüler Johann Abraham Peter Schulz zu. In ihren Grundzügen auf die 1750er Jahre zurückgehend, stieß die Allgemeine Theorie bei der Sturm-und-DrangGeneration auf enttäuschte Ablehnung (Merck u. Goethe rezensierten das Werk in »Frankfurter Gelehrte Anzeigen«, 11.2. u. 18.12.1772, Herder in »Allgemeine deutsche Bibliothek« 22, 1774. Vgl.: Goethe, Sophienausgabe 1/37, S. 193 ff., S. 206 ff. u. Herder, Werkausg. von Suphan, Bd. 6, S. 377 ff.). Dem Erfolg des Werks tat dies keinen Abbruch. Parallel zur Erstausgabe erschien ein

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Nachdruck in vier Teilen (Lpz. 1773/74. 2 1777/78). Eine um ausführl. bibliografische Zusätze vermehrte Neuausgabe brachte Blanckenburg heraus (4 Tle., Lpz. 1786/87. 2 1796–98. Registerband 1799. Neudr. Hg. Giorgio Tonelli. Hildesh. 1967–70). Blanckenburgs Zusätze erschienen auch gesondert: Litterarische Zusätze zu Johann Georg Sulzers allgemeiner Theorie der schönen Künste (3 Tle., Lpz. 1796–98. Neudr. Ffm. 1972). Nochmals erweitert wurde das Werk durch die Nachträge zu Sulzers allgemeiner Theorie der schönen Künste (Hg. Johann Gottfried Dyck u. Georg Schaz. 8 Tle., Lpz. 1792–1808). Die in den Schlüsselartikeln entworfene philosophische Ästhetik markiert in der Entwicklung dieses Fachs von Baumgarten zu Kant einen Wendepunkt. Um die Eigenständigkeit des Schönen gegenüber dem Wahren herauszustellen u. das ästhetische Urteil vom begrifflichen zu sondern, griff S. auf den Unterschied von Empfinden u. Erkennen zurück: Das Schöne werde nicht erkannt, sondern empfunden. Weder der Einsicht in die Beschaffenheit noch dem Interesse am Nutzen eines Gegenstands entspringe das Geschmacksurteil, sondern einem Gefühl des Betrachters von sich selbst: der Empfindung des angenehmen oder unangenehmen Gemütszustandes, der die Wahrnehmung eines Objekts begleitet. Damit überwand S. die Auffassung vom Geschmack als Analogon rationis u. wies Kants Kritik der Urteilskraft den Weg (Artikel Empfindung, Geschmak, Schön, Sinnlich). Auch der aristotel. Mimesistheorie gab S. den Abschied. Nicht im Nachahmungstrieb, sondern im Ausdrucksverlangen des Menschen liege die anthropolog. Wurzel des Kunstschaffens. Für die Poetik folgt daraus die Preisgabe der Ut-pictura-poesis-Doktrin. Nicht mehr über die Analogie zur Malerei (qua Naturnachahmung) erschließt sich nun der »wahre Charakter« der Dichtung, sondern (qua Gefühlsausdruck) über ihre Verwandtschaft mit der Musik. Wie Tanz, Gesang u. Instrumentalmusik ist Poesie für S. nach Ursprung u. Wesen ekstat. Ausdrucksgebärde der empfindenden Subjektivität (Artikel Gedicht, Gesang, Lebendiger Ausdruk, Musik, Nachahmung). Da die Künste auf den Menschen »nicht, insofern er denkt, sondern

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insofern er empfindet« u. damit auf seine stärksten Triebfedern wirken, sind sie in exklusiver Weise zur »Lenkung des Gemüths« geeignet. Als Schule des Gefühls, des kultivierten u. sittl. Empfindens, kommt ihnen im Prozess der Humanisierung des Menschen u. des Fortschritts zu größerer »Glükseligkeit« eine wichtigere Rolle zu als der Aufklärung des Verstandes. Gegen Rousseaus Kulturkritik geschrieben, bereitete S.s geschichtsphilosophische Apologie der Kunst u. ihrer Würde Schillers Projekt einer ästhetischen Erziehung des Menschen vor (Vorrede, Artikel Aesthetik, Künste; Schöne Künste). Weitere Werke: Kurzer Begriff aller Wiss.en [...]. Lpz. 1745. 61786. – Lebensbeschreibung. Hg. Johann Bernhard Merian u. Friedrich Nicolai. Bln./ Stettin 1809. – Herausgeber: David Hume’s philosoph. Versuch über die menschl. Erkenntniss. Lpz. 1755 (mit Anmerkungen S.s). Literatur: Schriftenverzeichnis: S.: Vermischte Schr.en. Hg. Friedrich v. Blanckenburg. a. a. O. – Meusel 13. – Briefwechsel-Verzeichnis: Norbert Henrichs u. Horst Weeland (Hg.): Briefw. deutschsprachiger Philosophen 1750–1850. Bd. 1. Mchn. u. a. 1987, S. 217. – Biografisches: [Hans Caspar] Hirzel an Gleim über S. den Weltweisen. 2 Tle., Winterthur 1779. – Robert Hering: J. G. S. In: JbFDH (1928), S. 265–326. – Weitere Titel: Robert Sommer: Grundzüge einer Gesch. der dt. Psychologie u. Aesthetik. Würzb. 1892. Neudr. Amsterd. 1966, S. 195–230. – Max Dessoir: Gesch. der neuern dt. Psychologie. Bln. 21902. Neudr. Amsterd. 1964, S. 196 ff. – Johannes Leo: J. G. S. u. die Entstehung seiner Allg. Theorie der Schönen Künste. Bln. 1907. – Anna Tumarkin: Der Ästhetiker J. G. S. Lpz. 1933. – Oskar Walzel: J. G. S. über Poesie. In: ZfdPh 62 (1937), S. 267–303. – Armand Nivelle: Kunst- u. Dichtungstheorien zwischen Aufklärung u. Klassik. Bln. 1960, S. 82–97. – Ders.: S. als Neuerer. In: Worte u. Werte. FS Bruno Markwardt. Hg. Gustav Erdmann u. Alfons Eichstaedt. Bln. 1961, S. 281–288. – Johannes Dobai: Die bildenden Künste in J. G. S.s Ästhetik. Winterthur 1978. – Toshio Iwakiri: Schiller u. S. In: Doitsu Bungaku. H. 72 (1984), S. 1–10. – Carsten Zelle: ›Angenehmes Grauen‹. Literaturhistor. Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im 18. Jh. Hbg. 1987, S. 358–378. – Hans Adler: ›Fundus animae‹ – der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung. In: DVjs 62 (1988), S. 197–220. – Wolfgang Riedel: Erkennen u. Empfinden. Anthropologische Achsendrehung u. Wende zur Ästhetik bei J. G. S. In: Der ganze Mensch. Anthropologie u. Lit.

Summa theologiae im 18. Jh. Hg. Hans-Jürgen Schings. Stgt. 1994, S. 410–439. – Hans Erich Bödeker: Konzept u. Klassifikation der Wiss.en bei J. G. S. (1720–1779). In: Schweizer im Berlin des 18. Jh. Hg. Martin Fontius u. Helmut Holzhey. Bln. 1996, S. 325–339. – Anselm Gerhard: ›Man hat noch kein System von der Theorie der Musik‹. Die Bedeutung v. J. G. S.s ›Allgemeiner Theorie der Schönen Künste‹ für die Musikästhetik des ausgehenden 18. Jh. In: ebd., S. 341–353. – Élisabeth Décultot: Éléments d’une histoire interculturelle de l’esthétique. L’exemple de la ›Théorie générale des beaux-arts‹ de J. G. S. In: Revue Germanique Internationale, Nr. 10 (1998), S. 141–160. – Johan van der Zande: J. G. S.’s ›Allgemeine Theorie der Schönen Künste‹. In: Enzyklopädien, Lexika u. Wörterbücher im 18. Jh. Hg. Carsten Zelle. Wolfenb. 1998, S. 87–101. – Clémence Couturier-Heinrich: ›Tendance naturelle au rythme‹ et ›observation instinctive de la mesure‹: l’inscription du rythme dans le domaine du spontané chez J. G. S. et August Wilhelm Schlegel. In: Revue Germanique Internationale, Nr. 18 (2002), S. 53–70. – Andrea Bartl: J. G. S. Sprache u. Musik als einseitige Äußerungsformen u. das Ideal ihrer Verbindung. In: Dies.: Im Anfang war der Zweifel. Zur Sprachskepsis in der dt. Lit. um 1800. Tüb. 2005, S. 39–50. – Élisabeth Décultot: Métaphysique ou physiologie du beau? La théorie des plaisirs de J. G. S. (1751–1752). In: Esthétiques de l’Aufklärung. Paris 2006, S. 93–106. – Hartmut Grimm: J. G. S. In: MGG 2. Aufl. (Personenteil), Bd. 16 (2006). – Hans Joachim Dethlefs: Zur Theorie der Haltung in J. G. S.s ›Allgemeiner Theorie der schönen Künste‹. In: GRM, N.F. 59 (2009), 2, S. 257–279. Wolfgang Riedel / Red.

Summa theologiae. – Um 1100 entstandene anonyme geistliche Dichtung. Die in der Vorauer Sammelhandschrift (wohl Ende des 12. Jh.) überlieferte Dichtung von 324 Versen beruht auf einer mitteldt., vielleicht rheinfränk. Vorlage. Ihre aus dem 13. u. 14. Jh. stammende Kennzeichnung De sancta trinitate bezieht sich ebenso wie Die Schöpfung (Diemer 1849) auf den Anfang der Dichtung, die ihren heute üblichen, nicht ganz glückl. Titel Wilhelm Scherer (1863) verdankt. Der Inhalt folgt dem Ablauf der Heilsgeschichte. Deren Sinnzentrum, Kreuzigung u. Erlösung, stellen die vier in der Mitte stehenden Kreuzesstrophen dar. Ihnen voraus geht die Beschreibung des Schöpfergottes, die Erschaffung der Engel, der erste Sündenfall,

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die Schöpfung des Menschen als Ersatz für den gefallenen Engel u. der zweite Sündenfall. Auf die Kreuzesstrophen folgen die vom Christen geforderten Pflichten u. Tugenden Gott gegenüber sowie eine Rechtfertigung des Bösen. Dies alles ist ausgerichtet auf die Darstellung des Jüngsten Gerichts u. des ewigen Lebens. Die Schlussstrophe bildet ein Lobpreis des Erlösers aus der Sicht des erlösten Menschen. Die S. t. beherrscht der Glaube an Gnade, Erlösung u. Auferstehung, also die Heilsgewissheit der Osterliturgie, die das Mysterium der Erlösung vergegenwärtigt. Die in der Osternacht gefeierten Fakten der Heilsgeschichte bestimmen die Geschlossenheit der Komposition: Die Erschaffung des Menschen als Ebenbild Gottes, das Martyrium Christi, die Taufe u. Lehre der christl. Tugenden als Voraussetzung für das ewige Leben in der Mahlgemeinschaft mit dem Herrn. Das Gedankengedicht ist oft nur mit Hilfe lat. Parallelen zu verstehen. Eine Quelle wird sich für die S. t. kaum nachweisen lassen; auffällig ist indes die Nähe zu Honorius Augustodunensis. Die Komposition ist wie die von Ezzos Gesang (1064/65), der eine gewisse Nähe zur S. t. zeigt, Eigentum des volkssprachigen Dichters. Eine Weiterentwicklung der S. t. lässt sich wohl nicht nachweisen. Ausgaben: Albert Waag u. Werner Schröder (Hg.): Kleinere dt. Gedichte des 11. u. 12. Jh. Bd. 1, Tüb. 1972, S. 27–42 (S. 27–29 Bibliogr.). Literatur: Hartmut Freytag: Komm. zur frühmhd. S. T. Mchn. 1970. – Ders.: S. T., Strophe 9 u. 10: Der Mensch als Mikrokosmos. In: Studien zur frühmhd. Lit. Hg. L. Peter Johnson u. a. Bln. 1974, S. 74–82. – Gisela Vollmann-Profe: Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen MA (1050/60–1160/70) (= Gesch. der dt. Lit. von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 1. Tl. 2). Tüb. 21994, S. 54–56. – H. Freytag: S. t. In: VL. Hartmut Freytag / Red.

Summarium Heinrici. – Umfangreiches Kompendium mittelalterlichen Schulwissens, 11. Jh. (?) Das planmäßig, aber nur z. T. deutsch glossierte S. H. war in zahlreichen Handschriften des 11./12. bis 15. Jh. weit über den mitteldt./ oberdt. Sprachbereich verbreitet. Entste-

hungsort (kaum Worms, möglicherweise Lorsch) u. -zeit (letztes Drittel des 11. Jh.?; um 1150?) sind strittig. Ausgeschlossen scheint, dass der Name Heinrich, einem wohl nicht zum urspr. Textbestand gehörigen Widmungsgedicht als Akrostichon einbeschrieben, den Autor bezeichnet. Neue Handschriftenfunde u. Editionen haben die Forschungsdiskussion belebt. Erhalten ist eine urspr. Elf-Bücher- u. eine wenig jüngere Sechs-Bücher-Fassung. Die Langfassung stellt in ihren ersten zehn Büchern eine straffende Bearbeitung der Etymologiae Isidors von Sevilla dar. Den Kürzungen stehen Erweiterungen gegenüber, zur Grammatik nach Priscian, Cassiodor u. Beda, in anderen Bereichen nach anonymen Quellen. Dem systemat. Teil tritt in Buch 11 – als stoffl. Ergänzung – ein umfangreicher alphabetischer zur Seite. In drei Reihen werden unter jedem Buchstaben hebräische, griech. u. lat. Lemmata gebucht. Dieses wiederum in Lang- u. Kurzfassung erhaltene, z. T. für sich überlieferte Buch fehlt der Sechs-Bücher-Fassung. Beide Fassungen bieten eine umfassende Aufzählung von Realien; die Begriffe werden allenfalls kurz definiert. Dabei geht es nur sekundär um Sprachkunde. Im Rahmen einer systemat. Grobsortierung durch die Buchgliederung zählt der Sachteil Begriffe u. Dinge aus allen traditionellen Wissensgebieten auf u. glossiert sie durch lat. Definitionen oder Synonyme u. dt. Interpretamente. Die dt. Glossierung ist integraler Bestandteil des Werks, doch erfasst sie ganze Bücher nicht, andere in sehr unterschiedl. Dichte. Die Sechs-Bücher-Fassung lässt in großem Umfang die Teile ohne dt. Glossen fort; neue dt. Glossen bringt sie kaum. Der alphabetische Teil bietet als hebräische Lemmata fast ausschließlich Namen des AT mit lat. Interpretamenten nach dem einschlägigen Traktat des Hieronymus. Deutsche Glossen finden sich erst zu den griech. u. lat. Lemmata neben den lat. Interpretamenten, gelegentlich sogar allein u. ohne diese. Auch dies zeigt den primären Charakter des Werks als Realienkunde u. die Möglichkeit der Verwendung dt. Glossen in solchem Funktionszusammenhang an.

401 Ausgaben: S. H. Hg. Reiner Hildebrandt. 2 Bde., Bln./New York 1974 u. 1982. – Werner Wegstein: Studien zum ›S. H.‹. Die Darmstädter Hs. 6. Werkentstehung. Textüberlieferung. Edition. Tüb. 1985. Literatur: Reiner Hildebrandt: Zu einer Textausg. des ›S. H.‹: Der Erlanger Codex (v). In: ZfdA 101 (1972), S. 289–303. – Werner Wegstein: Anmerkungen zum ›S. H.‹. In: ebd., S. 303–315. – Heinrich Tiefenbach: Der Name der Wormser im ›S. H.‹. In: Beitr. zur Namenforsch. 10 (1975), S. 241–280 (wieder in: Ders.: Von Mimigernaford nach Reganespurg. Ges. Schr.en zu altsächs. u. ahd. Namen. Regensb. 2009, S. 9–38). – Norbert Wagner: Zur Datierung des ›S. H.‹. In: ZfdA 104 (1975), S. 118–126. – R. Hildebrandt: Rez. zu Wegstein 1985. In: AfdA 97 (1986), S. 120–129. – Stefanie Stricker: Basel ÖBU. B IX 31. Studien zur Überlieferung des S. H. Langfassung XI. Gött. 1989 (Rez. dazu: R. Hildebrandt, ZfdA 119, 1990, S. 470–483). – Dagmar Gottschall: Ein neuer Fund zur Datierung des ›S. H.‹. In: ZfdA 119 (1990), S. 397–403. – S. Stricker: Editionsprobleme des ›S. H.‹. In: Probleme der Ed. ahd. Texte. Hg. Rolf Bergmann. Gött. 1993, S. 38–75. – Birgit Meineke: Liber Glossarum u. S. H. Zu einem Münchner Neufund. Gött. 1994. – R. Hildebrandt: S. H. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Ders.: S. H. Das Lehrbuch der Hildegard v. Bingen. In: Stand u. Aufgaben der dt. Dialektlexikographie. II. BrüderGrimm-Symposion zur histor. Wortforsch. Beiträge zu der Marburger Tagung vom Okt. 1992. Hg. Ernst Bremer u. R. Hildebrandt. Bln./New York 1996, S. 89–110. – Ders.: Kulturgeschichtl. Aspekte des Wortschatzes im S. H. In: Dt. Wortforsch. als Kulturgesch. Beiträge des Internat. Symposions aus Anlass des 90-jährigen Bestandes der Wörterbuchkanzlei der Österr. Akademie der Wiss.en. Wien 25.-27. Sept. 2003. Hg. Isolde Hausner u. Peter Wiesinger. Wien 2005. Ernst Hellgardt

Supper

die anlässlich der Heiligsprechung Leopolds III. an dessen Grab aufgestellt wurden. 1491 erschien diese Geschichte u. Genealogie der Babenberger in Basel im Druck. Mit dem Werk machte sich S. als Historiker einen Namen u. wurde 1498 Mitgl. der Sodalitas Danubiana. 1500 übernahm er genealog. u. geografische Aufgaben im Dienst Maximilians I. Für die vom Kaiser initiierte topografische Landesbeschreibung unternahm S. viele Reisen, die ihn wahrscheinlich bis nach Frankreich u. im Donautal bis Ofen führten. Seine Aufzeichnungen, die in mehreren Handschriften überliefert sind, enthalten detaillierte topografische Angaben u. stellen für die Genealogie vieler Fürstenhäuser eine wichtige Quelle dar. Bereits 1499 im Besitz einer dritten Messpfründe in Wien, wurde S. 1504 ins Wiener Domkapitel aufgenommen. S. setzte durch exakte Forschungen u. krit. Quellenstudium der Historiografie neue Maßstäbe. Seine umfangreichen Studien zur Topografie Österreichs bildeten eine wichtige Basis für Cuspinian u. Wolfgang Lazius. Literatur: Fritz Eheim: L. S. [...]. In: MIÖG 67 (1959), S. 53–91. – Ders.: Histor. Landesforsch. im Zeitalter des Humanismus. In: Veröffentlichungen des Verbandes Österr. Geschichtsvereine 16. Wien 1965, S. 102–105. – Floridus Röhrig: Der Babenberger-Stammbaum im Stift Klosterneuburg. Ebd. 1975. – Richard Perger: S.-Beitr. In: Adler. Ztschr. für Genealogie u. Heraldik 10 (1974–76), S. 224–239. – Wilhelm Baum: Sigmund der Münzreiche u. L. S. In: Der Schlern. Monatsztschr. für Südtiroler Landeskunde 66 (1992), S. 574–586. – Karsten Uhde: L. S.s geograph. Werk u. seine Rezeption durch Sebastian Münster. Köln/Weimar/ Bln. 1993. – Winfried Stelzer: L. S. In: VL. Monika Maruska / Red.

Sunthaym, (von) Sunthaim, Sunthain, Sunthaymer, Ladislaus, * um 1440 Ravensburg, † Ende 1512/Anfang 1513 Wien. – Historiker u. Geograf. Supper, Auguste (Luise), geb. Schmitz, * 22.1.1867 Pforzheim, † 14.4.1951 LudS. ist 1460 in den Matrikeln der Universität wigsburg. – Erzählerin. Wien nachweisbar (1465 Baccalaureus artium). 1473 erhielt er zwei Messpfründen am Stephansdom in Wien u. stand 1475 als Genealoge im Dienst Herzog Sigmunds von Tirol. In die Zeit zwischen 1485 u. 1489 fielen die Arbeiten zu den Tabulae Claustroneoburgenses,

S. kam früh nach Calw, wo ihre Eltern die Bahnhofsgaststätte bewirtschafteten. Nach Besuch der höheren Töchterschule heiratete sie 1888 einen Finanzrat († 1911); als freie Schriftstellerin lebte sie in Stuttgart u. Calw, seit 1923 in Ludwigsburg.

Suppius

S.s Erzähltalent kam v. a. in der Dorfgeschichte (u. a. Da hinten bei uns. Heilbr. 1905) zur Geltung, wobei sie mehr dem wirklichkeitsnahen Modell Hansjakobs als dem idealisierenden Auerbachs folgte. Genaue Kenntnis des Schwarzwälder Landlebens, sozialpsycholog. Gespür u. Humor gaben auch ihrem Heimatroman Lehrzeit (Stgt. 1909. 41912) künstlerische Tiefe. Übersinnliches spielt in ihrem Geschichtenbuch Holunderluft (Mchn. 1910) u. in Die Mühle im kalten Grund (Heilbr. 1912. 51913) eine tragende Rolle. Ferner schrieb S. eine Reihe histor. Romane (u. a. den chronikal. Bericht über Würzburg im Dreißigjährigen Krieg Unter dem Jesuitenhut. Barman 1899; später u. d. T. Der schwarze Doktor). Populär wurde das Frauenbuch Die Mädchen vom Marienhof (Stgt. 1931), in dem es um die Erhaltung eines väterl. Besitzes durch die verarmten Töchter geht. Weitere Werke: Der Mönch v. Hirsau. Heilbr. 1898. 21905 (Verserzählung). – Der Herrensohn. Ebd. 1916 (R.). – Der Gaukler. Ebd. 1929 (R.). – Aus halbvergangenen Tagen. Mchn. 1937 (Autobiogr.). – Der Krug der Brenda. Gütersloh 1940 (R.). – Schwarzwaldgesch.n. Stgt. 1945. Neudr. 1983. Literatur: Reinhard Hübsch: ›Wo war noch etwas Erhebendes?‹ A. S. u. das Nationale [...]. In: Allmende 28/29 (1990), S. 189–205. – Gerhard Kaller: A. S. In: Bautz. – Franz Raberg: A. S. (1867–1951) – Glaube an das Dritte Reich. In: Beiträge zur Landeskunde v. Baden-Württemberg 2001, 2, S. 10. – Thomas Stierle: Autorinnen in Stadt u. kreis Ludwigsburg vom 18.-20. Jh. Stgt. 2007, S. 39–44. Christian Schwarz / Red.

Suppius, Christoph Eusebius, * 13.3.1709 Naundorf bei Halle/Saale. – Lyriker. Nach dem Besuch der Lateinschule in Halle nahm der Pastorensohn im Herbst 1732 das Jurastudium an der Universität Leipzig auf. Als mittlerer Verwaltungsbeamter war er später im Dienst des Herzogtums SachsenGotha an verschiedenen Orten tätig. Um 1748 fand er Aufnahme in der Deutschen Gesellschaft in Göttingen. Dem letzten bekannten biogr. Dokument zufolge wurde er 1761 zum Amtmann befördert. In seinen literarästhetischen Anschauungen stand S. Bodmer näher als Gottsched. Das Werk des Lyrikers besteht überwiegend aus

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pathet. Oden u. Idyllen, meist Auftragsdichtung zu bestimmten Anlässen. Die persönl. Bekannten bzw. Angehörigen des Herzogshauses gewidmete Kasualpoesie weist S. als konventionellen Mustern folgenden Dichter aus. Seine Schäferdichtung – Hylas, ein HirtenGespräche (Gotha 1750) u. Hirten-Gespräche (ebd. 1751. Wiederveröffentl. u. d. T. Menalk in der Schäfer-Stunde. o. O. 1763) – knüpft an die von Vergil geprägte Gattungstradition an. Ein universalhistor. Lehrbuch, das S. aus dem Französischen übersetzte (Des Herrn la Croze Kurzer Begrif der allgemeinen Weltgeschichte. Gotha 1754. 31768), ist ganz dem pädagogischmoralischen Gedankengut der Aufklärung verpflichtet. Weitere Werke: Der Inselberg. Gotha o. J. [1745] (L.). – Oden u. Lieder. Ebd. 1749. Literatur: A. Schumann: C. E. S. In: ADB. Peter Heßelmann

Surius, Laurentius, eigentl. Sur, Sauer, * 1522 (1523?) Lübeck, † 23.5.1578 Köln. – Kartäusermönch, Herausgeber, Übersetzer. Lebensmittelpunkt des aus einem Lübecker Handwerkerhaus stammenden S. war die Kartause St. Barbara in Köln. In Köln erschienen alle seine Werke. Nach Studien in Frankfurt/O. (ab 1535) u. Köln (ab 1536) trat S. 1540 daselbst in den Kartäuserorden ein (Profess 1541, Priesterweihe 1543) u. verbrachte dort – mit Unterbrechung nur durch einen Aufenthalt 1547 (1548?) in Mainz – ein in den Dienst des Katholizismus gestelltes, produktives Gelehrtenleben. Dabei ging es ihm darum, die gültigen Zeugnisse der Tradition sprachlich im Sinne humanistischer Eleganz u. theologisch im Blick auf die Auseinandersetzung mit der reformatorischen Bewegung herauszugeben u. zu revidieren. Drei Phasen seiner publizistischen Wirksamkeit (1545–1578) sind zu unterscheiden: 1. Herausgabe der dt. Mystiker bis 1555; 2. Herausgabe kirchengeschichtl. Sammlungen u. Überarbeitungen bis 1570; 3. Arbeit am Hauptwerk De probatis Sanctorum historiis. Die Übersetzung des anonymen Werks Dye groote evangelische peerle (Margarita evangelica. 1545) ins Lateinische wird S. zugesprochen,

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aber erst die lat. Übertragung der Werke Johannes Taulers (D. Ioannis Thauleri opera omnia. 1548) ist sicher seine Arbeit. Sie konnte aus Zeitdruck nicht vollständig erscheinen, so dass S. ein Werk Taulers nachpublizieren musste (D. Ioannis Thauleri de vita et passione salvatoris nostri exercitia. 1548). Grundlage der Übersetzung ist die dt. Tauler-Ausgabe seines Freundes u. Vertrauten Petrus Canisius, in deren Text S. vielfach eingriff. Ohne den Zwang konfessioneller Stellungnahme übersetzte S. den Mystiker Jan van Ruysbroek (D. Ioannis Rusbrochii opera omnia. 1552), der von protestantischer Seite nicht vereinnahmt worden war. Die dritte lat. Übersetzung eines Gesamtwerks durch S. galt Heinrich Seuse (D. Henrici Susonis opera omnia. 1555). Anders als bei Tauler u. Ruysbroek berichtet S. hier nicht von seiner Arbeit an einem krit. Text. Die Vorrede enthält eine interessante Stellungnahme gegen konkurrierende Übersetzungen, deren Texteingriffe u. mangelnde Sensibilität den Werken der Mystiker ihre Einfalt, Klarheit u. Kraft geraubt hätten. In einer zweiten (im weitesten Sinne kirchenhistorischen) Werkgruppe bezog S. am stärksten Stellung in den konfessionellen Auseinandersetzungen, beeinflusst von der kath. Reform im Konzil von Trient (1545–1563). Hervorzuheben ist zunächst die Werkausgabe der Päpste Leo I. u. Leo IX. – so (ohne ausdrückl. Begründung) mit Blick auf die antihäret. Publizistik beider zusammengestellt (D. Leonis eius nominis I. Romani pontificis opera his adiunximus D. Leonis IX. lucubrationes. 1561). Bei Leo I. gab es eine Vorgängerausgabe, die S. textkritisch verbessert hat; die Schriften Leos IX. waren bis dahin unpubliziert. Zwei Jahre später erschien S.’ einziges selbstständig konzipiertes Werk, eine Fortführung der Chronik des Tübinger Humanisten Johannes Naucler von 1500 bis 1564 (zunächst als Anhang Chronicon D. Ioannis Naucleri [...] cum appendice nova. 1564, dann erweitert u. aktualisiert als Einzelpublikation Commentarius brevis rerum in orbe gestarum. 1566 u. ö. Eine dt. Übersetzung erschien schon 1568 in Köln). Sie ist Gegendarstellung zur protestantischen Geschichtsschreibung, insbes. zu der 1555 in Straßburg erschienenen Schrift De statu religionis et rei publicae des

Surius

Johannes Sleidan. Internationale Beachtung fand dann seine Herausgabe von vier Bänden Konzilsakten (Concilia omnia. 1567), die S. als Emendation u. Erweiterung der Konziliensammlung des Kölner Franziskaners Petrus Crabbe vorgelegt u. Philipp II. von Spanien gewidmet hat. Obwohl S. Texttreue zu den Handschriften versichert, hält seine Ausgabe der Konzilsakten einer krit. Prüfung nicht immer stand. Im Konzil von Trient wurde 1563 die Frage der Heiligenverehrung positiv entschieden. Zu einer umfassenden Sammlung lat. Heiligenleben wurde S. durch die schnell vergriffene Auswahl des Italieners Luigi Lippomano (Sanctorum priscorum patrum vitae. 5 Bde., Venedig 1551–56) angeregt. Sie liegt seiner Sammlung zu einem Drittel zugrunde; zu den vielen übrigen Quellen gehören zahlreiche Handschriften. S. griff in die Texte stilistisch u. inhaltlich ein; insbesondere histor. Fehler wurden mit Blick auf eventuelle Konfessionspolemik getilgt. S. wählt im Anschluss an die spätantik-mittelalterl. Martyrologien, Passionalien u. Legendarien die liturg. Anordnung nach dem Kirchenjahr. Seine Entscheidung gegen die ›modernere‹ alphabetische Anordnung, wie sie etwa die Sammlung des Boninus Mombritius (Sanctuarium seu vitae Sanctorum. Mailand ca. 1479) bestimmt, gilt zurecht als Betonung kath. u. monast. Tradition gegen die protestantische Kritik an Heiligenverehrung u. Wundergläubigkeit; S. tilgte freilich selbst hin u. wieder überflüssige Wunderhäufungen. Der Erfolg der Sammlung war beträchtlich. Schon ein Jahr nach Fertigstellung der ersten Auflage (De probatis Sanctorum historiis. 6 Bde., 1570–75) begann S. mit der Publikation einer zweiten, erweiterten sechsbändigen Auflage, von denen er noch drei Bände (1576, 1578, 1579) selbst redigieren konnte; die postume Ausgabe der verbliebenen drei Bände besorgte sein Ordensbruder Jacob Mosander. Eine dritte Auflage in 12 Bänden, die sich noch einmal erheblich von den Vorgängern unterschied, brachte 1617/18 der Kartäuser Georg Garnefeld in Köln heraus. Der Eigenanteil von S. an De probatis Sanctorum historiis ist nicht zu unterschätzen: Seine inhaltl. u. stilist. Eingriffe bestimmten lange Zeit die

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Gestalt, in der die lat. Hagiografie im ven der mittelalterl. Forsch. FS Loris Sturlese. Hg. abendländ. Kulturraum rezipiert wurde (die Alessandra Beccarisi. Hbg. 2008, S. 348–374. – Jan erste dt. Übersetzung erschien in sechs Bän- Marco Sawilla: Antiquarianismus, Hagiographie u. den 1574–1580 in München). Erst die von Historie im 17. Jh. Tüb. 2009, S. 480–514. Tino Licht Daniel Papebroch ersonnenen u. von Jean Bolland u. den Nachfolgern ins Werk gesetzten Acta Sanctorum (im Kirchenjahr am 10. Surminski, Arno (Hermann), * 20.8.1934 Nov. stehengeblieben) vollzogen den Schritt Jäglack/Ostpreußen. – Erzähler u. Jourvon der redigierten Sammlung zur sprachnalist. lich-krit. Ausgabe. Sie sind wegen dieses Qualitätssprungs das große Vorbild aller Der Sohn eines Schneidermeisters u. einer Bäuerin hat im überwiegenden Teil seines modernen krit. Editionscorpora. Weitere Übersetzungen und Ausgaben: De weitgespannten Œuvres, ähnlich wie S. Lenz Sanctissimo ac praestantissimo missae sacrificio u. andere, seine verlorene Heimat Ostpreuconciones XV. 1549 (Predigtreihe des Michael Hel- ßen in der Spannung von biogr. Reminiszenz ding auf dem Augsburger Reichstag). – Institutio- u. fiktionaler Imagination behandelt. So nis vitae Christianae libri V. 1552 (Werke des Löw- entstanden atmosphärisch dichte, im Detail ener Kartäuserpriors Florens von Haarlem). – fesselnde, ohne nationales Ressentiment Compendium verae salutis. 1553 (zwei anonyme konzipierte epische Erinnerungs- u. BeTraktate aszetisch-myst. Inhalts). – De missa evan- wusstseinsräume mit einem farbigen Persogelica. 1556 (Traktat des Augsburger Dompredinal im Geflecht signifikanter Anekdoten u. gers Johannes Fabri über die kath. Messe). – De sprechender Szenen. Landschaft u. Milieu veritate corporis et sanguinis Christi. 1560 (Eucharistietraktat des Kölner Erzdiakons Johannes fungieren hier als soziale Arbeits- u. ErfahGropper). – Apologia D. Friderici Staphyli de vero rungszentren, geprägt von Relikten der Tragermanoque scripturae sacrae intellectu. 1562. – dition, von Dumpfheit u. Aufbruch, von InProdromus in defensionem apologiae. 1562. – Ab- signien der Alltagskultur u. von den ambisoluta responsio in defensionem apologiae. 1563 valenten Erlebnissen der endlich in die Ka(kontroverstheologisch-apologet. Schriften des tastrophe mündenden Zeitgeschichte. S. Konvertiten Friedrich Staphylus). – Concio egregia meistert eine Fülle charakterologischer u. et catholica. 1563 (Antrittspredigt des Martin Ei- auch sprachl. Figurenporträts, die der narrasengrein in Ingolstadt). – Homiliae sive conciones. tiven Intensität dieses zumeist immer noch, 1569 (Ausg. einer unter Alkuins Namen verbreiteauch aus politisch-themat. Berührungsängsten Predigtslg. zu den Evangelienperikopen). ten mancher Kritiker, unterschätzten Autors Literatur: Karl Etzrodt: L. S. Halle/S. 1889. – einen hohen Rang verleihen. Paul Holt: Die Slg. v. Heiligenleben des L. S. In: Mit Jokehnen oder Wie lange fährt man von Neues Archiv 44 (1922), S. 341–364. – Ders.: L. S. u. die kirchl. Erneuerung im 16. Jh. In: Jb. des Köl- Ostpreußen nach Deutschland? (Stgt. 1974. nischen Geschichtsvereins 6/7 (1925), S. 52–84. – Neuausg. Mchn. 2000) wurde S. bekannt. Es Joseph Greven: Die Kölner Kartause u. die Anfänge ist die Geschichte eines dörfl. Kosmos, zgl. der kath. Reform in Dtschld. Münster 1935. – Hil- die mit der Zeit des Nationalsozialismus andegard Hebenstreit-Wilfert: Wunder u. Legende. hebende Lebensgeschichte des ostpreuß. Studien zu Leben u. Werk von L. S. (1522–1578) Jungen Hermann Steputat, der »geboren insbes. zu seiner Slg. ›De probatis sanctorum his- wurde, als Paul Hindenburg starb« u. der sich toriis‹. Diss. Tüb. 1975. – Gérald Chaix: Réforme et in den Wirren der letzten Kriegsmonate allein Contre-Réforme catholiques. Recherches sur la nach Westdeutschland durchschlägt. Wie die Chartreuse de Cologne au XVIe siècle. 3 Bde., Salzb. Romanfigur benötigte der elfjährige S. nach 1981. – Ders.: L. S. In: Rheinische Lebensbilder. der Deportation seiner Eltern nach Russland Bd. 11. Hg. Wilhelm Janssen. Köln 1988, S. 77–100. – Maarten J. F. M. Hoenen: Translating mystical zwei Jahre, bis er in Schleswig-Holstein Auftexts from vernacular into latin. The intentions and nahme in einer kinderreichen Familie aus strategies behind L. S.’ edition of John of Ruusb- seinem Heimatdorf fand. Der zweite Roman, roec’s Complete Works (Cologne 1552). In: Per Kudenow oder An fremden Wassern weinen (Hbg. perscrutationem philosophicam. Neue Perspekti- 1978), erzählt im schlichten Chronistenton,

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Weitere Werke (großenteils auch als Tb. erdoch mit feinem psycholog. Gespür das weitere Schicksal des Jungen, den es mit vielen schienen): Aus dem Nest gefallen. Hbg. 1976 (E.). – anderen aus dem Osten in ein gottverlassenes Wie Königsberg im Winter. Geschichten gegen den Dorf diesseits der Elbe verschlagen hat. In Strom. Ebd. 1981 (E.). – Polinken oder eine dt. Liebe. Ebd. 1984 (R.). – Am dunklen Ende des Reden Augen des Zwölfjährigen spiegeln sich genbogens. Ebd. 1988 (R.). – Malojawind. Ebd. die bedrängten Verhältnisse, die Spannungen 1988 (E.). – Gewitter im Januar. Reinb. 1989 (E.). – zwischen Einheimischen u. Flüchtlingen, der Die Reise nach Nikolaiken. Ebd. 1991 (E.). – Kein mühselige Kampf um das Lebensnotwendige, Schöner Land. Mchn. 1993 (R.). – Damals in PogWährungsreform u. Berliner Blockade, Son- genwalde. Ebd. 1995 (E.). – Besuch aus Stralsund. derzuteilungen u. erste Wahlen. Stets gegen- Ebd. 1995 (E.). – Sommer vierundvierzig oder Wie wärtig ist die Sehnsucht nach der Heimat im lange fährt man von Dtschld. nach Ostpreußen? Osten u. zunächst auch noch die Hoffnung Bln. 1997 (R.). – Die masur. Könige. Ebd. 1999 (E.). auf Rückkehr. Mit Grunowen oder Das vergan- – Gruschelke u. Engelmannke. Gesch.n auf Ostgene Leben (Hbg. 1989) schloss S. seine Ost- preußisch u. Hochdeutsch. Bln. 2006. – Die Vogelwelt v. Auschwitz. Eine Novelle. Mchn. 2008. – preußen-Trilogie ab. Die drei Bände u. auch Amanda, oder ein amerikan. Frühling. Mchn. 2009 manche der folgenden Werke leisten Trauer- (R.). – Vaterland ohne Väter. Bln. 2009 (R.). – Aus arbeit. Sie gehören zu einer keineswegs süß- dem Nest gefallen. Bln. 2009 (E.). lichen, sondern oft auch schonungslosen Literatur: Jean-Luc Gerrer: A. S., un auteur ›Heimatliteratur‹, die ganz ohne Zeigefinger contemporain de Prusse Orientale. In: Le texte et auskommt, gewiss ihren melanchol. Reiz l’idée 1 (1986), S. 201–235. – Harald Kabsa: Die auch aus den Bildern einer ländlich heilen, Kriegsthematik in A. S.s Kurzprosa. In: Colloquia aber unwiederbringlich verlorenen Welt be- Germanica Stetinensia 1989, N. 2, S. 133–143. – zieht. Sie dienten auch als Vorlage für publi- Herman E. Beyersdorf: ›... den Osten verloren‹. Das Thema der Vertreibung in Romanen v. Grass, Lenz kumswirksame Fernsehserien. Nach einer Lehre in einem Rechtsanwalts- u. S. In: WB 38 (1992), S. 46–67. – Ders.: A. S. büro (1950–53) wagte S. 1955 einen neuen Chronist des verlorenen Ostens. In: Dt. Studien 33 (1996), S. 14–38. – Ders.: Gespräch mit A. S. In: Dt. Aufbruch als Holzfäller in Kanada (bis 1957). Bücher 27 (1997), S. 1–17. – Ders.: Erinnerte HeiAuch diese Erfahrungen fanden Niederschlag mat. Ostpreußen im literar. Werk v. A. S. Wiesb. in einem Roman, in Fremdes Land oder Als die 1999. – Simone Metzger: Verlusterfahrung u. liteFreiheit noch zu haben war (Hbg. 1980), einem rar. Erinnerungsstrategie. Die Darstellung v. HeiLobgesang auf das harte, einfache Leben in mat, Flucht u. Integration in den Ostpreußender Neuen Welt. Seine Helden sind Deutsche Romanen A. S.s (geb. 1934). Marburg 2001. – Taaus der eng gewordenen Heimat; einige von deusz Namowicz: Flucht, Vertreibung u. Zwangsihnen kehren, wie S. selbst, enttäuscht nach aussiedlung in der westdt. Lit. über Ostpreußen. Europa zurück. Neben etlichen Erzählbän- In: Landschaften der Erinnerung. Hg. Elke Mehden u. weiteren Romanen, die auch die dt. nert. Ffm. u. a. 2001, S. 158–186. – H. Beyersdorf: Das kleine Dorf u. der große Krieg. A. S.s Roman Wiedervereinigung thematisieren, schrieb S., ›Vaterland ohne Väter‹. In: Ostpreußen, Westder seit 1962 zehn Jahre lang in der Rechts- preußen, Danzig. Eine histor. Literaturlandschaft. abteilung einer Hamburger Versicherungs- Hg. Jens Stüben. Mchn. 2007, S. 589–603. gesellschaft tätig war, danach auch als WirtMaria Frisé / Wilhelm Kühlmann schaftsjournalist arbeitete, eine Darstellung des Versicherungswesens im »Dritten Reich« Susman, Margarete, auch: M. Bende(Versicherung unterm Hakenkreuz. Bln. 1999). mann, * 14.10.1872 Hamburg, † 16.1. S. erhielt mehrere Preise, darunter den 1966 Zürich; Grabstätte: ebd., Jüdischer Andreas-Gryphius-Preis (1978), den HamFriedhof Oberer Friesenberg. – Lyrikerin, burger Bürgerpreis (1993), den FriedrichEssayistin, Kulturwissenschaftlerin, ReliSchiedel-Preis der Stadt Wurzach (2004) u. gionsphilosophin. den Hannelore-Greve-Literaturpreis der Hamburger Autorenvereinigung (2008). S. wurde als Kind einer wohlhabenden assimilierten jüd. Familie geboren. Schon als Sechsjährige verfasste sie erste Gedichte. In

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Hamburg besuchte sie eine Privatschule; 1883 zog die Familie nach Zürich. Nach Beendigung der Höheren Töchterschule verwehrte ihr der Vater das Studium. S. verbrachte ihre Zeit mit Lesen, Schreiben u. Malen; 1892 erschienen erste Gedichte (Zürich). Nach dem Tod des Vaters zog sie mit der schwer kranken Mutter 1893 nach Hannover. S. nahm in Düsseldorf das Studium der Malerei auf u. lernte den Kommilitonen Eduard von Bendemann, ihren späteren Mann, kennen. Sie wechselte an die Universität München u. veröffentlichte 1901 den Gedichtband Mein Land (Bln./Lpz.), der die Anerkennung Georges fand. Über die Freundin Gertrud Kantorowicz erhielt sie Zugang zu den Jours bei Karl Wolfskehl, wo sie George persönlich traf. Die Begegnung mit seinem Werk ließ sie von der eigenen Dichtung Abstand nehmen. Zusammen mit G. Kantorowicz ging sie zum Philosophiestudium nach Berlin, wo beide dem Kreis um Georg Simmel angehörten. Hier lernte S. u. a. Bernhard Groethuysen u. Ernst Bloch kennen. Auf Vorschlag von Simmel übersetzte S. Bergsons Einführung in die Metaphysik. Die Prägung durch die Lebensphilosophie manifestierte sich besonders deutlich in ihrer Studie Vom Sinn der Liebe (Jena 1912. Ital. Übers. von Anna Czajka. Reggio Emilia 2007). 1903 setzte S. in Paris das Studium der Malerei fort. Sie studierte mit Braque u. Picasso u. begegnete E. v. Bendemann wieder. Vor der Hochzeit 1906 in Hannover besuchte S. kath. Religionsunterricht, schreckte aber einen Tag vor der Taufe vor der Konversion zurück, um nicht – wie sie in ihrer Autobiografie Ich habe viele Leben gelebt (Zürich 1964) schrieb – »die Grundlagen meines Lebens auszulöschen«. 1907 erschien ein Band Neue Gedichte (Mchn./Lpz.); 1908 wurde sie Mitarbeiterin der »Frankfurter Zeitung«, mit deren Herausgeber Heinrich Simon sie befreundet war. S. schrieb vorwiegend Rezensionen über Bücher mit jüd. Thematik u. über neue Dichtung, woraus 1910 ihr Buch Das Wesen der modernen deutschen Lyrik (Stgt.) entstand. S. geht darin von der These aus, dass in der Gegenwart die Lyrik die Geltung eines allgemein verbindl. Mythos gewährleiste. In der Moderne ergebe sich für den Dichter die

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Notwendigkeit, diesen selbst zu schaffen. S. führt an dieser Stelle den Begriff des lyr. Ichs ein, welches das empir. Ich ersetze u. »die ganze Welt der Symbole, die das lyrische Kunstwerk bilden, bestimme«. Als Paradigma des modernen Dichters begreift S. Stefan George. 1912 zog S. nach Rüschlikon am Zürichsee. Von 1915 bis 1917 war sie in Frankfurt, wo ihr Mann beim Pressedienst tätig war, dann kehrte sie in die Schweiz zurück. Im Kurt Wolff Verlag (Lpz.) erschienen 1917 ihre dramat. Gedichte Die Liebenden. Bald nach Kriegsende kaufte ihr Mann ein großes Bauernhaus in Bad Säckingen, inspiriert von Gustav Landauers Idee sozialistischer Siedlungen. 1922 veröffentlichte sie ihre Lieder von Tod und Erlösung (Mchn.), ihren letzten neuen Gedichtband. In dieser Zeit wurde sie Mitarbeiterin von Martin Bubers Zeitschrift »Der Jude« u. anderen jüd. Periodika. Nach der Trennung von ihrem Mann (1928) zog S. nach Arosa um u. schrieb ihr erfolgreichstes Buch Frauen der Romantik (Jena 1929. 3., veränderte Aufl. Köln 1960. Taschenbuchausg. mit einem Nachw. von Barbara Hahn. Ffm. 1996). S. sah eine wichtige Aufgabe der Frauenbewegung darin, ein weibl. Selbstbild zu schaffen. In ihrem frühesten programmat. Beitrag zu diesem Thema, dem 1918 gehaltenen Vortrag Die Revolution und die Frau, der sogar als Flugschrift gedruckt wurde, ging sie auf die geschichtl. Voraussetzungen für dieses Selbstbild ein. S. stellte fest, dass die dt. Frauen bisher in reiner Innerlichkeit lebten u. damit Verrat an ihrem Menschentum begangen hätten. Deshalb folgerte sie, dass »der innerste Sinn der Revolution Sühne sei«. An dieser Position wird nachvollziehbar, dass S. zu den polit. Formen der Frauenbewegung immer Abstand gehalten hat. In ihrem Aufsatz Das Frauenproblem in der gegenwärtigen Welt von 1926 (beide abgedr. in: »Das Nah- und Fernsein des Fremden«. Essays und Briefe. Hg. u. mit einem Nachw. vers. von Ingeborg Nordmann. Ffm. 1992) hat sie die polit. u. sozialen Ziele der Frauenbewegung als Vorstufen für die »Lebensbedeutung des weiblichen Seins« bezeichnet. Dieses weibl. Sein verknüpfte S. mit Seelenhaftigkeit u. einem religiösen Grundempfinden. Der religiös fundierte Le-

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Suter

bensvollzug als Erfüllung eines göttl. Gebots der die umfangreiche Festschrift Auf gespalteverband S.s Idee vom weibl. Dasein mit ihren nem Pfad (Darmst. 1964) herausgab. Die AuGedanken über das Judentum. Kurz nach tobiografie Ich habe viele Leben gelebt diktierte ihrem Vortrag Die Revolution und die Frau die erblindete S. auf Anregung des Leo Baecksprach sie 1919 über Die Revolution und die Instituts. Juden (abgedr. in: Vom Geheimnis der Freiheit. Weitere Werke: Das Kruzifix. Freib. 1922 Gesammelte Aufsätze 1914–1964. Hg. Manfred (Nov.). – Deutung einer großen Liebe. Goethe u. Schlösser. Darmst./Zürich 1965). S. würdigte Charlotte v. Stein. Zürich/Stgt. 1951. – Aus sich darin den Zionismus zwar als einen »der wandelnder Zeit. Zürich 1953 (L.). – Gestalten u. größten Sammler schon verloren geglaubter Kreise. Zürich 1954 (Ess.s.). – Die geistige Gestalt Kräfte«, wies aber über dessen gesellschaftl. Georg Simmels. Tüb. 1959. Literatur: Hanna Delf: ›In diesem Meer von Ziele hinaus. Zion sei »eine himmlische Heimat«, die Juden seien »als Nation schon Zeiten meine Zeit!‹ Eine Skizze zu Leben u. Denken der M. S. In: Von einer Welt in die andere. Jüdinnen übernational«. Was ihnen eine übernationale, im 19. u. 20. Jh. Hg. Jutta Dick u. Barbara Hahn. außerird. Heimat gebe, sei das Gesetz: »wer Wien 1993, S. 248–265. – Roberta Malagoli: M. S. im Gesetz lebt, der lebt in der wahreren u. der dt.-jüd. Dialog. In: Conditio Judaica. JuHeimat des Judentums und braucht keine dentum, Antisemitismus u. deutschsprachige Lit. irdische Heimat mehr.« vom Ersten Weltkrieg bis 1933/38. Hg. Hans Otto Von Groethuysen wurde S. zur Teilnahme Horch u. Horst Denkler. Tüb. 1993, S. 351–362. – an einem der Gespräche in Pontigny einge- Der abgerissene Dialog. Die intellektuelle Bezieladen, wo sie über George sprach. Groethuy- hung Gertrud Kantorowicz – M. S. oder die sen wies sie auf Kafka hin, über den sie 1929 Schweizer Grenze bei Hohenems als Endpunkt eieinen bedeutenden Aufsatz schrieb, der sein nes Fluchtversuchs. Hg. Petra Zudrell. Innsbr. 1999. – Thomas Sparr: M. S. In: MLdjL. – Martina Werk in den Horizont der Hiob-Gestalt Steer: ›... da zeigte sich: der Mann hatte ihr keine rückte. Im heraufziehenden Nationalsozia- Welt mehr anzubieten.‹ M. S. u. die Frage der lismus sah S. einen »Abgrund des Nichts«, Frauenemanzipation. Bochum 2001. – Jürgen der eine »entsetzliche Anziehungskraft« Egyptien: Die messian. Sendung der Selbstaufheausübte. Sie verließ im Sommer 1933 bung. M. S.s Reflexionen über das Wesen u. Deutschland u. bezog in Zürich eine kleine Schicksal des Judentums – mit einem Exkurs zu Dachwohnung, in der sie bis zu ihrem Le- ihrer Konzeption von Weiblichkeit. In: Integration bensende blieb. Mit der Erfahrung des u. Ausgrenzung. Studien zur dt.-jüd. Lit.- u. KulZweiten Weltkriegs setzte bei ihr ein »neues turgesch. v. der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Nachdenken über das Böse« ein, das sie zu FS Hans Otto Horch. Hg. Mark H. Gelber u. a. Tüb. 2009, S. 257–268. – Ders.: M. S. u. der GeorgeBüchern von Bernanos, Camus, Beckett u. Kreis. Persönl. Beziehungen, Dichtungstheorie u. Julien Green führte. Ein schwerer Schlag war Weiblichkeitsentwurf. In: Frauen um Stefan Georder Selbstmord ihrer Schwester nach dem ge. Hg. Ute Oelmann u. Ulrich Raulff. Gött. 2010, gescheiterten Fluchtversuch über die S. 157–171. Jürgen Egyptien Schweizer Grenze. 1946 erschien ihr viel beachtetes Werk Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes Suter, Lukas B., * 4.11.1957 Zürich. – (Zürich 1946. Veränderte Aufl. 1948. NeuDramatiker, Hörspiel- u. Drehbuchautor, ausg. der Erstausg. mit einem Vorw. von Theaterregisseur. Hermann Levin Goldschmidt. Ffm. 1996), in dem sie auf die Erfahrung des Holocaust zu Nach dem Abitur arbeitete S. als Regieassisreagieren versuchte u. das sie mit Gershom tent in Basel u. Zürich, studierte einige SeScholem u. Rudolf Pannwitz zusammen- mester Kunstgeschichte in Zürich, wurde erführte. Im Kreis von Bertha Huber-Bindsch- neut Regieassistent in Stuttgart u. arbeitete edler hielt sie Vorträge, aus denen ihre Deu- dann als Autor u. Regisseur in Köln, Bochum tungen biblischer Gestalten (Zürich 1956. 1960) u. Berlin; heute lebt er im Tessin. hervorgingen. Sie erhielt Besuche von Paul 1984 erreichte S. seinen ersten großen ErCelan, Elazar Benyoëtz u. Manfred Schlösser, folg als Dramatiker mit Schrebers Garten

Sutner

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(Urauff. Theater am Neumarkt, Zürich 1984; Co-Autor von Drehbüchern, so für die Filme veröffentlicht in: Spectaculum 39, Dogma 14 Joy Ride (zus. mit Martin Rengel. S. 185–237), einem Stück über Daniel Paul Schweiz 2000) u. Vitus (zus. mit Fredi M. Schreber, den berühmten Psychiatriepatien- Murer u. Peter Luisi. Schweiz 2006). ten u. Verfasser der Denkwürdigkeiten eines Literatur: ... daß es im Theater beginnt u. dann Nervenkranken (1903), für das S. den Mülhei- hinausläuft in die Welt. L. B. S. im Gespräch mit mer Dramatikerpreis erhielt. Im selben Jahr Manfred Ortmann 1988. In: L. B. S.: Insel mit wurde Spelterini hebt ab, ein Stück über den Schiffbrüchigen. Die Braut lichterloh. Stücke u. Ballonfahrt- u. Luftfotografiepionier Eduard Materialien. Ffm. 2001, S. 151–156. – Die tobende Spelterini, am Berliner Schillertheater urauf- Haltung des Erzählens. L. B. S. im Gespräch mit Manfred Ortmann 2001. In: ebd., S. 157–164. – geführt (veröffentlicht in: Spectaculum 42, Carola v. Gradulewski: L. B. S. In: LGL. S. 209–251 u. in: Theater heute 26 (1985), H. Michael Ott 4, S. 42–52). Eine Hörspielfassung des Stücks wurde ebenfalls 1984 vom DRS (Bern) proSutner, Josef, * 18.3.1784 Dietramszell/ duziert. In der Folge schrieb S. weitere HörObb., † 18.11.1835 München. – Lyriker. spiele (u. a. Das Luftmeeting zu Brescia. RIAS 1986. Erosion. DRS 2000) u. vor allem Dramen Der Sohn eines Klosterschmieds besuchte das (Bühnentod. Minidrama. Urauff. Wien 1988. Dietramszeller Klosterseminar bis 1802, anErinnerungen an S. Urauff. Wien 1988. Kreuz schließend das Gymnasium u. Lyzeum in und Quer. Urauff. Tübingen 1992. Die Signatur. München. Seit 1809 bei verschiedenen BeUrauff. Tübingen 1993), bei deren Urauf- hörden provisorisch angestellt, wurde S. erst führungen er häufig selbst Regie führte. Es 1830 im bayerischen Finanzministerium als folgten Sushi (Urauff. Zürich 1994), Althusser Rechnungsrevisor fest beamtet. oder auch nicht (Urauff. Tübingen 1995; verSeit 1805 arbeitete S. als poetischer Diletöffentlicht in: Spectaculum 60, S. 241–276) – tant für Zeitschriften u. Zeitungen (u. a. ein Stück über den Philosophen Louis Al- »Eos«, »Volksfreund«, »Sonntagsblatt«), thusser, der 1980 seine Frau ermordet hatte –, wobei er die Themen seiner GelegenheitsgeTanz auf dem Vulkan (Urauff. Zürich 1997), dichte u. Epen bevorzugt der vaterländ. GeKormoran (Urauff. St. Gallen 1997), Auf schichte u. heimatl. Landschaft entnahm. S.s Tauchstation. Eine Episode (Urauff. Mülheim an oft in Distichen gefasste, topografisch exakte der Ruhr 2000; veröffentlicht in: Theater Spaziergänge zählen zu den frühesten Zeugheute 41, 2000, H. 5, S. 60 f.) u. die Grazer nissen der literar. Entdeckung Oberbayerns; Fassung von Erinnerungen an S. (Urauff. Graz weniger überzeugend sind seine zahlreichen, 2001). Das Stück Insel mit Schiffbrüchigen oft »im verlängerten Hexameter mit mög(Urauff. Berlin 1990), das Shakespeares Sturm lichster Mißhandlung von Metrum und mit dem Schiffbruch auf einer trop. Kreuz- Wohlklang der Sprache« (Holland, S. 203) fahrt der Gegenwart überblendet, erschien abgefassten Kasualpoesien, Epigramme, So2001 zusammen mit Die Braut lichterloh (ge- nette, Liebes- u. Huldigungsgedichte, Ballaschrieben 1998) in der ›edition suhrkamp den u. Romanzen, Fabeln u. Idyllen. theater‹ (Ffm.). Weitere Werke: Karl der Große. Mchn. 1822. S.s Stücke u. Hörspiele erzählen von Figu- 21835. – Vermischte Gedichte. Ebd. 1824. – Theoren in Extremsituationen in formal unter- do. Ebd. 1825 (Versepos). – Vermischte Schr.en. schiedlicher, sprachlich aber stets streng Ebd. 1828. – Plato’s Schüler der Liebe. Ebd. 1831 durchkomponierter Weise; an verschiedenen, (Sonettenzyklus). – Der Minnesänger. Ebd. 1835. Literatur: Hyacinth Holland: J. S. In: ADB. auch traditionellen dramat. Stoffen experiReinhard Wittmann mentieren sie mit theatralen Formen u. nichtlinearen Erzählweisen. S. betätigte sich auch als Übersetzer (u. a. Shakespeare: König Richard III. Erstauff. Tübingen 1994. Sean O’Casey: Juno und der Pfau. In: Ders.: Dubliner Trilogie. Ffm. 1999) u. als

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Suttner, Bertha von, * 9.6.1843 Prag, † 21.6.1914 Wien. – Romanautorin u. Journalistin; Pazifistin. Die Tochter des Feldmarschallleutnants Franz Joseph Graf Kinsky von Chinic und Tettau musste ab 1873, da das väterl. Vermögen aufgebraucht war, ihren Lebensunterhalt als Erzieherin bei der Familie des Barons von Suttner in Wien selbst verdienen. Nach kurzer Tätigkeit als Sekretärin von Alfred Nobel in Paris heiratete sie 1876 Artur Gundaccar von Suttner (1850–1902) gegen den Willen seiner Familie u. zog mit ihm nach Georgien, wo er als Ingenieur u. Kriegskorrespondent, sie als Musik- u. Sprachlehrerin arbeitete. Hier begann sie ihre schriftstellerische Karriere. 1885 kehrten beide auf den Suttnerschen Familienbesitz in Harmannsdorf/Niederösterr. zurück. Als S. von der Internationalen Friedens- und Schiedsgerichtsgesellschaft hörte, schrieb sie ihren pazifistischen Roman Die Waffen nieder! (2 Bde., Lpz. 1889). Dieser in Form einer Autobiografie angelegte Text verarbeitet im herkömml. Muster des Familien- u. Gesellschaftsromans aus der Perspektive einer Frau die Kriege von 1859, 1864, 1866 u. 1870/71 u. erregte großes Aufsehen durch die schonungslosen Beschreibungen der Kriegs- u. Schlachtengreuel im naturalistischen Stil. Das Buch wurde ein internat. Erfolg (Abdruck im »Vorwärts« 1892; 371905; in 16 Sprachen übersetzt; 1913 u. 1952 verfilmt) u. war wesentlich an der Verbreitung der Friedensidee beteiligt. S. gründete 1891 die österr. »Gesellschaft der Friedensfreunde« u. war an der Gründung der »Deutschen Friedensgesellschaft« in Berlin maßgeblich beteiligt. Sie spielte eine führende Rolle in der internat. Friedensbewegung, war Vizepräsidentin des internat. Friedensbüros in Bern, Herausgeberin der Zeitschrift »Die Waffen nieder!« (Dresden 1892–99), beteiligte sich an fast allen Weltfriedenskongressen u. unternahm Vortragsreisen im Deutschen Reich, in Skandinavien u. in den USA. 1905 erhielt sie als erste Frau den Friedensnobelpreis. Ihre journalistischen Arbeiten (Das Maschinenzeitalter. Dresden 1889. Anonym: Randglossen zur Zeitgeschichte. Das Jahr 1905. Kattowitz 1906.

Suttner

Zur nächsten intergouvernementalen Konferenz im Haag. Bln. 1909. Die Barbarisierung der Luft. Ebd. 1912) kontrastieren deutlich den eher seichten Gesellschaftsromanen, die sie weiterhin verfasste, auch wenn einige von ihnen die Friedensthematik verfolgen. Weitere Werke: Gesammelte Schriften. 12 Bde., Dresden 1906/1907. – Der Kampf um die Vermeidung des Weltkriegs. Hg. Alfred Hermann Fried. 2 Bde., Zürich 1917. – Lebenserinnerungen. Hg. Fritz Böttger. Bln. 1968. – Kämpferin für den Frieden: B. v. S. Lebenserinnerungen, Reden u. Schr.en. Eine Ausw., hg. u. eingel. v. Gisela Brinker-Gabler. Ffm. 1982. – ›Chère Baronne et Amie‹ – ›Cher monsieur et ami‹. Der Briefw. zwischen Alfred Nobel u. B. v. S. Hg., eingel. u. komm. v. Edelgard Biedermann. Hildesh. u. a. 2001. Literatur: Alfred H. Fried: B. v. S. Charlottenb. 1908. – Josef Stollreiter: B. v. S. Lebensbild der erfolgreichsten Vorkämpferin für Weltfrieden. Kiel 1959. – Beatrix Kempf: B. v. S. Wien 1964. – Brigitte Hamann: B. v. S. Ein Leben für den Frieden. Mchn./Zürich 1986. – Ilse Kleberger: B. v. S. Die Vision vom Frieden. Mchn. 1988. – Karl Holl: Pazifismus in Dtschld. Ffm. 1988. – Edelgard Biedermann: Erzählen als Kriegskunst. ›Die Waffen nieder!‹ von B. v. S. Studien zu Umfeld u. Erzählstrukturen des Textes. Stockholm 1995. – Christian Götz: Die Rebellin. B. v. S. Botschaften für unsere Zeit. Dortm. 1996. – Harald Steffahn: B. v. S. Reinb. 1998. – Sandra Hedinger: Frauen über Krieg u. Frieden: B. v. S., Rosa Luxemburg, Hannah Arendt, Betty Reardon, Judith Ann Tickner, Jean Bethke Elshtain. Ffm./New York 2000. – Monika ManczykKrygiel: An der Hörigkeit sind die Hörigen schuld. Frauenschicksale bei Marie v. Ebner-Eschenbach, B. v. S. u. Marie Eugenie delle Grazie. Stgt. 2002. – Angelika U. Reutter u. Anne Rüffer: Frauen leben für den Frieden. Die Friedensnobelpreisträgerinnen von B. v. S. bis Schirin Ebadi. Mchn./Zürich 2004. – Claus Bernet: B. v. S. In: Bautz 24 (2005), Sp. 1435–1471. – Laurie R. Cohen (Hg.): ›Gerade weil Sie eine Frau sind ...‹. Erkundungen über B. v. S., die unbekannte Friedensnobelpreisträgerin. Wien 2005. – Beatrix Müller-Kampel (Hg.): ›Krieg ist der Mord auf Kommando‹. Bürgerl. u. anarchist. Friedenskonzepte – B. v. S. u. Pierre Ramus. Mit Dokumenten v. Lev Tolstoj, Petr Kropotkin, Stefan Zweig, Romain Rolland, Erich Mühsam, Alfred H. Fried, Olga Misar. Heidelb. 2005. – Günter Wirth: B. v. S. u. ihr Dresdner Verlag. In: Ders.: Landschaften des Bürgerlichen. Ausgew. Abh.en. Hg. Frank-Lothar Kroll. Bln. 2008, S. 357–363. – Eva Siebeck: B. v. S. Rudolstadt/Bln. 2009. – Holger Skorupa: Der Pazifismus der B. v. S. Quellen, Her-

Svarez

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kunft u. Charakteristika ihrer Friedenspolitik. Mchn. 2009 (Online-Ressource). Günter Häntzschel

Svarez, Carl Gottlieb, eigentl.: C. G. Schwartz, * 27.2.1746 Schweidnitz, † 14.5.1798 Berlin. – Justizreformer.

Weiteres Werk: Vorträge über Recht u. Staat. Hg. Hermann Conrad u. Gerd Kleinheyer. Köln 1960. Ausgabe: Gesammelte Schriften. Hg. Peter Krause. 12 Bde., Stgt.-Bad Cannstatt 1996 ff. Literatur: Adolf Stölzl: C. G. S. Bln. 1885. – Karl Wippermann: C. G. S. In: ADB. – Gerd Kleinheyer: Staat u. Bürger im Recht. Bonn 1959. – Erik Wolf: Große Rechtsdenker der dt. Geistesgesch. Tüb. 41963, S. 424–466. – Kleinheyer/Schröder. – Walther Gose u. Thomas Würtenberger (Hg.): Zur Ideen- u. Rezeptionsgesch. des preuß. allg. Landrechts. Trierer Symposion zum 250. Geburtstag v. C. G. S. Stgt.-Bad Cannstatt 1999. – Thomas Karst: Das allg. Staatsrecht im Rahmen der Kronprinzenvorträge des C. G. S. unter besonderer Berücksichtigung des Strebens nach Glückseligkeit. Hbg. 2000. Stefan Christoph Saar / Red.

Nach dem Studium in Frankfurt/O. (1762–1765) absolvierte der aus gutbürgerl. Familie stammende S. (der Name beruht auf einer Latinisierung) die Justizausbildung u. war seit 1771 Oberamtsregierungsrat in Breslau. 1780 folgte er dem durch Friedrich II. zur Fortführung der von Cocceji begonnenen Justizreform berufenen schles. Justizminister Johann Heinrich Casimir von Carmer nach Berlin. Dort oblag ihm 1791 auch die juristische Unterweisung des Kronprinzen, der als Friedrich Wilhelm III. S. 1798 in Swieten, Gottfried Bernhard van, * 29.10. die Akademie der Wissenschaften berief. In 1733 Leyden/Niederlande, † 29.3.1803 den Kronprinzenvorträgen (zuerst Köln 1960) Wien. – Österreichischer Diplomat u. entwickelte S. die Grundlagen der Kodifika- Bildungspolitiker, Librettist, Musikmätionsvorhaben. zen u. Komponist. Von den Reformgesetzen, an denen der Als Sohn des einflussreichen Leibarztes u. gleichermaßen begabte wie arbeitsame S. Bildungspolitikers der Kaiserin Maria Thebeteiligt war, gilt neben der 1793 erlassenen resia, Gerard van Swieten, genoss S. eine Allgemeinen Gerichtsordnung insbes. der sorgfältige Erziehung an der Wiener Ritter1784–1788 veröffentlichte Entwurf eines Allakademie. Er wandte sich dem diplomatigemeinen Gesetzbuchs für die preußischen Staaten schen Dienst zu, pflegte aber auch musikal. u. (AGB) als sein Werk. Heftige, durch die Erliterar. Neigungen, bestärkt durch seine eignisse in Frankreich seit 1789 gespeiste Freunde, Staatskanzler Wenzel Anton Fürst Kritik namentlich seitens der Stände machte von Kaunitz-Rietberg u. Johann Karl Herzog eine Überarbeitung des von aufgeklärtem von Braganza. Nach Verwendungen in BrüsGeist inspirierten AGB notwendig, das 1794 sel, Frankfurt/M., Paris u. Warschau, Reisen als Allgemeines Landrecht für die Preußischen in die Schweiz u. nach England (wo er auch Staaten (ALR. Neudr. mit einer Einf. von Hans Händel-Aufführungen beiwohnen konnte) Hattenhauer. Ffm. 1970) in Kraft trat. Das sandte ihn Kaunitz im Dez. 1770 als kaiserl. ALR verzichtete auf die bis dahin in Botschafter an den Berliner Hof, wo er von deutschsprachigen Gesetzestexten durchweg Friedrich II. mit Wohlwollen akzeptiert gebräuchlichen lat. Termini. Sein Stil, »bei wurde, auch während der schwierigen, 1772 dem es auf ein Wort mehr oder weniger nicht abgeschlossenen Verhandlungen zur ersten anzukommen scheint, der darum aber farbig poln. Teilung (vgl. seine offizielle u. private und bildhaft ist« (Hattenhauer), hat dem ALR Korrespondenz mit Kaunitz bei Beer 1874; Busch das Kompliment der Volksnähe eingetragen, 1996). S. benutzte seinen Aufenthalt, die doch war es für den juristisch nicht vorgeVertreter der norddt. Aufklärung (vgl. seine bildeten Zeitgenossen nur schwer verständam Ende vergebl. Anregung, Lessing an den lich u. aufgrund der Vorschriftenfülle kaum Wiener Hof zu ziehen), norddt. Symphonien überschaubar. u. Oratorien, v. a. aber die frühe norddt. Händel-Rezeption u. die Werke Carl Philipp Emanuel Bachs kennen zu lernen, die er bis

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zu dessen Tod 1787 subskribierte u. vertrieb. Auch eigene Symphonien konnte S. in Umlauf bringen. 1777 quittierte er den diplomatischen Dienst u. folgte seinem Vater im Amt des Präfekten der Wiener Hofbibliothek, das er bis zu seinem Tode innehatte. Kaunitz u. Joseph II. bezogen ihn außerdem 1781 als Präses der Studien- u Bücherzensur-Hofkommission in die aufgeklärte josephin. Bildungspolitik ein, der er einen großen Teil seiner (auch heute noch lesenswerten) amtlichen Entwürfe widmete (vgl. Ausschnitte bei Wangermann 1978) u. deren Radikalität er bes. zugunsten der Universitäten abzumildern suchte. Über Kaunitz lernte S. Wolfgang Amadeus Mozart kennen u. öffnete diesem von 1782 an seine Berliner Notenschätze (Johann Sebastian u. Carl Philipp Emanuel Bach sowie Händel-Oratorien). Mit dem Judas Maccabaeus von Händel, 1779 in Wien mit dt. Text öffentlich aufgeführt, begannen S.s Mitwirkung an dt. Übersetzungen von Händel-Libretti u. seine Bemühungen um private Händel-Aufführungen, finanziert u. organisiert von den hochadligen Mitgliedern der »Gesellschaft der assoziierten Cavaliers«, dirigiert u. bearbeitet von W. A. Mozart (Acis und Galathea. 1788. Der Messias. 1789. Das Alexanderfest. 1790. Ode auf St. Caecilia. 1790). S.s HändelPflege bot diesem einen Ausgleich zur Kehrtwendung der Bildungspolitik in Josephs II. letzten Lebensjahren, die er nicht mehr verhindern konnte, u. bes. zu deren radikalem Umschwung unter Leopold II. seit 1790. Am 5.12.1791 wurde S. aus der Studienhofkommision entlassen, blieb aber Präfekt der Hofbibliothek. Mozarts Tod (zufällig am selben Tage) bedeutete jedoch nicht das Ende von S.s Unterstützung der KavaliersKonzerte. Er gehörte zu den frühen Wiener Förderern des jungen Beethoven u. wandte sich bes. Joseph Haydn zu, mit dem er schon seit 1776 in Kontakt gestanden hatte, bearbeitete die dt. Textfassung von dessen The Storm (1793), revidierte den Text der Vokalfassung der Sieben Letzten Worte (1797) u. unterstützte bes. Haydns zweite Englandreise (1794/95), von der dieser ein angeblich für Händel bestimmtes, heute verlorenes engl. Libretto nach Miltons Paradise Lost heim-

Swieten

brachte, das S. nun begann, für Haydns Komposition im Stil der norddt. HändelPflege zu bearbeiten: Die Schöpfung, Beispiel einer optimistischen aufgeklärten Religiosität u. eines neuen, die Wiener ital. Tradition überwindenden Oratorienstils. In enger Zusammenarbeit mit dem Komponisten u. der Kavaliers-Gesellschaft kam es zu der denkwürdigen Privataufführung der Schöpfung im Palais Schwarzenberg (30.4.1798), der weitere private u. öffentl. Aufführungen folgten (vgl. S. in: Allgemeine Musikalische Zeitung 1, 1798/99, Sp. 254). S. überwachte genau die Texgestaltung der Drucklegung von Partitur u. Klavierauszug u. fertigte selbst die engl. Textfassung an. Ohne S.s aufgekärten Bildungs- u. Naturoptimismus ist auch sein zweites berühmtes Oratorien-Libretto für Haydn nicht zu denken, Die Jahreszeiten nach dem berühmten Naturgedicht The Seasons von James Thomson (1730 ff.), das schon Brockes, Gessner u. Ewald von Kleist Modell gestanden hatte, das S. aber nur in Teilen verarbeitete, angereichert mit liedhaften Singspiel-Reminiszenzen (Bürger, Weiße) u. eigenen Texten. Allerdings fühlte sich diesmal Haydn vom Librettisten stärker eingeengt. Nach der privaten Uraufführung (24.4.1801, öffentlich bereits 29.5.1801) hielt sich S. erneut bis zum seinem Tode 1803 für Texeditionen sowie für frz. u. engl. Übersetzungen verantwortlich. S.s zwischen josephin. Bildungsreform, Händel-Pflege u. der Textdichtung für einen neuen Oratorientyp weit gespannte Interessen sind, trotz des Ungleichgewichts von publiziertem u. unpubliziertem Werk u. des Übergewichts der bes. Mozart u. Haydn zugewandten musikhistor. Forschung, erst seit Wangermann u. Zemann (vgl. Literatur) als zwei Seiten des gleichen aufgeklärten Bildungsideals erkannt worden, wie S. es in seinen amtl. Promemoria formulierte: Verstand u. Herz gleichermaßen auszubilden u. in der Natur das Walten eines gütigen Gottes zu sehen. Seine Libretti für Haydn trugen dieses Ideal in das 19. Jahrhundert. Werke: Im Ms.: Briefw. mit Kaunitz u. amtl. Korrespondenz im Österr. Haus-, Hof- u. Staataarchiv Wien (vgl. Beer, Wangermann, Busch). – Ueber die Bildung des Geschmacks u. Lesung klass.

Sylburg Schriften der Alten. Ms. Österr. Nationalbibl. – Noch ungeklärt (vgl. Schlichtegroll): Beiträge zu Gemmingens ›Weltbürger‹. – Oratorien-Libretti (vgl. ausführlich Raab 2007 u. Oppermann 2008): Die Schöpfung. Ms. Budapest, Ungar. Nationalbibl.; Druck: Wien 1798, Schmidt. – Die Jahreszeiten. Ms. Privatbesitz; Druck: Wien 1801, Schmidt. Literatur: Adolf Beer: Friedrich II. u. v. S. Lpz. 1874. – Paula Baumgärtner: G. v. S. als Textdichter zu Haydns Oratorien. Diss. Wien 1930 (masch.). – Reinhold Bernhardt: Aus der Umwelt der Wiener Klassiker. Freih. G. v. S. (1734–1803). In: Der Bär. Jb. Breitkopf. Lpz. 1930, S. 74–166. – Ders.: Van S. u. seine Judas Maccabäus-Bearbeitung. In: Ztschr. für Musikwiss. 17 (1935), S. 513–544. – Ernst Fritz Schmid: G. v. S. als Komponist. In: Mozart-Jb. 15 (1953), S. 15–31. – Andreas Holschneider: Die musikal. Bibl. G. v. S.s. In: Bericht über den internat. musikwiss. Kongreß Kassel 1962. Hg. Georg Reichert u. Martin Just. Kassel 1963, S. 174–178. – Martin Stern: Haydns ›Schöpfung‹. Geist u. Herkunft des v. S.schen Librettos. In: Haydn-Studien 1966, S. 121–198. – D. E. Olleson: G. Baron v. S. and His Influence on Haydn and Mozart. Diss. Oxford 1967. – Walter Gustav Wieser: Die Hofbibl. in der Epoche der beiden v. S. In: Gesch. der österr. Nationalbibl. Hg. J. Stummvoll. Bd. 1: Die Hofbibl. (1368–1922). Wien 1968. – Ernst Wangermann: Das Bildungsideal G. v. S.s. In: G. v. S. u. seine Zeit. Hg. Erna Lasky. Wien 1973. – Herbert Zeman (Hg.): Joseph Haydn u. die Lit. seiner Zeit. Eisenstadt 1976. – E. Wangermann: Aufklärung u. staatsbürgerl. Erziehung: G. v. S. als Reformator des österr. Unterrichtswesens. Mchn./Wien 1978. – H. Zeman: Das Textbuch G. v. S.s zu J. Haydns ›Die Schöpfung‹. In: Dichtung u. Musik. Hg. Günter Schnitzler. Stgt. 1979, S. 70–98. – H. C. Robbins Landon (Hg.): The Creation and The Seasons. The complete authentic sources for the Word-Books. Cardiff 1985. – H. Zeman (Hg.): Die Jahreszeiten in Dichtung, Musik u. bildender Kunst. Graz 1989. – Gudrun Busch: Kaunitzsche Diplomatie u. ihre musikal. Folgen. G. v. S. als kaiserl. Gesandter in Berlin 1771–1777. In: Staatskanzler Wenzel Anton v. Kaunitz-Rietberg 1711–1794. Hg. Grete Klingenstein u. Franz A. J. Szabo. Graz u. a. 1996, S. 324–340. – Georg Feder: Joseph Haydn. Die Schöpfung. Kassel u. a. 1999. – Ludwig Finscher: Joseph Haydn u. seine Zeit. Laaber 2000. – Barbara Gant: G. B. v. S. In: Lexikon zum aufgeklärten Absolutismus in Europa. Hg. Helmut Reinalter. Wien u. a. 2005, S. 604–606. – Barbara Boisits: G. (B.) Frhr. v. S. In: MGG, 2. Aufl., Personenteil. – Arnim Raab (Hg.): Joseph Haydn. Die Jahreszeiten. Mchn. 2007 (Werke XXVIII/4, I–II). – E. Wanger-

412 mann: Joseph II. u. seine Reformen in der Arena der polit. Öffentlichkeit. In: Josephinismus – eine Bilanz. Hg. Wolfgang Schmale u. a. Bochum 2008, S. 161–171. – Annette Oppermann (Hg.): Joseph Haydn. Die Schöpfung. Mchn. 2008 (Werke XXVIII/ 3, I–II). – Melanie Wald: Der Rückzug der Aufklärung in d. Musik. G. v. S. in Wien. In: Haydn im Jahrhundert der Aufklärung. Hg. Carsten Zelle u. Laurenz Lütteken. Gött. 2009 (Das achtzehnte Jh.; 33), S. 203–220. Gudrun Busch

Sylburg, Friedrich, * 1536 Wetter/Oberhessen, † 17.2.1596 Heidelberg; Grabstätte: ebd. – Humanist, Philologe, neulateinischer Dichter. Aus einfachen Verhältnissen stammend, besuchte S. zunächst die renommierte Wetteraner Gelehrtenschule unter der Leitung des angesehenen Rektors Justus Vulteius. Die an der Universität Marburg begonnenen Studien der antiken Geschichte u. Literatur setzte er in Jena, Genf (um 1559) u. Straßburg fort, wo er u. a. Vorlesungen bei Johann Sturm hörte. Als Famulus des reformierten Theologen Girolamo Zanchi in den Jahren von 1561 bis 1565 dürfte der junge S. führende Köpfe der schweizerisch-oberdt. Reformation wie Heinrich Bullinger u. Theodor Beza kennengelernt haben. Es folgten Studienjahre in Paris, wo er bei dem bedeutenden Humanisten u. Verleger Henri Estienne (Stephanus) in die Lehre ging. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland wirkte er als Lehrer am Gymnasium in Neuhausen (Worms) u. als Rektor des neu gegründeten Gymnasiums in Lich. Während dieser Zeit überarbeitete er die didaktisch aufgebaute Sprachlehre Graecae Linguae Institutiones (zuerst 1530) des fläm. Philologen Nicolas Cleynaerts (Clenardus), die 1580 erschien. 1581 schlug S. die Berufung auf eine Griechischprofessur der Universität Marburg aus u. trat stattdessen bald darauf in die Dienste des Frankfurter Verlagshauses Wechel, das nach dem Tod des Besitzers Andreas Wechel von dessen Schwiegersöhnen Claude de Marne u. Jean Aubry geführt wurde. In den nun folgenden Jahren entfaltete S., zunächst noch an der Seite seines Kollegen Johannes Opsopoeus, eine beachtl. editorische Tätigkeit; zu nennen ist neben Ausgaben von Pausanias

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(1583) u. Dionysius von Halikarnassos (1586) besonders die große Aristoteles-Ausgabe (1584–87), mit der S. an ein verlegerisches Großunternehmen Andreas Wechels (1577) anknüpfen konnte. S.s eigenständigste u. bedeutendste editorische Leistung bilden die drei Bände der Historiae Romanae Scriptores minores (1588–90), eine kritisch edierte u. reich kommentierte Sammlung von Chroniken, Fasten u. kleineren Teildarstellungen der röm. Geschichte (u. a. Messala Corvinus, Velleius Paterculus u. Eutropius). Nach dem damals üblichen Verfahren druckte S. bereits vorliegende Kommentare anderer Philologen ab u. ergänzte sie um eigene Hinweise. Das monumentale Unterfangen stellt zgl. einen Modellfall gelehrter Kooperation u. Kommunikation im frühneuzeitl. Europa dar: Im Zuge der Vorarbeiten zu den einzelnen Bänden korrespondierte S. mit zahlreichen in- u. ausländ. Gelehrten, u. a. mit Berühmtheiten wie Isaac Casaubon, Scipio Gentile, Joseph Juste Scaliger, Theodor Beza (de Bèze) u. Justus Lipsius. S.s Vorreden zu den verschiedenen Editionen zeigen ihn zum einen als strateg. Netzwerker – die Vorrede zur Aristoteles-Gesamtausgabe (1587) an die hess. Landgrafen etwa brachte ihm ein dauerhaftes Stipendium der Universität Marburg ein –, zum anderen als gänzlich unprätentiösen Gelehrten, der gewissenhaft Zeugnis über die Vorarbeiten seiner Kollegen ablegt. S.s ausgezeichnete Kenntnis des Griechischen, die bis ins 19. Jh. immer wieder hervorgehoben wurde, dokumentiert sich neben der editorischen Tätigkeit v. a. in der vielfach aufgelegten Übersetzung des Heidelberger Katechismus ins Griechische (zuerst Heidelberg: Leo 1597) sowie in griech. Gedichten, die er nach humanistischer Sitte zu Werken befreundeter Gelehrter beisteuerte (z. B. in der von Johann Possel herausgegebenen Calligraphia oratoria linguae graecae. Ffm.: Wechel 1585, fol. [(***6v)]). Vermutlich wegen anhaltender wirtschaftl. Unsicherheit, aber auch wegen der bedeutenden bibliothekarischen Bestände wechselte S. 1591 zunächst provisorisch, dann dauerhaft nach Heidelberg, wo er im Haus des Verlegers Hieronymus Commelinus lebte u. arbeitete. Am 21.12.1592 erscheint er, auf

Sylburg

eigenen Antrag (»tamquam vir doctus«), in der Matrikel der Universität. Dort verkehrte er mit bedeutenden Gelehrten u. Hofbeamten wie Paulus Melissus, mit dem er bereits vorher in Briefkontakt gestanden hatte, Marquard Freher, Hippolytus a Collibus u. dem Kollegen aus Frankfurter Tagen, Johannes Opsopoeus. Als der Bibliothekar der Universität, Lambertus Pithopoeus, seinen Dienst aus Altersgründen nicht mehr versehen konnte, wurde S. am 31.7.1595 zum Bibliotheksverweser ernannt. Der von ihm angefertigte Katalog griech. Handschriften der Bibliotheca Palatina (1623 postum erschienen; gedr. in: Mieg, Monumenta pietatis) wurde noch bis ins 20. Jh. verwendet. Anfang Febr. 1596 schlug die Artistenfakultät, auf der Suche nach einem Nachfolger des inzwischen verstorbenen Pithopoeus, S. für die Rhetorik-Professur vor. Ob S., der sein Leben so konsequent in den Dienst der Textüberlieferung gestellt hatte, dieses Angebot in Betracht gezogen hätte, bleibt ungeklärt: Er starb zwei Wochen darauf, am 16. oder 17.2.1596, vermutlich an der Pest. Seine Bibliothek, die sich z. T. noch in Frankfurt befand, wurde von seinen Erben aufgelöst u. verkauft. Während die große AristotelesAusgabe bald überholt wurde, sicherten S.s Nachruhm besonders die Ausgabe des Clenardus, die von G. J. Vossius ausdrücklich gelobt wurde, sowie die röm. Geschichtschreiber, die nach dem Zeugnis des frühaufklärerischen Polyhistors Nikolaus Hieronymus Gundling niemand »besser ediret« habe als er (Vollständige Historie der Gelahrheit. Bd. 1, Ffm./ Lpz. 1734, S. 1371). Ausgaben / Briefe: Catalogus Librorum manuscriptorum Graecorum in Bibliotheca Electorali Palatina, confectus a Frid[erico] Sylburgio. In: Monumenta pietatis & literaria virorum in re publica & literaria illustrium, selecta. Pars prior. Hg. Johann Rudolph Mieg u. Ludwig Christian Mieg. Ffm. 1701, S. 1–128. – Friedrich Creuzer: Friderici Sylburgi Epistolae quinque ad Paulum Melissum. In: Ders.: Opuscula selecta. Lpz. 1854, S. 195–213. Literatur: Friedrich Koldewey: F. S. In: ADB. – Karl Wilhelm Justi: F. S. In: Friedrich Wilhelm Strieder: Grundlage zu einer Hess. Gelehrten- u. Schriftsteller-Gesch. Bd. 18, Marburg 1819, S. 481–494. – Karl Preisendanz: Aus F. S.s Heidel-

Sylvanus berger Zeit. In: Neue Heidelberger Jbb. N. F. (1937), S. 55–77. – Ders.: Ein unbekannter Jugendbrief des Neuhumanisten F. S. (1563). In: Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Gesch. 18 (1960/61), S. 240–253 (Lit.). Björn Spiekermann

Sylvanus, Erwin, * 3.10.1917 Soest, † 27.11.1985 Soest; Grabstätte: Völlinghausen/Möhnesee. – Dramatiker, Lyriker, Erzähler, Hör- u. Fernsehspielautor.

414 Literatur: Anat Feinberg: E. S. and the Theatre of the Holocaust. In: Studien zur Dramatik in der BR Dtschld. Amsterd. 1983, S. 163–175. – Alison Scott-Prelorentzos: ›Toleranz? Noch spür’ ich sie nicht‹. E. S.’ Modern Sequel to Lessing’s ›Die Juden‹. In: Seminar 21 (1985), S. 31–47. – Elisabeth Wiemer: ›Korczak u. die Kinder‹. Der Welterfolg eines westfäl. Dichters. In: Grabbe-Jb. 5 (1986), S. 109–118. – Hans-Christian Müller: Der Nachlaß E. S.’ in der Stadt- u. Landesbibl. Dortmund. Ein Arbeitsbericht. In: Lit. in Westfalen 1 (1992), S. 245–251. – Westf. Autorenlex. 4. – Walter Gödden: Hinweise auf E. S.’ ›Korczak u. die Kinder‹. In: Jüd. Lit. in Westfalen. Vergangenheit u. Gegenwart. Hg. Hartmut Steinecke u. Günter Tiggesbäumker. Bielef. 2002, S. 159–173. Walter Olma

In Dortmund aufgewachsen, schrieb S. noch als Jugendlicher Gedichte in nationalsozialistischem Geist (Jahresring. Erlebnisreihe der Jungen des Bannes 132 der Hitler-Jugend im Jahre 1936. Soest). Während des Kriegs, aus dem er schwer verwundet zurückkehrte, publizierte er zwei Erzählungen, die in seiner westfäl. Symonis, Daniel, auch: Salemyndonis, Heimat spielen: Der ewige Krieg (Bln. 1941) u. * 1637 Wusseken bei Köslin/Pommern, Der Dichterkreis (Wien 1943). Nach 1954 lebte † 22.10.1685 Rügenwalde. – Lutherischer er als freier Schriftsteller in Völlinghausen, Geistlicher; Verfasser einer Vergil-Überseit den 1970er Jahren auch auf der griech. setzung. Insel Aegina. Der Sohn des Kösliner »Archidiaconus« Peter S. verfasste einen Roman (Der Paradiesfahrer. Symonis erhielt seine Ausbildung zunächst in Hbg. 1949), Gedichte (Die Muschel. Ebd. 1947) Köslin, Kolberg u. am Pädagogium in Stettin sowie Hör- u. Fernsehspiele. Seine auch for(1655). Anschließend begann er mit dem mal interessanten, mit VerfremdungstechniMedizinstudium in Königsberg, wechselte ken operierenden Dramen bilden jedoch den dann aber zur Theologie (1660 Frankfurt/O.). Schwerpunkt seines Schaffens; auf der Bühne 1662 kehrte er als Substitut seines Vaters nach engagierte er sich gegen Hass, Gewalt, WillKöslin zurück. Über Schivelbein (1665) kam kürherrschaft u. Unmenschlichkeit. er als Rektor nach Rügenwalde. Seit 1669 mit Das auch international erfolgreiche, viel Dorothea Krüger verheiratet, wurde er hier diskutierte Stück Korczak und die Kinder 1671 zum Pastor u. Präpositus berufen. Er (Urauff. Krefeld, 1.11.1957. St. Gallen 1959) soll oft in Streit mit dem Magistrat der Stadt machte den poln. Arzt, Dichter u. Pädagogen gelegen haben. Janusz Korczak, der mit den jüd. Kindern Neben den mit seinem Beruf verbundenen seines Warschauer Waisenhauses in den Tod literar. Hervorbringungen – Predigten, Leiging, in Deutschland bekannt. In Jan Palach chenpredigten (u. a. Entwurf einiger Leichpresteht der Student im Mittelpunkt, der sich digten. Stettin 1672. Optica & catoptrica sacra. beim gewaltsamen Ende des Prager Frühlings Ebd. 1679) – hat S. eine bemerkenswerte, liselbst verbrannte. Sanssouci zeigt Kurt Tuterarisch anspruchsvolle Vergil-Übersetzung cholsky kurz vor seinem Selbstmord, wobei in Prosa vorgelegt: Der Frygier Aeneas, wi er seine verschiedenen Pseudonyme als selbstnach smärzentfündlichem Abläben seiner ädlen ständige Personen auftreten. Victor Jara führt Kreusen, entslagung der trübsäligen Dido, mit der durch Szenen aus dem Leben des Volkssänhuldreichen Lavinie besäliget, izzo bey der libsägers in chilen. Geschichte ein (die vier Werke ligsten Deutschinne, in beruheter annämligkeit begedr. u. d. T. Stücke. Ffm 1980). fridet worden (Stargard 1659). Ein anderer Weitere Werke: Hirten auf unserem Felde. Druck verweist schon im Titel auf die IntenMünster 1956 (D.). – Emil Schumacher. Recklingtion des Autors, die auf die Angleichung des hausen 1959 (Ess.). antiken Epos an die moderne barocke Romanliteratur zielt: Neu eingekleideter deutscher

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Virgilius, nach Art der Ariana und Arcadia (ebd. [1658] 1659). Neben der Aeneis enthält der Band ein Traurspil von der Dido in Alexandrinern u. einige übersetzte Horaz-Oden. Mit seinem Vorbild Zesen – schon an der »sonderbaren Buchstabirkunst« (Gottsched) erkennbar – teilt S. die Absicht, die Ebenbürtigkeit, wenn nicht Überlegenheit des Deutschen auch über die klass. Sprachen zu erweisen. Literatur: Christian Wilhelm Haken: Versuch einer diplomat. Gesch. der [...] Residenzstadt Cößlin. Lemgo 1765, S. 309 f. – M. Wehrmann: D. S. In: ADB. – Volker Meid: Vergils ›Aeneis‹ als Barockroman. In: Rezeption u. Produktion zwischen 1570 u. 1730. FS Günther Weydt. Hg. Wolfdietrich Rasch. Bern/Mchn. 1972, S. 159–168. – Eckhard Bernstein: D. S.’ Äneis-Übers. (1658). Zur Rezeption Vergils im Barock. In: Daphnis 6 (1977), S. 375–386. – Heiduk/Neumeister, S. 84 f., 224, 447 f. – Ralf Georg Czapla: ›Wie man recht verteutschen soll‹. Der Traktat des Justus Georg Schottelius als Paradigma einer Übersetzungstheorie in der Frühen Neuzeit. Mit einem Exkurs zur Vergil-Übers. im 16. bis 19. Jh. In: MorgenGlantz 8 (1998), S. 197–226. Volker Meid / Red.

Szabo, Wilhelm, * 30.8.1901 Wien, † 14.6. 1986 Wien. – Lyriker, Übersetzer. Im Prosaband Zwielicht der Kindheit (St. Pölten/ Wien 1986) schildert S., unehel. Sohn einer Schauspielerin, ohne Larmoyanz seine entbehrungsreiche Kindheit bei Zieheltern in der bildungsfeindl. Atmosphäre eines kleinen Dorfes im Waldviertel. Nach der Pflichtschule arbeitete er als Kellnerjunge u. Tischlerlehrling, besuchte das Landes-Lehrerseminar in St. Pölten u. unterrichtete an Volks- u. Hauptschulen im Waldviertel bis 1939, als er aus polit. Gründen aus dem Schuldienst entlassen wurde. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete er als Verlagslektor in München u. wurde zu Arbeitseinsatz u. Volkssturm eingezogen. 1945 kehrte er in den Schuldienst zurück, ließ sich 1966 pensionieren u. übersiedelte nach Wien. Die Erfahrungen des Ausgestoßenseins, der Heimatlosigkeit u. Fremde im abgeschiedenen Dorf, wie sie das »Niemandskind« S. machte, stehen im themat. Zentrum seiner Lyrik. Ihre formale Schlichtheit, die

Szabo

einfache Strophenform, Kreuz- u. Paarreim bevorzugt, u. die deskriptive Prägnanz, mit der sie eine in ihrer Existenz schon bedrohte Dorfwelt u. eine als fremd u. feindlich erfahrene Natur festhält, sperren sich gegen Idyllisierung u. Verklärung der Provinz, wie sie die kulturpolitisch geförderte Heimatkunst der 1930er Jahre in Österreich vollzog, verweigern sich aber einer denunziator. AntiIdylle. Nach 1945 löst sich S. immer mehr von dieser themat. Fixierung (»Ich widerrufe die Lieder / der einsamen Trübsal geweiht«), seine z. T. formal komplexeren Texte werden zunehmend reflexiver, dem raschen Übergang zur Tagesordnung nach der faschist. Katastrophe (»Sprecht nicht von der Wende, weil ihr die Embleme wechselt«) misstrauend. Weitere Werke: Das fremde Dorf. Wien 1933 (L.). – Im Dunkel der Dörfer. Mchn. 1940 (L.). – Das Unbefehligte. Ebd. 1947 (L.). – Herz in der Kelter. Salzb. 1954 (L.). – Der große Schelm. Übertragung u. Einl. v. Liedern Neidharts v. Reuental. Graz 1960. – Landnacht. Wien/Mchn. 1965 (L.). – Schnee der vergangenen Winter. Einl. u. Ausw. v. Johann Gunert. Graz 1966 (L., P.). – Trauer der Felder. Nachdichtungen v. Gedichten Sergej Jessenins. Bad Goisern 1970. – Schallgrenze. Wien 1974 (L.). – Lob des Dunkels. Gedichte 1930–1980. Nachw. v. Wendelin Schmidt-Dengler. St. Pölten/Wien 1981. – W. S. Ausgew. Gedichte. St. Pölten/Wien 2001. – Und schwärzer schatten die Wälder. Weitra 2001 (L.). – Dorn im Himbeerschlag. Zwielicht der Kindheit. Weitra [2001] (P.). Literatur: Roman Rocˇek: Mit eigenen Waffen. W. S.s Widerstand gegen die völk. Dichtung. In: Niederösterreichs Lit. im Aufbruch. Hg. Johannes Twaroch. St. Pölten 1988, S. 49–62. – Alois Eder: Der niederösterr. Dichterstreit im Spiegel einer Dichterfreundschaft. W. S. u. Walter Sachs. In: ebd., S. 63–71. – Jörg Thunecke: Negative Heimatlyrik? Zur Dichtung v. W. S. In: MAL 29 (1996), H. 3/4, S. 187–202. – Daniela Strigl: Versuch über W. S. In: LuK 32 (1997), H. 317/318, S. 48–55. – J. Thunecke: Österr. aus der Sicht der inneren u. äußeren Emigration. W. S. u. Theodor Kramer. In: Chronist seiner Zeit – Theodor Kramer. Hg. Herbert Staud. Klagenf. 2000, S. 171–186. – Johann Holzner: Eigenständigkeit um den Preis der Einsamkeit: Über W. S. In: Mitt. aus dem BrennerArchiv (2004), Nr. 23, S. 37–47. – Claudia Katharina Weinmar: Der junge W. S. Leben u. Werk 1901 bis 1933. Diss. Wien 2006. – D. Strigl: ›Fremdheiten‹.

Szczesny Österr. Lyrik der Zwischenkriegszeit. In: Lit. u. Kultur im Österr. der Zwanziger Jahre. Hg. PrimusHeinz Kucher. Bielef. 2007, S. 179–194. Johann Sonnleitner / Red.

Szczesny, Gerhard, * 31.7.1918 Sallewen bei Osterode/Ostpreußen, † 28.10.2002 München. – Journalist.

416 Demokratie. Erfahrungen mit dem Fortschritt. Ebd. 1983. – Als die Vergangenheit Gegenwart war. Lebenslauf eines Ostpreußen. Bln. 1990. Erw. u. korrigierte Ausg. 1991. – Die eine Botschaft u. die vielen Irrwege. Notizen zur Gesch. buddhist. Erkenntnis- u. Erlösungssuche. Würzb. 2004. Literatur: Sabine Korsukéwitz: Der Fall S. [...] im öffentl.-rechtl. Rundfunksystem. Diss. Bln. 1979. – Christian Szczesny: Mein Großvater G. S. u. die Humanist. Union. In: Vorgänge. Ztschr. für Bürgerrechte u. Gesellschaftspolitik 40 (2001), H. 3, S. 25–34. Matías Martínez / Red.

S. wuchs in Königsberg auf u. studierte dort, in Berlin u. in München Philosophie, Literaturwissenschaft u. Publizistik (Promotion). Von 1947 an arbeitete er für den BR, seit 1957 als Chefredakteur des Sonderprogramms. Bekannt wurde S. durch polit. Beiträge u. Szenessy, Mario, * 14.9.1930 Petrovgrad religionskrit. Bücher wie das mehrfach über- (Zrenjanin), † 11.10.1976 Pinneberg. – setzte Die Zukunft des Unglaubens. Zeitgemäße Erzähler. Betrachtungen eines Nichtchristen (Mchn. 1958). Im jugoslaw. Banat u. nach der Übersiedlung Wegen einer Sendung über Leszek der Familie nach Szeged (1948) in Ungarn Kol/akowski 1961 sah sich S. durch die CSU u. aufgewachsen, studierte S. Germanistik u. die kath. Kirche dem Vorwurf der Kommu- Slawistik in Szeged. 1953–1958 war er Stunistenfreundlichkeit ausgesetzt u. zur Kün- dienrat in Slagótarjan u. bis 1963 Lektor an digung gezwungen. Er eröffnete einen Verlag der Universität Szeged. Gefördert von der unter seinem Namen, dessen Programm er Alexander-von-Humboldt-Stiftung, zog er von 1969 an als Herausgeber der rororo-tele- 1963 in die BR Deutschland, wohnte zuReihe fortführte, u. gründete die Humanis- nächst in Tübingen, dann in Berlin, schließtische Union, eine Vereinigung bundesdt. lich in Pinneberg. Intellektueller mit der Zielsetzung, »die S. beschäftigte sich eingehend mit dem freiheitlich-demokratische Ordnung gegen Werk Thomas Manns. Ein Essay über Manns jede weltanschaulich gebundene zu fördern«. Der Betrogene machte ihn in der BR DeutschSeit 1963 gab er das »Jahrbuch für kritische land zunächst in Fachkreisen bekannt, bevor Aufklärung« Club Voltaire heraus. Während S. sein erster, von Thomas Mann beeinflusster zunächst die konservativen Erscheinungen Roman Verwandlungskünste (Ffm. 1967) erder Adenauer-Ära bekämpfte (Scheidungs- schien. S. schilderte am Beispiel einer Prorecht, Verhältnis von Staat u. Kirche, Sexual- vinzstadt die polit. Umwälzungen in Ungarn moral), wandte er sich mit dem Essay Das Le- zwischen 1942 u. 1956. »Verwandlungsben des Galilei und der Fall Bertolt Brecht (Ffm. künste« meint hierbei die Fertigkeiten, die 1966), in dem er Brecht als »sentimental-zy- Menschen während radikaler polit. Umwälnischen Reaktionär« u. begabten, aber dok- zungen entwickeln, um zu überleben. Aus trinären »Dramatiker zweiten Ranges« be- Genrebildern u. Episoden komponierte S. zeichnete, mehr u. mehr gegen den »dog- diesen Roman, der die zunächst beiläufige, matischen und terroristischen Politizismus« später totale Veränderung der Gesellschaft der Neuen Linken. durch den Kommunismus widerspiegelt. Weitere Werke: Europa u. die Anarchie der Seine in diesem Roman erprobte parabol., auf Seele. Mchn. 1946. – Glaube u. Unglaube. Ein realistischen Schilderungen basierende ErBriefw. mit Friedrich Heer. Ebd. 1959. – Das sog. zählweise führte S. in dem Geschichtenband Gute. Vom Unvermögen der Ideologen. Reinb. Otto der Akrobat (ebd. 1969) weiter. Er be1971. – Die Disziplinierung der Demokratie oder die vierte Stufe der Freiheit. Ebd. 1974. – Ein schreibt die bundesrepublikan. Welt aus der Buddha für das Abendland. Ebd. 1976. – Mögen noch unverstellten Perspektive des Neuanalle Sorben glücklich sein. Tgb. einer Macht- kömmlings. Neben seiner eigenen literar. ergreifung. Mchn. 1980. – Vom Unheil der totalen Arbeit hat sich S. als Übersetzer ungarischer

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Literatur, v. a. György Konráds, verdient gemacht. Weitere Werke: Lauter falsche Pässe. Hbg. 1971. – Der Hut im Gras. Ebd. 1973. – Der Hellseher. Ebd. 1974. – In Paris mit Jim. Ebd. 1977 (E.en). Gerhard Bolaender

Szittya, Emil, eigentl.: Adolf Schenk, auch: Emile Lesitt, * 18.8.1886 Budapest, † 26.11.1964 Paris. – Publizist, Erzähler; Maler.

Szondi Max Blaeulich. Klagenf./Salzb. 1991. – ›Mit Franz Jung durchquert das Fieber die Strassen.‹ Briefe an Franz Jung. Vorbemerkung v. W. Fähnders. In: Archiv für die Gesch. des Widerstandes u. der Arbeit, No. 18 (2008), S. 365–376. Literatur: Christian Weinek: E. S. Leben u. Werk im dt. Sprachraum 1886–1927. Diss. Salzb. 1987. – Elisabeth Weinek: Zeitgenosse, Dichter u. Maler. Pariser Jahre 1927–1964. Diss. Ebd. 1987. – Hans J. Schütz: E. S. In: Ders.: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen‹. Mchn. 1988, S. 267–272, 330. – Armin A. Wallas: Von ›Mistral‹ zu ›Horizont‹. E. S. u. Dada. In: DADAutriche 1907–1970. Hg. Günther Dankl u. Raoul Schrott. Innsbr. 1993, S. 21–31. – János Szabó: ›Es ist schön, sich wie ein Glühwurm durch die Welt zu lügen‹. Über E. S. (1886–1964). In: Südostdt. Vierteljahresbl. 43 (1994), F. 1, S. 27–38. – Michael Kohtes: Die rasende Legende. Eine Nacht mit E. S. In: Ders.: Literar. Abenteurer. Ffm. 1996, S. 97–110. Walter Ruprechter / Red.

Schon als Jugendlicher entschloss sich S., Sohn eines Schuhmachers, zu einem Vagabundenleben, das ihn in europ. Kunstmetropolen (Wien, Berlin, Zürich, Prag) führte u. mit Persönlichkeiten aus Politik u. Kultur zusammenbrachte (Das Kuriositäten-Kabinett. Konstanz 1923. Neudr. Nendeln 1979). Seine literar. Arbeiten waren v. a. der modernen Kunst gewidmet; so schrieb er schon früh über Chagall, Picasso, Soutine (u. a. in der Szondi, Peter, * 27.5.1929 Budapest, »Aktion«) u. war an der Herausgabe von † 18.(?)10.1971 Berlin. – LiteraturwissenZeitschriften beteiligt (»Les Hommes Nou- schaftler. veaux« 1911/12 mit Blaise Cendrars; »Der Die ungarische jüd. Familie Leopold Szondis, Mistral« 1915 mit Hugo Kersten; »Horizont des Begründers der ›Schicksalsanalyse‹, u. Lili Hefte« 1919 mit Paul Baudisch; die antifa- Szondis (geb. Radványi) entkam der Ermorschistische »Zone« 1934). 1926 ließ sich S. in dung der ungarischen Juden durch die NaParis nieder u. heiratete, ehe er 1940 nach tionalsozialisten nur knapp: im sog. ›KasztSüdfrankreich flüchten musste. S. stand mit ner‹-Transport wurde sie 1944 über das Lager seiner anarchistischen Grundhaltung den Bergen-Belsen in die Schweiz gerettet. Dadaisten nahe u. hatte Kontakt zu russ. Re- 1948–1954 studierte S. an der Universität volutionären. Die Orientierung am Politi- Zürich bei Théophil Spoerri u. Emil Staiger, schen u. am Individualanarchistischen bei dem er über die Theorie des modernen Drazeichnet auch sein Romanschaffen aus (Der mas (Ffm. 1956. Tb. 1963. 272011) promoviert Mann der immer dabei war. Wien 1986; aus dem wurde. Nach zwei Jahren als Gastdozent an Nachl.). Seine bekannteste Schrift war die der FU Berlin wurde er mit dem Versuch über kulturgeschichtl. Studie Selbstmörder (Lpz. das Tragische (ebd. 1961. 21964) habilitiert. 1925. Neudr. Wien/Mchn. 1985. Reprint der 1961/62 vertrat er den Lehrstuhl von Arthur Ausg. von 1925: Greiz 2008). Henkel in Heidelberg, 1962–1964 war er Weitere Werke: Über die Lit. der Neuen. Bu- Privatdozent in Göttingen. Nach einer Gastdapest 1908. – Ecce Homo ulkt. Bln. 1911 (R.). – professur in Princeton wurde er 1965 als Wilhelm Dressler. Ebd. 1920 (Ess.). – Ein Spazier- Komparatist nach Berlin berufen. gang mit manchmal Unnützigem. Wien/Prag 1920. S.s Bestreben galt seit seiner Dissertation Neuausg. hg. v. Walter Fähnders. Siegen 1994 (P.). der Erkenntnis des literar. Einzelnen u. des– Klaps oder wie sich Ahasver als Saint-Germain sen Genese. Er behielt Staigers sorgfältige u. entpuppt. Potsdam [1924]. Neudr. Nendeln 1973 gattungsbezogene Lektüre bei, lehnte jedoch (R.). – Malerschicksale. 14 Porträts. Hbg. 1925. Neudr. Hbg. 1989. – Neue Tendenzen in der die anthropologisch-ontolog. Prämissen in Schweizer Malerei. Paris 1929. – Träume aus dem der Tradition Martin Heideggers ab. GatKrieg. Aus dem Frz. v. Hermann Schreiber. Wien tungstheorie schien ihm nur als geschichts1987. – Ahasver Traumreiter. Slg. früher Prosa. Hg. philosophisch ausgewiesene Gattungsge-

Szondi

schichte sinnvoll, seine Interpretationen wollen die Dialektik ihrer Gegenstände entfalten. S. berief sich dabei auf Walter Benjamin, Adorno u. Lukács. In der Theorie des modernen Dramas analysierte er die Krise des Dramas seit Ibsen sowie Rettungs- u. Lösungsversuche im Konflikt zwischen überkommener (Gattungs-)Form u. neuem Inhalt; die schwindende Dialogfähigkeit des bürgerl. Menschen schlage sich nieder in epischen Formen, etwa in Gestalt des stage managers in Thornton Wilders Our Town. S. schränkte die geschichtsphilosophische Interpretation durch die auch später beherzigte Maxime ein, nur von dem im Werk zugängl. Geschichtlichen zu sprechen. Auf Geschichtsdialektik verzichtete S. im Versuch über das Tragische ganz u. las die Dialektik als Strukturmerkmal literar. Werke, das er am Beispiel von Texten idealistischer u. nachidealistischer Philosophen beschrieb u. auf Tragödien von Sophokles bis Büchner übertrug: Tragisch sei ein Streben, das den Untergang vermeiden wolle u. ihn gerade dadurch herbeiführe. Hier u. in der Theorie des modernen Dramas verstand S. das Werk als konkreten Lösungsversuch eines allg. gesellschaftl. Problems bzw. einer allg. Gedankenfigur. Die Forderung, für ein Werk einzustehen u. Verantwortung zu übernehmen, wenn dessen Individualität in Frage gestellt wird, steht im Zentrum der – von der Reflexion ihres Judentums geprägten – Freundschaft S.s mit Paul Celan. S. lernte Celan 1959 kennen u. verteidigte ihn öffentlich in der sog. ›Goll-Affäre‹. Der Schwierigkeit, die Autonomie des literar. Werks entsprechend zu konzeptualisieren, trug S. 1962 in dem Traktat Über philologische Erkenntnis (wiederabgedr. in: Hölderlin-Studien. Ffm. 1967) Rechnung; er kritisierte den in der Germanistik gebräuchl. Umgang mit Parallelstellen, Lesarten u. Äquivokationen u. wollte die Textstelle, die Fassung, das Werk, auch das Œuvre nicht als Exempel für etwas Allgemeines, sondern als Individuelles, das sich selbst konstituiert, behandelt wissen. Dialektisch blieb sein Verfahren: Er entfaltete aus dem einheitl. Begriff den Gegensatz u. deutete histor. Abläufe, auf die er bes. achtete, als notwendige Folge von Argumenten. Das Partikulare u. die »Logik

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seines Produziertseins« (Adorno) standen im Mittelpunkt der literar. Hermeneutik, die S. nun entwickelte u. in der Interpretation erprobte: etwa von Fassungen zu Hölderlins Wie wenn am Feiertage (in: Der andere Pfeil. Ebd. 1963) oder der Abfolge von Werken des jungen Hofmannsthal (Das lyrische Drama des Fin de siècle. Ebd. 1975). 1965 begründete S. das Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der FU Berlin. Er stritt ›1968‹ mit präzis u. elegant geschriebenen Leserbriefen u. Gutachten um die institutionellen u. polit. Grundlagen seiner Wissenschaft: gegen eine ökonomisch motivierte Hochschulreform (wie sie etwa der Wissenschaftsrat vertrat) u. für die Lernfreiheit der Studenten, lehnte aber deren Forderung, die Fächer zu politisieren, ab: es solle »der Theorie ihre Freiheit belassen« bleiben (postum veröffentlicht u. d. T. Über eine ›Freie (d.h. freie) Universität. Ffm. 1973). 1968 war er Gastprofessor in Jerusalem, nahm jedoch die Einladung Gershom Scholems, an der Hebräischen Universität auf Dauer zu lehren, nicht an (S. bezeichnete sich als »self displaced person« u. konnte das dort empfundene Heimatgefühl nicht realisieren). 1972 hätte er als Nachfolger von Paul de Man nach Zürich gehen sollen, doch nahm er sich im Okt. 1971 das Leben. Das intellektuelle Zentrum seines Engagements u. seiner Forschung lag außerhalb der Institution. Das zeigt allein die Korrespondenz, zunächst mit Ivan Nagel u. Bernhard Böschenstein in den 1950er Jahren, später mit Scholem, Adorno u. Celan u. über viele Jahre hinweg mit Mayotte u. Jean Bollack, dem frz. Gräzisten, Übersetzer u. Philosophen. Es war ein ›Außen‹, das er selbst wählte u. mit Hilfe der Literatur, namentlich von frz. Dichtern, Hölderlin u. Celan in seiner Person einrichtete. S. wählte in diesem Sinn für seine dt. Ausgabe von Aufzeichnungen Paul Valérys (Windstriche. Zus. mit B. Böschenstein u. Hans Staub. Wiesb. 1959) auch den Aphorismus »La syntaxe est une faculté de l’âme« aus. In seinem letzten Lebensjahr schrieb S. zwei große Essays: Das Naive ist das Sentimentalische (1972. Wiederabdruck in: Schriften 2. Ffm. 1978, S. 59–105) ist Adorno »zum Andenken« gewidmet. In Schillers Begriffsdialektik

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Ausgaben: Studienausg. der Vorlesungen. Hg. entdeckte S. eine geschichtsphilosophische Poetik. In Lecture de Strette (Durch die Enge ge- Jean Bollack u. a. 5 Bde., Ffm. 1973–75. – P. S.: führt. 1971. Wiederabdruck in: ebd., Briefe. 2Hg. Christoph König u. Thomas Sparr. Ffm. S. 345–389) beschrieb S. seine von Jacques 1993. 1994. – Paul Celan u. P. S.: Briefw. Mit Briefen v. Gisèle Celan-Lestrange an P. S. u. AuszüDerrida inspirierte – »mi-Szondi, mi-Derrigen aus dem Briefw. zwischen P. S. u. J. u. Mayotte da« (Szondi) – Lektüre des Wortgewebes von Bollack. Hg. C. König. Ffm. 2005. – Nachlass: DLA. Celans Gedicht Engführung. S. initiierte jedoch Literatur: L’Acte Critique. Un colloque sur kein dekonstruktivistisches Spiel der Bedeu- l’œuvre de P. S. Hg. Mayotte Bollack. Lille 1985. – tungen, sondern legte die Welt des modernen Nikolaus Miller: Krit. Ästhetik. In: Literaturwiss. Gedichts in die notwendige Folge von Signi- heute. 7 Kap. über ihre method. Praxis. Hg. Friedfikanten. Auch die zwei anderen zuletzt ent- rich Nemec u. a. Mchn. 1979, S. 91–127. – Thomas standenen Celan-Studien (ebd., S. 321–498) Sparr: P. S. In: Bulletin des Leo Baeck Instituts 78 sind experimentell; sie gelten wieder der (1987), S. 59–69. – Jean Bollack: Einl. zu: P. S. InFrage, wie die Individualität der Werke unter troduction à l’herméneutique littéraire. Paris 1989, verschiedenen method. Prämissen zu fassen S. I–XVII. Auch in: DVjs 64 (1990), S. 370–390. – sei, etwa im Essay Poetry of Constancy – Poetik Elena Agazzi: L’ermeneutica di P. S. e la letteratura tedesca. Vorw. v. Gert Mattenklott. Udine 1990. – der Beständigkeit als an die Epoche gebundene Eberhard Lämmert: P. S. Ein Rückblick zu seinem ›Intention auf die Sprache‹ (Benjamin) oder 65. Geburtstag. In: Poetica 26 (1994), S. 1–30. – im vorzeitig abgebrochenen Essay Eden mit- Andreas Isenschmid: ›In mancher Hinsicht ein ten unter den Realia. Die Reflexionen dieser Glaubensbekenntnis‹. P. S.s Benjamin-Rezeption. Lektüren finden im Aufsatz Schleiermachers In: Schrift Bilder Denken. Hg. Detlev Schöttker. Hermeneutik heute (1970. Wiederabdruck in: Ffm. 2004, S. 82–93. – Christoph König: Engfühebd., S. 106–130), den S. Celan »zum Ge- rungen. P. S. u. die Lit. Marbach am Neckar 2004. dächtnis« veröffentlichte, ihren Ausdruck: 2., durchges. Aufl. 2005. – Russell A. Berman: Das Notwendige u. daher Individuelle ent- Conspiracy Theories. S. on Hölderlin’s Jacobinism. stehe im subjektiven Gebrauch von Gram- In: Telos 140 (2007), S. 116–129. – Joshua Robert Gold: Minority Report. Approaching P. S.’s Hölmatik u. ›Denken‹. Kurz darauf weist S. zuderlin studies. In: ebd., S. 95–115. – C. König: dem (gegen Gadamers philosophische Her- Reflections of reading. On Paul Celan and P. S. In: meneutik) auf die Historizität der Erkenntnis ebd., 2007, S. 147–175. – A. Isenschmid: Wir sind hin, ohne jedoch noch diese Einsicht inner- alle Überlebende. Zum Briefw. v. Hilde Domin u. P. halb einer Wissenschaftsgeschichte zu fassen. S. In: NR 119 (2008), S. 148–156. – Anna Seghers S.s Werk wurde von seinem Freund Bollack (Netty Reiling) an P. S.: Drei Briefe aus dem Jahr veröffentlicht (weitgehend auch aus dem 1949. Hg. v. Michael Taylor. In: Gesch. der GerNachlass) u. anhaltend kommentiert; Jean u. manistik 33/34 (2008), S. 101–117. Christoph König Mayotte Bollack organisierten zudem die erste S. gewidmete Konferenz ›L’Acte Critique‹ 1979 in Paris. Das Interesse an S.s Werk Szyszkowitz, Gerald, * 22.7.1938 Graz. – ist, dessen allgemeinem Anspruch gemäß, Erzähler, Dramatiker, Regisseur, Überstets international (Übersetzungen in zwansetzer u. Maler. zig Sprachen bezeugen das) u. vorwiegend philosophischer Natur (Marxismus, Herme- Der Sohn des Versicherungsjuristen u. neutik, Dekonstruktion). Gegenläufig dazu Schriftstellers Franz Szyszkowitz studierte in lässt sich künftig von S. her eine ›Theorie Wien Theaterwissenschaften u. Germanistik, philologischer Praxis‹ (Christoph König) arbeitete daneben als Assistent des Filmreentwickeln. Zur Theorie tritt von Anfang an gisseurs Willi Forst u. wurde 1960 bei Heinz die Aufmerksamkeit für S.s Praxis u. Stil, die Kindermann über Remigius Geyling, ein Bühin der Diskretion gerade die Person anzeigen nenbildner aus der Stilwende der Sezession (Wien sollen. S. ist eine Leitfigur der Literaturwis- 1960) promoviert. Nach einer zweijährigen senschaft bis heute. Weltreise u. Regiearbeiten an dt. Bühnen wurde sein erstes Stück, Genosse Bruggemann, 1967 in Hannover aufgeführt. Als Chefdra-

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maturg des ORF (seit 1972) u. Leiter der Hauptabteilung Fernsehspiel u. Unterhaltung produzierte S. zahlreiche Fernsehspiele (1973–1994), von denen einige (z. B. Franz Innerhofers Schöne Tage) mit dem Prix Italia ausgezeichnet wurden. In dieser Zeit entstand auch die Krimiserie Kottan ermittelt (1976–1983). S.’ realistische Prosa steht im Zeichen der Restauration des Erzählens u. setzt damit ein Gegengewicht zu einer eher denarrativ ausgerichteten Literatur avantgardistischer Tradition. S.’ Texte erzählen Geschichten. Seine Prosa verknüpft gegenüber dem Leser Familien- u. österr. Zeitgeschichte auf eine oft allzu kulinar. Weise. Die Hauptfigur aus Puntigam oder die Kunst des Vergessens (Wien 1988), Tochter eines Grazer Nazisympathisanten, schlägt sich nach dem »Anschluss« auf die Seite des Widerstands; in die Geschichte wird ein breites Figurenspektrum mit einer allen wohlwollenden Neutralität eingebracht, die keinen Leser irritieren kann. Der Hang zu stoffl. Aktualität ist auch für S.’ Jugendroman Auf der anderen Seite (ebd. 1990) charakteristisch, der sich mit den Folgen der polit. Veränderungen im Osten befasst. Auch der Roman Badenweiler oder Nichts wird bleiben von Österreich (ebd. 1995) setzt sich mit der jüngeren österr. Geschichte u. der Verstrickung der Gesellschaft mit dem Nationalsozialismus auseinander, verbindet dies aber auch mit tagespolit. Entwicklungen. Seit Ende der neunziger Jahre macht sich S. auch als Autor von Kriminalromanen einen Namen: Mord vor der Klagemauer (ebd. 1999), Mord in Bethlehem (ebd. 2000). Teilweise sieht er sich in seinem Schaffen von den Werken Nestroys u. Arthur Schnitzlers beeinflusst. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit hatte S. auch renommierte Stellen im österr. Theaterbetrieb inne. So er saß 1994/95 im Aufsichtsrat des Burgtheaters u. hat seit 1994

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einen Platz im Aufsichtsrat der NestroyFestspiele Maria Enzersdorf. Seit 2007 ist S. Präsident des Zentrums für kulturelle Begegnung und Verständigung der Jüdischen Gemeinde Baden. Seit 2001 entsteht im Wien-Verlag eine Gesamtausgabe der Werke von S. Im Winter 2007/2008 publizierte der Wiener Amalthea-Verlag drei Bände mit zwanzig Stücken von S. unter dem Titel Stücke über große Österreicher (ebd.), die sich histor. Figuren aus Kultur u. Politik wie Gustav Mahler oder Bruno Kreisky annehmen. S.’ 34. Theaterstück soll u. d. T. Werner Krauss und Jud Süß im Frühjahr 2012 an der Freien Bühne Wieden uraufgeführt werden. Über seine dramat. u. prosaische Arbeit hinaus ist S. gemeinsam mit seiner Frau Uta Szyszkowitz als Übersetzer aus dem Französischen (u. a. Werke von Jean Genet u. Victor Hugo) tätig. S. ist Mitgl. des Österreichischen P.E.N.-Clubs. Er erhielt u. a. den Ernst Winkler Preis (1981), den Grillparzer-Ring (1981) u. den Jugendbuchpreis der Stadt Wien (1990). Weitere Werke: Der Fladnitzer. Wien 1970 (D.) – Waidmannsheil oder schöne Grüße aus der Steiermark. Ffm. 1971 (D.). – Der Thaya. Wien 1981 (R.). – Seitenwechsel. Ebd. 1982 (R.). – Osterschnee. Ebd. 1984 (R.). – Furlani oder die Zärtlichkeit des Verrats. Ebd. 1985 (R.). – Theaterstücke. Vorw. Peter Turrini. Ebd. 1991. – Der Liebe lange Weile. Ebd. 1992 (R.). – Der Vulkan u. a. E.en. Ebd. 1994 (E.). – Anna oder der Flügelschlag der Freiheit. Ebd. 1996 (R.). – Die Lesereise der Katja Thaya. Ebd. 1998 (E.). – Übersetzungen: Jean Genet: Briefe an Roger Blin. Hbg. 1967. – Victor Hugo: Tausend Francs Belohnung. Bln. 1974. Literatur: G. S. Beiträge u. Materialien. Wien/ Darmst. 1988. – Jürgen Koppensteiner: Gespräch mit G. S. In: Dt. Bücher 20 (1990), S. 85–97. – Klaus Zeyringer (Hg.): G. S. oder Die Kunst des Erinnerns. Wien 1993. Johann Sonnleitner / Torsten Voß

T Tabernaemontanus ! Theodor, Jakob Tabori, George (György), * 24.5.1914 Budapest, † 23.7.2007 Berlin. – Schriftsteller, Regisseur u. Theaterleiter. Der aus einem jüd. Elternhaus stammende T. wuchs zweisprachig auf: Neben Ungarisch lernte er Deutsch. Nach dem Abitur absolvierte er eine Ausbildung im Hotelgewerbe in Deutschland. 1935 emigrierte er nach London. Während des Krieges war er als Auslandskorrespondent u. für den brit. Nachrichtendienst tätig. Sein Vater, ein Journalist, wurde 1944 in Auschwitz ermordet; seine Mutter entkam der Deportation durch einen Zufall, den er später in My Mother’s Courage darstellt (dt. Mutters Courage. Urauff. Mchn. 1979). 1947 siedelte T. in die USA über, wo er u. a. mit Bertolt Brecht zusammentraf, dessen Stücke er übersetzte u. inszenierte. In den 1950er u. 1960er Jahren besuchte er das von Lee Strasberg geleitete Actor’s Studio, dessen von Stanislawski u. der Psychotherapie beeinflusste Probenarbeit ihn nachhaltig prägte. Seit 1971 arbeitete T. als Autor u. Regisseur in Deutschland u. Österreich (u. a. in Bremen, München, Wien u. Berlin). Er schrieb seine Theatertexte, die teilweise aus eigenen Erzählungen entwickelt sind, in engl. Sprache. Die für ein deutschsprachiges Publikum verfassten Stücke u. Bearbeitungen anderer Autoren, deren Uraufführungen er meist selbst inszenierte, wurden jedoch auf Deutsch veröffentlicht. Die Übersetzungen besorgte seit Anfang der 1980er Jahre zum größten Teil seine dritte Frau, Ursula Grützmacher. Für seine Arbeit erhielt T. zahlreiche Ehrungen, darunter den Mülheimer Dramatikerpreis (1983, 1990), den Georg-Büchner-

Preis (1992) u. den Walter-Hasenclever-Preis (1998). T. begann seine künstlerische Karriere mit zeitkritischen, vom Existenzialismus beeinflussten Romanen (Beneath the Stone the Scorpion. London 1945. Dt. Unter dem Stein der Skorpion. Bern 1945. Neuausg. u. d. T. Das Opfer. Gött. 1996. Companions of the Left Hand. London 1946. Dt. Gefährten zur linken Hand. Gött. 1999. Original Sin. London 1947. Dt. Ein guter Mord. Gött. 1992). Später schrieb er Drehbücher (u. a. für Alfred Hitchcock) u. Theaterstücke (u. a. Flight into Egypt. Urauff. New York 1952). Erfolg hatte er erst mit der deutschsprachigen Erstaufführung seines Stücks Die Kannibalen (Aufführung Bln. 1969), dessen amerikan. Uraufführung (New York 1968) beim Publikum auf Befremden stieß (The Cannibals). Das Stück ist der Versuch, das Grauen der Shoah jenseits moralisierender Anklage, didakt. Aufklärung u. political correctness mit den Mittel des Galgenhumors, der Zote u. des Kalauers vor dem Vergessen bewahren. Die Szene ist ein Konzentrationslager. Die ausgehungerten Häftlinge beschließen, aus der Leiche eines Kameraden eine Mahlzeit zu bereiten. Der Versuch eines Mithäftlings, sie von ihrem grausigen Vorhaben abzubringen, scheitert. Das Stück schließt mit dem Auftritt des SS-Aufsehers, der die Häftlinge vor die Alternative stellt, entweder von dem Menschenfleisch zu essen oder vergast zu werden. Das Stück wird von den Überlebenden u. Nachgeborenen dargestellt, die im Wechsel von Rollenspiel u. Reflexion die Vergangenheit zu rekonstruieren versuchen. Wie die antiillusionistische Dramaturgie sind die Themen u. Motive – die Shoah, die erinnernde Vergegenwärtigung erfahrenen Leids im Medium des Theaters u. die Täter-Opfer-Dialektik aus der Sicht der

Tabori

Ermordeten – in verschiedenen Varianten auch für andere Stücke T.s bestimmend. In den folgenden, in den USA entstandenen Stücken bezieht T. Position gegen den Vietnam-Krieg (Pinkville. Urauff. New York 1971. Dt. Bln. 1971) u. thematisiert ethn. Konflikte zwischen Weißen u. Farbigen in den USA (The Demonstration. Urauff. New York 1967. Dt. Die Demonstration. Bln. 1971. Clowns. Urauff. Tübingen 1972. The Voyeur. Dt. Der Voyeur. Urauff. Berlin 1982). Mit der Shoah setzte er sich erst wieder nach seiner endgültigen Rückkehr nach Europa auseinander. In Jubiläum (Urauff. Bochum 1983), das anlässlich des 50. Jahrestages von Hitlers Machtübernahme entstand, steigen die durch Neonazis in ihrer Ruhe gestörten Opfer des nationalsozialistischen Terrors aus ihren Gräbern u. werden erneut mit den Schrecken der Vergangenheit konfrontiert. Den Höhepunkt seines Schaffens markiert die Farce Mein Kampf (Urauff. Wien 1987), mit der T. sich schließlich auch als Bühnenautor durchsetzte. Am Ende des 20. Jh. war er einer der meistgespielten Gegenwartsdramatiker auf deutschsprachigen Bühnen. Mein Kampf handelt von dem gescheiterten Kunstmaler Adolf Hitler, der in einem Wiener Obdachlosenasyl auf den jüd. Kolporteur Schlomo Herzl trifft. Herzl, der an dem Buch Mein Kampf schreibt, kümmert sich liebevoll um den unglückl. Hitler u. gibt ihm den Rat, in die Politik zu gehen. Gegen Schluss verschwindet Hitler im Verein mit der allegor. Figur der Frau Tod, die in ihm einen gefügigen Helfershelfer entdeckt hat. Das Stück wirft u. a. die Frage nach der jüd. Identität auf, die für T. in den Inszenierungen zu Beginn der 1990er Jahre neue Aktualität erhielt. Weisman and Copperface (dt. Weisman und Rotgesicht. Urauff. Wien 1990), Ende der 1960er Jahre als Erzählung entstanden, handelt von zwei Außenseitern, einem Juden u. einem Indianer, die zwei Seiten ein u. der derselben Figur repräsentieren. Die Goldberg-Variationen (Urauff. Wien 1991), eines der erfolgreichsten u. im Urteil der Kritik besten Stücke T.s, parallelisieren mit blasphem. Komik die Entstehung einer Theateraufführung über die Bibel mit Motiven aus der jüd. Schöpfungs- u. christl. Heilsgeschichte. In Nathans Tod (Urauff.

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Wolfenbüttel 1991) fällt Lessings Held einem Pogrom zum Opfer. In den späten Produktionen umkreist T. den Themenkomplex des Alterns, der Vergänglichkeit u. des Todes (Die Massenmörderin und ihre Freunde. Urauff. Wien 1995. Die Ballade vom Wiener Schnitzel. Urauff. ebd. 1996. Die letzte Nacht im September. Urauff. ebd. 1997. Frühzeitiges Ableben. Urauff. Berlin 2001). Mit der szen. Collage Die BrechtAkte (Urauff. Berlin 2000), mit der das renovierte Theater am Schiffbauerdamm eröffnet wurde, kehrte T. an seine Theateranfänge zurück: zu Brecht, den er neben Shakespeare zu seinem wichtigsten Lehrmeister zählte. Weitere Werke: The Caravan Passes. London 1951. Dt.: Tod in Port Aarif. Hg. u. mit einem Nachw. v. Wend Kässens. Gött. 1994 (R.). – The Journey. New York 1958. Dt.: Die Reise. Würzb./ Wien 1959 (R.) – The Good One. New York 1960 (R.). – Brecht on Brecht. An Improvisation. New York 1967. – Son of a bitch. Mchn./Wien 1981. Bln. 2003 (E.en). – Unterammergau oder Die guten Deutschen. Ffm. 1981 (Stücke u. Ess.s). – Spiele. Peepshow. Pinkville. Jubiläum. Köln 1984. – Meine Kämpfe. Mchn./Wien 1986 (E.en). – Betrachtungen über das Feigenblatt. Ein Handbuch für Verliebte u. Verrückte. Mchn./Wien 1991. – Theaterstücke. 2 Bde., Mchn./Wien 1994. – Autodafé. Erinnerungen. Bln. 2002. – Der Spielmacher. Gespräche mit G. T. Hg. u. mit einem Vorw. v. W. Kässens. Bln. 2004. – Bett & Bühne. Über das Theater u. das Leben. Essays, Artikel, Polemiken. Hg. Maria Sommer. Bln. 2007. Literatur: T. Hg. Jörg W. Gronius u. Wend Kässens. Ffm. 1989. – Gundula Ohngemach: G. T. Ffm. 1989. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): G. T. Mchn. 1997 (Text + Kritik. H. 133). – Theater gegen das Vergessen. Bühnenarbeit u. Drama bei G. T. Hg. Hans-Peter Bayerdörfer u. Jörg Schönert. Tüb. 1997. – Verkörperte Geschichtsentwürfe. G. T.s Theaterarbeit. Hg. Peter Höyng. Tüb. 1998. – Anat Feinberg: Embodied Memory. The Theatre of G. T. Iowa City 1999. – Birgit Haas: Das Theater des G. T. Vom Verfremdungseffekt zur Postmoderne. Ffm. u. a. 2000. – Jan Strümpel: Vorstellungen vom Holocaust. G. T.s Erinnerungs-Spiele. Gött. 2000. – Stefan Scholz: Von der humanisierenden Kraft des Scheiterns. G. T. – Ein Fremdprophet in postmoderner Zeit. Stgt. 2002. – A. Feinberg: G. T. Mchn. 2003. – Markus Roth: Theater nach Auschwitz. G. T.s ›Die Kannibalen‹ im Kontext der HolocaustDebatten. Ffm. u. a. 2003. – Peter Michalzik: G. T. In: LGL. – Alice Huth: ›In meiner Geisterstunde‹.

Talhoff

423 Intertextualität u. Gedächtnis in Werken v. G. T. Marburg 2008. – J. Strümpel: G. T. In: KLG.

Ausgabe: Max Schiendorfer (Hg.): Die Schweizer Minnesänger. Bd. 1: Texte. Tüb. 1990, S. 274–279.

Peter Langemeyer

Literatur: Karl Bartsch (Hg.): Die Schweizer Minnesänger. Frauenfeld 1886. Nachdr. Frauenfeld/Darmst. 1964, S. XLVII-XLIX. – Friedrich Grimme: Die Schweizer Minnesänger. In: Germania 35 (1890), S. 302–339, hier S. 312 f. – Hugo Kuhn: Minnesangs Wende. Tüb. 21967, S. 124 f. – KLD 2, S. 592 f. (zu 2 = Winterstetten XXXII). – Olive Sayce: The Medieval German Lyric 1150–1300. Oxford 1982, passim. – Hermann Apfelböck: Tradition u. Gattungsbewußtsein im dt. Leich. Tüb. 1991, S. 7, 133 f., 140. – Claudia Händl: Der T. In: VL. – Barbara Weber: Œuvre-Zusammensetzungen bei den Minnesängern des 13. Jh. Göpp. 1995, S. 221–236, 289 (Register). – Gerhard Wolf: Der ›Gegengesang‹ in seiner Aufführungssituation. In: Wechselspiele. Kommunikationsformen u. Gattungsinterferenzen mhd. Lyrik. Hg. Michael Schilling u. Peter Strohschneider. Heidelb. 1996, S. 153–177, hier S. 171–174. Claudia Händl

Tagger, Theodor ! Bruckner, Ferdinand Talander ! Bohse, August Der Taler. – Lied- u. Leichdichter der zweiten Hälfte des 13. Jh.

Die Herkunft des Sängers, unter dessen Namen die Große Heidelberger Liederhandschrift (C) einen Leich (1) u. drei Lieder (2–4) überliefert, ist ungeklärt. Vielleicht ist er mit dem 1255/ 65 bezeugten Schweizer Ministerialen Leuthold von Tal oder mit dem 1244 urkundenden Schweizer miles Rudolfus de Thale identisch; der Verweis in 3 auf Gottfried von Neifen, die Zuschreibung von fünf auch unter dem Namen Ulrichs von Winterstetten überlieferten Strophen (Lied 2, Winterstetten XXXII) u. die Miniatur mit der Abbildung des Talhoff, Albert, eigentl.: Albert Ludwig Sängers u. eines Königs, der als Heinrich (VII.) Meyer, * 31.7.1888 Solothurn, † 10.5. gedeutet wird, lassen auch eine schwäb. 1956 Luzern; Grabstätte: ebd., Friedhof Herkunft des T. möglich erscheinen. Auch die Friedental. – Regisseur; Dramatiker, Erim Werk enthaltenen alemann. Sprachfor- zähler. men lassen keine eindeutige Festlegung auf Nach Kindheit u. Jugend in Luzern u. einer die Schweiz oder auf Schwaben zu. Regieausbildung in Leipzig war T. 1911/12 Der Leich (1), nach Kuhn nur bruchstückLeiter der Freilichtspiele Hertenstein am haft überliefert, nach Apfelböck eine vollVierwaldstätter See u. lebte danach als freier ständige Dichtung mit parodistischer Schriftsteller in Berlin, Leipzig, München u. Schlusspointe, spielt traditionelle MinneLudwigshöhe am Starnberger See, ehe er sang-Motive wie Maienfreude, Sängerdienst 1944 in die Schweiz zurückkehrte u. seine u. Preis der »frouwe« durch u. endet (bricht letzten Jahre unter prekären materiellen Beab?) mit der pastourellesk anmutenden Bedingungen in Engelberg verbrachte. Er degegnung zwischen dem Sänger u. seiner Gebütierte als Dramatiker mit dem Einakter liebten. Lied 2, auch unter Ulrichs von WinNicht weiter, o Herr! (Jena 1919. Urauff. 1920 terstetten Namen überliefert, ist ein konvenMeiningen), der die zerstörerischen Auswirtioneller Frauenpreis mit Refrain. Lied 3, mit kungen des Kriegs auf eine bäuerl. Holzeiner Anspielung auf Neifens Minnedichtung schnitzerfamilie zeigt. Mit Totenmal, einer (V. 7 f.: »Der Nîfer lobt die frowen sîn / und ir dramatisch-chorischen Version für Wort, Tanz und roeselehtez mündelîn«), wendet sich parLicht (Stgt. 1930), präsentierte T. in einem in odistisch gegen übertriebenen Minnedienst, München eigens dafür errichteten Theater während Lied 4 den Liedtyp des höf. Botenmit über 120 Mitwirkenden eine spezifische, lieds parodiert. Die formale, sprachl., motivl. v. a. durch rhythmisch-chorische Elemente u. themat. Gestaltung der Dichtungen des T. geprägte Form des kultischen Weihespiels, zeugt von einer beachtl. Variationsfähigkeit bei dem die Ausdruckstänzerin Mary Wigu. legt ihre Datierung in die zweite Hälfte des man eine zentrale Rolle spielte. Obwohl seine 13. Jh. nahe. Intentionen u. bühnentechn. Vorstellungen in gewisser Weise mit dem kultischen Pathos

Talitz von Liechtensee

der NS-Kultur konform gingen, wurde T. nach 1937 als Dramatiker praktisch kaltgestellt; er wandte sich daraufhin der Prosa zu. Erschüttert durch den Zweiten Weltkrieg, publizierte er nach seiner Rückkehr in die Schweiz seine eigenwillige, lyrisch-rhapsodisch bewegte Romantrilogie Apokalyptische Verkündigung: Weh uns, wenn die Engel töten (Zürich 1945), Des Bruders brüderlicher Gang (Braunschw. 1947) u. Vermächtnis (Zürich 1952). Ebenfalls aus den Erfahrungen des Weltkriegs heraus schuf T. mit Es geschehen Zeichen (Zürich 1953. Urauff. Luzern 1953) u. Soldat Niemand. Spiel zwischen dieser und jener Welt (Zürich 1954) weitere Weihespiele, die »stilistisch wie ›Totenmal‹ dem Expressionismus verpflichtet waren, aber in politischer Blindheit die Weltkatastrophe mystifizierten« (M. Stern). Seit 1993 ist T.s Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern archiviert. Literatur: Johann Keckeis u. a.: In memoriam A. T. Zürich 1956. – Martin Stern: Vom pazifist. Mahnmal zum NS-Festspiel. Wege u. Irrwege des Auslandschweizer Schriftstellers A. T. In: Der kleine Bund (Bern), 3.2.2001 (mit bibliogr. Angaben). – Reto Caluori: A. T. In: Theaterlexikon der Schweiz. Hg. Andreas Kotte. Bd. 3, Zürich 2005, S. 1789. Charles Linsmayer

Talitz von Liechtensee, Johann. – Autor eines 1645 erstmals aufgelegten Schwankbuchs.

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Fürsten bis zum Bauern alle Berufsgruppen zu Wort kommen. Dem Spaß des Publikums am Kriminellen hat sich T. nicht versagt: Eine ganze Reihe von Erzählungen handelt von Dieben, Betrügern u. Delinquenten. Gelegentliche Übereinstimmungen mit Stücklein bei Heinrich Bebel, Johannes Pauli oder Hans Wilhelm Kirchhof bedeuten nicht, dass T. diese Sammlungen direkt benutzt hat. Die sehr unterschiedl. Lokalisierungen auf den dt. Sprachraum, auf Italien, Frankreich, die Schweiz oder die Niederlande lassen keinen bestimmten Quellenbestand erkennen, doch dürfte nach der Diktion mancher Texte mündl. Überlieferung von Einfluss gewesen sein. Eine schon aus dem 16. Jh. übernommene Verlagspraktik, so etwa bei Georg Wickrams Rollwagenbüchlein oder dem Wegkürtzer des Martin Montanus, war es, Schwanksammlungen als Reiselektüre anzubieten. Bei T. ist diese Funktion auf dem Titelkupfer mit Darstellungen von Reisenden zu Fuß u. hoch zu Ross, auch einer musizierenden Gesellschaft im Ruderboot reizvoll verdeutlicht. Ausgabe: Neu-auszgeschmückter u. viel-vermehrter kurtzweiliger Räyse-Gespan [...]. Ulm 1702. Internet-Ed. in: SBB-PK Berlin. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Pariser: J. T. v. L. In: ADB. – Hermann Gumbel: Zur dt. Schwanklit. im 17. Jh. In: ZfdPh 53 (1928), S. 303. – Siegfried Neumann: Schwanklit. u. Volksschwank im 17. Jh. In: Jb. für Volkskunde u. Kulturgesch. N. F. 9 (1981), S. 128. – Elfriede Moser-Rath: ›Lustige Gesellschaft‹. Schwank u. Witz des 17. u. 18. Jh. Stgt. 1984, S. 18 f., passim. – Winfried Theiss: Schwank. Bamberg 1985, Register. – Dt. Schwankliteratur. Hg. Werner Wunderlich. Bd. 2, Ffm. 1992. – E. Moser-Rath: Kleine Schr.en zur populären Lit. des Barock. Hg. Ulrich Marzolph u. a. Gött. 1994, Register. Elfriede Moser-Rath † / Red.

Mit seinem in Varianten mehrfach kopierten Titel Kurtzweyliger Reyßgespahn (Wien/Luzern 1645. Bis 1702 mehrfach aufgelegt), in der Ulmer Ausgabe von 1663 als Viel vermehrter kurtzweiliger Reyßgespan bezeichnet (1697: Neuaußgeschmückter und viel vermehrter kurtzweiliger Räyse-Gespan [...]), lieferte T. einen für das 17. Jh. bezeichnenden Typ von Unterhaltungsliteratur. Von den Grobianismen des 16. Jh. Taller, Placidus, * 24.11.1655 Rott/Inn, mit ihrer Vorliebe für obszöne oder skatolog. † 14.12.1721. – Prediger aus dem BeneScherze hat er sich bewusst abgesetzt; er diktinerorden. versicherte, nur »erbare Schwenck« zum Druck gebracht zu haben. Der zuvor so be- Die Geburt gleichsam im Schatten eines der liebte Pfaffenspott blieb ausgespart, der sonst bedeutendsten Benediktinerklöster Altbayhäufig thematisierte Ehekrieg spielte keine erns prägte T.s Lebensweg: Er legte dort 1679 allzu große Rolle. Im Wesentlichen lieferte T. seine Ordensgelübde ab, ging zum Studium eine ausgewogene Ständesatire, in der vom der Theologie u. der Rechte nach Ingolstadt,

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Talvj

kehrte danach aber in sein Heimatkloster Talvj, eigentl.: Therese Albertine Louise zurück, wo er als Bibliothekar u. Ökonomie- Robinson, geb. von Jacob, * 26.1.1797 verwalter wirkte, zgl. auch als Prediger u. Halle, † 13.4.1870 Hamburg. – SchriftSeelsorger für die Mitbrüder u. die Landge- stellerin; Volksliedforscherin u. Slawistin. meinden der Umgebung. 1695 übernahm er die Pfarre zu Kötzting im Bayerischen Wald; T. verbrachte ihre Kindheit in Halle. Die Zeit gleichzeitig versah er das Amt des Adminis- zwischen ihrem neunten u. neunzehnten Letrators in Grafenwiesen. Die sich selbst zu- bensjahr verbrachte sie in Charkov u. St. Pegedachte Funktion auf der Kanzel ergibt sich tersburg, wo ihr Vater, Ludwig Heinrich von aus dem Titel seines Werks Einfältiger doch Jakob, Universitätsprofessor für Staatswiswohlgemeinter Bauern-Prediger, das ist: Fest-tägli- senschaft war. Dieser Aufenthalt schärfte ihche Predigen (Regensb. 1715. 21718. 31723), ren Blick für die slaw. Kulturen. Zurück in einem entsprechenden Dominicale (ebd. 1716 Halle, verkehrte sie in literar. Kreisen, schrieb u. ö.) u. einer Sammlung von Marienpredig- Gedichte, Erzählungen, Rezensionen u. ten (ebd. 1720. 21725). Über 1300 Seiten übersetzte Walter Scott aus dem Englischen. umfasst ein Band mit 30 Kirchweihpredigten 1823/24 lernte sie den serb. Philologen u. u. d. T. Neu-eröffneter, wohl eingerichter auch auf Spracherneuerer Vuk Stefanovic´ Karadzˇic´ alle Kirchweyh-Tag und Jahrmärckte aufgeschlage- kennen u. stieß auf dessen dreibändige Leipner geistlicher Kram-Laden (ebd. 1721). Werke ziger Ausgabe der Serbischen Volkslieder. Sie dieses Umfangs, von entsprechendem Preis, begann, sich intensiv mit ihnen zu beschäfwaren in erster Linie für den Gebrauch von tigen u. sie ins Deutsche zu übertragen. Am weniger belesenen Amtsbrüdern bestimmt, 12.4.1824 sandte sie ihre ersten Liedübertradie hier einen beachtl. Vorrat an Predigt- gungen an Goethe, der sie zur Fortsetzung mustern finden konnten. Sie sind jedoch zgl. ihrer Übersetzungstätigkeit ermunterte. Quellen für das Volksleben der Barockzeit: 1825 u. 1826 gab sie ihre zweibändigen, Herrschaftsverhältnisse, die Unterdrückung metrisch übertragenen u. mit einer histor. der Landbevölkerung etwa, sind bei Gele- Einleitung versehenen Volkslieder der Serben genheit faktenreich angesprochen, u. man (Halle) heraus, die den Anstoß zu intensiven wird selten präzisere Schilderungen des deutsch-serb. Kulturbeziehungen gaben. Jahrmarkttreibens finden als in T.s Kirch- Motivierend wirkten sich dabei auch die poweihpredigten. Um eine Auslegung auf die litisch-militärischen Ereignisse auf dem Balkirchl. Lehre waren Prediger dieses Genres kan bzw. die Befreiungskämpfe der zum Osmanischen Reich gehörigen Balkanslawen nicht verlegen. Literatur: Bibliografie: Kat. gedr. deutschspra- gegen die Fremdherrschaft aus. Im Geiste der chiger kath. Predigtslg.en. Hg. Werner Welzig. klassisch-romant. Tradition entsprachen ihre Bd. 1, Wien 1984, S. 364 f.; Bd. 2, ebd. 1987, Lieder, die als schlicht u. ursprünglich, zgl. S. 786 f. – Weitere Titel: Elfriede Moser-Rath: Pre- aber auch als exotisch u. rätselhaft empfundigtmärlein der Barockzeit. Bln. 1964, S. 321–331, den wurden, in hohem Maße dem damaligen 485–488. – Johannes Baptist Schneyer: Gesch. der literar. Zeitgeschmack. Ihre Popularität belekath. Predigt. Freiburg 1969. – Hans Pörnbacher: gen deren Neuauflagen 1835 (Halle/Lpz.) u. Vom ›einfältigen Bauern-Prediger‹ zur Festkantate. 1853 (Lpz.). 1828 heiratete T. den amerikan. In: Rott am Inn. Hg. Willi Birkmaier. Weißenhorn Gelehrten u. Palästinaforscher Eduard Ro1983, S. 156–166, 170–213. – Bayer. Bibliothek. Hg. H. Pörnbacher. Bd. 2, Mchn. 1986, S. 500–507, binson u. zog mit ihm 1830 nach Amerika. 884 f., 1122, 1296, 1340. – E. Moser-Rath: Kleine Hier veröffentlichte sie Erzählungen, ethnoSchr.en zur populären Lit. des Barock. Hg. Ulrich grafische Studien u. ein Handbuch zur GeMarzolph u. a. Gött. 1994, Register. schichte der slaw. Sprachen u. Literaturen Elfriede Moser-Rath † / Red. (1850. Dt. Übersichtliches Handbuch einer Geschichte der slavischen Sprachen und Literatur nebst einer Skizze ihrer Volks-Poesie. Lpz. 1852) – eine Pionierarbeit der slawistischen philolog. u. folklorist. Komparatistik. Nach dem Tod ih-

Vom Tanawäschel

res Ehemanns (1863) kehrte T. nach Deutschland zurück u. lebte ab 1869 in Hamburg. Weitere Werke: Psyche. Ein Taschenbuch für das Jahr 1824. Halle 1825. – Versuch einer geschichtl. Charakteristik der Volkslieder german. Nationen mit einer Übersicht der Lieder außereurop. Völkerschaften. Lpz. 1840. – Gesch. der Kolonisation in Neu-England 1607–92. Lpz. 1847. – Heloise or The Unrevealed Secret. A Tale. New York 1850. – Die Auswanderer. 2 Tle., Lpz. 1852 (E.). – Fünfzehn Jahre. Ein Zeitgemälde aus dem vorigen Jahrhundert. 2 Bde., Lpz. 1868. Literatur: Nikola Pribic´ : T. in Amerika. In: Serta slavica. In memoriam Aloisii Schmaus. Hg. Wolfgang Gesemann u. a. Mchn. 1971, S. 598–606. – Martha Kaarsberg Wallach: Frauen in der deutschamerikan. Literatur. Therese Robinson, Mathilde Anneke u. Fernande Richter. In: Amerika u. die Deutschen. Bestandsaufnahme einer 300jährigen Gesch. Hg. Frank Trommler. Opladen 1986, S. 326–336. – Gerhard Grimm u. Rado Pribic´ (Hg.): T., Tesla u. die geistige Welt der Südslawen. Mchn. 1999. – Gabriella Schubert u. Friedhilde Krause (Hg.): T. Therese Albertine Luise von JakobRobinson (1797–1870). Aus Liebe zu Goethe: Mittlerin der Balkanslawen. Weimar 2001. – Milosˇ Okuka: Dt.-serb. Kulturbeziehungen im Spiegel des Volksliedes. T.-Therese Albertine Luise v. Jakob (1797–1870). Hbg. 2003. Gabriella Schubert

Vom Tanawäschel. – Fastnachtspiel in 242 Versen, um 1430/40. Im Mittelpunkt des Spiels steht der T. (d.i. der Backenschlag), eine seit 1414 grassierende epidem. Grippe mit oft tödl. Ausgang, die in einer Gerichtsverhandlung angeklagt wird. Kläger sind fahrender Schüler, Ritter, Jungfrau, Kaufmann, Klosterfrau u. Bauer. Der T. wird verurteilt u. dem Henker übergeben. Seine Hinrichtung durch das Schwert u. seine allegor. Darstellung verarbeiten in der Fastnacht gepflegte Schwerttänze u. Beschwörungsformeln. Das Spiel wird dem Bautyp des sog. Handlungsspiels zugeordnet, ist aber noch dem Reihenspiel verbunden. Verfasst wurde es, wie die Mitüberlieferung in der einzigen Handschrift vermuten lässt, wohl um 1430/ 40 in Nürnberg. Ausgaben: Adelbert v. Keller (Hg.): Fastnachtsp.e aus dem 15. Jh. Tl. 1, Stgt. 1853. Neudr.

426 Darmst. 1965, S. 468–476. – Hedwig Heger (Hg.): SpätMA, Humanismus, Reformation. Texte u. Zeugnisse. Bd. 1, Mchn. 1975, S. 357–365. Literatur: Karl Weinhold: Der Tannewetzel u. Bürzel. In: ZfdPh 1 (1869), S. 22–24. – David BrettEvans: Von Hrotsvit bis Folz u. Gengenbach. Eine Gesch. des mittelalterl. dt. Dramas. Tl. 2, Bln. 1975, S. 147 f. – Dorothea Klein: Vom T. In: VL. Frank Fürbeth / Red.

Tancke, Tanckius, Joachim, * 9.12.1557 Perleberg/Brandenburg, † 17.11.1609 Leipzig. – Lehrer der Poesie, Arzt; Sachbuchpublizist. Seit Beginn seines Studiums (1582) lebte T. in Leipzig. Er wirkte dort zunächst als Professor der Poesie an der Universität (spätestens 1589 poeta laureatus), erwarb dann die medizinische Doktorwürde (1592), stieg zum Chirurgieprofessor (1594) auf u. amtierte als Rektor (1593, 1599). Wider die aristotelisch-galenistische Ärzteschaft trat T. als ein entschiedener Anwalt einer paracelsisch inspirierten Alchemia medica hervor. – Zum umfängl. Bekanntenkreis T.s zählten Tobias Kober, Heinrich Rantzau, Johannes Angelus Werdenhagen u. insbes. Vertreter der Respublica alchemica (u. a. J. Thölde, J. Hartmann). T. korrespondierte mit Joseph Du Chesne, Johann Kepler, Martin Ruland d.J., Gregor Horst, Jakob Zwinger u. Caspar Bauhin. T.s humanistisch-rhetorisch geschulte Verskunst scheint sich in Epicedien u. Encomien (bezeugt seit 1584) erschöpft zu haben. Seine astronomisch-astrolog. Tätigkeit fand ihren Niederschlag in »Almanachen und Schreibkalendern« bzw. »Prognostiken« u. einer Kometenschrift (Lpz. 1596). Aus seinem medizinischen Wirken erwuchs neben akadem. Gebrauchsschrifttum insbes. seine Teilhabe an der Frühüberlieferung der Secreta (1609), ein unter fremder Flagge (Andreas Tentzel, Jakob Lupius) bis ins 18. Jh. häufig gedrucktes u. ins Englische übersetztes Hauptwerk der sympathetisch-magischen Medizin. Einen Schwerpunkt besaß T.s publizistisches Wirken in der Herausgabe von Alchemica, verfasst von P. Eck, (Pseudo-)Roger Bacon, Bernardus Trevisanus, Lucas Rodargirus, Christoph von Hirschenberg, M. Bapst u.

Tanner

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anderen Autoren. Im Verein mit Beiträgen zu den Ausgaben des TrimphWagen Antimonii des Basilius Valentinus (Lpz. 1604), der Antimonii Mysteria Gemina Alexander von Suchtens (ebd. 1604) u. Übersetzungen (Ewald von Hohelande, Gallus Etschenreuter) bilden diese vornehmlich einer lateinunkundigen Leserschaft zugedachten Ausgaben ein Sachbuchcorpus von literar-, fach- u. wirkungsgeschichtl. Rang. Weitere Werke: Herausgeber: Heinrich Waren: Nosologia. Lpz. 1605. – Christoph Baldauf: Promptuarium alchemiae. Lpz. 1610. Nachdr., eingel. v. Karl R. H. Frick. Graz 1976. – Übersetzer: Ewald v. Hohelande: Bericht [...] Das die Alchimey [...] gewiß. Lpz. 1604. Ausgabe: CP III, Nr. 155–160 (Vorrede an Medizinstudenten. Briefe an J. Zwinger u. C. Bauhin). Literatur: Johannes Angelius Werdenhagen: Ko¯lyte¯s [griech.] funebris, In memoriam Joachimi Tanckii. Altenburg 1610. – Joachim Telle: Zur spätmittelalterl. u. frühneuzeitl. Alchemia medica unter bes. Berücksichtigung v. J. T. In: Humanismus u. Medizin. Hg. Rudolf Schmitz u. Gundolf Keil. Weinheim 1984, S. 139–157. – Detlef Döring: Die Beziehungen zwischen Johannes Kepler u. dem Leipziger Mathematikprof. Philipp Müller. Bln. 1986, S. 26–28. – Udo Benzenhöfer: J. T. (1557–1609). In: Salzburger Beiträge zur Paracelsusforsch. 25 (1987), S. 9–81 (mit Werkverz. u. Textproben). – Bruce T. Moran: The Alchemical World of the German Court. Occult Philosophy and Chemical Medicine in the Circle of Moritz of Hessen (1572–1632). Stgt. 1991, S. 135–141. – Florian Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos. Gesch. des Hermetismus. Mchn. 2005, S. 103–107, 139. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2052–2054 (mit Werkverz.). – CP III, Nr. 155–160. Joachim Telle

Tanner, Adam, * 14.4.1572 Innsbruck, † 25.5.1632 Unken bei Salzburg. – Jesuit, Theologe. Nach dem Schulbesuch in seiner Vaterstadt studierte T. zunächst dort, 1587–1590 in Dillingen. Am 6.10.1590 trat er zu Landsberg in den Jesuitenorden ein; die theolog. Studien beendete er in Ingolstadt (Ordination 1597). Anschließend lehrte er in München zwei Jahre Moraltheologie u. vier Jahre Kontroverstheologie. Aufgrund seiner kontroverstheolog. Disputatio theologica de Verbo Dei

scripto et non scripto (Mchn. 1599) wurde er neben Gretser u. Conrad Vetter 1601 als Hauptakteur beim Augsburger Religionsgespräch berufen, wo er durch seine scharfsinnig-kämpferische Art auffiel. Dies brachte ihm 1603 die Professur für Dogmatik in Ingolstadt ein. Über Verlauf u. »Ergebnisse« dieses Religionsgesprächs berichtete T. in der Relatio Compendiaria de initio, PROCESSU, et fine Colloquii Ratisbonensis (ebd. 1602. Dt. Mchn./ Mainz 1602). 1618 ging T. auf Wunsch des Kaisers Matthias nach Wien; zwei Jahre später berief ihn Ferdinand II. zum Kanzler der Universität Prag. Aus gesundheitl. Gründen bald nach Ingolstadt zurückgekehrt, wurde T. 1631 durch die heranrückenden Schweden vertrieben. Auf seiner Flucht wandte er sich zunächst nach Tirol; auf dem Weg nach Salzburg starb er in Unken. Obwohl an der Astronomie interessiert – er beobachtete u. a. die Sonnenflecken –, lehnte er das kopernikan. System ab. Dennoch wurde der Tannerus-Krater auf dem Mond nach ihm benannt. In T.s Münchner Zeit fallen eine Reihe kontroverstheolog. Disputationen (z.B. Disputatio de bonorum operum necessitate, utilitate et merito, contra sectarios huius temporis. Mchn. 1599. Disputatio de Sacramento Matrimonii. Ebd. 1601). Seine eigentl. Bedeutung erlangte T. durch seine Schriften zur Dogmatik, die ihm später den Ruf einbrachten, der größte Theologe der Jesuiten gewesen zu sein. 1617 erschien in Ingolstadt seine Dioptra Fidei. Das ist: Allgemeiner, Catholischer, und Gründlicher Religions Discurs. In dieser Programmschrift der Gegenreformation werden die kath. Grundansichten über die Bedeutung der Hl. Schrift, die einzig wahre christl. Kirche u. über den Papst abgehandelt. T. erweist sich hier als Thomist, wiewohl er in der Gnadenlehre u. der Lehre über den freien Willen den Thesen seines span. Ordensbruders Molina folgt. T.s Hauptwerk ist die Universa Theologia Scholastica, Speculativa, Practica, ad methodum S. Thomae (4 Bde., Ingolst. 1626/27). Es ist oft mit der Summa theologiae des Thomas von Aquin verglichen worden, zumal der Autor der Disposition seines Vorbilds folgt. Dennoch werden die Entwicklungen der Theologie u. der Dogmengeschichte berücksichtigt.

Der Tannhäuser

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Bedeutungsvoll ist diese Schrift jedoch v. a. Bielef. 1993, S. 154–175. – Gerhard Wilczek: Bewegen ihrer theolog. Argumentation gegen deutende Jesuitentheologen der GegenreformatiHexenverfolgung u. -prozesse. Für Spee war on: Gregor v. Valencia, Jakob Gretser, A. T., Georg T. der einzige Theologe seines Ordens, auf Stengel [...]. Ingolst. 1994. – Johannes Dillinger: Friedrich Spee u. A. T. [...]. In: Spee-Jb. 7 (2000), den er sich berufen konnte. Dabei wird die S. 31–58. – Hansjörg Rabanser: Die HexenverfolFrage, ob es überhaupt Hexen gebe, wie auch gungen in Tirol. [...]. Diss. Innsbr. 2005. bei seinem Ordensbruder Paul Laymann nicht Franz Günter Sieveke entschieden. Vielmehr wird auf das Gleichnis vom »Unkraut im Weizen« verwiesen u. die Der Tannhäuser. – Lied-, Leich- und im Evangelium gegebene Handlungsanwei- Sangspruchdichter des 13. Jh. sung den Befürwortern der Hexenverfolgung empfohlen – dies v. a. wegen der nicht ein- Urkundlich ist ein Dichter mit dem Namen deutigen Beweisbarkeit der Schuld der An- ›Tannhäuser‹ nicht bezeugt. Die Miniatur in geklagten. Jedenfalls galt für ihn das Ge- der Großen Heidelberger oder Manesseschen Lieständnis unter Folter nicht als Begründung derhandschrift (C) zeigt den Dichter in für eine Verurteilung. Stark geprägt wurde T. Deutschordenstracht, flankiert von Blattrandurch das Erlebnis der Hexenprozesse wäh- ken. Rückschlüsse auf das Leben des T.s lässt rend seiner Studienzeit in Dillingen u. später die Miniatur nicht zu. Lediglich das unter in der bayerischen Hauptstadt. Es erklärt dem Namen überlieferte Œuvre bietet einige, vermutlich, dass T. ganz im Gegensatz zur freilich recht vage biogr. u. chronolog. AnMeinung seines Lehrers Gretser zu einem haltspunkte. Wahrscheinlich ist, dass T. Befrühen »Kämpfer« gegen die Hexenverfol- rufsdichter u. damit abhängig von Gönnern gung wurde u. dies auch in fundierter Weise war. Ein Lobgesang auf Herzog Friedrich II. theoretisierte. Den Richtern in diesen Pro- von Österreich (Leich I) weist auf das Jahr zessen sprach er z.T. auch die Integrität für 1245, eine Klage über den Tod des Herzogs ein solches Amt ab. Zu berücksichtigen ist (Spruch XIV) lässt sich auf die Zeit nach desauch, dass es im Jesuitenorden neben den sen Tod 1246 datieren. Demnach ist anzuBefürwortern eine nicht geringe Anzahl von nehmen, dass T. einige Zeit am Wiener Hof wirkte (vgl. auch Walther von der Vogelweide Gegnern der Verfolgung gab. u. Neidhart) u. nach dem Tod des Gönners Ausgaben: Münchener DigitalisierungsZen(wieder?) das Leben eines Fahrenden führte. trum/Digitale Bibliothek. Leich VI lässt sich, aufgrund der dort geLiteratur: Bibliografie: Backer/Sommervogel 7, nannten toten u. lebenden Herren u. Gönner Sp. 1843–1855. – Weitere Titel: Ludwig Rapp: Die auf einen Zeitraum zwischen 1261 u. 1266 Hexenprozesse u. ihre Gegner in Tirol. Innsbr. 2 1874. Brixen 1891, S. 47–71. – Bernhard Duhr: datieren. Ob einer der hier genannten MäzeDie Stellung der Jesuiten in dt. Hexenprozessen. ne (u. wenn ja, welcher?) tatsächlich ein FörKöln 1900, S. 45–53 – Ders.: Gesch. der Jesuiten derer T.s war, lässt sich nicht mit Sicherheit [...]. Bd. II,1 u. 2, ebd. 1913, S. 380 ff., 399 ff. u. ö. – eruieren. Ebenfalls ungewiss ist, ob T.s Lied Anton Dürrwächter: A. T. [...]. In: FS Herrmann XIII (›Kreuzlied‹) im Zusammenhang mit Grauert. Freib. i. Br. 1910, S. 354–376. – Wilhelm dem Kreuzzug Friedrichs II. von 1227–1229 Lurz: A. T. u. die Gnadenstreitigkeiten des 17. Jh. verfasst wurde, da es ebenso auf eine andere Breslau 1932. – Hans-Peter Kneubühler: Die Pilgerfahrt anspielen oder als Variation eines Überwindung v. Hexenwahn u. Hexenprozeß. bekannten Liedtyps ohne biogr. Hintergrund Dissenhofen 1977. – Wolfgang Behringer: Hexenentstanden sein könnte. verfolgung in Bayern. Mchn. 1987. – Ders.: ›Vom Unter dem Namen T. überliefert HandUnkraut unter dem Weizen‹. Die Stellung der Kirschrift C sechs Leichs, neun Spruch- u. Liedchen zum Hexenproblem. In: Hexenwelten. Hg. töne sowie eine Rätselsammlung (insg. 37 Richard van Dülmen. Ffm. 1987, S. 60–93. – Ders.: Mit dem Feuer vom Leben zum Tod. Mchn. 1988. – Strophen), deren ›Echtheit‹ von der ForDers.: Von A. T. zu Friedrich Spee [...]. In: Fried- schung vorausgesetzt u. im Gegensatz zur rich Spee (1591–1635). Düsseldorfer Symposion übrigen Überlieferung nicht bezweifelt wurzum 400. Geb. [...]. Hg. Theo G. M. van Oorschot. de. Kontrovers diskutiert wurden v. a. die

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›Echtheit‹ des vierstrophigen ›Bußlieds‹, das die Jenaer Liederhandschrift (J) mit Melodie überliefert, u. der sog. Hofzucht, die in zwei Papierhandschriften erhalten ist. Heute gelten sowohl das ›Bußlied‹ als auch die ›Hofzucht‹ als Werke T.s (Kischkel). Die in T.Tönen überlieferten Meisterlieder des 15. u. 16. Jh. werden gemeinhin als ›unecht‹ klassifiziert. Dazu zählt auch eine Variation von Lied IX (erw. um acht Strophen u. ohne Refrain), das die Kolmarer Liederhandschrift mit Melodie überliefert. T.s Œuvre, wie es in Handschrift C begegnet, ist äußerst vielseitig u. zeugt von einem spielerisch-variierenden Umgang mit der hochhöf. Lied- u. Leichtradition. Leichs I-V konzipiert T. als Tanzleichs. Ihnen gemeinsam ist ein jeweils leicht variierter Schlussteil, der zumeist mit der Aufforderung zum Tanz einsetzt (fehlt in Leich II u. VI) u. mit dem Hinweis auf den zerbrochenen Bogen bzw. die gerissene Saite der Fidel beendet wird (Leich III, IV u. V). Hinzu kommen die typische Reihung von Mädchennamen u. der Ruf heiâ hei (vgl. Ulrich von Winterstetten). Da Leich VI nur unvollständig überliefert ist, kann nicht mit letzter Sicherheit entschieden werden, ob auch hier ein abschließender Tanzteil stehen sollte. In ihren themat. Haupteilen zeigen die Leichs eine z.T. experimentelle Vielfalt. In Leich I verbindet T. den Lobpreis auf Herzog Friedrich II. mit der Form des Tanzleichs u. stellt über die Panegyrikoi Bezüge zum Minnesang her, indem er Friedrich zur Verkörperung des idealen höf. Freudenbringers stilisiert. Leich VI setzt mit einer Zeitklage ein, an die sich ein Gönnerkatalog anschließt. In Leich II u. III wird von dem Sänger-Ich eine pastourellenhafte Situation entworfen (Begegnung im Freien, Liebesvereinigung) u. mit subtil eingesetzten Gattungssignalen aus dem hochhöf. Minnesang (die Anrede ›Vrouwe‹, Dienstthematik, vröude) konfrontiert. Leich III zeichnet sich darüber hinaus durch die Häufung altfrz. Begriffe aus, die an die höf. Sangestradition anknüpfen u. sie durch ihren exzessiven Einsatz zgl. konterkarieren. Eine Spielform des Frauenpreises bietet Leich IV, in dem die Idealität der Dame im Vergleich v. a. mit Frauengestalten aus der höf. Romanliteratur

Der Tannhäuser

herausgestellt wird (z.B. Dido, Isolde). Diese Überbietung dient nicht nur dem Lob der Dame, sondern exponiert auch die Literarizität des Sangs u. dessen Exzeptionalität. Von den sechs Minneliedern zeigen insbes. die drei Lieder VIII, IX u. X (jeweils dreistrophig, IX u. X zusätzlich mit Refrain) eine originelle Variation des aus der Minneklage bekannten Dienstethos: Während das SängerIch in der typischen Rolle des Werbenden erscheint, wird die Abweisung durch die Dame mittels einer Reihung von Adynata ins Bild gesetzt, die auf das geografische u. insbes. literar. Wissen der Rezipienten rekurrieren (z.B. Paris-Urteil, Gral). Diese unerfüllbaren Forderungen der Dame sind nicht bloß als Variation der typischen Zurückweisung zu sehen, sondern sie dienen gleichermaßen dazu, die Konstellationen des traditionellen hohen Sangs der Reflexion zu übereignen, indem sie das typische Minneparadox in den Adynata offenlegen u. durch diese Übersteigerung parodieren. Lied XI (vgl. auch VII) setzt mit der Anrede des Sängers an die Rezipienten ein, denen er durch das folgende Lied bzw. den Tanz Freude bereiten wolle. In XI folgt ein Schönheitspreis der am Tanz teilnehmenden Dame, der mit den traditionellen höf. Sangeskonventionen bricht: Die Tänzerin, vom Ich u. a. als somertöckel apostrophiert, wird vom Sänger mit erot. Wendungen umworben u. erscheint damit schon insofern als eine Art ›Gegenentwurf‹ zur unnahbaren Dame des hohen Sangs, als sie durch die vom Sänger vorgebrachten ›Koseworte‹ entgegen der Tradition nahbar, ja ›greifbar‹ scheint. In der Tradition der Spruchdichtung stehen XII, XIII, XIV u. XVI. Thematisiert wird v. a. die Klage des Fahrenden über die Unannehmlichkeiten u. Nöte seiner Existenz. Das sog. Kreuz- oder Pilgerlied (XIII) erweitert u. variiert diesen Klagegestus: Geschildert werden die Widrigkeiten einer Seefahrt, deren z.T. konkrete Detailrealismen (Stürme, verdorbene Nahrungsmittel, Gestank auf dem Schiff) wohl auch eine allegor. Deutung (das Menschenleben als Reise) zulassen. Neben der Verwendung von T.-Tönen durch die Meistersinger gilt die Ballade vom T. als wesentl. Rezeptionszeugnis. Der Ent-

Tannstetter

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stehungszeitraum der Ballade ist in der For- Strohschneider: Tanzen u. Singen. Leichs v. Ulrich schung umstritten; jüngst wurde ein Zeit- v. Winterstetten, Heinrich v. Sax sowie dem T. u. raum zwischen 1330 u. 1450 postuliert (Rü- die Frage nach dem rituellen Status des Minnether). Auch ihr Verhältnis zu Sagen ähnl. In- sangs. In: Mittelalterl. Lyrik. Probleme der Poetik. Hg. T. Cramer u. a. Bln. 1999, S. 197–231. – halts wird z.T. kontrovers diskutiert. ÜberChristina Kreibich: Der mhd. Minneleich. Würzb. liefert ist die Ballade in vier Fassungen. Sie 2000, S. 103–176. – Hans Schwarz: Das Diminutiv berichtet von einem Mann mit dem Namen mhd. ›meinel‹ beim T. u. das Grundwort ›mein‹ im T., der zu Frau Venus in einen Berg zieht, im Faszschwank. In: ZfdPh 119 (2000), S. 397–409. – Anschluss an diesen Besuch beim Papst die Helmut Tervooren: Zu T.s II. Leich. In: Ders.: Beichte ablegt u. um Gnade bittet, aber Schoeniu wort mit süezeme sange. Philolog. letztlich zu Venus zurückkehrt. Die Sage um Schr.en. Hg. Susanne Fritsch u. Johannes Spicker. T. u. Venus wurde u. a. von L. Tieck in seiner Bln. 2000, S. 187–203. – Hanno Rüther: Der MyMärchenerzählung Der getreue Eckhart oder der thos v. den Minnesängern. Die Entstehung der Moringer-, T.- u. Bremberger-Ballade. Köln u. a. Tannhäuser (1799) aufgegriffen. Bekannt 2007. – Gert Hübner: Minnesang im 13. Jh. Tüb. wurden der Name T. u. die mit ihm verbun- 2008, S. 99–115. – Karin Tebben: T. Biogr. einer dene Legende freilich nicht zuletzt durch die Legende. Gött. 2010. Rachel Raumann Bearbeitung R. Wagners, der in seiner Oper Elemente der T.-Ballade mit der Thematik des Sängerwettstreits (Wartburg) verband u. Tannstetter, Georg, lat.: Collimitius, dem T. damit zu einer beträchtl. Popularität * Mitte April 1482 Rain/Lech, † 26.3.1535 verhalf. Innsbruck. – Astronom u. Mediziner. Ausgaben: Der Dichter T. Leben – Gedichte – Sage. Hg. Johannes Siebert. Halle/Saale 1934. Nachdr. Hildesh./New York 1980. – T. Die lyr. Gedichte der Hss. C u. J. Hg. Helmut Lomnitzer u. Ulrich Müller. Göpp. 1973. – Burghart Wachinger (Hg.): Lyrik des späten MA. Ffm. 2006, S. 172–217, Komm. S. 717–737. – Die Dichtungen des T.s. Komm. Kieler Online-Ed. Hg. Ralf-Henning Steinmetz. Kiel 2006 ff. Literatur: Christoph Petzsch: T.s IX in C u. im cgm 4997. Adynatonkat. u. Vortragsform. In: Euph. 75 (1981), S. 303–324. – Jürgen Kühnel: Zu einer Neuausg. des T.s. In: ZfdPh 104, Sonderh. (1985), S. 80–102. – Claudia Händl: Rollen u. pragmat. Einbindung. Göpp. 1987, S. 424–449. – Hedda Ragotzky: Minnethematik, Herrscherlob u. höf. Maitanz: Zum I. Leich des T.s. In: Ergebnisse der XXI. Jahrestagung des Arbeitskreises ›Dt. Lit. des MA.‹. Greifsw. 1989, S. 101–125. – Joachim Bumke: T.s Hofzucht. In: Architectura poetica. FS Johannes Rathofer. Hg. Ulrich Ernst u. Bernhard Sowinski. Köln u. a. 1990, S. 189–205. – Reinhard Bleck: T.s Aufbruch zum Kreuzzug. In: GRM N.F. 43 (1993), S. 257–266. – Gabriele Paule: Der T. Organisationsprinzipien der Werküberlieferung in der Manesseschen Hs. Stgt. 1994. – Burghart Wachinger: D. T. In: VL. – Ders.: Vom T. zur T.-Ballade. In: ZfdA 125 (1996), S. 125–141. – Thomas Cramer: ›Waz hilfet âne sinne kunst?‹ Lyrik im 13. Jh. Bln. 1998, bes. S. 181 f. – Heinz Kischkel: T.s heiml. Trauer. Über die Bedingungen v. Rationalität u. Subjektivität im MA. Tüb. 1998. – Peter

T. studierte seit 1497 in Ingolstadt (mag. art. 1501) u. hielt seit 1504 an der Wiener Universität mathematisch-astrolog. Vorlesungen. 1512/13 war er Rektor der Univ. Wien; 1513 wurde er zum Dr. med. promoviert. Anschließend war er viermal Dekan der Medizinischen Fakultät. 1504–1526 gab er u. d. T. Judicium Astronomicum Viennensis jährlich lat. u. dt. Prognostiken u. Praktiken heraus. 1530 berief ihn König Ferdinand zum Leibarzt in Innsbruck u. erhob ihn 1531 in den rittermäßigen Adelsstand. Bereits 1523 hatte T. Ferdinand den Libellus consolatorius gegen die von Johannes Stöffler für 1524 prophezeite Sintflut gewidmet (dt. Wien 1523). Neben einem Florilegium von astrologisch orientierten Abschnitten aus Varro, Columella u. Plinius gab T. auch Sterntafeln von Peuerbach u. Regiomontanus heraus u. verschaffte sich einen Ruf als Kartograf (Karte Ungarns 1528). Sein astromedizinisches Artificium de applicatione Astrologiae ad Medicinam beruht auf einer Vorlesungsschrift Michael Herrs von 1526. Die Ausgabe des Artificium besorgte Otto Brunfels u. ließ sie 1531 in Straßburg drucken (Hg. u. komm. v. Rosemarie Eichinger. Münster 2006). Weitere Werke: De Romani Calendarii correctione Consilium (zus. mit Andreas Stiborius).

Tappe

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Tappe, Tappius, Eberhard, * um 1500 Lünen, † 1541/42 Köln (?). – Humanist, Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Herausgeber u. Sprichwörtersammler.

Wien [um 1515]. – Regiment für den lauff der Pestilentz. [Wien] 1521.

Franz Stuhlhofer: G. T. Collimitius. Diss. Wien 1979. – Ders. [als Graf-Stuhlhofer]: Humanismus zwischen Hof u. Univ. G. T. (Collimitius) u. sein wiss. Umfeld im Wien des frühen 16. Jh. Wien 1996. – Christa Binder: G. T. (Collimitius) (1482–1542). In: Rechenbücher u. mathemat. Texte der frühen Neuzeit. Hg. Rainer Gebhardt. Annaberg-Buchholz 1999, S. 29–36. – Franz Daxecker: T.s Grab. Der Astronom u. Arzt G. T., genannt Collimitius. In: Tiroler Heimatbl. 75 (2000), S. 188–193. – Rosemarie Eichinger: G. T.s ›Artificium de applicatione astrologiae ad medicinam‹. Eine iatromathemat. Vorlesung u. wiss. Rarität. In: Mensch – Wiss. – Magie. Mitt.en der Österr. Gesellsch. für Wissenschaftsgesch. 22 (2004), S. 3–19. Wolf-Dieter Müller-Jahncke

Tanzlied von Kölbigk. – Lateinisches Lied, um 1020 (?). Das nur in lat. Sprache erhaltene, zwei Langzeilen u. einen Refrainvers umfassende Lied vom Raub der Merswind durch Bovo ist die Übersetzung einer niederdt. Vorlage. Überliefert ist es innerhalb des um 1020 verfassten, in zahlreichen Handschriften des 12. u. 13. Jh. verbreiteten Mirakels von den Tänzern von Kölbigk: Am Weihnachtsfest 1018 versammelten sich vor der Kirche in Kölbigk junge Leute, um die Tochter des Priesters zu rauben. Durch ihren wilden Tanz, zu dem sie das genannte Lied sangen, störten sie die Messe. Vom Priester verflucht, mussten sie ein Jahr weitertanzen. Das Lied ist das erste europ. Zeugnis einer volkssprachigen Tanzstrophe u. eines endgereimten Langzeilenpaares. Die Meinungen über Ursprung (dt. oder frz.), Alter u. Gattung sind geteilt. Ausgaben: Ernst Erich Metzner: Zur frühesten Gesch. der europ. Balladendichtung. Der Tanz in Kölbigk. Ffm. 1972, S. 43 (Lied), S. 38 f., 43–46, 47 f. (Mirakel). Literatur: Metzner, a. a. O. (mit weiteren Literaturhinweisen). – Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge [...] (= Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 1, Tl. 1). Tüb. 21995, S. 71 f. – Fidel Rädle: T. v. K. In: VL (Lit.). Elisabeth Wunderle / Red.

In Köln, wo T. (»Ever. Lunen«) ab Juni 1518 studiert hatte – in die Wittenberger Matrikel wurde er am 8.6.1525 als »Eberhardus Dape de Lunar« eingetragen –, erschien die Mehrzahl der von ihm besorgten Werke: 1539 eine unautorisierte Neuausgabe von Vesals anatomischen Tabulae sex, 1540 im Auftrag des Verlegers Johann Gymnich die (einzige Kölner) Ausgabe von Erasmus’ Chiliades adagiorum mit einem systemat. »index tertius« T.s (vgl. VD 16 E 1944). Als Kölner Bürger bezeichnete sich T. in seiner Ausgabe des mittelalterl. Jagdtraktats Waidwerck und Federspiel (Straßb. 1542. Widmungsvorrede 24.5.1541. Nachdr. Stgt. um 1887). Um den Erscheinungszeitpunkt seiner nicht illustrierten Ausgabe von Albertis De re aedificatoria (Straßb. 1541. Internet-Ed. in: VD 16) starb T. Ein Kölner Kollege, Konrad Brunssenius, beendete seine erweiterte Neufassung der Epitome adagiorum post novissimam D. Erasmi [...] recognitionem (Köln 1542. Nachdrucke bis 1759). T.s Hand ist am stärksten erkennbar in seiner eigenen Sprichwörtersammlung Germanicorum adagiorum cum latinis ac graecis collatorum, centuriae septem (Straßb. 1539. 21545). Sie bietet etwa 1300 oberdt., westfäl., kölnische u. holländ. Äquivalente zu 700 klass. Adagien. Von ausgesprochener Vorliebe für das Hochdeutsche, bevorzugt T. Regionalwendungen nur, wo sie ihm treffender oder prägnanter erscheinen. Er präsentiert die volkssprachl. Wendungen im lat. Kurzkommentar. Namentlich das westfäl. Sprachgut zog die Aufmerksamkeit zeitgenöss. Sammler auf sich. So widmete Sebastian Franck T.s Centuriae einen längeren Abschnitt im zweiten Teil seiner Sprichwörter (1541). T. wirkte nachweislich auch auf Barockautoren, darunter Harsdörffer u. Schottelius. Ausgaben: Germanicorum adagiorum [...] centuriae septem. Straßb. 1539. Nachdr. Hildesh. 2008. – Dass.: Internet-Ed. in: SUB Göttingen. – Adagiorum D. Erasmi Roterodami epitome. Oxford 1666. Internet-Ed. in: Early English books online.

Tarnow Literatur: Ludwig Fränkel: E. T. In: ADB. – . Karl Schulte-Kemminghausen: E. T.s Slg. westfal. . . u. holland. Sprichworter. Ein Beitr. zur Gesch. des westdt. Humanismus. In: Niederdt. Studien. FS Conrad Borchling. Neumünster o. J. (1932), S. 91–112. – Ders.: E. T. Ein Beitr. zur Gesch. des westdt. Humanismus. In: FS Philipp Strauch. Hg. Georg Baesecke u. a. Halle/S. 1932, S. 110–122. – Karl Wülfrath: Bibliotheca Marchica. Tl. 1, Münster 1936, S. 32–34, 387 f. – Miriam Usher Chrisman: Bibliography of Strasbourg imprints, 1480–1599. New Haven/London 1982, S. 138, 267. – Mathieu Knops: Der Humanist E. T. um 1500 bis um 1541. Materialien zu einer Bio-Bibliogr. Alphen aan den Rijn 1985. – François Joseph Fuchs: E. T. In: NDBA, Lfg. 36 (2000), S. 3834. – Andreas Bässler: Sprichwortbild u. Sprichwortschwank [...] um 1500. Bln./New York 2003, S. 174–76. Mathieu Knops / Red.

Tarnow, Fanny, eigentl.: Franziska Christiane Johanna Friederike T., * 17.12. 1779 Güstrow/Mecklenburg, † 4.7.1862 Dessau. – Autorin von Romanen u. Erzählungen, Übersetzerin. T. wuchs als älteste Tochter des Stadtsekretärs Johann David Tarnow in wohlhabenden Kreisen auf, geriet aber nach dem Verlust des väterl. Vermögens u. später durch ihre unfreiwillige Ehelosigkeit in finanziell bedrängte Verhältnisse. Sie war in verschiedenen Familien als Erzieherin tätig, etablierte sich jedoch darüber hinaus als Schriftstellerin. 1794 erschienen ihre ersten kleinen Lieder u. Aufsätze anonym in der »Mecklenburgischen Monatsschrift«; 1805 publizierte sie im »Journal für deutsche Frauen« die Erzählung Allwina von Rosen. Im themat. Zentrum ihres Erzählwerks stehen die gesellschaftl. Rollenentwürfe ihrer – meist an den äußeren Zwängen scheiternden – Protagonistinnen, so in der stark autobiografisch geprägten u. angeblich an Ernst Moritz Arndt gerichteten Natalie. Ein Beitrag zur Geschichte des weiblichen Herzens (Bln. 1811), in je anderer Weise aber auch im Schauerroman Thorilde von Adlerstein oder Frauenherz und Frauenglück (Lpz. 1816), der den radikalen Abstieg der Titelheldin bis zum Wahnsinn nachzeichnet, oder in der zur Märtyrertragödie stilisierten Heloise (Lpz. 1826). Neben ihrer schriftstellerischen Tä-

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tigkeit übersetzte T. engl. u. frz. Literatur, u. a. Balzac (Eugenie. 1835) oder Lady Sidney Morgan; sie gehört zu den ersten Übersetzerinnen George Sands (Indiana. 1836). Die wachsende Anerkennung ihrer Werke verschaffte T. Kontakte zu prominenten Vertretern der literar. Öffentlichkeit, so u. a. zu Hitzig, Rochlitz, Varnhagen u. Fouqué. Während eines anderthalbjährigen Aufenthalts in St. Petersburg übernahm sie die »Korrespondenz-Nachrichten aus Petersburg« für Cottas »Morgenblatt für gebildete Stände« in 31 Fortsetzungen. Dort lernte sie F. M. Klinger kennen, der in ihrem späten Roman Zwei Jahre in Petersburg. Ein Roman aus den Papieren eines alten Diplomaten (Lpz. 1833) als Figur vorkommt. 1830 veranlassten T.s Freunde eine Gesamtausgabe ihrer Schriften, welche die zu diesem Zeitpunkt schwer erkrankte Autorin finanziell absicherte. Bis in die zweite Jahrhunderthälfte genoss T. einen beachtl. Ruf; v. a. ihre genreprägende Gallerie weiblicher Nationalbilder (Lpz. 1838/ 39) blieb bis ins 20. Jh. erfolgreich. Ihre Nichte, die Schriftstellerin Amely Bölte, widmete T. 1865 eine umfassende Biografie, die Auszüge aus ihren Tagebüchern u. ihrem Briefwechsel enthält. Aus literaturwissenschaftl. Sicht jedoch wurde T. erst im ausgehenden 20. Jh., im Rahmen der Gender-Forschung sowie vereinzelt als Reiseschriftstellerin, gewürdigt. Weitere Werke: Mädchenherz u. Mädchenglück. Erzählungen für Gebildete. Lpz. 1817. – Kleine Erzählungen. Bln. 1817. – Briefe auf einer Reise nach Petersburg an Freunde geschrieben. Bln. 1819. – Erzählungen. Lpz. 1820. – Lilien. 4 Bde., Lpz. 1821–23 (E.en). – Lebensbilder. Lpz. 1824. – Malwina, oder die Ruinen v. Inismore. Lpz. 1824. – Die Prophetin v. Caschimir oder Glaubenskraft u. Liebesglut. Lpz. 1826. – Reseda. Lpz. 1827. – Erzählungen u. Novellen, fremd u. eigen. 2 Bde., Lpz. 1833 u. 1835. – Denkwürdigkeiten einer Aristokratin. Aus den hinterlassenen Papieren der Frau Marquisin v. Créquy. Lpz. 1836/37. – Spiegelbilder. Lpz. 1837. – Kaiserin u. Sklavin. Ein histor. Roman aus dem 3. Jh. der christl. Kirche. Lpz. 1840. – Heinrich v. England u. seine Söhne. Eine alte Sage, neu erzählt. Lpz. 1842. Ausgaben: Ausw. aus F. T.s Schriften. 15 Bde., Lpz. 1830. Mchn. 1991 (Mikrofiche-Ed.). – Ges. Erzählungen. 4 Bde., Lpz. 1840–42.

Tatian

433 Literatur: Amely Bölte: F. T. Bln. 1865. – Max Mendheim: F. T. In: ADB. – Eva Kammler: Zwischen Professionalisierung u. Dilettantismus. Romane u. ihre Autorinnen um 1800. Opladen 1992, S. 104–108. – Helga Gallas u. Anita Runge: Romane u. Erzählungen dt. Schriftstellerinnen um 1800. Eine Bibliogr. Stgt./Weimar 1993, S. 156. – Birgit Wägenbaur: Die Pathologie der Liebe. Literar. Weiblichkeitsentwürfe um 1800. Bln. 1996, S. 94–193. – Monika Stranˇáková: ›Es ist hier vieles ganz anders, als man bei uns glaubt ...‹. F. T.s Reise nach St. Petersburg. In: Wege in die Moderne. Reiselit. v. Schriftstellerinnen u. Schriftstellern des Vormärz. Bielef. 2009, S. 229–242. Christiane Hansen

Taschau, Hannelies, * 26.4.1937 Hamburg. – Lyrikerin u. Erzählerin.

aller sozialer Schichten u. Außenseiterfiguren auftauchen. Weitere Werke: Verworrene Route. Stierstadt 1961 (L.). – Strip u. a. Erzählungen. Mchn. 1974. – Luft zum Atmen. Karlsr. 1978 (L.). – Doppelleben. Köln 1979 (L.). – Gefährdung der Leidenschaft. Ffm. 1984 (L.). – Nahe Ziele. Darmst. 1985 (E.). – Wunder entgehen. Gedichte 1957–84. Ffm. 1986. – Weg mit dem Meer. Ebd. 1990 (L.). – Dritte Verführung. Zürich 1992 (R.). – Klarträumer. Lüneb. 1998 (L.). – Lässt Jupiter sich berühren. Warmbronn 2002 (L.). – Männerkind. Mchn. 2006 (L.). Literatur: Gabriele Dietze: H. T. In: Neue Lit. der Frauen. Mchn. 1980, S. 98–102. – Liz Wieskerstrauch: H. T. In: Schreiben zwischen Unbehagen u. Aufklärung. Weinheim 1988, S. 85–97. – Synnöve Clason: Verweigerung u. Abnabelung. Zur Gestaltung weibl. Emanzipationsprozesse in der ›neuen‹ Frauenlit. In: Der andere Blick 1988, S. 11–59. – Bernd Goldmann: Zu H. T. u. Guntram Vesper. In: Bayer. Akademie der Schönen Künste. Jb. 15 (2001), S. 301–305. – Heinrich Vormweg: H. T. In: LGL. Klara Obermüller / Luisa Wallenwein

Von T.s erstem Roman (Die Taube auf dem Dach. Hbg. 1967) bis zu den jüngsten Erzählungen u. Gedichten kreist ihr Schaffen um die Problematik der Selbsterprobung, der Ich-Findung u. um das Verhältnis von subjektiver Wahrnehmung u. gesellschaftlichAlthochdeutscher Tatian. – Lateinischpolit. Wirklichkeit. Besonders in Prosaweralthochdeutsche, gegen 830 im Kloster ken gelang es ihr, individuellen Erfahrungen Fulda unter Hrabanus Maurus entstanzeitkrit. Relevanz zu verleihen. So schildert dene Evangelienharmonie. der Roman Landfriede (Köln 1978) die beengende Routine eines akribisch geregelten u. Der ahd. T. beruht auf der verlorenen Lebenvorbestimmten Lebens in der Provinz. Erfin- Jesu-Geschichte, die der Syrer Tatian um 170 der des Glücks (Köln 1981) u. Mein Körper warnt aus den vier Evangelien (»Diatesseron«) u. mich vor jedem Wort (Warmbronn 1984) kreisen apokryphem Material in syr. oder griech. um die Erfahrungen der RAF im »Deutschen Sprache zusammenstellte. Eine nicht erhalHerbst«. Bedeutend ist in diesen Büchern tene altlat. Version dieses in altchristl. Zeit nicht der äußere Handlungsablauf, sondern vielfach übersetzten Werks wurde Mitte des ein ähnlich wie in ihrer Lyrik aus Wahrneh- 6. Jh. durch Bischof Victor von Capua auf den mungsfragmenten akribisch gewirktes Netz Text der Vulgata umgestellt. Die älteste, noch erfahrener Wirklichkeit, das sich durch Be- aus dem 6. Jh. stammende Handschrift dieses wusstseinsströme, Assoziationen u. Kontraste Textes soll vom hl. Bonifatius aus Italien nach auszeichnet. T. beschrieb Entwicklungspro- Fulda gebracht worden sein u. liegt noch zesse von Frauen, die sie über den Ausbruch heute dort (Hess. LB Fulda Cod. Bonifat. 1). aus einer als repressiv erlebten Gesellschaft Nach den Forschungen Rathofers u. Massers zu einer autonomen Existenz führt. So steht heute fest, dass der Text dieser Handschildert ihr Roman Sommerhaus (Zürich schrift als ausschließl. Vorlage des lat.-ahd. T. 1995) die Selbstfindung der Protagonistin in dessen einzig erhaltener Handschrift G Vera nach der Trennung von ihrem Ehemann anzusehen ist u. dass diese als das reinschriftl. in der weitestgehenden Isolation des immer Original des Werks gilt. G ist nach paläogranoch gemeinsam genutzten Sommerhauses. fischen u. sprachl. Kriterien auf das zweite Ein weiteres Thema ihrer Prosaarbeiten u. Viertel des 9. Jh. datiert u. nach Fulda lokaGedichte sind die Konflikte, Ängste u. Hoff- lisiert; wohl schon im 10. Jh. gelangte der nungen der 68er-Generation, wobei Vertreter Kodex nach St. Gallen (Stiftsbibl. cod. 56).

Tatian

Der Bekanntheitsgrad des ahd. T. war im 9. u. 10. Jh. – vielleicht aufgrund gezielter Verbreitung durch Hrabanus Maurus – offenbar beträchtlich. Neben G sind bis zu fünf weitere Handschriften mehr oder weniger deutlich bezeugt. Zwei sind gänzlich verloren, von zwei weiteren gibt es allenfalls dürftige Exzerpte aus dem frühen 10. bzw. aus der Mitte des 16. Jh. Eine seit dem letzten Drittel des 17. Jh. ebenfalls verschollene Handschrift (Sigle B), die dem niederländ. Gelehrten Bonaventura Vulcanius († 1615) gehört hat, blieb in einer humanistischen Abschrift erhalten (Oxford, Bibliotheca Bodleiana, Ms. Junius 13). Sie stand in einem nahen Verwandtschaftsverhältnis zu G, über dessen genauere Bestimmung die Forschungsmeinungen auseinander gehen. Bei der Entscheidung dieser Frage ging es u. a. darum, ob in G das Original oder eine Abschrift des ahd. T. zu sehen ist, des Weiteren auch darum, ob das Werk selbst mit Fulda u. Hrabanus Maurus in Verbindung zu setzen ist. Kodikologisch präsentiert sich der ahd. T. in G als streng bilingualer Text. In zweispaltiger Anordnung bietet jede Seite links den lat., rechts den ahd. Wortlaut in peinlich genau durchgeführter Zeilengleichheit u. Gleichheit der Wortfolge, wo es nur irgend angeht. Absatzgliederung u. Auszeichnungstechnik des lat. Textes mit Initialen zeigen dabei, dass der dt. dem lat. Text funktional untergeordnet ist. Mit ihrer synopt. Präzision repräsentiert die Handschrift in Perfektion einen Überlieferungstyp, wie er für die gesamte geistl. Übersetzungsprosa der ahd. Periode in unterschiedl. Varianten verbindlich war. Die Vorstellung einer bewusst angestrebten Etablierung des Deutschen als einer dem Lateinischen äquivalenten theolog. Fachsprache ist hier wie bei verwandten Formen (Interlinearübersetzung, Glossierung) fernzuhalten, v. a. weil es eine autonome ahd. Übersetzungsprosa (ohne Mitüberlieferung der lat. Originale) praktisch nicht gibt. Für den Lateinkundigen diente das Original zur Kontrolle der Übersetzung, für den des Lateinischen wenig oder gar nicht Kundigen diente die Übersetzung dem elementaren oder besseren Verständnis des Originals.

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Die große sprachgeschichtl. Bedeutung des ahd. T. beruht quantitativ darauf, dass hier zum ersten Mal ein großes sprachgeschichtlich einheitliches dt. Textkorpus dokumentiert ist; sie beruht qualitativ auf dem Rang des ahd. T. als Übersetzungswerk u. auf den Einsichten in kultur- u. sprachhistor. Entwicklungsabläufe, welche die Analyse seines Wortschatzes ermöglicht. In der Übersetzungstechnik zeigt der ahd. T. ein zwischen sklav. Bindung an die Vorlage u. gemäßigter Übersetzungsfreiheit schwankendes Niveau, das den Schluss auf mehrere Übersetzer mit unterschiedl. Fähigkeiten u. Zielvorstellungen innerhalb einer Schulgemeinschaft zulässt. Auf dem Gebiet des religiösen Übersetzungswortschatzes in den Bereichen von Laienfrömmigkeit u. klerikal theolog. Terminologie gibt es eine höchst diffizile Forschungsdiskussion über regionale Überschneidungen u. deren histor. Ableitung aus unterschiedl. Schüben der Christianisierung german. Stämme. Über den Verwendungszweck des Werks lässt sich nur spekulieren. Im Schulgebrauch könnte es als propädeut. Vorstufe für das Studium der Einzelevangelien gedient haben. Besonders merkwürdig ist im 10. Jh. die Aufnahme einiger ahd.-lat. T.-Exzerpte in ein altfrz.-ahd. Gesprächsbüchlein, die hier also sekundär funktionalisiert sind für den Zweck fremdsprachlicher, frz.-dt. Verständigung. – Auf den Heliand hatte der T. unmittelbare Quellenwirkung im Sinne einer Steuerung der Stoffauswahl. Wie weit dabei die monobzw. die bilinguale Version maßgeblich war, bleibt offen. Eine entsprechende Quellenwirkung gilt für Otfrids Evangelienbuch nicht, wenn auch davon auszugehen sein wird, dass Otfrid den (ahd.?) T. kannte. Ausgaben: T. Lat. u. altdt. mit ausführl. Glossar. Hg. Eduard Sievers. 2., neubearb. Ausg. Paderb. 1892. Nachdr. ebd. 1960. – Online: http://lexicon.ff.cuni.cz/texts/ohg_sievers_tatian_about.html. – Die lat.-ahd. Tatianbilingue Stiftsbibl. St. Gallen Cod. 56. Unter Mitarb. v. Elisabeth de Felip-Jaud hg. v. Achim Masser. Gött. 1994. – Vollst. Farbdigitalisat der Hs. G: http:// www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/csg/0056. Literatur: Reiche Bibliogr. zu Tatian dem Syrer u. zum ahd. T: Klaus-Gunther Wesseling, Bautz 9

435 (1996), Sp. 552–571 u. http://www.bautz.de/bbkl/ t/tatian.shtml (mit Nachträgen). – Georg Baesecke: Die Überlieferung des ahd. T. Halle 1948. – Dieter Haacke: Evangelienharmonie. In: RL 1 (1958), S. 410–413. – Anton Baumstarck: Die Vorlage des ahd. T. Hg., überarb. u. mit Anmerkungen vers. v. Johannes Rathofer. Köln 1964. – Peter Ganz: Ms. Junius 13 u. die ahd. T.-Übers. In: PBB 91 (1969), S. 28–76. – Bernhard Bischoff: Paläograph. Fragen dt. Denkmäler der Karolingerzeit. In: Frühmittelalterstudien 5 (1971), S. 101–134, hier S. 105 f. – Johannes Rathofer: Zur Heimatfrage des ahd. T. In: Annali Istituto Orientale di Napoli. Sezione Germanica 14 (1971), S. 7–104. – Ders.: T. u. Fulda. Die St. Galler Hs. u. der Victor-Codex. In: FS Fritz Tschirch. Köln/Wien 1972, S. 337–356. – Ders.: Die Einwirkung des Fuldischen Evangelientextes auf den europ. T. Abkehr v. der Methode der Diatessaronforschung. In: FS Karl Langosch. Darmst. 1973, S. 256–308.– Ders.: Ms. Junius 13 u. die verschollene T.-Hs. B. In: PBB 95 (1973), S. 13–125.– Dieter Geuenich: Zur ahd. Lit. aus Fulda. In: Von der Klosterbibl. zur Landesbibl. Hg. Artur Brall. Stgt. 1978, S. 99–124.– Achim Masser: Aufgabe u. Leistung der frühen volkssprachigen Lit. In: Geistesleben um den Bodensee im frühen MA. Hg. ders. u. Alois Wolf. Freib. i. Br. 1989, S. 87–106.– Ders.: Die lat.-ahd. Tatianbilingue des Cod. Sang. 56. Gött. 1991. – Ders.: T. In: VL (Lit. bis 1992). – Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge [...] (= Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, Bd. 1,1). Tüb. 21995, S. 211–219. 1992). – Eckhard Meineke: Fulda u. der ahd. T. In: Kloster Fulda in der Welt der Karolinger u. Ottonen. Ffm. 1996, S. 403–426. – Heinz Endermann: Zu den T.-Fragmenten in der Hs. der Pariser Gespräche. In: Septuaginta quinque. FS Heinz Mettke. Hg. Jens Haustein u. a. Heidelb. 2000, S. 61–82. – Thomas A.-P. Klein: Zur Herkunft v. T. g u. zum Schreiber/Übersetzer-Problem der lat.-ahd. Tatianbilingue. In: Sprachgesch., Dialektologie, Onomastik, Volkskunde. FS Wolfgang Kleiber. Hg. Rudolf Bentzinger. Stgt. 2001, S. 17–43. – Ulrich B. Schmid: In the search of T.’s Diatesseron in the West. In: Vigiliae christianae 57 (2003), S. 176–199. – Hans Ulrich Schmid: Die Pariser T.-Zitate. Ed., Analysen, Überlegungen. In: Entstehung des Deutschen. FS Heinrich Tiefenbach. Hg. Albrecht Greule u. a. Heidelb. 2004, S. 395–426. – Valentin Anthony Pakis: John 2.4 in the Old High German ›T.‹. In: PBB 128 (2006), S. 221–250. – Thérèse Robin: Kann der ahd. T. auch als eigenständiger Text betrachtet werden? In: Mikrostrukturen u. Makrostrukturen im älteren Deutsch vom 9. bis zum 17. Jh. Text u. Syntax. Akten zum internat. Kongress an der Université Paris Sorbonne (Paris

Tatius IV) 6. bis 7. Juni 2008. Hg. Yvon Desportes u. a. Bln. 2010, S. 143–173. Ernst Hellgardt

Tatius, Marcus, Beiname: Alpinus, eigentl.: M. Tach, * um 1509 Zernez/Kt. Graubünden, † 12.6.1562 Freising. – Neulateinischer Dichter u. Übersetzer. Der Sohn eines Kirchendieners besuchte die Domschule in Chur u. ab 1521 oder 1522 die Münchener St. Petersschule (Unterricht bei Wolfgang Windhauser; Verbindung u. a. zu Simon Lemnius u. Simon Schaidenreisser); neben dem Schulbesuch war er als Privatlehrer tätig. 1532 ging T. als Erzieher der Söhne Raimund Fuggers nach Augsburg, stand ab 1535 im Dienst Hieronymus Fuggers u. wurde 1539 Professor der Poesie an der Universität Ingolstadt (vermutlich dort Dr. iur. utr.). 1540 wurde er aus unbekannter Ursache von Kaiser Karl V. verbannt, durfte aber nach kurzem Aufenthalt in Straßburg zurückkehren. Am 25.6.1541 wurde T. in Regensburg zum Poeta imperatorius gekrönt. 1550 wurde er kaiserl. Assessor am Reichskammergericht in Speyer, 1559 Kanzler des Bischofs Moritz von Sandizell in Freising. Von den lat. Dichtungen T.’ ist bes. eine (auch Werke von Freunden enthaltende) Sammlung von 54 Gelegenheitsgedichten hervorzuheben (Progymnasmata. Augsb. 1533). Als Übersetzer bemühte sich T. um möglichst wortgetreue Wiedergabe des Originals u. achtete zgl. auf gute Lesbarkeit des dt. Textes. Er fertigte Versionen von Werken (spät)antiker u. humanistischer Autoren. Seine Verdeutschungen der Ephemeris belli Troiani des Dictys Cretensis u. der Historia de excidio Troiae des Dares Phrygius (ebd. 1536) sowie von Polydorus Vergilius’ De inventoribus rerum (Von den erfyndern der dyngen [...]. Augsb. 1537. Internet-Ed. in: VD 16) dienten Hans Sachs als Quelle. Weitere Werke: Ad Ferdinandum Caesarem semper augustum, carmen. Straßb. 1540. – Ad D. Volphgangum Hungerum [...] epistola [...]. Basel. 1545. – Übersetzungen: Leonardus Aretinus: Zwey schöne auch lustige Historien u. Geschichtbücher, der Rhömer krieg, wider die Carthaginenser [...]. Augsb. 1540. – Sextus Iulius Frontinus: Kriegsanschlege [...]. Ingolst. 1542.

Tau Literatur: Bibliografien: Worstbrock, Register. – VD 16. – Weitere Titel: Georg Westermayer: M. T. In: ADB. – Ellinger, Bd. 2, S. 204–208, 240. – Klemens Alfen, Petra Fochler u. Elisabeth Lienert: Dt. Trojatexte des 12.-16. Jh. Repertorium. In: Die dt. Trojalit. des MA u. der Frühen Neuzeit. Hg. Horst Brunner. Wiesb. 1990, S. 7–197, hier S. 117–122. – P. Fochler: Fiktion als Historie. Der Trojan. Krieg in der dt. Lit. des 16. Jh. Ebd. 1990, S. 16–31. – Lothar Mundt: Szenen aus dem Münchner Humanistenleben. Zwei Gedichte des M. T. A. In: ›Der Buchstab tödt, der Geist macht lebendig‹. FS HansGert Roloff. Hg. James Hardin u. a. 2 Bde., Bern 1992, Bd. 2, S. 1085–1116. – Albert Schirrmeister: Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jh. Köln 2003, Register. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2056–2058. Petra Fochler / Red.

Tau, Max, * 19.1.1897 Beuthen, † 13.3. 1976 Oslo. – Erzähler; Lektor.

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aufgrund der leidvollen Erfahrungen beider Weltkriege zu einem Kämpfer für den Frieden. Weitere Werke: Lebenserinnerungen: Das Land, das ich verlassen mußte. Hbg. 1961. – Ein Flüchtling findet sein Land. Ebd. 1964. – Auf dem Weg zur Versöhnung. Ebd. 1968. – Trotz allem! Lebenserinnerungen aus siebzig Jahren. Ebd. 1973. – Das Leben lieben. M. T. in Briefen u. Dokumenten 1945–1976. Aus dem Nachl. hg. v. Hans Däumling. Würzb. 1988. – Herausgeber: Die Stillen. Trier 1921 (Anth.). – Vorstoß. Prosa der Ungedruckten. Bln. 1930 (Anth.). – Friedensbücherei. 2 Bde., Hbg. 1956. Literatur: Freundesgabe für M. T. Hbg. 1967. – Lothar Stiehm: M. T. Heidelb. 1968. – M. T. Der Freund der Freunde. Heidenheim 1977. – Olaf Haas: M. T. u. sein Kreis. Zur Ideologiegesch. ›oberschles.‹ Lit. in der Weimarer Republik. Paderb. u. a. 1988. – Detlef Haberland (Hg.): ›Ein symbol. Leben‹. Beiträge anläßlich des 100. Geburtstages v. M. T. (1897–1976). Heidelb. 2000. – Regina Hartmann: ›Doch wer das Unrecht duldet, bereitet seinen eigenen Untergang vor‹. M. T. im norweg. u. schwed. Exil. In: Exil. Forschung, Erkenntnisse, Ergebnisse 21 (2001), H. 2, S. 39–51. Heiner Widdig / Red.

Schon während des Studiums in Berlin, Hamburg u. Kiel (Promotion über Fontane 1928) arbeitete T. als Lektor in Trier; 1928–1938 war er im Verlag Bruno Cassirer in Berlin tätig. In dieser Zeit schrieb er Literaturkritiken in verschiedenen Zeitungen u. förderte neben jungen Talenten, u. a. WolfTaube (von der Issen), Otto (Adolf Alexgang Koeppen, Autoren seiner schles. Heimat ander) Frhr. von, * 21.6.1879 Reval (heute wie August Scholtis, Josef Wiessalla u. HerTallinn, Estland), † 30.6.1973 Tutzing. – mann Stehr, dessen Gesammelte Werke (9 Bde., Erzähler, Lyriker, Essayist u. Übersetzer. Trier) er 1924 herausgab. 1938 emigrierte T. nach Norwegen, 1942 nach Schweden, wo er T. verlebte seine Jugend auf dem Familiengut bis 1945 Lektor des Esselte Verlags in Stock- Jerwakant, ca. 70 km von Reval entfernt. Er holm war. 1944 gründete er den Neuen Ver- hat diese Zeit in »Kindheitserinnerungen« Im lag, in dem er die dt. Exilautoren Heinrich alten Estland (Stgt. [1949]. Teildruck in: AusMann, Lion Feuchtwanger u. Johannes R. gewählte Werke, S. 333–368), aber auch in GeBecher verlegte. Nach dem Krieg kehrte T. dichten wie »Reval« (in: Wanderlieder und annicht nach Deutschland zurück, sondern ar- dere Gedichte. Merseburg 1937. Auch in: Morbeitete, wiederum als Lektor, in Oslo. 1950 gengabe. Sammlung baltendeutscher Gedichte. Lpz. erhielt er den ersten Friedenspreis des Deut- 1940) aufgerufen, sich zeitlebens zu der hier schen Buchhandels. verfestigten Mentalität bekannt: geprägt von T.s selbstständiges literar. Schaffen begann dem Lebensrhythmus einer altständisch leerst in den 1940er Jahren. Seine Prosa ist ge- gitimierten Gutsherrschaft, von der Natur im prägt von religiösem Idealismus u. dem Ge- Wechsel der Jahreszeiten u. von einem sehr danken an Frieden, Brüderlichkeit u. Völ- traditionsbewussten, Begriffe von Rang u. kerversöhnung. Programmatisch für T.s »Haltung« kultivierenden, die protestanWerk ist der Titel des ersten Romans, Glaube tisch-dt. Bildungstradition pflegenden adlian den Menschen (Bln. 1948. Zuerst norweg. gen Selbstbewusstsein. Dieses bedingte auch Oslo 1946). In dem Entwicklungsroman Denn die patriarchal. Abgrenzung von dem estn. über uns ist der Himmel (Hbg. 1955. Zuerst Gesinde, teilweise auch schon die nationale norweg. Oslo 1954) wird der Protagonist Abwehr des wachsenden russischen, mehr u.

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mehr slawophil gelenkten Einflusses. In vielen Essays, in histor. Novellen (z.B. Baltischer Adel. Oldenb. 1932. Paul Fleming in Reval. In: Die Metzgerpost, s. u., S. 231–285), auch in literar. Porträts (darunter zu dem Schriftsteller Eduard von Keyserling, T.s Onkel, in: Ausgewählte Werke, S. 301–311) wurde dieses elitäre Herkunftsbewusstsein, das sich durchaus mit einem polyglotten Kosmopolitismus verband, von T. immer wieder literarisch fruchtbar gemacht. Wegen des zunehmenden russ. Drucks wanderte die Familie 1892 ins Reich (nach Kassel, ab 1895 Weimar) aus, das T. sozialpsychologisch als fremde ›Moderne‹ empfand, bestimmt von hastiger bürgerl. Wirtschaftsgesinnung u. einem fehlgeleiteten, oft veräußerlichten Aktivismus, der alte Bindungen, Bildungsmodelle u. personale Identitäten zu zerstören drohte. Auch T.s Familienroman Die Löwenprankes (Lpz. 1921; bereits vor 1914 abgeschlossen), dessen Protagonist »Cari« manches Autobiografische transparent werden lässt, beschäftigt sich mit den Konflikten, der Abgeschlossenheit u. dem Niedergang eines Adelsgeschlechtes angesichts der mittlerweile erschütterten, einst »statisch erscheinenden Ordnung«. T. studierte Jurisprudenz (Promotion 1902 in Leipzig), seit 1906 Kunstgeschichte in Berlin, Jena u. Halle. Als Lehrer verehrte er bes. Adolf Goldschmidt, Heinrich Wölfflin u. Georg Simmel. Sein Dissertationsthema über Die Darstellung des heiligen Georg in der italienischen Kunst (Promotion 1910 in Halle) bewog ihn zu mehreren Italienreisen (u. a. 1907, 1908/09). Dazu kamen Reisen in die Niederlande (1911), nach Großbritannien, Frankreich, Russland u. Nordafrika (1914). Souverän bewegte sich T. in den Salons der etablierten Aristokratie, fühlte sich aber auch vom Lebensmilieu der einfachen Leute in den Vorstädten u. auf dem Lande angezogen. In einem »historischen Roman«, der in Tübingen nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges spielt, widmete er sich später in kontrastiven Figurenkonstellationen den Verhältnissen u. dem Selbstbewusstsein von Handwerkern u. ihrer vormodernen Korporationen (Die Metzgerpost. Merseburg 1935). Besonders beeindruckten ihn – ähnlich wie Reinhold Schneider – Spanien u. Portugal

Taube

(1911/12), weil er auch hier eine archaische Gegenwelt zur rationalistischen Erwerbsgesellschaft zu finden glaubte. Noch T.s letzter Roman Der Minotaurus (Hbg. 1959. Mchn. 1962. Auch in: Ausgewählte Werke, S. 7–159), eine Stierkämpfergeschichte, lässt diese Faszination erkennen. Pläne einer von GauchoRomantik inspirierten Auswanderung nach Südamerika wurden nicht verwirklicht. Seine Abrechnung mit studentischen Korporationen, aus denen er austrat, aber auch fast visionäre u. groteske Bilder einer manischen Verfallenheit von Intellektuellen u. geschäftstüchtigen Schwärmern an german. Riten u. kultische Atavismen vergegenwärtigte der satir. Roman Das Opferfest (Lpz. 1926). T. karikiert hier auch die Vorträge Alfred Schulers, den er 1922 in München gehört hatte. Mittlerweile war T., der zuerst durch neuromant. Lyrik hervorgetreten war (Verse. Bln./Lpz. 1907. Gedichte und Szenen. Lpz. 1908. Neue Gedichte. Ebd. 1911), durch die Keyserlings, aber auch durch den hochverehrten Freund Rudolf Alexander Schröder in die literar. Welt eingeführt worden, wodurch sich u. a. Kontakte zu Hofmannsthal, Rilke u. Kassner ergaben. Während des Krieges diente T. an der Ostfront u. als Nachrichtenoffizier im Berliner Hauptquartier. 1918 zog er nach Gauting bei München. Das dortige Gymnasium trägt seinen Namen. Als T.s Vermögen in der Nachkriegszeit zerschmolz, bekannte sich T., damals nationalliberal eingestellt, kurzfristig zur NS-Bewegung (Mein Anschluß an die Nationalsozialisten. In: Der Türmer 25, 1922, H. 3, S. 184 f.), enthielt sich auch später nicht einiger völk. Töne in dem zweiteiligen Werk Geschichte unseres Volkes (Bln.-Steglitz 1938 u. 1942). Seit 1934, erst recht gegen Ende der dreißiger Jahre wandte er sich jedoch mehr u. mehr einem bekennenden Christentum u. dessen Überlieferungen zu u. trat, von der Gestapo überwacht, Kreisen der Inneren Emigration nahe. Neben seinen Erinnerungen u. einigen Erzählungen im fantastischen Genre E. T. A. Hoffmanns (Dr. Alltags phantastische Aufzeichnungen. Hbg. [1951]. Auch in: Ausgewählte Werke, S. 160–247) publizierte er fortan zumeist Werke christl. Provenienz (Brüder der oberen Schar. Gestalten aus der Welt der

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Bibel und der Geschichte der Kirche. Hbg. 1955. Erfahrung. Dt. Lit. u. Drittes Reich. Hg. F.-L. Kroll. 2 1963. Selig sind die Friedbereiter. Geistliche Ge- Bln. 2003, S. 55–74. Wilhelm Kühlmann dichte und Lieder. Gött. 1956). Zuletzt wirkte er als Lektor der örtl. protestantischen GeTaubmann, Friedrich, * 15./16.5.1565 meinde. Kaum zu überblicken ist die kontinuierl. Wonsees, † 24.3.1613 Wittenberg. – Arbeit des viele Sprachen beherrschenden T. Neulateinischer Dichter, Klassischer Phian Übersetzungen, z.T. mehrfach wieder lologe. aufgelegt (s. Werkverzeichnis, S. 86–95): aus Der Sohn eines Schusters erhielt seine Schuldem Englischen (William Blake 1907, 1928), bildung in Kulmbach (Johann Codomann) u. dem Französischen (Stendhal 1925, 1929; in der Heilsbrunner Fürstenschule (Johann Alfred de Vigny 1936), dem Italienischen Hertel). Von Melissus Schede 1592 zum (Franz von Assisi 1905; D’Annunzio 1906 Dichter gekrönt, bezog er die Universität u. ö.; Tasso 1962; Ungaretti 1962), dem La- Wittenberg, wo er gegen Widerstände 1595 teinischen (Bernhard von Clairvaux, 1948), eine Professur der Poesie erhielt. Als Lehrer dem Portugiesischen (Camões 1919, 1949), (u. a. Buchners u. Caspar von Barths) erwarb dem Spanischen (u. a. Calderón 1923 u.ö.; er sich einen bedeutenden Ruf, wenngleich Gracián 1913) u. dem Russischen (Berdjajew seine Editionen lat. Autoren sogleich heftig 1925; Leskow 1940). – T.s Nachlass (erst an- kritisiert wurden. Im Gefolge des Lipsius satzweise ausgeschöpft) liegt v. a. in der wandte sich T. gegen einen strengen CiceroStadtbibliothek München, Monacensia. nianismus. Weitere Werke und Ausgaben: Wanderjahre. Iuvenilia u. spätere Arbeiten vereinigt der Erinnerungen aus meiner Jugendzeit. Stgt. 1950. – Band Melodaesia sive Epulum Musaeum (zuerst 1–2 Ausgew. Werke. Hbg. 1959. – Zeugnis. Gedichte. Lpz. 1597): neben lange gelesenen geistl. Briefe. Darmst. 1960. – Die Metzgerpost. Ein RoDichtungen (so das Epos Bellum Angelicum) u. a. man u. acht histor. Erzählungen. Hbg. 1962. – kulturhistorisch ergiebige satir. Kleinepen Begegnungen u. Bilder. Hbg. 1967. – Stationen auf dem Wege. Erinnerungen an meine Werdezeit vor auf die Martinsgans (Martinalia), ein Fast1914. Heidelb. 1969. – Briefwechsel: Frank-Lothar nachtsgedicht (Bacchanalia) u. die FrauensatiKroll: Eine preuß.-balt. Dichterbegegnung. Al- re Gynaeceum poeticum. Die Schediasmata poetica brecht Schaeffers Briefe an O. v. T. In: Ostpreußen. (zuerst Wittenb. 1604) bieten geistl., panegyr. Facetten einer literar. Landschaft. Hg. ders. Bln. u. epigrammat. Dichtungen, die sich z. T. 2001, S. 67–89. – Hugo v. Hofmannsthal u. O. v. T. schon in dem älteren Gedichtbuch finden. Briefe 1907–1929. Mitgeteilt u. komm. v. Klaus E. T.s Nachruhm gründet sich indessen v. a. Bohnenkamp u. Waldemar Fromm. In: Hof- auf seine Tätigkeit als »Kurzweiliger Rat« des mannsthal. Jb. zur europ. Moderne 14 (2006), sächs. Hofes. Seine Anekdoten, witzigen S. 147–237. – Rudolf Kassner u. O. v. T. Eine DoAussprüche u. Scherzgedichte wurden in kumentation aufgrund der Briefe Kassners an T. zahlreichen Sammlungen, v. a. den TaubmanMitgeteilt v. K. E. Bohnenkamp. In: ebd., niana (viele Auflagen seit 1702), verbreitet u. S. 239–367. trugen ihm den Ruf ein, die Würde seines Literatur: Bibliografie: O. Frhr. v. T. Sein Werk. Amts durch z. T. grobianische Späße verletzt Eine Bibliogr. Zusammengestellt v. Maria v. Taube u. Richard Lemp. Mchn. [1969]. – Weitere Titel: zu haben. Lotte Denkhaus: O. Frhr. v. T. Gladbeck 1949. – Hans v. Arnim: Christl. Gestalten neuerer dt. Dichtung. Bln. 1961, S. 90–116. – Karl Ude: O. v. T. Mchn. 1964. – Regina C. Mosbach: O. v. T. (1879–1973). Visionismus zwischen Kunstautonomie u. Engagement. Ffm. u. a. 1995. – Manfred Rosteck: ›Diese leidige Zeit‹. Studien zum Werk des baltendt. Dichters O. Frhr. v. T. Hbg. 1996. – R. Mosbach: Die Ohnmacht der Verzweiflung. ›Innere Emigration‹ am Beispiel O. v. T.s. In: Die totalitäre

Weitere Werke: Herausgeber: Plautus. Wittenb. 1605 u. ö. – [Pseudo-]Vergil: Culex. Ebd. 1609 u. ö. – Vergil: Opera omnia. Ebd. 1618 u. ö. – Moretum. Ebd. 1626. – Einzeltitel: Dissertatio de lingua latina. Ebd. 1602. – Otium semestre publicum. Gießen 1609. – Posthuma Schediasmata. Wittenb. 1616. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 6, S. 4004–4028. – Weitere Titel: Taubmanniana [...]. Krit. bearb. v. Prof. Oertel [...]. Mchn. 1831 (Ausw. der Anekdoten u. Gedichte). – Friedrich

439 Wilhelm Ebeling: Zur Gesch. der Hofnarren. Lpz. 3 1884 (S. 161–220: ›Humorist. Begebenheiten u. Aussprüche‹. S. 221–333: ›Lat. Scherzgedichte‹ mit dt. Übertragungen). – Heinrich Klenz: Die Quellen v. Joachim Rachels erster Satire: ›Das poet. Frauenzimmer oder Böse Sieben‹. Diss. Freib. i. Br. 1899, S. 26–46. – Ludwig Fränkel: F. T. In: ADB. – Michael Hofmann: F. T. aus Wonsees. In: Archiv für die Gesch. v. Oberfranken 45 (1965), S. 117–133. – Franz Pietsch: Gesch. der gelehrten Bildung in Kulmbach v. den Anfängen bis zur Gegenwart. Kulmbach 1974, S. 60–73 (Lit.). – Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik u. Fürstenstaat. Tüb. 1982, passim. – Hermann Wiegand: Nlat. Fastnacht. In: Jahresber. des Karl-FriedrichGymnasiums Mannheim 1984/85, S. 54–63 (Lit.). – Dieter Münch: Der humorvolle Poet u. Philologe F. T. aus Oberfranken. Bayreuth 1984 (S. 32 f. Werkverz.). – W. Kühlmann: ›Amor liberalis‹. In: Das Ende der Renaissance. Hg. August Buck u. Tibor Klaniczay. Wiesb. 1987, S. 165–186, bes. S. 172; wieder in: Kühlmann (2006), S. 354–375, hier S. 360 u. ö. – H. Wiegand: Bacchanalia NeoLatina. Zur Rezeption antiker Karnevalsmotive in der nlat. Lit. In: Karnevaleske Phänomene in antiken u. nachantiken Kulturen u. Literaturen. Hg. Siegmar Döpp. Trier 1993, 265–286, passim. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2058–1065. Hermann Wiegand

Taucher, Franz, * 23.11.1909 Eggenberg/ Steiermark, † 7.1.1990 Wien; Grabstätte: ebd., Friedhof Ober-St. Veit. – Erzähler, Essayist, Publizist. T., Sohn eines Maurers, ist der Prototyp eines Autodidakten, dem als Hilfsarbeiter u. Handwerker u. a. über Bildungseinrichtungen der sozialistischen Arbeiterjugend der soziale Aufstieg gelang. Durch den Volkskundeforscher Viktor von Geramb fand er im Steirischen Volkskundemuseum in Graz eine Anstellung, bevor er 1939 in die Feuilletonredaktion der »Frankfurter Zeitung« eintrat. Nach Dienstverpflichtung beim »Völkischen Beobachter« u. Militärdienst war er 1945–1950 Chefredakteur der Zeitschrift »Wiener Bühne« sowie freier Publizist u. Rundfunkmitarbeiter. T.s Literatur kennzeichnen ein volksverbundener Heimat- u. Geschichtsbegriff sowie das volksbildnerische Ethos. Mit lebensgeschichtl. u. chronikal. Gestaltungen von

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Zeitgeschichte (Die Heimat und die Welt. Wien 1947. Von Tag zu Tag. Graz/Wien 1948) zeigt er sich in seinem polit., moralischen u. ästhetischen Anspruch als Traditionalist. Schattenreise (Wien/Mchn./Zürich 1973) gibt ein Stimmungsbild Österreichs zwischen 1920 u. 1938, Frankfurter Jahre (ebd. 1977) ist ein Beitrag zur Pressegeschichte des Nationalsozialismus. Zusammen mit Damals in Wien (ebd. 1981), der Schilderung von Kriegsende u. Beginn der Zweiten Republik, bieten die drei Bände ein anschaul. Panorama österr. Geistesgeschichte. Weitere Werke: Gedichte vom Berg. Graz/Lpz./ Wien 1935. – Weit aus der Zeit. Wien 1947 (R.). – Aller Tage Anfang. Freib. i. Br. 1953 (R.). – Die wirkl. Freuden. Wien/Ffm. 1958 (literar. Profile). – Entzauberung der Epoche. Graz/Wien/Köln 1967 (Reden u. Aufsätze). Christine Schmidjell

Tauler, Tauweler, Johannes, latinisiert: J. Taulerii, Taulerus, * um 1300 Straßburg, † 16.1.1361 Straßburg; Grabplatte: ebd., Temple Neuf. – Dominikaner; Verfasser mystischer Predigten. Als Sohn einer reichen u. angesehenen Straßburger Familie wurde T. am Anfang des 14. Jh. geboren, trat in jüngerem Alter in das Dominikanerkloster seiner Heimatstadt ein u. bekam dort u. an anderen Ordensstudien den für Dominikaner vorgeschriebenen Unterricht in den Artes liberales, in Naturphilosophie u. Theologie. Zum Fortbildungsstudium der Theologie an einem Studium generale, das nur den Besten der Dominikanerstudenten offenstand, wurde er nicht zugelassen. Die Türen der wissenschaftl. Karriere blieben ihm somit versperrt, u. er widmete sich der Predigt u. der Seelsorge. T. hatte in seiner Jugend wahrscheinlich Gelegenheit, Meister Eckhart persönlich kennenzulernen. Seine Predigten zeigen eine sehr positive Einstellung gegenüber der Person Eckharts u. eine gewisse Vertrautheit mit seinem Werk. Als direkter Anhänger Eckharts darf T. jedoch kaum betrachtet werden. Die ersten urkundl. Zeugnisse über T. stammen aus dem Ende des dritten Dezenniums des 14. Jh. Aus einem Brief Heinrichs von Nördlingen an Margareta Ebner geht

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hervor, dass sich T. im Frühling 1339 in Basel aufhielt. Infolge des Interdikts, das Papst Johannes XXII. über Straßburg verhängt hatte, war der ganze dortige Dominikanerkonvent in diesem Jahr vertrieben worden, u. viele Brüder – darunter T. – hatten Aufnahme im Baseler Kloster gefunden. Im Sommer u. Herbst 1339 weilte T. in Köln; danach kehrte er nach Basel zurück u. blieb dort bis 1342, als die Dominikaner in Straßburg wieder zugelassen wurden. Zur Zeit seines Baseler Aufenthalts war T. schon eine bekannte u. in myst. Kreisen gut eingeführte Persönlichkeit. Er war mit Heinrich von Nördlingen befreundet, hatte bereits in Medingen Kontakte mit der Mystikerin Margareta Ebner geknüpft, verfügte über ein Exemplar des soeben erschienenen Horologium sapientiae Seuses, u. seine Predigten faszinierten das Publikum der Klosterfrauen. Die anonyme Privatmitschrift einer zu jener Zeit im Nonnenkloster Klingental zu Basel vorgetragenen Predigt ist erhalten geblieben (sie schließt mit der Bemerkung: »das ist ein stvkke der bredie, das mir aller best geviel«). Wahrscheinlich 1344 u. sicher 1346 war T. wieder in Köln u. hielt Predigten im Kloster St. Gertrud. Er trat in Kontakt mit seinem Mitbruder Berthold von Moosburg, dem Lector primarius der Kölner Ordensuniversität u. prominentesten Vertreter der durch seinen Lehrer Dietrich von Freiberg innerhalb des Predigerordens in Deutschland initiierten neuplatonischen u. antithomistischen Richtung. Kurz danach war T. in Medingen bei Margareta Ebner. 1350 besuchte er zusammen mit seinem Mitbruder Johannes von Dambach, einem vormaligen Schüler Meister Eckharts, das Pariser Dominikanerkloster – mit welchem Auftrag, ist unbekannt. Über den Rest von T.s Leben schweigen die Quellen. Von T. sind nur dt. Predigten überliefert. Wann u. wo diese gehalten u. redigiert wurden, konnte bislang nicht ermittelt werden. Sicher aber ist, dass bereits zu T.s Lebenszeit mindestens eine Predigtsammlung existierte, die er autorisiert u. eventuell auch selbst redigiert hatte. Die größeren oder kleineren Predigtblöcke, welche die meisten T.-Handschriften aufweisen, sind Bruchstücke jener

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urspr. Sammlung(en), deren genaue Konturen freilich noch nicht rekonstruiert worden sind, die aber insg. mehr als 80 Ansprachen enthalten haben dürfte(n). Der Ausgangspunkt der Verbreitung der Predigten T.s scheint das Frauenkloster St. Gertrud zu Köln gewesen zu sein, in dem er in den 1340er Jahren gepredigt hatte u. in dem sich noch im 16. Jh. eine umfangreiche Sammlung befand. Als wichtigste u. älteste handschriftl. Zeugen zeichnen sich heute ein Engelberger Codex, der zwei Jahre vor T.s Tod hergestellt wurde, sowie eine Straßburger Handschrift aus, die 1870 vernichtet wurde u. nur durch eine moderne Abschrift erhalten geblieben ist, schließlich zwei textkritisch äußerst bedeutende Wiener Codices. Auf die beiden ersten gründete Ferdinand Vetter seine Edition (1910), die beiden letzten waren die Grundlage der Ausgabe Adolphe-Léon Corins. Die Wiener Handschriften sind in ripuar. Dialekt geschrieben u. gehen wohl auf die Vorlagen von St. Gertrud zurück. Viele Fragen nach Echtheit u. Gestalt verschiedener Ansprachen dürften erst geklärt werden, wenn eine krit. Edition auf einer breiten handschriftl. Basis vorliegt. T. unterrichtete zeitlebens nicht; dies dürfte der Grund dafür sein, dass er im Unterschied zu den damals bedeutendsten dt. Predigern keine lat. Werke schrieb. Hiermit wollte er vielleicht auch Erwartungen u. Bedürfnissen des einfacheren Publikums der Klosterfrauen Rechnung tragen. T. war nie ein professioneller Theologe; aber viele, oft genaue Zitate aus Schriften der Kirchenväter (Augustinus, Ambrosius, Gregorius, Dionysius Areopagita, Hieronymus), von scholast. Theologen (Anselm, Albertus Magnus, Hugo von St. Viktor, Thomas von Aquin) u. der philosophischen Überlieferung (Aristoteles, Platon, Proklos, Liber XXIV philosophorum) beweisen, dass er Latein lesen konnte u. über eine bemerkenswerte Bildung verfügte. Spekulativer Hintergrund von T.s Predigtwerk ist die dominikan. Tradition, wie sie sich in Deutschland v. a. unter dem Einfluss Dietrichs von Freiberg u. Meister Eckharts entwickelt hatte. T. vertrat eine akzentuiert negative Theologie u. baute seine Anthropologie auf der Eckhart’schen Doktrin von der

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Gottesgeburt u. der durch Dietrich vertretenen substantialistischen Interpretation der augustinischen Bildlehre auf. Unter ausdrückl. Berufung auf deren Autorität u. die des Albertus Magnus sprach T. von einem »Seelengrund« im Menschen, einem Prinzip, das die Existenz des Menschen als Lebe- u. Vernunftwesen begründet u. das ständig vereint mit Gott ist (»bekent sich Got in Gotte [...] in dem wurket und weset Got«). T. identifizierte den »Seelengrund« mit dem »unum animae« des Proklos u. glaubte, in dessen sog. Opuscula tria das Zeugnis dafür gefunden zu haben, dass die vorplatonischen Denker mit diesem Prinzip der Einigung mit der Gottheit vertraut waren. Der Anleitung zur Wiedererlangung des nunmehr in Vergessenheit geratenen »Seelengrundes« ist ein großer Teil von T.s Werk gewidmet. Der »mystische Weg« zur Wiederentdeckung seines Selbst fordert nach T. Askese u. graduelle mystagog. Übungen. Die Betonung der seelsorglichen, konkreten Seite des myst. Lebens u. die Interpretation des »Seelengrundes« im Sinne einer überrationalen, die menschl. Vernunft begründenden Instanz lassen sich als eine zgl. prakt. u. spekulative Antwort auf die Krise interpretieren, in die der durch Dietrich u. Eckhart vertretene Intellektualismus nach der päpstl. Verurteilung 1329 geraten war. Bei diesem Versuch stand T. nicht allein: Er stützte sich auf die philosophischen Ideen u. auf die Interpretation der proklischen Lehre, die Berthold von Moosburg in den 30er u. 40er Jahren des 14. Jh. in Köln entwickelt hatte. Die neuzeitl. Wirkungen der Predigten T.s waren enorm, nicht nur im Katholizismus (z.B. bei Petrus Canisius), sondern auch im Protestantismus. Von M. Luther sind Annotationen zu den Predigten T.s überliefert. Zudem edierte Luther 1516 die Theologia deutsch u. hielt diese für ein Kompendium der Theologie T.s. Sowohl im myst. Spiritualismus (A. Karlstadt, C. Schwenckfeld, J. Böhme, F. Breckling) als auch in der luth. Orthodoxie (J. Gerhard, J. C. Dannhauer u. a.) sowie im Pietismus (z.B. Ph. J. Spener) fand T. mit je unterschiedl. Akzentsetzung eine Rezeption, die der genaueren Untersuchung harrt. Das bekannte Adventslied Es kommt ein Schiff, ge-

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laden (von Daniel Sudermann [1626] nach einer Vorlage aus dem 15. Jh.) ist stark durch T.s Theologie geprägt. Ausgaben: Kritische Ausgaben: Die Predigten T.s. Hg. Ferdinand Vetter. Bln. 1910. Nachdr. Dublin/ Zürich 1968. – Sermons de J. T. et autres écrits mystiques. I-II. Hg. Adolphe-Léon Corin. Liège/ Paris 1924–29. – Ausgew. Predigten J. T.s. Hg. Leopold Naumann. Bonn 1914. – Textbuch zur Mystik des dt. MA. Hg. Josef Quint. Halle/S. 21957. – Neuhochdeutsche Übersetzung: Predigten. Hg. Georg Hofmann. Freib. i. Br. 1961. Einsiedeln 21979. Literatur: Bibliografie: Georg Hofmann in: J. T. Ein dt. Mystiker. Hg. Ephrem Filthaut. Essen 1961, S. 60–479. – Weitere Titel: Paul Wyser: Der Seelengrund in T.s Predigten. In: Lebendiges MA. FS Wolfgang Stammler. Freib./Schweiz 1958, S. 204–311. – Ignaz Weilner: J. T.s Bekehrungsweg. Regensb. 1961. – La mystique rhénane. Paris 1963. – Dietmar Mieth: Die Einheit v. vita activa u. vita contemplativa in den dt. Predigten u. Traktaten Meister Eckharts u. bei J. T. Regensb. 1969. – Alois Maria Haas: Nim din selbes war. Freib./Schweiz 1971. – Gösta Wrede: Unio mystica. Probleme der Erfahrung bei J. T. Uppsala 1974. – Kurt Ruh: T. In: Dizionario critico della letteratura tedesca. Hg. Sergio Lupi. Bd. 2, Turin 1976, S. 1147–1150. – Paul Michel: ›Agamemnon‹ unter den Gottesfreunden. In: FS Stefan Sonderegger. Bayreuth 1978, S. 137–184. – Gabriele v. Siegroth-Nellessen: Versuch einer exakten Stiluntersuchung für Meister Eckhart, J. T. u. H. Seuse. Mchn. 1979. – Louise Gnädinger: Der Abgrund ruft dem Abgrund. In: Das ›einig ein‹. Hg. Heinrich Stirnimann. Freib./ Schweiz 1980, S. 167–207. – Julio A. Hernández: Studien zum religiös-eth. Wortschatz der dt. Mystik. Bln. 1984. – Loris Sturlese: T. im Kontext. In: PBB 109 (1987), S. 390–426. – Viviane MellinghoffBourgerie: Zur Gesch. des Liedes ›Es kommt ein Schiff, geladen‹. In: Jb. für Liturgik u. Hymnologie 33 (1990/91), S. 111–129. – Bernd U. Rehe: Der Reifungsweg des inneren Menschen in der Liebe zu Gott. Bern 1989. – L. Gnädinger: J. T. Lebenswelt u. myst. Lehre. Mchn. 1993. – Hans-Peter Hasse: Karlstadt u. T. Untersuchungen zur Kreuzestheologie. Gütersloh 1993. – Stefan Zekorn: Gelassenheit u. Einkehr. Zu Grundlage u. Gestalt geistl. Lebens bei J. T. Münster/Westf. 1993. – Maarten J. F. M. Hoenen: J. T. in den Niederlanden. In: Freiburger Ztschr. für Philosophie u. Theologie 41 (1994), S. 389–444. – L. Gnädinger u. Johannes Gottfried Mayer: J. T. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – J. G. Mayer: Die ›Vulgata‹-Fassung der Predigten J. T.s. Würzb. 1999. – Joachim Theisen: T. u. die Liturgie. In: Dt. Mystik im

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abendländ. Zusammenhang. Hg. Walter Haug u.a. Tüb. 2000, S. 409–423. – Volker Leppin: J. T. In: TRE 32 (2001), S. 745–748. – Johann Kreuzer: Denken, das in seinen Grund geht. Radikale Diesseitigkeit bei T. In: Reformer als Ketzer. Hg. Günter Frank u.a. Stgt.-Bad Cannstatt 2004, S. 145–163. – Christine Büchner: Die Transformation des Einheitsdenkens Meister Eckharts bei Heinrich Seuse u. J. T. Stgt. 2007. – Michèle Monteil: Luther, lecteur et commentateur de Tauler. In: Revue d’Histoire et de Philosophie Religieuses 88 (2008), S. 147–171. Loris Sturlese / Johann Anselm Steiger

Taurellus, (Öchslin), Nikolaus, * 26.11. 1547 Mömpelgard, † 28.9.1606 Altdorf. – Philosoph, Mediziner, Emblematiker. Herzog Christoph von Württemberg, der Territorialherr von Mömpelgard, ermöglichte T. ein sechsjähriges Theologie- u. Philosophiestudium (1565 Magister der Philosophie) in Tübingen. Erste philosophische Veröffentlichungen, in denen er sich gegen die Autorität des Aristoteles u. für eine Harmonisierung theolog. u. philosophischer Lehren einsetzte, trafen auf Widerspruch; T. begann darauf das Studium der Medizin (Promotion Basel 1570). In Basel lehrte er etwa seit 1572 Medizin u. wurde um 1576 Nachfolger Theodor Zwingers auf dem Lehrstuhl für Ethik. Als Medizinprofessor in Altdorf (seit 1580) konnte er auch seine philosophischen Arbeiten fortsetzen (u. a. De vita et morte libellus. Nürnb. 1586). Von seinem Philosophiae triumphus (Basel 1573. Arnheim 1617) an zeigt sich T. als selbstständiger Fortsetzer Melanchthonscher Positionen, wenn er in Auseinandersetzung mit der aristotel. Metaphysik (Synopsis Aristotelis Metaphysices ad normam Christianae religionis emendatae et completae. Hanau 1596) eine genuin christl., nur die Autorität der bibl. Offenbarung anerkennende Philosophie zu erarbeiten sucht. In seinem systemat. Versuch, christl. Weltbild u. Glaubenslehre mit dem Aristotelismus zu verbinden, setzt er eine Übereinstimmung von Vernunft u. Offenbarung an. Er sieht den freien Willen dem Verstand untergeordnet. Wenn die Menschen sich als Spiegel der göttl. Schöpferkraft der uneingeschränkten Betrachtung der geschaf-

fenen Welt widmen, erkennen sie, dass der eigentl. Nutzen der Dinge in deren Bedeutung zu finden sei, die eth. Handeln ermögliche. Diese philosophisch gewonnenen Auffassungen einer biblisch fundierten Ethik vermittelte T. auch in seinem Emblembuch (Emblemata physico-ethica. Nürnb. 1595. 2 1602). Er wendet sich kritisch gegen Caesalpins Lehre von der Bewegung der Natur u. die mit ihr verbundenen Versuche, aus aristotel. Annahmen einen Pantheismus abzuleiten (Alpes caesae, hoc est, A. Caesalpini monstrosa et superba dogmata discussa et excussa. Altdorf/Ffm. 1597). Dabei versteht T. Gottes Handeln als abgeschlossen, aber weiterwirkend; die endl. Welt verhalte sich wie ein von Gott in Gang gesetztes Uhrwerk (Kosmologia. Amberg 1603. 2 1611). Wegen seiner Überlegungen zur Trinität, seiner irenischen Ziele u. der neuplaton. Grundlagen seiner Ontologie wurde T. mangelnde Rechtgläubigkeit vorgeworfen. Von Leibniz wurde der »ingeniosissimus« T. als »Scaliger Germanorum« bezeichnet. T.’ Wirkung im 18. u. 19. Jh. wurde von Jacob Wilhelm Feuerleins Schrift Taurellus defensus (Nürnb. 1734) bestimmt. Weitere Werke: Medicae praedictionis methodus. Ffm. 1581. – Carmina funebria. Nürnb. 1592. 2 1602. – Ouranologia. Amberg 1603. 21611. – De rerum aeternitate. Marburg 1604. – Philosophiae Triumphus. Lat./dt. Hg., übers. u. eingel. v. Henrik Wels. Stgt.-Bad Cannstatt (in Vorb.). Literatur: Bibliografie: VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Karl Groos: N. T. In: ADB. – HansChristian Mayer: N. T., der erste Philosoph im Luthertum. Diss. Gött. 1959. – Holger Homann: Studien zur Emblematik des 16. Jh. Utrecht 1971, S. 104–122. – Monika Hueck: Textstruktur u. Gattungssystem. Kronberg 1975. – Wolfgang Harms: On Natural History and Emblematics in the 16th Century. In: The Natural Sciences and the Arts. Hg. Allan Ellenius. Uppsala 1985, S. 67–83. – Siegfried Wollgast: Philosophie in Dtschld. zwischen Reformation u. Aufklärung 1550–1650. Bln. 1988, S. 146–153. – Wolfgang Mährle: Academia Norica. Wiss. u. Bildung an der Nürnberger Hohen Schule in Altdorf (1575–1623). Stgt. 2000, Register. – Stefan Folaron: Philosophie der Menschenwürde nach N. T. Czenstochau 2002. – Jaumann Hdb. Wolfgang Harms

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Taurinus, Stephanus, eigentl.: Stephan Stieröxel, * um 1485/88 Zwittau/Mähren, † 11.6.1519 Hermannstadt/Siebenbürgen. – Humanist, Geistlicher.

Tauschinski manist S. T. In: Südost-Forsch.en 13 (1954), S. 62–93. – Conradin Bonorand: Aus Vadians Freundes- u. Schülerkreis in Wien. In: Vadian-Studien 8 (1965), S. 44 f. – Hans-Bernd Harder: Zentren des Humanismus in Böhmen u. Mähren. In: Studien zum Humanismus in den böhm. Ländern. Hg. ders. u. Hans Rothe. Köln 1988, S. 21–37. – Peter Wörster: Der Olmützer Humanistenkreis unter Stanislaus Thurzó. In: ebd., S. 39–60. – László Szörényi: L’influenza della Farsaglia di Lucano sull’epopea tardoumanista latina in Ungheria. La ›Stauromachia‹ di S. T. In: L’eredità classica in Italia e Ungheria fra tardo Medioevo e primo Rinascimento. Hg. Sante Graciotti. Rom 2001, S. 241–260. – Martin Rothkegel: Der lat. Briefw. des Olmützer Bischofs Stanislaus Thurzó. [...]. Hbg. 2007 (Register). Jörg Köhler / Red.

Der humanistisch gebildete Geistliche u. Dr. iur. utr. bereiste nach einem Artesstudium in Wien (1501–1507; u. a. bei Georg Tannstetter) den Südosten Europas. Er verkehrte in den Humanistenkreisen Mährens, Ungarns u. Schlesiens u. war freundschaftlich mit Vadian verbunden, wie ein reger Briefwechsel belegt. Zwischen seinen Reisen hielt sich T. häufig im heimatl. Olmütz auf. Über den dort von Bischof Stanislaus Thurzó um Augustinus Moravus versammelten Humanistenkreis berichtet T. im Index seiner Stauromachia, id est cruciatorum servile bellum (Wien 1519). 1511 trat T. in die Dienste von Kardinal Tauschinski, Oskar Jan, * 8.6.1914 ZˇaThomas Bakócz, dem Erzbischof von Gran bokruki/Ostgalizien, † 14.8.1993 Wien. – (Esztergom), der zum Kreuzzug gegen die Romancier, Essayist, Jugendbuchautor, Türken aufrief, obwohl Ungarn kaum in der Übersetzer. Lage war, einen Krieg zu führen. Damit pro- Als Sohn eines Gutsbesitzers wuchs T. zweivozierte er den sog. Kreuzer- (ungarisch: sprachig auf. Er verbrachte die ersten LeKurutzen-) Krieg. Das überwiegend aus Bau- bensjahre in Wien u. lebte anschließend teils ern bestehende Kreuzfahrerheer erhob sich auf dem galiz. Gut, teils in Lemberg. In gegen den verhassten Adel, der den Aufstand Danzig besuchte er ein dt., später ein poln. blutig niederschlug. Gymnasium. Seit 1933 studierte er in Wien T. verfasste die Stauromachia (»Kreuzer- Welthandel u. kam durch Alma Johanna krieg«) in lat. Hexametern auf Anregung des Koenig mit literar. Kreisen in Kontakt. Als Bruders von Stanislaus Thurzó, Johann, Bi- poln. Staatsangehöriger musste T. 1938 in schof von Breslau. Er schildert den Krieg de- Graudenz einrücken, geriet in dt. Kriegsgetailgenau u. zeigt kenntnisreich u. distan- fangenschaft u. wurde 1940 nach Wien entziert-kritisch seine Hintergründe. Die Philo- lassen. logie des 19. Jh. fällte ein vernichtendes Urteil Nach dem Krieg arbeitete er als Keramiker, über den literar. Wert des Werks, das zwar war Herausgeber (A. J. Koenig, Helene Lahr, antiken lat. Vorbildern (Lucan) folgt, ohne Marlen Haushofer, Alfred Grünewald), jedoch deren stilistische Klarheit u. strengen Schriftsteller u. Übersetzer. 1952–1979 arAufbau zu besitzen. Mehr als die Hälfte aller beitete er im Österreichischen Buchklub der Verse entnahm T. den Werken antiker Auto- Jugend. Für seine Kinder- u. Jugendbücher ren. – Erst 1519 konnte T. die Arbeit an sei- wurde er mehrfach ausgezeichnet. T.s Werk nem Buch in Weißenburg/Siebenbürgen ist von Pazifismus u. Toleranz geprägt. In der (Alba Iulia) abschließen, wohin er 1517 als Novelle Sakrileg (1959. Bln./DDR. 1983. Wien/ Generalvikar u. Weihbischof berufen worden Mchn. 1990) um einen mittelalterl. Bildwar. schnitzer wird das Drama des künstlerischen Ausgaben: Stauromachia [...]. Wien 1519. In- Strebens nach dem vollkommenen Werk ternet-Ed. in: VD 16. – Dass. Hg. Ladislaus Juhász. dargestellt. Budapest 1944 (krit. Ausg.). Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Edgar Liebich: S. T. u. seine Stauromachia. Diss. Innsbr. 1952. – Franz Babinger: Der mähr. Hu-

Weitere Werke: Kinder- und Jugendbücher: Wer ist diese Frau? Recklinghausen 1955. Mchn. 1991. – Die Liebenden sind stärker. Ein Suttner-Roman. Wien/Mchn. 1962. – Der Jüngling im Baumstamm.

Tavel Märchen u. Volkssagen aus Polen. Illustr. v. Frizzi Weidner. Ebd. 1969. – Der Spiegel im Brunnen. Alte Gesch.n, erzählt von denen, die sie erlebt haben. Ebd. 1974. – Die bunten Flügel. Sieben Operngesch.n [...]. Ebd. 1979. – Romane, Erzählungen: Talmi. Icking/Mchn. 1963. – Zwielichtige Gesch.n. Wien 1957. – Die Variation. Ebd. 1973. Literatur: Edmund Rosner: Poln. Motive bei O. J. T. In: Österr.-poln. literar. Nachbarschaft. Hg. Huberta Orl/owskiego. Posnán 1979, S. 113–116. – Krzysztof A. Kuczyn´ski: Danzig im Leben u. Schaffen des österr. Schriftstellers O. J. T. In: 1000 Jahre Danzig in der dt. Lit. Hg. Marek Jaroszewski. Danzig 1998, S. 213–219. – Ders.: Im Banne einer schöpfer. Freundschaft. Zu Stefan H. Kaszyn´skis wiss. Interesse am Leben u. Schaffen des österr. Schriftstellers O. J. T. In: Labyrinthe der Erinnerung. Hg. Joanna Drynda u. a. Posen 2006, S. 17–24. – Evelyne Polt-Heinzl: O. J. T. (1914–1993). In: LuK (2007), H. 413/414, S. 99–110. Elisabeth Schawerda / Red.

Tavel, Rudolf von, * 21.12.1866 Bern, † 18.10.1934 Bern; Grabstätte: ebd., Schosshaldenfriedhof. – Erzähler, Dramatiker. Der Sohn eines Burgerratsschreibers u. Großrats wuchs in der Welt des Berner Stadtpatriziats auf, wollte nach der Matura zunächst Berufsoffizier werden, studierte dann aber in Lausanne, Leipzig u. Berlin Jurisprudenz u. wurde 1891 in Heidelberg zum Dr. iur. promoviert. Nach Bern zurückgekehrt, war er 1891–1916 Redakteur des konservativen »Berner Tagblatts«, um danach als freier Schriftsteller zu leben. T., der in verschiedenen kulturellen u. sozialen Institutionen seiner Vaterstadt eine wichtige Rolle spielte, war auch Mitbegründer u. Redakteur der religiösen Zeitschrift »Die Garbe«. Mit dem Trauerspiel Major Davel (Bern 1892) u. den Schauspielen Johannes Steiger (ebd. 1892) u. Der Twingherrenstreit (ebd. 1899) versuchte sich T. zunächst auf hochdeutsch als dramat. Gestalter der bernischen Geschichte, ehe er mit Jä gäll, so geit’s. E luschtigi Gschicht us truuriger Zyt (ebd. 1901) einen spektakulären Durchbruch als histor. Erzähler im mit zahlreichen frz. Ausdrücken durchsetzten patriz. Stadtberner Dialekt erlebte. Durch den Erfolg der um 1798 angesiedelten, das patriz. Milieu

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des alten Bern witzig spiegelnden Novelle angespornt, gestaltete T. in den folgenden Jahren in 13 weiteren mundartl. Erzählungen u. Romanen – gelegentl. hochdt. Publikationen sind von marginaler Bedeutung – anhand markanter erfundener u. histor. Figuren auf verklärende, gemütvoll-behagliche, religiösmoralisierende, niemals aber humorlose Art u. Weise Epochen der bernischen Geschichte. Die Novellen Der Houpme Lombach (ebd. 1903) u. Götti und Gotteli (ebd. 1906) führen Jä gäll, so geit’s in lockerer Form weiter, behandeln die Zeit zwischen 1798 u. 1835 u. sind durch die Gestalt des weltklugen Bethli Vilbrecht miteinander verknüpft. In die Zeit des Ancien régime u. der Helvetik gehören auch der Erziehungsroman Ds verlorne Lied (ebd. 1926), die patriotischen Romane D’ Haselmuus (ebd. 1922) u. Unspunne (ebd. 1924) sowie die Geschichte der unbeirrbaren Bäuerin Annemarie Sunnefroh, Der Donnergueg (ebd. 1916), während die Familiengeschichte des Oberst Wendschatz (Der Schtärn vo Buebebärg. Ebd. 1907. D’ Frou Kätheli und ihri Buebe. 2 Bde., ebd. 1910) u. der Täuferroman Der Frondeur (ebd. 1929) zwischen 1653 (Bauernkrieg) u. 1712 (2. Schlacht bei Villmergen) einzuordnen sind. In die Zeit der Reformation führen die um die Gestalt Niklaus Manuels kreisenden Bände Gueti Gschpane (ebd. 1912) u. Meischter und Ritter (ebd. 1933). Abgesehen vom lebensvollen, in der Jugendzeit des Verfassers spielenden Roman Veteranezyt (ebd. 1927) ist T.s bedeutsamste Leistung wohl der Bubenbergroman Ring i der Chetti (ebd. 1931). Dessen Vorabdruck in der »Neuen Zürcher Zeitung« belegt augenfällig, wie sehr T. zumindest zu Lebzeiten trotz Dialekt u. lokaler Thematik über Bern hinaus Beachtung fand. T.s Nachlass befindet sich in der Burgerbibliothek, Bern. Ausgaben: Sämtl. Werke in Einzelausg.n. Bern 1975 ff. Literatur: Hugo Marti: R. v. T. Leben u. Werk. Bern 1935. Zuletzt ebd. 1984. – Werner Günther: R. v. T. In: Dichter der neueren Schweiz 1. Ebd. 1963, S. 331–383. – Michael Stettler u. a.: R. v. T. 1866–1934. Ebd. 1984. – Stiftung R. v. T. (Hg.): Uf d Liebi chunnt’s alleini a. Mit R. v. T in das 18. Jh. Fotografien v. Jürg Bernhardt. Muri bei Bern 2007 (mit Bibliogr. u. Audio-CD). Charles Linsmayer

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Tawada, Yo¯ko, * 23.3.1960 Tokio. – Erzählerin, Dramatikerin, Prosa- u. Hörspielautorin, Essayistin, Lyrikerin. Die Tochter eines Buchhändlers studierte russ. Literatur in Japan u. Germanistik u. Romanistik in Hamburg, wo sie seit 1982 lebte (seit 2006 in Berlin). Sie wurde 1998 in Zürich mit einer Arbeit über Spielzeug und Sprachmagie in der europäischen Literatur. Eine ethnologische Poetologie (Tüb. 2000) promoviert u. begann zunächst auf Japanisch, dann auch auf Deutsch zu schreiben. Seit 1986 veröffentlicht T. Lyrik, poetische Prosa, Romane, Theaterstücke u. Essays in dt. u. japanischer Sprache, teilweise zweisprachig oder in Übersetzung. Sie erhielt zahlreiche Literaturpreise in Deutschland (Chamisso-Preis 1996, Goethe-Medaille 2005) u. Japan sowie Stipendien, Einladungen von Universitäten usw. T. ist in beiden Ländern mit recht unterschiedl. Werken u. besonderem Status als ›fremde‹ Autorin akzeptiert u. wurde in verschiedene weitere Sprachen übersetzt. Ihr literar. Schreiben, das weniger zur Migranten- u. Minderheitenliteratur als zu einer Internationale der modernen transkulturellen, mehrsprachigen Literatur gehört, entspringt der (freiwilligen) doppelten Erfahrung zweier gleichberechtigter, einander sehr fremder Kulturen u. Sprachen, die sich in einem ständigen Experiment u. einem permanenten Übersetzungsprozess »durchdringen und zu einem außerordentlich komplexen Webmuster vereinigen« (Kloepfer/Matsunaga 2000 in KLG). Nur da wo du bist da ist nichts (1987), die erste Veröffentlichung (im Tübinger konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, wo fast alle dt. Texte erschienen), stellt japanische Gedichte u. Prosa neben die Übersetzungen des Japanologen Peter Pörtner. T. thematisiert v. a. die isolierte Ausgangsposition in der neuen Sprache etwa als Absturz und Wiedergeburt. Die (meist japanisch geschriebenen) Texte in Wo Europa anfängt (Tüb. 1991) wirken noch surrealer in Wörtern, Sätzen, kontingenten Einfällen u. Motiven. Ähnlich wird in Aber die Mandarinen müssen heute Abend noch geraubt werden (Tüb. 1997) mit Wortassoziationen, Anklängen im Japanischen, mit dem Wör-

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terbuch u. mit Lücken in der Sprache gearbeitet. Der frühe Text Wo Europa anfängt (dt. 1988, in: Wo Europa anfängt, S. 65–87) thematisiert T.s Reise im Jahr 1979 mit der transsibir. Eisenbahn von Japan über Moskau nach Deutschland, bei der die Erzählerin offenbar mühelos alle geografischen u. kulturellen Grenzen überschreitet u. in einer postmodernen Collage frühere u. spätere Aufzeichnungen, Märchen, Mythen, Träume, Erinnerungen, poetolog. u. kulturelle Reflexionen verbindet. Daneben wird in späteren Texten die Fremde auch negativ als Sprachverlust, als Verlust der Zunge oder als Identitätsdiffusion u. Sprachlosigkeit erlebt. Besonders Übersetzerfiguren sehen sich an die Grenze der Sprache gedrängt u. der fremden Sprache ausgesetzt, etwa in Das Bad (Tüb. 1989, aus dem Japanischen). Schon die Körperlichkeit der fremden Sprache kann störend in Körper u. Kopf eindringen wie in Ein Gast (Tüb. 1993), wo die weibl. Stimme eines Hörbuchs der Ich-Erzählerin nicht mehr aus dem Ohr geht u. von ihr Besitz nimmt. In der späteren Erzählung Das nackte Auge (Tüb. 2004) kommt ein junges Mädchen aus dem kommunistischen Vietnam noch vor der Wende über Ostberlin unversehens nach Westdeutschland u. dann für längere Zeit nach Paris. Die Illegalität u. die Sprachlosigkeit im fremden Land machen das Leben zwischen den Sprachen u. Kulturen zu einer hilflosen u. passiven, alptraumhaften Außenseiterexistenz, in der nur die identifikatorische Kommunikation mit einer bewunderten Filmschauspielerin (Cathérine Deneuve) über das (künstliche) Medium des (Spiel-)Films den trostlosen Alltag überdeckt. Die fremden Sprachen bleiben hier eine Barriere u. öffnen kein positives u. reicheres »Dazwischen«. Der doppelte Blick von innen u. außen auf die fremde (u. eigene) Welt wie in den literar. Essays von Talisman (Tüb. 1996) führt weit über die Sprache u. Literatur hinaus in eine »ethnologische Poetologie« u. »literarische Ethnologie«: »Europa gibt es nicht«, so wenig wie Japan ohne ethn. Brille. In der spielerischen Auflösung u. Übersetzung der Sprache u. ihres kulturellen Kontexts nach beiden Seiten wird von T. ein relativiertes

Tawada

Europabild u. im Blick auf Japan ein »eurodezentristischer Exotismus« (A. Krauß) entfaltet. Sie etabliert eine Literatur der transkulturellen Postmoderne, die keine nationale Identität mehr benötigt. Die japanische Welt ist am deutlichsten gegenwärtig in den drei aus dem Japanischen übersetzten, teils volkstümlich-märchenartigen Geschichten in Tintenfisch auf Reisen (Tüb. 1994). Die Unterschiede u. die Fremdheit zwischen den Sprachen sind Ausgangspunkt für T.s transkulturelles Schreiben, das sie in einem japanischen Essay als Exophonie. Reisen aus der Muttersprache hinaus (2003) beschreibt. Die Tübinger Poetik-Vorlesungen Verwandlungen (Tüb. 1989) entwickelten eine Ästhetik der Übersetzung. Die fremde Stimme erscheint ihr wie eine »Vogelsprache«, die sie als »ein Ornithologe und Vogel in einer Person« (S. 22) abzubilden versucht, die fremde Schrift zunächst wie eine undurchdringl. Wand bedeutungsloser Buchstaben oder auch wie »unfaßbare Phantasietiere« (vgl. Zungentanz. In: Überseezungen. Tüb. 2002). Die eigentlich unmögl. Übersetzung lässt den Leser »die Existenz einer ganz anderen Sprache spüren« (S. 35), eines Urtextes in »der Sprache, die es nicht gibt«, die auch als die Sprache der Dinge, des Traums, der Geister u. der Toten erscheint (vgl. Erzähler ohne Seelen, der Klang der Geister. In: Talisman. Tüb. 1996; Tabula rasa. Karlsr. 1994). T. versteht den literar. Autor nicht als »Schöpfer« u. Autorität, sondern bevorzugt den japanischen Begriff »Schreiber von Dingen«, die faszinieren, die man freilegt u. zu Wort kommen lässt. Man kann deshalb sogar die eigene Existenz als Autor leugnen: Tawada Yo¯ko Does Not Exist (in: Yo¯ko Tawada – Voices from Everywhere. Hg. Doug Staymaker. Lanham 2007). Aus der Unübersetzbarkeit u. der Kluft zwischen den Sprachen wie zwischen der Sprache u. den Dingen leitet die Autorin, die sich dauernd an u. über Grenzen zwischen Sprachen, Außen u. Innen, Alltag, Fantasie u. Träumen bewegt, ihre Ästhetik der Verwandlung u. des Übergangs, der ständigen Mobilität u. Entgrenzung, der heterogenen Vielfalt u. Mehrsprachigkeit ab, die eine grenzenlose Verwandelbarkeit des eigenen Ichs u. der Welt voraussetzt.

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T.s Schreiben wird damit zum Zungentanz (in: Überseezungen. 2002), zum freien, fantastisch-surrealen Spiel mit den Unterschieden u. Ähnlichkeiten der Sprachen, den unterschiedl. Bedeutungsfeldern oder der (wörtlich genommenen) Bildlichkeit u. Metaphorik, den assoziativen Wortbedeutungen aus dem »inneren Wörterbuch«. Ähnlich den frühen Gedichten ist in Talisman (1996) japanisch u. deutsch ein irreales, aus einem Wörterbuch entstandenes Wörterbuchdorf gestaltet, vergleichbar dem deutsch-japanischen Prosagedicht 13 (Gotha 1998). Der späte Gedichtband Abenteuer der deutschen Grammatik (Tüb. 2010) u. die Essays in Sprachpolizei und Spielpolyglotte (Tüb. 2007) setzten auf vielfältige Art polyglotte Sprachspiele gegen die starren Regeln der dt. Grammatik. T.s vom japanischen Theater ebenso wie von der westl. Moderne beieinflusste (u. meist von der japanischen Theatergruppe Lasenkan, Berlin, aufgeführte) experimentelle Theater- u. Sprechstücke wie Die Kranichmaske die bei Nacht strahlt (Urauff. Graz 1993; Buch: Tüb. 1994), Wie der Wind im Ei (Urauff. Graz 1997; Buch: Tüb. 1997), Orpheus oder Izanagi und Till (Urauff. Hann. 1998), Sancho Pansa (in: Ivanovic 2010, S. 17–56) oder Pulverschrift Berlin (Urauff. Bln. 2006) sind moderne postdramatische, teils surreal-fantastische Sprechtexte. Sie spielen mit der Auflösung u. Vervielfältigung von Figuren u. Identitäten sowie mit (mythologischen) Verwandlungen. Neben bekannten literar. Figuren lassen sie auch Geister u. Tote zur Sprache kommen. In Opium für Ovid. Ein Kopfkissenbuch von 22 Frauen (Tüb. 2000) werden Ovids Metamorphosen in spielerisch-parodierendem Zitat u. freier Überschreibung, in einer Vervielfältigung der Bedeutungen u. des fluktuierenden Sinns zum Ausgangspunkt für aktualisierte Verwandlungsgeschichten von Frauen unterschiedlichster Aktivitäten u. Charaktere aus dem Hamburger Alltag. Meist verweisen nur noch vereinzelte Züge der Figuren oder iron. Anspielungen auf die mytholog. Vorlagen wie bei Leda, die als ältere Frau mit gelähmten Armen oder Flügeln lediglich im Rausch noch zu einer Verwandlung kommt, oder bei dem verschlafenen Mädchen Salmacis u. der ero-

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Tegernseer Liebesbriefe

tisch aktiven Iphis, die bei Ovid das Ge- Tegernseer Liebesbriefe. – Sammlung schlecht wechseln u. nun für gegenwärtige von Liebes- u. Freundschaftsbriefen in erot. u. homoerot. Erfahrungen u. Verhält- lateinischer bzw. lateinisch-deutscher nisse von Frauen stehen. Dabei geht es nicht (»maccaronischer«) Reimprosa, zweite um ein zentrales Verwandlungserlebnis wie Hälfte des 12. Jh. im Mythos, sondern um vielfältige Formen Die insg. elf in einer Tegernseer Sammelständiger Verwandlungen u. Übergänge. Der »Roman« Schwager in Bordeaux (Tüb. handschrift der Zeit vor 1179/86 (Bayer. 2008) setzt sich als moderne (durch japani- Staatsbibl. München, cgm 19411) überliefersche Ideogramme gegliederte) Collage aus ten Briefe (Bestand u. Zählung im Folgenden Beobachtungen, Erinnerungen u. Reflexio- nach Plechl 2002; Abweichungen bei Kühnel nen der Icherzählerin auf einer Bahnreise von 1977) lassen sich in zwei Gruppen einteilen, Hamburg nach Bordeaux zusammen, wo die die sich auch an verschiedenen Stellen der finden. Bei den Briefen 1 bis 8 (f. junge Japanerin Yuna im Haus von Maurice, Handschrift ra ra 69 -70 ) handelt es sich, entsprechend dem dem Schwager ihrer Hamburger Freundin ›ars-dictaminis‹-Programm, dem sich die geRenée Urlaub machen u. Französisch lernen will. In der Erinnerung tauchen Freundinnen samte Handschrift unterordnet, vermutlich u. Bekannte in Geschichten aus Hamburg auf, um eine kleinere Sammlung von Mustererweitert durch Reflexionen über Sprache u. briefen unbestimmter Entstehungszeit u. Leben, die Kraft von Häusern, das Reisen, das Provenienz. In den Briefen 1 u. 2 (Kühnel: I.1 Meer u. weitere typische Themen der Auto- u. I.2) beklagen sich die Verfasserinnen bei den Adressaten über Trennung u. Entfremrin. T.s in zwei Sprachen recht unterschiedlich dung. Die Briefe 3 u. 4 (II.1 u. II.2) enthalten angelegtes literar. Werk ist trotz gemeinsa- Auszüge aus dem Briefwechsel eines Magismer Erfahrungen von Deterritorialisierung, ters mit einer Schülerin, die sich entschieden Sprachwechsel oder Hybridisierung nicht in gegen das Liebeswerben des Lehrers wendet. die dt. Migranten- oder Minderheitenlitera- Unter Freundinnen werden die drei thematur »einzuordnen«; von einer hybriden post- tisch mit den Briefen 1 u. 2 verwandten Briefe kolonialen Literatur unterscheidet sie die 6 bis 8 (III.1–4) ausgetauscht. Brief 5 stellt die Herkunft von einer gleichberechtigten, nicht Ergebenheitsadresse eines Schülers an seinen unterprivilegierten kolonisierten Sprache u. geistl. Vater dar, verbunden mit der Bitte um Literatur. Angesichts des Abstands zu den Protektion eines Verwandten. Dieser Brief ständig gegenwärtigen kulturellen u. literar. fehlt aus inhaltl. Gründen in den älteren Traditionen Japans wäre sie aber auch der Ausgaben (einschließlich Kühnel 1977), die Ästhetik der europ. Postmoderne nicht voll- ihrerseits Brief 7 in zwei Briefe (III.2/4) aufständig zuzurechnen, eher einer Neuen teilen. Die umfangreicheren u. vermutlich vab va Weltliteratur im Zeitalter der Globalisierung. jüngeren Briefe 9 (f. 100 ) u. 10/11 (f. 113 vb Literatur: Peter Pörtner: Y. T. In: LGL. – Al- 114 ) könnten »zur Expedierung bebrecht Kloepfer u. Miho Matsunaga: Y. T. In: KLG. stimmt[e]« Originalbriefe sein, entstanden in – Christine Ivanovic (Hg.): Y. T. Poetik der Trans- Tegernsee u. angeregt durch die Briefe 3 u. 4 formation. Beiträge zum Gesamtwerk. Tüb. 2010 (Plechl 2002, S. XVI). Sie lassen sich als Aus(mit Werkverz., auch der japan. Veröffentlichun- zug aus dem Briefwechsel einer Dame u. eines gen). – Y. T. Mchn. 2011 (Text + Kritik. H. 191/192). Magisters klassifizieren. In Brief 10 (Kühnel: Karl Esselborn IV.1) reagiert die Dame auf einen Brief, in dem der Magister offensichtlich ihre Treue bezweifelt u. sie vor ritterl. Nebenbuhlern (»milites«) gewarnt hat; sie bekennt sich zu wahrer Freundschaft, beteuert ihre Treue, betont aber, dass die höf. Sitte (»curialitas«) der »milites« Quelle gesellschaftl. Ansehens sei. In dt. Sprache steht am Ende das be-

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rühmte Treuebekenntnis: »Du bist min. ich (1982), S. 104–121. – Franz Josef Worstbrock: T. L. bin din. des solt du gewis sin. du bist bes- In: VL. Jürgen Kühnel lossen in minem herzen. verlorn ist daz sluzzelin. du mvost och immer dar inne sin«. Tegernseer Ludus de Antichristo. – Brief 11 (IV.2; Schluss verstümmelt überlie- Lateinisches Versdrama, 50er Jahre 12. Jh. fert) bringt die Enttäuschung des Magisters zum Ausdruck, dass es trotz aller Bekennt- Autor u. Auftraggeber des T. L. d. A. sind nisse der Dame bisher bei Worten geblieben nicht bekannt, doch geben Überlieferung u. sei; eine »fides« ohne Werke aber sei »tot«. In Nachwirkung zumindest Anhaltspunkte für Brief 9 (IV.3; gesondert überliefert; Schluss Entstehungszeit u. -ort: Die einzige Handwiederum in dt. Sprache) weist die Dame die schrift, die das gesamte Spiel überliefert, Direktheit des Magisters zurück, versichert stammt aus der oberbayerischen Benediktiihm aber gleichzeitig, er sei ihr »liep«. The- nerabtei Tegernsee (München, Bayerische matisch gehören die Briefe 9 bis 11 in das Staatsbibl., clm 19411; der T. L. d. A.-Teil Vorfeld der höf. Literatur; sie sind ein Zeug- geschrieben um 1180), u. auch der zweite nis der durch Konkurrenz u. ›Dialogizität‹ Textzeuge, der allerdings nur die ersten 66 bestimmten Beziehungen zwischen geistl. u. Verse enthält, kommt aus der selben Gegend weltl. Kultur u. entsprechend konkurrieren- (Abtei Fiecht, St. Georgenberg, Cod. 169, Eintrag um 1200). In Süddeutschland finden der Liebeskonzeptionen in der 2. Hälfte des sich auch die bescheidenen Spuren einer Re12. Jh. Ein bes. Problem stellen die Schlusszeption des T. L. d. A.: 24 seiner Verse wurden zeilen des kunstvollen (versifizierte Abin das Benediktbeurer Weihnachtsspiel aufgeschnitte neben Reimprosa) Briefs 10 dar, die, nommen, u. Reflexe des Dramas lassen sich in seit sie unter die Anonyma von Des Minnesangs den Dichtungen des Metellus von Tegernsee Frühling aufgenommen wurden, als ›ältestes erkennen. Einen Hinweis auf Aufführungen Liebesgedicht in dt. Sprache‹ kursieren. Sie des T. L. d. A. bietet möglicherweise Gerhoh stellen wohl weder ein selbstständiges Lied von Reichersberg, der sich 1160/61 über die dar, noch zitieren sie eine ›alte dt. Rechts- Entweihung von Gotteshäusern durch Spiele formel bei Verlobungen‹; sie müssen im erregt, in denen die Figur des Antichrist Kontext des Briefs verstanden werden, dessen auftrete (De investigatione Antichristi, 1,5). Die Gedanken sie – in dt. Reimprosa (Kühnel; sich abzeichnende Wirkung des T. L. d. A. im entsprechend auch die Wiedergabe in der bairisch.-österr. Raum legt die Annahme eiAusg. durch Plechl) – abschließend in äu- ner Entstehung in diesem Gebiet, vielleicht in ßerster Prägnanz u. Bildlichkeit (Topos vom Tegernsee selbst (Bauerreiß), nahe; Letzteres Herzensschlüssel) zusammenfassen (Ohly). muss freilich eine ansprechende Vermutung Ausgaben (mit vollst. Bibliografie): ›Dû bist mîn. bleiben, zumal der clm 19411 nicht das Oriih bin dîn‹. Die lat. Liebes- (u. Freundschafts-)Briefe ginal ist (Lücken, Textverderbnisse). Termides cgm 19411. Abb.en, Text u. Übers. Hg. Jürgen nus ante quem für die Abfassung ist 1180; Kühnel. Göpp. 1977. – Die Tegernseer Brief- zeitgeschichtliche Entsprechungen u. ideensammlung des 12. Jh. Hg. Helmut Plechl unter geschichtl. Analogien (Rauh 1988) sprechen Mitarbeit v. Werner Bergmann. Hann. 2002 (MGH für eine Entstehung in den 50er Jahren des Epp. Die Briefe der dt. Kaiserzeit 8), S. XV/XVI, 12. Jh. 345–366. Der T. L. d. A. (414 Verse) dramatisiert das Literatur: Hennig Brinkmann: EntstehungsThema von der Weltherrschft des Antichrist, gesch. des Minnesangs. Halle 1926. – Friedrich die nach 1 Joh 2,18, 4,3 u. 2 Thess 2,3–12 am Ohly: Du bist mein, ich bin dein. In: FS Werner Schröder. Bln. 1974, S. 371–415. – Ernstpeter Ende der Zeiten als letzte Prüfung der GläuRuhe: De amasio ad amasiam. Zur Gattungsgesch. bigen der Wiederkunft Christi vorausgeht. des mittelalterl. Liebesbriefes. Mchn. 1975, S. 89 f. Die knappen Andeutungen der Bibel wurden – Hugo Stopp: Du bist min. In: Sprachwiss. 6 im MA zu Legenden ausgebaut, von denen (1981), S. 125–141. – Dieter Schaller: Zur Textkri- die des Adso von Montier-en-Der (De ortu et tik u. Beurteilung der sog. T. L. In: ZfdPh 101 tempore Antichristi, 949/54) die stärkste Wir-

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kung ausübte; sie ist, angereichert durch sybillin. Material (Kahl), denn auch die wichtigste Quelle des T. L. d. A.-Autors. Nach Adso wird der Antichrist zunächst durch den letzten christl. Herrscher aufgehalten, der das Imperium Romanum nochmals eint. Nachdem er aber, auf seine Herrschaft verzichtend, seine Krone auf dem Altar des Tempels in Jerusalem niedergelegt hat, bringt der Antichrist, unterstützt von Satan, die Menschen in seine Gewalt. Im Augenblick seines vermeintl. Triumphes wird er jedoch durch das göttl. Strafgericht vernichtet. Von diesen Vorstellungen ausgehend, entwickelt der Autor des T. L. d. A. ein zweiteiliges Drama, in dessen erstem »Akt« der dt. Kaiser im Mittelpunkt steht, während der zweite vom Antichrist beherrscht wird. Beide Teile sind weitgehend parallel gebaut (schemat. Darstellung bei Kahl, S. 108). Dieser planvolle Bau steht in wirkungsvollem Kontrast zur antithet. Aussage. Denn es geht zwar in beiden Teilen um die Restituierung bzw. Gewinnung von Macht, doch wird diese auf gänzlich unterschiedl. Weise erlangt. Der Kaiser stellt die alte Größe des Imperiums unter dem Hinweis auf ererbte Rechtsansprüche wieder her u. auch durch den Beweis seiner herrscherl. Befähigung, den er als Verteidiger des Glaubens in einem als Kreuzzug stilisierten Heidenkampf erbringt. Er entspricht damit dem Ideal des frommen u. gerechten Herrschers (rex pius et iustus). Ihm wird im Antichrist der Gewaltherrscher (rex tyrannus) gegenüber gestellt, der seine Macht durch Schmeichelei, Bestechung, Gewaltanwendung u. Betrug aufrichtet. Und während der Kaiser auf dem Gipfel seiner Macht diese demütig dem zurück gibt, »durch den die Herrscher herrschen« (»per quem reges regnant«, v. 149), genießt der Antichrist, als er sich am Ziel seiner Wünsche glaubt, selbstherrlich seine scheinbare Allmacht. Damit freilich enden die Parallelen, denn den Schluss bildet, sich ankündigend in der Wiederkehr der Propheten Elias u. Enoch, die die Synagoge bekehren, das göttl. Gericht. Der Antichrist wird vernichtet u. die Kirche erscheint in ihrer Vollendung. In dieses Endzeitspiel sind Elemente der Zeitgeschichte eingegangen, die, wenn auch

Tegernseer Ludus de Antichristo

im Einzelnen unterschiedlich beurteilt, doch auf die frühe Barbarossa-Zeit weisen (Hervorhebung des nationalen Aspekts, kaiserl. Weltherrschaftsanspruch, indirekte Stellungnahme für die alten reichskirchl. Verhältnisse, Anklänge an Formulierungen der kaiserl. Politik wie »Erneuerung« bzw. »Ehre des Reiches« [»renovatio« bzw. »honor imperii«]). Dies macht den T. L. d. A. nicht zu einer »staufischen Dichtung«. Doch bleibt die Beobachtung bedenkenswert, dass das Drama in einer historisch-polit. Situation geschrieben wurde, in der die »Reichsmetaphysik gerade noch im Einklang mit dem politischen Anspruch des Imperiums und seinen geschichtlichen Möglichkeiten stand« (Rauh, 1973, S. 414). Der Aufbau des T. L. d. A. ist in seiner parallelen Gestaltung der beiden Teile von übersichtl. Klarheit. Dem strengen Bau entspricht die stoffl. Beschränkung (Verzicht auf die mit der Vitenform Adsos gegebenen »biografischen« Züge im Bild des Antichrist u. auf die Vergegenwärtigung endzeitl. Schrecken). Die in der Regel paarig gereimten, akzentrhythm. Verse des T. L. d. A. stehen im Dienst der dramat. Wirkung. So werden etwa die Gestalten der Heidenschaft, Synagoge u. Ecclesia (erstes bekanntes Auftreten von allegor. Figuren im mittelalterl. Drama) durch stroph. Formen, die Propheten u. die bekehrte Synagoge durch je eigene Versmaße (Elf- u. Vierzehnsilber) charakterisiert u. von den übrigen Personen, die den Dreizehnsilber verwenden, abgehoben. Die Sprache des T. L. d. A. bedient sich des »einfachen Stils«, vermittelt jedoch den Eindruck getragener Feierlichkeit. Ihr Pathos beruht im ersten Teil v. a. auf der Wiederholung zeremonieller Formeln in den Belehnungsszenen, im zweiten v. a. auf den zahlreichen Bibelzitaten. Doch entfaltet der T. L. d. A. seine volle Wirkung nicht als Lesedrama, sondern erst in der szen. Realisation. Dass das Stück zur Aufführung bestimmt war, zeigen die den gesprochenen Partien vorgeschalteten Regieanweisungen, die nicht nur genaue Angaben für die Ausgestaltung der Bühne u. die Kostümierung der Spieler enthalten, sondern auch die Bewegungsabläufe festlegen. Die Bühne des T. L. d. A. ist ein symbo-

Telemann

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lischer »Erdkreis«, definiert durch eine Geo- (De Finibus Saeculorum) als Zeugnis frühstaufergrafie, die ebenso Kreuzzugsrealität wie zeitl. Gegenwartskritik. In: Mediaevistik 4 (1991), eschatolog. Vorstellungen (Jerusalem im S. 53–148. – Gisela Vollmann-Profe: T. L. d. A. In: Kampf mit Babylon) evoziert. In dieser Büh- VL (Lit.). Gisela Vollmann-Profe nen»welt« ist das Spielgeschehen so organisiert, dass die Bewegugen der Akteure in ihrer Telemann, Georg Philipp, * 14.3.1681 Bedeutung anschaulich gemacht werden. Magdeburg, † 25.6.1767 Hamburg. – Während im ersten Teil alle Aktionen vom Komponist, Lyriker. kaiserl. Thron ausgehen, gilt Gleiches im zweiten Teil für das vom Antichrist usur- T. studierte ab Herbst 1701 in Leipzig Jura pierte Jerusalem. Nimmt man noch den Ein- (bei Otto Mencke), Rhetorik u. Philosophie. druck der (bis auf wenige Noten in der Te- 1702 übernahm der musikal. Autodidakt hier gernseer Handschrift) verlorenen Musik so- die Leitung der Oper u. gründete das Collewie die Symbolik der Kostüme u. Gesten gium musicum, 1704 wurde er Organist u. hinzu, vermag man sich in etwa die sugg- Musikdirektor an der Neukirche. Als Hofkagestive Wirkung des Spiels auf die zeitgenöss. pellmeister bei Erdmann Graf Promnitz seit Zuschauer vorzustellen, denen hier ein Bild 1705 in Sorau (heute: Zary/Niederlausitz), ihrer Welt u. ihres Ortes in der auf das Ende unternahm er Reisen nach Pleß (heute: Pszcder Zeit ausgerichteten Heilsgeschichte vor zyna)/Oberschlesien u. Krakau. (Erst) 1707 stand T. in herzoglich Eisenachischen DiensAugen geführt wurde. Ausgaben: Wilhelm Meyer: Der L. d. A. u. über ten, 1712 wurde er in Frankfurt/M. Kapelldie lat. Rhythmen. In: Ders.: Abh.en zur mlat. meister u. Kirchenmusikdirektor, 1721 in Rhythmik. Bd. 1, Bln. 1905, S. 150–170. – L. d. A. Hamburg Kantor am Johanneum u. MusikLat. u. Dt. Hg. Rolf Engelsing. Stgt. 21976. – L. d. A. direktor der fünf Hauptkirchen. 1722–1728 Hg. Gisela Vollmann-Profe. Göpp. 1981 (Faks. des oblag ihm auch die musikal. Leitung der clm. 19411. Transkription, Text u. Übers.). – Gänsemarktoper. T. heiratete 1709 Amalia Komm. v. Gerhard Günther. Hbg. o. J. [1970]. Louise Juliane Eberlin († 1711), mit der er Literatur: Wilhelm Meyer, a. a. O., S. 136–149, eine Tochter hatte, u. 1714 Maria Catharina 171–339. – Romuald Bauerreiß: Zur Verfasser- Textor (acht Kinder). schaft des ›Spiels vom Antichrist‹. In: Studien u. T. – sein überaus umfangreiches musikal. Mitt.en zur Gesch. des Benediktiner-Ordens u. Werk ist noch nicht vollständig erschlossen – seiner Zweige 62 (1950), S. 222–236. – Karl Hauck: galt den Zeitgenossen als bedeutendster in Zur Genealogie u. Gestalt des stauf. L. d. A. In: Deutschland lebender Komponist. Er verGRM 33 (1951/52), S. 11–26. – Helmut Plechl: Die tonte Dichtungen u. a. von Günther, HageTegernseer Hs. clm 19411. In: Dt. Archiv 18 (1962), S. 418–491. – Josef Riedmann: Ein neuaufgefun- dorn u. Klopstock. Zu seinem literar. Werk denes Bruchstück des ›L. d. A.‹. In: Ztschr. für zählen Libretti seiner (verloren gegangenen) bayer. Landesgesch. 36 (1973), S. 16–38. – Klaus Leipziger Opern, die dt. Bearbeitung von Aichele: Das Antichristdrama des MA, der Refor- Antoine Houdar de la Mottes Omphale (Hbg. mation u. Gegenreformation. Den Haag 1974, 1724) u. der Text seines Passionsoratoriums S. 24–33. – Horst Dieter Rauh: Das Bild des Anti- Seliges Erwägen (ebd. 1728). T., dessen Vertochrist im MA: Von Tyconius zum Dt. Symbolismus. nungen der Naturpoesie seines Freundes u. Münster 21979, S. 365–415. – William T. H. Jack- Förderers Brockes als bes. gelungen gelten, son: Time and Space in the L. d. A. In: GR 54 (1979), steht seinerseits in Gelegenheitsgedichten S. 1–8. – Odilo Engels: Friedrich Barbarossa im (vgl. Christian Friedrich Weichmann: Poesie Urteil seiner Zeitgenossen. In: Ders.: Stauferstudider Nieder-Sachsen. Ebd. 1721–31. Neudr. hg. en. Sigmaringen 1988, S. 225–245, hier S. 232 f. – H. D. Rauh: Eschatologie u. Gesch. im 12. Jh.: v. Jürgen Stenzel. Mchn. 1980) dem Witz u. Antichrist-Typologie als Medium der Gegenwarts- der Moralistik seines häufigsten Textdichters kritik. In: Mediaevalia Lovaniensia Ser. 1, Studia Michael Richey nahe. XV (1988), S. 333–358. – Markus Litz: Theatrum Sacrum u. symbol. Weltsicht. Der stauf. ›L. d. a.‹. Ffm. 1990. – Hans-Dietrich Kahl: Der sog. ›L. d. A.«

Ausgaben: Autobiogr.n 1718. 1729. 1739. Nachdr. hg. v. Eitelfriedrich Thom. Blankenburg/ Harz 1977. 1980. – Dass. Dt.-poln. Red. Januksz

451 Ziembinski. Pszczyna 1994. – Briefw. [...]. Hg. Hans Große u. a. Lpz. 1972. – Der neumod. Liebhaber Damon [...]. Textdr. Oschersleben 1996. – Der geduldige Socrates. Textdr. Vorw. Bernhard Jahn. Ebd. 1998. – Die Last tragende Liebe [...]. Textdr. Ebd. 1998. – Matthäuspassion 1746. Textdr. Ebd. 1998. Literatur: Bibliografien: Werner Menke: Themat. Verz. der Vokalwerke v. G. P. T. 2 Bde., Ffm. 1982/83. 21988–95. – G. P. T. Thematisch-systemat. Verz. seiner Werke. Hg. Martin Ruhnke. 3 Bde., Kassel 1984–99. – Kosch. Bd. 22, Sp. 28–31. – Weitere Titel: Richard Petzoldt: G. P. T. Leben u. Werk. Lpz. 1967. – Karl Grebe: G. P. T. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1970. 102002. – T. u. seine Dichter. Konferenzber. der 6. Magdeburger T.-Festtage. H. 1/2. Magdeb. 1978. – T. u. seine Freunde [...]. H. 1/2. Magdeb. 1984. – HKJL, Bd. 2, Sp. 611–626 u. Register. – Christine Klein: Beiträge zur Gesch. der T.-Rezeption im Zeitraum v. 1767 bis 1907. 2 Bde., Diss. Halle 1992. – Hans Joachim Marx u. Dorothea Schröder: Die Hamburger Gänsemarkt-Oper. Kat. der Textbücher (1678–1748). Laaber 1995, passim. – Klaus-Peter Koch: Der Komponist G. P. T. u. sein schles. Textdichter Daniel Stoppe (1697–1747). In: Aufklärung in Schlesien im europ. Spannungsfeld [...]. Hg. Wojciech Kunicki. Wrocl/aw 1996, S. 161–176. – Gabriele Lautenschläger: G. P. T. In: Bautz. – T.s Auftragsu. Gelegenheitswerke. Funktion, Wert u. Bedeutung. Hg. Wolf Hobohm. Oschersleben 1997. – Dorothea Schröder: Zeitgesch. auf der Opernbühne [...]. Gött. 1998, Register. – Christoph Albrecht: G. P. T. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 1999 (22001), S. 319 f. – Günter Fleischhauer: Zur Adaptierung nationaler Stile durch G. P. T. In: Ständige Konferenz Mitteldt. Barockmusik. Jb. 2000. Hg. Wilhelm Seidel. Eisenach 2001, S. 187–202. – Ralph Häfner: Philolog. Festkultur in Hamburg im ersten Drittel des 18. Jh. Fabricius, Brockes u. T. In: Philologie u. Erkenntnis [...]. Hg. ders. Tüb. 2001, S. 349–378. – Beiträge zur Musikgesch. Hamburgs v. MA bis in die Neuzeit. Hg. H. J. Marx. Ffm. 2001, Register. – G. P. T.s Passionsoratorium ›Seliges Erwägen‹ zwischen luth. Orthodoxie u. Aufklärung. Hg. Martina Falletta u. a. Ffm. 2005. – Hermann Jung: Traditionen u. Wandlungen. Zu G. P. T.s Vertonungen der Leidensgesch. Christi. In: Passion, Affekt u. Leidenschaft in der frühen Neuzeit. Hg. Johann Anselm Steiger. 2 Bde., Wiesb. 2005, Bd. 2, S. 607–624. – Jason B. Grant: The rise of lyricism and the decline of biblical narration in G. P. T.’s ›Lukaspassion‹. In: ebd., Bd. 2, S. 625–637. – Laurenz Lütteken u. Melanie Wald.

Teller In: MGG 2. Aufl. Bd. 16 (Pers.), Sp. 585–674 (umfassendes Lit.-Verz.). – Ute Poetzsch-Seban: Die Kirchenmusik v. G. P. T. u. Erdmann Neumeister [...]. Beeskow 2006. – Helmut Cynthia: G. P. T. In: Braunschweigisches biogr. Lex. 8. bis 18. Jh. Hg. Horst-Rüdiger Jarck u. a. Braunschw. 2006, S. 692 f. – Günter Fleischhauer: Annotationen zu G. P. T. Ausgew. Schr.en. Hg. Carsten Lange. Hildesh. 2007. – T.s Vokalmusik. Über Texte, Formen u. Werke. Hg. Adolf Nowak u. a. Hildesh. 2008. – Jürgen Neubacher: G. P. T.s Hamburger Kirchenmusik u. ihre Aufführungsbedingungen (1721–1767) [...]. Hildesh. 2009. – Michael Mau: Barockoper in Leipzig (1693–1720). 2 Bde., Freib. i. Br. u. a. 2009, passim. Jürgen Rathje / Red.

Teller, Johann Friedrich, * 1736 (oder 1739) Leipzig, † 5.1.1816 Zeitz. – Pastor u. theologischer Schriftsteller. T.s Vater Romanus Teller (1703–1750) wirkte in Leipzig als Pastor, Theologieprofessor u. Inaugurator des sog. Englischen Bibelwerks (Die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments nebst einer vollständigen Erklärung derselben [...]. 19 Bde., Lpz. 1749–70). Er bestimmte T. gemeinsam mit drei Brüdern (darunter Wilhelm Abraham Teller) für das Philosophie- u. Theologiestudium in Leipzig. Dort avancierte T. zum Baccalaureus (1751), Magister der Philosophie (1758) u. Senior der Vesperprediger (1762 Universitätskirche Leipzig); 1773 folgte die theolog. Promotion. Seit 1767 war T. Pastor in Zeitz (1767–1770 Stephanskirche, 1770–1782 Nikolaikirche, 1782–1816 Schlosskirche). Neben Begräbnisreden (u. a. Etwas vom Heroismus [...]. Zeitz 1804) publizierte T. Predigtsammlungen (u. a. Predigten. 2 Tle., Lpz. 1770 u. 1774. Erklärung aller Sonn- und Festtagsevangelien. Ebd. 1799), Predigtanleitungen (u. a. Die Kunst zu predigen. Ebd. 1771) u. systematische Darstellungen zu Einzelproblemen christl. Glaubens (u. a. Vernunft- und schriftmäßige Abhandlung über den Selbstmord. Ebd. 1776. Vom Wiederkommen, Wiedersehen und Erscheinen der Unserigen nach dem Todte [...]. Zeitz 1806). Sein hauptsächl. Interesse galt freilich der Auseinandersetzung zwischen protestantischer Orthodoxie u. rationalistisch-neologist. Heterodoxie: So richtete T. apologetische Schriften zugunsten der Or-

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thodoxie nicht nur gegen namhafte Neologen (u. a. C. F. Bahrdts berüchtigtes Glaubensbekenntnis. Lpz. 1780). Auch seinem prominenten Bruder Wilhelm Abraham Teller u. dessen Engagement für eine aufgeklärte Vernunftreligion trat T. mit durchaus beachteten Publikationen entgegen (Abgenöthigte Kritik über seines Bruders Lehrbuch des christlichen Glaubens. Ebd. 1764). Aufgrund der streng konservativen u. antikrit. Position war sein Werk schneller vergessen als das seines Bruders. Weitere Werke: Anekdoten für Prediger u. Priester zur Unterhaltung. 6 Bde., Lpz. 1774–85. – Wörterbuch des neuen Testaments. 2 Tle., ebd. 1775. – Ad [...] Franc. Volkmar. Reinhardum [...] de finibus gratiae divinae [...]. Ebd. 1801. Literatur: Heinrich Döring: Die dt. Kanzelredner des 18. u. 19. Jh. Neustadt/Oder 1830. – Karl Aner: Die Theologie der Lessingzeit. Halle 1929. Neudr. 1964. Gerda Riedl

Teller, Wilhelm Abraham, * 9.1.1734 Leipzig, † 8.12.1804 Berlin. – Evangelischer Theologe.

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in der Stufenfolge »Glaubenschristenthum«, »Vernunftchristenthum« u. »reines Christenthum«. Seine These, für die Konversion eines Juden zum Christentum genüge das Bekenntnis zu Jesus als Stifter einer besseren moralischen Religion (Beantwortung des Sendschreibens einiger Hausväter jüdischer Religion. Bln. 1799), stieß u. a. auf den Widerspruch Schleiermachers. Weitere Werke: Anleitung zur Religion überhaupt u. zum Allgemeinen des Christenthums besonders. Bln. 1792. – Vollst. Darstellung u. Beurtheilung der dt. Sprache in Luthers Bibelübers. 2 Bde., ebd. 1794/95. – Herausgeber: Neues Magazin für Prediger. Züllichau 1792–1802. Literatur: Friedrich Nicolai: Gedächtnißschr. auf T. Bln., Stettin 1807. – Paul Wolff: Der Fall T. In: Evang. Kirchenztg., 1905, Nr. 35–38. – Paul Gabriel: Die Theologie T.s. Gießen 1914 (Schriftenverz.). – Martin Bollacher: T. In: Aufklärung 1 (1986), S. 81 f. – Ders.: W. A. T.: ein Aufklärer der Theologie. In: Über den Prozeß der Aufklärung in Dtschld. im 18. Jh.: Personen, Institutionen u. Medien. Hg. Hans Erich Bödeker u. Ulrich Herrmann. Gött. 1987, S. 39–52. – Klaus-Gunther Wesseling: W. A. T. In: Bautz. – Angela Nüsseler: Dogmatik fürs Volk. W. A. T. als populärer Aufklärungstheologe. Diss. Mchn. 1999. – Richard Crouter u. Julie Klassen (Hg.): A debate on Jewish emancipation and Christian theology in old Berlin. Indianapolis/Cambridge 2004. Dirk Kemper / Red.

Der Sohn des Leipziger Theologieprofessors Romanus Teller wurde nach theolog. u. philolog. Studien in seiner Heimatstadt bereits 1761 als Generalsuperintendent u. o. Professor der Theologie nach Helmstedt berufen. Wegen seines Lehrbuchs des Christlichen Glaubens (Helmstedt/Halle 1764), einer GegenTellkamp, Uwe, * 28.10.1968 Dresden. – überstellung der von Adam ausgehenden Lyriker u. Prosaautor. Verfallsgeschichte (erste Schöpfung) u. der an Christus anschließenden Vervollkomm- T. verlor nach seinem Wehrdienst in der nungsentwicklung (zweite Schöpfung), von »Nationalen Volksarmee« der DDR wegen der dortigen Orthodoxie bekämpft, folgte T. »politischer Unzuverlässigkeit« seinen Me1767 einem Ruf als Oberkonsistorialrat u. dizinstudienplatz. Erst nach dem Fall der Propst zu Cölln in das friderizianisch ge- Mauer 1989 konnte er seine Ausbildung zuprägte Berlin. Als führenden Neologen wies nächst in Leipzig, dann in New York u. ihn sein Wörterbuch des Neuen Testaments (Bln. Dresden fortsetzen u. beenden. Anschließend 1772. 61805) aus, in dem er die reine Lehre arbeitete er bis 2004 als Arzt in einer unfalldes Christentums von seinen histor. Überla- chirurgischen Klinik in Dresden, gab dann gerungen zu trennen suchte. Der mit dem aber seinen Beruf auf, um sich ganz dem Wöllner’schen Religionsedikt 1788 einset- Schreiben zu widmen. Seitdem lebt er als zenden religionspolit. Reaktion unter Fried- freier Schriftsteller in Freiburg. Sein Romandebüt Der Hecht, die Träume und rich Wilhelm II. widersetzte sich T. konsequent (Wohlgemeinte Erinnerungen. Ebd. 1788) das Portugiesische Café (Lpz. 2000. 22009) – eine u. erörterte noch 1792 in der Schrift Die Reli- Liebesgeschichte, die im Wendejahr 1989 in gion der Vollkommnern (ebd.) freimütig die Dresden spielt – stieß nur auf bescheidene subjektive Vervollkommnung des Glaubens Resonanz beim Publikum. T. galt jedoch

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durch eine Reihe von Veröffentlichungen vor allem lyr. Texte in renommierten Literaturzeitschriften wie »Zwischen den Zeilen«, »Neue deutsche Literatur«, »Akzente« oder »Schreibheft« sowie im »Jahrbuch der Lyrik« alsbald als »Geheimtipp«. Das verschaffte ihm 2004 die Einladung zum Lesewettbewerb bei den »Tagen der deutschsprachigen Literatur« in Klagenfurt, wo er mit einem Auszug aus dem unveröffentlichten Roman Der Schlaf in den Uhren (abgedruckt in: Die Besten 2004. Klagenfurter Texte. Hg. Iris Radisch. Mchn. 2004, S. 23–36) den IngeborgBachmann-Preis gewann. Entsprechend groß war im Jahr darauf die mediale Aufmerksamkeit, als mit Der Eisvogel (Bln. 2005) T.s zweiter Roman erschien. Er handelt von einer Gruppe Rechtsintellektueller, die zur Analyse der zeitgenöss. dt. Zustände ungeniert aus dem Arsenal konservativ-revolutionärer Literatur von Nietzsche bis hin zu Ernst Jünger schöpfen. »Die Demokratie«, bekunden sie zum Beispiel, »ist die Gesellschaftsordnung des Mittelmaßes, des Geschwätzes und der Unfähigkeit, aus dem Geschwätz fruchtbares Handeln werden zu lassen« (Der Eisvogel, S. 150). Um hier Abhilfe zu schaffen, erscheint dem Anführer Mauritz Kaltmeister sogar Terror, ja selbst die Anzettelung eines Krieges erlaubt. Einige Literaturkritiker reagierten darauf äußerst verstört, weil sie die Romanfiguren als Sprachrohr des Autors missdeuteten oder T. zumindest eine geistige Nähe zum rechtsintellektuellen Milieu unterstellten. Derartigen Diskreditierungsversuchen standen allerdings auch begeisterte Rezensionen gegenüber, sodass die Veröffentlichung von T.s drittem Roman, Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land (Ffm. 2008), zu keinem Zeitpunkt gefährdet war. Er wurde 2008 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet u. daraufhin trotz eines Umfangs von fast 1000 Seiten zu einem Bestseller. Der Turm ist eine »Recherche du temps perdu«, die von den letzten sieben Jahren der DDR bis zum Fall der Mauer am 9.11.1989 handelt. Im Mittelpunkt steht die Familie des Arztes Richard Hoffmann, dessen Frau Krankenschwester ist, dessen Sohn Christian Medizin studieren möchte (u. sich deshalb zu

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einem dreijährigen Militärdienst bei der NVA verpflichten muss) u. dessen Schwager Meno Rohde als Lektor in einem Bibliophilen-Verlag arbeitet. Sie alle leben im Dresdener Stadtteil Weißer Hirsch in Häusern, die so eigentüml. Namen wie »Karavelle«, »Abendstern« oder »Wolfsstein« haben, u. versuchen sich dort in einer bildungsbürgerl. Enklave von der realsozialistischen Wirklichkeit so weit wie möglich abzuschotten. Völlig können sie sich ihr natürlich nicht entziehen; nicht zuletzt in Gestalt von Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes ist sie im Roman präsent. Unter dem weiteren, zahlreichen Nebenpersonal finden sich einige Figuren, mit denen Personen der Zeitgeschichte oder des DDR-Literaturbetriebs porträtiert sind. So lieferte Peter Hacks das Vorbild für den Dichter Eschschloraque, Franz Fühmann für den »Alten vom Berg«, der Ökonom Jürgen Kuczynski für Jochen Londoner u. Hans Modrow für den Bezirkssekretär Barsano. Auch stilistisch wird eine Menge aufgeboten: klassisches Erzählen, dialogische Passagen nach dem Vorbild von William Gaddis, Tonbandprotokolle, die dem Dokumentarroman nachempfunden sind, oder einmontierte Tagebuchauszüge. Zahlreich sind die Zitate u. Anspielungen auf die klass. dt. Literatur von Goethe über Hölderlin bis Hofmannsthal. Unübersehbar ist eine Vorliebe für sprachl. Preziosen, die allerdings nicht selten die Grenze zur Stilblüte überschreiten. T.s Bemühungen um eine ausgesuchte Metaphorik u. seine Neigung zum Gebrauch von Neologismen resultieren aus seinem wiederholten Bekenntnis zum Pathos. Ironie dagegen schätzt er gar nicht. Sie werde, wie er in seiner Leipziger Poetikvorlesung Die Sandwirtschaft. Anmerkungen zu Schrift und Zeit (Ffm. 2009) feststellt, »leicht zum Zynismus und dann unfähig zum Beginnen« (S. 45). Ein performativer Widerspruch ergibt sich aus dem Umstand, dass T. davon überzeugt ist, der Gegenwart sei mit Prosa nur ganz schwer beizukommen. Die Lyrik verfüge über einen viel reicheren Fundus an Ausdrucksformen, mit denen sich auf die stetig wachsende Schnelllebigkeit angemessener reagieren lasse als mit einem Gesellschaftsroman – den T.

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mit Der Turm aber gleichwohl geschrieben u. Temme, Jodocus Donatus Hubertus, auch: veröffentlicht hat. Heinrich Stahl, * 22.10.1798 Lette/GrafWeitere Werke: Reise zur blauen Stadt. Ffm./ Lpz. 2009. – Die Schwebebahn. Dresdner Erkundungen. Mit Fotos v. Werner Lieberknecht. Bln. 2010. – Die Uhr. [Eckernförde] 2010. Literatur: Gunther Nickel: U. T. In: KLG. Gunther Nickel

Telmann, Konrad, eigentl.: (Ernst Otto) K. Zitelmann, * 25.11.1854 Stettin, † 24.1. 1897 Rom; Grabstätte: ebd., Protestantischer Friedhof. – Erzähler. Bereits als Schüler veröffentlichte der Juristensohn u. Enkel mütterlicherseits von Ludwig Giesebrecht erste literar. Versuche. In Greifswald 1876 zum Dr. jur. promoviert, quittierte T. bald den ungeliebten Justizdienst u. lebte wegen eines chron. Lungenleidens, nach Reisen durch die Schweiz, Südfrankreich, Italien u. Sizilien, seit 1883 in Mentone, nach der Heirat (1891) mit Hermione von Preuschen in Rom. Freundschaft verband ihn mit Sudermann. Trotz seiner Krankheit war er ein ungemein produktiver Autor, neben wenigen Schauspielen (Dramen. Dresden 1901) u. Lyrikbänden (In der Einsamkeit. Lpz. 1876. Meereswellen. Glarus 1884) v. a. hervorgetreten als Novellist u. Romancier in der Nachfolge Spielhagens. Für die von T. bevorzugten Zeitromane mit zunehmender Nähe zum Naturalismus wählte er seine pommersche Heimat (u. a. Unterm Strohdach. 3 Bde., Bln. 1893) bzw. Rom u. Unteritalien als Schauplatz. Sein sozialreformerisches Engagement ließ bisweilen die künstlerische Formgebung in den Hintergrund treten. Durch seinen Roman Unter den Dolomiten (Dresden 1893) provozierte er einen bis zu seinem Tod andauernden Konflikt mit der kath. Kirche. Weitere Werke: Romane: Im Frühroth. 3 Bde., Lpz. 1880. – Götter u. Götzen. 3 Bde., ebd. 1884. – Dunkle Existenzen. 3 Bde., ebd. 1886. – Moderne Ideale. 3 Bde., ebd. 1886. – Bohémiens. Bln. 1895. – Unter röm. Himmel. Dresden 1896. Literatur: Ludwig Fränkel: K. Zitelmann. In: ADB 45. – Gerhard Heidemann: K. T. Diss. Greifsw. 1936. Wolfgang Weismantel

schaft Rheda, † 14.11.1881 Zürich. – Kriminalschriftsteller, Romanautor; Jurist. Der Sohn eines kath. Amtmanns studierte 1814–1817 in Münster u. Göttingen Jura; nach dem Examen trat T. in den Justizdienst ein. 1822–1824 begleitete er den Prinzen von Bentheim-Tecklenburg an die Universitäten Heidelberg, Bonn u. Marburg. Nach der dritten Staatsprüfung 1832 machte er in preuß. Diensten eine steile Juristenkarriere; seit 1839 Direktor des Berliner Stadt- u. Landgerichts, wurde T. zu einem wichtigen Kritiker des Justizwesens aus vormärzl. Geist. Er schrieb eine Reihe von Lehrbüchern zum preuß. u. später auch zum Schweizer Zivil- u. Strafrecht. Im Zuge der 48er-Ereignisse wurde T. zunächst nach Tilsit, dann als Direktor des Appellationsgerichts nach Münster versetzt. Diese Kaltstellung wurde jedoch durch T.s Wahl in die preuß. Nationalversammlung vereitelt. 1849 war T. bis zuletzt Mitgl. des Stuttgarter Rumpfparlaments. Ein Aufsehen erregender Hochverratsprozess gegen ihn endete 1850 mit Freispruch; 1851 wurde er aber wegen angebl. Steuer- u. Dienstvergehen seines Amtes enthoben. In Breslau übernahm T. die Redaktion der oppositionellen »Neuen Oderzeitung«; 1852 ging er nach Zürich ins Exil, wo er als freier Schriftsteller u. (zunächst unbesoldeter) Professor der Rechte lebte. 1863 erneut ins preuß. Abgeordnetenhaus gewählt, gab er das Mandat 1864 resigniert auf. 1878 zog T. nach Tilsit; nach dem Tod seiner Frau kehrte er nach Zürich zurück. T. begann nicht zuletzt aus ökonomischer Notwendigkeit, Belletristik zu schreiben; sein polit. Engagement führte immer wieder zu Kürzungen u. Unterbrechungen seiner Besoldung. Erste größere literar. Anerkennung fand T. mit der während der Haft verfassten Zeitroman-Trilogie Neue deutsche Zeitbilder (Anna Hammer. Josephe Münsterberg. Elisabeth Neumann. 3 Bde., Eisleben/Bremen 1850–52), gedacht als demokratische Erbauungsliteratur im Genre des Unterhaltungsromans. 23 weitere, meist mehrbändige Romane folgten. Bekannt aber wurde er als

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Tengler

Autor von Kriminalerzählungen (publiziert Schönert. Tüb. 1983, S. 184–238. – Winfried v. a. in der oppositionell-liberalen »Garten- Freund: Demokrat, Richter, Kriminalautor. Eine laube«; 1855–1868: 34 Titel), in denen sich Wiederbegegnung mit J. D. H. T. In: Autoren daein an gerichtl. Vernehmungs- u. Protokoll- mals u. heute. Literaturgeschichtl. Beispiele veränderter Wirkungshorizonte. Hg. Gerhard Peter formen geschulter Kolportagestil mit ZeitKnapp. Amsterd./Atlanta, GA 1991, S. 257–271. – kritik verbindet, insbes. mit scharfer Justiz- Michael Hettinger: J. D. H. T. (1798–1881) – nicht kritik v. a. an der preuß. Gerichtspraxis. Die nur ein Juristenleben. In: Vom mittelalterl. Recht Nachmärz-Zensur suchte T.s Erzählungen zur neuzeitl. Rechtswissenschaft. Bedingungen, vergeblich zu unterdrücken; u. a. gab es viele Wege u. Probleme der europ. Rechtsgesch. Hg. unautorisierte Nachdrucke, gegen die T. er- Norbert Brieskorn u.a. Paderb. u.a. 1994, folglos juristisch vorging u. die er auch zum S. 335–364. – Karoline Peters: J. D. H. T. u. das Gegenstand juristischer Fachpublikationen preuß. Strafverfahren in der Mitte des 19. Jh. Bln./ machte. Die zeitgenössische literar. Kritik, New York 2010. – Barbara Hartlage-Laufenberg: J. voran Prutz, diskreditierte ihn als Trivial- u. D. H. T. – Jurist, Politiker, Schriftsteller. In: Neue Juristische Wochenschrift 11 (2011), S. 714–718. Sensationsschriftsteller. Eckhardt Meyer-Krentler † / Nele Hoffmann Seit den 1980er Jahren fand T. im Zusammenhang mit sozialgeschichtl. Fragestellungen Erwähnung, die sich mit der interdis- Tengler, Ulrich, * um 1447 Rottenacker, kursiven Modellierung u. Popularisierung † wahrscheinlich Anfang 1511 Höchstädt. von Kriminalität in Rechtsprechung, Publi- – Verfasser eines populären juristischen zistik u. Belletristik befassen. Seit den 1990er Hilfsbuchs. Jahren werden T.s Werke in wissenschaftl. Über T.s Leben ist wenig bekannt; er war Verlagen (Augenzeugenberichte) wie in Publi- 1479–1483 Stadtschreiber von Nördlingen, kumsverlagen (Kriminalerzählungen u. -no- danach Amtmann in Heidenheim u. Landvellen) neu editiert u. in rechtshistor. Zu- vogt in Höchstädt. Seinen Layen Spiegel von sammenhängen thematisiert. rechtmäßigen ordnungen in Burgerlichen und Weitere Werke: Die Kinder der Sünde. Lpz. peinlichen regimenten (Augsb. 1509) versah Se1827 (R.). – Die Verbrecher. 5 Bde., ebd. 1855 (R.). – bastian Brant mit einer Vorrede. In dem Criminal-Novellen. 10 Bde., Bln. 1860–64. – Crimehrfach aufgelegten Buch gab der Praktiker minal-Bibl. Merkwürdige Criminal-Processe aller T. den nur wenig rechtlich gebildeten JurisNationen. 1.-65. Lfg., Hbg. 1867–72. – Erzählungen. 6 Bde., Lpz. 1868. – Bankrott. 2 Bde., Bln. ten seiner Zeit ein Hilfswerk zum Verständnis 1871 (R.). – Erinnerungen. Hg. Stephan Born. Lpz. des ihnen weitgehend fremden röm. Rechts 1883. – Ein trag. Ende. Bln. 1985 (Kriminalnovel- an die Hand. Er griff auf das röm. u. kanolen). – Der tolle Graf. Eine Kriminalgesch. Hg. nische Recht u. insbes. das Speculum des DurWinfried Freund. Paderb. 1991. – Augenzeugen- antis zurück, doch ist die nicht systematisch, berichte der dt. Revolution 1848/49. Hg. Michael sondern nach prakt. Gesichtspunkten geglieHettinger. Darmst. 1996. – Ein Zweikampf. In: Von derte Schrift in erster Linie eine ZusammenMörders Hand. Klass. Dt. Kriminalgesch.n. Köln fassung der wichtigsten juristischen Hilfs2004, S. 273–318. – Der Studentenmord in Zürich. bücher; sie hat auch in den folgenden JahrCriminalgesch. Hg. Paul Ott u. Kurt Stadelmann. Zürich 2006. – In einer Brautnacht. Criminaler- zehnten die juristische Praxis nicht unwezählungen (1860 ff). Hg. Dieter Paul Rudolph. Köln sentlich beeinflusst. Zusammen mit dem 2009. – Wer war der Mörder? Kriminalgesch.n. Hg. Klagspiegel Sebastian Brants schließt T.s Laienspiegel die Epoche der populären juristiGünther Butkus. Bielef. 2010. Literatur: Friedrich Steinmann: T. Sein Leben schen Literatur ab. u. sein Hochverraths-Prozeß. Bln. 1850. – Max Gust: J. D. H. T. Münster 1914. – Hans-Otto Hügel: Untersuchungsrichter, Diebsfänger, Detektive. Theorie u. Gesch. der dt. Detektiverzählung im 19. Jh. Stgt. 1978, S. 148–160. – Joachim Linder u. Jörg Schönert: Verständigung über ›Kriminalität‹ in der dt. Lit. 1850–80. In: Lit. u. Kriminalität. Hg. J.

Literatur: Roderich v. Stintzing: Gesch. der populären Lit. des röm.-kanon. Rechts in Dtschld. am Ende des 15. u. im Anfang des 16. Jh. Lpz. 1867. – Erich Kleinschmidt: Das ›Epitaphium Ulrici Tenngler‹, ein unbekannter Nachruf auf den Verfasser des ›Laienspiegels‹ v. 1511. In: Daphnis 6 (1977), S. 41–64. – Ursula Schulze: ›Das des Jung-

Tentzel sten Gerichts Einbildungen nutzlich sein›. Zur Adaption eines Weltgerichtsspiels in U. T.s ›Laienspiegel‹. In: Daphnis 23 (1994), S. 237–286. – E. Kleinschmidt: U. T. In: VL. Andreas Roth / Red.

Tentzel, Wilhelm Ernst, * 11.7.1659 Greußen/Thüringen, † 17.11.1707 Dresden. – Journalist u. Polyhistor.

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»Monatliche Unterredungen«, Juli 1693 u. 1694 sowie in »Curieuse Bibliothec«, 1705); auch eine briefl. Bitte um Unterstützung an die Adresse von Leibniz ist überliefert (vom Okt. 1693), von dem er sich jedoch eine Abfuhr holte. Leibniz empfahl ihm, den Streit beizulegen, weil die Beweiskraft der angeführten Rechtsfälle überschätzt werde. Im Übrigen brachte T. neben Rezensionen u. den üblichen langatmigen Extrakten auch Abhandlungen aus der eigenen archival. u. münzkundl. Arbeit sowie Beiträge anderer. Die risikolose Langeweile war indessen langlebiger als die »Gespräche« des Thomasius, dem T. in keinem Betracht das Wasser reichen kann.

Der Sohn eines Diakons studierte in Wittenberg. 1683 fand er dort eine Anstellung, die er nach dem Tod des Vaters bald aufgeben musste. Seit 1685 war T. Lehrer am Gymnasium in Gotha, später dort auch Leiter des fürstl. Münz-Kabinetts u. der Kunstkammer sowie Historiograf der Ernestinischen Linie. 1702 wurde T. kgl. Rat in Dresden. Dieses Weitere Werke: Exercitationes selectae [...]. begehrte Amt verlor er ein paar Jahre später Lpz. 1692. – Epistola de sceleto elephantino [...]. aus ungeklärten Gründen. Nach dem Verkauf Jena 1696. – Fürstlicher sächsischer Geschichtsseiner Bibliothek soll er in Armut gestorben Calender [...]. Lpz. 1697. – Discours von Erfindung der löblichen Buch-Drucker-Kunst in Teutschland sein. Unter den Zeitgenossen war T. vor allem [...]. Gotha 1700. – Saxonia numismatica lineae Ernestinae et Albertinae [...] Sächsisches Medaillenals Genealoge u. Numismatiker bekannt. Er Cabinet [...]. Gotha 1705–14. – Historischer Bericht war Beiträger zu Sammelwerken u. Journa- vom Anfang [...] der Reformation Lutheri [...]. len, auch Mitarbeiter der Leipziger »Acta Vorrede v. Ernst Salomon Cyprian. Lpz. 21717. Eruditorum«. Noch heute studierenswert 31718. sind seine eigenen Zeitschriften: »Monatliche Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Unterredungen [...] von allerhand Büchern Adolf Clarmund (d. i. Christian Rüdiger): Leben u. und anderen annehmlichen Geschichten« Schrifften T.s. Dresden/Lpz. 1708. – Franz Xaver v. (Lpz./Thorn 1689–98), »Curieuse Bibliothec« Wegele: W. E. T. In: ADB. – Eugene Egert: W. E. T. (Ffm./Lpz. 1704–1706) u. »Ausführlicher Be- In: ABäG 26 (1987), S. 153–170. – Tyll Kroha: richt von allerhand neuen Büchern und an- Großes Lexikon der Numismatik. Gütersloh 1997. deren Dingen« (ebd. 1708–10). Die »Unter- – Paul Arnold: Die ›Histoire Métallique‹ der sächs. redungen« schließen an Thomasius’ »Mo- Kurfürsten u. Herzöge im Spiegel der Abhandlungen. In: Europäische numismat. Lit. im 17. Jh. Hg. natsgespräche« (1688/89) an, u. T. tat alles, Christian E. Dekesel u. Thomas Stäcker. Wiesb. um mit ihnen nicht verwechselt zu werden, 2005, S. 311–326. Herbert Jaumann ja, sein Unternehmen wurde wahrscheinlich gegen Thomasius in Stellung gebracht u. von der Leipziger Orthodoxie gefördert. Ganz Tergit, Gabriele, eigentl.: Elise Reifenanders als Thomasius, hatte T. jedoch kein berg, geb. Hirschmann, auch: Christian satir. Temperament; seine Kritik ist zahnlos Thomasius, Emmy Grant, Irene Bersill, u. pedantisch. Der dialogische Stil allein gaLilli Stock, * 4.3.1894 Berlin, † 25.7.1982 rantierte eben noch nicht das intellektuelle u. London. – Journalistin u. Erzählerin. unterhaltende Niveau der Thomasischen Offensive. Ein trauriger Höhepunkt ist wohl die Die aus einer assimilierten dt.-jüd. FabriKontroverse mit dem Altdorfer Hebraisten kantenfamilie stammende T. studierte nach Johann Christoph Wagenseil, dessen philo- einer Ausbildung an der Sozialen Frauensemitische Kritik an der antijüd. Ritual- schule im Berliner Pestalozzi-Fröbel-Haus mordlegende er wiederholt zurückwies u. 1919–1923 bei Friedrich Meinecke u. Max dabei auf den Beifall einer Mehrheit dt. Ge- Weber Geschichte u. Philosophie in Münlehrter unter seinen Lesern zählen konnte (in chen, Heidelberg u. Berlin. 1925 wurde sie an

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der Universität Frankfurt/M. promoviert. 1928 heiratete sie den jüd. Berliner Architekten Heinrich Julius Reifenberg; der Sohn Ernst Robert wurde im selben Jahr geboren. Bekannt wurde T. durch ihre Berliner Existenzen, zeitdiagnost. Feuilletons, die sie für Theodor Wolffs »Berliner Tageblatt« schrieb, dessen Redaktionsmitglied sie seit 1924 neben Alfred Kerr, Rudolf Olden u. Walter Kiaulehn war (Blüten der Zwanziger Jahre. Gerichtsreportagen und Feuilletons 1923–1933. Bln. 1984). Zudem arbeitete T. für die »Vossische Zeitung«; den »Berliner-Börsen-Courier« u. berichtete als eine der ersten weibl. Gerichtsreporter für Carl von Ossietzkys »Weltbühne« (Wer schießt aus Liebe? Gerichtsreportagen. Bln. 1999). Mit ihren ebenso unterhaltsamen wie krit. Miniaturdramen etablierte T. neben Paul Schlesinger u. Joseph Roth das Genre der literar. Gerichtsreportage. 1931/32 erschien bei Rowohlt in Berlin der neusachl. Zeitroman Käsebier erobert den Kurfürstendamm (Neuausg.n Ffm. 1977. Bln. 2004), in dem T. anhand des rasanten Auf- u. Wiederabstiegs eines Berliner Volkssängers die Umbruchphase am Ende der Weimarer Republik seismografisch aufzeigt. Nach einem Überfall der SA emigrierte T. 1933 nach Prag, im selben Jahr mit ihrer Familie weiter nach Palästina; seit 1938 lebte sie in London. Neben Artikeln für deutsch- u. englischsprachige Zeitungen u. Zeitschriften schrieb T. während des Exils den bereits in Berlin begonnenen Roman Effingers (Hbg. 1951. Neuausg. Ffm. 1982), der am Beispiel dreier dt.-jüd. Familien panoramaartig ein Stimmungsbild vom Bismarck’schen Reich bis zu den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs zeichnet. In ihren in Jerusalem u. Tel Aviv entstandenen Reportagen (in Auszügen in: Im Schnellzug nach Haifa. Bln. 1996. Neuausg. Ffm. 1998) gibt T. Auskunft über ihre Erfahrung in der Diaspora. Ihre Nachkriegseindrücke vom zerstörten Berlin schildert sie in der Novelle Der erste Zug nach Berlin (Bln. 2000). 1957–1981 war T. Sekretärin des P.E.N.-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland. Weitere Werke: Das Büchlein vom Bett. Bln. 1954. Neuausg. Ffm. 1981. – Kaiserkron u. Päonien Rot. Kleine Kulturgesch. der Blumen. Köln 1958. –

Tergit (Hg.): P.E.N.-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland. Autobiogr.n. London 1959. Neuausg. 1968. – Das Tulpenbüchlein. Hann. 1965. – Etwas Seltenes überhaupt. Erinnerungen. Bln. 1983. – Atem einer anderen Welt. Berliner Reportagen. Hg. u. mit einem Nachw. v. Jens Brüning. Ffm. 1994. – Der erste Zug nach Bln. Hg. u. mit einem Nachw. v. J. Brüning. Bln. 2000. – Frauen u. andere Ereignisse. Publizistik u. Erzählungen v. 1915 bis 1970. Hg. u. mit einem Nachw. v. J. Brüning. Ebd. 2001. Literatur: Egon Larsen: Die Welt der G. T. Aus dem Leben einer ewig jungen Berlinerin. Mchn. 1987. – Inge Stephan: Stadt ohne Mythos. G. T.s Berlin-Roman ›Käsebier erobert den Kurfürstendamm‹. In: Neue Sachlichkeit im Roman. Neue Interpr.en zum Roman der Weimarer Republik. Hg. Sabina Becker u. Christoph Weiss. Stgt./Weimar 1995, S. 291–313. – Eva-Maria Mockel: Aspekte v. Macht u. Ohnmacht im literar. Werk G. T.s. Aachen 1996. – Irmela v. der Lühe: Schreiben im Exil als Chance: G. T.s Roman ›Effingers‹. In: Keine Klage über England? Dt. u. österr. Exilerfahrungen in Großbritannien 1933–1945. Hg. Charmian Brinson u.a. Mchn. 1998, S. 48–61. – Erhard Schütz: Von Fräulein Larissa zu Fräulein Dr. Kohler? Zum Status v. Reporterinnen in der Weimarer Republik – das Beispiel G. T. In: Autorinnen der Weimarer Republik. Hg. Walter Fähnders u. Helga Karrenbrock. Bielef. 2003, S. 215–237. – Liane Schüller: Vom Ernst der Zerstreuung. Schreibende Frauen am Ende der Weimarer Republik: Marieluise Fleißer, Irmgard Keun u. G. T. Ebd. 2005. – Dieter Wrobel: Mediensatire wider die Entpolitisierung der Ztg. Journalismuskritik in Romanen v. G. T. u. Erich Kästner. In: ›Laboratorium Vielseitigkeit‹. Zur Lit. der Weimarer Republik. FS Helga Karrenbrock. Hg. Petra Josting u. W. Fähnders. Bielef. 2005, S. 267–286. – Helen Chambers: ›Eine ganze Welt baut sich im Gerichtssaal auf‹: Law and order in the reportage of Joseph Roth and G. T. In: Vienna meets Berlin. Cultural interaction 1918–1933. Hg. John Warren u. Ulrike Zitzlsperger. Oxford 2005, S. 95–108. – Christina Ujma: G. T. and Berlin: Women, City and Modernity. In: Practicing Modernity. Female Creativity in the Weimar Republic. Hg. Christiane Schönfeld. Würzb. 2006, S. 262–277. – Fiona Sutton: Weimar’s forgotten Cassandra. The writings of G. T. in the Weimar Republic. In: German novelists of the Weimar Republic. Intersections of literature and politics. Hg. Karl Leydecker. Rochester, NY 2007, S. 193–210. – Lisa A. Bilsky: Adrienne Thomas, Gertrud Isolani and G. T. German-Jewish woman writers and the experience of exile. Ann Arbor, Mich. 2007. – Sylke Kirschnick: Republikanismus

Tersteegen aus Alternativlosigkeit. Zum Demokratiedenken G. T.s. In: Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Lit., Wiss. Hg. Andreas Wirsching u. Jürgen Eder. Stgt. 2008, S. 311–321. – D. Wrobel: Vergessene Texte der Moderne. Wiederentdeckungen für den Deutschunterricht. Trier 2010. – Juliane Sucker: Heimatlos in Palästina: Zur Inszenierung v. Entwurzelung u. Fremdheitserlebnissen in G. T.s Texten. In: Exil. 1933–1945. Forschung Erkenntnisse Ergebnisse. Hg. Edita Koch u. Henrike Walter 1/2010, S. 79–90. – Susanna Brogi: Herausforderung u. Angriffsfläche: zur Fontanerezeption in der Exillit. In: Fontane Bl. 90 (2010), S. 110–131. Juliane Sucker

Tersteegen, Gerhard, * 25.11.1697 Moers, † 3.4.1769 Mülheim/Ruhr. – Dichter geistlicher Lieder. Geprägt durch den reformierten Pietismus der Familie, im Gymnasium Adolfinum seiner Vaterstadt v. a. mit guten Sprachkenntnissen versehen, zum Kaufmann, dann Leinweber geschult u. beeinflusst von einer mystisch gestimmten Bruderschaft, unterzeichnete der physisch u. psychisch bedrängte Jüngling am Gründonnerstag 1724 einen mit seinem eigenen Blut geschriebenen Vertrag, in dem er sich »seinem Heiland und Bräutigam Jesus Christus zum völligen und ewigen Eigentum« übergab u. ihm Treue schwor bis in den Tod. Im Bemühen, sein durchaus neurot. Züge tragendes Versprechen einzulösen, grenzte T. alle Welt als feindlich, laut u. leer aus, um Raum zu schaffen u. Ruhe für die Einkehr des geliebten Gottes. Dieser wird nicht als Schöpfergott verstanden, dessen Kreatur Ausdruck u. Quelle der Freude u. Mittel ist, sich ihm zu nähern: »Wie nichts ist das geschaffene Wesen, Gott ist nur, sonst ist gar nichts mehr [...]. Weich alle Kreatur, ich will mit Gott umgehen!« Die Begegnung mit Gott kann nur in der Stille, in Abgeschiedenheit u. Selbstverleugnung geschehen, »erlöst von aller Eigenheit«. Diese Haltung steht in monast. Tradition, ist inspiriert u. a. durch Pierre Poiret u. Jean de Labadie u. das zum Vorbild erhobene Leben der Dominikanerin Elisabeth vom Kindein, durch die geistige Welt der Brüder vom Gemeinsamen Leben, der Windesheimer Kongregation, des Karmel u. der Theresia von Avila. Aber die das

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Selbst nur noch als Last empfindende Gottsuche läuft Gefahr, sich zu entlasten u. eine Freiheit zu finden auf Kosten einer spannungs- u. beziehungsreichen Welt: »Allgenugsam Wesen [...] du vergnügst alleine [...] wer dich hat, ist still und satt.« T. entging der Vereinsamung seiner Gottsuche durch pastorale Tätigkeiten u. diakonische Werke, durch ärztl. Handreichungen u. seelsorgerl. Beratungen, durch das Leben in geistl., kirchlich ungebundenen Kommunitäten (Konventikel, Pilgerhütte Otterbeck) u. durch eine reiche schriftstellerische Arbeit, v. a. Übersetzungen, aber auch eigene Prosa u. Lieder, die Eingang fanden in verschiedene Kirchengesangbücher u. Liedersammlungen. Sie zeichnen sich aus durch klare Formen, ein einfaches Metrum u. eine in ihrer Metaphorik arme Sprache, die stilistische Abhängigkeiten zu Angelus Silesius u. Gottfried Arnold aufweist. Die weiteste Verbreitung fand das Geistliche Blumengärtlein inniger Seelen (Ffm./Lpz. 1729. 1735. 1738. 1745. Solingen 1751. 1757. 1768. Stgt. 1988. Herborn 2001). Es besteht aus »kurzen und erbaulichen Schlußreimen«, »kurzgefaßten Betrachtungen über einige auserlesene Sprüche aus den vier großen Propheten auf das innere Leben gerichtet« u. aus »geistlichen Liedern und Andachten«, von denen elf im EKG erhalten sind, u. a. Gott ist gegenwärtig (Nr. 128). Weitere Werke: Hand-Büchlein der wahren Gottseligkeit [Übers. von Jean de Labadie: Manuel de piété]. Frankf./Lpz. 1727. Köln 1997. – Weg der Wahrheit die da ist nach der Gottseligkeit. Solingen 1735. Cleve/Solingen 41768. – Gedanken über eines Anonymi Buch, Vermischte Werke des Welt-Weisen zu Sansouci [= Friedrich der Große]. o. O. 1762. Schaffh. 21763. – Außerlesene Lebens-Beschreibungen Heiliger Seelen. Bd. 1–3, Frankf./Lpz. 1733–43. Ausgaben: Hist.-krit. Werkausgabe: Bd. 1: G. T.: Geistl. Reden. Hg. Albert Löschhorn u. Winfried Zeller. Gött. 1979; Bd. 7: G. T.: Briefe. Hg. Gustav Adolf Benrath. Ebd. 2008; Bd. 8: G. T.: Briefe in niederländ. Sprache. Hg. Cornelis Pieter van Andel. Ebd. 1982 – Auswahlausgaben: G. T. Ich bete an die Macht der Liebe. Eine Ausw. aus seinem Werk. Hg. Dietrich Meyer. Gießen 1997. – G. T. Für dich sei ganz mein Herz u. Leben. Eine Ausw. seiner Briefe

Tetens

459 u. Lieder. Hg. Ulrich Bister u. Michael Knieriem. Ebd. 1997.

schen Projekts; deren Anstaltszeitschrift »Der Turm« gab T. heraus.

Literatur: Reinhard Deichgräber: Gott ist genug. Liedmeditationen nach G. T. Gött./Regensb. 1975. – Giovanna della Croce: G. T. – Neu-belebung der Mystik [...]. Bern 1979. – Cornelis Pieter van Andel: G. T. Leben u. Werk [...]. Neukirchen 1979. – Hansgünter Ludewig: Gebet u. Gotteserfahrung bei G. T. Gött. 1986. – Hans-Georg Kemper: Vielsinnige ›Blumen‹-Lese. Zum literarhistor. Standort G. T.’s. In: PuN 19 (1993), S. 117–142. – G. T. Evang. Mystik inmitten der Aufklärung. Hg. Manfred Kock. Köln 1997 (Vorträge des T.-Symposiums). – Horst Neeb (Hg.): G. T. u. die Familien Schmitz [= Drucker] in Solingen. Briefe aus den Jahren 1734–1764. Düsseld. 1997. – H.-G. Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6,1: Empfindsamkeit. Tüb. 1997. – Horst Neeb: G. T. u. die Pilgerhütte Otterbeck in Heiligenhaus 1709–1969. Gesch. u. T.-Briefe an die Bewohner. Düsseld. 1998. – Christian Bunners: Mystik u. geistl. Singen bei G. T. In: Glaube u. Zukunftsgestaltung. FS Theolog. Hochschule Friedensau. Hg. Bernhard Oestreich u. a. Ffm. 1999, S. 401–415. – Zur Rezeption myst. Traditionen im Protestantismus des 16. bis 19. Jh. Beiträge eines Symposiums zum T.-Jubiläum 1997. Hg. Dietrich Meyer u. Udo Sträter. Köln 2002.

Weitere Werke: Robinson Crusoe v. Daniel Defoe. Wien 1913 (Bearb.). – Gesellsch. u. Schule. Bln. 1925 (Ess.). – Schule u. Frieden. Leoben/Wien 1947 (Ess.).

Heimo Reinitzer / Dietrich Meyer

Tesar, Ludwig Erik, * 6.7.1879 Brünn, † 8.10.1968 Schwaz/Tirol. – Pädagoge, Kulturphilosoph, Schriftsteller. In seinen kulturkritischen u. gesellschaftsphilosophischen Essays (in: »Österreichs Illustrierte Zeitung«, »Fackel« u. »Brenner«, 1908–14) kämpfte T. für die Rechte des Individuums gegenüber einer Gesellschaft, die für ihn von Heuchelei u. Unterdrückung geprägt war. Thema seines – unter dem Pseud. Ludwig Erde erschienenen – Romans Jesse Wittich (Bln. 1913) ist die Problematik des Lehrberufs: Die Hauptfigur, der Lehrer Jesse Wittich, prangert die Angst vor Selbstständigkeit im Denken u. Handeln, den Zwang zur Aufgabe der eigenen Individualität zugunsten jener der Schüler an; er selbst flieht vor den eigenen, nicht zuletzt sexuellen, Problemen in Kunst u. Mystik. Internationale Anerkennung fand T. als Leiter der Bundeserziehungsanstalt Wiener Neustadt (1919–1934), eines der Autonomie u. Produktivität verpflichteten reformpädagogi-

Literatur: Richard Dohse: ›Jesse Wittich‹. In: Die schöne Lit. 15 (1914), S. 46 f. – Eberhard Sauermann: L. E. T. als Mitarbeiter der ›Fackel‹. In: Kraus-Hefte 9 (1979), S. 8–12. – Anton Hütter u. E. Sauermann (Hg.): Erziehung – Weg zu menschenwürdigem Leben. Schwazer Tesar-Symposion. Innsbr. 1989 (mit Bibliogr.). Eberhard Sauermann

Tetens, Johann Nikolaus, * 16.9.1736 Tetenbüll/Schleswig (oder 5.11.1738 Tönning), † 15. oder 19.8.1807 Kopenhagen. – Philosoph, Mathematiker. T. studierte an den Universitäten Kopenhagen u. Rostock. Den Magister erwarb er 1759, die Promotion folgte 1760. Bedingt durch die preuß. Besetzung Rostocks im Siebenjährigen Krieg zog T. mit weiteren Dozenten an die von Herzog Friedrich neu gegründete Akademie in Bützow, wo er 1763 zum o. Prof. ernannt wurde. 1776 folgte er einem Ruf an die Universität Kiel. 1789 übersiedelte er nach Kopenhagen u. trat in den dän. Staatsdienst, in dem er bis zuletzt hohe Ämter innehatte. Als sein Hauptwerk gelten die Philosophischen Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung (2 Bde., Lpz. 1777. Neudr. des ersten Bandes, hg. von der Kantgesellschaft, besorgt von Wilhelm Uebele. Bln. 1913. Neudr. beider Bände in: Philosophische Werke. 2 Bde., Hildesh. 1979). Im positiven Sinne des Eklektizismus war T. bestrebt, eine Verbindung der im 18. Jh. sich heftig bekämpfenden Positionen des Empirismus u. des Rationalismus aufzuzeigen, in welcher dieselben als gegenseitig unabdingbare eingesehen werden. Erkenntnisse der Erfahrungsseelenkunde einerseits wie auch Spekulationen der rationalen Metaphysik andererseits sind je für sich genommen nichts. Sie erhalten Wahrheit allein in der gegenseitigen, unverzichtbaren Ergänzung. – Kant sprach mit Hochachtung von T., u. Hamann, von einem Besuch bei Kant zurückgekehrt, wusste 1779 zu berich-

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ten: »K. arbeitet frisch drauf los an seiner Moral [i. e. Kritik] der reinen Vernunft und Tetens liegt immer vor ihm« (in: Hamann: Briefwechsel. Hg. Arthur Henkel. Bd. 4, Wiesb. 1959, Brief Nr. 555). Weitere Werke: Gedanken v. einigen Ursachen, warum in der Metaphysik nur wenige ausgemachte Wahrheiten sind. Bützow/Wismar 1760. – Abh. v. den vorzüglichsten Beweisen des Daseins Gottes. Ebd. 1761. – Über die allg. speculativische Philosophie. Ebd. 1775. Neudr. in: Philosophische Versuche [...]. a. a. O. – Sprachphilosophische Versuche. Hg. Heinrich Pfannkuch. Einl. v. Erich Heintel. Hbg. 1971 (mit ausführl. Bibliogr.). Literatur: W. Uebele: J. N. T. nach seiner Gesamtentwicklung betrachtet mit bes. Berücksichtigung des Verhältnisses zu Kant. In: Kantstudien. Erg.-H. 24, Bln. 1911. – B. de Gelder: Kant en T. In: Tijdschrift voor filosofie 37 (1975), S. 226–260. – Jeffrey Barnouw: The Philosophical Achievement and Historical Significance of J. N. T. In: Studies in the Eighteenth-Century Culture 9 (1979), S. 301–335. – Ulrich G. Leinsle: J. N. T. In: Bautz, Bd. 11 (1996), Sp. 721–725. – Christoph Böhr: An der Schwelle zur dt. Popularphilosophie: J. N. T.’ Warnung vor der populären Philosophie. Über eine fast unbekannte Quelle am Beginn einer einflußreichen Strömung. In: Johann Jakob Engel (1741–1802). Philosoph für die Welt, Ästhetiker u. Dichter. Hg. Alexander Kosˇ enina. Hann.-Laatzen 2005, S. 205–211. Christian Hauser / Red.

Tetzner, Gerti, * 29.11.1936 Wiegleben/ Thüringen. – Prosaautorin. Nach dem Jurastudium war T. drei Jahre lang Notarin; dann besuchte sie das Literaturinstitut »Johannes R. Becher« in Leipzig, wurde freie Schriftstellerin u. arbeitete daneben in verschiedenen Berufen. T.s Roman Karen W. (Halle 1974, Darmst./ Neuwied 1975) handelt von einer Juristin, die den Widerspruch zwischen den eigenen Hoffnungen u. den Anpassungsstrategien ihres Lebensgefährten nicht länger ertragen will u. deshalb mit der gemeinsamen Tochter ins Dorf ihrer Kindheit zurückkehrt. Nach schmerzhaften Erfahrungen dort, u. a. in Auseinandersetzung mit der eigenen familiären Vergangenheit, u. erneut auch mit dem Lebensgefährten sucht sie sich schließlich eine unabhängigere neue berufl. u. damit gesellschaftl. Position (wird dafür allerdings

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wieder in der Stadt ihrer alten Beziehung leben u. in der Nähe arbeiten). Trotz vieler Hinweise auf T.s eigene Lebensgeschichte ist Karen W. nicht verschlüsselte Autobiografie mit Happy-End, sondern der – neben Christa Wolfs Nachdenken über Christa T. u. Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand einzuordnende – originelle Versuch einer DDR-Schriftstellerin, den Konflikt zwischen individuellem Glücksanspruch u. Erwartungen der Gesellschaft zu gestalten. Der Roman, dessen in einem Briefwechsel mit Christa Wolf dokumentierte Anfänge ins Jahr 1965 zurückreichen (vgl. Christa Wolf: Werke. Bd. 4: Essays / Gespräche / Reden / Briefe 1959–1974. Hg., komm. u. mit einem Nachw. versehen von Sonja Hilzinger. Mchn. 1999, S. 213–237), überzeugt trotz klischeehafter Passagen durch Aufrichtigkeit u. Entschlossenheit. In der Fortsetzung dieses Anspruchs (u. möglicherweise als Antwort auf den Vorwurf, das Kind Bettina in Karen W. bleibe Staffage) erschien 1979 die Geschichte eines allein bei der berufstätigen Mutter lebenden Mädchens, das sich in andere Kinder verwandeln kann (Maxi. Bln./DDR 1979. U. d. T. Als Maxi nicht mehr Maxi war. Reinb. 1988) – keine Märchenidylle, sondern ein auch sprachlich beeindruckendes realistisches Kinderbuch. Ein weiterer Roman (entstanden 1980/81, Manuskripttitel: Die Oase) ist seit der seinerzeitigen Ablehnung durch den Mitteldeutschen Verlag (Halle) unveröffentlicht. Mit Eva Kaufmann lässt sich für ihn jedoch resümieren: »Die Handlung erstreckt sich von Frühsommer bis Spätherbst eines Jahres – etwa zu Beginn der Achtziger –, in dem die Atomkriegsangst sehr groß war. Den Rahmen gibt eine Liebesgeschichte ab. Sie ist zugleich die Geschichte des Versuchs einer jungen Frau, einer Kindergartenleiterin [...], den Kindergarten so umzumodeln, dass sich Selbständigkeit, Initiative und Kreativität besser entfalten können.« (Es geht nicht weiter, wenn es so weitergeht. Exkurs zu G. T.s Roman ›Die Oase‹. In: E. Kaufmann: Aussichtsreiche Randfiguren. Neubrandenburg 2000, S. 117–125.) Oasenartige kleine Utopien von freieren Liebesbeziehungen, gelebter Mitmenschlichkeit u. libertärer Kindererziehung sowie deren Scheitern an der DDR-Wirklichkeit wurden hier

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anscheinend in einer nicht erwünschten Weise vorgestellt. Weitere Werke: Das Verwandlungshaus. Bln./ DDR 1986 (Kinderbuch). – Im Land der Fähren. Bilder aus Dänemark (zus. mit Reiner Tetzner). Halle 1988. Literatur: Hans Kaufmann: Ein Vermächtnis, ein Debüt. Brigitte Reimann: ›Franziska Linkerhand‹ u. G. T.: ›Karen W.‹. In: Eva u. H. Kaufmann: Erwartung u. Angebot. Studien zum gegenwärtigen Verhältnis v. Lit. u. Gesellsch. in der DDR. Bln./ DDR 1976, S. 193–215. – Karin Richter: G. T.: Maxi. In: WB 28 (1982), H. 1, S. 132–140. – Volker Hammerschmidt u. Klaus Müller: G. T. In: KLG. – Thomas Kraft: G. T. In: LGL. Hannes Krauss / Stefan Elit

Tetzner, Lisa, * 10.11.1894 Zittau, † 2.7. 1963 Carona/Tessin. – Kinderbuchautorin. In ihrer Jugend war T. wegen der Folgen einer Knochenmarkstuberkulose Jahre lang an Bett u. Rollstuhl gefesselt. Das Lesen von Büchern bot ihr die einzige Möglichkeit, den bedrückenden Alltagserfahrungen zu entkommen. Allmählich kämpfte sie sich ins Leben zurück, ihr linkes Knie blieb aber zeitlebens steif. Gegen den Willen ihres erzkonservativen Vaters, eines Arztes, besuchte sie nach Beendigung der 10. Klasse u. kurzem Besuch des Mädchenpensionats »Ilsenhof« die Soziale Frauenschule in Berlin. Zur Vorbereitung auf ihre dortige Ausbildung arbeitete sie für drei Monate im »Pestalozzi-Fröbel-Haus«, wo sie sich erstmals intensiv mit Kindern beschäftigte. Die anschließende Ausbildung befriedigte T. allerdings wenig, sie wollte viel lieber mit Kindern arbeiten als juristische Paragraphen auswendig lernen; dennoch erwarb sie 1917 das Diplom als »Staatlich geprüfte Fürsorgerin«. Eine neue berufl. Perspektive hatte sich unterdessen aber längst ergeben. 1916 war T. einem dän. Märchenerzähler begegnet, dessen Vortrag sie so fasziniert hatte, dass sie zu dem Entschluss gekommen war, wie er durch die Lande zu reisen. Auf möglichst anschaul. Weise wollte sie die Kinder wieder mit dem verlorenen kulturellen Erbe bekannt machen u. ihnen zgl. die Archetypen menschl. Verhaltensweisen vorführen, die sie gerade in

den Märchen der Völker aufgehoben sah. Zu diesem Zweck ließ sie sich von Emil Milan in der Kunst des Vortrags unterrichten. Zudem nahm sie Stunden an Max Reinhardts Staatlicher Schauspielschule, »um die Sprechtechnik und Ausdrucksfähigkeit zu vervollkommnen und ein öffentliches Auftreten zu schulen«. Finanziell unterstützt von Eugen Diederichs, der bald zu ihrem väterl. Freund wurde, zog sie anschließend sechs Jahre lang, zwischen 1918 u. 1924, als Märchenerzählerin durch Deutschland (Vom Märchenerzählen im Volke. 3 Bde., Jena 1919–23. Im blauen Wagen durch Deutschland. Bln. 1926). Für wenige Monate schloss sie sich der Mysterienspielgruppe von Gottfried Haas-Berkow an. Während dieser Jahre als »wandernde Scheherezade« wurde T. mehr als je zuvor in ihrem bisherigen Leben mit gesellschaftspolit. Problemen konfrontiert – ein Umstand, der ihrem Denken u. Wirken von nun an die Richtung gab. Sie begann die industrielle Entwicklung kritisch zu betrachten, stellte sich auf die Seite der Arbeiterklasse u. brachte immer deutlicher das Problem der sozialen Ungerechtigkeit zur Sprache. Damit näherte sie sich zwar dem Kommunismus an (1929: Reise nach Russland), ein parteipolit. Engagement lehnte sie freilich ab. Das änderte sich auch nicht, als sie auf einer Fahrt durch Thüringen ihren »Lebensmenschen« kennenlernte: den Arbeiterschriftsteller u. KPDPolitiker Kurt Kläber (Pseud. Kurt Held). Im Dez. 1924 heirateten beide; in ihrer Berliner Wohnung verkehrten bis 1933 so namhafte Schriftsteller wie Johannes R. Becher, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers u. Bertolt Brecht. Nachdem T. durch ihre Fahrtenberichte (Im Land der Industrie zwischen Rhein und Ruhr. Jena 1921. Aus Spielmannsfahrten und Wandertagen. Ebd. 1923) bekannt geworden war, wurde sie 1927 freie Mitarbeiterin in der Kinderstunde des Berliner Rundfunks. Sie erzählte Märchen u. betreute das Projekt »Kinder spielen für Kinder«. Ihre Aktivitäten waren nach Grundsätzen ausgerichtet, die eine gedankl. Nähe zur Reformpädagogik erkennen lassen: Die Kinder seien unbedingt ernst zu nehmen, sie müssten aus ihrer Zuhörerrolle herausgerissen u. in die Produktion von Märchen u.

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Stegreifspielen eingebunden werden. Dazu arbeitete T. mit einer festen Kindergruppe zusammen u. führte Befragungen an Berliner Schulen durch. Nach ihren Wanderungen sammelte sie weiterhin Märchen u. gab sie in antholog. Form heraus (Die schönsten Märchen der Welt für 365 und 1 Tag. 2 Bde., ebd. 1926/27. Neudr. u. d. T. Märchenjahr. Mchn. 1956). Seit 1926 schrieb sie eigene Kinderbücher, darunter das sozialkritische, mit märchenhaften Elementen angereicherte Jugendbuch Hans Urian oder die Geschichte einer Weltreise (Stgt. 1931), das auf ihrem gemeinsam mit Béla Balázs verfassten Theaterstück Hans Urian geht nach Brot (1929) beruht. Ein Jahr nach Erscheinen lag das Büchlein bereits in engl. Übersetzung vor (Hans sees the world. New York 1932.). Nach dem Reichstagsbrand im Febr. 1933 bezichtigten die Nationalsozialisten T.s Ehemann Kurt Kläber der Mittäterschaft u. nahmen ihn in Haft. Durch geschicktes Taktieren gelang es T., ihren Mann aus dem Gefängnis frei zu bekommen. Sofort emigrierten beide nach Carona, wo sie eine Ferienwohnung besaßen. In der Schweiz musste sich T. erst wieder eine berufl. Existenz aufbauen. Von 1938/39 bis 1953/54 unterrichtete sie am Basler Lehrerseminar als Dozentin für Stimmbildung u. Vortragstechnik. Für kurze Zeit konnte sie nach ihrer Emigration sogar noch unbehelligt publizieren. Ihren dt. Verlag verlor sie schließlich aber doch, u. zwar, als die SS-Zeitung »Das Schwarze Corps« 1935 scharf gegen ihr Kinderbuch Was am See geschah. Die Geschichte von Rosmarin und Thymian (Baden-Baden 1935) polemisierte. 1936 wurde T. aus der Reichsschrifttumskammer gestrichen. Nach dem Krieg publizierte T., seit 1949 Schweizer Staatsbürgerin, weiterhin eigene Bücher u. gab zudem wieder Märchenanthologien heraus (Französische Märchen. Bergen II/ Obb 1948. Englische Märchen. Ebd. 1949. Dänische Märchen. Ebd. 1949. Verschiedene Sammelbände in der Reihe »Schaffsteins blaue Bändchen«. Köln 1950. Europäische Märchen. Ffm. 1958). Sie widmete sich aber auch der Übersetzung. Vor ihrem Tod übertrug sie den ersten Band von C. S. Lewis’ Die Chroniken von Narnia ins Deutsche (Die Aben-

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teuer im Wandschrank. Freib. i. Br.; seit 1977 u. d. T.: Der König von Narnia). 1952 gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern des International Board on Books for Young People (IBBY). Im Exil entstand T.s Hauptwerk, die Kinderodyssee Erlebnisse und Abenteuer der Kinder aus Nr. 67 (9 Bde., Stgt./Stockholm/Aarau 1933–49. Neudr. Mchn. 1985–90, ohne Bd. 9). Das Figurenarsenal stammt aus dem Berliner Arbeitermilieu; die Handlung spielt in der ausgehenden Weimarer Republik u. der NS-Zeit bis zum Ende des Krieges. Im Mittelpunkt stehen die Halbjüdin Mirjam, die einigen Kindern aus Nr. 67 als Projektionsfigur für ihre fremdenfeindl. Ressentiments dient, sowie die Freunde Erwin u. Paul. Stellvertretend werden sie zu Opfer u. Täter. Während Erwin an der Seite seines regimefeindl. Vaters aus Deutschland flieht, sich dem polit. Widerstand anschließt u. später als Angehöriger der brit. Armee zurückkehrt, begeistert sich Paul für die neuen Machthaber. Durch Diffamierung eines Lehrers lädt er auch persönlich Schuld auf sich. Erst allmählich erkennt er das ganze Ausmaß seiner ideolog. Verblendung, weshalb er schließlich unter Lebensgefahr in die Schweiz flieht. Die einzelnen Bücher decken unterschiedl. Themenbereiche ab: Sie erzählen ihren jugendl. Lesern von den sozialen Nöten der dt. Bevölkerung u. dem Aufstieg des Nationalsozialismus, sodann von den furchtbaren Erfahrungen der Kinder während des Krieges, von Tod, Schiffbruch u. den Existenzsorgen der Emigranten in ihren neuen Heimatländern Schweden u. Amerika. Das Ziel der Reihe ist ein aufklärerisch-didaktisches; die moralische Belehrung gehört zu den konstitutiven Elementen der Darstellung, sie wirkt aber nur selten aufdringlich. Denn T. möchte ihre Leser nicht bevormunden, sondern zum eigenverantwortl. Denken u. Handeln animieren, dem wirksamsten Schutz vor ideolog. Vereinnahmung. Auch heutigen Kindern u. Jugendlichen ermöglicht die »Kinderodyssee«, die jüngste dt. Geschichte in einer Form kennenzulernen, die ihrem Reflexionsniveau angemessen ist u. sie bei der Entwicklung eines demokratischen Bewusstseins unterstützt.

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Ins frühe 19. Jh. führt ein anderes wichtiges Brief an T., dass diese seit Jahren ihre »IdeJugendbuch, das unter dem Namen L. T. er- algestalt« sei. schienen ist: Die schwarzen Brüder. Erlebnisse Weitere Werke: Dt. Rätselbuch. Jena 1924. – und Abenteuer eines kleinen Tessiners (Aarau Das Märchen v. dicken, fetten Pfannkuchen. Ebd. 1941. 162007). Anhand der Geschichte des 1925. – Guck heraus, heißt mein Haus. Mchn. Knaben Giorgio schildert der Roman das 1925. – Der Gang ins Leben. Jena 1926. – Die sieben harte Los der Mailänder Kaminfegerbuben, Raben. Königstein/Ts. 1928. – Vom Märchenbaum die sich zu einer Solidargemeinschaft, den der Welt. Ffm. 1929. – Der Fußball. Potsdam 1932. – Siebenschön. Mchn. 1933. – Erwin u. Paul. Stgt. schwarzen Brüdern, zusammenschließen. 1933. – Die Reise nach Ostende. Aarau 1936. – Wie ihr Retter, Dr. Casella, ein deus ex ma- Märchen der Völker. Köln 1951. – Die kleine Su aus china, sind alle Figuren des Romans typisiert. Afrika. Bln. 1952. – Su u. Agalaia. Ebd. 1952. – Die Sie stehen für den Dualismus von Gut u. schwarze Nuß. Düsseld. 1952. – Das Töpflein mit Böse; selbst die Gruppe der »Wölfe«, deren dem Hulle-Bulle-Bäuchlein. Ffm. 1953. – Wenn ich Mitglieder sich zum Guten hin entwickeln, schön wäre. Baden-Baden 1956. – Das Mädchen in verkehrt die Prinzipien ihres Handelns le- der Glaskutsche. Bln. 1957. – Das Füchslein u. der diglich ins Gegenteil. Gleichwohl bietet der zornige Löwe. Tiermärchen aus aller Welt. Aarau/ Roman eine berührende Schilderung des Ffm. 1958. – Das war Kurt Held. 40 Jahre Leben mit großstädt. Elends in einer Zeit, wo die soziale ihm. Aarau 1961 (Autobiogr.). Literatur: Werner Humm: Das Märchen u. L. T. Frage noch nicht im Bewusstsein der AllgeEin Lebensbild. Aarau 1966. – Bernd Otto: Die meinheit angekommen ist. Die EntsteAufarbeitung der Epoche des NS im fiktionalen hungsgeschichte dieses Klassikers der JuJugendbuch der BRD v. 1945 bis 1980. Ein poligendliteratur ist einigermaßen kompliziert. tikwiss. Beitr. zur Jugendbuchforsch. Ffm./Bern Begonnen wurde das Buch von T., die in alten 1981. – Bernd Dolle-Weinkauff: Das Märchen in Chroniken von den jungen Kaminfegern ge- der proletarisch-revolutionären Kinder- u. Jugendlesen hatte, weiter geschrieben hat es offenbar lit. der Weimarer Republik 1918–1933. Ffm. 1984. ihr Mann; dessen Manuskript wurde von T. – Heiner Willenberger u. Rainer Fröbel: Interesse überarbeitet u. gekürzt. Diese enge Zusam- u. individuelles Verstehen. L. T.s ›Die Kinder aus menarbeit war für das Paar nichts Unge- Nr. 67‹. In: DU 41 (1989), H. 4, S. 43–52. – Cornelia wöhnliches, sie macht es aber fast unmöglich, Amlacher: Von einer, die auszog, Märchen zu erdie Anteile am Entstehungsprozess quanti- zählen. Zum 100. Geburtstag v. L. T. In: Palmbaum 2 (1994), S. 73–81. – Heinrich Kaulen: Neue Matetativ zu bestimmen. Da Kurt Kläber seit 1933 rialien zu Leben u. Werk v. L. T. (1894–1963). Zum in Deutschland nichts mehr publizieren 100. Geburtstag der Jugendbuchautorin. In: DU 46 durfte u. in der Schweiz keine Arbeitser- (1994), S. 82–88. – Gisela Bolius: L. T. Leben u. laubnis besaß, sah er sich allerdings veran- Werk. Ffm. 1997 (mit Bibliogr.). – Elena Geus: ›Die lasst, das Buch als alleiniges Werk seiner Frau Überzeugung ist das einzige, was nicht geopfert auszugeben. Bis heute wird auf dem Titel werden darf.‹ L. T. (1894–1963): Lebensstationen – Arbeitsfelder. Ebd. 1997 (Diss.). – Alfred Messerli: ausschließlich sie als Verfasserin genannt. Während sich T.s Bücher nach dem Krieg in Vom Thüringer Wald zur Berliner Funk-Stunde. vielen Ländern Europas großer Beliebtheit Die Märchenerzählerin L. T. zwischen primärer u. erfreuten, gerieten sie bei den dt. Lesern zu- sekundärer Oralität. In: Erzählkulturen im Medienwandel. Hg. Christoph Schmitt. Münster u.a. nächst in Vergessenheit. Erst seit dem Ende 2008, S. 55–74. – Volker Weidermann: Das Buch der siebziger Jahre fand die »Kinderodyssee« der verbrannten Bücher. Köln 2008. in beiden dt. Staaten wieder ein Publikum, Alexander Schüller auch die literaturwissenschaftl. Rezeption begann. Heute gilt T. als bedeutendste Des Teufels Netz. – Spätmittelalterliche deutschsprachige Jugendbuchautorin der lehrhafte Reimpaardichtung, um 1420. Exilzeit u. als Wegbereiterin einer problemorientierten Jugendliteratur. Ihre Bücher ha- Die Dichtung (mhd.: des tüfels segi) entstand ben zahlreiche bekannte Kinder- u. Jugend- wohl um 1420 im Bodenseeraum. Sie ist nach buchautoren inspiriert, allen voran Astrid Ausweis der »vorred« ausdrücklich als »lere« Lindgren. 1953 bekannte Lindgren in einem gedacht u. als solche auf der Grenze zwischen

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geistl. Didaktik u. profaner, sozial-eth. Ständekritik anzusiedeln. Die Nähe zu verschiedenen Literaturtypen des didakt. Umfelds beweist, dass die Verfasser der überlieferten Versionen (vier Handschriften, die nach Umfang u. Textanordnung verschieden sind: die längste hat etwa 13.700 Verse, die kürzeste etwa 7000, u. ein 90-Zeilen-Fragment [ed. Curschmann]) wie Kompilatoren mit den vorgegebenen Materialien der didakt. Literatur des SpätMA umgingen. Zudem ist keine der Überlieferungen als »Original« anzusehen; vielmehr müssen alle als authent. Fassungen eines für Veränderungen offenen Grundkonzepts verstanden werden, dessen urspr. Textgestalt ebenso unbekannt ist wie der Autor bzw. die Autorin des Werks. Das inhaltlich wie strukturell dennoch verbindl. Grundgerüst, an dem sich jede der überlieferten Fassungen orientiert, bildet der Dialog zwischen einem Einsiedler u. dem Teufel, in dem dieser von dem frommen Gesprächspartner gezwungen wird, ausführlich zu erläutern, wie er nahezu alle Menschen in seine Gewalt bringen kann. Dabei kommt zunächst das titelstiftende Teufelsnetz zur Sprache, das von des Teufels Knechten, Personifikationen der sieben Todsünden sowie einiger anderer Sünden, durch die Welt gezogen wird: Wer sich vor den Knechten nicht hütet, geht dem Teufel ins Netz. Damit ist das allegor. Grundkonzept etabliert, das Inhalt u. Struktur des gesamten Werks bestimmt. Die Beschreibung seiner Knechte weitet der Teufel aber zu langen systemat. Erläuterungen der durch sie verkörperten Sünden aus, sodass diese Passagen den Charakter eines Sündenkatalogs mit Ausdeutung haben. An diesen schließt sich eine Aufzählung der Verstöße gegen die zehn Gebote an, die reichlich mit Beispielen aus dem alltägl. Leben belegt werden, welche das Wirken der Teufelsknechte beweisen sollen. Auch wenn diese Abhandlungen dem Teufel in den Mund gelegt u. satirisch-allegorisch verfremdet sind, ähneln sie in ihrer konkretdidakt. Ausrichtung u. in ihrer Systematik den Sündenkatalogen in entsprechenden Abschnitten katechetischer Literatur des MA. Im zweiten Teil beschäftigt den Einsiedler die Frage, wem es in der Hölle am schlech-

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testen gehe. Der Teufel benutzt seine Antwort zu einer detaillierten Charakteristik aller Stände der mittelalterl. Gesellschaft. Vom Papst bis zum Bettelmönch, vom Kaiser bis zur niedrigsten Dirne sind sie mit wenigen Ausnahmen in sein Netz verstrickt. Dabei erfährt die Allegorie im Verlauf des Dialogs eine Ausweitung, da nun die verschiedenen Vergehen auch als vom Teufel selbst ausgelegte Fallstricke erscheinen. Der Teufel tritt hier als Sittenrichter u. als Warner vor sich selbst auf u. entwirft ein systematisch geordnetes Bild der mittelalterl. Gesellschaft, für das sowohl das Schachzabelbuch des Konrad von Ammenhausen als auch die Reihenform der Totentänze u. die satir. Ständedarstellung der Teufelsszenen geistl. Spiele Vorbilder gewesen sein dürften. Im abschließenden Teil wird der Teufel im Gespräch mit Christus gezeigt, dem gegenüber er seinen Anspruch auf die bösen Seelen geltend macht. Wie in entsprechenden Szenen mittelalterl. Weltgerichtsspiele darf der Teufel die in seine Gewalt geratenen bösen Seelen abführen, muss aber die guten Christus überlassen u. wird selbst in die Hölle verdammt. Zur Unterscheidung der guten von den bösen Seelen dienen katalogartige Aufzählungen positiver Verhaltensweisen, die als Kontrast zu allem vorher Gesagten dienen u. wiederum die katechetische Ausrichtung des Werks deutlich machen. Diese steht außer Zweifel, auch wenn sich des T. N. durch die versatzstückhaft verwendeten Materialien aus unterschiedl. Bereichen der didakt. Literatur als ein äußerst heterogenes u. für Veränderungen offenes Werk darstellt, dessen geistlich-didakt. Zielrichtung, v. a. im umfangreichen zweiten Teil, gelegentlich hinter der profan-didakt. zu verschwinden scheint. Die durch den Titel gegebene Allegorie, die, vielleicht eine Umkehrung allegor. Ausdeutungen von Petri Fischzug, in der Literatur u. bildenden Kunst des MA sonst ohne Beispiel ist, bildet für dieses in sich heterogene Werk nicht nur den strukturellen Zusammenhalt, sondern auch das Hauptmotiv: Wer der geistl. Unterweisung zu wenig Beachtung schenkt, wird sich in des Teufels Netz verstricken.

465 Ausgaben: Des T. N. Hg. Karl August Barack. Stgt. 1863. Neudr. Amsterd. 1968. – Michael Curschmann: Des T. N. Ein Handschriftenfragment aus St. Pölten. In: ZfdA 100 (1971), S. 445–450. Literatur: M. Curschmann (s. Ausgaben). – Anke Ehlers: Des T. N. Untersuchungen zum Gattungsproblem. Stgt. 1973. – Bruno Boesch: Zu Sprache u. Wortschatz der alemann. Dichtung ›Von des tüfels segi‹ (T. N.). In: Alemann. Jb. (1971/72), S. 46–73. – Franz-Josef Schweitzer: Tugend u. Laster in illustrierten didakt. Dichtungen des späten MA. Hildesh. u. a. 1993, S. 249–325. – Karin Lerchner: Des T. N. In: VL. – Hildegard Elisabeth Keller: Die minnende Seele in des T. N. Geschlechterpolemik kontrafaziert. In: Text im Kontext. Hg. Alexander Schwarz u. Laure Abplanalp. Bern 1997, S. 109–126. Anke Ehlers / Red.

Teuffenbach, Ingeborg, eigentl.: I. Capra, * 1.10.1914 Wolfsberg/Kärnten, † 19.9. 1992 Innsbruck. – Lyrikerin u. Hörspielautorin. Nach dem Besuch der Volks- u. Bürgerschule in Wolfsberg absolvierte T. in Klagenfurt die Lehrerinnenbildungsanstalt. Sie lebte in Innsbruck, wo sie die Wochenend-Gespräche für Literatur initiierte u. veranstaltete. Im »Dritten Reich« verfasste sie mehrere Gedichtbände, die als Verherrlichung des Nationalsozialismus gelesen werden müssen. Sie erhielt 1941 den Raimund-Preis der Stadt Wien. Das Buch Verpflichtung. Gedichte zum Krieg (Bln. 1940), das in der NS-Bibliografie u. d. T. Das deutsche Jahr geführt wurde, besteht z. T. aus gereimten Exegesen von Führerzitaten u. feiert den Zweiten Weltkrieg als große Zeit. Nach 1945 distanzierte T. sich entschieden von ihrer Haltung u. trat immer mehr als Hörspielautorin an die Öffentlichkeit. 1980 wurde sie mit dem ersten ORF-Preis für das beste heitere Hörspiel (Wie geht’s denn der Sophie?) ausgezeichnet. Ihr Nachlass befindet sich im Brenner-Archiv der Universität Innsbruck. Weitere Werke: Kärntner Heimat. Wien 1938 (L.). – Saat u. Reife. Bekenntnisse des Glaubens u. der Liebe. Ebd. 1938 (L.). – Du Kind. Potsdam [1941] (L.). – Verborgenes Bildnis. Stgt. [1943] (L.). – Der große Gesang. Leinfelden 1953 (L.). – Christine Lavant: ›Gerufen nach dem Fluß‹. Zeugnis einer

Teuschl Freundschaft. Zürich 1989. – Maskali. ORF 1990 (Hörsp.). – Schnittpunkt Innsbruck. 15 Jahre Innsbrucker Wochenendgespräche. Eine Anth. Innsbr. 1990. – Positionen. Gedichte. Nachw. Krista Hauser. Ebd. 1993. – Christine Lavant: Herz auf dem Sprung. Die Briefe an I. T. Im Auftrag des BrennerArchivs hg. u. mit Erläuterungen u. einem Nachw. vers. v. Annette Steinsiek. Salzb. u. a. 1997. Literatur: Annette Steinsiek: Nachläßlich I. T. In: INN. Ztschr. für Lit. 12 (1995), H. 34, S. 38–41. Johann Sonnleitner / Red.

Teuschl, Wolfgang, * 26.4.1943 Wien, † 22.9.1999 Wien. – Dialektdichter u. Kabarettist. T. gehört zu den wichtigsten u. vielseitigsten Protagonisten der linken Gegen- u. Protestkultur im Wien der 1970er Jahre. Sein Text zu dem Anti-Wienerlied Alle Menschen san ma zwider erregte 1972 ebenso großes Aufsehen wie im Jahr davor seine Dialektfassung des Neuen Testaments Da Jesus und seine Hawara (Salzb. Neuausg. St. Pölten/Wien 2001), die von konservativen Kirchenkreisen als blasphemisch kritisiert, von progressiven Theologen hingegen als erfrischendes Experiment begrüßt wurde. T., der Mathematik u. Physik studiert hatte, betätigte sich eine Zeit lang als Verlagslektor u. Übersetzer (u. a. von Jakov Lind), verschrieb sich aber schon bald der Kleinkunst u. war bis in die späten 1980er Jahre einer der stilprägenden u. meistbeschäftigten Autoren der Wiener Kabarettszene. Als besonders fruchtbar erwies sich seine langjährige Zusammenarbeit mit den Kabarettisten Erwin Steinhauer u. Lukas Resetarits; für beide schrieb er zahlreiche Sketches u. Chansontexte, im Dialekt wie in der Hochsprache. Daneben betrieb er einige Jahre mit dem Wiener »Spektakel« eine eigene Kabarettbühne, schuf Nestroy-Bearbeitungen für das Wiener Burgtheater u. erarbeitete in langjähriger Kleinarbeit ein Wiener Dialekt Lexikon (Wien 1990. 3., überarb. Aufl. St. Pölten/Salzb. 2007), das v. a. den Sprachschatz der Unterschichten akribisch verzeichnet.

Thaer Literatur: Iris Fink: Von Travnicek bis Hinterholz 8. Kabarett in Österr. von A bis Zugabe. Graz/ Wien/Köln 2000. Christian Teissl

Thaer, Albrecht (Daniel), * 14.5.1752 Celle, † 26.10.1828 Möglin bei Wriezen/ Oder; Grabstätte: ebd., an der Dorfkirche. – Arzt, Agrarwissenschaftler.

466 Leitfaden zur allg. landwirthschaftl. Gewerbslehre. Bln./Wien 1815. Literatur: Volker Klemm u. Günther Meyer: A. D. T. [...]. Halle 1968. – Günter Darkow: Ausstellung A. D. T. Eggersdorf 1992. – Heide Hoffmann (Hg.): T.s Vermächtnis heute. Beiträge zur nachhaltigen Agrarlandschaftsentwicklung in Berlin u. Brandenburg. Bln. 1999. – Ernst Hansch: A. D. T. Auf der Suche nach dem Garten Eden. Bln. 2000 (Video). – Kathrin Panne (Hg.): A. D. T. – Der Mann gehört der Welt. Celle 2002. – Symposium am 14. u. 15. Mai 2002 in Berlin aus Anlaß des 250. Geburtstags v. A. D. T. Bln. 2002. – K. Panne: A. D. T. 1752–1828, der Begründer der modernen Landwirtschaft. Uelzen 2003. – Martin Frielinghaus: A. D. T. in Brandenburg u. Berlin. Agrarhistor. u. kulturhistor. Reiseführer. Neuenhagen 2004. – Ders.: Frielinghaus: A. D. T. – ein Leben für die Landwirtschaft. Ffm. 2006. Fritz Krafft / Red.

Nach dem Medizinstudium promovierte T. 1774 in Göttingen u. ließ sich in Celle als Arzt nieder; er wurde hier Stadtphysikus sowie hannoverscher Hofmedikus, beschäftigte sich aber auch intensiv mit einer Reform der Landwirtschaft auf der Basis einer Fruchtwechselwirtschaft, verbesserter Anbaumethoden, neu entwickelter Ackergeräte u. einer gegenüber der Kameralistik die Praxis betonenden Ausbildung, die er seit 1802 auf seinem Hof bei Celle betrieb. Seit 1804 in preuß. Tham, Thamm, Michael, † 27.8.1561 FulDiensten u. ordentl. Mitgl. der Preußischen nek/Mähren. – Prediger u. KirchenliedAkademie der Wissenschaften, gründete T. dichter. 1806 auf Gut Möglin die »Königlich Preußi- T. ist ein Nachkomme der um 1480 aus der sche Akademische Lehranstalt des Land- Mark Brandenburg ausgewanderten Walbaus«, die Vorbild für zahlreiche entspre- denser u. wurde 1534 zum Priester der Unität chende Einrichtungen in Europa u. Nord- der böhmisch-mähr. Brüder geweiht. Als amerika wurde. 1807–1817 preuß. Staatsrat, Nachfolger von Michael Weiße war er bis war er 1810–1818 Professor für Landwirt- 1548 Vorsteher der beiden dt. Gemeinden in schaft an der Universität Berlin. Fulnek u. Landskron. Er begleitete die nach T. ist der Begründer einer systemat. Land- Polen auswandernden Exulanten u. war wirtschaftswissenschaft. Sein Konzept einer zeitweise in Posen tätig. Bedeutung erlangte »Betreibung der Landwirtschaft als ein Ge- er als Hauptherausgeber der neuen Ausgabe werbe« sah deren Zweck nicht darin, »die des dt. Brüdergesangbuchs von 1566 u. d. T. möglichst höchste Produktion aus dem Bo- Kirchengeseng darinnen die Heubtartickel des den zu erzielen, sondern den möglichst Christlichen glaubens kurtz gefasset und ausgelegt höchsten Gewinn daraus zu erhalten«, wozu sind (Eibenschitz [tschech.: Ivancˇice ] 1566). neben den jeweils neuesten naturwissen- Dieses dem Kaiser gewidmete, künstlerisch schaftl. Erkenntnissen insbes. auch »politi- gestaltete Gesangbuch (s. Petrus Herbert) sche, staatswirtschaftliche, rechtskundige enthält 28 Lieder T.s, die sich in ihrer dichund merkantilistische Kenntnisse« Anwen- terischen Form an Weiße anlehnen u. teildung erfahren müssten. Seine Lehre vermit- weise Übersetzungen aus dem tschech. Brütelte T. nicht nur unmittelbar an seine Schü- dergesangbuch von 1561 sind. Sie schildern ler, sondern auch durch einen regen Brief- die Heilstaten Christi u. die Spannung christl. verkehr, über Agrar-Fachzeitschriften u. vor Lebens in der Anfechtung. Einzelne Lieder allem durch Lehr- u. Handbücher, von denen werden in der Brüdergemeine bis heute gedie Grundsätze der rationellen Landwirthschaft (4 sungen, darunter »O Christe, der du siegest in Bde., Bln. 1809–12) in Europa u. Nordame- den Deinen« (nach Lukas von Prag. In: Das rika bis 1880 allein 37 Auflagen bzw. Über- Evangelische Gesangbuch der Brüdergemeine. Hbg. setzungen erfuhren. 1967). Genannt sei auch das eindrückl. MärWeitere Werke: Einl. zur Kenntnis der engl. Landwirthschaft [...]. 3 Bde., Hann. 1798–1804. –

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tyrerlied »Es sind selig zu loben Gottes Merterer«. Ausgabe: 1107–1110.

Wackernagel

4,

S. 365–383,

Literatur: Bibliografie: Kosch. Bd. 22, Sp. 196. – Weitere Titel: l. u.: M. T. In: ADB. – Rudolf Wolkan: Das dt. Kirchenlied der Böhm. Brüder im 16. Jh. Prag 1891. – Joseph Theodor Müller: Hymnolog. Hdb. zum Gesangbuch der Brüdergemeine. Herrnhut 1916. Nachdr. Hildesh. 1977. – Johannes Kulp: Sonderbd. [zum Hdb. zum EKG]. Gött. (auch Bln.) 1958, Register. – Irmgard Scheitler: Der Beitr. der böhm. Länder zur Entwicklung des Gesangbuchs u. des dt. geistl. Liedgesangs (1500–1620). In: Jb. für Liturgik u. Hymnologie 38 (1999), S. 157–190. – Friedhelm Zwickler: Anmerkungen zu den Melodien des Gesangbuchs der Böhm. Brüder v. 1566. In: ebd. 39 (2000), S. 212–215. – Klaus-Peter Möller: Oberschles. Autoren 1450–1620. In: Oberschles. Dichter u. Gelehrte vom Humanismus bis zum Barock. Hg. Gerhard Kosellek. Bielef. 2000, S. 541 f. Dietrich Meyer / Red.

Tharaeus, Andreas, * um 1569/70 Muskau, † um 1646 Kreis Storkow (?). – Evangelischer Pfarrer, Satiriker.

Scherzrede De hordei miseria anonymi oratio (ebd., S. 220–222) u. auf den Flachs-Artikel im Kräuterbuch des Hieronymus Bock (1539) zurückgeht. Die formal anspruchslose, über die rechte Eheführung belehrende Komödie Weiber Spiegel (Erfurt 1628) bietet ein Gespräch zwischen zwei Frauen (nach dem Ehbüchlin des Erasmus Alberus) u. mehrere Narrenreden (nach einem bibl. Schauspiel Johannes Tecklers). Weiteres Werk: Miles christianus armatus et coronatus. Das ist, christlicher gewapneter u. gekrönter Ritter [...]. Wittenb. 1618. Ausgaben: Eine erberml. Klage der lieben Fraw Gerste, u. ihres Brudern Herrn Flachs [...]. Hg. Johannes Bolte. In: Schr.en des Vereins für die Gesch. Berlins, H. 33 (1897), S. 35–68 (Text u. Komm. S. 46–68). – Dass. in: Teichmann (1998), S. 134–154. – Enchiridion Vandalicum. Ein niedersorb. Sprachdenkmal aus dem Jahre 1610. Hg. Heinz Schuster-Sˇewc. Bautzen 1990. – Weiber Spiegel. Das ist, eine lustige Comoedia von 7. Personen, den ehelichen Haußstand betreffende (1628). In: Teichmann (1998), S. 155–168. Literatur: H. Holstein: A. T. In: ADB. – Bolte, a. a. O., S. 35–45. – Friedrich Holtze: Zur Gesch. des märk. Dichters A. T. In: Mitt.en des Vereins zur Gesch. Berlins 36 (1919), S. 14. – Paul Reusche: Bauernleben in der Herrschaft Storkow vor 300 Jahren nach der Schilderung des A. T. o. O. [Beeskow] 1924. – Evang. Pfarrerbuch für die Mark Brandenburg seit der Reformation. Bearb. Otto Fischer. Bd. II/2, Bln. 1941, S. 884. – Marian Rad/ lowski: Enchiridion Vandalicum Andreae Tharaei, . zabytek dolnol/uzycki z 1610 r [...]. Wrocl/aw 1967 (mit dt. Zusammenfassung). – Doris Teichmann: Studien zur Gesch. u. Kultur der Niederlausitz im 16. u. 17. Jh. Quellengeschichtl. Untersuchungen. Bautzen 1998. – Dies.: Quellengeschichtl. Erkenntnisse zu A. T. In: Leˇtopis 47 (2000), H. 2, S. 3–41. – Dies.: Wendische Kirchengesch. u. Kirchenlit. in der Niederlausitz seit der Reformation bis 1800. Hg. Verein für den Gebrauch der wend. Sprache in der Kirche e.V. o. O. 2009, S. 46–56. Dietmar Peil / Reimund B. Sdzuj

T. hat 1588 das Theologiestudium in Frankfurt/O. aufgenommen u. war um 1600 in Friedersdorf, 1627 in Wendisch (heute: Märkisch) Buchholz (nahe Lübben) als Pfarrer tätig. Er verfasste einen wend. Katechismus (Enchiridion Vandalicum. Frankf./O. 1610, vermutl. verschollen); eine wend. Postille gelangte mangels Unterstützung nicht zum Druck. Literarhistorische Anerkennung fand sein Lehrgedicht »Eine erbermliche Klage der lieben Fravv Gerste, und ihres Brudern Herrn Flachs« (1609. In: Caspar Dornau: Amphitheatrum sapientiae socraticae joco-seriae [...]. Hanau 1619. Nachdr. hg. u. eingel. v. Robert Seidel. Goldbach 1995, S. 222–232), das wohl in der Tradition der satir. Tierklagen steht. Es schildert als Martern die verschiedenen Bearbeitungsvorgänge, denen Gerste u. Flachs Thelen, Albert Vigoleis, auch: Leopold ausgesetzt sind, bis sie als Bier bzw. Leinen Fabrizius, * 28.9.1903 Süchteln/Niederdem Menschen dienen. Ständekritische Pasrhein, † 9.4.1989 Dülken/Niederrhein. – sagen sind eingeflochten; mit einer allg. Romancier, Lyriker u. Übersetzer. moralischen Belehrung, jedoch ohne Rückgriff auf das Verfahren der Allegorese, endet Der Sohn eines Buchhalters u. Prokuristen das Gedicht, das vermutlich auf die lat. wuchs in streng kath. Milieu auf. Das Städ-

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tische Gymnasium zu Viersen verließ er 1919 mit dem Einjährigen-Zeugnis. Er wurde 1919–1922 zum Schlosser u. Maschinenzeichner ausgebildet u. besuchte 1922–1924 die Höhere Fachschule für Textilindustrie in Krefeld. Von 1924 an studierte er Germanistik, Philosophie u. Kunstgeschichte in Köln, seit 1926 auch Niederländische Philologie u. Zeitungswissenschaften in Münster. Seit 1928 arbeitete T. in der Geflügelzucht eines Bruders. Daneben versuchte er, dt. Verlage für Übersetzungen aus dem Niederländischen zu gewinnen. 1930 veröffentlichte er die Novelle Sargmacher Quirinus in der Zeitschrift »Der Türmer«, bei der er bereits mit seinem zweiten Vornamen zeichnete, den er sich in Anlehnung an den Artusroman Wigalois Wirnts von Grafenberg zulegte. 1931 siedelte T. mit seiner späteren Frau Beatrice Bruckner in die Niederlande über u. ging noch im selben Jahr nach Mallorca. Von 1934 an schrieb er unter dem Namen Leopold Fabrizius Beiträge über dt. Exilliteratur für die niederländ. Zeitschrift »Het Vaderland« (Die Literatur in der Fremde. Literaturkritiken. Hg., aus dem Niederländischen übers. u. mit einem Vorw. von Erhard Louven. Bonn 1996), in denen er Literaturkritik mit antinationalsozialistischer Haltung verband. In Mallorca blieb T., bis ihn die Eroberung der Insel durch Franco zur Flucht zwang. Danach war er bis 1939 in der Schweiz ansässig u. lebte während des Zweiten Weltkriegs bei dem Mystiker u. Dichter Teixeira de Pascoaes in Portugal. Mit ihm war T. bereits auf Mallorca in Kontakt getreten u. hatte begonnen, dessen Werke ins Niederländische (u. a. mit Hendrik Marsman) u. Deutsche zu übertragen. Das Gut von Pascoaes ist auch Gegenstand von T.s erstem Gedichtband, dem Zyklus Schloß Pascoaes (Zürich 1942). 1947 kehrte T. in die Niederlande zurück, wo er 1952/53 sein Hauptwerk Die Insel des zweiten Gesichts. Aus den angewandten Erinnerungen des Vigoleis (Amsterd. 1953) niederschrieb. Das Werk des bis dahin fast unbekannten Autors wurde 1954 mit dem Fontane-Preis prämiert u. erfuhr bis in die 1960er Jahre acht Auflagen. Eine Lesung vor der »Gruppe 47« im Herbst 1953 fand allerdings kaum positive Resonanz. 1954–1985 lebte T.

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in der Schweiz. In dieser Zeit entstanden mehrere Gedichtbände u. ein zweites umfangreiches Erinnerungswerk, Der schwarze Herr Bahßetup. Ein Spiegel (Mchn. u. a. 1956). Erst 1985, nach der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes Erster Klasse, entschloss sich T. aus gesundheitl. Gründen zur Rückkehr nach Deutschland. In Insel des zweiten Gesichts beschrieb T. seine Erlebnisse während des Aufenthalts auf Mallorca, blendete aber immer wieder in frühere Lebensphasen zurück. Er entwarf in einem stets zu Exkursen geneigten, mit auktorialen Reflexionen u. Leseransprachen durchsetzten Erzählstil ein von zahllosen Figuren bevölkertes Weltpanorama. In dessen Mittelpunkt steht Vigoleis, das Alter ego des Autors, der sich wie der Held eines pikaresken Romans mit List, durch Anpassung u. Übertölpelung gegen eine feindl. Welt behaupten muss. Das Werk gewinnt seine Lebendigkeit durch T.s souveränen, mutwilligen Umgang mit der Sprache, die er mit Witz u. Fantasie für seine epischen Zwecke dienstbar macht. Durch das Spiel mit der Sprache u. entfesseltes Fabulieren wird die pessimistisch stimmende Welterfahrung in ein heiteres Licht getaucht, u. der »Erzweltschmerzler« Vigoleis erscheint als komische u. zgl. rührende Gestalt. Dabei beharrte T., dessen Titel auch auf ein Werk des mit T. befreundeten Essayisten Menno ter Braak, Het tweede gezicht (1935), anspielt, auf dem Wahrheitsanspruch seiner durch die Anwendung humoristischer u. parodistischer Erzählverfahren überformten Erinnerungen. Noch weiter getrieben wird die Literarisierung des eigenen Lebens in Der schwarze Herr Bahßetup. Das Buch, dem eine Begegnung T.s mit einem brasilian. Juristen zugrunde liegt, lebt aus einem weniger umfangreichen epischen Fundus u. schildert, wie Vigoleis – in Unterbrechung seiner Niederschrift der Insel – die Titelfigur als sprachkundiger Diener u. Weltvermittler durch Holland begleitet. Erneut bediente sich T. eines subjektiven, assoziativ abschweifenden Erzählstils, doch fand das Buch bei Kritik u. Leserschaft bedeutend weniger Anklang. Dies gilt auch für das 1989 postum erschienene, bereits Anfang der 1960er Jahre entstandene Erzählwerk Der

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magische Rand. Eine abtriftige Geschichte (Hg. u. Thenior, Ralf, * 4.6.1945 Bad Kudowa bei Nachw. von Walter Delabar. Mönchenglad- Glatz/Schlesien. – Lyriker u. Erzähler. bach). Darin bildet der Kauf einer elektr. In Hamburg aufgewachsen, kam T. über eine Schreibmaschine den Handlungsrahmen für die Schilderung Vigoleis’scher Erlebnisse als Verlagskaufmannslehre u. anschließendes Schriftsteller in der Tessiner Villa, die T. nach Germanistikstudium zum Schreiben. Ausge1954 verwaltete. Eine geplante Fortsetzung dehnte Reisen führten ihn in die USA, nach des »Insel-Memorials« u. d. T. Die Gottlosigkeit Kanada, Mexiko u. Grönland. 1980 zog T. als Gottes oder Das Gesicht der zweiten Insel, in des- freier Schriftsteller auf Schloss Westerwinkel sen Zentrum nach T.s Bekunden die Gestalt im Münsterland u. lebt seit 1987 in Dortdes Teixeira de Pascoaes stehen sollte, ist nur mund. Seit seiner ersten Buchveröffentlichung, in Auszügen erhalten. Als Lyriker orientierte sich T. zunächst an dem Gedichtband Traurige Hurras (Mchn. Rilke, um später eigenständige, meist ge- 1977), experimentierte T. mit Sprachformen, reimte Sprach- u. Gedankenspiele zu entwi- die gewöhnlich als minderwertig diskrimickeln. Während in Vigolotria (Düsseld./Köln niert werden: mit den Rede- u. Mundarten 1954) skurriler Humor u. Sprachwitz vor- der kleinen Leute, mit Alltagsjargon u. Slang herrschen, sind die Gedichte in Der Tragelaph aus subkulturellen u. proletar. Milieus. Der (ebd. 1955) u. in dem nach T.s weitgehendem sprachkrit. Rekurs auf alltägl. »Spreche« – Rückzug vom literar. Betrieb nur in kleinen mit dem Titel Spreche ist ein Kapitel in Traurige Auflagen gedruckten Runenmund (ebd. 1963) Hurras überschrieben – versucht, die maniu. Saudade (Reicheneck 1986) von Wortmagie pulative Vorprägung der Umgangssprache transparent zu machen. T.s Prosatexte, die geprägte Gedankenlyrik. vom Autor ironisch als »schmutzige GeWeitere Werke: Glis-Glis. Eine zoo-gnost. Parabel. Hildesh. 1967. – Im Gläs der Worte. Düsseld. schichten in schmutziger Sprache« deklariert 1979 (L.). – Poet. Märzkälbereien. Ges. Prosa. Hg. werden (Radio Hagenbeck. Hbg. 1984), stehen Werner Jung. Mönchengladbach 1990. – Briefe an in der Tradition fantastisch-imaginären ErTeixeira de Pascoaes. Hg. u. mit einem Nachw. v. zählens. Realistische Alltagssituationen werAntónio Cândido Franco. Aus dem Span. u. Portug. den auf subtile Weise ins Fantastische verv. Ulrich Kunzmann. Bonn 2000 (zuerst Lissabon schoben. In der Geschichte vom Vollmondfest 1997). – Die Gottlosigkeit Gottes oder Das Gesicht der berauschten »Nachtbotaniker« (in: Die der zweiten Insel. Bremerhaven 2000 (CD, Lesung Nachtbotaniker. Ebd. 1986) entwirft T. einen von A. V. T., Originalaufnahme 1966). – Meine Kosmos des Imaginären: Innere Monologe, Heimat bin ich selbst. Briefe 1929–1953. Hg. u. mit einem Vorw. v. Ulrich Faure u. Jürgen Pütz. Köln Traumszenen, verrückte Dialoge u. Naturbeschwörungen werden assoziativ miteinander 2010. Literatur: Werner Jung: A. V. T. In: KLG. – verknüpft. Der Roman Ja, mach nur einen Plan Jattie Enklaar u. Hans Ester (Hg.): A. V. T. Amsterd. (ebd. 1988) führt in das Milieu der Stadt1988. – Jürgen Pütz (Hg.): In Zweifelsfällen ent- streicher u. sozial Deklassierten. T. erzählt in scheidet die Wahrheit. Beiträge zu A. V. T. Viersen locker zusammengefügten, gelegentlich gro1988. – Ders.: Doppelgänger seiner selbst. Der Er- tesken Episoden von den kleinen alltägl. zähler A. V. T. Opladen 1990. – Ders. (Hg.): Lauter Sensationen u. Frustrationen seiner skurrilen Vigoleisiaden oder: Der zweite Blick auf A. V. T. Helden, die einen kühnen Plan aushecken, (die horen, Nr. 199). Bremerhaven 2000. – Ders.: A. um sich aus ihrem perspektivlosen Dasein zu V. T. In: LGL. – A. V. T. Erzweltschmerzler u. befreien. In den 1990er Jahren schrieb T. vor Sprachschwelger. Bildbiogr. auf der Grundlage der allem Kinder- u. Jugendbücher, so z.B. die Slg. Leo Fiethen. Hg. u. mit einem Vorw. v. J. Pütz. Mit Beiträgen v. Gabriele v. Arnim u.a. Bremerha- Schloßgespenst-Reihe (Ravensburg 1993) oder ven 2003. – Heinz Eickmans u. Lut Missine (Hg.): A. Die Nacht der Sprayer (Ravensburg 1995). Seit V. T.: Mittler zwischen Sprachen u. Kulturen. 2001 arbeitet er am Schulschreiber-Projekt an Münster 2005. – Lothar Schröder: Vigoleis – ein nordrhein-westfäl. Schulen, das Kinder u. Wiedergänger Don Quijotes. Düsseld. 2007. Jugendliche zum Schreiben eigener Texte Jürgen Jacobs / Sven Koch führen soll. Charakteristisch für sein späteres

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Schaffen ist die Vermischung von Lyrik u. Musik, die T. bei seinen Lesungen u. Auftritten immer wieder versucht herzustellen. Er wurde u. a. 1993 mit dem Anette von Droste-Hülshoff Preis ausgezeichnet. Weitere Werke: R. T., Jan Hans u. Uwe Herms (Hg.): Lyrik-Kat. Bundesrepublik. Mchn. 1978. – Sprechmaschine Pechmarie. Stgt. 1979 (L.). – Der Abendstern wo ist er hin. Ebd. 1982 (E.). – Westerwinkler Hundegras. Bielef. 1989 (P.). – Vier Lamenti. Ottensen 1989 (L.). – Drache mit Zahnweh im Wind. Dülmen-Hiddingsel 1990 (L.). – Dämonenspiegel. Ebd. 2003 (L). – Herbstmobil. Düsseld. 2007 (L). Literatur: Georg Guntermann: Die Fastfrau. In: Dt. Gegenwartslyrik v. Biermann bis Zahl. Mchn. 1982. – Walter Gödden: Die Ästhetik des Unscheinbaren. Über den Wirklichkeitsschreiber R. T. [...]. In: Lit. in Westfalen. Beiträge zur Forsch. 3. Hg. ders. Bielef. 1995, S. 241–258. – Martin Hielscher: R. T. In: KLG. – Westf. Autorenlex. 4. – Petra Ernst: R. T. In: LGL. Michael Braun / Stephan Lesker

Theobaldy, Jürgen, * 7.3.1944 Straßburg. – Lyriker, Erzähler. In Mannheim aufgewachsen, nahm der gelernte Industriekaufmann 1966 das Studium an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg i. Br. auf, das er seit 1967 in Heidelberg fortsetzte. Seit 1970 studierte T. Germanistik u. Politologie in Heidelberg, Köln u. Berlin. 1970–1973 gab er im Selbstverlag in Köln die literar. Zeitschrift »Benzin« heraus. 1977 lebte T. als Stipendiat der Villa Massimo in Rom. 1984 zog er nach Basel u. 1988 nach Bern um, wo er bis heute lebt; in Bern war T. als Protokollant des Schweizer Parlaments tätig. Seit 1974 ist er freier Schriftsteller. T. ist Mitgl. der Freien Akademie der Künste in Mannheim. Für seine literar. Leistungen erhielt er u. a. den Buchpreis des Grossen Literaturpreises der Stadt Bern (1992) u. den Buchpreis des Kantons Bern (2003). T., einer der Vertreter der sog. Alltagslyrik der 1970er Jahre, veröffentlichte seine ersten Gedichte in «Neue Rundschau» (1/1968, S. 76–82). Sie erschienen später in dem mit Zeichnungen von Berndt Höppner illustrierten Band Sperrsitz (Köln 1973); die meisten Texte aus dieser Sammlung gingen in den

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Lyrikband Blaue Flecken (Reinb. 1974. Neuausg. Mchn. 2004) ein. T.s frühe Gedichte sind geprägt von der Studentenbewegung mit deren antiautoritären, polit. Ideen u. subkulturellen Stimmungen, den dazu gehörigen schrillen, thesenhaft angelegten Aussageweisen. Neben Rolf Dieter Brinkmann u. Nicolas Born wurde er zum bedeutenden Repräsentanten einer von amerikan. Underground- u. Pop-Texten beeinflussten Subversivitätslyrik, die alltägl. Details in spröden Momentaufnahmen festhält u. sich programmatisch antiillusionär gibt. Nicht zu übergehen sind in diesem Zusammenhang T.s essayistische Schriften zum Wesen u. Standort der Gegenwartslyrik: die zusammen mit Gustav Züricher verfasste Arbeit Veränderung der Lyrik. Über westdeutsche Gedichte seit 1965 (Mchn. 1976) sowie das Vorwort zur Anthologie Und ich bewege mich doch. Gedichte vor und nach 1968 (Mchn. 1977). Zu nennen sind hier auch seine in der Presse publizierten poetolog. Beiträge: Das Gedicht im Handgemenge. Bemerkungen zu einigen Tendenzen in der westdeutschen Lyrik (Literaturmagazin 4/1975, S. 64–71), Das Gedicht ist eine Erwartung. Über einige Möglichkeiten in der neueren Lyrik (SZ, 2.2.1980) u. Das immer andere Gedicht (Freibeuter 19/1984, S. 23–29). Die den 1970er Jahren eigene, im Zeichen der Neuen Subjektivität stehende Poesie ist für T. ein durch umgangssprachl. Impulse vitalisiertes, von formalen, klassisch geprägten Raffinessen freies Terrain. Einen Wendepunkt in seinem poet. Konzept, seiner bisherigen Sprachführung u. Formgebung, markiert der von der Rom-Landschaft inspirierte Lyrikband Drinks (Heidelb. 1979), in dem das wachsende Formbewusstsein des Autors, der Übergang vom Plauderton der Frühphase zu ästhetisch bewährten Genres, zu Ode u. Elegie, zu freiem Rhythmus, signalisiert wird. Gleiche Bedeutung kommt den Gedichten in Schwere Erde, Rauch (Reinb. 1980) zu, einer vielfältigen Traditionsbezügen verpflichteten Sammlung. Die auf die Atmosphäre von 1968 zurückgehende Monothematik schöpft sich eben Anfang der 1980er Jahre aus, das Provokativ-Rebellische tritt zurück.

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Eine neue Ausdrucksmöglichkeit bietet In den Aufwind (Bln. 1990), ein schmaler, der Tiersymbolik gewidmeter Gedichtband. In einem anderen Lyrikzyklus, in Der Nachtbildsammler (Köln 1992), werden T.s frühere Grundideen weiterhin transformiert, u. ihre Bildlichkeit ist nun um den Fortbestand menschl. Nöte u. Sehnsüchte, den Kreislauf von Werden u. Vergehen, konzentriert. Ein weiteres Angebot der dichterischen Heterotopie ist die Sammlung Immer wieder alles (Lüneb. 2000), in der die Sensibilität des TextSubjekts vor dem Hintergrund versehrter Tier- u. Vögelwelt, in menschl. Umgebung präsenter Kreaturen, vermittels wirklichkeitsgetreu u. dennoch einfühlsam, meditativ eingesetzter Wortkunst veranschaulicht wird. Dieser Trend findet seine Bestätigung in Wilde Nelken (Springe 2005), Gedichten, in denen T.s alte Motive (Kindheitserinnerungen, Alltag, Politik, Liebe) ein Nebeneinander bilden u. seine Poetik einen ständigen Wandel bezeugt. Für den lyr. Teil seines Gesamtwerks ist insbes. der Band 24 Stunden offen (Ostheim/Röhn 2006) kennzeichnend. Die in ihm enthaltenen Gedichte erinnern an die unverblümte, gegenständlich-realistische Ausdrucksweise der frühen Alltagslyrik. Die Wiederaufnahme des Schlichten steht jedoch einer besinnlich-nostalg. Perspektive nicht im Wege. In seiner Prosa dagegen ist ein deutlich erkennbares Profil wohl kaum nachzuweisen. Zwar liegen die epischen Anfänge T.s in der literar. Autobiografie Sonntags Kino (Bln. 1978. Neuausg. Köln 1992), deren Eigenart auf die Herkunft u. Mannheimer Zeit des Verfassers zurückgeht, zwar kommen aus seiner Feder die romaneske Darstellung moderner Ehekrise Spanische Wände (Reinb. 1981) sowie der auf die Aufbruchstimmung der 1960er Jahre u. die Skepsis der darauffolgenden Jahrzehnte zurückgreifende Erzählungsband Das Festival im Hof (Bln. 1985), jedoch erst mit den Skizzen In der Ferne zitternde Häuser (Heidelb. 2000) u. der Trilogie der nächsten Ziele (Springe 2003) ist seinen Prosatexten Originalität zu bescheinigen. Stehen die Kurzformen In der Ferne zitternde Häuser in der Tradition des Unauffälligen u. Verborgenen nach Art von Robert Walser, so über-

Theobaldy

schneiden sich in der Trilogie Apokalyptisches u. Sensationelles zeitaktueller Prägung. Erzählt wird hier nämlich aus drei Einzelperspektiven die Geschichte einer im Staub niedergehenden Stadt, deren Bild um eine parallele, sich ebenfalls diffus ausnehmende Realität, das kriminelle Treiben einer allmächtigen u. rätselhaften Bande, ergänzt wird. T. trat auch als Übersetzer hervor, u. a. der Gedichte von Jim Burns (aus dem Englischen) u. Lu Xun (aus dem Chinesischen). Weitere Werke: Zweiter Klasse. Bln. 1976 (L.). – Wie u. warum ich ›Benzin‹ herausgab. In: Verz. deutschsprachiger Literaturzeitschriften 1981/82. Hg. Günter Emig. Heilbr. 1981, S. 7–13. – Die Sommertour. Reinb. 1983 (L.). – Midlands, Drinks. Mit neun Zeichnungen v. Joachim Palm. Heidelb. 1984 (L.). – Mehrstimmiges Grün. Gedichte u. Prosa. Mit Photos v. Renate v. Mangoldt. Bln./ Weimar 1994. – Dschamp. Graphiken v. Thomas Weber. Bln. 1996. – Die alten Sachen. Verdrängung v. Gesch. Dokumente, Zeitzeugen. Zürich 1997. Literatur: Michael Buselmeier: Das alltägl. Leben. Versuch über die neue Alltagslyrik. In: Neue dt. Lyrik. Hg. Arbeitskreis linker Germanisten. Heidelb. 1977, S. 4–34. – Jörg Drews: Selbsterfahrung u. Neue Subjektivität in der Lyrik. In: Akzente 24 (1977), H. 1, S. 89–95. – Ludwig Fischer: Vom Beweis der Güte des Puddings. Zu Jörg Drews’ u. J. T.s Ansichten über neuere Lyrik. In: Akzente 24 (1977), H. 4, S. 371–379. – Hiltrud Gnüg: Was heißt ›Neue Subjektivität‹? In: Merkur (1978), H. 356, S. 60–75. – Harald Hartung: Die eindimensionale Poesie. Subjektivität u. Oberflächlichkeit in der neuen Lyrik. In: NR 2 (1978), S. 222–241. – Paul Konrad Kurz: Über moderne Lit. Bd. 6: Zur Lit. der späten siebziger Jahre. Ffm. 1979, S. 178 ff. u. 223 ff. – Fritz Martini: J. T. In: Die dt. Lyrik 1945–1975. Hg. Klaus Weissenberger. Düsseld. 1981, S. 415–427. – Walter Hinderer (Hg.): Gesch. der dt. Lyrik vom MA bis zur Gegenwart. Stgt. 1983, S. 569 ff. – Klaus Briegleb: Fragm. über ›Polit. Lyrik‹. In: Polit. Lyrik. Hg. Heinz Ludwig Arnold (Text + Kritik. H. 9/9a). Mchn. 31984, S. 1–33. – Kurt Rothmann: J. T. In: Ders.: Deutschsprachige Schriftsteller seit 1945 in Einzeldarstellungen. Stgt. 1985, S. 347–351. – M. Buselmeier: Nachtstücke. In: die horen 1 (1987), S. 249–251. – M. Buselmeier u. Martin Zingg: J .T. In: KLG. – Stephan Reinhardt: J. T. In: LGL. Zygmunt Mielczarek

Theodor

Theodor, Jakob, gen. Tabernaemontanus, eigentl.: J. Diether, * um 1525 Bergzabern bei Landau/Rheinpfalz, † 1590 (vor dem 24. August) Heidelberg. – Medizinischpharmazeutischer Sachschriftsteller. Nach Lehrjahren bei Otto Brunfels (Straßburg) u. Hieronymus Bock (Hornbach), denen sich vermutlich apothekar. Tätigkeiten in Weißenburg/Elsass anschlossen, diente T. den Grafen Philipp II., Johann u. Adolf von Nassau-Saarbrücken als Medicus (etwa 1549–1565). Er trat dann in die Dienste des Speyerer Bischofs Marquard von Hattstein (etwa 1563–1581) u. wirkte als Stadtarzt in Worms (1581–1584), unter dem Kuradministrator Johann Casimir auch als kurfürstlich-pfälz. Medicus in Neuhausen (bei Worms); um die medizinische Doktorwürde an der Heidelberger Universität zu erlangen (immatrikuliert 1562, Lizentiat spätestens 1564), aber auch im Zuge seiner ärztl. Tätigkeiten für den pfalzgräfl. Hof hielt sich T. jedoch häufig in Heidelberg auf. Zu seinen Bekannten gehörten Paul Schede (Paulus Schedius Melissus), der Dichterarzt Johann Posthius, der Mediziner Samuel Eisenmenger u. der engl. Botaniker William Turner. T. trat mit einer Pestschrift hervor (Gewisse [...] Practick. Heidelb. 1564 u. ö. Entstanden 1551–1553 unter Mitwirkung Bocks), auf die eine Cur [...] für das [...] Seitenstechen (Straßb. 1561), Monografien zur Bekämpfung der »geschwinden Kranckheit« (Regiment. Ffm. 1568) u. des »hitzigen Febers« (Kurtzer vnderricht. Heidelb. 1573) sowie weitere Traktate über die »pestilentzische Seucht« folgten (Regiment. Ffm. 1581 u. ö. Rathschlag. Ebd. 1587). An die Käufer dieser Frühformen der medizinischen Aufklärungsliteratur richtete T. auch eine Ausgabe von Christoph Wirsungs Medicina practica für den »gemeinen Mann« (Ein neuwes Artzney Bu8 ch. Heidelb. 1577 u. ö.) u. seinen Neuw Wasserschatz (Ffm. 1581 u. ö.), ein Hauptwerk der frühneuzeitl. Balneologie über die medizin. Tugenden der wichtigsten Mineralquellen des dt. Kulturgebiets. T.s Nachruhm sicherte hauptsächlich das Neuw Kreuterbuch (Ffm. 1588), mit dem er sich am Kampf der »Simplicisten« gegen die

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»vermischte« Arznei u. kostspieligen Exotica der scholastisch-arabist. Medizin zugunsten einer »einfachen« Arznei aus wohlfeilen heimischen Heilpflanzen beteiligte u. Fachleuten, dazu auch zur Selbstmedikation genötigten »Hausvätern« u. »Hausmüttern« ein Hilfsmittel zur Hand gab. Das umfangreiche Werk wurde von Nicolaus Bassaeus in textloser Fassung dargeboten (Eicones plantarum. Ffm. 1590; 2255 Holzschnitte), von Nikolaus Braun fortgeschrieben (Kreuterbuch. Tl. 2, ebd. 1591) u. konnte sich in Bearbeitungen von Caspar Bauhin (ebd. 1613. 1625) u. Hieronymus Bauhin (Basel 1664. 1687. 1731. Neudr. Mchn. 1963 u. ö.) bis in das 18. Jh. behaupten. Außerdem machte es John Gerard (The Herball. London 1597 u. ö.) mit den Holzschnitten bekannt. Das Kreuterbuch bildet in C. Bauhins Pinax theatri botanici (Basel 1623), einem Hauptwerk zur botan. Nomenklatur, die meistzitierte Schrift u. veranlasste C. von Linné, T. eine große Pflanzengattung (»Tabernaemontana«) zu widmen. Literatur: E. Wunschmann: J. T. In: ADB. – Friedrich Wilhelm Emil Roth: J. T. v. Bergzabern (Tabernaemontanus). In: Centralbl. für Bibliothekswesen 14 (1897), S. 84–104. – Ders.: J. T. v. Bergzabern. In: Mitt.en des Histor. Vereines der Pfalz 22 (1898), S. 46–70. – Ders.: J. T. aus Bergzabern, gen. Tabernaemontanus 1520–90. In: Botan. Ztg. 57 (1899), S. 105–123. – Karl F. Hoffmann: J. Theodorus Tabernaemontanus. In: Hippokrates 11 (1940), S. 1019–1023. – Siegfried Künkele u. Richard Lorenz: Die Orchideen des J. T. (1522–90), gen. Tabernaemontanus. In: Mitteilungsbl. des Arbeitskreises Heimische Orchideen Baden-Württemberg 20 (1988), S. 249–390 (Lit.). – Klaus Bergdolt: Jacobus Theodorus Tabernaemontanus, ein Arzt u. Botaniker des frühen 16. Jh. In: Würzburger medizinhistor. Mitt.en 10 (1992), S. 201–223. – Mechthild Habermann: Dt. Fachtexte der frühen Neuzeit. Naturkundlich-medizin. Wissensvermittlung im Spannungsfeld v. Latein u. Volkssprache. Bln. 2001, s.v. – Wolf-Dieter Müller-Jahncke u. Ulrike Bofinger: Apotheker, Arzt u. Fachschriftsteller. J. T., genannt Tabernaemontanus (1522–1590), aus Bergzabern. In: Rosarium litterarum. Beiträge zur Pharmazie- u. Wissenschaftsgesch. Hg. Christoph Friedrich u. a. Eschborn 2003, S. 219–249. – U. Bofinger: Jakobus Theodorus Tabernaemontanus. Kräuterbuch-Texte-Bibliogr. Diss. rer. nat. Heidelb. 2004 (Mschr.). – C. Friedrich u. W.-D. Müller-Jahncke: Gesch. der Pharmazie.

473 Bd. 2: Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Eschborn 2005, s.v. – K. Bergdolt: Tabernaemontanus. In: Enzyklopädie Medizingesch. Bd. 3. Hg. Werner G. Gerabek u. a. Bln./New York 2007, S. 1377. – DBE. Joachim Telle

Theologia Deutsch ! Der Frankfurter Theophilus. – Deutsche Fassungen eines Marienmirakels, seit dem 12. Jh.

Theophilus-Spiele

suitendrama u. in der Jesuitenlyrik (J. Bisselius) des 16. u. 17. Jh. erlangte die Geschichte ein letztes Mal literar. Produktivität. Ein direkter Einfluss auf das Faustbuch von 1587 ist nicht sicher nachzuweisen. Ausgaben: Acta Sanctorum Februar Bd. 1 (1658) S. 480–491. – Griech. Quellen zur Faustsage. Der Zauberer Cyprianus. Die Erzählung des Helladius. T. Hg. u. übers. v. Ludwig Radermacher. Wien 1927. – Kritische Glossen op de griekse T.-Legende (7e eeuw) en haar latijnse vertaling (9e eeuw). Hg. Gilles Gérard Meersseman. Brüssel 1963. – Für die Dramen vgl. den Artikel »Theophilus-Spiele«. Literatur: Karl Plenzat: Die Theophiluslegende in den Dichtungen des MA. Bln. 1926. – Alfred Gier: Der Sünder als Beispiel. Ffm. 1977. – Konrad Kunze u. Hansjürgen Linke: T. In: VL. – A. Gier: T. In: EM. – André Schnyder: Das mittelniederdt. T.Spiel. Bln. 2009 (mit Abriss zur literar. u. ikonograf. Gesch. des Stoffs). André Schnyder

T., frommer u. tüchtiger Verwalter (oikonomos, vicedominus) des Bischofs von Adana in Kilikien, lehnt seine Wahl als dessen Nachfolger ab. Als der neue Bischof ihn demütigt, verbindet er sich zur Rache in schriftl. Pakt mit dem Teufel. Bald von Gewissensbissen befallen, sucht er die Fürsprache Marias. Als sie für ihn die Vergebung bei ihrem Sohn erlangt u. den Vertrag zurückgeholt hat, erzählt er im Gottesdienst der Gemeinde seine Theophilus-Spiele. – SpätmittelalterGeschichte u. stirbt den guten Tod des geliche Spiele des 15. Jh. rechtfertigten Sünders. – Theophilus gilt nicht als Heiliger, allenfalls wird am 4. Febr. Die Geschichte von der Rettung des Teufels(oder 13. Okt.) seiner Bekehrung gedacht; bündners Theophilus durch Maria wurde im überliefert werden Figur u. Geschichte vor- niederdt. Raum des 15. Jh. auch als Drama wiegend im Rahmen der Marienverehrung. gestaltet. Erhalten ist ein Spiel in drei FasDie etwa zwischen 650 u. 850 entstandene sungen; dazu kommen Nachrichten von Geschichte entstammt wie andere auf glei- Aufführungen in Bocholt u. Deventer (ohne chem Grundmotiv beruhende (vgl. Cypri- sichtbare Verbindung zu diesen Texten); anus, Proterius u. Helladius) dem frühbyz- breiter bezeugt sind Inszenierungen des antin. Christentum; Autorschaft, Adressaten Stoffes in Frankreich (Aufführungsbelege u. ursprüngliche Zweckbestimmung sind nur insgesamt: Schnyder, S. 190). – Die Jesuitenvermutbar; unerschlossen ist die weitere dramen des 16. u. 17. Jh. knüpfen bei der lat. Stoffgeschichte im Raum der Orthodoxie. Im Tradition der vom Diakon Paulus im 9. Jh. 9. Jh. wurde sie durch die lat. Übersetzung übersetzten griech. Urversion an; Kenntnis des neapolitan. Diakons Paulus auch dem der mittelalterl. Spieltradition ist hier wohl Westen zugänglich (oft in Verbindung mit auszuschließen. Bekannt sind rund zwei der Legende der Büßerin Maria Aegyptiaca). Dutzend Aufführungen einer unbekannten Hrotsvit von Gandersheim gestaltete vor Anzahl Spiele zwischen 1582 u. 1737; zu 1000 daraus eine Versfassung. Vorab als Beleg sieben Aufführungen existieren Spieltexte für die Interzessionsmacht der Gottesmutter oder Periochen (Valentin, Register III). gelesen, erlangte die Geschichte nach 1000 Der mittelniederdt. Theophilus liegt vor in: eine enorme Verbreitung meist in Marienle- H (Wolfenbüttel; 748 V.), S (Stockholm; 998 gende, Mirakel u. Predigt. Seit dem 12. Jh. V.), T (Trier; 824 V., fragmentarisch; abbrewurde sie in den verschiedenen Volksspra- chend nach dem Paktschluss); die nur ähnl., chen manchmal auch unter Umsetzung in nicht identischen Versionen von H u. S stehen noch andere literar. Genres rezipiert; im frz., gegen T; neben Inhaltlichem betreffen die engl. u. dt. Raum ist ferner eine Wirksamkeit Differenzen auch Überlieferungsform u. in der bildenden Kunst (Reliefs, Fresken, Textsorte. T hat einen direkt spielbaren Text Glas- u. Buchmalerei) nachgewiesen. Im Je- mit Regieanweisungen u. Melodieaufzeich-

Theremin

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nung; entsprechend auch das Format der Das mittelniederdt. Theophilus-Spiel. Hg. André Handschrift. In H u. S zeigen sich typische Schnyder. Ebd. 2009 (mit Übers.; ältere Ausg.n, Merkmale einer Lesefassung: episierende S. 345 f.). Literatur: Fidel Rädle: Aus der Frühzeit des Züge (in den Versfluss integrierte, präteritale »Regieanweisungen«), die Mitüberlieferung Jesuitentheaters. In: Daphnis 7 (1978), S. 403–462, (Sammelhandschriften mit Verserzählungen). hier S. 456–462. – F. Rädle: Die Theophilus-Spiele v. München (1596) u. Ingolstadt (1621). In: Acta Dazu kommen inhaltl. Differenzen: InsgeConventus neo-latini Amstelodamensis. Mchn. samt steht die Handlung in T dem Bericht der 1979, S. 886–897. – Jean-Marie Valentin: Le Théâgriech.-lat. »Vulgata«-Fassung näher, so tre des Jésuites dans les pays de Langue Allemande. durch Verweigerung der Wahlannahme (statt 2 Bde., Stgt. 1983/84. – Schnyder (s. Ausg.n), Nichtwahl wie in S), Mitwirkung eines Juden S. 185–366 (Stellenkomm., Stoffgesch., Werkanabei der Teufelsbeschwörung (statt der direk- lyse, Ikonografie, Bibliogr.). – Für weitere Lit. vgl. ten Beschwörung von H u. S). Die in T breit den Artikel »Theophilus«. André Schnyder ausgestaltete Kapitelsversammlung zeigt satirisch kleruskrit. Züge. In H u. S führt, an- Theremin, (Ludwig Friedrich) Franz, ders als in der »Vulgata«, unter Akzentuie- urspr. Louis-Frédéric François Théremin, rung der Rolle der Kirche das Anhören einer * 19.3.1780 Gramzow/Uckermark, † 26.9. Predigt die Umkehr des Helden herbei. Wie 1846 Berlin; Grabstätte ebd., Domfriedauch sonst in der mittelalterl. Tradition zei- hof Müllerstraße, Gedenkstein (Grabstein gen H u. S Maria u. Christus in bewegter nicht erhalten). – Evangelischer Theologe, Auseinandersetzung um die Vergebung für Lyriker, Übersetzer. den reuigen Sünder (Appell Marias an ihre T. wurde als Sohn des französisch-reformierMutterrolle, Weisen der Brüste). Auch die mittelalterl. Romania hat dramat. ten Predigers David Louis Théremin, der aus Gestaltungen des Stoffes aufzuweisen, näm- einer Familie hugenott. Geistlicher stammte, lich das altfrz. Miracle de Théophile von Rute- geboren. Er besuchte das frz. Gymnasium in beuf (um 1260) u. die ital. Rappresentazione di Berlin u. legte dort 1798 das Abitur ab, bevor Teofilo (mindestens zwei Florentiner Drucke er in Halle Theologie (bei Georg Christian Knapp) u. Philologie (bei Friedrich August vom Anfang des 16. Jh.). Das Münchner u. das Ingolstädter Jesui- Wolf) studierte. Als Mitgl. des romant. Dichtendrama greifen auf die griech.-lat. Traditi- terkreises des »Nordsternbundes« war T. seit on zurück u. behandeln den Stoff in gat- 1803 mit Adalbert von Chamisso, Karl August tungsspezif. Form (Vielzahl von Personen, Varnhagen von Ense u. Friedrich Baron de la Einsatz von Chören, allegor. Figuren; Büh- Motte Fouqué befreundet. T. veröffentlichte 1804–1806 – meist anonym – Gedichte in neneffekte); manche Szenen entwerfen im deren »Musenalmanach« (s. ZusammenstelZeichen rhetorischer u. polit. Eliteschulung lung bei Bautz). 1804 ging er nach Genf, um das Geflecht ständisch abgestufter sozialer sich auf das Predigtamt vorzubereiten; im Beziehungen an einem Bischofshof. Die folgenden Jahr wurde er dort ordiniert. Paktmotivik veranlasst zeitaktuelle Warnung Als Predigtamtskandidat hielt sich T. vor Magie; das Drama von 1621 bringt sogar 1805–1810 in Berlin sowie in Paris auf u. war Faustus als Warner aus der Hölle leibhaftig als »Erziehungsaufseher in einem polnischen auf die Bühne. Hause« tätig; als Mitgl. der Berliner LiteraAusgaben: Sacre rappresentazioni. Hg. Alessan- turszene verkehrte er zudem im Salon von dro d’Ancona. Firenze 1872, Bd. 2, S. 445–467. – Sophie Sander, mit der er ein Liebesverhältnis Rutebeuf: Œuvres complètes. Hg. Michel Zink. hatte. 1808 veröffentlichte T. eine ÜbersetParis o. J. (mit neufrz. Übers.). – Georg Bernardt: ›Theophilus Cilix‹ 1621. Ein Faust-Drama der Je- zung von Cervantes’ Drangsale[n] des Persiles suiten. Lat. u. dt. Hg., übers. u. komm. v. Fidel und der Sigismunda (Bln.), bevor er 1810 als Rädle. Amsterd. 1984. – Lat. Ordensdramen des Nachfolger Ancillons französisch-reformierXVI. Jh. mit dt. Übers.en. Hg. F. Rädle. Bln./New ter Pfarrer an der Friedrichswerderschen York 1979 (›Münchner Theophilus‹: S. 436–519). – Kirche wurde. 1814 erschien seine von ethi-

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Thibaut

schen Prinzipien geleitete Rhetoriklehre Die F. T. In: Bautz. – Hans Martin Müller: F. T. M. In: Beredsamkeit eine Tugend (Bln. 21837). Die RGG, 4. Aufl. Hans Peter Buohler Thematik der Redekunst beschäftigte ihn ein Leben lang, wie die mehr als drei Jahrzehnte Thibaut, Anton Friedrich Justus, * 4.1. später publizierte Schrift Demosthenes und 1772 Hameln, † 28.3.1840 Heidelberg; Massillion. Ein Beitrag zur Geschichte der Bered- Grabstätte: ebd., Bergfriedhof. – Jurist; samkeit (Bln. 1845) zeigt. Musikhistoriker. Nach seiner Heirat mit Ernestine Matthis († 1826) wurde T. Ende des Jahres 1814 zum Väterlicherseits stammt T. aus einer HugeHof- u. Domprediger in Berlin ernannt. Von nottenfamilie, die nach Deutschland übergeseinen Predigten, in denen er auf genaue siedelt war. Er studierte die Rechte zunächst Textauslegung bedacht war, erschienen zu an der Universität Göttingen, als sich Gustav Lebzeiten insgesamt 9 Bde. (Bln. 1817–41. Hugos neue Naturrechtslehre formierte, Bd. 10, Bln. 1847); die einzelnen Bände er- wechselte jedoch früh nach Königsberg, wo er reichten bis zu vier Auflagen. 1820 veröf- durch die Rechtsphilosophie Immanuel fentlichte T. eine metr. Übersetzung der He- Kants geprägt wurde. 1795 schloss er seine bräischen Gesänge (Bln.), einer Jugenddichtung juristischen Studien mit einer römischrechtl. Byrons, wobei sich das Vorwort T.s nicht frei Promotion in Kiel ab u. wurde dort erst Privon antisemitischen Topoi zeigt. 1824 wurde vatdozent, dann Professor des Römischen T. auf Betreiben Hardenbergs zum Ober- Rechts. 1802 folgte T. einem Ruf nach Jena, konsistorialrat u. Vortragenden Rat in der wo er die Pandektenwissenschaft in Lehre u. Unterrichtsabteilung des preuß. Kultusmi- Forschung reformierte. Seit 1806 unterrichtete er an der Universität Heidelberg u. trug nisteriums ernannt u. im selben Jahr in durch seine Vorlesungen maßgeblich dazu Greifswald zum Dr. theol. promoviert. bei, die dortige Juristenfakultät als eine der Dem 1828 erschienenen didakt. Roman führenden Deutschlands zu profilieren. 2 Adalberts Bekenntnisse (Bln., 1835) folgte eine T.s Werk steht noch in der Tradition naSammlung religiöser Gedichte u. d. T. Freunturrechtl. Lehren, die seit dem Ende des 18. des-Gräber (Bln. 1833) u. Abendstunden (2 Bde., Jh. kritisch reflektiert werden; es weist jedoch Bln. 1833–36. 51858), die ebenfalls Gedichte, schon auf Positionen einer histor. RechtsbeErzählungen, Briefe, Abhandlungen u. Fragtrachtung voraus. Im Mittelpunkt von T.s mente religiösen Inhalts enthält. Er war seit Hauptwerk stehen die Quellen des Römi1839 a. o. Prof. u. seit 1840 o. Honorarpro- schen Rechts: Mit dem System des Pandektenfessor der Theologie in Berlin; er las insbes. Rechts (2 Bde., Jena 1803) etablierte er eine über Homiletik. Im Sommer 1845 unternahm Literaturgattung, die für das ganze 19. Jh. er eine Reise, die ihren Niederschlag im Ta- grundlegend war. T. wollte das geschichtl. gebuch während einer Reise (Bln. 1846) fand. Quellenstudium für eine Dogmatik des geWeitere Werke: Des Preussen u. des Franken genwärtigen Zivilrechts fruchtbar machen. Tod auf dem Schlachtfelde. Bln. 1813 (L.). – Die Dass die Vermittlung von histor. Stoff u. Lehre vom göttl. Reiche. Bln. 1823. – Ueber die dt. systemat. Form zwar angestrebt, aber kaum Universitäten. Ein Gespräch. Bln. 1836. – Der verwirklicht werden kann, erkannte er schon Rhein u. Jerusalem. Bln. 1844. – Einsegnungs-Refrüh: »Daß ich kein vollendetes System geden, gehalten in den Jahren 1836–1846. Aus dem liefert habe«, heißt es in der Vorrede zum Nachl. des Verf. hg. Bln. 1852. System, »gestehe ich gern, weil ich dieß für Literatur: Marie Sydow: F. T. In: ADB. – absolut unmöglich halte.« Hamberger/Meusel 16,14; 21,36. – August Nebe: Aus dieser wissenschaftlich aufgedeckten Zur Gesch. der Predigt. Charakterbilder der beUnmöglichkeit zog T. jedoch rechtspolit. deutendsten Kanzelredner. Bd. 3, Wiesb. 1879. – Otto Frommel: T. Ein Beitr. zur Theorie u. Gesch. Konsequenzen. Mit seiner Flugschrift Ueber der Predigt. Tüb. 1915. – Helmut Sembdner: die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Kleist, T. u. der Apoll vom Belvedere. In: Euph. 64 Rechts für Deutschland (Heidelb. 1814) löste er (1970), S. 376–379. – Friedrich Wilhelm Graf: L. F. eine Kontroverse aus, die als »Kodifikations-

Thiekötter

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streit« in die Rechtsgeschichte eingegangen (1990), S. 20–35. – Martin Staehelin: A. F. J. T. u. ist. Im Gegensatz zu Friedrich Carl von Savi- die Musikgesch. Ebd., S. 37–42. – Joachim Rückert: gny forderte T. eine gesamtdt. Kodifikation, A. F. J. T. In: Juristen. Ein biogr. Lexikon. Hg. die das Römische Recht in seinen verschie- Michael Stolleis. 2., verb. Aufl., Mchn. 2001, S. 610–612. – Axel Beer: A. F. J. T. In: MGG 2. Aufl. denen Rezeptionsstufen verdrängen sollte. Bd. 16 (Pers.), Sp. 749 f. Kaspar Renner Durch den gesetzgebenden Akt sollte eine innere Kohärenz des Rechts hergestellt werden, welche die histor. Rechtswissenschaft Thiekötter, Friedel, * 3.6.1944 Neheimaus ihren Quellen nicht ableiten konnte. Die Hüsten. – Lyriker, Erzähler, HörspielauEntgegensetzung von »geschichtlicher« u. tor. »ungeschichtlicher Schule«, die Savigny da- Nach dem Studium der Germanistik, Romavon ausgehend konstruierte, darf jedoch nistik u. Philosophie, später auch der Kunstnicht verdecken, dass beide Wissenschaftler geschichte u. Pädagogik in Münster, Bonn u. von einem gemeinsamen histor. Standpunkt Orléans u. der Promotion mit der Arbeit Die ausgingen, der sie zu einer krit. Einschätzung Negation im Werke Rilkes (1971) in Münster war insbes. des frz. »Code Civil« als mögl. Vorbild T., Sohn eines Friseurmeisters, 1973–1975 dt. Gesetzgebungsprojekte führte. Lektor in Reims; seither ist er GymnasiallehDie doppelte, durchaus widerspruchsvolle rer in Münster. – Nach dem Lyrikband Zum Bewegung, die T. als Rechtswissenschaftler Beispiel Immergrün (Mchn. 1967) erwiesen die vollzog – der Rückgang auf histor. Quellen Erzählungen Reisebekanntschaft (ebd. 1974) T. einerseits, ein Plädoyer für gegenwärtige als einen Autor mit genauem Blick für die Setzung andererseits –, prägt auch sein mu- Umwelt u. für Irritationen in menschl. Besikgeschichtl. Werk. In seiner Schrift Ueber ziehungen. In seinem ersten Roman, Schulzeit Reinheit der Tonkunst (Heidelb. 1825) trat er für eines Prokuristen (Köln 1978), stellte T. die eine Wiedergeburt der christl. Gesangskultur Entwicklung eines Problemkinds zum angeaus dem Geist der alten Kirchenmusik ein. passten Bürger kritisch dar. Im Roman Jeden Durch die Befreiung von allen weltl. Ele- Tag Schule (Würzb. 1981) u. in der Erzählung menten u. eine strenge Trennung von Vokal- Jans Reifezeugnis (ebd. 1983) behandelt T. die u. Instrumentalmusik wollte T. eine neue, Schulproblematik u. die Lebenssituation reine Sakralmusik schaffen. Diese sollte nicht Heranwachsender. Für das Hörspiel Sauernur in privaten Zirkeln wie dem »Heidelber- ländische Geräusche (WDR 1991) erhielt er 1991 ger Singverein« eingeübt, sondern schließ- den Westfälischen Hörspielpreis des WDR. lich in Gestalt eines evang. Chorgesangbuchs Mitte der neunziger Jahre verlegte sich T. auf kodifiziert werden, das Geltung für ganz Kriminalromane (Cembalist am Glockenseil. Deutschland beanspruchte – ein weiteres Bielef./Münster 1994. Studienräte in Weimar. Projekt nationaler Einheitsstiftung, welches Ebd. 1997). Weitere Werke: Kopfschatten. Aachen 1984 T. nicht realisieren konnte, das sich für die Geistesgeschichte des 19. Jh. aber als überaus (L.). – Der Kaiser u. der Photograph. Dülmen 1991 (L.). – Der Gletschermann. Bielef./Münster 2000 wirkmächtig erwies. Weitere Werke: Jurist. Encyclopädie u. Methodologie. Altona 1797. – Versuche über einzelne Theile der Theorie des Rechts. 2 Bde., Jena 1798 u. 1801. – Theorie der log. Auslegung des Röm. Rechts. Altona 1799. – Über die sog. histor. u. nicht-histor. Rechtsschule. Heidelb. 1838. Literatur: Eugen Wohlhaupter: A. F. J. T. u. Robert Schumann. In: Dichterjuristen. Bd. 1, Tüb. 1953, S. 120–166. – Rainer Polley: A. F. J. T. in seinen Selbstzeugnissen u. Briefen. 3 Bde., Ffm. 1982. – Hans Hattenhauer: A. F. J. T. u. die Reinheit der Jurisprudenz. In: Heidelberger Jbb. 34

(Kriminalroman). – Hermenfrevel oder Alkibiades auf Aigina. Ebd. 2002 (L.). Literatur: Jürgen P. Wallmann: Nachw. in F. T.: Gesch.n u. Figuren. Paderb. 1997. – Westf. Autorenlex. 4.

Jürgen P. Wallmann † / Harald Jakobs

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Thiersch, Friedrich (Wilhelm) von (seit 1850), * 17.6.1784 Kirchscheidungen/Unstrut, † 25.2.1860 München; Grabstätte: ebd., Alter Südlicher Friedhof. – Philologe u. Pädagoge.

Thiess Weitere Werke: Ueber die Epochen der bildenden Kunst unter den Griechen. 3 Abh.en, Mchn. 1816–25. – Ueber den gegenwärtigen Zustand des öffentl. Unterrichts [...]. 3 Abh.en. Stgt./Tüb. 1838. – Christina Hofmann-Randall: Thierschiana. Der Nachl. F. v. T. (1784–1860) in der Bayer. Staatsbibl. Mchn. 1988.

Nach dem Besuch der sächs. Fürstenschule Literatur: Heinrich Thiersch: T.s Leben. 2 Pforta, dem Studium in Leipzig u. Göttingen Bde., Lpz./Heidelb. 1866 (mit Briefen T.s). – Hans (Promotion zum Dr. theol., Habilitation in Loewe: T. Mchn./Bln. 1925. – Hans-Martin KirchKlassischer Philologie) u. kurzer Gymnasialner: T. Diss. 2 Bde., Mchn. 1956. – Elmar Schwinlehrerzeit in Göttingen (seit 1807) erfolgte ger: Literar. Erziehung u. Gymnasium. Zur Ent1809 die Berufung T.s als Professor an das wicklung des bayer. Gymnasiums in der Ära NietGymnasium in München. Als Nichtkatholik hammer/T. Bad Heilbrunn/Obb. 1988. – H.-M. u. Nichtbayer wurde er von der altbayeri- Kirchner: F. T. Ein liberaler Kulturpolitiker u. schen Partei um den Vorstand der Hof- u. Philhellene in Bayern. Mchn. 1996. Wiesb. 2009. – Staatsbibliothek, Johann Christoph von Are- Heinrich Scholler: Das alternative oder revolutionäre Denken des Philhellenen F. T. In: Austin, heftig angefeindet (gipfelnd in einem drucksformen des europ. u. internat. PhilhellenisMordanschlag 1811). Sein privat betriebenes mus vom 17.-19. Jh. Hg. Evangelos Konstantinou. Philologisches Seminar wurde 1812 verstaat- Ffm. u. a. 2007, S. 283–294. – Ders.: Griechenland licht u. bestimmte seither die philolog. Aus- als Imago, Rezeption oder Perspektive. Das Bild bildung der Gymnasiallehrer in Bayern; im Griechenlands bei F. T. im Kontrast zu dem Bild, selben Jahr wurde T. Professor am Münchner das der bayer. Regentschaft vorschwebte. In: Das Lyzeum. 1813–1816 unternahm er ausge- Bild Griechenlands im Spiegel der Völker (17. bis dehnte Studienreisen nach Paris, London, 20. Jh.). Hg. E. Konstantinou. Ffm. 2008, S. 237–252. – Hans Loewe: F. T. Ein HumanistenRom, Wien u. Dresden. Nach seiner Rückkehr leben im Rahmen der Geistesgesch. seiner Zeit. heiratete er die Theologentochter Amalie Ffm. u. a. 2010. Wilhelm Füßl / Red. Löffler. T., der als überzeugter Philhellene den Freiheitskampf der Griechen gegen die Türken unterstützte, wurde 1826 zum Pro- Thiess, (Theodor) Frank, * 13.3.1890 fessor der Beredsamkeit u. alten Literatur an Eluisenstein bei Uexküll/Livland, † 22.12. die Universität München berufen, der er 1977 Darmstadt; Grabstätte: ebd., Waldspäter mehrmals als Rektor vorstand. friedhof. – Romancier, Essayist. 1848–1858 war T. Präsident der Bayerischen Der auf dem mütterl. Anwesen geborene Akademie der Wissenschaften. Sohn eines Bauingenieurs aus Riga kam In Bayern wurde T. neben Niethammer dreijährig mit seinen Eltern nach Berlin. bestimmend für ein neuhumanistisch orienNach dem Abitur in Aschersleben – Schautiertes Schul- u. Universitätswesen. Sein in platz seines Romans Das Tor zur Welt (Stgt. dem dreibändigen Werk Über gelehrte Schulen, 1926), dem zweiten Teil des Zyklus Jugend – mit bes. Rücksicht auf Bayern (Stgt./Tüb. studierte T. in Berlin u. Tübingen, wo er 1913 1826–31) entwickeltes Konzept fand in die promoviert wurde. Nach dem Ersten Weltbayerische Schulordnung von 1829 Eingang. krieg war er freier Journalist u. Redakteur am Zugrunde lag eine überragende Betonung der »Berliner Tageblatt«. Der während eines alten Sprachen Latein u. Griechisch (mit etwa Aufenthalts in Bayern geschriebene Roman 65 Prozent der Gymnasialstunden), während Der Tod von Falern (ebd. 1921) war als Satire Religion, Geografie, Geschichte u. Mathema- auf die gescheiterte Revolution von 1918/19 tik nur in geringem Umfang, Deutsch, na- gedacht, wurde aber später auch als eine turwissenschaftl. Fächer, Französisch oder Vorhersage der Entwicklung Deutschlands Musik überhaupt nicht vorgesehen waren. unter dem Nationalsozialismus gedeutet. Die altsprachl. Zentrierung T.s blieb bis zur 1920 war T. einige Monate Regisseur u. DraRevision 1854 bestimmend. maturg an der Stuttgarter Volksbühne, dann

Thiess

zwei Jahre Theaterkritiker in Hannover, wo er die Opernsängerin Florence Losey (eigentl.: Behrendt) heiratete; 1923 zog er wieder nach Berlin. T.’ schriftstellerischer Erfolg begann mit dem Roman Die Verdammten (ebd. 1923), der wie die meisten seiner Werke mit vielen autobiogr. u. biogr. Elementen durchsetzt ist. Das entfernt an Thomas Manns Buddenbrooks anklingende Thema des Zerfalls einer (hier baltischen) Familie wird in epischer Breite erzählt; eine Technik, die T. von Hamsun übernahm, während die dämonischen Triebkräfte der Protagonisten auf Figuren Dostojewskijs zurückgehen. Das zentrale Motiv der Geschwisterliebe, das den Anstoß zeitgenöss. Kritiker erregte, wird mit psycholog. Einfühlungsvermögen u. ohne offensichtlich skandalöse Intentionen behandelt. Der vierteilige Romanzyklus Jugend enthält neben dem Tor zur Welt den Abschied vom Paradies (1927), Der Leibhaftige (1924) u. Der Zentaur (1931. Alle Stgt.). Besonders in Abschied werden die Pubertätsprobleme junger Menschen beiderlei Geschlechts mit bis dahin in der dt. Literatur kaum vorhandener Einsicht u. Verständnis dargestellt. Im Zentrum der beiden letzten Romane des Zyklus stehen die Erlebnisse junger Menschen u. deren existentielle Ängste, Todesfurcht u. menschl. Einsamkeit, die durch die Rationalität u. den techn. Fortschritt der modernen Gesellschaft intensiviert werden. Aus der Krise der Zeit bietet auch die seit dem Ersten Weltkrieg rasch fortschreitende Liberalisierung des Geschlechts- u. Ehelebens keinen Ausweg. Das zeigt der Frauenraub (Potsdam 1927. Neufassung u. d. T. Katharina Winter. Köln 1949), die Geschichte eines alle gesellschaftl. Bande durchreißenden Ehebruchs. Obwohl nach der ›Machtergreifung‹ einige Werke T.’ beschlagnahmt oder deren weitere Veröffentlichung verboten wurde, beschloss T., nicht zu emigrieren. Aus zeitgenöss. Sicht schien er sich sogar an die neuen kulturellen u. polit. Gegebenheiten anzupassen. T. selbst erklärte sich 1945 in Kommentaren zum Briefwechsel zwischen Thomas Mann u. Walter von Molo (Thomas Mann, F. T., Walter von Molo: Ein Streitgespräch über die äußere und innere Emigration. Dortm. 1946) zu einem

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führenden Vertreter der inneren Emigration, wobei er nicht mit Ausfällen gegen die Exilierten in den »Logen des Auslands« sparte u. Thomas Manns »Zugehörigkeit zum deutschen Schrifttum« in Frage stellte. Einer Art innerer Emigration entsprangen vielleicht die beiden Liebesromane Der Weg zu Isabelle (Wien 1934) u. Stürmischer Frühling (ebd. 1937), die einer dt.-frz. Annäherung auf persönl. Ebene das Wort reden. Andererseits wird in dem Roman Johanna und Esther (ebd. 1933. Neufassung u. d. T. Gäa. Ebd. 1957) trotz der den Nationalsozialisten sicher nicht genehmen Darstellung freizügiger Geschlechterbeziehungen eine an die Ideale der Blut-und-Boden-Dichtung erinnernde Bindung des Menschen an Herkunft u. Erde propagiert. Die das Leben Enrico Carusos schildernden Romane Neapolitanische Legende (ebd. 1942) u. Caruso in Sorrent (ebd. 1946) entsprachen ohne Weiteres der während des Zweiten Weltkriegs erhobenen Forderung nach harmloser Unterhaltungsliteratur. Das bekannteste u. in mehreren hunderttausend Exemplaren aufgelegte Werk von T., Tsushima. Der Roman eines Seekrieges (ebd. 1936), behandelt die Geschichte der russischjapan. Seeschlacht von 1905. Der bis heute anhaltende Erfolg des Buchs ist mit der Faszination zu erklären, die akrib. Schilderungen von Schlachten gewähren. Mit diesem Werk entwickelte T. eine neue literar. Form, die in ihrer Kombination von dokumentarischem Bericht u. dichterischer Gestaltung nach dem Krieg als Tatsachenroman international Schule machte. T. nahm diese Form wieder auf in dem von ihm selbst als Roman bezeichneten Buch Das Reich der Dämonen (ebd. 1941. Neufassung Hbg. 1946), das aber ein Geschichtswerk mit dichterischer Struktur u. Stoffauswahl ist. Aus ihm geht T.’ Ablehnung jeder polit. Diktatur am deutlichsten hervor. Die Erstausgabe des Buchs wurde kurz nach ihrem Erscheinen mit einem Besprechungsverbot u. der Aufforderung zu eingehender Umarbeitung belegt; eine Aufgabe, der sich der Autor bis in die Nachkriegszeit hinein unterzog. Seine ablehnende Haltung gegenüber der Emigration versuchte T. in den Fortsetzungsromanen Die Straßen des Labyrinths (Hbg.

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Thietmar von Merseburg

1951) u. Geister werfen keine Schatten (Wien Thietmar von Merseburg, * 25.7.975 1955) zu modifizieren u. den Exilanten Ge- (vermutlich) Walbeck bei Helmstedt, rechtigkeit widerfahren zu lassen. † 1.12.1018; Grabstätte: Merseburg, Im literar. Leben Nachkriegsdeutschlands Dom. – Bischof, Geschichtsschreiber. war T. keine bedeutende Rolle beschieden – trotz der Vizepräsidentschaft in der Darm- T. entstammte dem sächs. Grafengeschlecht städter Akademie für Sprache und Dichtung, von Walbeck, das eng mit der otton. Slawender Mitgliedschaft in der Mainzer Akademie politik verbunden war. Nach erster Erzieder Wissenschaften und der Literatur u. eines hung im Stift Quedlinburg erfuhr er eine gelehrte Ausbildung an einer der berühmreichen essayistischen Werks. testen Schulen seiner Zeit, dem Magdeburger Weitere Werke: Ausgabe: Ges. Werke in EinDomstift. Er wurde dort Mitgl. des Domkazelausg.n. 7 Bde., Wien 1956–63. – Der schwarze Engel. Stgt. 1966 (N.n). – Sturz nach oben. R. über pitels u. 1002 auf simonistische Weise Propst das Thema eines Märchens. Ffm./Bln. 1968. – Die zu Walbeck. Als hochgestellter Mann des Geschichte eines unruhigen Sommers. Ebd. 1968. – Adels sah er sich bald mit wichtigen GeZauber u. Schrecken. Die Welt der Kinder. Wien schäften der Reichspolitik betraut. 1004 zum 1969. – Der Zauberlehrling. Mchn. 1975. – Auto- Priester geweiht, wurde er am 20.3.1009 von biografisches: Verbrannte Erde. Wien 1963. – Freiheit König Heinrich II. mit dem Bistum Mersebis Mitternacht. Ebd. 1965. – Jahre des Unheils. burg investiert, das damals nach einer AufFragmente erlebter Gesch. Ebd. 1972. lösung unter Kaiser Otto II. 981 eben erst Literatur: Leonard Langheinrich: F. T. Bild ei- wiederhergestellt worden war. Um sich mit nes dt. Dichters. Bln. 1933. – F. T. Werk u. Dichter. seiner recht unbedeutend gebliebenen Di32 Beiträge zur Problematik unserer Zeit. Hg. Rolf özese gegenüber den Nachbarbischöfen beItaliaander. Hbg. 1950. – Ernst Sander: Tempo rubato. F. T. u. die Sprache. Söcking 1950. – F. T. haupten zu können, bedurfte T. des weiteren zum 75. Geburtstag. Wien 1965. – Manfred Dur- Wohlwollens Heinrichs II., der von ihm wiezak: Hermann Broch u. F. T. Aus unveröffentlich- derum tatkräftige Unterstützung beim Abten Briefen. In: LuK 6 (1971), H. 54/55, S. 253–261. wehrkampf gegen den poln. König Bolesl/aw – Reinhold Grimm u. Jost Hermand (Hg.): Exil u. Chrobry erwartete. T.s Wirken als Bischof von innere Emigration. Ffm. 1972. – Gisela Berglund: Merseburg war bis zu seinem Tod von den Einige Anmerkungen zum Begriff der ›Inneren Belangen der Politik u. der weltl. AmtsgeEmigration‹. Stockholm 1974. – Roy L. Ackerschäfte ausgefüllt. Sie zeitigten Anstrengunmann: The role of the trial in the school prose of the gen, die in T. den Geistlichen hinter dem Weimar Republic. Bern u. a. 1982. – Gerhard Renner: F. T. Ein ›freier‹ Schriftsteller im Nationalso- kriegerischen Reichsfürsten zurücktreten zialismus. Ffm. 1990. – Hans Schwerte: Auflösung ließen. Merseburg erhielt zahlreiche königl. einer Republik. Über einen Roman v. F. T: ›Der Schenkungen u. wurde zu einem bevorzugZentaur‹, 1931. In: JbDSG 35 (1991), S. 274–293. – ten Schauplatz der Reichsdiplomatie. Ein erUlrich Kittstein: ›Soldatische Männlichkeit‹ als hoffter Rückerhalt aller im 10. Jh. verlorenen Prinzip der Geschichtskonstruktion. Zu F. T.’ Gebiete des Bistums glückte jedoch nicht; ›Tsushima. Der Roman eines Seekrieges‹. In: WW vielmehr sah sich T. gegen Ende seines Le53 (2003), S. 447–457. – Yvonne Wolf: F. T. u. der bens verstärkt Übergriffen seitens regional Nationalsozialismus. Ein konservativer Revolutiokonkurrierender Mächte ausgesetzt. när als Dissident. Tüb. 2003. – Louis Ferdinand T.s historiografisches Schaffen ist vor dieHelbig: Auseinandersetzungen um Diktatur u. Emigration. F. T. im Romanwerk u. im öffentl. sem polit. Hintergrund zu sehen. Um 1012 Disput. In: Dimensionen deutschbalt. Lit. Hg. begann er mit der Anlage einer Chronik, die Frank L. Kroll. Bln. 2005, S. 133–152. – Norbert nach eigener Bezeugung das Ziel hatte, seiAngermann: F. T. u. der Nationalsozialismus. In: nen Nachfolger über Werdegang u. rechtl. Deutschbalten, Weimarer Republik u. Drittes Bestand des Bistums zu unterrichten. Dieses Reich. Hg. Michael Garleff. 2 Bde., Köln u. a. 2008, Anliegen aber verlangte zgl., die BistumsgeBd. 2, S. 245–262. Helmut Pfanner / Red. schichte in die allgemeine zeitgenöss. Reichsgeschichte, d. h. in den Werdegang der otton. Politik einzubetten. Gegliedert in acht

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Bücher, geht das Werk in seinen vier ersten Teilen auf die Regierungen Heinrichs I., Ottos I., II. u. III. ein, um sich dann ausführlich der Zeit Heinrichs II. von 1002 bis 1018 (dem Todesjahr T.s) zu widmen. Als schriftl. Quellen standen ihm neben Urkunden für Merseburg, Magdeburg u. Walbeck sowie den Synodalbeschlüssen von Dortmund (1005) u. etl. Totenbüchern v. a. Viten u. hagiografische Werke (z. B. die Vita Oudalrici, Ruotgers Vita Brunonis u. die Passio Kiliani martyris) sowie die Quedlinburger Annalen u. Widukinds Sachsengeschichte zur Verfügung. Überwiegend entstammte das Material jedoch T.s eigener Sammlung mündl. Nachrichten aus dem Umfeld Heinrichs II., aus seinem Freundeskreis u. aus seiner weit verzweigten Verwandtschaft. Deshalb v. a. stellt die Chronik eine bunte u. in ihrer Zeit unübertroffen reichhaltige Palette an detailliert geschilderten Vorkommnissen dar, die, oft bis ins Anekdotische ausgreifend, nicht nur die hohe Reichspolitik u. die Slawenmission, sondern auch scheinbar periphere Einzelgeschichten aus Adelsfamilien, Klöstern u. Bistümern betreffen. Dennoch blieb in der Folgezeit die Rezeption recht gering. Als scharfer u. krit. Beobachter polit. Abläufe enthält T. sich keineswegs eigener Stellungnahmen, be- u. verurteilt oft in sehr subjektiver Weise, ist jedoch zgl. bemüht, auch strukturelle Grundlagen (z. B. das slaw. Recht) als tiefergreifende Erklärung von Geschehenskomplexen einzubeziehen. Unter der Fülle des Stoffs leidet allerdings die Ordnung der Darstellung. Zeitliche Vor- u. Rückgriffe, langatmige Exkurse u. assoziative Sprünge erschweren den Zugang zu seinem Werk. Literarischer Ehrgeiz im engeren Sinne lag T. offensichtlich fern, auch wenn er zahlreiche röm. Klassiker (v. a. Vergil u. Horaz) zitierte u. seinen Büchern metrisch geformte Prologe voransetzte. Er wollte v. a. informieren u. die berechtigten Ansprüche seines Bistums rechtfertigen, darüber hinaus aber mahnend Belehrungen über den rechten Lebenswandel geben. Was auf den ersten Blick als unterhaltsame Ausmalung erscheint, dient häufig in Wirklichkeit als geistlich gemeintes Beispiel für Tugend oder Laster. Hinter allen Wirrnissen des polit.

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Alltags leuchtet stets die göttl. Heilsordnung auf, die aufzuzeigen dem Priester T. letztendlich die höchste Aufgabe ist. Ausgaben: Historisch-kritische Ausgabe: Die Chronik des Bischofs T. v. M. u. ihre Korveier Überarbeitung. Hg. Robert Holtzmann. Bln. 1935 (= MGH, Ss. rer. germ., s. n. 9). – Faksimile: Die Dresdner Hs. der Chronik des Bischofs T. v. M. Hg. Ludwig Schmidt. Dresden 1905. – Lateinisch-deutsche Ausgabe: T. v. M.: Chronik. Hg. Werner Trillmich. Darmst. 1957. – Lateinisch-englische Ausgabe: Thietmarus Merseburgensis: Ottonian Germany. The Chronicon of T. of M. Hg. David A. Warner. Manchester 2001. Literatur: Max Manitius: Gesch. der lat. Lit. des MA. Bd. 2, Mchn. 1923, S. 265–268. – Annerose Schneider: T. v. M. über kirchl., polit. u. ständ. Fragen seiner Zeit. In: AKG 44 (1962), S. 34–71. – Helmut Lippelt: T. v. M. – Reichsbischof u. Chronist. Köln/Wien 1973. – Franz Josef Schröder: Völker u. Herrscher des östl. Europa im Weltbild Widukinds v. Korvei u. T.s v. M. Münster 1977. – Helmut Beumann: T. v. M. In: VL. – David A. Warner: T. of M. on Rituals of Kingship. In: Viator 26 (1995), S. 53–76. – Milada Krausová: Die Ersterwähnung v. Cham u. Pilsen in der Chronik des T. v. M. In: JOWG 10 (1998), S. 235–240. – Stephan Waldhoff: Der Kaiser in der Krise? Zum Verständnis v. Thietmar IV, 48 [Otto III.]. In: Dt. Archiv für Erforschung des MA 54 (1998), S. 23–55. – Pius Engelbert: Das Papsttum in der Chronik T.s v. M. In: Röm. Quartalschr. für christl. Altertumskunde u. Kirchengesch. 97 (2002), S. 89–123. – David Fraesdorff: Der barbar. Norden. Vorstellungen u. Fremdheitskategorien bei Rimbert, T. v. M., Adam v. Bremen u. Helmold v. Bosau. Bln. 2005. – David S. Bachrach: Memory, Epistemology, and the Writing of Early Medieval Military History. The Example of Bishop T. of M. (1009–1018). In: Viator 38 (2007), S. 63–90. – Rob Meens: Kirchl. Buße u. Konfliktbewältigung. T. v. M. näher betrachtet. In: Frühmittelalterl. Studien 41 (2008), S. 317–330. – Ernst Erich Metzner: Frühmittelalterl. kollektives Erinnerungswesen u. frühneuzeitl. individualist. Wissenschaftseinrede. T. v. M. u. Johannes Trithemius zu den sagenhaft-exorbitanten Anfängen des alten fränk. u. dt. Zentralorts ›Frank(en)furt‹ – ›Helenopolis‹. In: Frankfurt im Schnittpunkt der Diskurse. Hg. Robert Seidel u.a. Ffm. 2010, S. 281–310. Gert Melville / Red.

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Thill, Johann Jacob, * 22.12.1747 Stuttgart, † 31.3.1772 Großheppach. – Lyriker, Dramatiker.

Thilo Schwaben u. in der Neuen Welt. FS Hartmut Fröschle. Hg. Reinhard Breymayer. Stgt. 2004, S. 95–110. Matthias Richter / Red.

T. sollte nach väterl. Vorbild evang. Pfarrer werden u. durchlief den damals in Würt- Thilo, Friedrich Theophilus (bzw. Gotttemberg dafür typischen obligaten Bil- lieb), * 24.6.1749 Roda bei Frohburg/ dungsgang durch die Klosterschulen Blau- Sachsen, † 26.3.1825 Rochlitz. – Erzähler, beuren u. Bebenhausen sowie das Tübinger Dramatiker. theolog. Stift (1763–1768; Magister der Phi- T., Sohn eines Pfarrers, studierte in Jena losophie 1765). Anschließend wurde er Vikar (1767/68) u. Leipzig (1768–1771) Jura. Seine bei seinem Vater in Großheppach. berufl. Laufbahn begann er 1772 als Advokat Bei seinem Tod hinterließ T., von dem zu u. stellvertretender Amtsschreiber in WenLebzeiten nichts im Druck erschien, Gedich- delstein/Unstrut, zog aber bald nach Frohte, zwei Dramen sowie Entwürfe zu Ab- burg. 1781 erhielt er den Titel »kürfürstlicher handlungen. Postum wurden durch Freunde Finanzkommissar«. Im selben Jahr siedelte er einige Gedichte veröffentlicht (»Taschenbuch nach Rochlitz über, wo er 1789 die Akzisefür Dichter und Dichterfreunde«. 1. Abt., Inspektion erhielt. Er starb als GeneralakziseLpz. 1774. Stäudlins »Schwäbischer Musen- Inspektor, Finanzkommissar, Gerichtsdirekalmanach«, 1782 u. 1783. Matthissons Lyri- tor u. Rechtskonsulent. sche Anthologie. Bd. 9, Zürich 1805). Der erste T.s Dramen (Sämmtliche Schauspiele. Lpz. Aufzug einer 1769/70 entstandenen Fassung 1780) beteiligen sich auf eine triviale Weise des Prosadramas Hermanns Tod ist publiziert am Selbstverständigungsprozess der bürgerl. in Friedrich David Gräters Altertumszeitung Emanzipationsbewegung. In den ganz auf »Idunna und Hermode« (1816, Nr. 40 u. 41, eine ereignisreiche Handlung abgestellten S. 157–162). In allen Texten zeigt sich T. als Stücken vertreten flach gezeichnete Charakvaterländ. Dichter der Klopstock-Nachfolge. tere in empfindsamen Reden eine simple Weniger gestützt wohl auf die verstreut Moral. Eduard und Cecilie oder die Klippe der veröffentlichten Texte als vielmehr auf die Standhaftigkeit (ebd. 1776) inszeniert die geTatsache, dass sich T. im pietistisch gepräg- fährl. Folgen der Eifersucht, u. in dem »bürten Tübingen überhaupt zum Dichter ent- gerlichen Trauerspiel« Euphemie (ebd. 1775) wickelte, sowie wegen der Aura des frühen wird das trag. Ende nur durch die plötzl. Todes erfuhr T. kurzzeitig lokale Verehrung, Einführung eines Bösewichts erreicht. Die die Ende der 1780er Jahre im Tübinger Stift Kritik an »der losen Speise« der Lebensscenen im Freundeskreis um Hölderlin, Hegel u. aus der wirklichen Welt (12 Bde., ebd. 1784–90), Schelling gepflegt wurde. Ihnen die schwär- einer Sammlung moralischer Erzählungen, u. merischen Erinnerungen an T. dazu dienten, an ihrem »rüstigen, alle Zeit fertigen Scrieigene poetische Ambitionen fortzubilden; bent« (Allgemeine deutsche Bibliothek 89, greifbarstes Zeugnis ist Hölderlins Jugend- S. 92) gilt für das gesamte Werk. T.s mehrgedicht An Thills Grab (1789). bändige Romane gehören zum Typus eines Literatur: F. D. Gräter: Nachrichten v. [...] T. moralisierenden Pragmatismus. Die Figuren In: Idunna u. Hermode. Nr. 1 (1813), S. 7 f. – Ulrich in Emilie Sommer. Eine Geschichte in Briefen (ebd. Stolte: Frühes Idol schwäb. Dichter: J. J. T. 1780–82. 21785) oder Joseph von Sonnenthal, (1747–1772). Biogr. u. kommentierte Werkedition. eine Geschichte des menschlichen Herzens (ebd. Tüb. 2000. – Hans-Georg Kemper: J. J. T. 1784/85) sind vollkommene Muster an Ver(1747–1772). Zur Wiederentdeckung eines Dichnunft, die exemplarisch tugendhafte Gesintertalents aus dem Tübinger Stift. In: Aufklärungen. Zur Literaturgesch. der Moderne. FS Klaus- nung vorleben u. in Briefen Einblick in ihr Detlef Müller. Hg. Werner Frick. Tüb. 2003, Seelenleben geben. In diesen Romanen gibt es S. 1–13. – U. Stolte: Dichter im amusischen Würt- weder eine psycholog. Einheit der Charaktere temberg. Ein neuer Autograph v. Friedrich Höl- noch die von Blanckenburg geforderte kauderlins Idol J. J. T. In: In dem milden u. glückl. salgenet. Verknüpfung von Handlung u.

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Charakter. Abenteuerliche Ereignisse wie Verführung u. Entführung sind nur Anlass, die Empfindungen u. moralischen Handlungen stat. Figuren zu beschreiben. Weitere Werke: Adelheid, oder die unwahrscheinl. Liebe. Lpz. 1779 (Schausp.). – Die Einsprüche, oder Ende gut, alles gut. Lpz. 1780 (Lustsp.). – Lorenz Arndt v. Blankenburg, keine Lebensgesch. Lpz. 1784/85 (R.). – Lebensscenen aus der wirkl. Welt. Lpz. 1784–90. – Felix v. Freudenfels, eine Gesch. der menschl. Freuden u. Leiden. Lpz. 1787/88 (R.). Literatur: Eva D. Becker: Der dt. Roman um 1780. Stgt. 1964. – Ernst Weber u. Christine Mithal: Dt. Originalromane zwischen 1680 u. 1780. Eine Bibliogr. [...]. Bln. 1983. – Reinhart Meyer: Bibliographia dramatica et dramaticorum 1, 3. Tüb. 1986, S. 1034; 2, 27. Ebd. 2007, S. 486–488. Ernst Weber

Thilo, Valentin, d.J., * 19.4.1607 Königsberg, † 27.7.1662 Königsberg. – Rhetorikprofessor, Dichter geistlicher Lieder. Als Zwölfjähriger verlor T. die Eltern durch die Pest. Seine Erziehung übernahmen bildungsbewusste Freunde, die Professoren Georg Mylius u. Funk. Von 1624 an studierte T. in Königsberg Theologie, Geschichte u. Beredsamkeit. 1632 wurde er – noch vor seiner Promotion zum Magister – für eine Rhetorikprofessur vorgeschlagen, die er allerdings erst nach einem Zusatzstudium in Leiden u. dem Erwerb des Magistergrads (1634) in Königsberg antrat. Von einschneidender Bedeutung, auch für T.s dichterisches Schaffen, war der Tod seiner Schwester (1639). Seine daraufhin verstärkt einsetzende Auseinandersetzung mit dem Tod brachte ihn den »Sterblichkeitsbeflissenen« näher, einer Gruppe von Dichtern u. Musikern, die sich zu geistigem Austausch u. gegenseitiger künstlerischer Förderung um Robert Roberthin gesammelt hatte. Zu den bekanntesten Mitgliedern zählten Heinrich Albert u. Simon Dach. T.s Verhältnis zu Dach war – wie der Austausch von Glückwunsch- u. Trostgedichten vermuten lässt – freundschaftlich-kollegial. Von 1639 an waren sie Amtsgenossen an der Universität u. ab 1650 Gartennachbarn auf der Lomseinsel.

T.s deutschsprachige Dichtung ist – wie die gesamte poetische Produktion in Roberthins Umkreis – formal an Opitz orientiert. Seine Lieder zu Hochzeiten, Namenstagen u. Trauerfällen wurden oft von Johannes Stobaeus vertont u. in Einzeldrucken veröffentlicht. Als Kirchenlieddichter war bereits T.s gleichnamiger Vater (1579–1620) hervorgetreten. Der Sohn hat die Lieder des Vaters z.T. überarbeitet. Daher ist eine eindeutige Klärung der Verfasserfrage nicht immer möglich. Obgleich T. zeitweise im Ruf stand, einer der begabtesten Kirchenlieddichter gewesen zu sein, ist er im EKG nur noch mit dem Adventslied Mit Ernst, o Menschenkinder vertreten. Sein Ansehen als Rhetorikprofessor begründete T. durch eine Reihe von aufschlussreichen Lehrbüchern, darunter ein Kompendium der literar. Affektenlehre (Pathologia Oratoria: Seu Affectuum movendorum ratio. Königsb. 1647. Magdeb. 1665. Lpz./Ffm. 1687), in dem er anhand antiker u. bibl. Beispiele, auch neue Handbücher der Jesuiten auswertend, Muster von Redeübungen u. texthermeneutische Exempel verband u. dabei die Erregung u. Darstellung von Gefühlsbewegungen demonstrierte. Seine systemat. Anleitungen wurden von T. durch zahlreiche Textsammlungen sowie durch eine didaktisch aufbereitete Edition der bei dem antiken Historiker Curtius enthaltenen Reden (Curtius orator, sive orationes Curtianae. Königsb. 1646. Nachdrucke in Amsterd., Lpz. u. Ffm. bis 1694) ergänzt. Weitere Werke: Secularia Borussa. Königsb. 1644. – Secularia Regiomontana. Ebd. 1644. – Exercitia Oratoria. Ebd. 1645 u. ö. – Panegyrici academici, vel orationes solennes. Ebd. 1650. – Rudimenta Rhetorica. Ebd. 1651 u. ö. – Orationes academicae. Ebd. 1653. – Topologia Oratoria. Ebd. 1653 u. ö. – Ideae rhetoricae. Ebd. 1654. Ausgaben: Alfred Kelletat (Hg.): Simon Dach u. der Königsberger Dichterkreis. Stgt. 1986. – Fischer/Tümpel 3, S. 102–114. Literatur: Pyritz, S. 683 (Bibliogr.). – Goedeke 3, S. 135. – Koch 3, S. 202–204. – ADB. – Hdb. zum EKG 2,1, S. 37 f., 135 f., 179 f. – Joachim Dyck: ›Lob der Rhetorik u. des Redners‹ als Thema eines Casualcarmens v. Simon Dach für V. T. In: WBN 5 (1978), S. 133–140. – Manfred Komorowski: Poesie u. Beredsamkeit an der Univ. Königsberg im 17. Jh. In: Simon Dach (1605–1659). Werk u. Nachwirken.

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483 Hg. Axel E. Walter. Tüb. 2008, S. 47–66. – Wilhelm Kühlmann: Theorie u. literar. Hermeneutik der rhetor. Affektenlehre im 17. Jh. Zu Konzept u. literar. Umkreis v. V. T.s Lehrbuch ›Pathologia Oratoria‹ (Königsberg 1647). Mit dem Abdruck zweier lat. Gedichte v. Simon Dach. In: Die Univ. Königsberg in der Frühen Neuzeit. Hg. Hanspeter Marti u. M. Komorowski. Köln u. a. 2008, S. 116–138. – Ders.: Simon Dach u. V. T., zwei Kollegen in Königsberg. Kasualgedichte als ästhet. Kommunikation. In: Simon Dach im Kontext preuß. Kulturgesch. Hg. Klaus Garber (im Druck). Ulrich Maché / Wilhelm Kühlmann

Tholuck, (Friedrich) August (Gottreu), * 30.3.1799 Breslau, † 10.6.1877 Halle; Grabstätte: ebd., Stadtgottesacker. – Orientalist u. evangelischer Theologe.

zgl. den Zusammenhang von AT u. NT heraus. Seine letzte Schaffensphase galt der Theologiegeschichte des 17. u. 18. Jh. (Geschichte des Rationalismus. Bln. 1865. Neudr. Aalen 1970. Digitalisat Google). Die Vorgeschichte des Rationalismus (1. Tl., 2 Bde., Halle 1853/54. 2. Tl., 2 Bde., Bln. 1861/62) sah er in Fehlentwicklungen der luth. Orthodoxie. T.s Bedeutung liegt darin, dass die zunächst wissenschaftsfeindl. Erweckungsbewegung durch den Einfluss des typischen Spätromantikers akademisch-theologisch wurde. T. wirkte nach im Biblizismus (Martin Kähler) u. in der Erfahrungstheologie. Ausgabe: Werke. 11 Bde., Gotha 1862–73. Literatur: Martin Schellbach: T.s Predigt. Bln. 1956 (mit Bibliogr. S. 180–184). – Peter Maser: ›Der Freund Israels‹. F. A. G. T. u. die Judenmission des frühen 19. Jh. In: Jb. für Schles. Kirchengesch. N. F. 59 (1980), S. 108–161. – Ders.: Oriental. Mystik u. evang. Erweckungsbewegung. In: Ztschr. für Religions- u. Geistesgesch. 33 (1981), S. 221–249. – Christine Axt-Piscalar: Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis v. Subjektivität u. Sünde bei A. T., Julius Müller, Sören Kierkegaard u. Friedrich Schleiermacher. Tüb. 1996. – Michael Lehmann (Hg.): Tholuck, der lebendige u. fromme Christ. Zum 200. Geburtstag von F. A. G. T. (1799–1877) [Ausstellungskat.]. Halle/Saale 1999. – Wilhelm Herrmann: Sammlung. Briefe an A. u. Mathilde T. nebst anderen Quellen aus seiner Jugend. Egelsbach u. a. 1999. – Eberhard Busch: ›Wie steht es mit deinem Herzen?‹ Über das Verhältnis Karl Barths zu A. T. In: PuN 27 (2001), S. 200–214. – Gunther Wenz: ›Gehe Du in Dich, mein Guido‹. A. T. als Theologe der Erweckungsbewegung. In: ebd., S. 68–80. – Christian Stephan: F. A. G. T. (1799–1877). In: Ders.: Die stumme Fakultät. Biogr. Beiträge zur Gesch. der Theolog. Fakultät der Univ. Halle. Dössel 2005, S. 74–80. – Albrecht Geck (Hg.): Autorität u. Glaube. Edward Bouverie Pusey u. F. A. G. T. im Briefw. (1825–1865). Gött. 2009. Volker Stolle / Red.

Der Sohn eines Goldschmiedemeisters fand nach ersten orientalistischen Studien in Breslau seine entscheidende Förderung u. in Berlin den Übergang zur Theologie. Seine Lizentiatsschrift Ssufismus sive theosophia Persarum pantheistica (Bln. 1821) beschäftigt sich noch mit der Mystik im Islam. Doch hatte T. bereits unter dem Einfluss des Führers der Berliner erweckten Kreise, Hans Ernst Baron von Kottwitz, seine Bekehrung erlebt u. suchte, seit 1823 a. o. Prof., seine Hörer zum Glauben zu erwecken. In seiner anonym erschienenen wirkungsvollsten Schrift Die Lehre von der Sünde und dem Versöhner oder: Die wahre Weihe des Zweiflers (Hbg. 1823. Gotha 91870) beschrieb T. in Form eines Briefwechsels zwischen Guido u. Julius die Seelengeschichte der Erweckungserfahrung. T. beteiligte sich an vielen missionarischen Aktivitäten, auch auf einer Englandreise 1825. In Verbindung mit Ernst Wilhelm Hengstenberg führte er als o. Prof. in Halle (seit 1826) den Kampf gegen den theolog. Rationalismus im »Litterarischen Anzeiger für christliche Theologie und Wissenschaft Thom, Andreas, eigentl.: Rudolf Csmaüberhaupt« (Halle 1830–49). Besonders rich, * 11.5.1884 Wien, † 25.6.1943 nachhaltig wirkte T. als Prediger u. StudenMooskirchen bei Graz; Grabstätte: tenseelsorger. In seinen Bibelkommentaren, Friedhof Neustift am Wald. – Lehrer, etwa der grundlegenden Auslegung des Briefes Romanschriftsteller. Pauli an die Römer (Bln. 1824. Revidiert u. d. T. 5 Commentar zum Brief an die Römer. Halle 1856), Der Sohn eines kroat. Fuhrmanns besuchte bezog T. die altkirchl. u. reformatorische die Volksschule in Wien u. das Lehrerseminar Auslegung in seine Exegese mit ein u. stellte in St. Pölten. 1903 kehrte er nach Wien zu-

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rück u. war dort bis zu seiner Pensionierung in der unverhüllten Kritik an der Bourgeoisie 1934 als Volksschullehrer tätig. 1918–1923 polit. Tendenzliteratur an. Auf die Serie der engagierte sich T. als Lektor des Verlags Ed. Großstadtromane folgten mit Das SylvesterStrache für den österr. Spätexpressionismus; kind (Wien 1936) u. Die ungleichen Geliebten von 1923 an war er Vizepräsident des (ebd. 1938) zwei soziale Romane im bäuerl. Schutzverbands deutscher Schriftsteller in Milieu; Triumph der Liebe (Bln./Wien/Lpz. 1935) fällt als leichtgewichtiger UnterhalÖsterreich. T.s Erzählerstling Lindeleid (Ffm. 1913) trug tungsroman aus dem gesellschaftskritisch noch alle Merkmale impressionistisch-sym- engagierten Erzählwerk des Autors heraus. T. hat sich in seiner expressionistischen bolistischer Gestaltungsweise; mit dem »Roman der Lüge« Ambros Maria Baal (Bln. 1918) Phase auch als Lyriker versucht; auf dramat. wies T. sich bereits als entschiedener Vertreter Gebiet fand er mit dem in der Nachfolge des Expressionismus aus: Beeinflusst von Ludwig Anzengrubers stehenden Stück In der Brod u. von seinem Freund Gütersloh, führt stillen Seitengasse Anerkennung (Urauff. 1936 er den Typus des sich selbst vergötzenden Wiener Volkstheater. U. d. T. Leute vom Grund décadent vor, der skrupellos den Selbstmord 1941 wiederaufgenommen). Der Nachlass T.s seiner Frau provoziert u. in geistigem Verfall wird in der Wienbibliothek aufbewahrt. endet. In einer von zugespitzter Metaphorik, Weitere Werke: Ein Kinderbuch. Weimar 1915 Tempowechsel u. unvermittelten Wendun- (P., L.). – Baals Anfang. Mchn. 1920 (N.). – Der gen gekennzeichneten Erzählweise erschei- Anbruch 1, H. 11, 1918 (Sondernr. A. T.). nen der Immoralismus u. die LebensschwäLiteratur: Gertrude Linsbauer: A. T., ein wieche des negativen Helden als Verfallsform ner Dichter. Diss. Wien 1948. – Achim Barth: Noch bürgerl. Saturiertheit; einige Motive des Ro- ein Baal. Ein vergessenes Pendant zu Brechts Stück. mans sind von Brecht in dessen Baal-Stück In: Theater heute 22 (1981), H. 4, S. 4 f. Ernst Fischer übernommen worden. In dem »Roman aus dem Tierkreis Mensch« Rufus Nemian (Bln. 1921) griff T. den zeitaktuellen ThemenbeThoma, Hans, * 2.10.1839 Bernau/ reich von Revolution, Sozialismus u. AnarSchwarzwald, † 7.11.1924 Karlsruhe; chismus auf u. kritisierte in der zyn. DemGrabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – Maler, agogie des Titelhelden die Anwendung von Grafiker, Schriftsteller. Gewalt bei der Lösung sozialer Fragen. Im Gegensatz zur Modernität des dynamisch- T. – im Bernauer Ortsteil Oberlehen geboren verknappenden Ausdrucksstils der Romane – stammte mütterlicherseits aus einer alten wirken seine im gleichen Zeitraum veröf- Kunsthandwerkerfamilie, während sein Vater fentlichten Novellen Frigida (in: Eos. Mchn. Franz Joseph, ein gelernter Müller, als Holz1918) oder Freundschaft (Wien/Prag/Lpz. 1920) arbeiter die Familie ernährte. Er begann drei in Sprache u. Erzähltechnik konventionell. Lehren bei einem Lithografen, einem AnAnschluss an die literar. Entwicklung ge- streicher u. Lackierer in Basel sowie schließwann T. erst wieder 1930 mit Vorlenz, der Ur- lich bei einem Uhrenschildmaler in Furtlauber auf Lebenszeit (Bln./Wien/Lpz. 1930), wangen, die er jedoch allesamt abbrach u. dem ersten Band eines vierteiligen Zyklus, nach Bernau zurückkehrte, wo er sich autoDer österreichische Mensch. Der Zeitroman be- didaktisch weiterbildete. T.s zeichnerische schreibt das Schicksal eines durch Front- Begabung u. ein Stipendium ermöglichten es dienst u. Arbeitslosigkeit depravierten, in ihm, 1859 in die großherzogl. Karlsruher moralische Verkommenheit abgleitenden Kunstschule aufgenommen zu werden, an Fuhrwerkers u. seiner religiösem Wahnsinn der er bis 1866 studierte, indes die Sommerverfallenden Frau; dabei werden die stofflich monate stets im heimischen Bernau verspätnaturalistischen Züge gebrochen durch brachte. Seine Lehrer waren Johann Wilhelm einen lakon. Grundton in der Art der Neuen Schirmer, der Direktor der Kunstschule, im Sachlichkeit. Der nachfolgende Roman Noch figürl. Zeichnen Ludwig des Coudres u. der spielt ein Kind (ebd. 1934) nähert sich dagegen Österreicher Hans Canon, während zu seinen

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Kommilitonen etwa Emil Lugo, Eugen Bracht oder Wilhelm Steinhausen zählten. Nachdem sich T. vergeblich um eine Stelle in Basel bemüht hatte, zog er Anfang des Jahres 1867 nach Düsseldorf, wo er den Maler Otto Scholderer aus Frankfurt kennen lernte. Dieser lud ihn im Folgejahr nach Paris ein, wo sie das Atelier Gustave Courbets besuchten; T. war von Courbet beeindruckt, wobei sich in seiner Landschaftsmalerei auch Einflüsse der Schule von Barbizon finden. Seit 1870 wohnte T. in München, fand Anschluss an den Kreis um Viktor Müller u. machte Bekanntschaft u. a. mit Wilhelm Leibl u. Arnold Böcklin; T.s Bilder fanden indes keinen allzu großen Anklang. Reisen führten T. im folgenden Jahrzehnt zweimal nach Italien (1874/1880) sowie nach England (1879), wo er 1884 im Liverpooler Art Club ausstellte. Seit seiner Heirat 1877 wohnte T. mit seiner Frau Bonicella (»Cella«) sowie seiner Mutter u. Schwester in Frankfurt; Geld verdiente er insbes. mit Wandgestaltungen, etwa für Simon Ravenstein. T., der auch an der Kronberger Malerkolonie partizipierte, lernte 1889 durch Vermittlung Cosima Wagners deren Schwiegersohn Henry Thode kennen, der Kunsthistoriker u. Direktor des Frankfurter Städel war. Neben zahlreichen Exlibris – u. a. für Thode – fertigte T. auch Bildschmuck für etliche Werke, etwa Till Eulenspiegel (Ffm. [ca. 1865]) oder Richard Dehmels Aber die Liebe (Mchn. 1893). Erst 1890 gelang T. mit einer Ausstellung im Münchner Kunstverein der künstlerische Durchbruch; eines der Gemälde erwarb Alfred Pringsheim, der T. daraufhin mit der Ausgestaltung des Musiksaals seiner Villa beauftragte. Thomas Mann zeigte sich von dem mythologisch-allegorischen Fries in dreizehn Bildtafeln beeindruckt u. nannte ihn gegenüber seinem Bruder Heinrich »unsäglich schön« (Brief vom 27.2.1904), wenngleich er später das »Schulmeisterliche« T.s kritisierte. 1899 wurde T. durch den badischen Großherzog nach Karlsruhe berufen, wo er Direktor der Kunsthalle wurde, als Professor an der Kunstschule die Meisterabteilung für Landschaftsmalerei unterrichtete u. 1901 die Gründung der Majolika-Manufaktur anregte.

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Rainer Maria Rilke, der T. bereits 1898 in seiner Sammlung Advent ein Gedicht gewidmet hatte, verehrte ihm zu seinem 60. Geburtstag drei weitere; Liliencron tat es Rilke gleich. T. befand sich um die Jahrhundertwende auf dem Höhepunkt seines künstlerischen Erfolgs, was sich an weiteren Ehrungen – etwa der Verleihung der Heidelberger Ehrendoktorwürde 1903 – ablesen lässt. Nach dem Tod seiner Frau im Nov. 1901 reiste T. 1904/1905 in die Schweiz, hielt sich u. a. im Engadin auf u. verlobte sich mit der Dichterin Frances Grun, deren Werke er illustrierte. Von 1904 bis 1909 arbeitete T. an der Ausgestaltung eines ihm gewidmeten Museums in der Karlsruher Kunsthalle, das zu seinem 70. Geburtstag eröffnet wurde. Insbesondere die »Kapelle« lässt dabei die für T.s Spätwerk charakterist. Verbindung u. Inszenierung von Religion u. Kunst bei gewollter Volkstümlichkeit erkennen, sodass ihr heute v. a. historische Bedeutung zukommt. 1909 erschien mit Im Herbste des Lebens. Gesammelte Erinnerungsblätter (Mchn.) T.s erste Buchveröffentlichung. Diesen autobiogr. Memoiren folgte ein zweiter Band u. d. T. Im Winter des Lebens: aus acht Jahrzehnten gesammelte Erinnerungen (Jena 1919). Scheinen bereits die Titel Goethes Briefen vom 30.10.1797 u. 26.9.1813 entlehnt, so lässt sich beispielsweise in dem eingestreuten Gedicht Einsiedlers Nachtlied eine weitere Hommage an Goethe erkennen. Beide Bände sind zudem wichtige literar. Dokumente für T.s Heimatverbundenheit u. ergänzen eindrucksvoll deren bildkünstlerische Umsetzung. Seine weiteren literar. Veröffentlichungen wie die Wege zum Frieden (Jena 1919) oder das Jahrbuch der Seele (Jena 1922) stehen dabei – wie auch insbes. seine späten Gemälde – unter den Vorzeichen religiöser Erbauung. In T.s volkstüml. Malerei u. Grafik, die in Mappen u. Kalendern vielfältige Verbreitung fand, sah die nationalsozialistische Kulturpolitik das »deutsche Wesen« der Kunst verwirklicht, so dass sie sein Werk okkupierte u. missbrauchte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde T.s Œuvre neu bewertet u. etwa das Realistische in der ästhetischen Darstellungsweise hervorgehoben, mit der T. das ländl. Leben schilderte. Von dieser Neube-

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wertung zeugt zudem der H.-T.-Preis, der Thoma, Ludwig, auch: Peter Schlemihl, Staatspreis des Landes Baden-Württemberg, * 21.1.1867 Oberammergau, † 26.8.1921 der u. a. an Otto Dix, Anselm Kiefer, K. R. H. Rottach; Grabstätte: Rottach-Egern, Alter Sonderborg u. Thomas Ruff verliehen wurde. Friedhof. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker. Weitere Werke: T. Des Meisters Gemälde. Hg. Henry Thode. Stgt./Lpz. 1909. – Gedichte u. Gedanken. Hg. Kurt Karl Eberlein. Konstanz 1919. – Radierungen. Hg. Josef August Beringer. Mchn. 1923. – Ges. Schr.en u. Briefe. Hg. J. A. Beringer. 2 Bde., Lpz. 1928/29. – Briefe an Frauen. Hg. J. A. Beringer. Stgt. [1936]. – H. T. – Georg Gerland: Briefw. Ein Beitr. zur oberrhein. Kultur am Ende des 19. Jh. Hg. J. A. Beringer. Karlsr. u. a. 1938. – H. T. – Conrad Fiedler: Briefw. Künstler u. Kunstfreund. Bearb. v. Arthur v. Schneider. Karlsr. 1939. – Bildnisse der Familie. Bilder u. Selbstzeugnisse. Bln. [1947]. Literatur: Franz Hermann Meissner: H. T. Bln. 1899. – Otto Julius Bierbaum: H. T. Bln. 1904. 2 1908. – Josef August Beringer: T. Der Malerpoet. Mchn. [ca. 1919]. – Carl Anton: H. T., ein Meister der Menschheit. Karlsr. 1924. – Heinrich Saedler: H. T. als Meister des Wortes. München-Gladbach 1924. – Heinrich Höhn: H. T. Sein Leben u. seine Kunst. Hbg. [1925]. – Walter Kreuzburg (Hg.): H. T. u. Frances Grun. Lebenserinnerungen. Ffm. 1957. – Heinrich M. Böhm: H. T. – sein ExlibrisWerk. Bln. [1958]. – Jan Lauts (Hg.): H. T. u. sein Kreis. Stgt. 1961. – Ulrike Krenzlin: H. T. Dresden 1981. –Joachim Rössiger: H. T. u. Rainer Maria Rilke. Ffm. 1986. – Hermine Maierheuser: H. T. Erinnerungen u. Gesch.n. Karlsr. 1989. – Marianne Broeker-Liss (Hg.): H. T. – Skizzen aus dem Taunus. Ffm. 1989. – H. T. – Wilhelm Steinhausen. Dokumente einer Freundschaft. Ffm. 1989. – Christa v. Helmolt: H. T. Spiegelbilder. Stgt. 1989. – H. T. – Lebensbilder. Königst./Taunus 1989 [Kat.]. – Hanno-Walter Kruft: Alfred Pringsheim, H. T., Thomas Mann. Mchn. 1993. – H. T. ein Begleiter durch die H.-T.-Slg. in der Staatl. Kunsthalle Karlsruhe. Karlsr. 1993. – J. Lauts: H. T. Königst./Taunus 1995. – H. T., Druckgraphik. Müllheim 1995 (Kat.). – Heinz Bischof: H. T. – der Literat. Karlsr. 1997. – Michael Dirrigl: H. T. Karl Stauffer-Bern: Maler in München. Nürnb. 2001. – Sabine Fehlemann (Hg.): H. T., Max Liebermann, Max Slevogt. Wuppertal 2005 (Kat.). – H. T. Der verstörende Griff nach der Welt. Ffm. 2008. Hans Peter Buohler

Der Sohn eines kgl. Oberförsters wuchs in oberbayerischen Forsthäusern in der Vorderriß u. in Forstenried auf. Nach dem frühen Tod des Vaters folgte eine wechselvolle Lateinschul- u. Gymnasiastenzeit in Landstuhl, Neuburg, Burghausen, München u. Landshut, die T. in seinen Lausbubengeschichten (Mchn. 1905. Tante Frieda. Ebd. 1907) unsterblich gemacht hat. Deren Verfilmungen, in den Hauptrollen bekannte zeitgenöss. Darsteller wie »Hansi« Kraus, Georg Thomalla, Harald Juhnke u. Elisabeth Flickenschildt, erreichten in der BR Deutschland der 1960er Jahre breitestes Publikum. In Aschaffenburg studierte T. zunächst Forstwissenschaft, wechselte aber bald zur Rechtswissenschaft nach München u. Erlangen. Nach dem Referendariat in Traunstein u. München ließ er sich 1894 als Anwalt in Dachau nieder, drei Jahre später zog er nach München. Unter dem Einfluss Adolf Hölzels las T. Raabe, Storm, Keller, Tolstoj u. die Dramatiker des neuen Naturalismus. Von 1895 an veröffentlichte er in der konservativen »Augsburger Abendzeitung« erste polit. Artikel, schrieb für die belletristische Beilage »Der Sammler« ländl. Erzählungen vom Dachauer Land u. seit 1896 für Georg Hirths »Die Jugend« satirische – auch antisemitische – Gedichte. T.s erstes Buch, Agricola. Bauerngeschichten (Passau 1897), zeigt die eine Seite seines Schaffens: Dialekterzählungen vom bayerischen bäuerl. Leben, das er realistisch u. mit feinem Gespür für landschaftl. Unterschiede u. sprachl. Besonderheiten zeichnete. Süddeutsche Heimatliteratur u. Heimatkunst im Sinne seines Freundes Ludwig Ganghofer lehnte er für sich ab. T. entnahm seine Stoffe seinen Rechtsanwaltsakten, seinen zahlreichen Jagdunternehmen u. der ländl. Welt des Tegernseer Tals, die er zunächst während des Urlaubs u. schließlich durch das Leben in seinem Haus »Auf der Tuften« in Rottach kennen lernte. Immer wieder kehrte er zu seinen Bauerngestalten zurück: Andreas Vöst

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(Mchn. 1906), Der Wittiber (ebd. 1911), Der Ruepp (ebd. 1922). Auch T.s zeit- u. gesellschaftskrit. Komödien Die Medaille (Mchn. 1901), Die Lokalbahn (ebd. 1902) u. Moral (ebd. 1909) – sein erfolgreichstes Stück – sind ohne das Bairische nicht zu denken. Gleichwohl überwand er in den auch in Berlin u. am Wiener Burgtheater aufgeführten heiteren Stücken den Regionalismus seiner Bauernromane u. spiegelte in lokalen bayerischen Begebenheiten u. Typen die dt. wilhelmin. Gesellschaft. Überaus populär ist etwa die 1911 entstandene, auch als Schallplatte bzw. CD u. Zeichentrickfilm verbreitete Kurzgeschichte Ein Münchner im Himmel. Seit 1897 im Künstlerkreis um den »Simplicissimus« verkehrend, gab T. 1899 seine Rechtsanwaltspraxis auf, wurde ständiger Mitarbeiter u. 1900 gemeinsam mit Reinhold Geheeb »Simplicissimus«-Chefredakteur. Seine gegen Kaiser u. Militarismus, gegen Studentenkommers u. das Kleinbürgertum gerichteten Gedichte veröffentlichte er unter verschiedenen Pseudonymen, v. a. als »Peter Schlemihl«. Er selbst hatte sich vom kleinstädt. biederen Rechtsanwalt zum krit. Freigeist gewandelt. Wegen Beleidigung von Vertretern dt. Sittlichkeitsvereine durch ein Schlemihl-Gedicht wurde er 1905 zu einer Haftstrafe von sechs Wochen verurteilt. In Moral, 1906 im Gefängnis Stadelheim entworfen, erweiterte er die Vereinssatire zur Abrechnung mit den Sittlichkeits- u. Rechtsvorstellungen des dt. Besitzbürgertums. Mit seinen Büchern u. seiner Arbeit am »Simplicissimus« verdiente T. ein Vermögen. 1906 wurde er Gesellschafter des zur GmbH umgewandelten »Simplicissimus«, seit 1911 auch bei der von Albert Langen 1907 begründeten u. von T. gemeinsam mit Hermann Hesse herausgegebenen Zeitschrift »März« (Redakteur seit 1913 Theodor Heuss; 1917 vereinigt mit der von Heuss redigierten »Deutschen Politik«). In diesen erfolgreichen Jahren zwischen dem Jahrhundertbeginn u. dem Ersten Weltkrieg heiratete er 1907 die Tänzerin Marietta di Rigardo (d. i. Maria Schulz, geb. Trinidad de la Rosa). Nach dem Umzug in sein nach eigenen Plänen im Bauernhausstil erbautes Domizil

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auf dem Prominentenhügel in Rottach u. der Scheidung 1911 zog sich T. immer mehr aus der Gesellschaft zurück. Zu den wenigen gelungenen Werken nach 1910 gehört das an die Tradition des bürgerl. Trauerspiels anknüpfende Volksstück Magdalena (Mchn. 1912). Mit dieser naturalistischen Bearbeitung des Stoffs gelang T. ein bayerisches Pendant zu den Dramen Hauptmanns. 1914 vollzog T., für Mitstreiter u. Verehrer gleichermaßen überraschend, die große Wende: Er wechselte das polit. Lager, meldete sich freiwillig zum Militär, erkrankte im Sanitätsdienst aber schon 1915 an Ruhr u. kehrte in die Heimat zurück. Dort agitierte er für die rechte Deutsche Vaterlandspartei des Admirals Tirpitz. Kriegsniederlage u. Revolution verbitterten den nun Deutschnationalen endgültig. Im »Miesbacher Anzeiger« veröffentlichte der an Magenkrebs Erkrankte von 1920 an anonym zahlreiche antidemokratische u. antisemitische Hetzartikel. »Welch ein Spießer!«, urteilte der ihn einst verehrende Kurt Tucholsky. In seinen letzten Lebensmonaten litt T. unter schweren Depressionen aufgrund der polit. Lage u. der Aussichtslosigkeit, Maidi von Liebermann, die spätere Haupterbin, heiraten zu können. Trotz seiner polit. Wende entstanden einige bedeutende literar. Werke, darunter die Weihnachtslegende im bairischen Dialekt Heilige Nacht (Mchn. 1917) u. der – im Sinne des Grünen Heinrich – autobiogr. Roman Kaspar Lorinser (ebd. 1937), der aber wie vieles andere der letzten Jahre unvollendet blieb. Das L.-T.-Haus in Tegernsee, weitgehend im Originalzustand belassen, steht Besichtigungen offen. T.s Nachlass beherbergt die Monacensia-Abteilung der Stadtbibliothek München. Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Mchn.): Ausgaben: Ges. Werke. 7 Bde., 1922. Erw. 8 Bde., 1956. – Theater. Sämtl. Bühnenstücke. 1964. – Sämtl. Beiträge aus dem ›Miesbacher Anzeiger‹ 1920/21. Kritisch hg. u. komm. v. Wilhelm Volkert. 1989. – Einzeltitel: Hochzeit. Eine Bauerngesch. 1902. – ›Peter Schlemihl‹. Gedichte. 1906. – Briefw. eines bayr. Landtagsabgeordneten. 1909. – Erster Klasse. Bauernschwank. 1910. – Jozef Filsers Briefwexel. 1912. – Altaich. Eine heitere Sommer-

Thomas von Kandelberg gesch. 1918. – Der Jagerloisl. 1921. – Leute, die ich kannte. Ein Erinnerungsbuch. 1923.– Briefwechsel: Ausgew. Briefe. 1927. – Ein Leben in Briefen. 1969. – L. T. – Ignatius Taschner. 1971. – Der Briefw. zwischen L. T. u. Albert Langen, 1899–1908 [...]. Hg. Andreas Pöllinger. Ffm. u.a. 1993. – Hörbücher (Auswahl): Ein Münchner im Himmel. RottachEgern 1998. – L. T. – Die Box: Käsebiers Italienreise, Lausbubengesch.n, Marget – Eine Bauerngeschichte. 5 CDs, Schwäbisch Hall 2007. – Verfilmungen: Ein Münchner im Himmel. Regie: Walter u. Traudl Reiner. 1962. – Lausbubengeschichten. Regie: Helmut Käutner. 1964. – Tante Frieda – Neue Lausbubengesch.n. Regie: Werner Jacobs. 1965. – Onkel Filser – Allerneueste Lausbubengeschichten. Regie: ders. 1966. – Wenn Ludwig ins Manöver zieht. Regie: ders. 1976. – Ludwig auf Freiersfüßen. Regie: Franz Seitz. 1969. Literatur: Helmut Ahrens: L. T. Pfaffenhofen 1983. – Fritz Heinle: L. T. mit Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1984. – Richard Lemp: L. T. Bilder, Dokumente, Materialien. Mchn. 1984. – Jean Dewitz: L. T. et le théâtre populaire. Bern 1985. – Gertrud M. Rösch: L. T. als Journalist. Ein Beitr. zur Publizistik des Kaiserreichs u. der frühen Weimarer Republik. Ffm. u.a. 1989. – R. Lemp: Das große L.-T.-Buch. Herrsching 1992. – Eleonore Nietsch: Frau u. Gesellsch. im Werk L. T.s. Ffm. u.a. 1995. – Martha Schad: L. T. u. die Frauen. Regensb. 1995. – Gerd Thumser: L. T. Lebensbilder u. Anekdoten. Husum 1996. – Ders.: L. T. Als München leuchtete. Mchn. 2001. – Julia Benkert: L. T. Jagd & Wahn [Fernsehfilm]. Mchn. 2004. – Nicole Durot: L. T. et Munich: une contribution à la vie sociale, politique et culturelle à Munich autour de 1900. Bern u.a. 2007. – Frank Sommer: Bürgertumskritik u. Antisemitismus im Werk v. L. T. Vom Satiriker zum Wegbereiter des Nationalsozialismus. Saarbr. 2010. Reinhard Baumann / Kathrin Klohs

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ihm ein Büchslein, das das auf ihrem Schoß liegende Jesuskind in Händen hält. Es enthält ein herrl. Messgewand, das der Student dann bei seiner ersten Messe trägt. Er wird vom Papst zum Bischof ernannt. Die beiden erhaltenen Fassungen nennen keinen Verfasser. Ungeklärt bleibt das Verhältnis der längeren, wohl mitteldt. Fassung I (346 Verse) zur elsäss. Fassung II (188 Verse) sowie die Frage nach Entstehungsort u. -zeit. Am wahrscheinlichsten ist eine Entstehung um die Mitte des 13. Jh. In den urspr. Versionen war die Identifizierung des frommen Studenten mit dem Bischof u. Märtyrer Thomas von Kandelberg (dt. für Thomas Becket of Canterbury) noch nicht erfolgt. In I liefert sie ein späterer Schreiber nach, in II spricht Maria den Studenten einmal mit »Thomas« an. In der lat. Exempelliteratur ist das Mirakel bereits um die Mitte des 13. Jh. fest mit dem Heiligen verknüpft. Stofflich verwandt ist das Mirakel mit dem ältesten dt. Marienwunder von Bischof Bonus (12. Jh.), der ebenfalls als Zeichen späterer Bischofswürde ein Messgewand erhält. Ausgaben: Friedrich Heinrich v. der Hagen: Gesammtabenteuer. Bd. 3, Stgt./Tüb. 1850. Neudr. Darmst. 1961, Nr. 87, S. 573–586 (Fassung I). – Richard Scholl: T. v. K. Lpz. 1928 (Fassungen I u. II). Literatur: Margaret D. Howie: Studies in the Use of Exempla. London 1923, S. 42 f. – Edward Schröder: T. v. K. In: ZfdA 61 (1924), S. 233–236. – Konrad Kunze: T. v. K. In: VL. – De Boor/Newald, Bd. 3/1, 51997, S. 472, 475. Werner Williams-Krapp / Red.

Thomas von Kandelberg. – Marien- Thomas Hemerken von Kempen, latimirakel des 13. Jh. nisiert: Malleolus, a Kempis, * zwischen 29.9.1379 u. 24.7.1380 Kempen/NiederDas Mirakel baut auf einem Schwankmotiv rhein, † 1.5. oder 24.7.1471 Kloster auf. Zwölf Studenten schließen bei einem Agnietenberg. – Niederländischer VerfasGelage eine Wette ab: Bis zum nächsten ser u. Kopist geistlicher Schriften. Sonntag solle jeder ein Liebespfand von seiner »frouwe« mitbringen; wer das geringste vorweise, müsse dann die Zeche zahlen. Damit wollen sie einen armen u. frommen Teilnehmer der Runde blamieren, der keine Geliebte hat. Dieser wendet sich in seiner Not an ein Bild von der höchsten »frouwe«, Maria, u. bittet sie um ein Pfand. Maria schenkt

Den Sohn eines Handwerkerehepaars vermittelte sein älterer Bruder Johannes, seit 1387 Augustinerchorherr in Windesheim, 1392 zu Florens Radewijns nach Deventer. Dieser ließ ihn an der Schule des Johannes Boome ausbilden. Seit 1398 lebte T. in der sich entwickelnden Gemeinschaft der »Brü-

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der vom gemeinsamen Leben« im Hause Radewijns’, der nach Geert Grootes Tod 1384 an die Spitze der Reformbewegung der später so benannten »Devotio moderna« getreten war. 1399 zog sich T. in das Augustinerchorherrenstift St. Agnietenberg bei Zwolle zurück, das der Windesheimer Kongregation angehörte; da sein Bruder dort Prior war, wurde T. erst 1406 eingekleidet u. legte 1407 die Profess ab. 1413/14 wurde er zum Priester geweiht. In den 72 Jahren seines Lebens im Kloster war er 1425–1430 u. seit 1433 Subprior, seit 1448 in Verbindung mit dem Amt des Novizenmeisters, u. um 1443 für ein Jahr – wenig geeigneter – Prokurator. Zudem war er ein bekannter Prediger. 1429–1432 ging der Konvent nach Lünekerk bei Harlingen an der Zuidersee in die Verbannung, die das Interdikt Papst Eugens IV. über die Diözese Utrecht erforderte. T.’ Arbeit war das Schreiben; er betrieb es in geistl. Disziplin nach dem Verständnis der Windesheimer Kongregation als Handschriftenkopist u. als Autor. Er kopierte für sein Kloster u. zum Verkauf neben vielen anderen Kodices liturg. Bücher u. ab 1427 viermal die gesamte Bibel (das fünfbändige, illuminierte Exemplar seines Klosters ist in der Hessischen Landesbibliothek in Darmstadt erhalten). Dem ältesten u. umfänglichsten Schriftenverzeichnis zufolge (1471–1488 entstanden) verfasste T. 38 Werke vornehmlich aszetischen Inhalts; außer einer volkssprachl. Schrift sind sie in Latein geschrieben. Zu den bedeutendsten zählen De tribus tabernaculis (Armut, Demut u. Geduld), Soliloquium animae, das die Spiritualität der Windesheimer Brüdergemeinde bes. deutlich widerspiegelt, u. der Libellus de disciplina claustralium. In vier Viten beschreibt T. das Leben Grootes, Radewijns’ u. einiger seiner Schüler sowie der hl. Lidwina von Schiedam († 1433). In der Chronica montis S. Agnetis schildert er die Entwicklung des Konvents; das Werk ist auch eine Quelle zu T.’ Biografie. Seine Predigten, von ihm selbst in drei Zyklen gruppiert, gelten u. a. dem Klosterleben. Zudem dichtete u. komponierte er Hymnen. Sein Latein gilt als bes. nuancenreich u. rhythmisch geprägt. T.’ Reflexionen u. Ratschläge zur Vervollkomm-

Thomas Hemerken von Kempen

nung im geistl. Leben richteten sich vielfach an klösterlich lebende Menschen; einzelne Schriften waren u. sind jedoch als Erbauungsbücher weit verbreitet (Hortulus rosarum – Das Rosengärtlein, Vallis liliorum – Das Liliental). Das einflussreichste Werk, das aus der devoten Textegemeinschaft hervorgegangen ist, ist De imitatione Christi (IC). Seit seiner Entstehung zahlreichen Autoren (u. a. Jean Gerson, einem Johannes Gersen [de Canabaco, Abt von San Stefano in Vercelli], Geert Groote, einem ›gewissen Kartäuser‹) zugeschrieben, wird es heute mehrheitlich als ein Werk des T. angesehen, obwohl dies nicht mit Dokumenten belegt werden kann. Jahrhunderte der Überlieferungstradition haben, insbes. im Druck, mehrere, urspr. selbstständige, etwa 1420–1441 immer wieder umgearbeitete Traktate zu einem Werk aus vier Büchern vereint (Admonitiones ad spiritualem vitam utiles, Admonitiones ad interna trahentes, Liber internae consolationis, Devota exhortatio ad sacram communionem). In Betrachtungen, Ermahnungen u. Gebeten (präsentiert nach Art eines Rapiariums) werden die Wege geistl. Entwicklung in der personalen Begegnung mit Gott umkreist; im Gegensatz zur scholastischen Wissenschaft betont T. in eher affektiver Spiritualität Demut u. ein aus steter Bibellektüre inspiriertes, christusförmig geführtes Leben. Die überaus große Wirkung der IC – besonders der ersten drei Teile – lässt sich an den gegenwärtig bekannten mehr als 770 Handschriften aus dem 15. Jh. (insg. fast 900 Handschriften) sowie den mehr als 3000 Drucken ablesen. Ignatius von Loyola schätzte sie als Andachtsbuch ganz besonders; diese Funktion besaß sie auch im 20. Jh. noch (Johannes XXIII., Dietrich Bonhoeffer, Dag Hammarskjöld). Die IC wurde in alle europ. u. einige außereurop. Sprachen wie das Hebräische, Arabische, Malaiische, Chinesische u. Japanische übersetzt. Ausgaben: Faks. des Autographs der IC. Hg. Charles Ruelens. London 1879. – Thomae H. a Kempis [...] Opera omnia. Hg. Michael Joseph Pohl. 7 Bde., Freib. i. Br. 1902–22. – Zwei Urschriften der IC in mittelniederdt. Übers. Hg. Paul Hagen. Bln. 1930. – Le manuscrit autographe de T. a Kempis et ›L’Imitation de Jésus-Christ‹. Examen archéologique et édition diplomatique du Bruxellensis

Thomas 5855–5861. Hg. Léon M. J. Delaissé. 2 Bde., Paris/ Brüssel/Antwerpen/Amsterd. 1956. – De IC libri quatuor. Hg. Tiburzio Lupo. Vatikanstadt 1982. – Heinrich Hallers Übers. der IC. Hg. Erika Bauer. Salzb. 1982. – Übersetzungen: Sämmtl. Werke des gottseligen T. v. K. Übers. v. Johann Peter Silbert. 4 Bde., Wien 1833–40. – Die Nachfolge Christi des gottseligen T. v. K. Übers. v. Otto Bardenhewer. Mchn. 1948. – Neuere Übers.en s. Bauer. a. a. O., S. 11 f. – Michael Grütering: Die Ordensdisziplin [...]. Übers. v. Carl Egger. In: Bulletin de Théologie ancienne et mediévale 11 (1973). Literatur: T. v. K. Beiträge zum 500. Todesjahr. Kempen 1971. – T. a K. et la Dévotion moderne. Kat. Brüssel 1971. – Stephanus G. Axters OP: De imitatione Christi. Een handschrifteninventaris [...]. Kempen 1971 [Ergänzungen: Neddermeyer, Radix. Aus dem Winkel, passim]. – Albert Ampe SJ: L’Imitation de Jésus-Christ et son auteur. Rom 1973. – Erwin Iserloh: T. v. K. u. die Devotio Moderna. Bonn 1976. – H. Kloster: Imitatio. Concordance in Latin to the IC. Wien 1978 (Buch 1–3). – A. Ampe: Een chronolog. inventaris van T. a Kempis’ werken. In: Ons Geestelijk Erf 62 (1988), S. 257–273. – Uwe Neddermeyer: Radix Studii et Speculum Vitae. Verbreitung u. Rezeption der ›Imitatio Christi‹ in Hss. u. Drucken bis zur Reformation. In: Studien zum 15. Jh. FS Erich Meuthen. Hg. Johannes Helmrath u. Heribert Müller in Zus. mit Helmut Wolff. Bd. 1, Mchn. 1994, S. 457–481. – Paul van Geest, Erika Bauer u. Burghart Wachinger: T. H. v. K. In: VL (Lit.). – Thomas Kock: Die Buchkultur der Devotio moderna. Handschriftenproduktion, Literaturversorgung u. Bibliotheksaufbau im Zeitalter des Medienwechsels. 2., überarb. u. erg. Aufl. Ffm. u. a. 2002. – Kenneth Michael Becker: From the Treasure-House of Scripture: An Analysis of Scriptural Sources in ›De Imitatione Christi‹. Turnhout 2002. – Ulrike Bodemann: Die kleineren Werke des T. v. K. Eine Liste der handschriftl. Überlieferung. In: Ons Geestelijk Erf 76 (2002), S. 116–154. – Kempener ThomasVorträge. Bearb. v. U. Bodemann. Kempen 2002 [5 Beiträge, u. a.: U. Neddermeyer: Verfasser, Verbreitung u. Wirkung der ›IC‹ in Hss. u. Drucken vom 15. bis zum Ende des 18. Jh., S. 55–83]. – Werner J. Hoffmann: T. H. v. K. In: VL (Nachträge u. Korrekturen). – Aus dem Winkel in die Welt. Die Bücher des T. v. K. u. ihre Schicksale. Hg. U. Bodemann u. Nikolaus Staubach. Ffm. u. a. 2006 [15 Aufsätze]. – U. Bodemann-Kornhaas: ›... ein grosser, edler, thewrer schatz ligt inn disem kleinen buechlin begraben‹. Die einzigartige Verbreitungsgesch. der ›Nachfolge Christi‹ des T. v. K. Kempen 2006. – Dies.: T. v. K. In: Van der Masen

490 tot op den Rijn. Ein Hdb. zur Gesch. der mittelalterl. volkssprachl. Lit. im Raum von Rhein u. Maas. Hg. Helmut Tervooren. Bln. 2006, S. 327–340. – Charles Caspers: Late Medieval Liturgy and Its Inner Tension. The hermeneutic significance of T. à Kempis’s. In: What is ›Theology‹ in the Middle Ages? Religious Cultures of Europe (11th-15th Centuries) [...]. Hg. Mikol/aj Olszewski. Münster 2007, S. 381–396. – Ders.: The militant spirituality of T. à Kempis. Illustrated with the help of his ›Sermons to the novices regular‹. In: Seeing the Seeker. Explorations in the Discipline of Spirituality. FS Kees Waaijman. Hg. Hein Blommestijn, Charles Caspers u. Rijcklof Hofman. Leuven 2008, S. 367–383 [u. a. Beiträge zur IC]. – Maximilian v. Habsburg: Catholic and Protestant Translations of the IC, 1425–1650. Farnham u. a. 2011 [im Druck]. – URL: http://www.handschriftencensus.de/werke/ 2081 (IC, dt.). Sabine Schmolinsky

Thomas, Adrienne, eigentl.: Hertha A. Deutsch, geb. Strauch, * 24.6.1897 St. Avold/Lothringen, † 7.11.1980 Wien; Grabstätte: ebd., Grinzinger Friedhof. – Roman- u. Novellenautorin. T. wuchs zweisprachig auf. Nach dem Besuch des Lyzeums in Metz arbeitete sie 1914–1918 als Rotkreuzschwester in Berlin. Neben einer Gesangs- u. Schauspielausbildung begann T. für Zeitungen u. Zeitschriften zu schreiben. Ihr Roman Die Katrin wird Soldat (Bln. 1930. St. Ingbert 2008. Nachw. Günter Scholdt), das fiktive Tagebuch einer jungen Jüdin, die 19jährig als Rotkreuzhelferin im Ersten Weltkrieg ums Leben kommt, wurde in 16 Sprachen übersetzt. 1933 gehörte T. zu den »verbrannten« Schriftstellern; sie emigrierte (Frankreich, 1934 Österreich, 1938 Frankreich, 1940 USA). Im Roman Reisen Sie ab, Mademoiselle! (Amsterd. 1947. Ffm. 1985. Vorw. Peggy Parnass. Nachw. Gabriele Kreis) stellt T. die Annexion Österreichs u. ihre Flucht vor Hitler dar. Von den USA aus arbeitete sie für europ. Zeitungen (»Basler Nachrichten«, »Neue Jüdische Zeitung«, »Neues Wiener Tagblatt«, »Prager Tagblatt«). 1941 heiratete T. den Politiker u. Schriftsteller Julius Deutsch u. kehrte mit ihm 1947 nach Wien zurück. In ihren Romanen befasste sich T. mit aktuellen Themen.

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Als engagierte Pazifistin setzte sie sich für Menschlichkeit, Freiheit. u. Recht ein. Weitere Werke: Dreiviertel Neugier. Amsterd. 1934 (R.). – Katrin, die Welt brennt. Ebd. 1936 (R.). – Andrea. Basel/Wien/Mährisch-Ostrau 1937 (E.). – Viktoria. Ebd. 1937 (E.). – Wettlauf mit dem Traum. Amsterd. 1939 (R.). – Von Johanna zu Jane. Ebd. 1939 (R.). – Ein Fenster am East River. Ebd. 1945 (R.). – Da u. dort. Wien 1950 (N.n). – Ein Hund ging verloren. Wien/Heidelb. 1953 (E.). – Markusplatz um vier. Ebd. 1955. – Hymnen. Ffm. 1987. – Aufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg. Hg. Günter Scholdt. Köln u. a. 2004 (Tgb.). Literatur: Karin Sinhuber: A. T. Eine Monogr. Diss. masch. Wien 1990. – Brian Murdoch: Hinter die Kulissen des Krieges sehen. A. T., Evadne Price and Erich Maria Remarque. In: Forum for Modern Language Studies 28 (1992), N. 1, S. 56–74. – Christa Gurtler: A. T. In: LuK 35 (2000), H. 349/ 350, S. 103–109. – Helga Schreckenberger: ›Über Erwarten grauenhaft‹. Der 1. Weltkrieg aus weibl. Sicht. A. T.: ›Die Katrin wird Soldat‹ (1930). In: Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg. Hg. Thomas F. Schneider u. Hans Wagener. Amsterd./New York 2003, S. 387–398. – Yun Jung Seo: Frauendarstellungen bei A. T. u. Lili Körber. Marburg 2003. – Rebecca Biener: Die literar. Verteidigung des kleinen Glücks am Beispiel der Autorin A. T. Siegen 2005 (mit Bibliogr.). – Sabine Rohlf: ›Zuhause war ich nur noch an irgend einem Schreibtisch‹. Autobiogr., Exil u. Autorschaft in Texten v. Irmgard Keun u. A. T. In: Exilforsch. 23 (2005), S. 128–150. – Lisa A. Bilsky: A. T., Gertrud Isolani and Gabriele Tergit. GermanJewish woman writers and the experience of exile. Ann Arbor, Mich. 2007. – Volker Weidermann: Das Buch der verbrannten Bücher. Köln 2008 S. 50 f. Kristina Pfoser-Schewig / Red.

Thomas, Thomae, Thomasius, Johann(es), auch: Matthias Jonsohn, J. Mostain, * 28.8.1624 Leipzig, † 2.3.1679 Altenburg. – Jurist, Gesandter; Dichter. Der Sohn des Anwalts u. Leipziger städt. Konsulenten Michael Thomasius studierte seit 1640 in Wittenberg, zunächst zusammen mit dem älteren Bruder Jakob, dem berühmten Vater des später weitaus berühmteren Christian Thomasius. Später ging T. nach Leipzig u. Jena, war eine Zeitlang Hofmeister u. erwarb 1648 den Grad des Dr. jur. Schon 1650 übernahm er in Jena eine o. Professur u. war ein erfolgreicher Rechtslehrer, ehe er

bereits 1652 als Rat an den Hof des Herzogs von Sachsen-Altenburg ging. Nach 1653 hielt er sich als Gesandter beim Reichstag in Regensburg auf; im folgenden Jahr war er bei der Krönung Kaiser Leopolds I. in Frankfurt/ M. zugegen. Als Gesandter in Regensburg reiste T. an den Kaiserhof nach Wien. Seit 1664 war er leitender Hofbeamter in Altenburg. Seit den akadem. Jahren, als eine Reihe juristischer Dissertationen von ihm erschien (z. B. Tractatus de noxia animalium [...]. Jena 1653), hat T. keine gelehrte Schrift mehr publiziert. Dass wir ihn heute noch kennen, verdankt er einem kleinen Produkt poetischer Nebenstunden, das er am Ende seiner Regensburger Zeit unter einem anagrammat. Pseudonym drucken ließ, einem der reizvollsten dt. Schäferromane des Barock: Matthiae Jonsohn LISILLE (Ffm. 1663). Der im selben Jahr erschienene Raubdruck u. d. T. Gedoppelte Liebes-Flamme (Hbg.) trägt das Pseudonym J. Mostain. Eine dritte Ausgabe, wohl die zweite, erweiterte u. umgearbeitete Fassung des Frankfurter Erstdrucks, Damon und Lisillen Keuscher Liebes-Wandel, erschien 1672 (o. O.); darin ist der erste Teil in zwölf Bücher gegliedert, der zweite enthält nur Gedichte. Karl Winkler ist 1953 die Identifizierung des Autors gelungen, nachdem der Roman schon länger »als eine geradezu exzeptionelle Erscheinung« (Spellerberg, 1988) gegolten hatte. Er erzählt eine Liebes- u. Ehegeschichte. Das dünne Schäferkostüm lässt die Lebensverhältnisse des Verfassers durchscheinen, der 1653 Marie Elisabeth (»Lisille«), die Tochter Johann Philipps von Bohn (»Benno«), geheiratet hatte. Die ungewöhnlich deutl. Schilderung familiärer Privatheit bes. in den Büchern 5–12 verführte zu der leicht anachronist. These, hier handle es sich mitten in einer Epoche individualitätsfremder Literatur beinahe um einen bürgerl. Eheroman. Demgegenüber wurde neuerdings eher die Zeitgemäßheit auch dieses Textes betont: Liebe u. Ehe als individuelle Tugendverhältnisse sind im 17. Jh. nicht anders darstellbar als in pastoraler Inszenierung, u. diese Form verhilft ihnen erst zu überindividueller Bedeutsamkeit u. macht sie so literaturfähig. Dieses Argument betont sehr stark die Ko-

Thomasin von Zerklære

härenz u. Gleichförmigkeit der Epoche – in jedem Fall wäre damit aus einer bloß bewunderten kleinen Erzählung mit einigem Recht eine umstrittene geworden. Ausgabe: Damon u. Lisille. Hg. Herbert Singer u. Horst Gronemeyer. Hbg. 1966. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Johann Christfried Sagittarius: Wahrer Christen sichere Schlaff-Stete u. Ruhe. [...] Als der weiland [...] Hr. T. [...] in seine Ruhe-Kammer ward beygesetzet. Altenburg o. J. [1679] (darin u. a. Caspar Sagittarius: Programma, quo ad audiendam orationem panegyricam laudibus [...] J. T. sacram [...] invitat, u. ein Porträtstich des Autors). – A. Schumann: J. T. In: ADB. – Heinrich Meyer: Der dt. Schäferroman des 17. Jh. Bln. 1932. – Arnold Hirsch: Bürgertum u. Barock im dt. Roman. Ffm. 1934. 21957. – Karl Winkler: Ein lange vergessener Meisterroman des dt. Barocks u. sein Verfasser. In: Verhandlungen des histor. Vereins für Oberpfalz u. Regensburg 94 (1953), S. 147–167. – Wilhelm Voßkamp: Landadel u. Bürgertum im dt. Schäferroman [...]. In: Stadt, Schule, Univ., Buchwesen [...]. Hg. Albrecht Schöne. Mchn. 1976, S. 99–110. – Herbert Jaumann: Bürgerl. Alltag im barocken Schäferroman? Gattungsgeschichtl. Thesen zu ›Damon u. Lisille‹. In: Schäferdichtung. Hg. W. Voßkamp. Hbg. 1977, S. 39–58. – Marieluise Bauer: Studien zum dt. Schäferroman. Diss. Mchn. 1979. – W. Voßkamp: Le roman pastoral en tant que ›Privat-Werck‹ [...]. In: Le genre pastoral en Europe du XVe au XVIIe siècle. Saint-Etienne 1980, S. 257–267. – Gerhard Spellerberg: ›Damon u. Lisille‹. Eheroman u. Vorläufer des bürgerl. Privatromans des 18. Jh.? In: Daß eine Nation die ander verstehen möge. FS Marian Szyrocki. Hg. Norbert Honsza u. a. Amsterd. 1988, S. 703–732. Herbert Jaumann

Thomasin von Zerklære, auch: T. v. Cerclaria oder Circlaria, * um 1185/86, † an einem 12.5. nach 1215. – Verfasser des mittelhochdeutschen Lehrgedichts Der Welsche Gast. T. stammt wohl aus dem ital. Ministerialengeschlecht der nach 1180 mehrfach urkundlich belegten Familie de Cerclaria aus Cividale. Er war Kleriker u. wirkte vielleicht als Kanoniker in Aquileja oder Cividale im Umfeld des Bischofs Wolfger von Erla, der 1204–1218 dem Patriarchat in Aquileja vorstand u. in engem Kontakt mit den Kaisern Philipp von Schwaben u. Otto IV. zwischen

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Reich u. Kirche vermittelte. Der muttersprachl. Italiener T. verfasste ab Sommer 1215 in etwa zehn Monaten (vgl. V. 12.223 ff.) ein dt. Lehrgedicht, dem er den Titel Der Welsche Gast gab u. das mit knapp 14.800 Reimpaarversen das erste größere Beispiel der Gattung in der dt. Literatur ist. Das IV. Laterankonzil (Nov. 1215) wirkte mit einzelnen Ergebnissen bereits auf den Text ein; abgeschlossen war das Werk wohl vor dem Tod von Papst Innozenz III. (16.7.1216), da T. diesen so wie andere wichtige zeitgenöss. Ereignisse (z.B. Krönung Ottos IV. in Rom 1209, V. 10.471 ff.) wahrscheinlich erwähnt hätte. Vor dem Welschen Gast verfasste T. eine nicht erhaltene Hofzucht in einer romanischen Volkssprache, die er in Auszügen als buoch von der hüfscheit in sein späteres Werk integrierte. Dieses ist mit 24 Handschriften vom 13.-15. Jh. (darunter neun Fragmenten) in zwei Redaktionen, von denen die erste vielleicht noch auf T. selbst zurückgeht, reich überliefert. Die meisten Textzeugen sind mit einem wohl zur urspr. Konzeption gehörenden Bilderzyklus ausgestattet, u. schon in der ersten Redaktion ist dem Werk ein Prosavorwort mit Inhaltsangabe vorangestellt. Die Titelallegorie, die in Prolog u. Epilog näher ausgeführt wird, lässt das Werk als »gast« aus dem »welschen« Sprachgebiet zur dt. Hausherrin reiten. Beide Textteile enthalten wichtige Äußerungen zur Theorie der Lehrdichtung in der Volkssprache. Der Autor stellt sich vor, bittet um Nachsicht für sprachl. Schwächen u. kennzeichnet sein Verfahren, bes. den freien Umgang mit seinen Quellen. Insgesamt zeigt sich T. in der Theologie u. Philosophie des 12. Jh. u. bis in die volkssprachl. Literatur Frankreichs u. vielleicht Deutschlands hinein erstaunlich belesen. Das Werk ist in zehn Bücher (»teile«) gegliedert u. orientiert sich an vier zentralen Tugendbegriffen. Vor dem Beginn der eigentl. Tugendlehre bietet Buch I eine Anstands- u. Minnelehre für die adlige Jugend. Bemerkenswert ist die Empfehlung einer moralisch kontrollierten Lektüre höf. Romane, während für die Erwachsenen das fiktionale Genre gegenüber der Sachliteratur abgewertet wird.

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Buch II beginnt mit dem Thema »stæte« (Beständigkeit) u. mündet in einen kosmolog. Aufriss mit einer von der beständigen Ordnung des Kosmos ausgehenden naturphilosophischen Begründung des Tugendbegriffs. Durch den Sündenfall ist diese Ordnung gestört; T. zeigt das in einem geschichtl. Ausblick, der nach dem Modell der »alternden Welt« auf eine endzeitlich verfallende Gegenwart zuläuft. Von der »stæte« handeln auch die Bücher III-VII, in denen zunächst eine allgemeine, auf Gott ausgerichtete Güterlehre u. der Umgang mit den Adiaphora »rîchtuom«, »hêrschaft«, »maht«, »adel«, »name« u. »gelust« im Zentrum stehen. Es folgen Ausführungen zur Theodizee, eine ritterlich stilisierte Bearbeitung der Psychomachie des Prudentius (erstmals im Deutschen), die von Alanus ab Insulis beeinflusst ist, sowie eine Seelenlehre, in die eine ethischmoralisch überformte Arteslehre integriert ist. Die übrigen Bücher stellen je einen Wert in den Mittelpunkt: Buch VIII handelt von der »maze« (Mäßigung) u. endet mit einem flammenden Aufruf zum Kreuzzug, Buch IX gibt Lehren über das »reht« (Recht) u. das richtige Verhalten des Adligen bei Gericht, Buch X stellt schließlich die »milte« (Freigiebigkeit) als zentrale Tugend des Feudalsystems dar. Im Hintergrund zeichnen sich die vier antiken Kardinaltugenden ab, die Spitzenstellung der »stæte« gibt T.s lockerer Systematik den spezif. Akzent. Im Einzelnen ist die Gedankenführung abwechslungsreich, die literar. Mittel sind bei aller Schlichtheit der Sprache vielfältig: Die Tugenden u. Laster treten personifiziert auf; der Weg des Menschen zum Heil oder ins Verderben wird in den Allegorien von der Tugendleiter (V. 5781 ff.) u. der Psychomachie (V. 7369 ff.) vorgestellt. Traktat- u. predigtartige Passagen wechseln sich ab, Ratschläge werden in leicht memorierbaren Reihungen dargeboten. Zahlreiche bibl. u. histor. (auch literarische) Exempel verdeutlichen die Lehren, auch zwei recht lebendig erzählte Fabeln sind aufgenommen (die Fabel V. 13.261 ff. hat T. wahrscheinlich selbst erfunden). Der Illustrationszyklus ist eng mit dem Inhalt des Textes verknüpft, weist aber

Thomasin von Zerklære

auch immer wieder darüber hinaus; er dient einerseits der Memorierbarkeit der Lehren, andererseits ermöglicht er eine doppelte Rezeption des Werkes – Text u. Bild stehen als originäre Einheit in einem vielschichtigen Wechselverhältnis. Mehrfach ergreift T. tagesaktuell Partei: Er geißelt Ottos Übermut (V. 10.471 ff.) u. verzeichnet wohlwollend den Aufstieg Friedrichs II. (V. 10.569 ff.); er wirbt für den von Innozenz III. seit 1213 geforderten Kreuzzug u. polemisiert dabei gegen die giftigen Opferstocksprüche Walthers von der Vogelweide (Lachmann 34,4 u. 34,14; V. 11163 ff.) – ein unschätzbares Zeugnis der Walther-Rezeption. Die vermittelten Wissensbestände sind vielfältig, aber allesamt auf den Zweck der Tugendlehre ausgerichtet. T. legt dabei kein klar gegliedertes System zugrunde, sondern geht assoziativ vor. Innere Kohärenz wird durch die Lebendigkeit der Darstellung erreicht, die den Gestus des mündl. Vortrags bewahrt u. so den direkten Kontakt zum Publikum sicherstellt. In der Grundhaltung ist das Werk konservativ. Es richtet sich an alle Alters-, Geschlechts- u. Berufsstände, auch wenn exponierte Lehren auf Adel u. höf. Rittertum zugespitzt sind. Bildungs-, rechts- u. mentalitätsgeschichtlich sowie als Zeugnis der Umsetzung lat. gelehrten Wissens in eine volkssprachl. Morallehre zur Zeit der mhd. Klassik ist das Gedicht von größter Bedeutung. Für die spätmittelalterl. didakt. Großform war es richtungweisend. Ausgaben: Der Wälsche Gast. Hg. Heinrich Rückert. Quedlinb./Lpz. 1852. Neudr. mit Einl. u. Register v. Friedrich Neumann. Bln. 1965 (zitiert). – Der Welsche Gast. Codex Palatinus Germanicus 389 der Universitätsbibl. Heidelberg. Wiesb. 1974 (Faks. mit Kommentarbd.). – Der Welsche Gast. Hg. Friedrich Wilhelm v. Kries. 4 Bde., Göpp. 1984/85 (Bd. 4: Bildüberlieferung u. Bibliogr.). – Der Welsche Gast. Farbmikrofiche-Ed. der Hs. Ms. Hamilt. 675 der Staatsbibl. zu Berlin. Hg. Horst Wenzel. Mchn. 1998. – Der Welsche Gast. Hg. Raffaele Disanto. Triest 2002 (diplomat. Abdruck der Hs. A, Cpg 389). – La parola e l’immagine nel ciclo illustrativo del Welscher Gast. Hg. R. Disanto. Triest 2003 (Faks. der Illustrationen v. A). – Der Welsche

Thomasius Gast. Hg. Eva Willms. Bln./New York 2004 (Teiledition nach A mit Übers.). Literatur: Friedrich Ranke: Sprache u. Stil im ›Wälschen Gast‹ des T. v. Circlaria. Bln. 1908. – Hans Teske: T. v. Z. Heidelb. 1933. – Jürgen Müller: Studien zur Ethik u. Metaphysik des T. v. Circlaere. Königsb. 1935. – Friedrich Wilhelm v. Kries: Textkrit. Studien zum ›Welschen Gast‹ T.s v. Z. Bln. 1967. – Manfred Günter Scholz: Die ›Husvrouwe‹ u. ihr Gast. Zu T. v. Z. u. seinem Publikum. In: FS Kurt Herbert Halbach. Hg. Rose Beate Schäfer-Maulbetsch u. a. Göpp. 1972, S. 247–269. – Daniel Rocher: T. v. Z.: ›Der Wälsche Gast‹ (1215–16). 2 Bde., Lille/Paris 1977. – Werner Röcke: Feudale Anarchie u. Landesherrschaft. Wirkungsmöglichkeiten didakt. Lit.: T. v. Z. ›Der Wälsche Gast‹. Bern u. a. 1978. – Christoph Cormeau: Tradierte Verhaltensnormen u. Realitätserfahrung. Überlegungen zu T.s ›Wälschem Gast‹. In: Gedenkschr. Hugo Kuhn. Stgt. 1979, S. 276–295. – Ernst Johann Friedrich Ruff: Der ›Wälsche Gast‹ des T. v. Z. Erlangen 1982. – Michael Curschmann: Hören – Lesen – Sehen. In: PBB 106 (1984), S. 218–257. – Walter Haug: Literaturtheorie im dt. MA. Darmst. 21992, S. 228–240. – Christoph Huber: Höf. Roman als Integumentum? Das Votum T.s v. Z. In: ZfdA 115 (1986), S. 79–100. – Fritz Peter Knapp: Integumentum u. Aventiure. In: LitJb 28 (1987), S. 299–307. – C. Huber: Die Aufnahme u. Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mhd. Dichtungen. Mchn. 1988, S. 23–78 u. Register. – C. Huber: Zur mittelalterl. Roman-Hermeneutik: Noch einmal T. v. Z. u. das Integumentum. In: German Narrative Literature of the Twelth and Thirteenth Centuries. Hg. Volker Honemann u. a. Tüb. 1994, S. 27–38. – Egon Boshof u. F. P. Knapp (Hg.): Wolfger v. Erla. Heidelb. 1994. – C. Cormeau: T. v. Z. In: VL. – Horst Wenzel: Hören u. Sehen. Schrift u. Bild. Kultur u. Gedächtnis im MA. Mchn. 1995. – Paola Schulze-Belli (Hg.): T. v. Z. u. die didakt. Lit. des MA. Triest 1995. – C. Huber: ›Der werlde ring‹ u. ›was man tuon u. lassen schol‹. Gattungskontinuität u. Innovation in moraldidakt. Summen: T. v. Z., Hugo v. Trimberg, Heinrich Wittenwiler u. a. In: MA u. frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche u. Neuansätze. Hg. W. Haug. Tüb. 1999, S. 187–212. – H. Wenzel u. Christina Lechtermann (Hg.): Beweglichkeit der Bilder. Text u. Imagination in den illustrierten Hss. des ›Welschen Gastes‹ von T. v. Z. Köln u. a. 2002. – Michael Stolz: Artes-Liberales-Zyklen. Formationen des Wissens im MA. Tüb. 2004. – Christoph Schanze: Himmelsleitern. Von Jakobs Traum zum ›Welschen Gast‹. In: Dichtung u. Didaxe. Hg. Henrike Lähnemann u. Sandra Linden. Bln./New York 2009,

494 S. 205–222. – Ders.: Die Konstruktion v. höf. Öffentlichkeit im ›Welschen Gast‹ T.s v. Z. u. ihre Funktionalisierung in Wirnts v. Gravenberg ›Wigalois‹. In: Artushof u. Artuslit. Hg. Cora Dietl u. a. Bln./New York 2010, S. 61–90. Christoph Huber / Christoph Schanze

Thomasius, Christian, auch: Attila Friedrich Frommhold, Hector Gottfried Erdmann, Frantz Dietrich Freudenhöfer, * 1.1.(a.St.)1655 Leipzig, † 23.9.1728 Halle/Saale. – Rechtsgelehrter, Philosoph u. Kritiker. Der älteste Sohn des Universitätsprofessors Jakob Thomasius (1622–1684, Vater von zehn Kindern aus zwei Ehen) entstammte einer angesehenen Juristenfamilie, deren Vorfahren im 16. Jh. wohl aus dem oberfränk. Coburg über Weida in Thüringen (der Urgroßvater Michael I. Thomas, dort † 1630) nach Leipzig gekommen waren; nur der Vater war als Philosoph u. Schulrektor eine Ausnahme in der Familiengeschichte der fürstl. Räte u. städt. Advokaten. Die letzten Gymnasialjahre wurden zu dieser Zeit oft an der Universität absolviert; auch T. begann schon 1669 mit 14 Jahren in Leipzig zu studieren, war noch im selben Jahr Baccalaureus u. erwarb 1672 den Magistergrad; der Vater machte ihn mit dem Naturrecht des Hugo Grotius vertraut, u. in der Magisterdisputation, seiner ersten Publikation, vertrat er bereits Ansätze zu einer Staatslehre. Der Theologe u. Naturrechtler Valentin Alberti war einer der frühesten Lehrer, während ihn besonders der Onkel Johann Thomas (1624–1679), um diese Zeit Hofjurist (Kanzler) im sächs. Altenburg, zum jurist. Studium bewogen u. ihn zu den Thesen seiner Erstlingsschrift inspiriert hatte (Hoke 1973). Eine erste wegweisende Erfahrung ist der Skandal gewesen, den Pufendorfs 1672 (im schwed. Lund) erschienenes Jus naturae et gentium unter den Leipziger Gelehrten ausgelöst hatte, deren extrem reaktionäre Einstellung in Abhängigkeit von der luth. Orthodoxie u. ihren theokratischen Vorstellungen von den ›göttlichen‹ Quellen des Naturrechts ihm bei dieser Gelegenheit deutlich geworden sein mag; der Leipziger Magister war aber unter dem Einfluss des Vaters u.

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seiner Lehrer noch weit davon entfernt, sich selbst davon zu lösen. Richtungweisend war dann auch der Wechsel an die brandenburgische Universität Frankfurt/O. zum Wintersemester 1675/76, der vom Vater, der selbst, wie der Onkel, im kursächs. Wittenberg studiert hatte, immerhin gefördert wurde. Der Kurfürst von Brandenburg war 1613 mit seiner Familie zum reformierten Bekenntnis übergetreten. Dies hatte einen Aufruhr unter der luth. Bevölkerung erzeugt, der aber in Brandenburg nicht zu Gewissenszwang, sondern im folgenden Jahr zu einem Toleranzedikt gegen konfessionelle Diskriminierung geführt hatte, eine »Sternstunde« (Schmidt 1995) der Geschichte Kurbrandenburgs noch vor der Zeit des Großen Kurfürsten, der dann 1671 den Juden u. in den 1680er Jahren den verfolgten Hugenotten die Niederlassung gestattete. Das für Brandenburg von dem schwed. gelehrten Diplomaten Bengt Skytte entworfene »Collegium universum«, die utopische »Gründungsvision« (Irrgang 2005) einer überkonfessionellen Universität für Christen, Juden u. Muslime in Tangermünde, ist 1668 gescheitert. Aber weniger der fremde Katechismus – T. ist immer Lutheraner geblieben – als der Geist des freien persönl. Bekenntnisses, der auch dem neuen Naturrecht günstig sein musste, machte Eindruck auf den jungen Juristen, der nach der Disputation »pro licentia« (1678) bei Rhetius (Friedrich von Rhetz, später Staatsminister in Brandenburg) 1679 bei Samuel Stryk, seinem wichtigsten Lehrer u. späteren Kollegen in Halle, zum Doktor der Rechte promoviert wurde. Er hielt in Frankfurt erste Vorlesungen über das Corpus juris des Justinian u. über Grotius u. beschäftigte sich eingehend mit Samuel Pufendorf (1632–1694), dessen Apologia von 1678 entscheidend für seine eigene Entwicklung zur geistigen Selbstständigkeit gewesen sein muss (der Prozess ist angesprochen in der Dissertatio prooemialis ad auditores, der Vorrede zu den Institutiones von 1688). Pufendorfs im Alter sarkastische u. drast. Sprache, die man noch heute in seinen Berliner Briefen genießen kann, hat den satir. Stil seines Leipziger Schülers sicher ermuntert. Pufendorf hatte 1667 unter dem Pseudonym Severinus de

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Monzambano mit einer Fundamentalkritik an der monströsen Verfassung des Reiches die akadem. Welt in Deutschland so sehr gegen sich aufgebracht, dass er aus Heidelberg nach Schweden emigrieren musste. Doch der Widerstand gegen das neue säkulare Naturrecht von 1672, der ihm nun besonders von den Theologen entgegenschlug, war noch weit heftiger u. hätte ihn vielleicht bis nach China vertrieben, wäre er nicht schon in Schweden in Sicherheit gewesen. Dass Pufendorf 1688 mit dem Auftrag, die Geschichte des Großen Kurfürsten zu schreiben (erschienen Berlin 1695), nach Berlin berufen wurde, ist daher auf exemplarische Weise folgerichtig. Als T. (vielleicht nach einer Bildungsreise, für die es aber keinen Beleg gibt, in die Niederlande, das Land der relativ größten Denku. Lehrfreiheit im 17. Jh.) Ende 1679 wieder in Leipzig war u. im Febr. 1680 die gleichaltrige Tochter eines Wolfenbütteler Hofrats Auguste Christine Heyland (1655–1739) heiratete, hatte er sich die Kriterien für seinen Kampf gegen falsche Autoritäten u. »praeiudicia« u. gegen die Unterdrückung der individuellen Glaubensfreiheit erworben u. war bereit u. in der Lage, den Doktrinen u. Lehrern seiner Herkunft entgegenzutreten. Nach vergebl. Bemühungen um ein städt. Richteramt (»Schöppenstuhl«) lebte er in den folgenden zehn Jahren bis zu seiner dramat. Rückkehr nach Brandenburg im Wesentlichen »von collegiis und Bücherschreiben«, als Universitätsdozent ohne Anstellung (»doctor privatus«), mit geringen Nebeneinkünften als Advokat. Die sich vergrößernde Familie wohnte im Haus der Schwiegereltern am Leipziger Markt. Das Jahrzehnt war turbulent, es war durchzogen von einer Serie von Konflikten mit jedes Mal sich steigernden Aggressionen u. Niederlagen, selten Erfolgen, u. ihr Verlauf, ihre Ergebnisse u. Tragweite haben der Statur dieses außergewöhnl. Gelehrten scharfe Konturen verliehen u. waren darin alles andere als ›bloß‹ biografisch kontingent, als sie genau die Kontroversen u. ihre Gegenstände, die Gegner u. auch die Allianzen hervortreten ließen, die für T.’ Positionen nahezu lebenslang charakteristisch geblieben sind (darüber Schmidt 1995, bes.

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auf Basis der Archivstudie von Landsberg 1894). Es begann 1683 mit den krit. Anmerkungen zu Johann Strauchs Abhandlungen (von 1659, 2. Aufl.) über das Römische Privatrecht, die eine Art Lehrbuch ergeben mit deutlich antiaristotel. Tendenz; der damals Jenaer Jurist war besonders mit den Carpzows u. dem Leipziger Theologen August Pfeiffer verbunden, bald den führenden Gegnern des T. Den Annotationes folgte 1685 die Disputation über die Bigamie mit der gewissermaßen ahistor. These, dass weder menschl. Vernunft noch das (allein darauf gegründete) neue Naturrecht der Vielweiberei eigentlich widersprächen. Damit verschärfte T. noch den Ansatz Pufendorfs, mit dem er, kurz vor dessen Übersiedlung nach Berlin, in diesen Jahren durch Vermittlung des Bruders Gottfried auch persönl. Kontakt aufnahm (die Umstände sind unklar), ehe 1686 der Briefwechsel einsetzte (die Gegenbriefe des T. sind unbekannt bzw. verloren). Zum Wintersemester 1687 kündigte er dann am Schwarzen Brett der Juristenfakultät einen Discours welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? an, eine mehrfache Provokation: Eine Vorlesung in dt. Sprache wurde öffentlich in einem dt. Programma angekündigt (die Vorlesung selbst ist nicht überliefert), über Wissenschaft soll auch auf Deutsch gehandelt u. das Monopol des (als schlecht geltenden, ›scholastischen‹) Gelehrtenlateins soll gebrochen werden, u. ausdrücklich wird das Studium des »Frauenzimmers mit gutem Verstande« einbezogen; zugrunde gelegt wird die frz. Übersetzung der Schrift eines span. Jesuiten (Baltasar Graciáns Agudeza y arte de ingenio, frz. als L’homme de cour), u. im Kern geht es um die Aufforderung, sich in Deutschland bei der Ausbildung mondäner Verkehrsformen die Konzepte u. die Praxis der Franzosen zum Vorbild zu nehmen – u. dies zu einer Zeit, in der die Gewaltpolitik Ludwigs XIV. gegen Deutschland vor dem Höhepunkt stand (der 1693 mit der vollständigen Zerstörung Heidelbergs erreicht wurde) u. zum Beispiel eine bekannte Flugschrift den Titel trug: Si non vis falli, fugias consortia Galli (Meide den Umgang mit dem Gallier, wenn du nicht betrogen sein

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willst). Die Analogie zur Dichtungsreform des Opitz von 1624 ist, obwohl nicht thematisiert, offensichtlich: um der eigenen Identität willen aus eigenen Ressourcen u. mit eigenen Zielen so handeln wie die bereits erfolgreicheren Fremden. Und die Serie der Konflikte ist mit den folgenden Auseinandersetzungen um die »Monatsgespräche« der Jahre 1688/89 nicht zu Ende. Diese sind nicht das erste, aber das erste erfolgreiche periodisch erscheinende Journal in dt. Sprache (›Zeitschrift‹ ist eine viel spätere Bezeichnung), in den ersten Monaten in dialogischer Form, u. keineswegs nur ein Periodicum der Buchkritik, sondern auch ein Vehikel der mehr oder weniger verschlüsselten satir. Aggression gegen die Leipziger u. auswärtigen Gegner; zur Vermittlung von »Büchern und Fragen«, aber auch wo Bücher rezensiert werden, geht es immer um juristische, ethische, philosophische, theolog., rechts- u. kirchenpolit. Streitfragen u. Debatten, die großen Kritiken über Morhof (Nov. 1688), Tschirnhaus (März u. Juni 1688) sowie Spinoza u. ein ironisch-burlesker ›AristotelesRoman‹ (April 1688) sind Glanzpunkte der »Monatsgespräche«, in denen es aber kaum irgendwo darum geht, literaturkritisch etwa einem Roman gerecht zu werden. Deshalb ist das erste erfolgreiche dt. Journal nicht leicht einzuordnen u. taugt kaum als Prototyp einer Gattung (Jaumann 1994 u. 1995). Bei der gesellschaftl. u. akadem. Elite Leipzigs machte sich T. mit seinem populären Unternehmen, dem Freimut u. der fröhl. Entschiedenheit seiner Urteile verhasst. Es blieb nun nicht mehr beim Ärger über Provokationen, man ergriff Maßnahmen u. ging mit einer Untersuchungskommission u. den Mitteln der Zensur gegen die »Calumnien« des ungebetenen Journalschreibers vor. Der Geschäftsgang der Klagen hat dabei immer über das geistliche (lutherische) Oberkonsistorium in Dresden zu laufen, das dem Kurfürsten berichtet, der seine Verfügung an das Oberkonsistorium zurückleitet, welches schließlich dem Kläger bzw. einer lokalen Behörde, z. B. einem Professor oder einer Fakultät, Bescheid gibt. Entscheidend für das Ende des Journals nach 24 Monaten ist der Streit mit dem dän. Theologen u. Hofpredi-

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ger Prof. Hector Gottfried Masius gewesen, der in seiner Schrift Interesse principum (1687) das Modell der luth. Kirche als gottgewollte Legitimation der fürstl. Majestät von Gottes Gnaden vertrat, das T. im Dezember-Heft 1688 u. erneut im Mai/Juni 1689 scharf ablehnte. Masius veranlasste den dän. König, beim sächs. Hof die Bestrafung des Kritikers wegen Beleidigung der Majestät eines ausländ. Fürsten zu bewirken. Die Sache blieb zunächst unerledigt, im Staatsminister von Haugwitz besaß T. bis dahin wenigstens einen Gönner in Dresden. Eine erneute Intervention führte aber 1690 zu einem Publikationsverbot in Sachen Masius; die öffentl. Verbrennung der verbotenen Schrift durch den Henker wurde verfügt, fand zum Leidwesen des Masius jedoch nicht in Dresden oder Leipzig, sondern auf dem Marktplatz von Kopenhagen statt, u. dies erst 1691, sodass sie einen dort ganz unerwünschten Protest aus Berlin nach sich zog sowie eine pseudonyme Schrift des T.: Rechtsgegründeter Bericht (1691). Um 1689/90 aber war dieser Ausgang der Anfang vom Ende des T. in Leipzig. Mit dem Dezember-Heft 1689 beschloss er das Journal (Abdanckung des Autors), das ein Schüler, der junge Jurist Johann Jakob von Ryssel († 1732), noch bis April 1690 weiterführte. Das Gutachten für den wegen pietistischer Umtriebe angeklagten August Hermann Francke (Rechtliches Bedencken, Okt. 1689) war v. a. gegen Johann Benedikt Carpzow (dessen Bruder Samuel Benedikt C. war Hofprediger in Dresden), Alberti u. Pfeiffer gerichtet u. brachte ihm in einem Inquisitionsverfahren den Atheismus-Vorwurf ein (»ein öffentlicher Verächter Gottes und des heiligen Amtes, so wir führen«), gegen den er sich in ernsthafter Empörung zur Wehr setzte. An der Universität setzte der Theologe Pfeiffer ein »Collegium antiatheisticum« an, dem T. zur gleichen Stunde eine Vorlesung De differentiis iusti et decori (d. i. Kurtze Anleitung zu einer guten Conduite) entgegensetzte, wonach Pfeiffers Hörsaal sich leerte. Dessen Beschwerde in Dresden führte zum Verbot des Kollegs, worauf T. die Uhrzeit u. den Titel seiner Vorlesung änderte. Sie hieß nun De praejudiciis oder von den Vorurtheilen (gedr. in: Gemischte Händel III, 7. St., 1725) u. gipfelte

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im Febr. 1690 im Porträt des Heuchlers nach Mt 7, 16, das erkennbar auf den Gegner Pfeiffer zielte, der seinerseits das Bild vom Atheisten auf T. gemünzt hatte. Der folgende Skandal setzte dann den Schlusspunkt u. ließ das Maß überlaufen. T. publizierte im Dez. 1689 u. d. T. Rechtmäßige Erörterung der Ehe- und Gewissens-Frage eine Entgegnung auf die Protestschrift Fang des edlen Lebens durch fremde Glaubens-Ehe (Sept. 1689), die ein anonymer Verfasser (Dr. Philipp Müller, Propst in Magdeburg) gegen die Hochzeit des luth. Herzogs Moritz Wilhelm von Sachsen-Zeitz mit der brandenburgischen Prinzessin Maria Amalia, der Tochter des Großen Kurfürsten, die sich sogleich für die freie Ausübung der kalvinistisch-reformierten Religion in Sachsen einsetzte, gerichtet hatte. T. betont das gemeinsame protestantische Glaubensfundament, auf dem eine gemischtkonfessionelle Ehe erlaubt sein müsse, zumal die konfessionellen Differenzen ohnehin mehr dem Zank der Theologen als dem Gewissen der Gläubigen geschuldet seien. Nicht zu übersehen ist, dass die Heirat in Zeitz v. a. der dynastischen Selbstbehauptung des schwachen Herzogtums dienen sollte, das sich u. a. durch eine Annäherung an Kurbrandenburg (u. damit an die Reformierten) vom übermächtigen Kursachsen abgrenzen wollte – u. T. stellte sich mit seiner Parteinahme also erneut auf die Seite Brandenburgs, ja in einer nicht biografisch-moralisch-gelehrten Optik könnte man sagen, in seiner Konfliktgeschichte der 1680er Jahre spiegeln sich wichtige Facetten der schwierigen Konkurrenz Kursachsens mit Kurbrandenburg im 17. Jh. Entscheidend war das Urteil aus Dresden vom 10.3.1690, das ein schnelles Ende machte, nachdem auch der Gönner Haugwitz sich abgewandt hatte: T. wurde bei Androhung einer Strafe von 200 Reichstalern (= etwa 30.000 E) mit vollständigem Lehr- u. Publikationsverbot belegt. Damit ist ihm jede öffentl. Wirkung, aber auch die Existenzmöglichkeit in Sachsen genommen. Als wichtiges Motiv für die Schärfe des Urteils muss in seiner Ehe-Schrift die Anspielung auf den Justizmord des sächs. Hauses unter Christian II. an dem Kanzler Nikolaus Krell gewertet werden. Dieser, ein Bürgerlicher, hatte unter

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Christian I. u. mit dessen Duldung alle Machtbefugnisse in seiner Hand vereint, betrieb die Annäherung an die reformierte Pfalz, unterstützte Henri IV. in Frankreich u. wurde vom Adel u. dem luth. Klerus gestürzt, ohne Prozess zum Tod verurteilt u. im Jahr 1601 mit dem Schwert hingerichtet. Nach einem Aufenthalt beim Herzog in Zeitz vom 15.-17. März reiste T. am 18. März von Leipzig nach Berlin, wo er sich bis Anfang Mai 1690 aufhielt; entgegen der eigenen Darstellung (Verjagung des Autoris aus seinem Vaterlande. In: Gemischte philosophische und juristische Händel. 2. Teil, 1724) war es wohl keine dramat. Flucht vor einem Haftbefehl, der erst im Herbst 1690 ausgestellt wurde u. ihn nicht mehr erreichte. Bereits am 4. April erging das Anstellungsdekret mit der Ernennung zum Kurfürstlichen Rat (mit einem Jahresgehalt von 500 Reichstalern) u. der Erlaubnis, sich in Halle niederzulassen u. zunächst an der bestehenden Ritterakademie Vorlesungen zu halten. Im Juli 1691 konnte die Familie mit dem Hausrat übersiedeln, der bis dahin in Leipzig beschlagnahmt geblieben war. Nach längeren Verhandlungen u. einer Reihe weiterer Berufungen, darunter Franckes zum Pfarrer in Glaucha u. Prof. für Griechisch u. Hebräisch, des pietistischen Theologen Breithaupt u. des Juristen Stryk, wurde die »Chur-Brandenburgische Friedrichs-Universität« am 11.7.1694 eröffnet. Während mehr als drei Jahrzehnten arbeitete T. in Halle an seinem Lebenswerk, in dem er im Wesentlichen die Ansätze entfaltet u. bedeutsam weiterentwickelt hat, die in den Leipziger Konfliktjahren sichtbar geworden waren. Noch während seiner schweren Lebenskrise in den ersten Jahren in Halle, die sich in öffentl. Selbstkritik manifestierte (Eine nachdrückliche und scharffe Lection an sich selbst, 1694; Oster-Gedancken, vom Zorn und der bitteren Schreib-Art wider sich selbst, 1695), u. einer oft überschätzten ›pietistischen Phase‹ kümmerte er sich in einer ganzen Reihe pädagog. u. hodeget. Schriften um eine Reform nicht nur der juristischen Studien an der neuen Universität (u. a. Vom elenden Zustand der studirenden Jugend, 1693, bis zum Summarischen Entwurff derer Grund-Lehren, 1699, u. den Höchstnöthigen Cautelen von 1710 u. 1713); die

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Veränderungen in Kursachsen (August der Starke wurde 1697 katholisch u. darauf auch König von Polen) u. das Ableben seiner Gegner Carpzow u. Alberti führten sogar 1705 zum offiziellen Angebot einer Rückberufung nach Leipzig, das 1709 wiederholt wurde. Auch in Halle richteten die Theologen, jetzt unter Führung von Francke u. seit 1713 mit Unterstützung des »Soldatenkönigs« Friedrich Wilhelm I., eine Beschwerde nach der anderen gegen den zum Rektor auf Lebenszeit (»director perpetuus«) Bestellten, u. die Verbannung Christian Wolffs (1723) war auch seine Niederlage. Die frühen Institutiones (1688, dt.: Drei Bücher der Göttlichen Rechts-Gelahrtheit, 1709) u. die Fundamenta (1705, dt.: Grundlehren des Natur- und Völker-Rechts, 1709) sind die beiden herausragenden Werke des Staatsrechtslehrers. Die großen Unterschiede zwischen beiden markieren zgl. die Entwicklung, die T. als Rechtstheoretiker seit den Anfängen im Zeichen Pufendorfs zurückgelegt hat bei dem hartnäckigen Versuch, das positive Staatsrecht u. die Rechtspraxis auf ein vorpositives, dabei aber nicht mehr von der göttl. Offenbarung abgeleitetes, vernünftiges Naturrecht zu gründen (sehr gut dargestellt bei Schröder 1999, auf Grundlage von Schneiders 1971). Dabei ergibt sich eine Trennung von äußerlich verpflichtendem (positivem) Recht u. innerlich bindender (»natürlicher«) Sittlichkeit, die sich in grundlegenden Differenzen auf verschiedenen Ebenen durchsetzt: zwischen »angebohrnem« (natürlichen) u. angenommenem (positiven) Recht; zwischen innerer Verpflichtung (Sittlichkeit, Moral, Gewissenspflicht, z. B. Glaube), die nicht erzwingbar ist, u. dem erzwingbaren äußeren Recht (Herrschaft), also zwischen Moral u. Recht bzw. zwischen »Rath« (Lehrer, Philosoph) u. Herrschaft (Fürst). Die »raisonable Liebe«, der Grundbegriff auf der Seite der Sittlichkeit, ist als (christliche) Nächstenliebe u. Quelle des Gewissens u. des individuellen Glaubens prinzipiell nicht erzwingbar. Deshalb ist »Ketzerey« (Häresie) allenfalls »ein Irrthum im Verstande«, aber sie kann überhaupt kein Gegenstand des Rechts sein, sie ist nicht justiziabel. Gerade in Glaubensfragen hat die Kirche kein Eingriffsrecht, u. der ab-

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solute Staat hat diese Sphäre der sittlichen, aber nicht erzwingbaren (Selbst-)Verpflichtung zu schützen. Auch deshalb hat T. stets den fürstl. Absolutismus vertreten. Die Normbegriffe der Sittenlehre (Einleitung 1692, Ausübung 1696), eine Trias der Aspekte, lauten »decorum«, »honestum«, »iustum«, das Anständige, das Ehrliche, das Gerechte. Zwischen dem positiven Zwangsrecht der absoluten Herrschaft der Staaten u. den naturrechtl. Normen in Verbindung mit der moralischen Klugheitslehre besteht ein enges, aber gespanntes Verhältnis. Die Erfolge im Kampf gegen die Hexenprozesse u. den Hexenglauben (De crimine magiae, 1701 u. ö.) u. die Folter (Dissertatio inauguralis iuridica, de tortura [...]. Resp.: Martin Bernhardi. Halle 1705; 1714 das Edikt des Königs) zählen schließlich zu den markantesten Gründen für das Prädikat vom »Vater der deutschen Aufklärung«, das T. zwar ein ehrenvolles Denkmal gesichert hat, aber gleichwohl zur Differenzierung herausfordert. So steht z. B. der bedeutende Versuch von Wesen des Geistes (1699), eine antimechanistische (also auch anticartesianische) u. vehement antimaterialistische »mosaische« Weltgeist-Physik (nach Gen 1,2: »Gottes Geist schwebte über den Wassern«), der Aufklärungsphilosophie des Wolffianismus diametral entgegen: Alles Sein ist vom Wirken des Geistes durchdrungen, es gibt Geist ohne Stoff, aber keine Materie ohne Geist; das wissenschaftl. Experiment wird als falscher Zugang zur Naturerkenntnis verworfen, weil es »künstlich« sei (Albrecht 1999). Hierher gehört auch die Vorrede zu Zeidlers Buch über die Wünschelrute (1700). T. folgte einer aristotel. Tradition, die gewiss nicht ›modern‹ war, sowie einer platonistischen Weltgeist-Physik, die auch Paracelsus, Giordano Bruno u. Campanella sowie einige Pietisten oder Dichter wie sein Schüler Barthold Hinrich Brockes aus Hamburg vertreten haben. In der Logik (Introductio ad philosophiam aulicam, 1688; Vernunfft-Lehre, 1691) hielt er den Einfluss des »Willens« auf die Erkenntnis für so entscheidend, dass ihm jedes Vertrauen auf die eigenständige Wirksamkeit des Verstandes abging, u. er war schon deshalb gewiss kein Rationalist. In der Erkenntnislehre ließ

Thomasius

er sich von John Lockes Empirismus nur insoweit beeinflussen, als dieser den traditionell aristotel. Prinzipien nicht widersprach. Die Sitten- u. Klugheitslehre der »vernünftigen und tugendhaften Liebe«, die der gewöhnl. Mensch aber meist verfehlt, läuft auf einen eher »pessimistischen Voluntarismus« (Albrecht 1999) hinaus, u. zeit seines Lebens ist T. ein überaus frommer Mann gewesen. Dergleichen verbindet man mit Aufklärung nicht einmal in Deutschland. ›Aufklärer‹ ist er allenfalls trotz seiner philosophischen Lehren, nämlich in der Art, wie er sie vertritt u. darüber öffentlich räsoniert, in seiner Praxis als nicht nur gelehrter, sondern rechtlich denkender Jurist, als vitaler Mensch u. als frommer Christ. Aufklärung? Was T. antreibt, ist zuletzt ein religiöser, machtferner Individualismus, die wahrhaft christl. Freiheit zu glauben – nicht in Übereinstimmung mit dem Dogma, sondern in selbstloser Gottesliebe u. aus »natürlicher« Menschlichkeit. Was diesem (unwahrscheinlichen) Ziel entgegensteht, dem muss die Geltung entzogen werden, jeder Zugriff glaubensfremder Ansprüche, des Intellekts, des Vorurteils u. der Moral ebenso wie des Klerus, des Dogmas, des Rechts u. der staatl. Herrschaft, sofern sie ihre Schutzfunktion nicht erfüllt. Das heißt, T. ging nicht den Weg des Quietismus, sondern des Aktivismus. Dazu gehörte für ihn nicht nur die gelehrte Argumentation u. Kritik, sondern auch die Selbstexpression als leidendes, aggressives, lachendes, spottendes, verachtendes oder triumphierendes Individuum. Das macht ihn, vielleicht in der Nachfolge Montaignes, zum Vertreter eines um diese Zeit seltenen Gelehrtentypus. Weitere Werke: Disputatio politica de duplici maiestatis subiecto. Resp.: Heinrich Höffer. Lpz. 1672 (Magisterdisputation). – Disp. juridica de injusto Pontii Pilati judicio. Präses: Friedrich Tobias Moebius; Resp.: C. T. Lpz. 1675. 1724. – Disp. solennis de jure circa frumentum [...]. Präs.: Johann Friedrich Rhetius; Samuel Stryk (Verf.); Resp.: C. T. Frankfurt/O. 1678 (Doktordisputation). 1687. 1692. Erw. Halle 1737. – De jure circa colores. Von Farben-Recht. Resp.: Hermann Wißmann. Lpz. 1683. – Annotationes theorico-practicae in D. Johannis Strauchii Diss. undetriginta ad universum Jus Justinianeum privatum. Ffm./Lpz. 1683. – De crimine bigamiae. Vom Laster der zwiefachen Ehe.

Thomasius Resp.: Georg Beyer. Lpz. 1685. Erw. 1714. Halle 1749. – Discours welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben u. Wandel nachahmen solle? Lpz. (1687) (= AW 22, 1994). – Institutiones jurisprudentiae divinae in positiones succincte contractae. Libri III. Ffm./Lpz. 1688. Erw. Halle 1694. 1702. 1710. 1717. 71730. Nachdr. Aalen 1963. 1994 (mit autobiogr. Diss. prooemialis ad auditores). Dt. Übers. v. Johann Gottfried Zeidler: Drei Bücher der Göttlichen Rechts-Gelahrtheit. Halle 1709 (= AW 4, 2001). – Introductio ad philosophiam aulicam [...], cum Ulrici Huberi oratione de paedantismo. Lpz. 1688. Halle 1702 (= AW 1, 1993). Dt. Übers.: Einleitung zur Hoff-Philosophie. Ffm./Lpz. 1710. Bln. 1712 (= AW 2, 1994). – Freymüthige, lustige u. ernsthaffte, jedoch Vernunft- u. Gesetz-mäßige Gedancken oder Monats-Gespräche, über allerhand, fürnehmlich aber neue Bücher [d. i. Gesamttitel, wechselnde Einzeltitel; heutiger Kurztitel: ›Monatsgespräche‹, Jg. 1690 (Jan.-April) v. Jakob v. Ryssel]. 5 Bde., Lpz./Halle 1688–90. Nachdr. Ffm. 1972. – Rechtmäßige Erörterung der Ehe- u. Gewissens-Frage, ob zwey Fürstliche Personen im Römischen Reich, denen eine der Lutherischen, die andere der Reformirten Religion zugethan ist, einander [...] heyrathen können. Halle 1689. – Rechtliches Bedencken über Leipzigische Universitäts-Acta mit M. Francken. Lpz. 1689/90. – De praejudiciis oder von den Vorurtheilen. Vorl. 1689. In: Gemischte Händel. Bd. 3, 7. St. (1725). – Attila Friedrich Frommhold (Pseud.): Rechtsgegründeter Bericht, wie sich ein ehrliebender Scribent zu verhalten habe, wenn eine auswärtige Herrschafft seine sonst appobirte Schrifften durch den Hencker verbrennen zu lassen von einigen Passionirten verleitet worden. Freyburg (d. i. Halle) 1691 (= AW 22, 1994). – Die neue Erfindung einer [...] höchstnöthigen Wissenschafft, das Verborgene des Hertzens anderer Menschen auch wider ihren Willen aus der täglichen Conversation zu erkennen. Ebd. 1691 (= AW 22, 1994). – Einleitung zu der Vernunfft-Lehre. Halle 1691. Nachdr. hg. v. Werner Schneiders. Hildesh. 1968 (= AW 8, 1998). Lat.: Introductio ad logicam. Ffm./Lpz. 1693. – Außübung der Vernunfft-Lehre, oder: Kurtze, deutliche u. wohlgegründete Handgriffe, wie man in seinem Kopffe aufräumen [...] solle. Halle 1691. Nachdr. hg. v. W. Schneiders. Hildesh. 1968 (= AW 9, 1998). Lat.: Praxis logices [...]. Ffm. u. a. 1694 (enth.: Praefatio gegen Realis de Vienna [Ps. für Gabriel Wagner]). – Von der Kunst, vernünftig u. tugendhaft zu lieben, [...] oder Einleitung zur Sittenlehre. Halle 1692. Nachdr. Hildesh. 1968 (= AW 10, 1995). – Historia sapientiae et stultitiae. 3 Bde., ebd. 1693. – Historie der Weißheit u. Thorheit, zusammen getragen von C. Thomas. 3 Bde., ebd. 1693. – De

500 ratione status Diss. V et VI. De revelatione arcanorum et de exploratoribus. Cum adiuncta quaestione, An sutor possit esse philosophus? [d. i. über Jakob Böhme]. Resp.: Jakob Konrad Keeß. Ebd. 1693. – Discours von dem elenden Zustand der studirenden Jugend auff Universitäten (1693). In: Ders.: Kleine teutsche Schrifften. Halle 1701 (= AW 22, 1994). – Vorrede zu: Jakob Thomasius: Dissertationes LXIII varii argumenti magnam partem ad historiam philosophicam pertinentes. Hg. C. T. Ebd. 1693. – Dissertatio ad Poireti libros de eruditione solida, superficiaria et falsa. Hg. C. T. Ebd. 1694. 1708. – Severini de Monzambano Veronensis (d. i. Samuel Pufendorf) De statu imperii Germanici. Cum scholiis in usum auditorii Thomasiani. Hg. C. T. Ebd. 1695. – Lieset [...] sich selbst eine nachdrückliche u. scharffe Lection [...]. Ebd. (1694) (= AW 22, 1994). – Oster-Gedancken, vom Zorn u. der bitteren Schreib-Art wider sich selbst. Ebd. 1695 (= AW 22, 1994). – De jure principis circa adiaphora. Resp.: Enno Rudolph Brenneysen. Ebd. 1695. Dt. Übers.: Abh. vom Recht evang. Fürsten in Mitteldingen oder Kirchen-Zeremonien. In: Außerlesene u. in Deutsch noch nie erschienene Schriften. Ebd. 1705, S. 76–209. – Erinnerung, wegen einer gedruckten Schrifft, deren Titul: Christiani Thomasii Confessio doctrinae suae. Halle 1695 (= AW 22, 1994). – De iniusta oppositione iurium Maiestaticorum superioritatis territorialis et reservatorum imperatoriorum. Respp.: Peter Heinrich Muck, Prinz Albrecht Ernst von Oettingen. Ebd. 1696. – Von der Artzeney wider die unvernünfftige Liebe, u. der zuvorher nöthigen Erkäntnüß Sein Selbst. Oder: Außübung der Sittenlehre. Ebd. 1696. 61715. Nachdr. Hildesh. 1968 (= AW 11, 1999). – Das Recht evangelischer Fürsten in theologischen Streitigkeiten. Ebd. 1696. 51713. – De iure statuum imperii dandae civitatis. Resp.: Karl August Clusius. Ebd. 1696. – Problema iuridicum an haeresis sit crimen? Resp.: Johann Christoph Rube. Ebd. 1697. Dt. Übers.: Erörterung der Juristischen Frage: Ob Ketzerey ein straffbares Verbrechen sey? 1697. 1705. Nachdr. Hildesh. 1994. – De jure principis circa haereticos. Resp.: J. C. Rube. Nachwort v. T. an die künftigen Leser. Ebd. 1697. 1722. Dt. Übers.: Abh. vom Recht evang. Fürsten gegen die Ketzer. Ebd. 1705. – De pseudo-privilegio pupilli, conventi contraria actione negotiorum gestorum. Resp.: Peter Herff. Ebd. 1699. – Versuch von Wesen des Geistes oder GrundLehren. Ebd. 1699 (= AW 12, 2004). – Summarischer Entwurff derer Grund-Lehren, die einem Studioso Juris zu wissen u. auff Universitäten zu lernen nöthig. Ebd. 1699. Nachdr. Aalen 1979 (= AW 13, 2005). – Observationes selectae ad rem literariam spectantes. Hg. C. T., Johann Franz Bud-

501 deus u. Georg Ernst Stahl. 10 Bde. u. 1 Bd. Additamenta, ebd. 1700–05 (mit 20 Beitr. v. C. T. in Bd. I–VI). – Vorrede zu: Johann Gottfried Zeidler: Pantomysterium, oder das Neue vom Jahre in der Wündschelruthe [...]. Ebd. 1700. – Theses inaugurales, de crimine magiae. Resp.: Johann Reiche. Ebd. 1701. Dt.: Kurtze Lehr-Sätze von dem Laster der Zauberey. Hg. J. Reiche. Ebd. 1704. Nachdr. u. Übers. Weimar 1967. Nachdr. Mchn. 1986). – Dreyfache Rettung des Rechts evangelischer Fürsten in Kirchen-Sachen. Ebd. 1701. – Kleine teutsche Schr.en. Ebd. 1701. 1705. 1721. Nachdr. Hildesh. 1994 (= AW 22, 1994). – De judicio seu censura morum. Diss. juris gentium publici. Resp.: Christoph Wilhelm Scheuerl. Ebd. 1702. – Außerlesene Anmerckungen über allerhand wichtige Materien u. Schrifften. 4 Bde., Halle 1704–07. – Außerlesene u. in Deutsch noch nie erschienene Schriften. Ebd. 1705. – Fundamenta juris naturae et gentium ex sensu communi deducta, in quibus secernuntur principia honesti, justi ac decori, cum adjuncta emendatione Institutionum jurisprudentiae divinae. Ebd. 1705. 1708. 1713. 1718. Nachdr. Aalen 1963. 1979. Dt. Übers. v. Johann Gottfried Zeidler: Grundlehren des Natur- u. Völker-Rechts. Ebd. 1709 (= AW 18, 2003). – Außerlesene dt. Schrifften. 2. Tle., ebd. 1705–14 (= AW 23–24, 1994). – Vorrede zu: Hugo Grotius: Drey Bücher vom Rechte des Krieges u. des Friedens (dt. Übers. v. Ph. B. Sinold gen. von Schütz). Ebd. 1707. Nachdr. Tüb. 1950. – Kurzer Entwurf der politischen Klugheit. Ffm./Lpz. 1707. Nachdr. Ffm. 1971 (= AW 16, 2002). – Drey Bücher der göttlichen Rechtsgelahrheit. Halle 1709 (= AW 4, 2001). – Cautelae circa praecognita jurisprudentiae. Ebd. 1710 (= AW 19, 2006). Dt. Übers.: Höchstnöthige Cautelen, welche ein Studiosus Juris, der sich zu Erlernung der Rechts-Gelahrheit [...] vorbereiten will, zu beobachten hat. Ebd. 1710. 1713 (= AW 20, 2006). – Vorrede zu: Balthasar Gracian: Homme de Cour, oder: Kluger Hof- u. Welt-Mann [...] [nach der Übers. v. Amelot de la Houssaie]. Nebst Christiani Thomasii Judicio vom Gracian. Augsb. 1711. – Disp. juris canonici de origine ac progressu processus inquisitorii contra sagas. Resp.: Johannes Paulus Ipsen. Halle 1712. Dt. Übers.: Vom Ursprung u. Fortgang des Inquisitions-Prozesses wider die Hexen. Ebd. 1712. Nachdr. u. Übers. Weimar 1967. Mchn. 1986. – Höchstnötige Cautelen, welche ein Studiosus Juris, der sich zu Erlernung der Kirchen-Rechts-Gelahrheit [...] vorbereiten will, zu beobachten hat. Halle 1713. – Frantz Dietrich Freudenhöfer (Pseud.): Gründliche Erörterung der Frage: Ob es einem Scribenten, wenn eines Gegenparts Streit- u. Schutzschrifft eine auswärtige Obrigkeit durch den Hencker verbrennen

Thomasius lassen, zu seiner Ehre u. Rechtfertigung seiner Sache, seinem Gegner aber zu einer Unehre gereichen könne? Freystadt (d. i. Halle) 1715. – Summarische Nachrichten von auserlesenen, mehrentheils alten, in der Thomasischen Bibliothec vorhandenen Büchern. 2 Bde., ebd. 1715 u. 1718. – D. Melchiors von Osse Testament gegen den Hertzog Augusto Churfürsten zu Sachsen. Ebd. 1717. – Vorrede zu: Johann Webster: Untersuchung der vermeinten u. so genannten Hexereyen. Ebd. 1719. – Ernsthaffte, aber doch muntere u. vernünfftige Thomasische Gedancken u. Erinnerungen über allerhand außerlesene juristische Händel. 4 Tle., ebd. 1720–25. 2 1723–25. – Vorrede zu: Johannes Clericus: LebensBeschreibung einiger Kirchen-Väter u. Ketzer, aus dessen ›Bibliothèque universelle‹ ins Teutsche übersetzt. Ebd. 1721. – Historia contentionis inter imperium et sacerdotium usque ad saeculum 16. [...]. Ebd. 1722. Nachdr. Aalen 1994. – Hector Gottfried Erdmann (Pseud.): Zweyer catholischen Gelehrten, eines ehrlichen Jesuiten u. eines vernünfftigen Juristen, angenehmes Gespräch von Simultaneo wes Geistes Kind es sey [...]. Amsterd. (d. i. Halle) 1723. – Vernünfftige u. christliche, aber nicht scheinheilige Thomasische Gedancken u. Erinnerungen über allerhand gemischte philosoph. u. jurist. Händel. 3 Tle., ebd. 1723–25 (Anhang 1726). – Summarische Erzehlung von der Verjagung des Autoris aus seinem Vaterlande. In: Ebd., 2. Tl., Halle 1724, S. 44–200. – Orationes academicae. Ebd. 1723. – Programmata Thomasiana et alia scripta similia breviora conjunctim edita. Halle/ Lpz. 1724 (= AW 21, 2010). – Vorrede in: Francis Hutchinson: Historischer Versuch von der Hexerey. Übers. Theodor Arnold. Lpz. 1726. – Vollständige Erläuterung der Kirchen-Rechts-Gelahrtheit. Ffm./ Lpz. 1738. 1740. Nachdr. Aalen 1981 (1. Tl.: Komm. zu Pufendorf: De habitu religions christianae ad vitam civilem). – Dissertationes academicae varii inprimis iuridici argumenti. Hg. Johann Ludwig Uhl. 4 Bde., Halle 1773–80. Ausgaben: Pufendorf-Briefe an Falaiseau, Friese u. [Erhard] Weigel. Mitgeteilt v. Konrad Varrrentrapp. In: HZ N. F. 34 (1893), S. 1–51, 193–232; N. F. 37 (1894), S. 59–67. – Kleine teutsche Schr.en. Einl. u. hg. v. Otto Opel. Halle 1894. – Von Nachahmung der Franzosen. Hg. August Sauer. Stgt. 1894. Nachdr. Nendeln 1968. – Briefe S. Pufendorfs an C. T. Hg. u. erklärt v. Emil Gigas. Mchn./Lpz. 1897. Nachdr. hg. v. Jörn Garber. Kronberg/Ts. 1980 (enth. Varrentrapp 1893/94 u. Gigas 1897). – De praejudiciis oder von den Vorurteilen. In: Aus der Frühzeit der dt. Aufklärung. C. T. u. Ch. Weise. Hg. Fritz Brüggemann. Weimar u. a. 1928, S. 28–40. – Über die Folter. Untersuchungen zur

Thomasius Gesch. der Folter. Übers. u. hg. v. Rolf Lieberwirth. Weimar 1960. – Dt. Schr.en. Hg. Peter v. Düffel. Stgt. 1970. – Vom Laster der Zauberei. Über die Hexenprozesse (= De crimine magiae; Processus inquisitorii contra sagas). Text lat. u. dt. Hg., überarb. u. mit einer Einl. vers. v. R. Lieberwirth. Weimar 1967. Nachdr. Mchn. 1986. – Monatsgespräche (1688–90). Ffm. 1972. – Schertz- u. ernsthaffter, vernünfftiger u. einfältiger Gedancken oder Monatsgespräche [...], Erster Monath [...]. Nachdr. Weinheim 1988 (Nachw. Paul Raabe). – Briefe in: Samuel Pufendorf: Briefw. Hg. u. komm. v. Detlef Döring. Bln. 1996 (Ges. Werke. Hg. W. Schmidt-Biggemann, Bd. 1). – Ausgew. Werke. Hg. W. Schneiders. Hildesh. 1993 ff. (= AW 1 ff.). – Larva legis aquiliae: The mask of the lex aquilia torn off the action for damage done. A legal treatise. Hg. u. übers. v. Margaret Hewett. Oxford 2000. – Lectiones de prudentia legislatoria / Über die Gesetzgebungsklugheit. In: Fünf Schr.en über die Gesetzgebungsklugheit aus dem 17. u. 18. Jh. Übers. Adolf Paul. Hg. Heinz Mohnhaupt. Mchn. 2003, S. 95–216 (mit Lit.). – Essays on church, state, and politics. Hg., übers. u. Einl. v. I. Hunter, Thomas Ahnert u. Frank Grunert. Indianapolis 2007. Literatur: Bibliografien: Catalogus scriptorum publice editorum Christiani Thomasii Jcti. Halle 1696. Erw. 1732. – Christoph August Heumann: Revelatio auctorum observationum Halensium latinarum. In: Miscellanea Lipsiensia nova. Jg. 1, Tl. 2 (1742), S. 292–318 (d. i. Ermittlung der anon. Verf. der Beitr. zu den ›Observationes selectae‹, 1700–1705). – Walter Becker: T.-Bibliogr. In: Fleischmann (1931), S. 511–553 (mit Verz. der Respondenten der Disputationen). – Rolf Lieberwirth: C. T. Sein wiss. Lebenswerk. Eine Bibliogr. Weimar 1955. – Frank Grunert: Fortlaufende Bibliogr.n in Schneiders (Hg., 1989: 1945–1988), Vollhardt (1997: 1989–1996), Beetz u. Jaumann (2003: 1997–2002), Lück (2006: 2002–2005). – Zeitgenössische Kontroversen und Rezeption: Hector Gottfried Masius: Interesse principum circa religionem evangelicam. Kopenhagen 1687. – (Johannes Nicolaus Pechlin): Trajani Boccalini Judicium ex Parnasso de TRIGA scriptorum recentium. Cosmopoli 1689, Mens. April. – (Job Ludolph): Bedencken über die schertz- u. ernsthaffte, alber[n]e u. unvernünfftige Gedancken einer seltzamen Gesellschafft der Müßigen. (Lpz.) 1689. Aboë (d. i. Lpz.) 1690. – (Wilhelm Ernst Tentzel): Monatliche Unterredungen einiger guten Freunde [...]. 1. Jg., Lpz. 1689. – (Philipp Müller): Der Fang des Edlen-Lebens durch frembde Glaubens-Ehe. o. O. 1689. Internet-Ed. in: ULB Sachsen-Anhalt. – Aëtius Diedrich Ehrenhold

502 (Pseud. für Siegfried Bentzen): Vernunfft-gegründeter Bericht, was von einem Scribenten zu halten sey, dessen Schrifften durch den Hencker öffentlich verbrennet, darum daß ehrlicher Leute guter Nahme muhtwillig u. ohn alle ihm gegebene Ursach drin angegriffen u. laediret worden. Dem also genandten Rechtsgegründeten Bericht Attilae Friedrich Frommholdts entgegen gesetzet. 1692. – Siegfried Bentzen: Christianus minime Christianus, oder das Eben-Bild Christian Thomasii, darin desselben un-Christliche u. leichtfertige Critique über vieler vornehmen u. gelehrten Leute [...] Schrifften aus desselben Monath-Geschwätzen u. liederlichen Gedancken entworffen. Ratzeburg 1692. – Conrad Wolgemuth: Send-Schreiben an [...] Thomasium [...] wegen seiner Antwort wider Herrn Tentzeln. o. O. (ca. 1693). – Albrecht Christian Rotth: Excusatio publica, qua indicat, quare promissis suis de Mensibus Thomasio [...] ulterius opponendis stare non possit. Ubi simul animadversio habetur ad potiora, quae Thomasius Mensi Januario opposuit, ut perspiciat, quae in iis probentur et quae minus. Lpz. 1698. – Ders.: Atheistica scriptorum Thomasianorum [...]. Ebd. 1698. – Ders.: Publica prospho¯ne¯sis ad [...] Thomasium [...], qua programma ipsius ad disputationem de jure principis circa haereticos ex parte illustratur. Ebd. 1698. – Michael Dau: De atheismo qui Christiano Thomasio [...] a quibusdam imputatur, epistola. Pernau [Pärnu/Estland] 1699. – A. C. Rotth: Thomasius portentosus ho¯s en synopsei [griech.], et suis ipsius scriptis de portentis illis convictus, h. e. compendiosa portentosarum Thomasii theologia opinionum ac in synopsi facta delineatio [...]. 1700 (mit 5 weiteren Gegenschr.en Rotths). – (Joachim Lange): Nothwendige Gewissens-Rüge, an den Hällischen Prof. Juris, Herrn D. Ch. Thomasium, wegen seines abermahligen Unfugs, so er im neulichsten teutschen Programmate [...] angerichtet. Ffm./Lpz. 1703. – (An.): Besonders curieuses Gespräch in dem Reiche derer Todten zwischen zweyen im Reiche der Lebendigen hoch-berühmten Männern, C. Thomasio, [...] u. August Hermann Francken [...]. (Halle) 1729 (Titelkupfer zeigt beide Autoren vor dem Franckeschen Waisenhaus in Halle). – Fortsetzung des besonders-curieusen Gesprächs [...]. Ebd. 1729 (Titelkupfer mit T. am Katheder). – Weitere Titel: Christian Polycarp Leporin: T. in: Germania literata vivens, oder Das jetzt lebende gelehrte Deutschland. 1. Tl., Quedlinb. u. a. 1724. – Wohlverdientes Denckmahl dem weiland wohlgebohrnen Herrn C. T. [...]. Aufgerichtet v. vornehmen Gönnern, Freunden u. nahen Anverwandten. Halle 1729. – Adam Friedrich Glafey: Vollständige Gesch. des Rechts der Vernunfft. 3., erw. Aufl. Lpz. 1739 (enth.: Bibliotheca juris na-

503 turea et gentium). – Zedler, Bd. 43 (1745), s. v. Thomasische Philosophie u. C. T. – Johann Matthias Schroeckh: Leben des Königl.-Preuß. Geh. Rathes C. T. Bln. 1778. – Heinrich Luden: C. T., nach seinen Schicksalen u. Schr.en dargestellt. Vorrede v. Johannes v. Müller. Bln. 1805. – Ernst Landsberg: C. T. In: ADB. – Harry Breßlau: Pufendorf, Samuel. In: ADB. – Richard Hodermann: Universitätsvorlesungen in dt. Sprache um die Wende des 17. Jh. Diss. Jena 1891. – E. Landsberg: Zur Biogr. v. C. T. Bonn 1894 (grundlegend zur Biogr. aus den Quellen, bes. der Jahre 1688–90). – Georg Witkowski: Gesch. des literar. Lebens in Leipzig. Lpz. 1907. Nachdr. Mchn. 1994. – Fritz Arnheim: Die Universal-Univ. des Großen Kurfürsten u. ihre geistigen Urheber. In: Monatshefte der Comenius-Gesellsch. N.F. 3 (1911), S. 19–35. – Liselotte Dieckmann: C. T. u. seine Beziehungen zum Pietismus. Diss. Heidelb. 1928. – C. T. Leben u. Lebenswerk. Hg. Max Fleischmann. Halle 1931. Nachdr. Aalen 1979 (teilw. grundlegend, enth. 7 Porträts; ausf. Literaturverz.). – Ernst Bloch: C. T., ein dt. Gelehrter ohne Misere. Bln./DDR 1953. Ffm. 1967. – R. Lieberwirth: C. T.’ Leipziger Streitigkeiten. In: Wiss. Ztschr. der Martin-Luther-Univ. Halle-Wittenberg, Gesellschafts- u. sprachwiss. Reihe 3 (1953/54), S. 153 f. – Gertrud SchubartFikentscher: Unbekannter T. Weimar 1954. – Werner Schneiders: Recht, Moral u. Liebe. Untersuchung zur Entwicklung der Moralphilosophie u. Naturrechtslehre des 17. Jh. bei C. T. Diss. Münster 1960. – Klaus Deppermann: Der hallesche Pietismus u. der preuß. Staat unter Friedrich III. Gött. 1961. – Erik Wolf: Große Rechtsdenker der dt. Geistesgesch. Tüb. 41963, S. 371–423. – Heinrich Rüping: Die Naturrechtslehre des C. T. u. ihre Fortbildung in der T.-Schule. Bonn 1968. – Thomas Woitkewitsch: T.’ ›Monatsgespräche‹. Eine Charakteristik. In: AGB 10 (1970), Sp. 655–678. – W. Schneiders: Naturrecht u. Liebesethik. Zur Gesch. der prakt. Philosophie im Hinblick auf C. T. Hildesh. 1971 (grundlegend). – Harald Herrmann: Das Verhältnis v. Recht u. pietist. Theologie bei C. T. Diss. Kiel 1971. – Gerhard Simon: Einer gegen alle. Die Lebensbilder v. C. T., Georges Picquart, Cesare Lombroso, Henri Dunant, Fritjof Nansen. 3., erw. Aufl. Mchn. 1972. – Rudolf Hoke: Die Staatslehre des jungen T. Seine Erstlingsschrift aus dem Jahre 1672. FS Heinrich Demelius. Wien 1973, S. 111–125. – G. Schubart-Fikentscher: C. T. Seine Bedeutung als Hochschullehrer am Beginn der dt. Aufklärung. Bln./DDR 1977. – Jürgen Wilke: Die erste literar. Ztschr. in Dtschld. C. T.’ ›Monatsgespräche‹. In: Ders.: Literar. Ztschr.en des 18. Jh. (1688–1789). Tl. 1, Stgt. 1978, S. 54–63. – Gerd Schwerhoff: Aufgeklärter Traditionalismus. C. T.

Thomasius zu Hexenprozeß u. Folter. In: Ztschr. der SavignyStiftung für Rechtsgesch. Germanist. Abt. 104 (1987), S. 247–260. – Winfried Schröder: Spinoza in der dt. Frühaufklärung. Würzb. 1987. – Dieter Pilling: C. T.’ ›Monatsgespräche‹. Untersuchung zur literar. Form. Diss. Lpz. 1988. – Michael Stolleis: Gesch. des öffentl. Rechts in Dtschld. Bd. 1: 1600–1800. Mchn. 1988. – C. T. Interpr.en zu Werk u. Wirkung. Hg. W. Schneiders. Hbg. 1989 (grundlegend). – Manfred Beetz: Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst u. Gesellschaftsrituale im altdt. Sprachraum. Stgt. 1990. – Ernst Fischer: ›Monatsgespräche‹. In: KindlerNeu 16 (1991), S. 524–526. – Martin Pott: Aufklärung u. Aberglaube. Die dt. Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik. Tüb. 1992. – Detlef Döring: Pufendorf-Studien. Bln. 1992 (enth. wertvolle Bibliogr. der Pufendorf.-Lit. seit ca. 1700). – Mark Lehmstedt: Weidmann u. T. Dokumente zur Leipziger Buchgesch. des späten 17. Jh. In: Leipziger Jb. zur Buchgesch. 2 (1992), S. 327–372 (grundlegend zu den ›Monatsgesprächen‹). – Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgesch. mit Hinweisen auf die Philosophie- u. Wissenschaftsgesch. Stgt.-Bad Cannstatt 1994. – Herbert Jaumann: Frühe Aufklärung als histor. Kritik. Pierre Bayle u. C. T. In: Frühaufklärung. Hg. Sebastian Neumeister. Mchn. 1994, S. 149–170. – Ders.: Zur Intertextualität der gelehrten Journale im 17. Jh. In: Intertextualität in der frühen Neuzeit. Hg. Wilhelm Kühlmann u. a. Ffm. u. a. 1994, S. 443–463. – Ders.: Critica. Untersuchungen zur Gesch. der Literaturkritik zwischen Quintilian u. T. Leiden 1995, bes. S. 276 ff. – Klaus Luig: C. T. In: Staatsdenker in der Frühen Neuzeit. Hg. M. Stolleis. Mchn. 31995, S. 227–256. – Werner Schmidt: Ein vergessener Rebell. Leben u. Wirken des C. T. Mchn. 1995 (guter Überblick). – Ders.: Friedrich I. Kurfürst v. Brandenburg, König in Preußen. Mchn. 1996. – Simone Zurbuchen: Gewissensfreiheit u. Toleranz. Zur PufendorfRezeption bei C. T. In: Samuel Pufendorf u. die europ. Frühaufklärung. Hg. Fiammetta Palladini u. a. Bln. 1996, S. 169–180. – Friedrich de Boor: Die ersten Vorschläge v. C. T. ›wegen auffrichtung einer neuen Academie zu Halle‹ aus dem Jahre 1690. In: Europa in der Frühen Neuzeit. FS Günter Mühlpfordt. Bd. 4: Dt. Aufklärung. Hg. Erich Donnert. Weimar u. a. 1997, S. 57–84. – Martin Gierl: Pietismus u. Aufklärung. Theolog. Polemik u. die Kommunikationsreform der Wiss. am Ende des 17. Jh. Gött. 1997. – C. T. (1655–1728). Neue Forsch.en im Kontext der Frühaufklärung. Hg. Friedrich Vollhardt. Tüb. 1997. – Jan Schröder: C. T. u. die Reform der jurist. Methode. Lpz. 1997. – Antonio Villani: C. T. Illuminista e pietista. Neapel 1997. – Milosˇ Vec: Zeremonialwiss. im Fürstenstaat. Stu-

Thomasius dien zur jurist. u. polit. Theorie absolutist. Herrschaftsrepräsentation. Ffm. 1998. – Ulrich Johannes Schneider: Das Eklektizismus-Problem der Philosophiegesch. In: Jacob Brucker (1696–1770). Philosoph u. Historiker der europ. Aufklärung. Hg. Wilhelm Schmidt-Biggemann u. a. Bln. 1998, S. 135–158. – Thomas Ahnert: Religion and the origins of the German Enlightenment. Faith and the reform of learning in the thought of C. T. (Diss. Cambridge 1999). Rochester 2006. – M. Albrecht: C. T. In: Philosophen des 17. Jh. Hg. Lothar Kreimendahl. Darmst. 1999, S. 238–259. – Peter Schröder: C. T. zur Einf. Hbg. 1999 (gute Darstellung der staatsrechtl. Systematik). – M. Gierl: In die ›Löcher‹ ›unbedingter Freiheit‹ gestopft. Der Streit zwischen C. T. u. Wilhelm Ernst Tentzel um Morhof u. seinen ›Polyhistor‹. In: Mapping the World of Learning. The ›Polyhistor‹ of Daniel Georg Morhof. Hg. Françoise Waquet. Wiesb. 2000, S. 110–118. – Ders.: Naturrecht u. absolutist. Staatsrecht. Eine vergleichende Studie zu Thomas Hobbes u. C. T. Bln. 2001. – Martin Kühnel: Das polit. Denken v. C. T. Bln. 2001. – I. Hunter: Rival Enlightenments. Civil and Metaphysical Philosophy in Early Modern Germany. Cambridge 2001. – H. Jaumann: C. T. In: TRE. – Klaus-Gert Lutterbeck: Staat u. Gesellschaft bei C. T. u. Christian Wolff. Eine histor. Untersuchung in systemat. Absicht. Stgt.-Bad Cannstatt 2002. – Sebastian Neumeister: Bildungsideal barock: C. T. liest Gracián. In: GRM N. F. 52 (2002), S. 39–47. – T. im literar. Feld. Neue Beiträge zur Erforschung seines Werkes im Kontext. Hg. M. Beetz u. H. Jaumann. Tüb. 2003. – Georg Steinberg: C. T. als Naturrechtslehrer. (Diss. Halle 2003). Köln 2005. – H. Jaumann: Der alt/neu-Diskurs (›Querelle‹) als kulturelles Orientierungsschema: Charles Perrault u. C. T. In: Kulturelle Orientierung um 1700. Hg. Sylvia Heudecker u. a. Tüb. 2004, S. 85–99. – Jaumann Hdb. – Die Univ. Leipzig u. ihr gelehrtes Umfeld 1680–1780. Hg. Hanspeter Marti u. Detlef Döring. Basel 2004. – F. Grunert: ›Händel mit Herrn Hector Gottfried Masio‹. Zur Pragmatik des Streits in den Kontroversen mit dem Kopenhagener Hofprediger. In: Ursula Goldenbaum u. a.: Appell an das Publikum. Die öffentl. Debatte in der dt. Aufklärung 1687–1796. Bd. 1, Bln. 2004, S. 119–174. – Ders.: Die Pragmatisierung der Gelehrsamkeit. Zum Gelehrtenkonzept v. C. T. u. im Thomasianismus. In: Kultur der Kommunikation. Die europ. Gelehrtenrepublik im Zeitalter v. Leibniz u. Lessing. Hg. U. J. Schneider. Wiesb. 2005, S. 123–153. – Stephanie Irrgang: Gründungsvisionen in der Frühen Neuzeit. Das gescheiterte Bemühen um eine Universitätsgründung in Tangermünde. In: Jb. fur Universitätsgesch. 9 (2006), S. 113–131. – C. T.

504 (1655–1728). Wegbereiter moderner Rechtskultur u. Juristenausbildung. FS Rolf Lieberwirth. Hg. Heiner Lück. Hildesh. u. a. 2006. – I. Hunter: The Secularisation of the Confessional State. The Political Thought of C. T. Cambridge 2007. – Martin Disselkamp: Lachen als Freisetzung v. Kritik u. Umgangskompetenz bei C. T. Zu den Entwürfen eines Aristoteles-Romans in den Monatsgesprächen. In: Anthropologie u. Medialität des Komischen im 17. Jh. (1580–1730). Hg. Stefanie Arend. Amsterd. 2008, S. 49–70. – Ralf Georg Bogner: Theorien literar. Komik u. Praxis krit. Satire. Dialogisch-publizist. Reflexionen u. Inszenierungen des Witzes in C. T.’ früher deutschsprachiger Literaturkritik um 1700. In: ebd., S. 465–479. – C. T. (1655–1728). Gelehrter Bürger in Leipzig u. Halle. Hg. H. Lück. Stgt. 2008. – Francesco Tomasoni: C. T. Geist u. kulturelle Identität an der Schwelle zur europ. Aufklärung. Münster u. a. 2009 (ital.: Brescia 2005). – F. Vollhardt: Normvermittlung bei C. T. In: Musikal. Norm um 1700. Hg. Rainer Bayreuther. Bln. 2010, S. 203–214. – Alexander Kosˇenina: Blitzlichter der Aufklärung. Köpfe, Kritiken, Konstellationen. Hann. 2010. – F. Grunert: C. T. In: Hdb. Staatsdenker. Hg. Rüdiger Voigt u. Ullrich Weiß. Stgt. 2010, S. 417–420. Herbert Jaumann

Thomasius, Gottfried, auch: Vindicianus, * 1660 Leipzig, † 1746 Nürnberg. – Arzt, gelehrter Patrizier u. Polyhistor. Der Sohn des Leipziger Universitäts- u. Gymnasialprofessors Jakob Thomasius (1622–1684), Neffe des Juristen u. Dichters Johann Thomas (1624–1679) u. jüngerer Bruder von Christian Thomasius (1655–1728) – der Erlanger Theologe gleichen Namens, Gottfried Thomasius (1802–1875), ist direkt mit ihm verwandt (vgl. Artikel in: TRE) – besuchte nach der Privaterziehung durch den Vater u. die Hauslehrer Friedrich Rappolt u. Joachim Feller eines der beiden Gymnasien in Leipzig u. nahm 1674 an der dortigen Universität sein Studium auf. 1678 erwarb er den Magistergrad u. absolvierte anschließend ein Medizinstudium. Die akadem. Bildungsreise führte ihn 1683 über Halle u. Hamburg nach Utrecht. Dort setzte er das Medizinstudium sowie philolog. u. histor. Studien fort; anschließend hielt er sich längere Zeit in London auf, wo er Ezechiel von Spanheim u. Johann von Besser kennenlernte. Über Frankfurt/M., wo er mit dem in Leiden ausgebil-

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deten Orientalisten Hiob Ludolph in Kontakt trat, kehrte er nach Leipzig zurück. Er soll dort die zahlreichen, auch für den Bruder Christian, der bald darauf die »Monatsgespräche« erscheinen ließ, hochinteressanten Bücher u. Sammlungen auswertet haben, die er aus dem Ausland mitgebracht hat. Als anonymer Mitarbeiter war T. später wahrscheinlich auch an den Journalen u. Sammelwerken des Bruders beteiligt. Aus dessen Bemerkungen ist auch etwas zu entnehmen über die Sorgen dieser Jahre in Leipzig ohne Anstellung. Da jede gründl. biogr. Darstellung fehlt (die knappen Angaben zur Biografie in der Einleitung zur Bibliotheca Thomasiana, Bd. 1, 1765, des Nürnberger Diakons bei St. Sebald, Panzer, scheinen noch die zuverlässigste Quelle zu sein), bleiben viele Zusammenhänge unklar. Man findet Hinweise auf einen kurzen Aufenthalt in Dresden, wo er mit Philipp Jakob Spener Bekanntschaft schloss, u. auf den Studienabschluss in Wittenberg, wo er 1689 zum Dr. med. promoviert wurde (De animi deliquiis: über Phänomene der Ohnmacht, auch Allergien oder Infarkte) u. bes. zu dem Mediziner Franck von Franckenau, aber auch zu Konrad Samuel Schurtzfleisch u. dem Juristen Kaspar Ziegler in engeren Kontakt getreten ist. Von Franck ist ein Widmungsbrief, Epistola ad pernobilem Gothofredum Thomasium, in seinem kleinen Traktat De Medicis philologicis (Wittenb. 1691) erhalten. Er soll auch in Leipzig oder Halle (dann wohl nach der definitiven Übersiedlung bzw. ›Emigration‹ des Bruders im März 1690) an der Artistenfakultät gelehrt haben. Samuel Pufendorf hat ihn so sehr geschätzt, dass er ihn 1688, nach seiner Rückkehr aus Schweden, als Sekretär in Berlin haben wollte: »Aber dieses ist auch zernichtet, in dem sie bereits einen Berolinensem, und der hier begütert ist, me inconsulto verordnet, daß er mir hierin soll an hand gehen« (S. Pufendorf an Ch. Thomasius am 14.3.1688, vgl. Gigas 1897/1980, S. 15). Seit wann die Beziehung zu den Brüdern Elias u. Samuel Pufendorf bestanden u. wie T. den auch persönl. Kontakt zwischen Pufendorf u. dem Bruder Christian vermittelt hat, ist wiederum unklar.

Thomasius

Statt an eine Universität ging er darauf nach Nürnberg, wo er durch die Förderung Johann Georg Volckamers, dessen Tochter er heiratete, sich als Arzt niederließ, das Bürgerrecht erlangte u. Mitgl. des Rats der Stadt wurde. Der Bruder besuchte ihn 1697 von Halle aus mit seiner Familie. T. war auch lebenslanges Mitgl. der 1652/62 in Schweinfurt gegründeten Akademie der Naturforscher, seit 1687 mit dem Privileg Kaiser Leopolds I. unter dem Namen Academia CaesareoLeopoldina Naturae Curiosorum (›Leopoldina‹), in der Volckamer eine bedeutende Rolle spielte. Er war als ärztl. Ratgeber an zahlreichen Höfen u. bei hochgestellten Persönlichkeiten tätig u. wurde mit Ämtern wie dem des Nürnberger Stadtarztes geehrt. Anfang des 18. Jh. war T. in einem landläufigen Sinn ein bibliophiler ›Polyhistor‹, d. h., er war einer der angesehensten gelehrten Patrizier in Nürnberg, die diesen Typus seit dem Goldenen Zeitalter des reichsstädt. Humanismus im frühen 16. Jh. (Pirckheimer, Scheurl, Werner, Schedel, Beheim u. a.) u. auch noch danach (Harsdörffer) immer gekannt hat. Der ausgedehnte Briefwechsel, u. a. mit Gottsched in Leipzig, ist nicht gesammelt u. ediert, ebenso wenig seine Kasualpoesie u. andere Schriften. Auch über die Kuriositätenu. Münz-Sammlungen sowie die reiche Privatbibliothek sind nur noch verstreute u. kaum zuverlässige Angaben zu finden. Neben akadem. Qualifikationsschriften u. wenigen Gelegenheits- u. Widmungsschriften sind keine größeren Publikationen von ihm bekannt. Er soll aber an Bayles Dictionnaire mitgearbeitet haben. Werke: Dissertationum chymico-physicarum quarta de aëre. Johannes Bohn (Präses); G. T. (Respondent). Lpz. 1683. – Exercitatio inauguralis de animi deliquiis [...] pro licentia [...]. Johann Gottfried Berger (Präs.); G. T. (Resp.). Wittenb. 1689. – Viro magnifico D. Jo. Frid. Falcnero filiae incomparabilis Annae Susannae Schammbergiae mortem immaturam ac lamentabilem lugenti [...]. Lpz. (1690). – Epigramm in: Die unzertrennliche Verlöbdnus mit Jesu des seligen Herrn Erasmi Francisci [...]. Das Contrefait christlicher Klugheit: entworffen nach dem Leben des selig-verstorbenen [...]. Hg. Wolfgang Christoph Deßler. Nürnb. (1697). – Vindicianus (Pseud.): Elogium [...] Georgii Franci de Frankenau. In: Georg Franck von Franc-

Thomasius kenau: De Palingenesia. Neuaufl. hg. v. Johann Ch. Nehringer. Halle 1717. – Vorrede in: Samuel von Pufendorf: De rebus a Carolo Gustavo Sueciae Regis gestis commentariorum libri VII. [Widmung an König Karl XI.]. Nürnb. 1696 (dt. 1697). 1719. – Epistolae in: Commercium epistolicum Norimbergense. Bde. 1 u. 2. Hg. Georg Andreas Will. Altdorf 1756/57. – Bibliotheca Thomasiana sive Thesaurus locupletissimus ex omni scientia librorum praestantissimorum rarissimorumque, quos olim possedit Gotofredus Th. de Troschenreut et Wiedersberg. Hg. Georg Wolfgang Panzer. 4 Bde., Nürnb. 1765–72 [Bd. 1: Einl. des Hg. Theologia. Bd. 2: Jurisprudentia et Medicina. Bd. 3, 2 Teilbde.: Philosophia, Philologia, Historia. Bd. 4: Appendices. Wertvoll die Einl. des Hg. in Bd. 1, S. I–XXXIV]. Literatur: Zedler, Bd. 43 (1745). – Georg Andreas Will: Nürnberg. Gelehrten-Lexicon [...]. Tl. 4, Nürnb./Altdorf 1758. Nachdr. Neustadt an der Aisch 1997, S. 25–34; Tl. 8, Altdorf 1808. Nachdr. Neustadt an der Aisch 1998, S. 328. – Friedrich Carl Gottlob Hirsching: Historischlitterar. Hdb. [...]. Bd. 14/1, Lpz. 1810. – Briefe Samuel Pufendorfs an Christian Thomasius. Hg. Emil Gigas. Mchn./Lpz. 1697. Nachdr. Ffm. 1980 (erw. um andere Briefe Pufendorfs, hg. Konrad Varrentrapp). – Christian Thomasius. Leben u. Lebenswerk. Hg. Max Fleischmann. Halle 1931. Nachdr. Aalen 1979. – Werner Schmidt: Ein vergessener Rebell. Leben u. Wirken des Christian Thomasius. Mchn. 1995. – Samuel Pufendorf: Briefw. Hg. Detlef Döring. In: Ders.: Ges. Werke. Hg. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Bd. 1, Bln. 1996. Herbert Jaumann

Thomasius, Jakob, * 25.(oder 27.)8.1622 Leipzig, † 9.9.1684 Leipzig. – Moralphilosoph, Philosophiehistoriker u. Schuldirektor. Aus angesehener Juristenfamilie in Leipzig, besuchte T. mit dem jüngeren Bruder Johann, dem späteren Juristen u. Verfasser des Schäferromans Damon und Lisille (1663, unter dem Pseudonym Matthias Jonsohn), das Gymnasium in Gera. Nach der Immatrikulation in Leipzig 1640 studierte er in Wittenberg (bei dem Opitzianer August Buchner) u. erneut in Leipzig, wo er 1643 den Magistergrad erwarb. Es wird meist übersehen, dass T. als Einziger in der T.-Familie nicht nur seiner Generation nicht die Rechte studierte u. kein Jurist geworden ist. Seit 1646 lehrte er an der Universität seiner Heimatstadt u. hatte da-

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neben ein Lehramt an der städt. Nicolaischule inne, einem Akadem. Gymnasium, an dem er 1650–1653 als Konrektor amtierte. 1653 übernahm er an der Universität als Nachfolger von Friedrich Leubnitz († 1652), dem Vater von Gottfried Wilhelm, der sich dann meist Leibniz schrieb, die Professur der Moralphilosophie (Ethik), seit 1656 die der Dialektik (»Disputierkunst«), u. von 1659 bis zu seinem Tode lehrte T. als Professor der Rhetorik an der Leipziger Universität, der damals größten in Deutschland, zu deren berühmten Lehrern in der Aufstiegsphase des späteren 17. Jh. er gehörte (neben Johann Benedikt Carpzov, M. Ettmüller, A. Pfeiffer u. a.). Seit 1670 amtierte T. daneben auch als Professor u. Rektor an der Nicolaischule, von der er 1676 an das größere »Thomasianum« wechselte, der anderen Gelehrtenschule der Stadt, an der 50 Jahre später Johann Sebastian Bach Kantor gewesen ist. Es wäre gewiss bemerkenswert, wäre T. nur einer der Lehrer von Christian Weise u. der Vater u. Erzieher zweier berühmter Söhne gewesen: des Nürnberger Polyhistors u. Mediziners Gottfried u. Christians, des philosophischen Juristen von epochaler Bedeutung, sowie der philosophische Lehrer des jungen Leibniz. Dieser besuchte seit 1653 die Nicolaischule, als T. dort Konrektor war, zwischen 1661 u. 1663 hörte er dessen Universitätsvorlesungen, u. seit 1663 war der Lehrer u. ehemalige Kollege des Vaters sein erster wichtiger Briefpartner. Aber T. zählte in den 1660er bis 1680er Jahren zu den gelehrten Autoritäten in Europa. Er hinterließ eine lange Reihe von häufig nachgedruckten Programmata, Dissertationen u. Traktaten zu verschiedenen Themen der Ethik u. Politik, Rhetorik, Philologie u. Historia litteraria (wie z. B. die Dissertation De plagio literario, über das gelehrte Plagiat: zuerst Lpz. 1673, in 2 Tln. Schwabach 1692, einer der frühesten Ansätze zu einer Theorie der neuzeitl. Öffentlichkeit: vgl. Jaumann 2000/2008). Darunter sind auch Themen, die man damals »curiös« genannt hat u. später als kultur- u. sozialgeschichtlich oder auch ›volkskundlich‹ hätte bezeichnen können: über die gelehrten Vaganten, über die Geschichte der männl. Barttracht, über die Zigeuner u. über das

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Winterquartier der Schwalben, über die Alraunwurzel oder über die Blindheit der Maulwürfe. Viele erlebten Neuauflagen u. Erweiterungen (bes. Dissertationes duae de foeminarum eruditione, zuerst Lpz. 1671, u. De plagio literario). Am bekanntesten wurde T. mit den immer wieder aufgelegten Lehrbüchern für das rhetor., log., metaphys. u. physikal. Grundstudium (nachträglich in einem Band in der Ausg. Lpz. 1705) nach der dialogischen Methode der Erotemata u. häufig mit Hilfe von Tabellen u. synopt. Tafeln. Bei dieser sog. ›erotematischen‹ Methode (von griech. erótema: Frage, Ausfragen) wurde der Lehrstoff in einem katechismusähnl. Schema von Frage u. Antwort ›programmiert‹. Sehr erfolgreich war die Philosophia practica continuis tabellis comprehensa (zuerst 1667), die seine Politik u. Sittenlehre enthält u. bis weit ins 18. Jh. hinein in Gebrauch war. Diese als Widerspiel von Frage u. Antwort inszenierte Darstellung philosophischer u. anderer Lehren ist in Antike u. Früher Neuzeit freilich mehr gewesen als nur didakt. Aufbereitung, denkt man an die philosophischen Dialogwerke im MA, den Dialog der Humanisten u. den schulhumanist. Dialog von Erasmus, Castellio, Sturm u. v. a. Viele Abhandlungen von T. sind später in den Observationes selectae erschienen (1700–1705, mit hg. v. Christian T.). Das andere Zentrum von T.’ Schaffen ist die ›philosophische Historie‹, also die Philosophiegeschichte. Hier vertritt er einen späten Aristotelismus, arbeitet jedoch mit der unermüdl. Rekonstruktion der traditionellen philosophischen Schulen (»sectae«), wenngleich ungewollt, der Philosophia eclectica vor. Mit »sonderbarem Fleiß, Gründlichkeit und Nettigkeit« habe T. die aristotel. Philosophie vertreten – so wie es »sein Amt und Beruf erforderte«; er habe sich bemüht, die antiken Philosophen, die ›Heiden‹ also, »nach dem eigentlichen Verstand der Systematum vorzustellen und der unnützen, ja wohl schädlichen Vereinigung der Heydnischen Philosophie mit der Christlichen Religion vorzubeugen«, also gegen den gefährlichen ›Syncretismus‹ anzugehen (Brucker, Bd. 6, 1735). Die wichtigsten Werke sind hier das Schediasma historicum (zuerst 1665, mit verändertem

Thomasius

Titel 1669), die Exercitatio de stoica mundi exustione (1674): die quasi apokalypt. Lehre vom sog. Weltbrand in der stoischen Metaphysik, das Programma gegen Spinoza: Adversus anonymum de libertate philosophandi (1671) sowie die Dilucidationes Stahlianae (1676). Christian T. gab die Dissertationes LXIII varii argumenti (1693), Samuel Pufendorf gewidmet, heraus u. bewies sich als einfühlsamer Schüler des Vaters. Dieser wäre, heißt es in der Vorrede, gewiss »zur wahren und einzigen Philosophie gelangt, wenn die Zeit [...] ihm die Denkfreiheit gestattet hätte, die wir Gott sei Dank genießen, auch wenn die Sophisten von heute noch so sehr darüber die Zähne fletschen.« Weitere Werke: Pentas [griech.]. Theorematum philosophicorum. Andreas Schwartz (Präses), J. T. (Respondent). Lpz. 1642 (Baccalariatsdisputation). – Historia salis [...] pro loco. Lpz. 1644. – Diatribe philosophica de cooperatione dei cum causis creatis naturaliter agentibus. J. T. (Präs.); Samuel Manitius (Resp.). Lpz. 1647. – Theses meteoro-philologicae de marinis ignibus. J. T. (Präses); Cornelius Cunningham (Resp.). Lpz. 1650. – Horatius Tursellinus [Orazio Torsellino SJ]: De particulis latinae orationis [...] libellus utilissimus. Hg. J. T. Lpz. 1651. 1769. – Dissertatio philosophica de cingaris. J. T. (Präs.); Johannes-Christoph Schmid (Resp.). Lpz. 1652. Dt.: Curiöser Tractat von Zigeunern. Dresden 1702. Gründl. histor. Nachricht von denen Ziegeunern. Ebd. 1748. – Dissertatio politica de principe ejusque virtutibus. J. T. (Präs.); Benedikt Strauß (Resp.). Lpz. 1653. – Diss. politica de potestate legislatoria. J. T. (Präs.); Johannes Hillebold (Resp.). Lpz. 1654. – De mandragora disputatio philologica. J. T. (Präs.); Johannes Schmidel (Resp.). Lpz. 1655. Dt.: Von der Alraun-Wurtzel. 1739. – Diss. philosophica de hibernaculis hirundinum. J. T. (Präs.); Christian Schmidichen (Resp.). Lpz. 1658. Dt.: Curieuse Gedancken vom Winter-Lager der Schwalben. 1702. – Breviarium ethicorum Aristotelis ad Nicomachum. Lpz. 1658. – De visu talparum discursus physicus. J. T. (Präs.); Joachim Korthum (Resp.). Lpz. 1659. Dt.: Curiöser Tractat genant das wieder gefundene Gesicht der sonst blinden Maulwürffe. 1702. – Disputatio de natura et constitutione politices. J. T. (Präs.); Johann Christian Viliz (Resp.). Lpz. 1659. – Disp. ethica de actionum humanarum principiis. J. T. (Präs.); Paul Winckelmann (Resp.). Lpz. 1660. – Philosophia practica continuis tabellis in usum privatum comprehensa. Lpz. 1661. Erw. in 2 Bdn., 21667. – Exercitatio philosophica de philautia. J. T. (Präs.);

Thomasius Nikolaus Dencker (Resp.). Lpz. 1661. – Disp. metaphysica de principio individui. J. T. (Präs.); G. W. Leibniz (Resp.). Lpz. 1663. Internet-Ed. in: SLUB Dresden. – Disp. ethica de officio hominis circa notitiam futurorum contingentium. J. T. (Präs.); Nikolaus Johann Elffring (Resp.). Lpz. 1664. – De anima rationali, disp. physica. J. T. (Präs.); Johann Jakob Thurm (Resp.). Lpz. 1665. – Johann v. Wower: De polymathia tractatio. Ed. nova. Hg. J. T. Lpz. 1665 [enth.: Praefatio u. Biogr. Wowers]. – Schediasma historicum, quo [...] varia discutiuntur ad historiam tum philosophicam, tum ecclesiasticam pertinentia [...]. Lpz. 1665. U. d. T: Origines historiae philosophicae et ecclesiasticae. Erw. hg. v. Christian T. Halle 1699. – Exercitatio politica de ratione status, definitionem ejus a Scipione Amirato propositam expendens. J. T. (Präs.); H. F. v. Brösigke (Resp.). Lpz. 1665. 1672. – Disp. rhetorica de styli ethnicismo circa jurandi adverbia fugiendo. J. T. (Präs.); Christoph Schrader (Resp.). Lpz. 1665. – De quatuor virtutibus cardinalibus disp. prima. J. T. (Präs.); Engelbrecht v. der Burgk (Resp.). Lpz. 1665. – Diss. politica de jure belli majestatico. J. T. (Präs.); Volrad Carl v. Watzdorff (Resp.). Lpz. 1666. – De morborum in republica intestinis ac moralibus causis, disquisitio. J. T. (Präs.); Christoph Lange (Resp.). Lpz. 1666. – Exercitatio historico-politica de indicibus papistarum expurgatoriis. J. T. (Präs.); Daniel Francke (Resp.). Lpz. 1666. – Disp. politica de gynaecocratia subsidiaria. J. T. (Präs.); Daniel Ägidius Heinrich (Resp.). Lpz. 1667. – Idea boni perfectique politici. J. T. (Präs.); Johann Melchior Hofmeister (Resp.). Lpz. 1668. – Paulus Manutius: Epistolarum libri XII. Hg. J. T. Lpz. 1669. 1707. – Erotemata rhetorica pro incipientibus. Acceßit pro adultis consilium de locis communibus eloquentiae studioso comparandis. Lpz. 1670. 1678. – Erotemata logica pro incipientibus. Acceßit pro adultis processus disputandi. Lpz. 1670. 1678. – Erotemata metaphysica pro incipientibus. Acceßit pro adultis historia variae fortunae, quam metaphysica experta est. Lpz. 1670. 1678. 1692. – Specimen tabularum novarum in Hugonis Grotii de iure belli et pacis libros. Lpz. 1670. Internet-Ed. in: ULB SachsenAnhalt. – De ritu veterum Christianorum precandi versus orientem. J. T. (Präs.); Johannes Praetorius (Resp.). Lpz. 1670. – De societatis civilis statu naturali ac legali, diss. politica. J. T. (Präs.); Christfried Wächtler (Resp.). Lpz. 1670. – Religione christiana non minui fortitudinem bellicam, contra Nicolaum Machiavellum Florentinum. J. T. (Präs.); Ernst F. Schelhase (Resp.). Lpz. 1670. – Diatriben academicam de foeminarum eruditione, priorem [...] proponit [...]. J. T. (Präs.); Johann Sauerbrei (Resp.). Lpz. 1671. Internet-Ed. in: ULB SachsenAnhalt. – De barba. J. T. (Präs.); Gottfried Barth

508 (Resp.). Lpz. 1671. – Doctrina Imperii RomanoGermanici hodierni. In usum incipientium tabulis comprehensa. Lpz. 1672. – Johann C. Dürr: Actus panegyricus [...], habes hic [...] orationem de praepostera et impia libertate philosophandi, praesertim in religionis negotio, oppositam Tractatui theologico-politico scriptoris lucifugae haud ita pridem vulgato. Lpz. 1672 [enth. v. T.: Vorr. an den Verf. u. Programma v. 1671 gegen Edmund Dickinson u. Spinoza]. – Marc-Antoine Muret: Orationes, epistolae, et poemata, cum praefatione [...]. Hg. J. T. Lpz. 1672 u. ö. – Diss. philosophica de plagio literario. J. T. (Präs.); Johann Michael Reinel (Resp.). Lpz. 1673; erw. um: Accessiones (VI), 1679; erw. Schwabach 1692. – Diss. historico-politica de cautelis principum circa colloquia et congressus mutuos. J. T. (Präs.); Friedrich Rud. Ludwig v. Canitz (Resp.). Lpz. 1674. Internet-Ed. in: HAB Wolfenbüttel. – Oratio opposita illorum errori, qui asserunt praeexistentiam animarum humanarum. Lpz. 1674. – Gerard Johannes Vossius: Rhetorices contractae [...] libri quinque. Hg. J. T. Lpz. 1674. – Exercitatio de stoica mundi exustione [...]. Lpz. 1674; erw. um: Argumenti varii u. Dissertationes XXI. Lpz. 1676. – C. Plinius Caecilius d.J.: Epistolae. Hg. J. T. [nach der Ed. v. Caspar Barth]. Lpz. 1675. – Discursus historico-philologicus de vagantibus scholasticis, sive Von fahrenden Schülern. J. T. (Präs.); Johann Ulrich Mayer (Resp.). Lpz. 1675. – De poculo S. Joannis, quod vulgo appellant S. Johannis-Trunck. J. T. (Präs.); Johann Adam Fibiger (Resp.). Lpz. 1675. – Pro¯ton pseudos, seu primum falsum. J. T. (Präs.); Lorenz Weger (Resp.). Lpz. 1675. Internet-Ed. in: ULB Sachsen-Anhalt. – Exercitatio philosophica de fabulis poetarum, earumque vario sensu. J. T. (Präs.); Nikolaus Spengler (Resp.). Lpz. 1676. – Dilucidationes Stahlianae [...]. Lpz. 1676. – Diss. historica de Petro Dresdensi. J. T. (Präs.); Johann Christoph Schreiber (Resp.). Lpz. 1678. Dt.: Vom Dreßdischen Peter, 1693 [Peter, zur Zeit von J. Hus als Häretiker verbrannt]. – Physica perpetuo dialogo [...] adornata [...]. Lpz. 1678. – Marcus Zuerius Boxhorn: Epistolae et poemata. Hg. J. T. Ffm./Lpz. 1679. – De Nigello Wirekero. J. T. (Präs.); Immanuel Weber (Resp.). Lpz. 1679 [Nigel Wirker, antiröm. Theologe in England nach 1400, als Häretiker verbrannt]. – Praefationes sub auspicia disputationum suarum [...]. Lpz. 1681. – Johann Meelführer: Historisches Spruch-Buch. Hg. u. erw. v. J. T. Lpz. 1682. – Orationes [...] argumenti varii. Lpz. 1683. Ausgaben: Dissertationes LXIII varii argumenti. Hg. Christian T. Halle 1693. – 50 Abhandlungen u. Dissertationen auch in: Observationes selectae. Mitverf. u. Mithg. Christian T. 10 Bde. u. 1 Bd.

509 Additamenta, Halle 1700–1705, Bd. 9 (1704, nur Beiträge v. J. T.). – Philosophia instrumentalis et theoretica. Lpz. 1705 [d. i. die 4. Aufl. in 1 Bd. der Erotemata rhetorica, logica u. metaphysica u. der Physica]. Internet-Ed. in: SUB Gött. (in Vorb.). – Miscellanea varii argumenti. Lpz. 1737. – Die Thomasschule Leipzig zur Zeit Johann Sebastian Bachs. Ordnungen u. Gesetze der Schola Thomana. Nachdr. der Ausg. Lpz. 1634, 1723, 1733. Hg. Hans-Joachim Schulze. Lpz. 1985. – Acta Nicolaitana et Thomana. Aufzeichnungen v. J. T. während seines Rektorates an der Nikolai- u. Thomasschule zu Leipzig (1670–84). Hg. Richard Sachse. Lpz. 1912. – Ges. Schr.en. 7 Bde. Hg. Walter Sparn. Hildesh. 2003 ff. Literatur: Bibliografien: Catalogus scriptorum Thomasianorum. Halle 1708. – VD 17. – Weitere Titel: Joachim Feller: Programma academicum in Thomasii funere. Lpz. 1684. – Christian Gerber: Historia derer Wiedergebohrnen in Sachsen. Dresden 1730; Anhangsbd.: Die V. Historia. Von einem gelehrten u. frommen Professor, S. 138–168. – Johann Jakob Brucker: Kurtze Fragen aus der philosoph. Historie. Bd. 6, Ulm 1735. – Zedler, Bd. 43 (1745), Sp. 1603–1608. – Henri Joli: T. et l’université de Leipzig pendant la jeunesse de Leibniz. In: Revue philosophique de la France et de l’étranger 6 (1878), S. 482–500. – Richard Sachse: J. T. In: ADB. – Emil Dohmke: Die Nicolaischule zu Leipzig im 17. Jh. Lpz. 1874. – Karl Strecker: Der Brief des Leibniz an J. T. vom 20./30. April 1669. Ein Beitr. zur Gesch. der neueren Philosophie. Diss. Würzb. 1885. – R. Sachse: J. T., Rektor der Thomasschule. Lpz. 1894. – Ders.: Das Tagebuch des Rektors J. T. Lpz. 1896. – Otto Kaemmel: Gesch. des Leipziger Schulwesens vom Anfange des 13. bis gegen die Mitte des 19. Jh. (1214–1846). Lpz. 1909, bes. S. 255 ff. – R. Sachse: Die ältere Gesch. der Thomasschule zu Leipzig. Nach den Quellen dargestellt. Lpz. 1912. – Guido Aceti: J. T. ed il pensiero filosofico-giuridico di Goffredo Guglielmo Leibniz. In: Jus N. S. 8 (Milano 1957), S. 259–318. – Heinrich Schepers: J. T. In: RGG 3. Aufl. – Wilhelm Totok: Hdb. der Gesch. der Philosophie. Bd. 4, Ffm. 1981, Register. – Lucien Braun: Gesch. der Philosophiegesch. [frz. 1973]. Darmst. 1990. – Models of the history of philosophy. Bd. 1: From its origins in the Renaissance to the ›Historia philosophica‹ [...]. Hg. Francesco Bottin. Dordrecht 1993. – Mark Lehmstedt: Buchhandel u. Schule im 17. Jh. Aus den Aufzeichnungen des Leipziger Schulrektors J. T. In: Leipziger Jb. zur Buchgesch. 3 (1993), S. 317–333. – Giovanna Varani: Die ersten Leibnizschen Ansätze zur Rhetorik: J. T.’ Beredsamkeitslehre u. Melanchthons grammat. Erbe. In:

Thommen Studia Leibnitiana 31 (1999), S. 6–33. – Herbert Jaumann: Öffentlichkeit u. Verlegenheit. Frühe Spuren eines Konzepts öffentl. Kritik in der Theorie des plagium extrajudiciale v. J. T. (1673). In: Scientia Poetica 4 (2000), S. 62–82. Auch in: Strukturen der dt. Frühaufklärung 1680–1720. Hg. Hans Erich Bödeker. Gött. 2008, S. 99–118. – Franz Martin Wimmer: Interkulturelle Philosophie. Wien 1990. 2004. – Christia Mercer: Leibniz and his masters. The correspondence with J. T. In: Leibniz and his correspondents. Hg. Paul Lodge. Cambridge 2004, S. 10–46. – Francesco Tomasoni: Christian T. Geist u. kulturelle Identität an der Schwelle zur europ. Aufklärung. Münster u. a. 2009 (ital. Brescia 2005), bes. Kap. 1. Herbert Jaumann

Thommen, Elisabeth, * 10.4.1888 Waldenburg/Kt. Basel-Land, † 24.6.1960 Zürich. – Journalistin, Erzählerin, Lyrikerin. Früh vaterlos, wuchs die Tochter aus gutbürgerl. Haus in Waldenburg, Bern, Liestal u. Basel auf, wo sie 1909 das Diplom als Kindergärtnerin erwarb. Nach dem Scheitern ihrer ersten, 1912 geschlossenen Ehe debütierte sie literarisch mit Das Tannenbäumchen (Zürich 1919), drei »Frauenbilder«, welche die weibl. Entfaltungsmöglichkeiten in der Gesellschaft ebenso plakativ wie pessimistisch darstellen. Die emanzipator. Lehrjahre einer Protagonistin gestaltet auch die Erzählung Evas Weg (ebd. 1925), während der Gedichtband Es Buscheli grynt (ebd. 1937. 3., erw. Aufl. 1960) die Mundartbegeisterung der »geistigen Landesverteidigung« nutzte, um mit Hilfe des populären Basler Dialekts spezielle Frauenprobleme ins allg. Bewußtsein zu bringen. T.s primäre Bedeutung lag jedoch nicht im literar., sondern im journalistischen Bereich. Im Schweizer Radio, in der Basler »Nationalzeitung«, dem »Schweizerischen Frauenblatt« u. anderen Organen verfocht sie ihr hauptsächl. Anliegen, die gesellschaftl. Gleichstellung der Frau, lebenslang auf originelle, kämpferische, aber nicht radikale Weise. Literatur u. polit. Journalismus verknüpfte T., die 1921–1937 in zweiter Ehe mit Jakob Bührer verheiratet war, gekonnt in ihrem Buch Blitzfahrt durch SowjetRußland (ebd. 1933). Literatur: Thomas Schweizer: Die Tochter des Uhrenmachers. E. T. Eine Stimme für die Frauen.

Thomsen

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Thon, Eleonore (Sophie Auguste), geb. Röder/Rödern, auch: Jenny, * 27.11. Eisenach / getauft 29.10.1753 Eisenach, † 7./22.4.1807 Eisenach. – Erzählerin, Thomsen, Johann Hinrich, * vermutlich Dramatikerin, Lyrikerin, Verfasserin von um 1738, Begräbnis 26.4.1776 Basedow/ Aufsätzen. Mecklenburg. – Lyriker. Radiolegende, Publizistin u. zweite Frau des Schriftstellers Jakob Bührer. Olten/Waldenburg 2007. Charles Linsmayer

Mit einer persönl. Empfehlung Boies erschienen im Göttinger »Musen-Almanach« die ersten Gedichte T.s, Volksschullehrer in Kius bei Schleswig. Eher konventionell gearbeitete Stücke wie die Hymne an die Gottheit (1771) kontrastieren mit Versuchen im empfindsamen Ton wie den Elegien An die Nachtigall (1771. 1773). Der – auch biografisch bezeugte – Verlust der Geliebten schlägt sich in den mehrfach variierten u. später vertonten Elegien An Doris u. Sehnsucht nieder (ebd. 1772. Auch in: Vossischer Musenalmanach, 1777, 1779). Ein Lobgedicht an einen örtl. Mäzen druckte Claudius im »Wandsbecker Bothen« ab (Nr. 186, 1773). Die anfängl. Kontakte zu Klopstock u. Gleim, insbes. aber zur jüngeren Dichtergeneration um Voß verloren sich, als T. auf Fürsprache eines Gönners eine Stelle als Landvermesser u. Inspektor auf dem mecklenburgischen Gut Basedow erhielt. Motive der ländl. Naturverbundenheit u. schäferl. Einfalt wie in Das Landleben u. An den Morgen (in: Göttinger Musenalmanach, 1771, 1772) verraten die Bindung an die traditionelle Lyrik. Der Einfluss des großen Vorbilds Klopstock ist kaum zu verkennen. Eine bei Nicolai geplante Ausgabe von T.s Gedichten kam nie zustande; sein ohnehin schmales Werk ist nur unvollständig erhalten. Literatur: Willers Jessen: Der Bauerndichter J. H. T. aus Kius in Angeln. In: Jb. des Heimatbundes Angeln 6 (1935), S. 5–41 (mit Texten v. T.). – Dieter Lohmeier: J. H. T. In: BLSHL 6 (1982), S. 278 f. – Kosch. Josef Morlo / Red.

Da ihr Vater August Friedrich Röder/Rödern herzogl. Kammersekretär war, wuchs T. im Umfeld des Weimarer Hofes auf. Ihre Familie war ursprünglich adlig, verarmte jedoch im Dreißigjährigen Krieg u. verzichtete daraufhin auf aus der Herkunft resultierende Vorrechte. Dank ihrer Patin Fräulein von Schlotheim, die auch die Prinzessin von Sachsen-Gotha erzog, genoss T. dennoch eine für Frauen ungewöhnlich sorgfältige Ausbildung. 1782 vermählte sie sich mit dem Sachsen-Weimarischen Geheimrat Johann Karl Salomon Thon, der später durch seine Schrift Schloß Wartburg. Ein Beitrag zur Kunde der Vorzeit (Gotha 1792) bekannt wurde. Als T.s erstes u. populärstes Werk gilt Julie von Hirtenthal. Eine Geschichte (Eisenach 1780–83), das allerdings gelegentlich auch Karl Heinrich Krögen zugeschrieben wird. Der empfindsame Briefroman mit verstrickter Handlung richtet sich vornehmlich an ein weibl. Publikum u. orientiert sich an Sophie von La Roches Fräulein von Sternheim. Laurence Sternes A Sentimental Journey zum Vorbild nimmt sich T.s im Jahr ihrer Heirat erschienene empfindsame Reiseschilderung Briefe von Karl Leuckford (ebd. 1782). Sie beruht auf der Fiktion eines Brieffundes. In dem histor. Drama Adelheit von Rastenberg. Ein Trauerspiel (Weimar 1788) griff T. die Mode des mittelalterl. Ritterspiels auf. Mit der Titelheldin schuf sie eine Gegenfigur zur herrschsüchtigen Intrigantin Adelheid von Walldorf aus Johann Wolfgang von Goethes Götz von Berlichingen. Ein pädagog. Bemühen um die weibl. Leser prägt T.s gesamtes Werk u. schlägt sich auch in zahlreichen Aufsätzen nieder, die im »Journal des Luxus und der Moden«, in der »Olla Potrida«, den »Cahiers de Lecture« u. in anderen period. Schriften erschienen. Immer wieder plädierte T. in ironisch gefärbten Ausführungen für eine einfache Lebensweise der Frau. Außerdem veröffentlichte sie Ge-

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dichte in den genannten Zeitschriften u. in Musenalmanachen u. fertigte Übersetzungen an. Ihre Beiträge erschienen meistens anonym oder unter dem Pseud. ›Jenny‹. T.s letzte Lebensjahre wurden von einer schweren Krankheit überschattet, an der sie 1807 im Alter von 54 Jahren starb. Der einzige Sohn Heinrich Christian Kaspar Thon trat in die Fußstapfen seiner Eltern u. verfasste ebenfalls einige Schriften, die jedoch unbekannt sind. Das forscherl. Interesse an T.s Werk, das lange Zeit unbeachtet geblieben war, nahm in den letzten zwei Jahrzehnten sukzessive zu. T. gilt heute als wichtige Repräsentantin weibl. Schreibens in der ›Sattelzeit‹ um 1800. Weiteres Werk: Marianne v. Terville. Eine Erzählung. Lpz. 1798. Literatur: Carl Wilhelm O. A. v. Schindel: Die dt. Schriftstellerinnen des 19. Jh. Bd. 2, Lpz. 1823–25, S. 367–369. – Christiane Touaillon: Der dt. Frauenroman des 18. Jh. Wien/Lpz. 1919, S. 209–213. – Elisabeth Friedrichs: Die deutschsprachigen Schriftstellerinnen. Stgt. 1981, S. 311. – Susanne Kord: Ein Blick hinter die Kulissen. Deutschsprachige Dramatikerinnen im 18. u. 19. Jh. Stgt. 1992, S. 100–105. – Karin A. Wurst: Introduction. In: E. T.: Adelheit v. Rastenberg. An English Translation. New York 1996, S. vii–xxx. – Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer (Hg.): Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Tüb./Basel 2006, S. 424–427. – Claudia Hauser: Politiken des Wahnsinns. Weibl. Psychopathologie in Texten dt. Autorinnen zwischen Spätaufklärung u. Fin de siècle. Hildesh. 2007, S. 96–118. Cornelia Heinsch

Thoor, Jesse, eigentl.: Peter Karl Höfler, * 23.1.1905 Berlin, † 15.8.1952 Lienz/Tirol. – Lyriker, Erzähler.

Thrasolt

Nürnb. 1948). Im Dez. 1938 kam T. mit einem Stipendium nach London, wo er bis zu seinem Tod (er starb bei einem Besuch in Tirol) als Goldschmied arbeitete. Beeinflusst von Villon u. Rimbaud, entwickelte T. einen eigenen lyr. Stil u. einen archaischen, plebejischen Ton. Seine Bildersprache speist sich aus german. Mythos, Altem Testament u. christl. Mystik. Für sein Pseud. fügte er den Propheten Jesaja u. den german. Donnergott Thor zusammen. T. schrieb vorwiegend Sonette, deren strenge Form er als Korrektiv für sein Pathos brauchte. Stark geprägt von Erlösungsvorstellungen, von Kulturpessimismus u. Zivilisationskritik, zielte er in seiner Lyrik auf eine heilige, bäuerl. Ordnung, eine myst. Heimat, in welcher die Menschen Erlösung finden sollten. Ausgaben: Die Sonette u. Lieder. Hg. Alfred Marnau. Heidelb./Darmst. 1956. – Das Werk. Sonette, Lieder, E.en. Hg. u. eingel. v. Michael Hamburger. Ffm. 1965. – Gedichte. Hg. u. Nachw. v. Peter Hamm. Ebd. 1975. Literatur: Lioba Happel: J. T.: Dichtung im Exil. In: Lit. im techn. Zeitalter (1986), H. 98, S. 73–85. – Gerdamaria Thom: Rufer ohne Fahne. Der Dichter J. T. Wien 1986. – Wolfgang Emmerich: Realismus u. Avantgarde in der Lyrik zwischen 1935 u. 1941. Das Sonett bei J. T., Erich Arendt, Bertolt Brecht. In: Realismuskonzeptionen der Exillit. zwischen 1935 u. 1940/41. Hg. Edita Koch u. Frithjof Trapp. Maintal 1987, S. 64–75. – Hans J. Schütz: J. T. In: Ders.: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen‹. Mchn. 1988, S. 272–276, 331. – Eduard C. Heinisch: J. T. (1905–1952). In: LuK 32 (1997), H. 311/312, S. 101–105. – Christian Schuler: Den ewigen Leib anschauen. Über den Dichter J. T. In: Communio 37 (2008), H. 6, S. 636–644. Hans J. Schütz † / Red.

T.s Familie stammt aus der Steiermark, ließ Thrasolt, Ernst, eigentl.: Josef Matthias sich jedoch 1915 in Berlin nieder. T. begann Tressel, * 12.5.1878 Beurig/Saar, † 20.1. eine Ausbildung als Zahntechniker u. Fei1945 Berlin. – Lyriker, kath. Publizist. lenhauer, verbrachte dann viele Jahre auf Wanderschaft in Europa. 1933 wegen der Der Sohn eines saarländ. Bauern u. Winzers Tätigkeit in kommunistischen Organisatio- war nach der Priesterweihe in Trier (1904) nen in Berlin von der Gestapo verfolgt, ging Pfarrer mehrerer Gemeinden. Der erste Lyer nach Österreich. Während seiner Wander- rikband, De profundis. Geistliche Gedichte jahre begann er zu schreiben, veröffentlichte (Kempten/Mchn. 1908. 41922), zeigt T.s Rinjedoch erst nach 1938 gelegentlich Gedichte gen um Glaubensgewissheit. Seine Lyrik (einzige Buchausgabe zu Lebzeiten: Sonette. wurde von der zeitgenöss. Kritik als Erneue-

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rung der geistl. Dichtung gefeiert u. 1911 mit nach Berlin über. Nach der Machtübernahme dem Dichterpreis der Universität Würzburg durch die Nationalsozialisten wurde er ausgezeichnet. Vom christl. Dualismus be- überwacht u. publizierte nicht mehr. Seit den stimmt, schwanken die psalmodierenden 1930er Jahren entstandene Schriften, SkizGedichte zwischen Pessimismus u. Gottver- zen, Entwürfe u. Aufzeichnungen sind im trauen, Leidenschaft u. mystischer, in Na- Dez. 1944 einem Bombenangriff zum Opfer turbetrachtung eingebundener Wesensschau gefallen. (Witterungen der Seele. Geistliche Gedichte. RaWeitere Werke: Stillen Menschen. Gedicht aus vensburg 1911. Lpz. 31923). Natur u. Leben. Kempten 1909. – Die Witwe. Mchn. 1909 übernahm T. die redaktionelle Lei- 1925. Auch abgedr. in: Antkowiak 1962, S. 54–96. tung der kath. Jugendzeitschrift »Efeuran- – Dr. Carl Sonnenschein. Der Mensch u. sein Werk. ken«, gab diese aber 1913 ab u. gründete Mchn. 1930. Literatur: Walter Ottendorf-Simrock: Es geht seine eigene Zeitschrift »Das Heilige Feuer«, deren erstes Heft im Okt. 1913 (Warendorf) die Zeit zur Ewigkeit. Ratingen 1959. – Elisabeth erschien. Adressat der Zeitschrift, deren Lei- Antkowiak: Wem du, Herr, einmal bist begegnet. Gedenkbuch für E. T. Lpz. 1962. – Thomas Reinetung T. im Okt. 1915 seinem Freund u. Kolcke: ›Das Heilige Feuer‹. Eine kath. Ztschr. legen Bernhard Michael Steinmetz überließ, 1913–1931. In: Hdb. zur ›Völkischen Bewegung‹ war v. a. die dt. kath. Jugend. Vom 2. Jg. an 1871–1918. Hg. Uwe Puschner, Walter Schmitz u. (1914/15, Paderborn) trug das Blatt den Un- Justus H. Ulbricht. Mchn. u. a. 1996, S. 164–171. – tertitel »Religiös-kulturelle Monatsschrift für Bernhard Walcher: ›Der alte Gott lebt doch, lebt naturgemäße, deutsch-völkische und christ- auch im Kriege noch‹. Kath. Kriegstheologie u. lyr. liche Kultur und Volkspflege«, aus dem be- Seelsorge im Werk v. E. T. (1878–1945). In: Im reits die weltanschaul. Orientierung der Banne v. Verdun. Literatur u. Publizistik im dt. Zeitschrift deutlich wird. In seinen pro- Südwesten zum Ersten Weltkrieg v. Alfred Döblin grammat. Artikeln diagnostiziert T. einen u. seinen Zeitgenossen. Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Saarbrücken 2009. Hg. Ralf Georg »religiös-sittlichen und geistig-kulturellen Bogner. Bern u. a. 2010, S. 77–98. Bankrott unserer Zeit und Gesellschaft« u. Christian Schwarz / Bernhard Walcher feiert den Krieg als Möglichkeit der deutschnationalen u. christl. Erneuerung. Für den gemeinsamen Gesang der Soldaten Thümmel, Moritz August von, * 27.5. im Felde war T.s Zusammenstellung älterer 1738 Schönefeld bei Leipzig, † 26.10.1817 Liedtexte u. eigener Dichtungen mit MeloCoburg; Grabstätte: Coburg-Neuses. – dieangaben u. Noten bestimmt (Geistliche Erzähler u. Lyriker. Kriegslieder. Trier 1915). Persönliche Verluste – 1915 fielen zwei seiner Brüder – u. die Nach dem Unterricht bei einem Hofmeister Frage nach dem Sinn der Kriegsopfer stehen besuchte T. seit 1754 die Klosterschule Roßim Mittelpunkt der Lyriksammlung In me- leben u. bezog 1756 die Universität Leipzig, moriam. Toten-Gedächtnislieder (Lpz. 1922. um Jura zu studieren. Seine Vorliebe galt jeBonn 21931), die zu den Gottliedern eines doch den schönen Wissenschaften. Er gewann Gläubigen (Mergentheim a. d. T. 1922. Lpz. Gellert als Ratgeber u. Christian Felix Weisse 3 als Freund. 1761 wurde er am Hof von Co1923) überleiteten. Nach dem Krieg war T. für den 1919 ge- burg-Saalfeld Kammerjunker, 1763 Hofrat, gründeten »Friedensbund Deutscher Katho- 1764 Geheimer Hofrat. Seit 1768 hatte er Sitz liken« tätig, gründete 1921 die pazifistische u. Stimme im Geheimen Ratskollegium. T. Zeitschrift »Vom frohen Leben«, trat als Bei- galt als der Mittelpunkt des Coburger Hofs. träger für Max Josef Metzgers seit 1924 er- 1772 bereiste er die Niederlande u. Frankscheinende Zeitschrift »Deutsche Friedens- reich; seine zweite große Reise (1774–1777) warte« in Erscheinung u. wurde somit zur führte über Amsterdam nach Südfrankreich Schlüsselfigur der kath. Friedensbewegung u. Italien. Nach dem Tod des Leipziger Juin der Weimarer Republik. Als Hausgeistli- risten Balz (1776) erhielt T. als dessen Unicher in einem Kinderheim siedelte T. 1934 versalerbe 24.000 Reichstaler. 1782 wurde er

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der Unzuverlässigkeit im Amt bezichtigt; am 8.2.1783 genehmigte der Herzog T.s Entlassungsgesuch. Danach lebte er auf seinem Gut Sonneborn u. in Gotha als Privatmann, verkehrte aber nach wie vor an den thüring. Höfen – nicht selten in Weimar. 1803 u. 1805 reiste er noch einmal nach Paris u. in die Niederlande, 1807 nach Berlin. Der junge T. schrieb Versepisteln, Gelegenheitsgedichte u. Epigramme. Für Weisses »Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste« verfasste er einige Rezensionen. Seine Epigramme, die er in Almanachen u. Zeitschriften drucken ließ, trugen ihm allseits Bewunderung ein. Als in den 1770er Jahren das Singspiel modisch war, schrieb er den Guckkasten, der allerdings vor den krit. Augen der Freunde nicht bestehen konnte. Vier Arien sind davon übriggeblieben, darunter das Lied eines Vogelstellers, das häufig vertont u. in Anthologien aufgenommen wurde. Den Lesern des späten 18. Jh. galt T. als Nachahmer Wielands. In der Tat folgte er dem berühmten Autor in der Wahl der Gattung (Verserzählung) u. im Stil. Die Inoculation der Liebe (Lpz. 1771) dient der scherzhaften Unterhaltung mit erot. Pointe. 1809 wird wohl die Verserzählung Das Erdbeben von Messina entstanden sein, die 1818 postum unter dem falschen Titel Der heilige Kilian und das Liebespaar (Lpz.) veröffentlicht wurde. Marmontels Text zur Oper Zemire et Azor (1771) übersetzte T. zwischen 1772 u. 1774 (ersch. Ffm./Lpz. 1776). T. begründete seinen schriftstellerischen Ruhm mit dem komischen Epos Wilhelmine (Lpz. 1764). Das Urteil der Kritiker war durchweg positiv. Erzählt wird von der Liebe eines Dorfpfarrers u. Magisters zu Wilhelmine, einer Dorfschönen, die einige Jahre als Kammermädchen am nahegelegenen Hof verbringt. Schließlich kann er sie heiraten. Die sechs Gesänge lassen das histor. Kolorit der 60er Jahre des 18. Jh. erkennen. Die Absicht, satirisch fürstl. Willkür u. Sittenlosigkeit anzugreifen, wurde verstanden. Der Verzicht auf das Hofamt ermöglichte es T., seine Tagebücher vorzunehmen u. einen umfangreichen Reiseroman zu schreiben, den er 1788 begann: Reise in die mittäglichen Pro-

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vinzen von Frankreich im Jahre 1785–1786 (10 Tle., Lpz. 1791–1805). Wilhelm, ein 38-jähriger Kammerherr aus Berlin, ist in Preußen begütert u. hat in Leyden Jura studiert u. den Magistertitel erworben. Durch ein ungesundes Gelehrtenleben hat er sich die Modekrankheit des 18. Jh., die Hypochondrie, zugezogen. Sein Freund Eduard empfiehlt ihm zur Wiederherstellung seiner Gesundheit eine Reise nach Frankreich. Für ihn führt Wilhelm das Tagebuch. T. wollte keinen Roman nach Sternes oft nachgeahmter Sentimental Journey oder Chapelle-Bachaumonts Voyage schreiben. Die Fiktion des Tagebuchs eines Hypochonders ermöglicht Mitteilung u. iron. Selbstanalyse. Ironie korrigiert auch die ständigen Irrwege des Reisenden. Das Scherz-Prinzip des Rokoko u. eine nach 1800 intensiver werdende Empfindsamkeit bestimmen die von den Zeitgenossen viel gelobte Prosa. Sie enthält eine Fülle von Anspielungen, Zitaten u. Noten, eine meist humoristische Metaphorik, Pantomimik u. Allegorien. So wird der Epilog von einer »ländlichen Muse«, einer holländ. Blumenhändlerin u. Improvisatorin namens Emilie (!), gesprochen: Allegorie einer natürl. Dichtkunst. Die Verspartien, die in den Teilen, in welchen der typische »Reisestil« herrscht, häufiger vorkommen als in den szenisch erzählten Partien (Avignon, Sonnenthal), sind dem europ. Rokoko verpflichtet. Der Reisende, der vor Rückfällen in die Hypochondrie nicht gefeit ist, bekennt sich zum Epikureismus u. zum lukrezischen Naturgesetz des Zufalls, der auch den Romanverlauf lenkt. Für Jean Paul, die Brüder Schlegel, Tieck u. Eichendorff war die Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich – auch dank ihrer Vers-Prosa-Mischung – ein »classisches Buch«. Weitere Werke: Werkausgaben: Sämmtl. Werke. Bde. 1–6, Lpz. 1811/12. Bd. 7: Leben M. A. v. T.s. Von Johann Ernst v. Gruner. Ebd. 1819. – Sämmtl. Werke. 6 Bde., ebd. 1820. – Sämmtl. Werke. 6 Bde., ebd. 1832. – Sämmtl. Werke. Stereotyp-Ausg. 8 Bde., ebd. 1839. Neuaufl.n 1853/54 u. 1856. – Werke. 4 Bde., Stgt. 1880. – Editionen einzelner Werke: Wilhelmine (Abdr. der ersten Ausg. 1764). Hg. Richard Rosenbaum. Ebd. 1894. – Wilhelmine. Mit Erläuterungen u. einem Nachw. hg. v. Alfred

Thürer Anger. Ebd. 1964. – Reise in die mittägl. Provinzen v. Frankreich. Mit einem Nachw. hg. v. Irene Ruttmann. Bonn 1990 (Ausw.). Literatur: Peter Michelsen: Laurence Sterne u. der dt. Roman des 18. Jh. Gött. 1962. – Horst Heldmann: M. A. v. T. Sein Leben. Sein Werk. Seine Zeit. Tl. 1: 1738–83. Neustadt/Aisch 1964. – John Raymond Russell: M. A. v. T.: A Master of the Rococo. Diss. Princeton 1966. – Gerhard Sauder: Der reisende Epikureer. Studien zu M. A. v. T.s Roman ›Reise in die mittägl. Provinzen v. Frankreich‹. Heidelb. 1968. – Rolf Allerdissen: M. A. v. T. In: Dt. Dichter des 18. Jh. Hg. Benno v. Wiese. Bln. 1977, S. 412–428. – Ernest W. B. Hess-Lüttich: Dégradation u. Découverte. Zur Semiotik der Satire in T.s ›Wilhelmine‹. In: Ders.: Kommunikation als ästhet. ›Problem‹. Tüb. 1984, S. 241–270. – Jutta Heinz: Ein Hypochonder auf Reisen: medizin. u. literar. Therapien gegen die Hypochondrie in T.s ›Reise in die mittägl. Provinzen v. Frankreich‹. In: Faktenglaube u. fiktionales Wissen: zum Verhältnis v. Wiss. u. Kunst in der Moderne. Hg. Daniel Fulda u. Thomas Prüfer. Ffm./Bln. 1996, S. 43–68. – Karin Zimmermann: Der evang. Landprediger. Studien zu seiner Darstellung bei T., Lenz, Goldsmith u. Nicolai. Diss. Marburg 2005, S. 27–83. – Günter Oesterle: Die Attraktivität der Dinge im kom. Epos des Rokoko, insbes. in der ›Wilhelmine‹ v. M. A. v. T. In: Aufklärung. Stationen – Konflikte – Prozesse. Festg. für Jörn Garber. Hg. Ulrich Kronauer u. Wilhelm Kühlmann. Eutin 2007, S. 231–246. – Ders.: Die Entstehung literar. Urbanität aus dem fiktiven Reisetagebuch eines Hypochonders. M. A. v. T.s ›Reise in die mittägl. Provinzen v. Frankreich‹. In: Provinz u. Metropole. Zum Verhältnis v. Regionalismus u. Urbanität in der Lit. Hg. Dieter Burdorf u. Stefan Matuschek. Heidelb. 2008, S. 35–47. Gerhard Sauder

Thürer, Georg, * 26.7.1908 Tamins/Kt. Graubünden, † 26.9.2000 Teufen/Kt. Appenzell Ausserrhoden. – Essayist, Lyriker, Dramatiker u. Erzähler. Der Pfarrerssohn wuchs in Tamins u. im glarnerischen Netstal auf. Nach der Lehrerausbildung in Kreuzlingen studierte er Geschichte, Germanistik u. Romanistik in Zürich (Dr. phil. 1932). Zunächst an der Mittelschulstufe u. ab 1940 als Professor für dt. Sprache u. Literatur sowie Schweizer Geschichte an der St. Galler Wirtschaftshochschule, entfaltete T. eine viel beachtete Tätigkeit, die über die Universität hinaus Im-

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pulse im Sinne eines den kulturellen Traditionen verpflichteten, betont schweizerischen, aber niemals engstirnigen Humanismus vermittelte. Ein frühes charakterist. Beispiel für diese Haltung ist die glarnerdt. Rede Im Name vum Härrgott, die in der zusammen mit Karl Barth u. Emil Brunner publizierten u. von der schweizerischen Zensur als deutschfeindlich verbotenen Broschüre Im Namen Gottes des Allmächtigen (Zürich 1941) enthalten ist. T.s Lebenswerk als Historiker ist die 1650-seitige zweibändige St. Galler Geschichte (St. Gallen 1953. 1972). In seinen eigentlich literar. Werken ist T., der auch Prosa (Tobel und Brücke. Ebd. 1956) u. Dramatik (Beresina. Glarus 1939; Mundartschausp.) schrieb, v. a. Lyriker. Seinen farbigen, bilderreichen Gedichten in Glarner Mundart, wie sie in Vrinelis Gärtli (ebd. 1946) u. Froh und fry (Basel 1985) gesammelt sind, standen von Anfang an auch formvollendete hochdt. Verse gegenüber (Mein blauer Kalender. Zürich 1941), denn seiner Meinung nach gibt es für den Schweizer keine Wahl zwischen Dialekt u. Hochsprache: »Wir brauchen beide, sonst wären wir wie Einarmige« (in: Wesen und Würde der Mundart. Ebd. 1944). In seinen Eidgenössischen Erinnerungen (St. Gallen 1989) hat T. seinen Lebensweg beschrieben. Weiteres Werk: Gemeinschaft im Staatsleben der Schweiz. Grundrisse, Betrachtungen, Mahnworte aus sieben Jahrzehnten. Gesammelt zum 90. Geburtstag des Autors. Bern u. a. 1998. Literatur: Felix Philipp Ingold (Hg.): Zwischen den Kulturen. Festg. G. T. zum 70. Geburtstag. Bern 1978. – Emil Egli (Hg.): Der Erker. FS zum 70. Geburtstag v. G. T. Frauenfeld 1978. – Hermann Wahlen: G. T., Mahner, Historiker, Dichter. Rorschach 1983. Charles Linsmayer

Thüring von Ringoltingen, Bern, * um 1410, † 1483 (?). – Verfasser des deutschen Prosaromans Melusine. T. entstammte einem durch Handel reich gewordenen, ins Patriziat aufgestiegenen Geschlecht (doch mit ihm erlosch es in Manneslinie); er war wie sein Vater mehrfach Schultheiß. Als Kirchenpfleger hatte er zeitweise eine Schlüsselstellung für Organisation u. mäzenatisch-künstlerische Gestaltung des

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Münsterbaus inne. Er schloss am 29.1.1456, am Beginn seiner Ämterlaufbahn stehend, die Prosaübersetzung des frz. Versromans Mélusine ou l’histoire de Lusignan des Coudrette ab u. widmete sie Rudolf von Hochberg, dem künftigen Grafen von Neuchâtel, einem polit. Partner der Stadt. Der Roman schildert die Verbindung der wegen eines mütterl. Fluches jeden Samstag in ein schlangenähnl. Mischwesen verwandelten Fee Melusine u. Raymonds, eines nachgebornen Sohnes des unbegüterten Grafen vom Forst. Raymond erfährt erst ganz am Ende der Geschichte vom Fluch; die Verbindung mit der schönen Melusine bildet für ihn den Beginn des sozialen Aufstiegs. Bedingung ist, dass er samstags seine Frau allein lässt u. ihr nicht nachspioniert. Dem Paar werden zehn Söhne geboren, dazwischen besetzt Melusine dank reger Bautätigkeit ihr Territorium mit Burgen, Kirchen u. Klöstern. Nach Jahren (einige der Söhne haben sich bereits in der Fremde durch Kriegstaten Frau u. Herrschaft erkämpft) lässt sich Raymond zum Tabubruch anstiften; dieser bleibt, obwohl von Melusine bemerkt, freilich noch folgenlos. Erst als Raymond sie in einem Zornesausbruch vor dem Hof beschimpft, muss sie ihn als Zwitterwesen durch das Fenster fliegend verlassen, nunmehr ohne Aussicht, als normale Frau mit einer Seele begabt sterben zu können. Bis ans Zeitenende kündet ihr Erscheinen über Lusignan Todesfälle an. Der Schluss des Romans schildert die weiteren Geschicke der nächsten Generation, darunter die Entdeckung der bislang verborgenen Vorgeschichte durch den Sohn Geffroy. Der vorerst in 17 Handschriften (zwei illustriert) u. elf Inkunabeln (alle mit Holzschnitten) überlieferte Roman erreichte, ablesbar an wenigstens 40 nachweisbaren Drucken aus dem 16.-18. Jh., eine große Beliebtheit u. vermittelte den Stoff an produktive Rezipienten (u. a. Sachs, Ayrer); Paracelsus erörterte den Fall in seinem Traktat über die Elementargeister (1566). Um 1800 als sog. Volksbuch »wiederentdeckt«, wurde der Roman seither Grundlage für zahlreiche Neugestaltungen des Stoffs in Literatur, Malerei, Musik. – Bei Coudrette war um 1400 der auf einer seit dem 12. Jh. nachgewiesenen, zu-

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nächst nicht mit Melusine u. dem Poitou verbundenen Feengeschichte basierende Versroman Auftragswerk zum Ruhm der Grafen von Parthenay, die sich auf Melusine als Stammmutter zurückführten. T. übersetzte ohne Auftrag, als Verfasser eines Romans stand er unter seinen bernischen Standesgenossen als Außenseiter da; zudem ist sein (einziges) Werk, abgesehen vom Stofflichen, kaum an einer bewusst übernommenen literar. Tradition festzumachen. Er versteht sich im Vorwort bei der »Substanz der Materie« als Übersetzer, behält sich aber gestalterische Freiheit in Sachen »Sinn der Materie« vor, räumt auch den Lesern die Möglichkeit zur Korrektur von Fehlern ein. T.s Interessen setzten wohl an Momenten des Inhalts an: der Faszination für eine hybride Frauenfigur, die als reales »Wunder Gottes« gedacht ist, sodann für die Geschicke u. Taten eines genealogisch u. geografisch weit ausgreifenden Geschlechts; dabei reflektiert der von T. prägnant gestaltete Erzähler über die Schattenseiten adliger Existenz, die Gewalttaten u. Unglücksfälle in der Familiengeschichte. Die durch T. von Coudrette übernommene analept. Struktur – Umstellung im linearen Handlungsverlauf über drei Generationen hin durch Nachtrag der Vorgeschichte – ist für die Darstellung von Verhängnis, Providenz u. planendem Handeln essentiell. Zahlreiche Interventionen des thüringschen Erzählers akzentuieren dieses Moment noch zusätzlich. Wegen dieser Wechselfälle im Erzählten u. im Erzählvorgang sperrt sich der Roman freilich einer Harmonisierung etwa im Sinne einer generationenweise fortlaufenden Domestizierung durch die Religion oder einen Prozess der Zivilisation. Ausgaben: Melusine. Nach den Hss. kritisch hg. v. Karin Schneider. Bln. 1958. – Melusine. In der Fassung des Buchs der Liebe (1587) hg. v. HansGert Roloff. Stgt. 1969 u.ö. – Melusine. In: Romane des 15. und 16. Jh. Hg. Jan-Dirk Müller. Ffm. 1990, S. 9–176, 1012–1087 (Kommentar). – Melusine. Hg. André Schnyder. 2 Bde., Wiesb. 2006 (Text des Erstdrucks, Übers., Stellenkomm., Beiträge zu Autor, Drucküberlieferung, Sprache, literar. Profil). – Coudrette: Le Roman de Mélusine ou Histoire de Lusignan. Hg. Eleanor Roach. Paris 1982 (nur Ori-

Thüringen, Heilige Elisabeth von ginaltext; neufrz. Übers. v. Laurence Harf-Lancner. Paris 1993 u.ö.). Literatur: J.-D. Müller: T. v. R. In: VL. – Ältere Lit. bis 2005 bei Schnyder (vgl. Ausgaben), Bd. 2, S. 149–152. – Umarmung u. Wellenspiel. Variationen über die Wasserfrau. Hg. Jost Eickmeyer u. Sebastian Soppa. Overath/Witten 2006. – Claudia Steinkämper: Melusine – vom Schlangenweib zur ›Beauté mit dem Fischschwanz‹. Gött. 2007. – 550 Jahre dt. Melusine – Coudrette u. T. v. R. Hg. André Schnyder u. Jean-Claude Mühlethaler. Bern 2008 (Tagungsbd.). – A. Schnyder: Ein Volksbuch machen. Zur Rezeption des Melusine-Romans bei Gustav Schwab u. Gotthard Oswald Marbach. In: Euph. 103 (2009), S. 1–42. – Eulenspiegel trifft Melusine. Hg. Catherine Drittenbass u. A. Schnyder. Amsterd. 2010 (Tagungsbd.). – C. Drittenbass: Aspekte des Erzählens in der Melusine T.s v. R. Phil. Diss. Université de Lausanne 2010 (im Druck). André Schnyder

Thüringen, Heilige Elisabeth von, * 1207 Ungarn, † 16./17.11.1231 Marburg/Lahn; Heiligsprechung Pfingsten 1235. – Ehefrau Landgraf Ludwigs IV., des Heiligen, von Thüringen; Gegenstand zahlreicher Viten, Legenden, Chroniken, Predigten, Statuen, Bilder etc. Im Zuge einer Fürstenkoalition gegen Kaiser Otto IV. wurde die ungarische Königstochter E. mit einem thüring. Landgrafen verlobt u. kam 1211 im Alter von vier Jahren nach Thüringen, wo sie 1221 den ältesten Landgrafensohn Ludwig heiratete. In schneller Folge wurden drei Kinder geboren: Hermann († 1241), Sophie († 1284) u. Gertrud († 1297). Gemeinsam mit ihrem ebenfalls den geistl. Strömungen der Zeit zugetanen Ehemann kümmerte sie sich um Kranke u. Arme. Bes. Verdienste erwarb sie sich bei der großen Hungersnot 1226. Unter dem Einfluss ihres Beichtvaters Konrad von Marburg wandte sie sich zunehmend von der Welt ab u. den mit ungeheurer Wirkung das ganze Abendland verändernden Armutsbewegungen zu. Ihr Mann nahm gleichzeitig das Kreuz. Als Ludwig am 11.9.1227 auf dem Weg ins Hl. Land in Otranto starb, versuchte die landgräfl. Familie die für sie bedrohlich wirkende Mildtätigkeit E.s zu stoppen. Sie entzog ihr noch im Winter 1227/28 die Wittumsgüter u. ver-

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trieb sie mit ihren Kindern von der Wartburg. In der späteren Legendentradition spielen die Umstände dieser Vertreibung eine wichtige Rolle. Mit Unterstützung ihres Beichtvaters Konrad gelang es E., von der Familie eine erhebl. Entschädigung für das entgangene Erbe zu erstreiten. Mit dem Geld gründete sie in Marburg ein bald berühmtes Hospital. Im Winter 1228 trat sie als »soror in seculo« in den geistl. Stand ein, d.h. ohne direkte Einbindung in einen geistl. Orden. Durch ihre Mildtätigkeit u. ihr entbehrungsreiches Leben stand E. bald im Geruch der Heiligkeit. Nach nur dreijährigem Wirken starb sie im Winter 1231 in Marburg, wo sie am 19.11. (ihrem künftigen Festtag) in der Kapelle ihres Hospitals bestattet wurde. Unmittelbar nach ihrem Tod strömten die ersten Pilger an ihr wundertätiges Grab. Das von ihrem Beichtvater Konrad betriebene Heiligsprechungsverfahren, das schon im Frühjahr 1232 bei der Kurie mit der Überreichung des Libellus de dictis quatuor ancillarum s. Elisabeth confectus eingeleitet worden war, geriet allerdings ins Stocken. Erst die im Sommer/Herbst 1234 erfolgte Übernahme des Marburger Hospitals in die Obhut des mächtigen Deutschen Ordens sowie intensive Bemühungen der jetzt die Dimensionen der Verehrung für sich selbst nutzenden Landgrafen von Thüringen führten am 27.5.1235 (Pfingsten) zur Heiligsprechung durch Papst Gregor IX. Am 1.5.1236 folgte in Marburg die feierl. Erhebung ihrer Gebeine im Beisein Kaisers Friedrichs II. Um die neue Heilige etablierte sich in unglaubl. Geschwindigkeit ein grenzenloser Kult, wobei die von ihrer Familie verstoßene E. längst auch für das thüring. Landgrafenhaus zu einer zentralen Kultfigur geworden war. Ende des 13. Jh. zählte die E.-Verehrung bereits zu den verbreitetsten Heiligenkulten Mitteleuropas. Literarische Grundlage waren zunächst die Zeugenaussagen, Protokolle, Wunderberichte u. Viten aus dem direkten Umfeld der Heiligsprechung sowie bald auch die E.-Viten des Caesarius von Heisterbach (1237) u. zweier im Umkreis Kaisers Friedrichs II. u. der Kurie (vor 1240) arbeitender Autoren. Kaum später entstanden erste volkssprachige

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Bearbeitungen wie die 1255/71 von Rutebeuf verfasste altfrz. Verslegende Vie Sainte Élysabel. Das spätmittelalterl. Bild der Heiligen wurde dann wesentlich von der um 1289 begonnenen u. 1294 vollendeten lat. Vita S. Elisabeth des Erfurter Dominikaners Dietrich von Apolda geprägt. Er hatte den zur Heiligsprechung angelegten Libellus, die Summa vitae des Konrad von Marburg, die Wunderberichte u. die Gesta Ludowici des Kaplans Berthold zu einem rhetorisch anspruchsvollen »Prosakunstwerk« vereinigt. Die Wirkung war überragend. Unzählige lat. sowie bald auch dt. u. frz. Kopisten, Bearbeiter u. Übersetzer griffen in den folgenden Jahrhunderten immer wieder auf Dietrichs Vita, aber auch auf seine Quellen u. die anderen E.-Viten zurück. Aus der langen Reihe dt. Bearbeitungen seien nur das zwischen 1297 u. 1320 in Hessen vollendete Leben der heiligen Elisabeth, eine um 1400 am unteren Niederrhein entstandene reich überlieferte Prosaübersetzung (22 Hss.), mehrere niederdt., oberdt. u. mitteldt. Bearbeitungen (14./15. Jh.) u. der 1520 bei Matthäus Maler in Erfurt aufgelegte Druck Cronica sant Elisabet zcu Deutsch hervorgehoben. Das Wissen um E. verselbständigte sich allerdings schnell. So fand sie unmittelbar nach ihrem Tod Eingang in die zeitgenöss. Chroniken. Noch umfassender ist ihre Präsenz in den Legendensammlungen. Die E.-Legenden u. -Viten wurden zum festen Bestandteil nahezu sämtlicher lat. u. volkssprachiger Legendensammlungen. Entsprechende E.-Passagen stehen z.B. in der Legenda Aurea des Jacobus a Voragine (vor 1267), der Elsässischen Legenda Aurea (14. Jh.), dem Passional (vor 1300), der Legendensammlung des Hermann von Fritzlar (1343–49) u. Der Heiligen Leben (nach 1384). Auch in der Plastik u. der Malerei gehörten E. sowie einzelne Episoden u. Wunder aus ihrem Leben schon im 13. Jh. zu einem der europaweit präsenten ikonograf. Standardmuster: Eine ausdruckstarke Statue wurde um 1240 für den Naumburger Dom geschaffen. Von überragender Strahlkraft waren der Marburger E.-Schrein u. die Ausstattung der bald zu einem Wallfahrtsort erster Kategorie aufgestiegenen E.-Kirche ebenda. E.Gemälde, E.-Fresken, E.-Glasfenster, E.-Tep-

Thüringen, Heilige Elisabeth von

piche u. E.-Statuen schmückten bald sakrale wie profane Bauten in ganz Europa. Bemerkenswert ist, dass die hochadlige E. von Beginn an auch als Volksheilige wahrgenommen wurde. In das Umfeld einer solchen volkstüml. E.-Verehrung gehören viele Bildwerke u. Gebete, aber auch literar. Zeugnisse wie die vielleicht noch in der ersten Hälfte des 13. Jh. entstandene Ballade von Elisabeth von Thüringen u. das um 1420 für die thüring. Landgräfin gereimte Elisabethleben des Eisenacher Chronisten Johannes Rothe. Ebenfalls schon ganz früh wurden die Berichte um E. mit den sich um ihren Mann, den Hl. Landgraf Ludwig IV. von Thüringen, rankenden Legenden u. Berichten verwoben. Das prominenteste Beispiel ist der Wartburgkrieg (um 1260). Große Popularität erlangten aber auch die dt. Ludwigslegende des Friedrich Köditz, die er 1404 im Auftrag des 16. Abts von Reinhardsbrunn anfertigte, u. die in der Cronica Reinhardsbrunnensis weitertradierten Reste einer sonst verlorenen lat. Vita Ludowici. In der thüring. Chronistik des 15./16. Jh. fließen schließlich alle Berichte, Legenden u. Wunderberichte inklusive des Wartburgkriegs zu einer umfassenden Geschichte des Hl. Ehepaars zusammen. Obwohl die E.-Verehrung in der dann protestantischen Landgrafschaft Hessen abbrach (1539 Entfernung der E.-Reliquien aus dem Schrein in der Marburger E.-Kirche), konnte sie nicht nur in den kath. Ländern über die Reformation hinaus ihren Status als herausragende Wohltäterin u. Heilige bewahren, sondern war auch Gegenstand ritueller Verehrung sowie von Literatur u. bildender Kunst . Die Zahl entsprechender Gebete, Texte u. Bildzeugnisse ist bis heute Legion. Weltberühmt sind z.B. Moritz von Schwinds E.-Fresken auf der Wartburg. Ausgaben: Lateinische Texte: Albert Huyskens: Des Cäsarius v. Heisterbach Schr.en über die hl. E. v. T. In: Annalen des Histor. Vereins für den Niederrhein 86 (1908), S. 1–59. – Epistola magistri Cunradi de Marburch ad papam de vita beatae E. (Summa vitae). In: Quellenstudien zur Gesch. der hl. E., Landgräfin v. Thüringen. Hg. ders. Marburg 1908, S. 155–160. – Der sog. Libellus de dictis quatuor ancillarum S. E. confectus. Hg. ders. Kempten/Mchn. 1911. – Sermo de translatio sancte

Thüringische Weltchronik E. In: Wundergesch.n des Caesarius v. Heisterbach. Hg. Alfons Hilka. Bonn 1937, S. 381–390. – Die Vita der hl. E. des Dietrich v. Apolda. Hg. Monika Rener. Marburg 1993. – Dietrich v. Apolda. Das Leben der hl. E. Hg. u. übers. v. dems. Marburg 2007. – Caesarius v. Heisterbach: Das Leben der Hl. E. Ergänzt durch: Summa Vitae Konrads v. Marburg. Hg. u. übers. v. Ewald Könsgen. Marburg 2007. – Volkssprachige Texte: Elisabethlegende. In: Das Passional. Eine Legenden-Slg. des 13. Jh. Hg. F. Karl Köpke. Quedlinburg/Lpz. 1852. Nachdr. Amsterd. 1966, S. 618–629. – Das Leben der hl. E. vom Verfasser der Erlösung. Hg. Max Rieger. Stgt. 1968. – Rutebeuf: La Vie de Sainte É. In: Rutebeuf. Œuvres complètes. Hg. Michel Zink. Bd. 2, Paris 1990, S. 115–225. – Elisabethlegende. In: Der Heiligen Leben. Hg. Margit Brand u. a. Bd. 2: Winterteil. Tüb. 2004, S. 154–178. – Johannes Rothes Elisabethlegende. Hg. Martin Schubert u. Annegret Haase. Bln. 2007. Literatur: Sankt E. Fürstin – Dienerin – Heilige. Aufsätze, Dokumentation, Kat. Sigmaringen 1981. – Udo Arnold u. Heinz Liebing (Hg.): 700 Jahre E.-Kirche in Marburg – E., der Deutsche Orden u. ihre Kirche. Marburg 1983 (darin bes.: Helmut Lomnitzer: Die hl. E. in dt. Prosalegendaren des ausgehenden MA, S. 52–77). – H. Lomnitzer: Dietrich v. Apolda. In: VL (Lit.). – Ders.: E. v. T. (Ballade). In: VL (Lit.). – Ders.: Köditz, Friedrich. In: VL (Lit.). – Matthias Werner: Konrad v. Marburg. In: VL (Lit.). – Ludwig Wolff u. H. Lomnitzer: Das Leben der hl. E. (mhd. Verslegende). In: VL (Lit.). – M. Werner u. Susanne Stolz: E. v. T. In: LexMA 3 (Lit.). – Volker Honemann: Rothe, Johannes. In: VL (Lit.). – Dieter Blume u. M. Werner (Hg.): E. v. T. – eine europ. Heilige. Petersberg 2007 (darin bes.: Ingrid Würth: Die Aussagen der vier Dienerinnen im Kanonisationsprozess, S. 187–192; V. Honemann: Die Vita S. E. des Dietrich v. Apolda u. die dt. E.-Leben des MA, S. 421–430; Enno Bünz: Kgl. Heilige – Hospitalheilige – ›mater pauperum‹, S. 431–445). – Christa Bertelsmeier-Kierst (Hg.): E. v. T. u. die neue Frömmigkeit in Europa. Ffm. u. a. 2008 (darin bes.: Lothar Vogel: Der Libellus der vier Dienerinnen, S. 171–194; Barbara Fleith u. Martina Backes: Eine Heilige für alle? Zur Funktion v. E.-legenden in Text u. Bild im französischsprachigen Raum, S. 251–274; Martin Schubert: Das Leben der hl. E. im Spiegel der dt. Lit. des MA, S. 275–295; Klaus Kipf: E. v. T. u. die dt. Humanisten, S. 313–336). Jürgen Wolf

Thüringische Weltchronik ! Christeherre-Chronik

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Thüringisches Zehnjungfrauenspiel, auch: Eisenacher Zehnjungfrauenspiel, zweite Hälfte 14. Jh. bzw. 1428 aufgezeichnet. – Mittelalterliches geistliches Spiel. Das T. Z., eine der seltenen dramat. Bearbeitungen einer neutestamentl. Parabel im dt. MA, ist in zwei voneinander abweichenden Fassungen überliefert, die jedoch auf eine (verlorene) gemeinsame Vorlage zurückgehen. Der ältere Text A (577 Verse; zweite Hälfte des 14. Jh.) findet sich in der gleichen Sammelhandschrift, die auch das Mühlhäuser Katharinenspiel enthält, u. ist sprachlich dem Thüringischen zuzuordnen. Der jüngere Text B (687 Verse) wurde 1428 zusammen mit dem oberhess. Leben der hl. Elisabeth ebenfalls in einer Sammelhandschrift aufgezeichnet; sprachliche Kriterien verweisen auf eine oberhess. (Beckers) oder rheinfränk. (Bergmann) Bearbeitung einer thüring. Vorlage. Beide Handschriften dienten allerdings nicht unmittelbaren Aufführungs-, sondern Lesezwecken. Verschiedene archival. bzw. chronikal. Zeugnisse belegen jedoch, dass bis ins 16. Jh. im dt. Sprachgebiet verschiedentlich (u. a. in Eger, Frankfurt/M., Köslin, München, Preßburg) Zehnjungfrauenspiele aufgeführt worden sind (Neumann 1987, Reg.). Ob es sich dabei, wie v. a. im Zusammenhang mit einer Nachricht von einer Aufführung in Eisenach 1321 immer wieder behauptet wurde, um einen der vorliegenden Spieltexte handelte, wird wohl nicht mehr zu klären sein. Die Zehnjungfrauenspiele verkörpern im MA neben Antichrist- u. Weltgerichtsspielen einen dritten Typus eschatolog. Spiele, dessen Thema – unter anderem unter Rückgriff auf Mt 25,1–13 – die symbolisch-gleichnishafte Behandlung der individuellen Eschatologie war. Am Beispiel der fünf klugen u. der fünf törichten Jungfrauen wurde vorgeführt, in welchem Maß das Seelenheil des Einzelnen davon abhängt, ob er sich rechtzeitig um ein gottgefälliges Leben bemüht. Die mit Tanz, Brettspiel u. anderen weltl. Vergnügungen beschäftigten törichten Jungfrauen, die, statt gute Werke zu tun, sich ganz auf die Fürbitte Marias u. Gottes Barmherzigkeit selbst im

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Thürk

Falle des »zu spät« verlassen, werden trotz im Zeugnis der Zeit. 2 Bde., Mchn. 1987. – Renate flehentl. Bitten der Gottesmutter auf ewig Amstutz: Zum musikal. Vortrag der Schlußstroverdammt u. den Teufeln ausgeliefert, wäh- phen des T. Z. In: Mittelalterl. Schauspiel. Hg. rend die klugen, die sich rechtzeitig vorbe- Ulrich Mehler u. Antonius Touber. Amsterd. 1994, S. 1–47. – Hansjürgen Linke: Thüringische Zehnreitet u. sich ihr Leben lang an die Vorjungfrauenspiele. In: VL. – R. Amstutz: Ludus de schriften des Herrn gehalten haben, von decem virginibus. Toronto 2002. Christus in Gnaden aufgenommen u. von Bernd Neumann / Christoph Fasbender Maria gekrönt werden. Die Überlieferungsträger bezeugen unterThürk, Harry, eigentl.: Lothar Rudolf schiedl. Traditionen. Der Text von A enthält Thürk, * 8.3.1927 Zülz/Oberschlesien eine Vielzahl lat. liturg. Gesänge, auch die (heute: Bial/a), † 24.11.2005 Weimar. – Regieanweisungen sind (im Gegensatz zu B) Autor von Reportagen, Dreh-, Sach- u. ausnahmslos lateinisch. Die Gesänge lassen Abenteuerbüchern. sich dem für Erfurt verbindl. Mainzer Ritus zuordnen u. auf dessen Grundlage in Text u. Mit 60 Titeln in einer Auflage von 9 MillioMelodie rekonstruieren (Amstutz). Zusam- nen Exemplaren gehörte T. zu den meistgemengenommen ergeben sie ein in sich ge- lesenen Schriftstellern der DDR. Er besuchte schlossenes liturg. Spiel, das hinter der die Handels- u. Realschule in Neustadt/ überlieferten Fassung A zu vermuten ist u. Schlesien u. absolvierte eine kaufmänn. Ausdas auf eine ursprünglich geistl. Spielleitung bildung. 1944/45 nahm er als Fallschirmdeutet. Im Gegensatz zur Fassung A, die mit springer am Zweiten Weltkrieg teil u. vier lat. Responsorien einsetzt, steht am An- kämpfte an der Ostfront. Nach kurzer Gefang von B ein episch gehaltener Hinweis auf fangenschaft war T. als FDJ-Funktionär, den hl. Augustinus nebst vier dt. Spielversen, Bildreporter u. Journalist tätig. Zwischen die keiner bestimmten Person zugeordnet 1956 u. 1958 arbeitete er als Redakteur in sind – vielleicht verderbtes Relikt einer Ver- Peking. Bis 1980 führten T. immer wieder sion, in der ihm die Rolle des spieleröffnen- Reisen nach Ostasien, was sich in der Stoffden Proclamators zukam. Auch verschiedene wahl vieler seiner Romane niederschlug (u. a. pantomimisch vorgeführte Handlungsteile Pearl Harbor. Die Geschichte eines Überfalls. Bln./ 11 fehlen in B. Dagegen hat B den Spieltext er- DDR 1965. 1993. Singapore. Der Fall einer 7 heblich erweitert, wobei die Zusätze v. a. die Bastion. Bln./DDR 1970. 1993). Den VietReden der törichten Jungfrauen betreffen. namkrieg begleitete er zeitweise vor Ort als Die Handlung gipfelt in einer großen Klage Reporter für verschiedene DDR-Medien. In der von Gott verworfenen törichten Jung- dem Roman Dien Bien Phu (Bln./DDR 1988. 3 1994. Neuausg. Halle/Saale 2011) schildert frauen in elf bzw. zwölf (rezitativisch erweiterten) Nibelungenstrophen (Amstutz). Über T. mit dokumentarischen Mitteln die EinA hinausgehend beschließt B das Spiel zudem nahme der frz. Dschungelfestung durch die mit einem zehnzeiligen (in allen bisherigen Vietminh, die 1953 das Ende des ersten InEditionen fehlenden) Gebet, in dem Maria, dochinakriegs herbeiführte. Sein Romandebüt gab T. 1956 mit seinem Gottvater, Sohn u. Hl. Geist mit der Bitte angerufen werden, den Menschen vor dem »Produktionsroman« Die Herren des Salzes furchtbaren Schicksal der törichten Jung- (Weimar). Die erste Auflage seines autobiogr. frauen zu bewahren u. ihn mit den klugen ins Kriegsromans Die Stunde der toten Augen (Bln./ DDR) wurde unmittelbar nach Erscheinen im Paradies aufzunehmen. Ausgaben: Das Spiel v. den zehn Jungfrauen u. Herbst 1957 auf einer Konferenz des DDRdas Katharinensp. Hg. Otto Beckers. Breslau 1905. Schriftstellerverbands wegen ihrer an Nor– Das Eisenacher Zehnjungfrauensp. Hg. Karin man Mailer angelehnten ›harten Schreibweise‹ scharf kritisiert. In T.s Entscheidung für Schneider. Bln. 1964. Literatur: Rolf Bergmann: Kat. der deutsch- eine Erzählperspektive aus der Sicht von Ansprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. gehörigen einer Fallschirmspringereinheit, Mchn. 1986. – Bernd Neumann: Geistl. Schauspiel deren Überlebende am Ende zwischen dt. u.

Thun-Hohenstein

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sowjetischer Front vernichtet werden, sahen Darstellung von Anhängern, Mitläufern u. Gegetwa Hermann Kant oder Eva Strittmatter nern des Nationalsozialismus in Gert Ledigs ›Vereine Verharmlosung der Wehrmacht u. be- geltung‹, Michael Horbachs ›Die verratenen Söhmängelten das Fehlen eines sozialistischen ne‹, H. T.s ›Die Stunde der toten Augen‹ u. Manfred Gregors ›Die Brücke‹. In: ebd., S. 99–124. Standpunkts. Das Buch wurde eingestampft. Birgit Baum / Thomas Kramer / Jürgen Egyptien 2 11 Spätere Auflagen ( 1958. 1987. Neuausg.n Mchn. 1980. Bln. 1989. Halle/Saale 1994. 8 2006) wurden ein großer Publikumserfolg. Thun-Hohenstein, Paul Graf von, auch: Der Roman wird inzwischen wegen seiner P. T. u. H., * 10.11.1884 Prag, † 13.9.1963 differenzierten Figurengestaltung u. moder- Wien. – Lyriker, Essayist, Übersetzer. nen Erzähltechnik als literar. Leistung aner- Schon während seiner Tätigkeit im diplomakannt. tischen Dienst, die er aufgab, um sich ausSeit den 1960er Jahren folgten Bücher u. schließlich dem Schriftstellerberuf zu widSzenarien für Kino- u. Fernsehfilme im Sinne men, verfasste T. Aphorismen u. formstrenge der SED-Propaganda. 1971–1983 war T. Gedichte; daneben übersetzte er Werke aus Vorsitzender der Bezirksorganisation Erfurt/ dem Französischen u. Italienischen (u. a. Gera des DDR-Schriftstellerverbandes u. Saint-Exupéry, Papini, Manzoni, Tasso). In Mitgl. der SED-Bezirksleitung Erfurt. In dem den Essays beschäftigte er sich v. a. mit österr. Roman Der Gaukler (Bln./DDR. 31985) be- Persönlichkeiten. Hervorzuheben ist sein schrieb T. 1978 den A. Solschenizyn nach- Versuch einer Phänomenologie des Österreiempfundenen Titelhelden als Marionette der chers in Österreichische Lebensform (Brixlegg CIA u. die Bürgerrechtsbewegung der UdSSR [1937]). T., geprägt durch eine katholischals Inszenierung westl. Geheimdienste. Vor konservative Erziehung, die ihn auch zur dem Hintergrund zunehmender Probleme Begrüßung des Ständestaats verleitete, sieht mit krit. Autoren u. Intellektuellen wurde das im Österreicher die Verkörperung des durch in hohen Auflagen vertriebene Buch von Rassenvermischung schöpferischen GeistesKulturfunktionären u. der offiziellen DDR- menschen; durch seine christlich-konservatiKritik begeistert aufgenommen. 1995 trat T. ve Lebenshaltung sei er resistent gegenüber aus dem P.E.N. Deutschland aus. Zeitgeist u. Massenbewegungen – ein trügeWeitere Werke: Treffpunkt Große Freiheit. rischer Irrtum, wie sich nur ein Jahr später Weimar 1954. 31955 (E.en). – Der Narr u. das zeigte. schwarzhaarige Mädchen. Ebd. 1958 (R.). – Das Tal der sieben Monde. Bln./DDR 1960. 41964. Verfilmt 1966. Neuausg. Halle (Saale) 1995 (R.). – Lotos auf brennenden Teichen. Ebd. 1962. 41969. Neuausg. Bln./DDR 1984. 1986 (R.). – Der Tod u. der Regen. Ebd. 1967. 71982 (R.). – Amok. Ebd. 1974. 61989 (R.). – Der schwarze Monsun. Ebd. 1986. 1988. Neuausg. 1996 (R.). – Operation Mekong. Ebd. 1988 (R.). – Die Lagune. Thriller. Halle 1991. 1997. – Dokumentarberichte: Nachts weint die Sampaguita. Bln. 1980. 31989. – Taifun. Aufzeichnungen eines Geheimdienstmannes. 3 Bde., Halle (Saale) 1990. – Der Reis u. das Blut. Kambodscha unter Pol Pot. Bln./DDR 1990.

Weitere Werke: Sonette. Wien 1925. – Gedichte. Linz 1933. – Aphorismen. Graz 1936. – Wege des Lebens. Wien 1946 (Ess.). – Herbstwanderung. Ebd. 1958 (L.). Literatur: Klaus W. Jonas: Rainer Maria Rilke u. P. T.-H. In: Jb. des Wiener Goethe-Vereins 79 (1975), S. 78–99. – Hugo v. Hofmannsthal u. Christane Thun-Salm: Briefw. Mit Briefen v. Hofmannsthal an P. T.-H. Hg. Renate Moering. Ffm. 1999. Gerald Leitner / Red.

Thurneisser, Leonhard, Beiname: zum Thurn, auch: Dornesius, * 1531 (getauft Literatur: Hanjo Hamann u. a. (Hg.): H. T. Sein am 6.8.) Basel, † 8.7.1596 Köln. – FachLeben, seine Bücher, seine Freunde. Halle 2007. – prosaist u. Lehrdichter. Elke Kasper: ›Ich wünschte, wir kämen durch‹. Der Kriegsroman in der DDR. In: Der Zweite Weltkrieg in erzählenden Texten zwischen 1945 u. 1965. Hg. Jürgen Egyptien. Mchn. 2007, S. 83–98. – J. Egyptien: Figurenkonzeptionen im Kriegsroman. Die

T. begab sich nach einer Goldschmiedlehre in der väterl. Werkstatt auf Wanderschaft (1547), die ihn nach Frankreich u. England führte, nahm an Kriegszügen des Markgrafen

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Albrecht Alcibiades von Kulmbach-Bayreuth teil (1551–1553) u. kehrte dann nach Basel zurück (1555–1558). Seit 1559 schlossen sich Tätigkeiten im Bergwerks- u. Hüttenwesen zu Tarrenz/Tirol u. im Auftrag von Erzherzog Ferdinand II. unternommene Fernreisen an (1560–1565). 1571 stieg T. kometenhaft zum Medicus des Kurfürsten Johann Georg von Brandenburg auf u. übte fortan in Berlin als paracelsistischer Arztalchemiker u. Astrologe, Apotheker u. Drucker eine ungewöhnlich erfolgreiche u. insbes. vom Adel honorierte Praxis aus. T.s Tätigkeiten erstreckten sich vom Betrieb chem. Laboratorien, Arzneimittel- u. Talismanverkauf über den Aufbau einer florierenden Druckerei, Geld- u. Bankgeschäfte bis hin zur Einrichtung von Salpetersiedereien. Seine durchaus kaufmännisch-industriell geführten Unternehmen brachten T. ein Vermögen, bis 1584 seine glänzende Laufbahn aus ungeklärten Gründen in Berlin ein Ende nahm. T. lebte nun hauptsächlich in Rom u. diente dem Konstanzer Bischof u. Kardinal Marcus Sittich II. von Hohenems, doch auch im dt. Kulturgebiet. T. schuf zunächst eine Dichtung über astromedizinische Lehren u. »aller welt hendel« (Archidoxa. Münster/Westf. 1569. Bln. 1575. Dazu: Erklerunge [...] der Archidoxen. Bln. 1575). Diesem allegor. Himmelsreisebericht folgten eine Lehrdichtung medizinischpharmazeutischen Inhalts (Quinta essentia. Münster/Westf. 1570. Lpz. 1574) u. ein Werk über die Metall- u. Mineralhaltigkeit dt. Gewässer (Pison. Frankf./O. 1572. Hg. Johann Rudolf Saltzmann. Straßb. 1612). T. mehrte die frühneuzeitl. Pestschriftflut (Regiment. Bln. 1576) u. astromedizinische Pflanzenbuchliteratur (Historia Vnnd Beschreibung Influentischer Wirckungen / Aller [...] Erdgewechsen. Bln. 1578. Nachdr. Mchn. 1922. Handeloh 1978. Lat. Bln. 1578. Köln 1587), berichtete über seine Harnuntersuchungen (Praeoccupatio. Frankf./O. 1571. Confirmatio concertationis. Bln. 1576), bereicherte die paracelsistische Alchemia-medica-Literatur mit der Magna alchymia (ebd. 1583. Köln 1587) u. einer Reiseund Kriegsapotheke (Hg. Agapetus Kozerus. Lpz. 1602), beteiligte sich überdies an der frühen Paracelsus-Lexikografie (Onomasticum.

Thurneisser

Tl. 1, Bln. 1574. Tl. 2, 1583) u. äußerte sich über »Exorcisterey« u. Magie (Bedencken. Entstanden um 1579. Gedr. u. a. in: Theatrum de veneficis. Ffm. 1586). Überdies schuf T. manche Gelegenheitsschrift, etwa Flugblätter mit antijüd. Versen auf die Hinrichtung des Münzmeisters Lippold 1573 u. von 24 Juden 1579. T.s Sternglaube schlug sich in zahlreichen Horoskopen, »Prognostiken« bzw. »Almanachen und Schreibkalendern«, unter ihnen eine Reimprognostik anlässlich einer Supernova (Berlin 1573), u. einer Kometenschrift nieder (Bericht. Bln. o. J. [1577]). Fachlichen Attacken begegnete er mit geharnischten Streitschriften (Verantwortung. o. O. 1580. Impletio. o. O. 1580. Nürnb. 1581), anderen Bedrängnissen mit einer sittengeschichtlich aufschlussreichen Autobiografie von Rang (Außschreiben. Bln. 1584. U. d. T. Der Alchymist und sein Weib. Gauner- und Ehescheidungsprozesse des Alchymisten Thurneysser. Hg. Will-Erich Peuckert. Stgt. 1956 [unkrit. Bearb.]). Zeitgenössische Mediziner (J. Crato, C. Hofmann, F. Joel) haben T. wegen seines Paracelsismus u. unakadem. Außenseitertums mit heftigen Angriffen überzogen, G. Rollenhagen wegen seiner Astrologica, u. bis weit in die Neuzeit findet man T. zu einem Schwarzmagier, Teufelsbündler, Mordbuben, betrügerischen Scharlatan oder »Staatsdieb« entstellt. Andererseits wusste eine aus dem Geist apologetischer Goldmacherlegenden entstandene »Historia« seit dem 17. Jh. zu berichten, T. habe vor Francesco de’ Medici einen eisernen Nagel alchemisch in Gold verwandelt. Dann geriet T. unter die Figuren von E. T. A. Hoffmann (Brautwahl) u. Trivialautoren (Alexander Franz, um 1850. Walter Heichen, 1914. Herbert Fritsche, 1937. Günther Bugge, 1939. Rudolf Schwarz, 1940. Conrad Walter Kulemeyer, 1942). Weitere Werke: Methodus [...] Von [...] Extraction der [...] Spiritualischen Kräfften/ aus [...] Kräutern. Wittenb. 1619. – Thurneisseriana (handschriftl.). In: Berlin. Staatsbibl.; Ms. germ. fol. 420a-426, Ms. Boruss. fol. 680–687. Ausgaben: Briefabdrucke bei Friedländer (1850), Wotschke (1925), Zaunick (1930 u. 1937/ 38), Boerlin (1976), Telle (1992); CP II, Nr. 64, 65; CP III, Nr. 98, 113, 114, 120–124, 127. – Flugbl.

Thym Bd. 7. Tl. 2, Nr. 34 u. 48. – Thomas Hofmeier (Hg.): L. Thurneyssers Quinta Essentia 1574. Ein alchem. Lehrbuch in Versen. Bln./Basel 2007. Literatur: Johann Carl Wilhelm Moehsen: Leben L. T.s zum Thurn. Bln./Lpz. 1783 (mit Werkverz.). – Ernst Friedländer: Die Herzoge Johann Albrecht, Ulrich u. Christoph v. Meklenburg in ihrem Verhältnisse zu Leonhardt T., während der Jahre 1576–1583. In: Jbb. des Vereins für meklenburg. Gesch. u. Alterthumskunde 15 (1850), S. 178–181. – Julius Heidemann: L. T. In: ADB. – John Ferguson: Bibliotheca chemica. Bd. 2, Glasgow 1906, S. 450–455. – Theodor Wotschke: Johann Theobald Blasius. Ein Lissaer Rektor des 16. Jh. In. Dt. Wiss. Ztschr. für Polen 6 (1925), S. 1–30. – Johannes Franke, ›Hortus Lusatiae‹ Bautzen 1594. Hg. Rudolph Zaunick u. a. Bautzen 1930, S. 21–39. – Max Speter: Von Leonhardt Thurneyssers Glück u. Ende. In: Ztschr. für Bücherfreunde. 39. Jg. Dritte Folge IV (1935), S. 145–150. – R. Zaunick u. Kurt Wein: Ein Brief v. Johannes Thal an Leonhart Thurneysser zum Thurn aus dem Jahre 1582 in rebus botanicis. In: Sudhoffs Archiv 30 (1937/38), S. 401–406. – Paul H. Boerlin: L. T. als Auftraggeber. Basel/Stgt. 1976 (mit Werkverz. u. Abdr. v. Briefen T.s). – Wl/odzimiers Hubicki: L. T. In: DSB 13 (1976), S. 396–398. – Fritz Juntke: Über L. T. zum Thurn u. seine dt. Kalender 1572–84. In: AGB 19 (1978), Sp. 1349–1400. – Ders.: Über L. T. zum Thurn u. seine Schr.en nach seiner Flucht aus Berlin (1584). In: AGB 21 (1980), Sp. 679–718. – Peter Morys: Medizin u. Pharmazie in der Kosmologie L. T.s zum Thurn. Husum 1982 (mit Werkverz.). – Ders.: L. T.s ›De transmutatione veneris in solem‹. In: Die Alchemie in der europ. Kultur- u. Wissenschaftsgesch. Hg. Christoph Meinel. Wiesb. 1986, S. 85–98. – Rudolf Schmitz: Medizin u. Pharmazie in der Kosmologie L. T.s zum Thurn. In: Zwischen Wahn, Glaube u. Wiss. Hg. Jean-François Bergier. Zürich 1988, S. 141–166. – Joachim Telle: Johann Huser in seinen Briefen. In: Parerga Paracelsica. Hg. ders. Stgt. 1992, S. 229 f. u.ö. – Gabriele Spitzer: ... u. die Spree führt Gold. L. Thurneysser zum Thurn. Astrologe – Alchimist – Arzt u. Drucker in Berlin des 16. Jh. Bln. 1996. – Wolf-Dieter Müller-Jahncke: L. T. In: Alchemie (1998), S. 360 f. – Peter O. Müller: Dt. Lexikographie des 16. Jh. Konzeptionen u. Funktionen frühneuzeitl. Wörterbücher. Tüb. 2001, S. 495–499. – CP II (2004), S. 436–439 u.ö. – Christoph Friedrich u. W.-D. Müller-Jahncke: Gesch. der Pharmazie. Bd. 2: Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Eschborn 2005, S. 291–293 u.ö. – W.-D. Müller-Jahncke: L. T. In: Enzyklopädie Medizingesch. Hg. Werner E. Gerabek. Bln./New York 2007, S. 1398. – Erika Ei-

522 ckermann: L. Thurneysser zum Thurn (1531–1596). Apotheker, Arzt, Alchemiker. Ein ›Industrieritter mit Gelehrtenmaske‹? In: Gesch. der Pharmazie 60 (2008), S. 29–38. – DBE. – CP III (2011), s.v. Joachim Telle

Thym, Georg, * um 1520 Zwickau, † 21.12.1560 Wittenberg. – Pädagoge u. Schriftsteller. Nach seiner Zwickauer Schulzeit nahm T. 1540 das Studium in Wittenberg auf, wo er sich u. a. Melanchthon anschloss, mit dem er lebenslang Kontakt pflegte. Als Unterlehrer in Magdeburg (1544) wurde er Kollege Martin Agricolas. Er wechselte nach Zerbst u. erhielt auf Melanchthons Empfehlung 1548 das Rektorat in Zwickau, nachdem er in Wittenberg die Magisterprüfung abgelegt hatte. Er konnte sich dort nicht lange halten, folgte 1551 einem Ruf nach Goslar u. übernahm 1554 das Schulmeisteramt in Wernigerode. Noch im selben Jahrzehnt gründete er in Wittenberg eine Privatschule u. lebte hinfort seinen Studien. T. verfasste Schulbücher, grammat. Schriften (zu seinen Exempla syntaxeos [...]. Wittenb. 1548, schrieb Melanchthon das Vorwort), aber auch dt. u. lat. Gedichte, darüber hinaus ein Handbüchlein der christl. Lehre in Versform, Die zwölff Heuptartickel des Bekendtnis unsers christlichen Glaubens (Erfurt 1555). Seine weitaus bekannteste Publikation jedoch war das aus dem Sagenkreis um Heinrich den Löwen geschöpfte Gedicht Thedel von Wallmoden. Der hier verarbeitete Stoff aus der Geschichte der Wallmodschen Familie ist nur noch in T.s Buch greifbar. Gehört hatte er ihn wahrscheinlich von einem aus dieser Familie stammenden Schüler. Wie die schnell aufeinander folgenden Auflagen (Des edlen [...] Heldes Thedel Unvorferden von Walmoden, tapfferer [...] und ritterlicher Thaten [...] Geschicht [...]. Magdeb. 1558. Straßb. 1559. Wolfenb. 1563) zeigen, sprach T.s dem Stoff wenig adäquater frömmelnd-moralisierender Ton die Leser durchaus an. Weitere Werke: Hymni aliquot sacri veterum patrum una cum eorundem simplici paraphrasi [...] collectore Georgio Thymo. o. O. 1552. – Elegia hecatosticha [...]. Lpz. 1554. – Praecipua christianae

Tichy

523 pietatis capita graece carmine elegiaco reddita. Wittenb. 1555. – Allegoria picturae Christophori recitata per dialogum. Addita sunt et D. Philippi Melanthonis, item Iohannis Stigelij, et aliorum authorum de Christophoro carmina [...]. Wittenb. 1555. Ausgaben: Des [...] heldes Thedel [...] ritterlicher Thaten [...] wunderbarlicher geschicht [...]. Straßb. 1559. Internet-Ed. in: VD 16. – Thedel v. Wallmoden. Hg. P. Zimmermann. Halle 1888. Literatur: Bibliografien: Bodo Gotzkowsky: ›Volksbücher‹ [...]. Bibliogr. der dt. Drucke. Tl. I: Drucke des 15. u. 16. Jh. Baden-Baden 1991, S. 360 f.; Tl. II: Drucke des 17. Jh. Baden-Baden 1994, S. 206. – Kosch, Bd. 22, Sp. 598. – VD 16. – Weitere Titel: Georg Lizel: Historia poetarvm graecorum Germaniae a renatis literis ad nostra usque tempora [...]. Ffm./Lpz. 1730, S. 63. – Elias Caspar Reichard: Kurze Nachricht v. M. G. T. [...]. Magdeb. 1767. – Paul Zimmermann: G. T.s Dichtung u. die Sage v. Thedel v. Wallmoden. In: Ztschr. des Harzvereins 20 (1887), S. 329–82 (mit Werkverz.). – Ders.: G. T. In: ADB. – Werner Rocke: Kulturelles Gedächtnis u. Erfahrung der Fremde. Der Herzog v. Braunschweig in der Lit. des SpätMA u. der Frühen Neuzeit. In: JOWG 10 (1998), S. 281–297. – Bernd Ulrich Hucker: Thedel v. Wallmoden. In: Braunschweigisches biogr. Lexikon 8. bis 18. Jh. Hg. Horst-Rüdiger Jarck u. a. Braunschw. 2006, S. 695. – H. Blume: G. T. In: ebd., S. 699 f. Ingeborg Dorchenas / Red.

Tichy, Herbert, * 1.6.1912 Wien, † 26.9. 1987 Wien; Grabstätte: ebd., Friedhof Kalksburg. – Verfasser von Reiseberichten u. Jugendbüchern. T., Sohn eines Juristen, studierte Geologie in Wien u. Lahore. Vom Werk Sven Hedins begeistert, zog es ihn nach Asien: 1933 fuhr er mit Max Reisch auf dem Motorrad nach Indien; 1935 gelangte er, als Pilger verkleidet, in das »verbotene« Land Tibet (Zum heiligsten Berg der Welt. Wien 1937). Nach Abschluss seines Studiums war T. 1937 als Geologe in Alaska, danach kurz als Ölgeologe in Österreich, Deutschland u. Polen tätig. Seit 1941 widmete er sich nur noch seinen Forschungsreisen. Er war Bildberichterstatter u. Korrespondent im Fernen Osten; 1941–1948 lebte er in China. Er durchquerte als erster Weißer 1953 Nepal, u. 1954 gelang ihm die Erstbesteigung des Achttausenders Cho Oyu

(Cho Oyu. Gnade der Götter. Ebd. 1955). Obwohl als Alpinist berühmt, war es T. nicht um die sportl. Leistung zu tun. Seine Expedition führte er mit nur wenigen Begleitern durch, um sich mit den Eremiten u. Weisen des Himalaja anfreunden zu können. Forschungsreisen führten ihn auch auf den afrikan. Kontinent. T. schrieb 25 Bücher, die mehrfach übersetzt wurden. Für seine Jugendbücher erhielt er 1966 u. 1971 den Österreichischen Staatspreis u. 1962 u. 1968 den Jugendbuchpreis der Stadt Wien. Sein letztes Werk, Was ich in Asien gelernt habe (Wien 1984), ist seinen Erfahrungen mit der fernöstl. Weisheitslehre gewidmet. Weitere Werke: Die Flut der tausend Ernten. Wien 1956 (R.). – Zweifach gejagt! Der Fall Mellebeck. Ebd. 1971. – Reiseberichte: Alaska, ein Paradies des Nordens. Mchn. 1939. – Afghanistan. Das Tor nach Indien. Lpz. 1940. Neuaufl. Wien 2010. – Indien. Kampf u. Schicksal eines Fünftels der Menschheit. Lpz. 1942. – China ohne Mauer. Wien 1948. – Weiße Wolken über gelber Erde. Ebd. 1948. Mchn. 1983. – Auf einem Hügel der Ewigen Stadt. Erlebter Vatikan. Wien 1949. – Die Wandlung des Lotos. Ein Indienbericht. Ebd. 1951. – Land der namenlosen Berge. Ebd. 1954. – Menschenwege – Götterberge. Ebd. 1960. – Hongkong. Die Laune des Drachen. Ebd. 1961. – Heiße Erde, schwarze Hoffnung. Afrika, vom Kap zum Äquator. Mchn. 1964. – Himalaya. Wien 1968. – Honig vom Binungabaum. Ein Jahr bei primitiven Stämmen. Ebd. 1971. – Tau-Tau. Bei Göttern u. Nomaden der SuluSee. Wien/Mchn./Zürich 1973. – Das verbotene Tal. Auf den Spuren einer Riesenechse in den Dschungelwäldern Assams. Würzb. 1974. – Auf fernen Gipfeln. Abenteuer auf dem Dach der Welt. Wien u. a. 1975. – Traumland Kenia. Innsbr. 1978. – See an der Sonne. Auf den Spuren der frühen Menschen. Wien 1980. – Jugendbücher: Safari am Kamanga. Ebd. u. a. 1958. – Flucht durch Hindustan. Eine Erzählung für die Jugend. Bln. u. a. 1961. – Unterwegs. Wien/Mchn. 1962. – Der weiße Sahib. Ebd. 1966. – Keine Zeit für Götter. Ebd. 1967. Literatur: Franz Kreuzer: Mensch wird Fisch – Mensch wird Yeti. Franz Kreuzer im Gespräch mit Hans Hass, Rupert Reichl, Irenäus Eibl-Eibesfeld u. H. T. Wien 1984. – Kurt Enzinger: Vom Himalaya nach Alaska. H. T. (1912–1987). In: Welt-Reisende. ÖsterreicherInnen in der Fremde. Hg. Irmgard Kirchner u. Gerhard Pfeisinger. Ebd. 1996, S. 142–150. – Irene Hondt: H. T. Leben u. Werk. Diss. Wien 2003. – Hilde Senft u. Willi Senft: H. T.

Tideman Das abenteuerl. Leben des großen Österreichers. Gnas 2003. Elisabeth Schawerda / Red.

Tideman, Wilhelm Julius Robert, * 12.8. 1889 Bremen, † 23.4.1949 Baden/Weser; Grabstätte: Bremen, Waller Friedhof. – Philosoph, Lyriker, Essayist. T. entstammte einer der ältesten Familien Bremens. Nach seiner juristischen Promotion war er Regierungsrat in der Reichsfinanzverwaltung. Für seine geistige Entwicklung war die Auseinandersetzung mit dem humanistischen Erbe u. der östl. Weisheit von entscheidender Bedeutung (Hebbel und die Gegenwart. Prien 1922. Geist und Schicksal. Kettwig 1925). Als Lyriker empfing T. wesentl. Impulse von Hölderlin, Rimbaud, George u. dem Spätexpressionismus (Gedichte. Bremen 1927. Beute des Lichts. Ebd. 1978). Seine polit. Gedichte bezeugen liberale Gesinnung u. geistige Gegnerschaft zum Nationalsozialismus (Sonette eines Deutschen. Ebd. 1946. Europäische Beschwörung. Ebd. 1947). Bis zu seinem Tod arbeitete T. an seinem Lebenswerk, einer unvollendeten Philosophie des Schicksals (Bremen 1979), die dem abendländ. Denken unter Einbeziehung der chines. Dao-Lehre eine neue Dimension zur Erneuerung u. Selbstbehauptung erschließen sollte. Seiner metaphys. Weltsicht, die von tiefer Religiosität geprägt ist, gab er mit seinen Meditationsgedichten überzeugende poetische Gestalt (Der ewige Widerhall. Kassel 1939). Weitere Werke: Wilhelm Hauff in Bremen. Die Entstehung der Phantasien im Bremer Ratskeller. Bremen 1929. – Windeck. Buch der Erinnerung. Ebd. 1968. – Aufsätze, Gedenkreden, Briefe, Dokumente. Ebd. 1983. Literatur: Hans-Jürgen Seekamp: W. J. R. T. In: Bremische Biogr.n. Bremen 1969, S. 521 f. Alfred Dreyer / Red.

Tieck, Dorothea, * März 1799 Berlin, † 21.1.1841 Dresden. – Übersetzerin. Die ältere, unverheiratet im Elternhaus gebliebene Tochter Ludwig Tiecks u. langjährige Mitarbeiterin an dessen Übersetzungsprojekten zog, dem Wunsch des Vaters entsprechend, aber auch aus persönl. Beschei-

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denheit u. entsagender kath. Frömmigkeit, der öffentl. Anerkennung die Anonymität vor (vgl. Ein anderer Übersetzer, der sich nicht nennen will. Nachbemerkungen zu Bd. 7 der sog. »Schlegel-Tieck«’schen Shakespeare-Übersetzung. Lpz. 1825–33). Tiecks seit 1801 verschobenen Plan einer Übertragung der Sonette führte T. 1826 aus (Teildr. in Hells »Penelope. Taschenbuch für 1826«, S. 314–339. Krit. hg. von Christa Jansohn. Tüb. 1992). Für die genannte Ausgabe übertrug sie sechs Stücke (Coriolan, Die beiden Veroneser, Timon von Athen, Das Wintermärchen, Cymbelin, Macbeth), vermutlich auch einen Großteil der Pseudo-Shakespeariana, die Tieck als Shakspeare’s Vorschule (2 Bde., Lpz. 1823 u. 1829) herausgab. Diese Übertragungen zeichnen sich aus durch literar. Gelehrsamkeit u. Bemühung um Wörtlichkeit u. Zeilengleichheit. (Diese Versionen wurden 1876/77 in einer von der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft besorgten »SchlegelTieck« von Übertragungen durch Männer ersetzt u. erst 1897–99 wiederhergestellt!) Für ihren Vater übersetzte sie zudem Vicente Espinels Leben und Begebenheiten des Escudero Marcos Obregon (Breslau 1827) u. Cervantes’ Die Leiden des Persiles und der Sigismunda (Lpz. 1837), Bruchstücke eines nie ausgeführten Projekts zur span. Literatur, für den Familienfreund Friedrich von Raumer Jared Sparks’ Leben und Briefwechsel Georg Washingtons (2 Bde., Lpz. 1839). Literatur: Heinrich v. Sybel (Hg.): Erinnerungen an Friedrich v. Uechtritz u. seine Zeit in Briefen v. ihm u. an ihn. Lpz. 1884, S. 154–228. – Käthe Stricker: D. T. u. ihr Schaffen für Shakespeare. In: Jb. der dt. Shakespeare-Gesellsch. 72 (1936), S. 79–92. – Christa Jansohn (Hg.): Shakespeares Sonette in der Übers. D.T.s. Mchn. 1992. – Roger Paulin: The Critical Reception of Shakespeare in Germany 1682–1914. Hildesh. 2003. – Andrew Piper: The Making of Transnational Textual Communities: German Women Translators, 1800–1850. In: Women in German Yearbook 22 (2006), S. 119–144. – Anne Baillot: ›Ein Freund hier würde diese Arbeit unter meiner Beihülfe übernehmen.‹ Die Arbeit D. T.s (1799–1841) an den Übers.en ihres Vaters. In: Übersetzungskultur im 18. Jh. Hg. Brunhilde Wehinger u. Hilary Brown. Hann. 2008, S. 187–206. Roger Paulin

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Tieck, (Johann) Ludwig, auch: Peter Lebrecht, Gottlieb Färber, * 31.5.1773 Berlin, † 28.4.1853 Berlin; Grabstätte: ebd., Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker, Kritiker, Übersetzer, Philologe. T. war das älteste Kind (ferner: Anna Sophie, 1775–1833, Schriftstellerin; Christian Friedrich, 1776–1851, Bildhauer) von Johann Ludwig Tieck, Seilermeister u. Gildesprecher, u. Anna Sophie, geb. Berukin (beide †1802). Die Familie war protestantisch. T. lernte früh lesen u. wurde schon bald zu dem unersättl. Leser, der er lebenslang geblieben ist. 1782 bis 1792 besuchte er das Friedrichswerdersche Gymnasium, wo er u. a. mit Wilhelm von Burgsdorff u. Wilhelm Heinrich Wackenroder Freundschaft schloss. Die Dramen Goethes, Schillers u. Shakespeares weckten seine Theaterleidenschaft. Er besuchte alle erreichbaren Aufführungen u. konnte im Hause Reichardts selbst spielen. Noch als Schüler arbeitete er an den Trivialromanen seines Lehrers Rambach mit. Erste eigene Dramen u. Erzählungen blieben unveröffentlicht. Da der Vater ihm den Weg zur Bühne verbot, studierte T. 1792–1794 in Halle, Göttingen u. Erlangen. Von Halle aus verkehrte er bei Reichardt auf Gut Giebichenstein. Auf einer Harzreise im Juli 1792 hatte er eine Art Erweckungserlebnis, das er rückblickend als Initiation in die Göttlichkeit der Natur beschrieb. In Göttingen versenkte er sich in das Studium Shakespeares u. seiner Zeit, das ihn nicht mehr loslassen sollte; bei Fiorillo vertiefte er die Kenntnisse der bildenden Kunst, die er in Berlin bei Karl Philipp Moritz erworben hatte. Von Jugend auf sensibel u. labil, dazu geneigt, sich rückhaltlos in empfindsame u. Schauerliteratur hineinzufühlen, erlitt er in den frühen 90er Jahren gelegentlich halluzinator. Zustände, die er als Anfälle von drohendem Wahnsinn deutete. Im Sommer 1793 nahm er auf Reisen durch Franken teil an Wackenroders Entdeckung der »altdeutschen« Zeit. Im Herbst 1794 begann T. in Berlin ein Leben als freier Schriftsteller. Bei Aufenthalten in Jena schloss er Freundschaft mit Novalis u. den Brüdern Schlegel u. verkehrte mit

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Steffens, Fichte u. Brentano; Besuche führten zu Goethe u. Schiller nach Weimar. Unter den in Jena versammelten Philosophen u. Kritikern galt er bald als der eigentliche Dichter der neuen Gruppe. 1802 zog T. auf Burgsdorffs Gut nach Ziebingen. Es folgten lange Jahre einer Schaffenskrise, zu der das Auseinanderfallen der romant. Schule nicht weniger als die heikle private Konstellation zwischen der Gattin (seit 1798) Amalie, geb. Alberti, u. der Geliebten Henriette von Finckenstein beigetragen haben mag. T. reiste viel (u. a. 1805/1806 Rom, 1817 England), machte zahlreiche Bekanntschaften u. studierte mittelalterl. u. engl. Literatur. 1811 begann seine Freundschaft mit Solger, der T. half, sich von seinem aus intensiver Böhme-Lektüre gezogenen Mystizismus zu lösen. 1819 wechselte T. nach Dresden, wo er zum Mittelpunkt eines geselligen Kreises wurde. Der Ruhm seiner Leseabende drang weit über Dresden hinaus. Binnen zweier fruchtbarer Jahrzehnte entstanden zahlreiche Novellen. T. gehört zu den ersten, die die mediengeschichtliche Neuerung massenhaft produzierter Taschenbücher und Almanache systematisch zu nutzen und zu erproben suchten. Als in Verehrung wie Widerspruch anerkannte Autorität nahm er, seit 1825 auch als Dramaturg des Hoftheaters, Einfluss auf Literatur u. Theater. 1842 berief ihn Friedrich Wilhelm IV. als Geheimen Rat nach Berlin. T. schien auf dem Gipfel der öffentl. Achtung zu stehen. Tatsächlich begann jedoch eine Zeit wachsender Isolation. Seine poetische Kraft erlosch. Das Lesepublikum wandte sich ab. Freunde, Gattin, Geliebte, Tochter, Geschwister starben vor ihm. Die Revolution von 1848 lehnte er ebenso ab wie die folgende Reaktion. Er starb nach Jahren der Krankheit (erster Gichtanfall schon 1800) u. Verdüsterung. Zwischen 1794 u. 1798 schrieb T. regelmäßig witzig-belehrende u. parodistische Erzählungen für die »Straußfedern« (Bln./ Stettin) des alten Aufklärungs-Papstes Nicolai. 1795 erschien der Schauerroman Abdallah (Bln./Lpz.), 1795/96 das erste bedeutende Werk: der Briefroman William Lovell (3 Bde., ebd.). Ein enthusiastischer Jüngling wird

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durch die Begegnung mit einer libertinist. Philosophie zum gewissenlosen Schurken verdorben, muss am Ende jedoch entdecken, dass er auf seinem Weg zu schrankenloser Freiheit u. bedingungslosem Lebensgenuss immer die Marionette eines Geheimbundes geblieben ist. Sein heroischer Egoismus zerbricht zu nihilistischer Verzweiflung. T. erweist sich als Meister der Schilderung psych. Grenzlagen in der Tradition von empfindsamem Roman u. Gothic novel. Literarhistorisch leitet der Roman von der radikal-skept. Linie der Aufklärung über zur nihilistischen Seite der Frühromantik. Neben dem Lovell erschien der humoristisch-parodistische Roman Peter Lebrecht (2 Bde., Bln./Lpz. 1795/96). Eine Art totaler Parodie versucht T. im Gestiefelten Kater (Bln. 1797), der Bühne u. Publikum auf die Bühne stellt. Die Komödienfiguren reflektieren über ihre Rollenexistenz, die Schauspieler fallen aus ihren Rollen, das Publikum diskutiert mit dem Kritiker, der Dichter wird vom Parterre wie von den Mimen angegriffen – Märchendrama, Streit, Improvisation, Parodien auf literar. Moden u. satir. Ausfälle gegen Monarchie, Bürgertum u. Französische Revolution vereinigen sich zu einem Verwirrspiel, in dem man, so klagt ein Zuschauer, »nirgend einen festen Standpunkt« behält. Wie in Schlegels Theorie der romant. Ironie, auf welche man die Komödie schon früh bezogen hat, wird alles Bestimmte aufgehoben, doch während Schlegel auf ein Unendliches zielt, das nicht unmittelbar dargestellt werden kann, verzichtet T.s Kater, wie später Die verkehrte Welt (in: Bambocciaden. Bln. 1799) u. Prinz Zerbino (Lpz./Jena 1799), auf einen solchen Horizont u. behauptet in Witz u. Satire nur die Ungebundenheit der Poesie. Die Nachwirkung dieser Komödien reicht bis zum antiillusionist. Theater des 20. Jh. In enger Zusammenarbeit mit Wackenroder entstanden die zwischen Erzählung u. Aufsatz schwankenden Prosastücke der Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (Bln. 1797) u. der Phantasien über die Kunst (Hbg. 1799). Im Gefühlskult der Empfindsamkeit wurzelnd, entwerfen sie das Ideal einer rein innerl. Kunst, die ihre höchste Bestimmung als rational unbegreifl. Sprache

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der Religion erreicht, ja selbst der Religion zum Verwechseln ähnlich sieht. Am vollkommensten erfüllt die Musik diese Aufgabe: Hier entsteht das Konzept der absoluten Musik, das die Musikvorstellung des folgenden Jahrhunderts prägen wird. Doch auch die bedrohl. Kräfte werden bereits sichtbar, die solch ein Kult des Unfassbaren im Unbewussten freisetzen kann. Im Blonden Eckbert (in: Volksmährchen. Bd. 1, Bln. 1797) verschmilzt T. die Märchenform mit Momenten der Schauerliteratur u. schafft damit einen neuen Typ des Kunstmärchens. Der Leser bleibt dank der sorgfältigen perspektiv. Gestaltung lange im Ungewissen, ob die wunderbaren Widerfahrnisse der Figuren Wahnvorstellungen oder Wirklichkeit sind, muss aber zum Schluss die Realität des Unglaublichen einsehen. Das Wunderbare, durch den Zweifel aus der unverbindl. Geschlossenheit der Feenmärchen-Welt gelöst, enthüllt sich als der unheiml. Hintergrund der nur vordergründig vernünftigen Alltagsrealität; das Schauerliche, von der abschließenden rationalistischen Entlarvung des frühen Schauerromans entbunden, wird zur dämonischen Bedrohung dieser Realität. Ähnliche Konflikte bewegen die Märchen vom Getreuen Ekkart und dem Tannenhäuser (in: Romantische Dichtungen. Bd. 1, Jena 1799) u. vom Runenberg (in: Taschenbuch für Kunst und Laune, 1804). Die Protagonisten sind sensibel für die wunderbar-dämonische Dimension der Welt u. gehen an dem Widerspruch der beiden Wirklichkeiten zugrunde. Die Doppelung der Wirklichkeit prägt auch Franz Sternbalds Wanderungen (2 Tle., Bln. 1798), den ersten Künstlerroman der Romantik, doch treten der gewohnten Realität nicht dämonische Mächte, sondern die Wunder der Poesie gegenüber. Zwischen dt. Dürerzeit u. ital. Renaissance wird hier erstmals jenes Repertoire aus Mondschein, rauschenden Wäldern, silbernen Quellen, singenden Brunnen u. Waldhornklängen versammelt, das seither als der Inbegriff »romantischer« Szenerie gilt. Mit Leben und Tod der heiligen Genoveva (in: Romantische Dichtungen. Bd. 2, Jena 1800) erschafft T. dann das Musterstück eines großen romant. Dramas, das sich gleichermaßen in die Nachfolge von

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Shakespeare u. Calderón stellt: Elisabethanische Stilvielfalt, barockes Märtyrerdrama u. zeitgenöss. Schicksalstragödie werden zu einer verwegenen Einheit gebracht, die Schauereffekt, fromme Rührung u. psycholog. Ambivalenz ebenso effektvoll mischt wie die unterschiedlichsten Vers- u. Strophenformen. Noch überboten wird diese synkretist. Totalität der Gattungen u. Formen durch das Lustspiel Kaiser Octavianus (Jena 1804); es beginnt mit einem allegor. Einzug der romant. Poesie. Um diese Zeit entsteht auch T.s bedeutendste Übersetzung: Don Quixote nach Cervantes (4 Bde., Bln. 1799–1801). Weniger überzeugt daneben das umfangreiche lyr. Œuvre. Der gemeinsam mit August Wilhelm Schlegel herausgegebene »Musen-Almanach« (Tüb.) versammelt 1802 ein letztes Mal die Autoren der Jenaer Romantik. So entstehen der Aufklärung verbundene u. die Romantik mitbegründende Dichtungen nebeneinander. Staunenswert ist zum einen die Vielfalt der Gattungen, Formen u. Stile, die T. in seinem dritten Lebensjahrzehnt bereits zur beliebigen Verfügung steht, zum anderen die Modernität vieler Texte. T.s Frühwerk hat auf die gesamte Literatur der dt. Romantik u. darüber hinaus bis auf Heine, Büchner u. Wagner, auf die Gattungsentwicklung von Kunstmärchen, Novelle u. Künstlerroman, aber auch auf die romant. Malerei einen kaum zu überschätzenden Einfluss ausgeübt. Über Mme de Staël gelangte es in Frankreich, über Poe u. Hawthorne in Amerika zu beträchtl. Wirkung. Nach der frühromant. Erneuerung mancher Volksbücher wandte sich T. in seiner Ziebinger Zeit als Herausgeber u. Bearbeiter der »altdeutschen« Literatur zu. 1803 erschienen die Minnelieder aus dem Schwäbischen Zeitalter (Bln.), 1812 Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst (Stgt./Tüb.) u. 1817 Deutsches Theater (2 Bde., Bln.), eine Anthologie dt. Renaissance- u. Barockdramatik. Übertragungen des Nibelungenliedes u. des Heldenbuchs blieben Fragment – wie das Buch über Shakespeare, auf das T. sein Leben lang hinarbeitete. Früchte dieser Arbeit sind: die Anthologien Alt-Englisches Theater (2 Bde., Bln. 1811) u. Shakspeare’s Vorschule (2 Bde., Lpz. 1823 u. 1829) sowie die ergänzte, von T. be-

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arbeitete u. kommentierte Ausgabe von A. W. Schlegels Übersetzung Shakspeare’s dramatische Werke (9 Bde., Bln. 1825–33), dazu zahlreiche Aufsätze u. Rezensionen. T. edierte als Erster die Werke von Novalis (2 Bde., Bln. 1802. 5 1837. Bd 3, 1846), »Maler« Müller (3 Bde., Heidelb. 1811), Kleist (Bln. 1821. 4 Bde., 1846/47) u. Lenz (3 Bde., ebd. 1828) sowie Nachlass u. Briefe von Solger (2 Bde., Lpz. 1826). Mit dem Phantasus (3 Bde., Bln. 1812–16) resümiert u. verabschiedet T. sein Jugendwerk. Die Rahmengespräche huldigen der Erinnerung an die romant. Sympoesie, dienen aber auch dazu, das Verstörende mancher früher Schöpfungen – die Dämonie des Eckbert-Märchens wie die Bodenlosigkeit der Kater-Satire – in einer distanzierenden Form aufzufangen. Wie die Phantasus-Runde etwa die zeitgenöss. Musik, als die romant. Kunst par excellence, kritisch betrachtet, so verurteilt T. dann im Alterswerk wiederholt u. entschieden, was sich im Gefolge seiner eigenen frühen Märchen entwickelt hat: die unheiml. Fantastik E. T. A. Hoffmanns wie der frz. Romantik. Das Unheimliche u. das Wunderbare stehen gleichwohl im Zentrum auch der Dresdener Novellen u. Romane. Der junge Tischlermeister (2 Bde., Bln. 1836) etwa gibt geradezu eine Kontrafaktur des Runenberg. Dessen geheimnisvolles Bergweib wird zerlegt in zwei Figuren: Die Verwirrungen des Theaterspiels u. der Leidenschaft zu der verführerischen Charlotte lösen Leonhard aus seinem fest geordneten Lebenskreis u. bereiten ihn so vor auf die Wochen mit der reinen Kunigunde, in denen er das einst aus Rücksicht auf Vernunft u. Schicklichkeit versäumte Glück der ersten Liebe nachholt. Erst dieser Ausbruch lässt ihn, bei der Rückkehr zu Familie u. Tischlerei, seinen sicheren Platz im geordneten Leben finden. Die Ordnung, soll sie keine tote oder erzwungene sein, bedarf des Ausbruchs ins Wunderbare. Wo dieses gewaltsam unterdrückt wird, wie im Magister, droht der Wahnsinn. Wo es zum alleinigen Prinzip erhoben wird, tendiert es zum Gegenschlag in die rigideste Ordnung: Charlotte endet als intolerante Frömmlerin.

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Das Wunderbare widerspricht nicht mehr den Naturgesetzen, sondern den Regeln von Gewohnheit, Sitte oder Vorurteil. T.s späte Erzählungen führen vor, wie notwendig der verwandelnde Einbruch dieses Wunderbaren ist. Hierin gründet seine These vom »Wendepunkt« der Novelle. Das Wunderbare behält jedoch auch seine Affinität zum Dämonischen. Während T. in den Künstlernovellen um Shakespeare (Dichterleben. Tl. I in: Urania, 1825. Tl. II in: Novellenkranz. Bln. 1830) u. Camões (Der Tod des Dichters. Bln. 1833) seine Auffassung der Poesie entfaltet u. abgrenzt, verfolgen die histor. Novellen, so etwa Aufruhr in den Cevennen (Bln. 1826) oder Hexen-Sabbath (in: Novellenkranz. Bln. 1831), mit psycholog. Hellsicht, wie aus der Verstrickung von Religion u. Politik mit zerstörender Gewalt Fanatismus u. Hysterie erwachsen. Der Renaissanceroman Vittoria Accorombona (2 Bde., Breslau 1840) fügt das alte Thema von der bedrohl. Macht der Schönheit u. der Leidenschaft hinzu. Gegen solche Gefahren rehabilitiert T. eine literar. Grundform der Aufklärung: Im besonnenen Gespräch suchen die Vernünftigen die Dämonen des Irrationalen zu bannen. Seine Konversations-Novellen nehmen nicht nur eine Mode der biedermeierl. Taschenbuchliteratur auf, sie setzen auch die Kunst der Sterne u. Diderot fort, ihre Prosa zu einem Vernunft u. Fantasie gleichermaßen beschäftigenden Gespräch mit dem Leser zu gestalten. Gegen allen Radikalismus, gegen Fanatismus wie Borniertheit wird aus Besonnenheit, Offenheit u. Toleranz eine Position der Mitte aufgebaut, die auch vielfältige krit. Schriften der Dresdener Jahre verfechten. Das im Phantasus-Rahmen entwickelte gesellige Gespräch bildet die Grundform des gesamten späteren Erzählwerks. Die Handlung tritt zurück. Aneinandergereihte Ensembleszenen exponieren im Gespräch Charaktere u. Verhältnisse, führen aber in der Diskussion aller nur denkbaren Themen auch Tendenzen u. Missstände der Zeit kritisch vor. Mit seinen Gesellschafts- oder Zeitnovellen will T. »alle Stände, alle Verhältnisse der neuen Zeit, ihre Bedingungen und Eigenthümlichkeiten« darstellen. In Werken wie Gesellschaft auf dem Lande (in: Berliner

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Taschenkalender, 1824), Zauberschloss (in: Urania, 1830) oder Des Lebens Überfluss (in: ebd., 1839) ist ihm das auch gelungen. Doch der Vorstoß in den literar. Realismus wird von zwei Seiten behindert. Zum einen sind Satire u. Parodie immer noch allgegenwärtig, aber ihr Witz ist matt geworden, u. ihre Schärfe verliert sich in weitschweifiger Redseligkeit, so etwa in der Vogelscheuche (in: Novellenkranz. 1834). Zum andern erweist sich als grundsätzl. Mangel, was im Jugendwerk noch als Unreife erscheinen konnte: Charaktere geraten leicht zu Karikaturen, Plots zu Schablonen; bei aller handwerkl. Kunst im Aufbau gewinnt das Geschehen gegenüber der allzeit deutlichen satir. oder didakt. Absicht oft zu wenig Eigengewicht. So ist eine Nachwirkung des Alterswerks, trotz T.s zeitgenöss. Ruhm, weitgehend ausgeblieben. Weitere Werke: Gesamtausgaben: Schr.en. 28 Bde., Bln. 1828–54. Neudr. 1966. – Schr.en in 12 Bdn. Hg. Uwe Schweikert u. a. Ffm. 1985 ff. – Wichtige Teilausgaben: Gedichte. 3 Bde., Dresden 1821–23. Neudr. Heidelb. 1967. – Krit. Schr.en. 4 Bde., Lpz. 1848–52. Neudr. Bln. 1974. – Nachgelassene Schr.en. Hg. Rudolf Köpke. 2 Bde., Lpz. 1855. Neudr. Bln. 1974. – Das Buch über Shakespeare. Hg. Henry Lüdeke. Halle 1920. – Five Dramas of L. T. Hg. Albert B. Halley. Cincinnati 1959. – Werke in vier Bdn. Hg. Marianne Thalmann. Mchn. 1963–66. – Dichter über ihre Dichtungen. L. T. Hg. U. Schweikert. 3 Bde., Mchn. 1971. – Alt-Dt. Epische Gedichte. 1: König Rother. Hg. Uwe Meves. Göpp. 1979. – Briefe: Die Briefw. Hist.-krit. Ausg. Hg. Walter Schmitz (in Vorb.). – Friedrich v. Raumer: Lebenserinnerungen u. Briefw. 2 Bde., Lpz. 1861. – Briefe an L. T. Hg. Karl v. Holtei. 4 Bde., Breslau 1864. – F. v. Raumer: Litterar. Nachl. Bd. 2, Bln. 1869, S. 139–193 (Erg.: GR 5 [1930]). – Aus T.s Novellenzeit. L. T. u. F. A. Brockhaus. Hg. Heinrich Lüdeke v. Möllendorf. Lpz. 1928. – L. T. u. die Brüder Schlegel. Hg. Henry Lüdeke. Ffm. 1930. Erw. hg. v. Edgar Lohner. Mchn. 1972. – T. and Solger. Hg. Percy Matenko. New York/London 1933. – L. T. u. Ida v. Lüttichau. Hg. Otto Fiebiger. Dresden 1937. – Letters of L. T. Hitherto Unpublished. Hg. Edwin H. Zeydel, P. Matenko, Robert H. Fife. New York/London 1937. – In: JbFDH 1966 (Hg. Wulf Segebrecht), 1971 u. 1974 (Hg. U. Schweikert). – Letters To and From L. T. and His Circle. Hg. P. Matenko, E. H. Zeydel, Bertha M. Masche. Chapel Hill 1967. – Briefw. mit Wacken-

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529 roder: Krit. Ausg. Hg. Richard Littlejohns. Heidelb. 1991. Literatur: Bibliografien und Forschungsberichte: Goedeke 6, § 284.1. – R. Paulin: L. T. Stgt. 1987. – Dwight A. Klett: L. T. An annotated guide to research. New York/London 1993. – Walter Schmitz u. Jochen Strobel: Repertorium der Briefw. L.T.s. Dresden 2002 (CD-ROM). – Gesamtdarstellungen: Rudolf Köpke: L. T. 2 Bde., Lpz. 1855. Neudr. Bln. 1970. – Rudolf Haym: Die romant. Schule. Bln. 1870. Neudr. Darmst. 1961 u. ö. – E. H. Zeydel: L. T. Princeton 1935. Neudr. Hildesh. 1971. – Robert Minder: Un poète romantique allemand: L. T. Paris 1936. – Ernst Ribbat: L. T. Kronberg/Taunus 1978. – R. Paulin: L. T. A Literary Biography. Oxford 1985. Dt. Mchn. 1988. – Wolfgang Rath: L.T. Das vergessene Genie. Paderb. 1996. – W. Schmitz (Hg.): L. T. Literaturprogramm u. Lebensinszenierung im Kontext seiner Zeit. Tüb. 1997. – ›lasst uns, da es uns vergönnt ist, vernünftig sein!‹ L. T. (1773–1853). Hg. Institut für dt. Lit. der Humboldt-Univ. zu Berlin. Bern u.a. 2004. – Achim Hölter: L. T. In: Romantik. Hg. W. Bunzel. Darmst. 2010, S. 123–137. – Stefan Scherer u. Claudia Stockinger (Hg.): T.-Hdb. Ersch. Bln. 2011. – Zum Frühwerk: M. Thalmann: L. T. Der romant. Weltmann aus Berlin. Bern 1955. – James Trainer: From Gothic to Romantic. Den Haag 1964. – GonthierLouis Fink: T.s dualist. Märchenwelt. Paris 1967. – Dieter Arendt: Der ›poet. Nihilismus‹ in der Romantik. 2 Bde., Tüb. 1972. – Zu den Novellen: M. Thalmann: L. T. ›Der Heilige von Dresden‹. Bln. 1960. – Rolf Schröder: Novelle u. Novellentheorie in der frühen Biedermeierzeit. Tüb. 1970. – Ralf Stamm: L. T.s späte Novellen. Stgt. u. a. 1973. – Detlev Kremer (Hg.): Die Prosa L.T.s. Bielef. 2005. – Weitere Titel: Catalogue de la bibliothèque célèbre de M. L. T. [...]. Bln. 1849. Neudr. 1970. – Henry Lüdeke: L. T. u. das alte engl. Theater. Ffm. 1922. Neudr. Hildesh. 1975. – Harvey W. Hewett-Thayer: T.’s Novellen and Contemporary Journalistic Criticism. In: GR 3 (1928), S. 328. – E. H. Zeydel: L. T. and England. Princeton 1931. – Percy Matenko: L. T. and America. Chapel Hill 1954. New York 21966. – Manfred Frank: Das Problem ›Zeit‹ in der dt. Romantik. Mchn. 1972. – Wulf Segebrecht (Hg.): L. T. Darmst. 1976. – William J. Lillyman: Reality’s Dark Dream. Bln./New York 1979. – Gisela BrinkerGabler: T.s Bearbeitungen altdt. Lit. Produktion, Konzeption, Wirkung. Göpp. 1981. – R. Paulin: L. T.s Essayistik. In: Jb. Int. Germ. 14 (1982), S. 126–156. – Manfred Frank: Einf. in die frühromant. Ästhetik. Ffm. 1989, S. 341–462. – Achim Hölter: L. T. Literaturgesch. als Poesie. Heidelb. 1989. – Ruth Petzoldt: Albernheit mit Hintersinn.

Intertextuelle Spiele in L.T.s romant. Komödien. Würzb. 2000. – A. Hölter: Frühe Romantik – frühe Komparatistik. Ffm. 2001. – S. Scherer: Witzige Spielgemälde. T. u. das Drama der Romantik. Bln./ New York 2003. – Handschriftlicher Nachlass: Hauptmasse in der Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz Berlin. Dazu Lothar Busch: Der handschriftl. Nachlass L.T.s u. die Tieck-Bestände der Staatsbibl. zu Berlin Preuß. Kulturbesitz. Kat. Wiesb. 1999. Michael Neumann

Tieck, Sophie ! Bernhardi, Sophie Tiedge, Christoph August, * 14.12.1752 Gardelegen/Altmark, † 8.3.1841 Dresden. – Lyriker, Verfasser von populärphilosophischen Schriften. T., der älteste Sohn des Stadtschulrektors Johann Konrad Tiedge, nahm 1770 nach dem Tod seines Vaters ein rechtswissenschaftl. Studium an der Universität Halle/Saale auf. Schon während seiner Studienzeit veröffentlichte er verschiedene kleinere Dichtungen in Zeitschriften u. Musenalmanachen. Auch mit seinem später bedeutendsten Werk, dem Lehrgedicht Urania, begann T. schon in Halle, wo er sich u. a. mit der Philosophie Kants u. Schillers auseinandersetze. Da er nach seinem Studienabschluss 1777 kein Justizamt übernehmen konnte, verdingte er sich in verschiedenen Anstellungen als Hauslehrer u. Sekretär. 1788 folgte er einer Einladung Gleims nach Halberstadt, wo er auch mit Klamer Schmidt u. anderen Dichtern des Kreises um Gleim zusammentraf u. – während eines zweiten Aufenthalts – Mitherausgeber der dort erscheinenden »Deutschen Monatsschrift« wurde. Nach dem Tod seiner letzten Arbeitgeber, der Familie von Stedern, mit einer Pension versorgt, reiste er 1798 zu seinem jüngeren Bruder nach Frankfurt/O. sowie nach Berlin, wo er u. a. Johann Jakob Engel kennen lernte u. einige Zeit als Herausgeber der Literaturzeitschrift »Ephemeriden« auftrat. Erst 1799 nahm er sich in Dresden die Urania wieder vor, die schließlich 1801 in Halle gedruckt wurde (Urania über Gott, Unsterblichkeit und Freiheit, ein lyrisch-didactisches Gedicht in sechs Gesängen): T. definiert in der dem ersten Gesang vorausgehenden Zusam-

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menfassung als Ausgangsfigur den Typus des »trauernden Zweiflers« an Gott, der Unsterblichkeit der Seele u. jeder eth. Entscheidungsfreiheit, dessen eleg. Selbstdarstellung im Folgenden weitere allegor. Stimmen (Gott, Unsterblichkeit, Tugend u. a.) entgegengestellt werden. Im Anschluss an Kant formuliert T. auf diese Weise einen vernunftbasierten Freiheitsbegriff, der die Überwindung ird. Leidens impliziere: Die Hoffnung des Menschen auf Unsterblichkeit begründe, so der emphat. Abschluss der Urania, seine gottgleiche Überlegenheit. T. betont in seiner Vorrede den sehr persönlichen, bis in die Studienzeit zurückreichenden Entstehungskontext u., damit zusammenhängend, die unmittelbar konsolator. Funktion des Lehrgedichts. Besondere Beachtung fanden T.s eleg. Dichtungen, so insbes. die Elegie auf dem Schlachtfelde von Kunersdorf in 220 Versen (1798), welche – ausgehend von einer stark subjektiv geprägten contemplatio – den Ort der preuß. Niederlage am 12.8.1759 zum Mahnmal polit. Fehlentscheidungen stilisiert. Insgesamt trat T. jedoch kaum als polit. Dichter in Erscheinung. Seine Lyrik folgt meist liedhaft schlichten Formen; er verfasste außerdem verschiedene Balladen u. versifizierte Fabeln im klassizistischen Stil. 1803 erneuerte T. die Bekanntschaft mit der zu diesem Zeitpunkt bereits länger geschiedenen Elisa (Elisabeth Charlotte Konstantia) von der Recke, mit der er 1785 erstmals zusammentraf. Von 1804 bis 1806 begleitete er sie auf einer Kur- u. Bildungsreise durch Deutschland, die Schweiz u. Italien. Später blieb er als ihr Gefährte in Dresden. T. gab verschiedene ihrer Werke heraus, so die Bruchstücke aus Neanders Leben (Bln. 1804) oder einen Band mit Gedichten (Halle 1816); er wirkte wiederholt als Herausgeber fremder Schriften, so etwa – ohne das Wissen des Autors – für Johann Gottfried Seumes Versdichtung Kampf gegen Morbona bey der Genesung niedergeschrieben (Lpz. 1809), deren Entstehungskontext T. in einem Vorwort detailliert erläutert. T. konnte auch nach dem Tod der Frau von der Recke 1833 finanziell versorgt in der gemeinsamen Wohnung leben, wo er zahlreiche

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Freunde um sich versammelte. Aus dieser Zeit stammen neben kleineren poetischen Werken vereinzelte autogr. Fragmente sowie die populärphilosophischen Wanderungen durch den Markt des Lebens (Halle 1835). Er wurde 1841 neben der langjährigen Weggefährtin beigesetzt. Noch im selben Jahr gab Karl Falkenstein die vierbändige Sammlung T.s Leben und poetischer Nachlass (Lpz. 1841) heraus, die auch rund 40 Widmungsgedichte auf den Autor enthält. Falkenstein betont in der Vorrede entschuldigend den anspruchslosen Gelegenheitscharakter der postum veröffentlichten Gedichte, schreibt diesem aber gleichzeitig den spezif. Reiz der späten Arbeiten zu. Zu Lebzeiten des Autors erfreute sich T.s Werk einiger Beliebtheit. Seine erste Werkausgabe von 1823 erschien bis in sein Todesjahr in vier Auflagen. Der Herausgeber der Deutschen Cabinets-Encyklopädie, einer mehrbändigen Anthologie zeitgenöss. Autoren, nennt T. in seiner Einleitung zum ersten Band (Genius der Dichter T. und Mahlmann. Hildburghausen/New York 1830) unmittelbar neben Goethe, dem er unter den lebenden Dichtern einzig nachzuordnen sei. T.s Hauptwerk, die Urania, wurde nicht nur mehrfach neu aufgelegt, sondern auch ins Französische u. Ungarische, der erste Gesang ins Italienische übersetzt. Darüber hinaus zeugt Friedrich Gottlob Wetzels erfolgreiche Parodie Rhinoceros, ein lyrisch-didaktisches Gedicht in Einem Gesange (Nürnb. 1810) vom Bekanntheitsgrad des Lehrgedichts. Zahlreiche Texte, vor allem aus den dialogisch angelegten Liederzyklen Das Echo oder Alexis und Ida. Ein Ciclus von Liedern (Halle 1812) sowie Aennchen und Robert, oder der singende Baum (Halle 1815) wurden, teils mit anhaltendem Publikumserfolg, von zeitgenöss. Komponisten vertont. Ludwig van Beethoven bearbeitete 1804/05 einen Textauszug aus dem ersten Gesang der Urania (An die Hoffnung op. 32); außerdem basieren Beethovens Lieder Das Glück der Freundschaft (op. 88, 1803) u. Air cosaque (WoO 158a Nr. 16, 1816) auf Texten von T. Auch Teile der Korrespondenz zwischen Autor u. Komponist, die sich 1811 in Teplitz begegneten, sind erhalten.

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Die neuere Forschung setzte sich nur ver- bilder. Magdeb. 1930, S. 192–201. – Wolfgang einzelt mit T.s Werk auseinander. 1844 ver- Biesterfeld: C. A. T.: ›Elegie auf dem Schlachtfelde öffentlichte T.s Herausgeber A. G. Eberhard bei Kunersdorf‹. In: Ders.: Aufklärung u. Utopie. eine Doppelbiografie zu T. u. von der Recke, Ges. Aufsätze u. Vorträge zur Literaturgesch. Hbg. 1993, S. 72–83. – Susanne Schwabach-Albrecht: Die die in erster Linie übler Nachrede entgegenT.-Stiftung in Dresden. In: Börsenblatt für den Dt. wirken wollte. Die frühen Dissertationen von Buchhandel (50) 1997, Buchhandelsgesch. 2, S. R. Kern (1895) u. H. Schwabe (1923) machen B73-B83. – Christiane Wirtz: C. A.T.s Bildgedicht v. a. den Einfluss Schillers bzw. Gleims auf T.s ›Der Krieger in einer Landschaft Salvator Rosas zu Werk geltend. Rom‹. In: Salvator Rosa in Dtschld. Studien zu Zum Andenken an T. gründeten seine seiner Rezeption in Kunst, Lit. u. Musik. Hg. Achim Dresdener Freunde – maßgeblich Anton Aurnhammer, Günter Schnitzler u. Mario ZaFriedrich Serre – 1841 eine Tiedge-Stiftung, nucchi. Freib. i. Br. 2008, S. 279–289. Christiane Hansen die als Vorläuferin der Deutschen Schillerstiftung gelten kann u. mit dieser personell eng verflochten blieb. Gerade die ursprüng- Tielsch, Ilse, verh. Felzmann, auch: I. T.lich projektierten Ausschreibungen von Lite- Felzmann, * 20.3.1929 Auspitz/Südmähraturpreisen fanden jedoch wenig Resonanz, ren. – Erzählerin, Lyrikerin. sodass die nur mit geringfügigem Kapital agierende Stiftung sich auf die Unterstüt- Als Tochter eines Landarztes verbrachte T. zung bedürftiger Künstler u. ihrer Familien Kindheit u. Jugend in Südmähren. 1945 konzentrierte. Nach einer zweiten Blütephase musste sie ihre Heimat verlassen u. fand zwischen 1909 u. 1919, in der sie die gesamte Aufnahme auf einem Bauernhof in OberDresdener Kunstszene wesentlich mitgestal- österreich. Linz u. Wien sind weitere Statiotete, verlor die Stiftung 1920 mit der Inflation nen auf ihrem Lebens- u. Bildungsweg. In den größten Teil ihres Vermögens; nach dem Wien nahm sie 1948 das Studium der ZeiZweiten Weltkrieg ging die mittlerweile fast tungswissenschaft u. Germanistik auf, das sie bedeutungslose Institution endgültig in die 1953 mit der Promotion zum Thema Die Wochenschrift »Die Zeit« als Spiegel literarischen »Sozialstiftung Sachsen« ein. und kulturellen Lebens in Wien um die JahrhunWeitere Werke: Die Einsamkeit. Lpz. 1792. – dertwende abschloss. Während des Studiums Über die Eitelkeit. Halberstadt 1792. – Schr.en. Erster Bd.: Episteln. Gött. 1796 (weitere Bde. nicht konnte sie ihrer Begeisterung für die Schauerschienen). – Elegieen u. vermischte Gedichte. 2 spielkunst im Kreis um das »Theater der Bde., Halle 1803/1807. – Frauenspiegel. Halle Neunundvierzig« im Wiener Café Dobner 1807. – Denkmale der Zeit. Lpz. 1814. – Anna Ausdruck geben. Nach der Zuerkennung der Charlotte Dorothea, letzte Herzogin v. Kurland. österr. Staatsbürgerschaft 1949 heiratete sie Lpz. 1823. – An die Deutschen. Worte der Warnung im folgenden Jahr. In der Studienzeit u. auch bei Gelegenheit der neuesten Ereigniße zu Con- in den Jahren danach übte T. verschiedene stantinopel; zum Besten der Griechen. Nürnb. Brotberufe aus. Mit Wilhelm Szabo, Alfred 1826. – Die Griechen im Kampfe mit den Barbaren. Gesswein u. Alois Vogel gehörte sie zu den Lpz. 1826. – Wanderungen durch den Markt des Gründern des Literaturkreises »Podium« im Lebens. Halle 1835. Jahr 1970 sowie der gleichnamigen ZeitAusgaben: C. A. T.s Werke. Halle 1823. – T.’s schrift ab 1971. Seit 1964 lebt T. als freie Leben u. poet. Nachlass. Hg. Karl Falkenstein. Lpz. Schriftstellerin in Wien. 1841. – Werke. Neue Aufl. (Halle 1827–33). Mchn. T. debütierte mit dem Gedichtband In 1994 (Mikrofiche-Edition). meinem Orangengarten (Wien 1964), dem sich Literatur: A. G. Eberhard: Blicke in T.s u. Elisas dann in fast regelmäßiger Abfolge weitere Leben. Beiträge zur Charakteristik beider. Bln. 1844. – Reinold Kern: Beiträge zu einer Charakte- Lyriksammlungen anschlossen: Herbst, mein ristik des Dichters T. Bln. 1895. – Helmut Schwabe: Segel (Wien 1967; mit Farbholzschnitten von T.s lyr. Dichtung. Ein Beitr. zur Lit.- u. Geistes- Oskar Matulla), Anrufung des Mondes (Wien gesch. der Wende des 18. u. 19. Jh. Diss. Lpz. 1923. 1970), Regenzeit (Mchn. 1975), Nicht beweisbar – Otto Hachtmann: C. A. T. In: Mitteldt. Lebens- (Mchn. 1981), Zwischenbericht (Baden 1986),

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Lob der Fremdheit (Baden 1999). Was sie alle ton-Wildgans-Preis (1989), den Wolfgangmiteinander verbindet, ist die Präsenz einer Amadeus-Mozart-Preis der Goethe-Stiftung intensiven Geistigkeit, die zwischen solchen Basel (1995), den Schönhengster Kulturpreis Ideen u. Motiven pulsiert wie etwa der Be- (1998), den Eichendorff-Literaturpreis (1998) wusstheit der Endlichkeit des Lebens u. der u. das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste des herannahenden Todes (»hörst du die des Landes Wien (2000). Schritte der Toten / die über das Eis gehen«), Weitere Werke: Brief ohne Anschrift. Marburg dem Anspruch der Bindung an einen ande- 1966 (E.en). – Südmähr. Sagen. Mit 15 Zeichnunren, dem Traum als Gegenkraft zur Gewalt u. gen v. Herbert Losert. Mchn. 1969. – Ein Elefant in folglich der Domestikation des Fremden unserer Straße oder Gesch.n mit Paul. Satir. Er(»nachts [...] / finde ich dennoch den Weg / zu zählungen. Graz/Wien/Köln 1977. – Die Königin der Tür / die in rostigen Angeln hängt / zu mit den goldenen Haaren. Marburg 1983 (E.en). – den Kinderträumen / ich bin oft dort«), dem Fremder Strand. Graz/Wien/Köln 1984 (E.). – Der närr. Knoll. Marburg 1986 (E.). – Der Solitär. Graz/ Nachsinnen über verpasstes Leben. Wien/Köln 1987 (E.en). – Die Zerstörung der BilT.s Prosaanfänge liegen hingegen im ge- der. Unsentimentale Reisen durch Mähren u. Böhsellschaftskrit., satirisch überhöhten Erzähl- men. Graz/Wien/Köln 1991. – Aus meinem ägypt. band Begegnung in einer steirischen Jausenstation Tagebuch. Reisenotizen. Marburg 1991. – Schrift(Bad Goisern 1973). Als Höhepunkt ihres li- stellerIn? Um Gotteswillen! Vom Schreiben u. vom terar. Schaffens gilt eine Romantrilogie (Die Vorlesen. Graz/Wien/Köln 1993. – Eine WinterreiAhnenpyramide. Graz/Wien/Köln 1980. Hei- se. St. Pölten 1999 (E.). – Rückkehr zu Kathrin. matsuchen. Ebd. 1982. Die Früchte der Tränen. Sofia 1999. Nur in bulgar. Sprache (E.). – Der AuEbd. 1988), deren Ausgangspunkt eine pan- gust gibt dem Bauer Lust. Wetterregeln u. Gesch.n oramatische, historisch fundierte Darstellung aus Südmähren u. dem niederösterr. Weinviertel. Krems 2000. – Ausgew. Gedichte. St. Pölten 2004. – einer sudetendt. Familie ist; in den MittelUnterwegs. Reisenotizen u. andere Aufschreibunpunkt des Ganzen rückt die Trauer um den gen. St. Pölten 2009. – Hörspiele: Der Zug hält nicht Verlust der Heimat. Bei allem stark ausge- in Bevignon. ORF 1970. – Ein Licht im Nebel. ORF prägten Heimweh schreibt T. – wie früher in 1971. – Begräbnis eines alten Mannes. ORF 1971. – der Erzählung Erinnerung mit Bäumen (Graz/ Gespräch mit dem Lehrer Leopold H. DRS 1996. Wien/Köln 1979) – ressentimentfrei; verhalLiteratur: Louis F. Helbig: Der ungeheure tene Akkorde sind nach wie vor ein charak- Verlust. Flucht u. Vertreibung in der deutschspraterist. Merkmal ihrer Poetik. Zu gleicher chigen Belletristik der Nachkriegszeit. Wiesb. Problematik u. Tonart kehrt die Schriftstel- 1988. – Jan Watrak: Die Lyrik von I. T. Szczecin lerin in ihrem Roman Das letzte Jahr (Wien 2001. Zygmunt Mielczarek 2006), einem Werk über das Erleben des Anschlusses 1938 u. dessen Implikationen aus der Sicht eines elfjährigen Mädchens, wieder. Tilemann, Philipp Johann, gen. Schenck, Die Flucht u. Vertreibung aus der mähr. * 11.11.1640 Bückeburg, † 26.12.1708 Heimat erweist sich bei T. als ein lebenslängl. Marburg. – Reformierter Theologe u. ErDrama, das den Betroffenen fort von seinen bauungsschriftsteller. Wurzeln treibt u. zum beständigen Rückgriff auf die eigene Vergangenheit nötigt. Als Sohn eines Syndikus u. Senators in BreT.s Werke liegen – chronologisch gesehen – men aufgewachsen, lernte T. nach Studien in in türk., ungar., poln., engl., russ., frz., Rinteln den niederländ. Calvinismus in Grotschech. u. bulgar. Übersetzung vor. T. erhielt ningen u. Franeker kennen, wo er 1667 zum mehrere Preise, u. a. den Würdigungspreis Dr. theol. promoviert wurde. Nach Tätigkeides Landes Niederösterreich für Literatur ten als Prediger der frz. Gemeinde in Bremen (1980), den Südmährischen Kulturpreis u. als Hofprediger der Herzogin Sophie Eli(1981), den Kulturpreis der Sudetendeut- sabeth von Braunschweig-Lüneburg sowie schen (1983), den Preis der Harzburger Lite- einer Lehrtätigkeit am Gymnasium in Hamm raturtage (1987), den Andreas-Gryphius-Preis (seit 1676) wirkte T. seit 1685 in Marburg als der Künstlergilde Esslingen (1989), den An- Professor der Theologie, Prediger u. Konsis-

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torialrat. 1691 wurde er Rektor der Univer- Tillich, Paul, * 20.8.1886 Starzeddel bei sität. Guben, † 22.10.1965 Chicago. – EvangeT. war zu seiner Zeit ein viel gelesener Er- lischer Theologe. bauungsschriftsteller, z.T. beeinflusst von der Imitatio Christi des Thomas à Kempis, so in Der Pfarrerssohn studierte 1904–1909 in den Acht Stuffen zum Gnaden-Thron Jesus Chris- Berlin u. Tübingen, dann in Halle, wo er von tus im H. Abendmahl (2 Tle., Köthen 1672; 2. dem Philosophen Fritz Medicus u. dem erAufl. u. d. T.: Sechzehn Stuffen des Gnaden Throns wecklich-supranaturalen Offenbarungsposi[...]. Bremen 1674 u. ö.; Übers. von Peidar C. tivismus Martin Kählers beeinflusst wurde. Ruffet ins Rätoromanische. Gadina 1755). Nach Promotion 1910/11 u. Habilitation Ebenfalls in pastoraler Absicht verfasste er ein 1915 in Halle war T. 1919–1924 Privatdozent Gebetbuch mit dem Titel Tägliche Opfer der in Berlin. 1925 wurde er o. Prof. für ReligiChristen (Bremen 1673). In seiner Marburger onswissenschaft an der TH Dresden. Dort Zeit widmete sich T. vor allem grundlegen- widmete er sich in Kontakt mit Künstlern u. den dogmat. Fragen. Er orientierte sich seinen geisteswissenschaftl. Kollegen verstreng an der calvinistischen Prädestinati- stärkt kulturtheolog. Fragen. 1929 übernahm onslehre, v. a. in den Fundamenta Sionis XII seu er als Nachfolger von Max Scheler den Lehrprincipia religionis reformatae, delineatio operis stuhl für Philosophie u. Soziologie in Frankplenioris (Marburg 1691). T. war in einen furt/M., wo er neben Max Horkheimer u. heftigen Streit mit dem Marburger Cartesia- Karl Mannheim wirkte u. die Habilitation von Theodor W. Adorno förderte. In Frankner Georg Otho verwickelt. furt vollendete er seine bis vor 1918 zurückWeitere Werke: Manuel d’un cavalier dedié a la Duchesse de Brunswyk. Hamm 1681. – Segen u. reichenden theoret. Bemühungen um den Trost der schwangern Weiber. Marburg 1687. – De religiösen Sozialismus mit der 1933 erschieagapis dissertatio. Ebd. 1690. – Epist[ola]. Judae nenen u. noch im selben Jahr eingestampften commentario explicata, et tempori praesenti ac- Schrift Die sozialistische Entscheidung (Potsdam. commodata. Marburg 1690 u. ö. – Disputatio Neudr. Offenbach 1948). theologica de personis sacris sub lege. Respondent: Nach dem Entzug der Lehrerlaubnis 1933 Johannes T. Marburg 1691. – Disputatio theologi- emigrierte T. in die USA, wo er von 1934 an ca, de servo arbitrio, seu impotentia peccatoris ad auf Vermittlung Reinhold Niebuhrs am Unibonum, ejusque conditione essentiali. Resp.: Joon Theological Seminary in New York lehrte. hannes Ryser. Marburg 1700. – Disquisitio theologica temporum mutationem ad Dan, VII. vers, 25. Vor dem Zweiten Weltkrieg u. währenddesexhibens cum appendice de dierum anni praesentis sen beteiligte er sich an der Hilfsorganisation mutatione. Resp.: Justus Christoph Dithmar. Mar- für europ. Emigranten u. versuchte, Pläne zur burg 1700 (Plädoyer für die Übernahme des Gre- staats- u. gesellschaftspolit. Neugestaltung gorian. Kalenders). Nachkriegsdeutschlands zu beeinflussen. Ausgabe: Dissertatio theologica de Melchisedeco Den Ertrag seiner theologisch-philosophisecunda, ex Ps. 110. v. 4. [...]. Resp.: Johannes- schen Lehrtätigkeit, die er bis zu seiner PenHermann Schlüter. Hamm 1682. Internet-Ed. in: sionierung 1955 in New York ausübte, fasst UB Kiel. seine dreibändige Systematic Theology (Chicago Literatur: Bibliografien: Hanspeter Marti: Phi- 1951–63. Dt. Stgt. 1955–66) zusammen. In losoph. Dissertationen dt. Universitäten den letzten Lebensjahren lehrte T., mit Un1660–1750 [...]. Mchn. u. a. 1982, Nr. 8529–8536. – terbrechung durch mehrere Auslandsreisen, Kosch. Bd. 22, Sp. 685. – Wilhelm Risse: Bibliozunächst an der Harvard University, danach graphia philosophica vetus [...]. Hildesh. 1998. – VD 17. – Weitere Titel: Friedrich Wilhelm Strieder: bis zu seinem Tod in Chicago. T. teilte mit der nach dem Ersten Weltkrieg Grundlage zu einer hess. Gelehrten- u. Schriftstellergesch. Bd. 16, Marburg 1811, S. 201 ff. – Bern- entstandenen dialektischen Theologie der hard Beß: P. J. T. In: ADB. Michael Behnen / Red. Krise die Kritik an der anthropologisch verengten Religions- u. Individualitätskultur des von Schleiermacher ausgehenden Neuprotestantismus. Aber diese Kritik diente ihm

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nicht wie der dialektischen Theologie dazu, einen auf das Verhältnis von Wort u. Glaube eingeschränkten Offenbarungspositivismus zu etablieren. T. entwickelte eine an der Korrelation von Philosophie u. Theologie orientierte Konzeption, in die er anthropologisch-existenzielle u. psychoanalyt. Einsichten ebenso aufnahm wie kultur- u. sozialphilosophische Theorieelemente. Angeregt durch Schellings Spätphilosophie ging T. von der unvordenkl. Positivität des göttl. Sinn- u. Seinsgrundes aus, die aufgrund der prinzipiellen Asymmetrie zwischen unbedingtem Gehalt u. bedingten Formen durch die Autonomie der menschl. Form- u. Gestaltungstätigkeit niemals eingeholt werden kann. Durch diese Annahmen erhält T.s Theologie ihre Dynamik u. Offenheit für alle Phänomene des menschl. Selbst- u. Weltumgangs: Angesichts der Asymmetrie von Gehalt u. Form erweist sich die Positivität des Seins- u. Sinngehalts als Grund u. Abgrund aller autonomen Gestaltungen, sodass diese einem unabschließbaren Prozess der Kritik u. Konstruktion ausgesetzt sind. Sein Theonomiekonzept, das Autonomie ein- wie Heteronomie ausschließt, zielt daher auf eine utopisch-eschatolog. Erwartung, die er christologisch durch den Bezug auf Jesus den Christus, pneumatologisch durch eine Theorie des Geistes u. der Geschichte verankerte. Trotz der fragwürdigen ontolog. Priorität des positiven Seinsgrundes wird die Theologie T.s – der in den 1950er u. 1960er Jahren ein Bestsellerautor v. a. in den USA war – wegen ihrer themat. Weite u. soziokulturellen Offenheit Aktualität behalten. Ausgaben: Ges. Werke. 14 Bde., Stgt. 1959 ff. Ergänzungs- u. Nachlaßbde. Ebd. 1971 ff. – Main Works/Hauptwerke. 6 Bde., Bln. 1987 ff. – Kunst u. Gesellschaft. Drei Vorlesungen (1952). Aus dem Engl. übers., hg. u. mit einem Nachw. über die Bedeutung der Kunst für das Denken P. T.s vers. v. Werner Schüßler. Münster 2004. Literatur: Klaus-Dieter Nörenberg: Analogia Imaginis. Der Symbolbegriff in der Theologie P. T.s. Gütersloh 1966. – Thomas Ulrich: Ontologie, Theologie, gesellschaftl. Praxis. Studien zum religiösen Sozialismus P. T.s u. Carl Mennickes. Zürich 1971. – Eberhard Amelung: Die Gestalt der Liebe. P. T.s Theologie der Kultur. Gütersloh 1972. – Falk

534 Wagner: Absolute Positivität. Das Grundthema der Theologie P. T.s. In: Neue Ztschr. für Systemat. Theologie [...] 15 (1973), S. 172–191. – Wilhelm u. Marion Pauck: P. T. Bd. 1, New York 1976. Dt. Stgt. 1978. – Gunther Wenz: Subjekt u. Sein. Die Entwicklung der Theologie P. T.s. Mchn. 1979. – Michael F. Palmer: P. T.s philosophy of art. Bln. 1984. – Renate Albrecht u. Werner Schüßler: P. T. Sein Werk. Düsseld. 1986. – Hermann Fischer (Hg.): P. T. Studien zu einer Theologie der Moderne. Ffm. 1989. – Hannelore Jahr: Theologie als Gestaltmetaphysik. Die Vermittlung v. Gott u. Mensch im Frühwerk P. T.s. Bln. 1989. – F. Wagner: Was ist Theologie? Gütersloh 1989, S. 126–144. – Ilse Bertinetti: P. T. Bln. 1990. – Amaresh Markus Seelig: Das Selbst als Ort der Gotteserfahrung. Ein Vergleich zwischen Carl Gustav Jung u. P. T. Ffm. 1995. – W. Schüßler: P. T. Mchn. 1997. – Gerhard Wehr: P. T. zur Einf. Hbg. 1998. – Christine Kress: Gottes Allmacht angesichts v. Leiden. Zur Interpr. der Gotteslehre in den systematisch-theolog. Entwürfen v. Paul Althaus, P. T. u. Karl Barth. Neukirchen-Vluyn 1999. – Christian Danz: Religion als Freiheitsbewußtsein. Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei P. T. Bln./New York 2000. – Ilona Nord u. Yorick Spiegel (Hg.): Spurensuche. Lebens- u. Denkwege P. T.s. Münster 2001. – Joachim Ringleben: Gott denken. Studien zur Theologie P. T.s. Münster 2003. – Roland Mugerauer: Symboltheorie u. Religionskritik. P. T. u. die symbol. Rede v. Gott [...]. Marburg 2003. – Petr Gallus: Der Mensch zwischen Himmel u. Erde. Der Glaubensbegriff bei P. T. u. Karl Barth. Lpz. 2007. – Georg Neugebauer: T.s frühe Christologie. Bln. 2007. – W. Schüßler: ›Was uns unbedingt angeht‹. Studien zur Theologie u. Philosophie P. T.s. 2., erw. Aufl. Münster 2004. – W. Schüßler u. Erdmann Sturm (Hg.): P. T. Leben – Werk – Wirkung. Darmst. 2007. – Russell Re Manning: The Cambridge Companion to P. T. Cambridge, U. K. u. a. 2009. Falk Wagner † / Red.

Tilo von Kulm, * erste Hälfte des 14. Jh. – Verfasser einer geistlichen Dichtung. »Magister Tylo de Culmine« nennt sich der Autor der Dichtung Von siben ingesigeln (6284 Verse) am Ende der einzigen Handschrift. Er dürfte mit dem 1352/53 bezeugten Domherrn in dem – dem Deutschen Orden inkorporierten – Kapitel des Bistums Samland identisch sein. Eine Identifikation mit einem 1324 u. 1328 als Domherr des ermländ. Ka-

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pitels bezeugten T. ist eher unwahrschein- einen Dialog zwischen Gott u. Christus. Die Aussendung des Hl. Geistes durch die Öfflich. Das zu Ehren des Deutschen Ordens ge- nung des sechsten Siegels (vv. 5319–5792) dichtete u. dem Hochmeister Luder von verknüpft T. mit der Erschaffung des beseelBraunschweig gewidmete Werk beendete T. ten Menschen am sechsten Tag; das Pfingstam 8.5.1331. Die Kennzeichnung seines ereignis lässt ihn nochmals die dem Geist Textes als »conpilatus« (Nachschrift) nimmt abholden »affen, di munche und di phaffen« seine – auch topische – Beteuerung man- (v. 5523 f.) angreifen. Die Umstände des gelnder Ausbildung u. Kunstfertigkeit im Jüngsten Gerichts (vv. 5793–6256) stellt T. in Prolog (vv. 42–46) wieder auf: Den Beginn der üblichen Weise dar. T. orientierte sich stilistisch an Zeitgenosder Heilsgeschichte von der Schöpfung über den Streit der Töchter Gottes um den sündi- sen wie Frauenlob, Rudolf von Ems u. Konrad gen Menschen bis zu Christi Geburt erzählt er von Würzburg: er blümt u. spielt mit Metaim Prolog nach dem AT sowie nach nicht phern, Vergleichen, ungewöhnl. Wendungen identifizierten Quellen; der Hauptteil ist dem u. Wortklängen; er kannte jedoch auch Libellus septem sigillorum auswählend u. über- Dichtungen im Deutschen Orden u. übernahm in seinen sieben-, selten achtsilbigen setzend nachgedichtet. Das Buch in Apk 5 wurde schon früh als das Reimpaarversen das silbenzählende VerfahAT, welches das NT in sich birgt, ausgelegt. ren Heinrichs von Hesler. Versuche, T. den Dass Christus die sieben Siegel zu lösen ver- anonymen Hiob zuzuschreiben, schlugen mag, bezeichnete die Erfüllung der Schrift fehl; hingegen werden zwei kunstvolle lat. durch sein ird. Leben u. Sterben. Daher Gedichte an Luder von Braunschweig auf konnten seine Erlösungstaten als Öffnung dem Vorsatzblatt der Handschrift für Werke der sieben Siegel interpretiert werden. Ent- T.s – vielleicht sogar eigenhändige Widsprechende Siebenerreihen finden sich in lat. mungen – gehalten. Apokalypsenkommentaren sowie in lat. u. Ausgabe: Von siben Ingesigeln. Hg. Karl Kovolkssprachl. Dichtungen. Häufig – so auch chendörffer. Bln. 1907. bei T. – bedeutet die Öffnung der ersten drei Literatur: Karl Helm u. Walther Ziesemer: Die Siegel Inkarnation, Taufe u. Passion Christi. Lit. des Dt. Ritterordens. Gießen 1951. – Volker Die folgenden vier versteht T. als Auferste- Schupp: Septenar u. Bauform. Bln. 1964. – Hanshung, Himmelfahrt, Ausgießung des Hl. Georg Richert: Die Lit. des dt. Ritterordens. In: Europ. SpätMA. Hg. Willi Erzgräber. Wiesb. 1978, Geistes u. Jüngstes Gericht. Im ersten Teil (vv. 1121–3030) beschäftigt S. 275–286. – Udo Arnold: T. v. K. In: 800 Jahre Dt. Orden. Gütersloh/Mchn. 1990, S. 100 f. – Achim sich T. sehr ausführlich mit alttestamentl. Masser: T. v. K. In: VL. – Arno Mentzel-Reuters: Prophetien der Menschwerdung Christi; in ›durch mins herczen gral‹. Die ›Siben Ingesigel‹ T.s den Vordergrund rückt die Verehrung Mari- v. K. als Reformhandschrift. In: Vom vielfachen ens u. ihrer Demut. Die Passionserzählung Schriftsinn im MA. FS Dietrich Schmidtke. Hg. (vv. 3287–4644) ist Anlass aggressiver anti- Freimut Löser u. Ralf G. Päsler. Hbg. 2005, jüd. Passagen; noch wichtiger ist T. die Dar- S. 283–307. – U. Arnold: T. v. K., ›Von siben instellung von Judas als Typos aller Besitzgie- gesigelen‹. In: Elisabeth v. Thüringen – eine europ. rigen, insbes. der simonistischen Geistlich- Heilige. Katalog. Hg. Dieter Blume u. Matthias keit. Bei der Öffnung des vierten Siegels (vv. Werner. Petersberg 2007, S. 358 f. Sabine Schmolinsky / Red. 4645–5022) führt T. drei Aspekte der Auferstehung aus. Die Himmelfahrt Christi im Zeichen des fünften Siegels (vv. 5023–5318) Timm, Uwe (Hans Heinz), * 30.3.1940 stellt sich T. als Erkenntnisproblem dar: Hamburg. – Roman- u. Kinderbuchautor, Können schon Christi ird. Heilstaten kaum in Essayist. ihrer ganzen Bedeutung ausgelegt werden, so ist dies für die auf Bilder angewiesene men- Im Alter von drei Jahren wurde T. mit seiner schl. Vernunft bei seinen himmlischen um so Mutter nach Coburg evakuiert. Bald nach schwieriger; T. wählt als Vermittlungsform Kriegsende kehrte er nach Hamburg zurück.

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Nach einer Kürschnerlehre leitete T. nach dem Tod des Vaters 1958–1961 das elterl. Pelzgeschäft. 1961–63 besuchte er gemeinsam mit Benno Ohnesorg das BraunschweigKolleg u. holte das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nach. Ohnesorg u. T. gaben gemeinsam die einzige Nummer der Literaturzeitschrift »teils-teils« (nach dem Titel eines Benn-Gedichts) heraus. In seiner Erzählung Der Freund und der Fremde (Köln 2005, Tb.-Ausg. Mchn. 2007) schildert T. seine Bekanntschaft mit Ohnesorg u. rekonstruiert seinen weiteren Lebensweg bis zu seiner Ermordung durch den Polizisten Kurras (dessen Rolle als Stasi-Spitzel zu dieser Zeit noch nicht bekannt war). 1963 begann T. in München das Studium der Philosophie u. Germanistik. 1966/67 studierte er an der Sorbonne bei Raymond Aron u. Jean Wahl, bevor er nach München zurückkehrte u. sein Studium mit der Dissertation Das Problem der Absurdität bei Albert Camus (Hbg. 1971) abschloss. Eine erste Fassung wurde 1968 von T. verworfen, weil sie noch ganz im Geiste Heideggers verfasst war u. nicht mehr seiner inzwischen erfolgten Politisierung entsprach. 1970–1972 studierte T. noch Soziologie u. Volkswirtschaft, entschied sich aber 1971 für eine Existenz als freier Schriftsteller, nachdem sein erster Gedichtband Widersprüche (Hbg. 1971) erschienen war. Er enthält polit. Texte, die sich die »Kritik an reaktionären Stereotypen« (H. Kesting) auf die Fahnen geschrieben haben, jedoch selbst nicht frei von Stereotypen der Kritik sind. T. wurde 1971 Mitbegründer der »Wortgruppe München« u. Mitherausgeber (bis 1976) der »Literarischen Hefte«. 1972–1982 war er ebenfalls Mitherausgeber der AutorenEdition. T. ist mit der Übersetzerin Dagmar Ploetz verheiratet u. lebt in München u. Berlin. Größere Aufmerksamkeit erregte T. zuerst mit seinem Roman Heißer Sommer (Mchn./ Gütersloh/Wien 1974. Bln./Weimar 1975. Tb.-Ausg. Reinb. 1977 u. ö. Mchn. 1998. 8 2010), mit dem er sein in dieser Zeit theoretisch mehrfach formuliertes Programm einer unterhaltsam-emanzipativen Literatur umsetzen wollte. Der Roman zeichnet an seinem Protagonisten Ullrich Krause die typischen Stationen eines Studenten der 1960er

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Jahre nach. In die existenzielle Orientierungslosigkeit u. das lustlos betriebene Germanistikstudium bricht der Mord an Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 wie ein Fanal ein, das zur Politisierung des Bewusstseins führt. Krause beteiligt sich an Demonstrationen, tritt dem SDS bei u. engagiert sich nach dem Attentat auf Dutschke an der Anti-SpringerKampagne. Unbefriedigt vom akadem. Milieu der Studentenbewegung u. dem Narzissmus der alternativen ›Körner-Apostel‹ sucht Krause Verbindung zur Arbeiterklasse, erwirbt selbst Erfahrung mit Fabrikarbeit u. lernt den Wert der polit. Kleinarbeit im Betrieb schätzen. Krause beschließt, Volksschullehrer zu werden, um mit der polit. Alphabetisierung an der Basis anzufangen. Der Text folgt erkennbar dem Schema eines Entwicklungsromans, dessen polit. Botschaft T.s ideolog. Position entspricht, wie sie sich 1973 in seinem Beitritt zur Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) manifestierte. Von Jugend an hatte T. ein großes Interesse an der Kolonialgeschichte, um deren Dokumentation er sich auch editorisch bemühte (Deutsche Kolonien. Hg. U. T. Mchn. 1981. Köln 1986). 1967 war er an dem gewaltsamen Sturz des Wissmann-Denkmals in Hamburg beteiligt, das den Gouverneur von Deutsch-Ostafrika in Siegerpose darstellte. 1976 unternahm T. eine Reise in die ehemals dt. Kolonie Südwestafrika (heute Namibia) u. studierte in Windhuk Dokumente über den 1904 ausgebrochenen Aufstand der Nama u. Hereros gegen die dt. Besatzer. Daraus entstand der Anti-Kolonialroman Morenga (Mchn. 1978. Bln./Weimar 1979. Köln 1984. Tb.-Ausg. Reinb. 1981. Köln 1985. Mchn. 2000. 102010; 3-teiliger Fernsehfilm ARD, 1985, Regie: Egon Günther), der die Niederschlagung des Aufstands als bewusst geführten Rassenkrieg aus sozialdarwinistischen Motiven deutet. T. wandte in diesem Roman weitgehend die Methode der Montage von dokumentarischem Material, Exzerpten aus Kolonialmemoiren u. ethnografischen Exkursen an. Als fiktives Element fügt T. die Aufzeichnungen des Veterinärmediziners Gottschalk hinzu, der seine Beteiligung an dem Vernichtungsfeldzug zunehmend kritisch reflektiert.

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Der Roman Kerbels Flucht (Mchn. 1980. Tb.Ausg. Mchn. 1983. 32008; verfilmt ZDF 1984, Regie: Erwin Keusch) lässt sich als Fortsetzung von Heißer Sommer lesen, insofern auch hier der Protagonist Christian Kerbel ein gescheiterter Germanistikstudent ist, der nach der Enttäuschung seiner polit. Hoffnungen u. dem Scheitern einer Beziehung in Resignation verfallen ist u. Taxi fährt. Kerbel hat die Empfindung, man habe ihm seine Wünsche gestohlen, alles erscheint ihm sinnlos u. erregt eine Art Daseinsekel. Kerbel provoziert schließlich seine Tötung, als er im Rahmen einer Terroristenfahndung eine Polizeisperre durchbricht. Der Roman endet mit der Bemerkung, dass bei Kerbels Beerdigung ›alles ruhig blieb‹. T. stellt damit eine Diagnose, die für den gesellschaftl. Stillstand am Ende der 1970er Jahre kennzeichnend sein soll. Das Ende der polit. Aufbruchsstimmung u. die bleierne Zeit der Terroristenjagd bewirken eine erstickende Atmosphäre, welche die Zukunft abgeschnitten zu haben scheint. Entsprechend sind Kerbels literar. Vorbilder unschwer in Goethes Werther u. dem Büchner’schen Lenz zu erkennen, mit denen teils explizite intertextuelle Verflechtungen bestehen. Nach seiner polit. Ernüchterung zog T. 1981 für zwei Jahre nach Rom u. wich mit den Geschichten Die Zugmaus (Mit Zeichnungen von Tatjana Hauptmann. Zürich 1981) u. Die Piratenamsel (Illustriert von Gunnar Matysiak. Zürich/Köln 1983. Überarb. Neuausg. Zürich/Frauenfeld 1991; als Hörsp. SDR 16.4.1994) auf das Gebiet des Kinderbuches aus, auf dem er 1989 mit Rennschwein Rudi Rüssel (Mit Bildern von G. Matysiak. Zürich/Frauenfeld. Neuausg. illustriert von Axel Scheffler 2002. Tb.-Ausg. Mchn. 1993. 24 2011) seinen größten kommerziellen Erfolg feierte. Unter der Regie von Peter Timm entstand 1995 der gleichnamige Kinofilm mit Iris Berben u. Ulrich Mühe in den Hauptrollen. Seit 2008 strahlt die ARD Staffeln mit jeweils 13 Folgen der Serie aus. 1989 veröffentlichte T. auch seine Aufzeichnungen aus der Zeit in Rom (Vogel, friß die Feige nicht. Köln. Tb.-Ausg. 1996. U. d. T. Römische Aufzeichnungen. Mchn. 2000. 32010). 1983 kehrte T. nach Deutschland zurück u. ließ sich wieder in

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München nieder. Der Roman Der Mann auf dem Hochrad (Köln 1984. Tb.-Ausg. 1986. Bln./ Weimar 1985. Tb.-Ausg. Mchn. 2002. 52010) handelt von dem Tierpräparator Franz Schröder, der im beschaul. Herzogtum Coburg am Ende des 19. Jh. als Dermoplastiker u. als Importeur engl. Hochräder von sich reden macht. Mittels einer neuen Technik gelingt es Schröder, den Präparaten eine lebensechte Plastizität zu verleihen, sie zgl. »still und bewegt« erscheinen zu lassen. Dasselbe ästhetische Ideal liegt seinem Engagement für das Hochrad zu Grunde, weil es dem Fahrer eine erhabene Haltung verleiht. Wirkt Schröder mit seinem Einsatz für das Hochrad zunächst als Vertreter des Fortschritts, verwandelt ihn der Siegeszug des Niederrads unaufhaltsam in einen komischen Kauz, in ein Fossil. Auch sein dermoplast. Prunkstück, die Lieblingsdogge des Herzogs, fällt am Ende des Zweiten Weltkriegs als Beutestück in einem offenen US-Jeep einem Regenguss zum Opfer. T. reflektiert in der Figur des Franz Schröder die Dialektik fortschrittl. Denkens u. des techn. Fortschritts. Das Einzige, was als anschlussfähiger Impuls bleibt, ist der emanzipator. Akt von Schröders Frau Anna, die aufs Rad steigt u. eine sittl. Empörung auslöst, weil sie damit ein gesellschaftl. Tabu bricht. Entwickelt T. in diesem Roman einen fortschrittskrit. Diskurs aus der eigenen Familiengeschichte – hinter Franz Schröder verbirgt sich der Großonkel F. des autobiografisch gefärbten Ich-Erzählers –, so verbindet er ihn im folgenden Roman Der Schlangenbaum (Köln 1986. 61997. Bln./Weimar 1987. Tb.-Ausg. Mchn. 1999. 72010) mit der Entwicklungspolitik als quasi moderner Fortsetzung von Kolonialgeschichte. Im Mittelpunkt steht der Ingenieur Wagner, der die Leitung einer Baustelle in einem von einer Militärdiktatur regierten südamerikan. Land übernimmt. Er hat das Angebot bereitwillig angenommen, weil er sich seiner Frau entfremdet hat u. nach einem Neuanfang sucht. Bei der ersten Fahrt auf die Baustelle überfährt er unabsichtlich eine Schlange, die von den Einheimischen als myth. Tier verehrt wird. Wer sie tötet, werde ertrinken. Wagner packt mit Engagement die Aufgabe an, den

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ins Stocken geratenen Bau einer Papierfabrik im Urwald voranzubringen, aber sein Eifer u. seine Korrektheit stoßen sowohl bei den bolivian. Leiharbeitern als auch bei den dt. Kollegen auf Abwehr. Wagner ist bemüht, Spanisch zu lernen u. verliebt sich in seine junge Lehrerin, der man Kontakte zum polit. Untergrund nachsagt. Als sie eines Tages verschwunden ist, macht Wagner sich auf die Suche nach ihr, die für ihn zu einer Odyssee durch ein fremdartiges Land wird. Wagner stößt unterwegs auf Überbleibsel absurder Entwicklungsprojekte, etwa eine sechsspurige Autobahnbrücke mitten im Dschungel ohne jeden Straßenanschluss. Als Wagner nach seiner Irrfahrt wieder in der einem Ghetto gleichenden Siedlung der Europäer eintrifft, hat ein sintflutartiger Regen eingesetzt, in dem die Baustelle endgültig versinkt u. in dessen Schutz die Aufständischen in den Sperrbezirk eindringen. Nach seinem großen Erfolg als Kinderbuchautor gelang T. mit der Novelle Die Entdeckung der Currywurst (Köln 1993. Ffm. 1994. Tb.-Ausg. Köln 1995. 141999. Mchn. 2000. 15 2010. Neuausg. 2011. Neuausg. mit Zeichnungen von Isabel Kreitz. Hbg. 2000) ein spektakulärer Durchbruch als Erzähler. Das Buch wurde inzwischen in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt u. 2008 von Ulla Wagner mit Barbara Sukowa u. Alexander Khuon in den Hauptrollen verfilmt. 1993 hatte T. auch seine Paderborner Poetik-Vorlesungen Erzählen und kein Ende. Versuche zu einer Ästhetik des Alltags (Köln) veröffentlicht, die seiner dichtungstheoret. Position eine klare Kontur geben. T. plädiert hier für eine »radikal subjektive Wahrnehmung des Alltäglichen«, die »das Übliche unüblich, das Gewöhnliche ungewöhnlich« erscheinen u. sich besonders an ›gezeichnete Dinge‹ u. ›sprechende Situationen‹ andocken lasse. T. versteht darunter signifikante Momente oder Relikte des Alltags, in die sich Zeichen ihrer Geschichtlichkeit eingeschrieben haben, die vom Schriftsteller unter Einsatz seiner poetischen Einbildungskraft extemporiert werden können. T. weist dabei auf den Stellenwert von Beobachtungen aus der eigenen Kindheit u. Jugend hin, aus denen sich der Sinn für das Besondere, für die Freiheit des erzählerischen

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Selbst- u. Weltentwurfs entwickelt habe. Ziel sei eine Literatur, die mittels einer »konjunktivischen Form« die Vorstellung anderer Möglichkeiten wecke u. »neue Wahrnehmungsmodelle« liefere. Mit der Entdeckung der Currywurst hat T. sein poetolog. Programm, Dinge u. Situationen des Alltags zum Medium des Erzählens zu machen, in nachhaltiger Weise umgesetzt. Der Ich-Erzähler nimmt nach über 40 Jahren die Spur der Imbissbudenbetreiberin Lena Brücker im Hamburger Hafenviertel auf, um sich von ihr die Geschichte von der ›Entdeckung der Currywurst‹ erzählen zu lassen, die sie kurz nach Kriegsende kreiert hat. Er stöbert sie in einem Seniorenheim auf, wo sie ihm in sieben Sitzungen von der Zeit 1945/46 erzählt u. dabei ein Panorama der unmittelbaren Nachkriegszeit im Sinne einer ›Geschichte von unten‹ entfaltet. Die strickende blinde Erzählerin erscheint wie eine Verkörperung der Mnemosyne. Auf die Recherche nach der Herkunft der Currywurst folgte mit Johannisnacht (Köln 1996. Ffm. 1997. Tb.-Ausg. Mchn. 1998. 12 2011) diejenige nach der Kartoffel. Ursprünglich als kulturhistor. Essay geplant, wandelte sich die Beschäftigung mit dem Stoff in einen Roman, der das histor. Thema mit T.s Erfahrungen mit dem Berlin der Nachwendezeit verband. Auf der Fährte der Kartoffel gewinnt der Erzähler u. a. Einblicke in die Kulturgeschichte der DDR, in der sie als ›Sättigungsbeilage‹ rangierte. Als durchgehender Referenztext für diesen von verschwebendem Zigarrenrauch erfüllten Roman dient Shakespeares Sommernachtstraum. Als Retrospektive auf seine Generation hat T. den Roman Rot (Köln 2001. 62002. Sonderausg. 2005. Tb.-Ausg. Mchn. 2003. 82009. Neuausg. 2011) angelegt, dessen Protagonist Thomas Linde als freiberufl. Jazzkritiker u. Beerdigungsredner in Berlin lebt. Linde besitzt die exemplarische Biografie derjenigen Generation, die in den 1960er Jahren gegen ihre – sofern vorhanden – autoritären Väter u. die geschichtsvergessene Wohlstandsgesellschaft protestiert hat. Bei einer Grabrede lernt er die 21 Jahre jüngere Lichtdesignerin Iris kennen, mit der er ein Verhältnis eingeht. So sehr Linde die Liebe der verheirateten Iris

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genießt, so idiosynkratisch reagiert er auf die winzigsten Symptome des zu Tage tretenden Altersunterschieds. Im Zusammensein mit Iris u. ihrem Mann Ben empfindet Linde die unüberwindl. Kluft der verschiedenen generationsbedingten Erfahrungen. Vertrautheit stellt sich indes sogleich ein, als Linde in die Wohnung des verstorbenen Stadtführers Aschenberger kommt. Allein schon die linke Literatur der 1960er u. 1970er Jahre ruft die eigene Vergangenheit in ihm herauf. In Aschenbergers Nachlass stößt er auf dessen Plan, die ›Goldelse‹ in die Luft zu sprengen. Linde macht sich diese Idee als Fanal des Widerstands, der Sprengung der gesellschaftl. Friedhofsruhe zu eigen. Auf dem Weg zur Siegessäule u. in Gedanken versunken, wird Linde tödlich angefahren. Der Roman setzt mit seinem schwebenden Geist ein, der sich selbst den Text von Rot als Grabrede hält, ein Sprechen von der ultimativen Schwelle. Im Verlauf seiner Retrospektive entfaltet Linde T.s poetolog. Programm der Verflechtung von Alltagsgeschichten u. Erinnerungen. Ein besonders eingängiges Beispiel ist etwa seine Entdeckung eines alten Schranks mit einem Riss, der als ›gezeichnetes Ding‹ die Geschichte von der im »Dritten Reich« versteckten Jüdin Silberstein zu Tage fördert. Rot lieferte auch für die nachfolgenden Werke Ansatzpunkte. T. selber wies in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen Von Anfang und Ende. Über die Lesbarkeit der Welt (Köln 2009. Tb.-Ausg. Mchn. 2011) darauf hin, dass Thomas Lindes zentrale Frage als Beerdigungsredner: »Wie deutet man ein gelebtes Leben in einer Sprache, die nicht glättet«, die methodische Voraussetzung für die Arbeit an dem lange geplanten Werk Am Beispiel meines Bruders (Köln 2003. 62003. Ffm. 2003. Tb.Ausg. Mchn. 2005. 52009) gebildet habe. Das an seiner Erinnerungsarbeit erprobte »umgangssprachliche, essayistische und poetische Schreiben« habe den Autor erst in die Lage versetzt, eine »Erkundungsreise in das eigene Bewusstsein« zu unternehmen u. sich bis in die Kindheit zurückreichenden Verletzungen zu stellen. Mit Am Beispiel meines Bruders realisierte T. ein familiengeschichtl. Erzählprojekt, das ihm seit Jahrzehnten vorgeschwebt hatte, ihm aber erst nach dem Tod von Mutter

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u. Schwester durchführbar war. Seit je war von dem Eintrag im Tagebuch seines sechzehn Jahre älteren Bruders Karl-Heinz: »75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG« aus dem März 1943 der Impuls ausgegangen, dessen Bewusstseinslage zu rekonstruieren u. zu einem mögl. Verständnis seines Handelns u. Empfindens zu kommen. Der Bruder, der sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hatte, wurde im Herbst 1943 tödlich verletzt u. hinterließ u. a. dieses Tagebuch mit knappen Notizen. Der Ich-Erzähler, hier T. selbst, unternimmt den Versuch, die Leerstellen zu füllen, um den verklärenden Familiendiskurs über den tadellosen Bruder durch eine krit. Lesart zu überwinden. T. recherchiert zur Waffen-SS, reist in die Ukraine, rekonstruiert die Erziehungsmaximen des Vaters, der selbst Freikorpskämpfer u. fanat. Verfechter der ›preußischen Tugenden‹ war, u. reflektiert immer wieder seine eigene Methode der imaginären Annäherung. Der IchErzähler arbeitet die »partielle Blindheit« des Gefallenen, seine erschütternde Fühllosigkeit schmerzhaft heraus. Zwar bleibt die ihn beunruhigende Frage, ob der Bruder an Massenerschießungen von russ. Zivilisten oder Juden beteiligt war, unbeantwortbar, aber der Abbruch des Tagebuchs im Angesicht unaussprechl. Grauens lässt dem jüngeren Bruder zumindest auch die Option, an einen (zu späten) Beginn des Zweifelns zu glauben. Für den Roman Halbschatten (Köln 2008. Tb.-Ausg. Mchn. 2010) hat Rot eine antizipierende Funktion, insofern Lindes Beerdigungsreden hier ihre Fortsetzung in der Wortnahme der Toten des Berliner Invalidenfriedhofs finden. Dorthin geleitet ihn der stadtkundige ›Graue‹, der zu den Zuhörern von Lindes Reden gehörte. Unter den Stimmen, die sich erheben, sind es die der Langstreckenfliegerin Marga von Etzdorf u. die des mit ihr befreundeten Schauspielers Anton Miller, die in die Vor- u. Frühgeschichte des »Dritten Reiches« führen u. besonderes Gewicht erhalten. Der Roman leidet allerdings an einer spürbaren Künstlichkeit der Figuren, die eigentümlich farblos bleiben. Es fällt auf, dass die Frankfurter Poetikvorlesungen, die über eine ganze Reihe eigener Werke detailliert Auskunft geben, das ihnen zeitlich

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nächst stehende Werk völlig unerwähnt lassen, als empfinde der Autor selbst es als einen Fremdkörper. Ganz auf der Höhe seiner erzählerischen Kunst zeigt sich T. in der Novelle Freitisch (Köln 2011). In der ostdt. Kleinstadt Anklam spricht der Ich-Erzähler, ein pensionierter Lehrer, den ehemaligen Kommilitonen Euler an, der als Wirtschaftsmanager wegen des Auftrags zur Errichtung einer Müllentsorgungsanlage die Stadt besucht. Die beiden hängen Erinnerungen an ihren Freitisch während der Münchener Studienzeit nach, die sich insbes. mit der gemeinsamen Begeisterung für Arno Schmidt verbinden. Sie hatten einst sogar zusammen eine Pilgerreise nach Bargfeld unternommen, wo Euler mittels einer List beim unnahbaren »Meister« Einlass fand u. ihm eigene Texte vorlegte. Anders als Euler ist der Dritte in ihrem Bunde, Falkner, der seinen Namen der Heyse’schen Novellentheorie verdankt, beim Schreiben geblieben u. ein erfolgreicher Schriftsteller geworden. Dem jugendl. Enthusiasmus des Trios, ihren polit. Debatten, komplizierten Liebschaften u. ihrer bohemehaften Attitüde setzt T.s Novelle ein abgeklärt-distanziertes u. von iron. Sympathie getragenes Denkmal. T.s Altersstil zeigt hier Luzidität, Dialogsicherheit u. anspielungsreiche Raffinesse. T. hat eine Vielzahl von Preisen erhalten, darunter den Literaturpreis der Stadt München (1989, 2002), den Deutschen Jugendliteraturpreis (1990, für Rennschwein Rudi Rüssel), den Tukan-Preis (2001, für Rot), den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (2002), den Schubart-Literaturpreis (2003), den Erik-RegerPreis (2003), den Jakob-Wassermann-Literaturpreis (2006) u. den Heinrich-Böll-Preis (2009). Er ist Mitgl. der Akademie der Künste in Berlin u. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt u. wurde 2009 als erster auf die Heinrich-Heine-Dozentur an der Leuphana Universität Lüneburg berufen. Außer den genannten PoetikVorlesungen hielt T. weitere in Bamberg (2005) u. war writer-in-residence in Warwick (1981), Swansea (1994) u. St. Louis (1997).

540 Weitere Werke: Wolfenbütteler Straße 53. ZeitGedichte. Mchn. 1977. – Kopfjäger. Bericht aus dem Inneren des Landes. Köln 1991. 31991. Tb.Ausg. 1993. Mchn. 2001. 62010 (R.). – Der Schatz auf Pagensand. Zürich/Frauenfeld 1995 (Jugend-R.). – Die Bubi Scholz Story. Bln. 1998 (verfilmt ARD 1998, Regie: Roland Suso Richter). – Nicht morgen, nicht gestern. Köln 1999. Tb.-Ausg. Mchn. 2001. 32005 (E.en). – Eine Hand voll Gras. Ein Drehb. Köln 2000. – Die Stimme beim Schreiben. Ein U. T. Lesebuch. Hg. Martin Hielscher. Mchn. 2005. – Am Beispiel eines Lebens. Die autobiogr. Texte in einem Band. Köln 2010 (enthält die durchges. Werke ›Vogel, friss die Feige nicht‹, ›Am Beispiel meines Bruders‹ u. ›Der Freund und der Fremde‹). Literatur: Hermann P. Piwitt: Rückblick auf heiße Tage. Romane der Studentenbewegung. In: Ders.: Boccherini u. a. Bürgerpflichten. Reinb. 1976, S. 93–110. – U. T. Hg. Irmgard Ackermann. Mchn. 1988. – Alois Prinz: Der poet. Mensch im Schatten der Utopie. Zur politisch-weltanschaul. Idee der 68’er Studentenbewegung u. deren Auswirkung auf die Lit. Würzb. 1990. – Michael Kämper-van den Boogart: Ästhetik des Scheiterns. Studien zu Erzähltexten v. Botho Strauß, Jürgen Theobaldy, U. T. u.a. Stgt. 1992. – Die Archäologie der Wünsche. Studien zum Werk von U. T. Hg. Manfred Durzak, Hartmut Steinicke u. Keith Bullivant. Köln 1995. – Hugh Ridley: Die Gesch. gegen den Strich lesend. U. T.s ›Morenga‹. In: Reisen im Diskurs. Hg. Anne Fuchs u. Theo Harden. Heidelb. 1995, S. 358–373. – U. T. Hg. David Basker. Cardiff 1999. Neuausg. 2007. – Herbert Uerlings: Die Erneuerung des histor. Romans durch interkulturelles Erzählen. Zur Entwicklung der Gattung bei Alfred Döblin, U. T., Hans Christoph Buch u.a. In: ABNG 51 (2001), S. 129–154. – Martin Hielscher: Der Kannibalismus des Erzählens. Zu U. T.s Roman ›Kopfjäger‹. In: Gegenwartslit. 1 (2002), S. 247–267. – Peter Horn: Der Schriftsteller als Beerdigungsredner. Totenbeschwörung in U. T.s ›Rot‹. In: Acta Germanica 30/31 (2002/2003), S. 99–109. – Simplice Agossavi: Fremdhermeneutik in der zeitgenöss. dt. Lit. An Beispielen von U. T., Gerhard Polt, Urs Widmer, Sibylle Knauss, Wolfgang Lange u. Hans Christoph Buch. St. Ingbert 2003. – Thomas Kraft: U. T. In: LGL. – Reinhard Wilczek: Erzählen als ›existenziale‹ Kategorie. Reflexionen zur Ästhetik des Narrativen bei U. T. In: Deutschsprachige Erzählprosa seit 1990 im europ. Kontext. Hg. Volker Wehdeking u. Anne-Marie Corbin. Trier 2003, S. 163–178. – Hans Georg Schede: U. T. Die Entdeckung der Currywurst. Freising 2004. 2010. – Sabine Wilke: U. T.s ›Kopf-

541 jäger‹ oder v. der erot. Bedeutung des Geldes. In: lit. für leser 27 (2004), H. 2, S. 113–124. – Dieter Wrobel: U. T. Rennschwein Rudi Rüssel. Mchn. 2004. – Julienne Kamya: Studentenbewegung, Lit. u. die Neuentdeckung der Fremde. Zum ethnograph. Blick im Romanwerk U. T.s. Ffm. u.a. 2005. – Der schöne Überfluss. Texte zu Leben u. Werk v. U. T. Hg. Helge Malchow. Köln 2005. – ›(Un-)erfüllte Wirklichkeit‹. Neue Studien zu U. T.s Werk. Hg. Frank Finlay u. Ingo Cornils. Würzb. 2006. – M. Hielscher: U. T. Mchn. 2007. – Erinnern, Vergessen, Erzählen. Beiträge zum Werk U. T.s Hg. Friedhelm Marx. Gött. 2007. – Inge Stephan: Nachgetragene Erinnerungen. Die Wiederkehr des Nationalsozialismus in Familientexten der Gegenwart – U. T.s ›Am Beispiel meines Bruders‹ (2003) u. Ulla Hahns ›Unscharfe Bilder‹ (2003). In: NachBilder des Holocaust. Hg. I. S. u. Alexandra Tacke. Köln/Weimar/Wien 2007, S. 18–37. – Christine Hummel: Unscharfe Bilder. Die Darstellung des Zweiten Weltkrieges im Osten bei Ulla Hahn, U. T. u. Heinrich Böll. In: Lit. im Unterricht 8 (2007), H. 3, S. 193–213. – Mary Rodena-Krasan: Postcolonial subversions in U. T.s ›Morenga‹. In: Über Gegenwartslit. FS Paul Michael Lützeler. Hg. Mark W. Rectanus. Bielef. 2008, S. 279–296. – Steffen Martus: ›also man lacht sich wirklich tot‹. Teilnehmeru. Beobachterperspektiven auf U. T.s 68er Romane ›Heißer Sommer‹ u. ›Der Freund u. der Fremde‹. In: Keiner kommt davon. Zeitgesch. in der Lit. nach 1945. Hg. Erhard Schütz u. Wolfgang Hardtwig. Gött. 2008, S. 192–215. – U. T. – lauter Lesarten. Hg. Olaf Kutzmutz. Wolfenb. 2009. – Italo Michele Battafarano: Von Andreas Gryphius bis U. T. Trento 2009. – Monika Albrecht: Selim’s sisters. Muslim women in novels by U. T. and Hermann Schulz. In: GLL 63 (2010), H. 1, S. 20–36. – William Collins Donahue: The missing jew in the mind of the German new left. U. T.s ›Rot‹ as ›rejoinder‹ to ›Heißer Sommer‹. In: Gegenwartslit. 9 (2010), S. 122–141. – Clemens Kammler: U. T. – eine Archäologie des Alltags. In: Praxis Deutsch 37 (2010), H. 222, S. 4–11. – Markus Lorenz: Kalypsos Matratzeninsel. Motivische u. poetolog. Referenzen in U. T.s Novelle ›Die Entdeckung der Currywurst‹. In: WB 56 (2010), H. 2, S. 249–269. – Silvia Machein: Nachgetragene Erinnerung: U. T. ›Am Beispiel meines Bruders‹ (2003) u. Robert Schiff ›Feldpostbriefe‹ (1994). In: Germanist. Beiträge 26 (2010), S. 82–101. – Dirk Niefanger: Die Überwindung der ›indifférence‹. U. T.s selbstreflexives Erinnern. In: Umstrittene Postmoderne. Lektüren. Hg. Andrea Hübener, Jörg Paulus u. Renate Stauf. Heidelb. 2010, S. 379–393. – Thomas Andre: Kriegskinder u. Wohlstandskinder. Die Gegen-

Timme wartslit. als Antwort auf die Lit. der 68er. Heidelb. 2011. – Hanjo Kesting: U. T. In: KLG. Jürgen Egyptien

Timme, Christian Friedrich, * 30.3.1752 Arnstadt, † 7.6.1788 Erfurt. – Verfasser von Dramen u. Romanen. Von T.s Lebensumständen ist kaum etwas überliefert. Der Sohn eines fürstl. Hofgärtners dürfte wohl studiert haben (Magistertitel). 1780 oder 1781 ließ er sich in Erfurt nieder u. verdiente sich als Privatgelehrter seinen Lebensunterhalt mit Schreiben. In den zehn Jahren vor seinem frühen Tod verfasste er u. a. vier Dramen, eine Wochenschrift u. drei mehrbändige Romane, die alle Georg Adam Keyser in Erfurt verlegte. Ein vierter, Wilhelm von Raschwitz (2 Tle., Gotha 1787/88), wurde von einem Unbekannten vollendet (3. Tl., 1789). Dass T. ein »trefflicher Kopf« war (Beyer), belegen nicht zuletzt seine kunstverständigen (nach Beyer war er »auch ein guter Maler«) acht Beiträge zu Johann Georg Meusels »Miscellaneen artistischen Inhalts«, dem maßgebl. Kunstjournal der 1780er Jahre. Seine krit. Auseinandersetzung mit Chodewieckis Autobiografie u. Werk gilt als ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Kunstkritik. 1781/82 rezensierte er zwölf Werke in der »Erfurtischen gelehrten Zeitung« mit Schwerpunkt auf der schönen Literatur (u. a. Knigges Roman meines Lebens, Klingers Plimplamplasko, Sophie Albrechts Gedichte und Schausspiele). Mit einer dieser im Urteil ausgewogenen Rezensionen, bestimmt von dem Prinzip, nach dem Gelingen der Intentionen des Verfassers zu fragen, eroberte sich T. einen Platz in der Literaturgeschichte. Er schrieb die erste ausführl. Besprechung von Schillers Räubern (24.7.1781, S. 273–279); seine Anregungen wurden später von diesem berücksichtigt (Schiller an Dalberg, 6.10.1781). T.s Urteil »Haben wir je einen teutschen Shakespeare zu erwarten, so ist es dieser« (S. 273) folgt eine krit. Würdigung der dramat. Funktion u. psycholog. Wahrheit der Figuren. Nur Franz erscheint ihm weniger als Mensch denn als vollkommenes Ideal eines Ungeheuers. T.s positive Besprechung

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ist um so bemerkenswerter, als er selbst ein Anhänger der Regelpoetik blieb. Er kritisierte Schillers Konzept der dramatisierten Geschichte mit dem Argument, dass die aristotel. Regeln, die einzuhalten er fordert, »in der Natur unserer Empfindungen gegründet« seien. Was ihn vermutlich mit Schiller verband (»eine so seltene Erscheinung im dramatischen Fach«, S. 279), waren dessen wirkungsästhetischer Idealismus u. optimistische Einschätzung der menschl. Natur; denn mit seinen eigenen Stücken ging T. ganz andere, von Gellerts rührendem Lustspiel inspirierte dramat. Wege. Alle werden durch das gleiche Handlungsmuster strukturiert: Der passive »Held« beweist in allen Situationen mit stoischem Gleichmut seine Tugend aufgrund eines festen Glaubens an den schon auf Erden Gerechtigkeit schaffenden Gott. In Der abgedankte Offizier oder Joseph der Gute (1778) – ein panegyr. Stück auf Joseph II. in der Zeit des Bayerischen Erbfolgekriegs – widersteht der mit elf Kindern in äußerste Armut geratene Leutnant von Tapfer allen Bedrohungen u. Anfechtungen, um schließlich durch den Kaiser selbst aus seiner Lage befreit zu werden. Die Rettung der Guten erfolgt hier wie in der antiempfindsamen »Farce« Der Tausch der Brüder oder das Schenie (1781) u. wie im Lustspiel Der schöne Leutnant oder die Verwandlung (1781) – beide Texte wurden von Knigge in der »Allgemeinen deutschen Bibliothek« besprochen – stets seitens einer weisen u. gerechten Obrigkeit. Die Stücke bilden eine Weltordnung ab, die zwar mit der typenhaften Gestaltung der Charaktere Kritik an Willkürakten unterer Behörden oder am intriganten Verhalten des Adels übt (u. die tätige Brüderlichkeit von Personen unterer Stände lobt), die jedoch eher ein Kampfplatz zwischen Gut u. Böse zu sein scheint. Die Gesellschaftskritik T.s hat nur moralische, keine polit. Qualität. Als Leiter des Erfurter ›Gesellschafts-Theaters‹ ab 1782 hat T. Stücke von Wezel, Goethe, Lessing u. Schiller auf die Bühne gebracht, nicht jedoch die eigenen. Mit seiner moralischen Wochenschrift »Der Luftbaumeister« (Erfurt, 4.10.1784 – 26.12.1785, 60 Stücke) griff T. auf eine marktgängige Gattung zurück, modifizierte

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sie jedoch entsprechend ihrer Ausformung in der Spätaufklärung. Er behielt die sittlichbelehrende Intention bei sowie deren Umsetzung in den tradierten literar. Formen (Erzählung, Charakterporträt, Abhandlung, Gespräch, Satire), verzichtete aber auf das einst konstitutive Gattungskriterium der fiktiven Verfasserschaft. Die techn. Erfindung des Heißluftballons durch die Brüder Montgolfier (1783) diente ihm als »literarisches Strukturmodell« (Ludscheidt), um Fragen des moralischen Verhaltens, der Religion u. ästhetischen Erziehung, des Buchmarkts u. lokaler Kulturpolitik (Carl Theodor von Dalbergs Reformen) in unterhaltender Form aus der Position eines vermeintlich objektiven Beobachters zu erörtern. Wie aufmerksam T. den zeitgenössischen politischen (s. die patriotischen Essays in der Nachfolge von Abbt u. Moser) u. den philosophischen Diskurs (über Aufklärung: s. Mendelssohn u. Kant in der »Berlinischen Monatsschrift« 1784) verfolgte, wohl bemüht, deren Vermittler in Erfurt zu sein, belegen seine Ausführungen zur polit. Rolle des Herrschers u. zu den Pflichten der Bürger sowie zu den Grenzen u. Möglichkeiten der Aufklärung. Die in seinen Rezensionen erhobenen Forderungen an den Romanautor – realistische Gestaltung der sozialen Wirklichkeit, psycholog. Menschenkenntnis u. kausale Verknüpfung der Handlungsstränge – hat T. in seinen Romanen nur bedingt umgesetzt. Er greift auf Denk- u. Schreibmuster der Zeit Gellerts zurück; die Gattung besitzt für ihn keinen ästhetischen Eigenwert. Sie dient ihm, wie in Faramonds Familiengeschichte in Briefen (4 Tle., Erfurt 1779–81. 21782–84) als Einkleidung »für eine Sammlung brauchbarer Wahrheiten« (Vorrede zu Tl. 4; s. auch »über das Romanlesen«, Tl. 2, S. 235–237. Nachdr. in: Allerneueste Mannigfaltigkeiten 2, Bln. 1783, S. 138–144, 188–191. Nachdr. Weber 1981; s. auch Vorrede zu Raschwitz, 1787). Dieser Roman überträgt die constantiaThematik des Barock ins Bürgerliche. Zwei ineinander verschlungene, antithetisch aufeinander bezogene Handlungsstränge strukturieren das keine konventionellen Aktionsmuster (Überfall, Entführung, glückl. Zusammentreffen) vermeidende Werk. Der eine

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verbindet, wie im um 1750 noch lebendigen trivialisierten höfisch-histor. Roman, staatspolit. Geschehen mit der Vorführung unerschütterl. Tugend des ›Helden‹: Reichshofrat Faramond verliert durch Intrigen seine hohe Stellung am Wiener Hof. Der andere nimmt, wenngleich höchst kritisch, ein Thema der Zeit auf: Empfindsamkeit u. Lebensuntüchtigkeit. Faramonds Sohn u. sein Freund Blakwort macht ihr empfindsamer Charakter handlungsunfähig. Religion u. Vernunft werden durch Normfiguren wie den Reichshofrat u. seine Tochter als Heilmittel für beide menschl. Extremsituationen (Verlust der bürgerl. Existenz u. empfindsame Ekstase) angeboten. – Leidenschaftliche Kritik am »Modegift« der Empfindelei ist ein zentrales Thema in T.s Œuvre. Sie kulminiert in dem abenteuerreichen, von der Kritik wohlwollend aufgenommenen Roman Der Empfindsame Maurus Pankrazius Ziprianus Kurt (4 Tle., Erfurt 1781/82. Tl. 1–3, ebd. 21785–87). Mit den Mitteln der Satire u. Parodie (z.B. wird der Held bei der Lektüre des Werther, der einzigen Quelle seiner Lebenskenntnis, närrisch) geißelt T. die »siegwartisierenden« Figuren, welche in der Art des Don Quichotte die Welt ihrer empfindsamen Lektüre (Romane von Miller, Naubert, Goethe, Albrecht, Kayser) für Realität halten. Das Phänomen der »mörderischen Seuche«, die Empfindelei, wird von T. kenntnisreich in seinen psychologischen, familiären u. literar. Aspekten entfaltet. Der dritte Band enthält den Versuch einer Theorie der Empfindsamkeit (S. 44–67; Nachdr. in: Allerneueste Mannigfaltigkeiten 3, 1784, S. 289–304). – Mit seiner z. T. wohl autobiogr. u. dadurch vergleichsweise wirklichkeitsnahen »Robinsonade« Wenzel von Erfurt (4 Tle., Erfurt 1784–86) folgt T. dem Geschmack der ›Masse‹. Denn dieser Gattungstyp mit seiner pikar. Abenteuerreihung war nach wie vor beliebt. Der Sohn eines Gärtners wandert durch Europa – der Leser erfährt viel über Gartenbaukunst in den einzelnen Ländern –, bevor es ihn (in Bd. 4) nach Surinam (zwei Brüder T.s waren dorthin ausgewandert) u. vorübergehend auf eine einsame Insel verschlägt. T. folgt in allen seinen Romanen dem Gattungstyp eines moralisierenden Pragma-

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tismus, auch dort, wo er Satire u. Komik einsetzt. Ihre ›Modernität‹ besteht allein in der Aktualität der Themen (u. a. Bildung der Frauen, Freimaurertum, Orthodoxie, Physiognomik, Empfindsamkeit, Nachahmung der Franzosen). Kennzeichen dieses von Willebrand theoretisch beschriebenen Romantypus ist der Rückgriff auf eingespielte Schreibmuster, auch in der Figurenzeichnung, die mangelnde Verankerung des Geschehens in den Figuren sowie die schwache Integration belehrender oder reflektierender Passagen. Sein – gemessen an der Prosa Wielands oder Wezels – traditionsgebundenes Erzählen dürfte den Zwängen des Buchmarktes geschuldet sein. Wo er nicht dem von ihm kritisierten »Buchmacherhandwerk« (Der Luftbaumeister, I, 26, S. 408) unterworfen war, mit seinen Zeitschriften- u. Zeitungsbeiträgen, zeigt er sich als selbstständiger Kopf. Bezüglich der Romane, die ihm seinen Lebensunterhalt sichern sollten, orientierte er sich weitgehend an einem Leser, der in seinem Weltbild u. seinen ästhetischen Ansprüchen der Gellertzeit verhaftet blieb. Zwar wurden seine »Schriften mit Begierde gelesen« u. »durften in keiner Lesebibliothek fehlen« (Beyer. Noch 1833 verzeichnet die Titelliste des Handbuchs für Leih-Bibliotheken, Karlsruhe, den Wenzel). Gleichwohl belegt sein Tod »in großer Dürftigkeit« (Beyer), dass es ihm – wie dem Prototyp des ›freien Schriftstellers‹ Johann Gottwerth Müller – trotz hoher Produktivität (allein seine Romane haben einen Umfang von über 6000 Druckseiten) u. sicherem Gespür für aktuelle Themen nicht gelang, seine Existenz ausreichend abzusichern. Weiteres Werk: Die gute Ehefrau, ein Lustspiel. Erfurt 1779. Literatur: Constantin Beyer: Nachträge zu der neuen Chronik v. Erfurt. Erfurt 1823, S. 31. – Adolf Thimme: C. F. T., ein Erfurter Schriftsteller des 18. Jh. In: FS zum 350jährigen Jubiläum des Königl. Gymnasiums zu Erfurt. Tl. 2, Erfurt 1911, S. 17–43. – Eva D. Becker: Der dt. Roman um 1780. Stgt. 1964. – Maria Tronskaja: Die Prosasatire der Aufklärung. Bln. 1969, S. 129–138. – Wolfgang Doktor: Die Kritik der Empfindsamkeit. Ffm. 1975, S. 333–346. – Texte zur Romantheorie II (1732–1780). Mit Anmerkungen, Nachw. u. Bi-

Timpler

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bliogr. v. Ernst Weber. Mchn. 1981, S. 521–533 (über das Romanlesen). – E. Weber u. Christine Mithal: Dt. Originalromane zwischen 1680 u. 1780. Eine Bibliogr. [...]. Bln. 1983. – Michael Ludscheidt: ›die ersten Anzeigen sind nicht die empfelendsten‹. C. F. T.s Rez.en in der ›Erfurtischen gelehrten Zeitung‹. In: Wezel-Jb. 8 (2005), S. 77–107. – Ders.: Eine durch ›Witz, Laune u. Satyre sich auszeichnende Zeitschrift‹. C. F. T.s Wochenschrift ›Der Luftbaumeister‹. In: Aufklärung in der Dalbergzeit. Hg. ders. Erfurt 2006, S. 131–157. – Brigitte Döring: Sprachgebrauch u. Sprachreflexion im Werk des Erfurter Schriftstellers C. F. T. In: ebd., S. 159–174. – M. Ludscheidt: Eine kleine ›Lanzenbrecherei‹. Konturen einer Kontroverse zwischen Chodewiecki u. T. In: WezelJb. 9 (2006), S. 111–146. – Reinhart Meyer: Bibliographia dramatica et dramaticorum 2, 27. Tüb. 2007, S. 168 f.; 2, 28. Ebd. 2008, S. 153. Ernst Weber

Timpler, Tümpler, Clemens, * 1563/64 Stolpen/Sachsen, † 28.2.1624 Steinfurt (Burgsteinfurt)/Westfalen. – Reformierter Schulphilosoph. Der Sohn des gleichnamigen Stolpener Kantors wurde im Sommersemester 1580 ohne Eidesleistung an der Universität Leipzig immatrikuliert. Im Aug. 1580 trat T. in die kurfürstl. Schule in Pforta ein, später (zwischen 1582 u. 1587) besuchte er das Gymnasium in Zerbst; unsicher sind Hinweise auf ein Studium an ital. Universitäten. In Leipzig erwarb er im Sept. 1587 das Bakkalaureat, u. im Winter 1588/89 wurde er dort zum Magister artium promoviert (die Thesendrucke zur Bakkalaureats- u. zur Magisterdisputation sind im Ms. erhalten, vgl. Freedman, 1988, Bd. 2, S. 740). Im Mai 1592 musste T. die Universität, an deren Philosophischer Fakultät er bis dahin als »privatus praeceptor« gelehrt hatte, verlassen, weil er aufgrund seiner Weigerung, die Konkordienformel zu unterzeichnen, des Kryptocalvinismus verdächtigt wurde. Er wandte sich zunächst nach Heidelberg, einem Zentrum des reformierten Bekenntnisses (Immatrikulation am 28.9.1592; für 1592 ist T. auch in der Matrikel der Theologiestudenten als Alumnus des Collegium Casimiranum verzeichnet; 1593 wurde er dort Regens), wo er unter dem Vorsitz des Theologieprofessors Daniel Toss-

anus Theses et antitheses brevissimae de his quatuor capitibus: De coena domini. De persona Christi. De baptismo. De praedestinatione (Heidelb. o. J. [1592]) verteidigte, im Nov. 1594 neun Bakkalarien promovierte (vgl. Oratio de opinione. In [...] Academia Heidelbergensi [...] habita [...] cum [...] nouem eruditis adolescentibus primam in philosophia lauream [...] conferret [...]. Ebd. 1595) u. selbst bei mehreren Disputationen präsidierte, in denen er bereits auch metaphys. Themen behandelte (z. B. Theses metaphysicae, de relationibus. Respondent: Johannes Kammerschmid. Heidelb. 1594). 1595 berief Graf Arnold IV. von Bentheim ihn zum Professor an das seit 1591 bestehende Gymnasium illustre Arnoldinum in Steinfurt, an dem T. als Nachfolger Otto Casmanns u. Kollege u. a. von Johannes Althusius (1592–1595/96) u. Conrad Vorstius (1596–1611) bis an sein Lebensende lehrte, zunächst Physik, seit ca. 1600 Philosophie. Um 1600 heiratete er Elisabeth, eine Tochter des wohlhabenden Steinfurter Ratsherrn Rütger Deichmann, mit der er vier Kinder hatte. Aus der annähernd drei Jahrzehnte währenden Zeit von T.s Steinfurter Lehrtätigkeit sind etliche Disputationen überliefert, die unter seinem Vorsitz verteidigt wurden (z. B. Disputatio philosophica continens elenchum errorum praecipuorum, quos missae pontificiae patroni contra principia sanae philosophiae pertinaciter defendunt. Resp.: Gerhard Vockingh. Steinfurt 1596. Internet-Ed. in: VD 16). In engem Zusammenhang mit seinen Vorlesungen stehen auch die »methodice«, also ramistisch verfahrenden systemat. Lehrbücher, in denen er fast alle Gebiete der Philosophie behandelte (Metaphysik, Physik, Ethik, Ökonomik, Politik, Logik, Rhetorik, Optik u. Humanphysiognomie) u. die ihn in ganz Europa bekannt machten u. vor allem, aber nicht nur an den reformierten Hochschulen weite Verbreitung fanden, beginnend mit dem ebenso einflussreichen wie umstrittenen Metaphysicae systema methodicum (Steinfurt 1604. Zuletzt Hanau 91616), dem T. seit der Hanauer Ausgabe (31606) eine ›Technologie‹ (Technologia, hoc est, tractatus generalis, de natura et differentiis artium liberalium), d. h. eine allgemeine Wissenschaftslehre, voranstellte. Als Gegenstand dieser als »ars contemplati-

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Tirol und Fridebrant

va« verstandenen Metaphysik bestimmte T. nicht wie üblich (nur) das Seiende, also das ›ens qua ens‹, sondern ›alles Erkennbare‹ (»omne intelligible«), also »aliquid« und »nihil« (Etwas und Nichts), sofern es vom Menschen kraft des natürl. Lichts ohne jeden Begriff der Materie erkannt werden könne. Bemerkenswert an seinem umfangreichen System der Logik (Logicae systema methodicum [...]. Hanau 1612), einer ›Kunst des Erörterns u. Wissens‹ (»ars bene disserendi et sciendi«), ist die Aufnahme der Interpretationslehre als eigenes Lehrstück: der »modus bene disserendi«, d. h. der Hauptgegenstand der Logik, befasse unter sich den »modus bene explicandi thema«, dieser wiederum den »modus bene interpretandi«. T. war neben Bartholomäus Keckermann, seinem Heidelberger Schüler, u. dem etwas jüngeren Johann Heinrich Alsted einer der bedeutendsten Vertreter der calvinist. Schulphilosophie. Er verknüpfte die aristotelische u. die ramistische Tradition, wollte sich selbst aber keiner Schule zuordnen. Fast gleichzeitig gestalteten Keckermann u. T. den ›systema‹-Begriff zur Leitvorstellung des Wissenschaftsverständnisses aus.

Literatur: Bibliografien: Freedman, 1988, Bd. 2, S. 738–771. – Wilhelm Risse: Bibliographia philosophica vetus [...]. 9 Bde., Hildesh. 1998, Register. – Kosch, Bd. 23, Sp. 47. – VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Peter Petersen: Gesch. der aristotel. Philosophie im protestant. Dtschld. Lpz. 1921. Nachdr. Stgt.-Bad Cannstatt 1964. – Max Wundt: Die dt. Schulmetaphysik des 17. Jh. Tüb. 1939, passim. – Walter Sparn: Wiederkehr der Metaphysik [...]. Stgt. 1976. – Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica universalis [...]. Hbg. 1983, S. 81–95 u. Register. – Joseph S. Freedman: European academic philosophy in the late sixteenth and early seventeenth centuries. The life, significance, and philosophy of C. T. (1563/64–1624). 2 Bde., Hildesh. 1988. – Albert Röser: Porträts aus vier Jahrhunderten Arnoldinum Steinfurt 1588–1988. Steinfurt 1988, S. 77–83. – Ingeborg Höting: Die Professoren der Steinfurter Hohen Schule. Steinfurt 1991, S. 189–192. – Estermann/Bürger, Bd. 1, S. 1178. – Ueberweg, 17. Jh., Bd. 4/1–2, Register. – J. S. Freedman: The soul (›anima‹) according to C. T. [...] and some of his central europian contemporaries. In: Scientiae et artes [...]. Hg. Barbara MahlmannBauer. 2 Bde., Wiesb. 2004, Bd. 2, S. 791–830. – Ders.: Necessity, contingency, impossibility, possibility, and modal enunciations within the writings of C. T. (1563/64–1624) In: Spätrenaissance-Philosophie in Dtschld. 1570–1650 [...]. Hg. Martin Mulsow. Tüb. 2009, S. 293–317.

Weitere Werke: De veritate doctrina metaphysica certis thesibus comprehensa. Präs.: C. T.; Resp.: B. Keckermann. Heidelb. 1593. – Exegema philosophicum trium praecipuorum et gravissimorum theorematum. [...] I. De unione animae rationalis cum corpore organico. II. De localitate cuiusque substantiae creatae. III. De inhaerentia accidentis in subiecto [...]. Präs.: C. T.; Resp.: Martin Stoerel. Ebd. 1594. Internet-Ed. in: VD 16. – Disputatio physica de generali concoctione et inconcoctione corporum [...] mixtorum. Präs.: C. T.; Resp.: Johannes Scheunemann. Ebd. 1595. – Theses physicae de natura, necessitate et certitudine sensuum in genere. Präs.: C. T.; Resp.: Nicolaus Stulen. Steinfurt 1598. – Theses disputationis philosophicae; de sensibus exterioribus. Präs.: C. T.; Resp.: Berthold Hausmann. Ebd. 1599. – Physicae seu philosophiae naturalis systema methodicum [...]. 3 Tle., Hanau 1605–1607 u. ö. – Philosophiae practicae systema methodicum [...]. 3 Tle., Hanau 1608–11. – Tabulae totius philosophiae practicae methodum adumbrantes. Ebd. 1611. – Rhetoricae systema methodicum [...]. Ebd. 1613. – Opticae systema methodicum [...]. Cui subiecta est Physiognomia humana [...]. Ebd. 1617. – Exercitationum philosophicarum sectiones X. [...]. Ebd. 1618.

Reimund B. Sdzuj

Tirol und Fridebrant. – Dichtungen in sangbaren Strophen, entstanden etwa im zweiten Drittel des 13. Jh. Unter dem Titel T. u. F. werden drei Textkomplexe zusammengefasst, die durch die Gemeinsamkeit des Personals u. der Form aufeinander bezogen sind, deren Zusammengehörigkeit aber ungewiss ist. Sie sind in der sog. Tirolstrophe gedichtet, deren nirgends aufgezeichnete Melodie im 15. Jh. unter dem Namen Mühlweise bekannt war u. als deren Erfinder Wolfram von Eschenbach angesehen wurde. Protagonisten sind König Tirol von Schottland u. sein Sohn Fridebrant, von dem bereits im Parzival Wolframs beiläufig die Rede ist. Sie standen im Mittelpunkt eines anscheinend umfangreichen Romans, von dem jedoch nur einige, nicht zusammenhängende Strophengruppen auf zwei Pergament-Doppelblättern des ausgehenden 13. Jh. erhalten sind (insg. 57 Strophen, die

Tiroler Passion

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meisten jedoch defekt). Erzählt wird u. a. von einer Königin, der Tirol u. Fridebrant offenbar Beistand geleistet hatten, einem Fest an ihrem Hof, vom Kampf gegen »halpliute« u. ein »merwunder« sowie von der Angst eines Herrn u. seines Kaplans vor einer Teufelserscheinung. Ein deutl. Bild des Ganzen lässt sich nicht gewinnen; offensichtlich ist die Abhängigkeit von Wolfram. Die beiden anderen Texte, in der Forschung als Rätsel- u. Lehrgedicht bezeichnet, stehen in dieser Reihenfolge im Anfangsteil der Großen Heidelberger Liederhandschrift unter den Königen. Im Rätselgedicht gibt der König seinem Sohn unter Berufung auf Visionen Daniels zwei allegor. Rätsel auf, die dieser löst. Beim ersten bezeichnen ein grünender u. ein verdorrender Baum den guten u. den sündigen Priester; das »bîspel« ist dem Papst u. den Bischöfen gesagt. Das zweite handelt von einer Mühle, die auf die Erlösung gedeutet wird, wobei wieder der Priester bes. hervorgehoben ist. Mit dem Lehrgedicht, einer Aneinanderreihung didakt. Aussagen, will der König seinem Sohn das rechte fürstl. Verhalten beibringen. Es könnte Bestandteil des Romans gewesen sein. Ob das auch für das Rätselgedicht gilt, ist umstritten. Ausgaben: Winsbeckische Gedichte nebst T. u. F. Hg. Albert Leitzmann. 3. Aufl., hg. v. Ingo Reiffenstein. Tüb. 1962. Literatur: Harry Maync: Die altdt. Fragmente v. König T. u. F. Tüb. 1910. – Walter Blank: Zu den Rätseln in dem Gedicht v. T. u. F. In: PBB (1965), S. 182–199. – Ingo Reiffenstein: König Tirol. In: VL. – Christoph Gerhardt: Zu den Rätselallegorien in T. u. F. In: Euph. 77 (1983), S. 72–94. – RSM 5. Frieder Schanze

Tiroler Passion ! Tiroler Spiele Tiroler Spiele, auch: Bozner Spiele. – Spätmittelalterliche geistliche Spiele des 15. u. 16. Jh. Nicht nur gemessen an dem in den Archiven von Bozen u. Sterzing aufbewahrten Corpus von mehr als 70 geistl. u. weltl. Spieltexten u. -materialien war Tirol im 15. u. 16. Jh. eine der bedeutendsten Spiellandschaften des dt. Sprachgebiets. Über sie hinaus belegen zu-

dem mehrere hundert städt. u. kirchl. Archivalien eine rege Spielkultur in den Städten, Stiften u. Klöstern Nord- u. Südtirols. Neben weltl. Spielen (Fastnachts- u. Neidhartspiele) kam eine ungewöhnl. Vielfalt geistl. Stoffe zur Aufführung. Während die Spielnachrichten bereits relativ früh einsetzen (Hall: 1426 Fastnachtsspiel, 1430 Passionsspiel), gehören die Texte selbst einer späteren Zeit an (zweite Hälfte 15. Jh./erste Hälfte 16. Jh.). Als wichtigste Textsammlung ist zunächst der sog. Debs-Codex zu nennen, eine Sammelhandschrift, die – zumeist im letzten Drittel des 15. Jh. – von verschiedenen Schreibern angefertigt wurde u. neben einem weltl. Spiel (Rumpold und Mareth) 14 geistl. Dramen enthält: ein Verkündigungs-, ein Lichtmess-, ein Gründonnerstagsspiel, zwei Marienklagen, zwei Spiele von der Grablegung Christi, vier Oster-, zwei Emmausspiele u. ein Himmelfahrtsspiel. Der Name der Handschrift geht auf ihren Vorbesitzer zurück, den Bozner Lateinschulmeister Benedikt Debs († 1515), der in seiner Zeit als »sunder liebhaber der spill« galt u. als solcher nicht nur Spieltexte sammelte, sondern auch bei Aufführungen als Initiator u. Darsteller mitwirkte (Rolle des Salvator beim Bozner Passionsspiel von 1514). Die von ihm zusammengetragenen Texte, die mit Ausnahme des Debs-Codex verloren sind, fielen nach seinem Tod an den damals in Bozen u. später in Sterzing tätigen Vigil Raber, dessen umfangreicher Nachlass an Spieltexten, Kostümen u. Requisiten 1553 in den Besitz der Stadt Sterzing überging. Während die Spiele des Debs-Codex offenbar nur z. T. auf andere Tiroler Spiele eingewirkt haben, stehen fast alle Tiroler Passionsspieltexte in enger Verbindung miteinander. So diente das Sterzinger Passionsspiel von 1486 (4128 Verse), das vom dortigen Kirchenpropst Lienhart Pfarrkircher aufgezeichnet wurde (daher auch: Pfarrkirchers Passion) u. vier Spiele aus dem Passions- u. Osterfestkreis enthält, weiteren Sterzinger (von 1496 u. 1503; 2759 Verse) u. Bozner (1514) Passionsspielaufführungen als direkte Vorlage u. wirkte zusammen mit anderen Tiroler Texten im sog. Sterzinger Passionsspiel der Mischhandschrift (M; etwa 1530–50) weiter, das seinerseits das Brixner Passionsspiel von 1551 (4615 Verse)

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beeinflusste. Auch für die mehrtägige Aufführung 1514 in Bozen griff man auf alte regionale Überlieferungen zurück. Leitung u. Vorbereitung des auf sieben Tage ausgeweiteten Spiels lagen in den Händen von Debs, Raber u. Lienhart Hiertmair d.Ä., einem Bürger aus der Bozner Führungsschicht. Begonnen wurde das Bozner Passionsspiel von 1514 mit einem Palmsonntagsspiel, dessen Text Raber für diese Aufführung in Sterzing abgeschrieben hatte; es folgten am Gründonnerstag das Mandat mit einer umfängl. Darstellung des Abendmahls, am Karfreitag die Leidensstationen Christi mit der Kreuzigung, am Karsamstag eine dramat. Marienklage, am Ostersonntag die Auferstehung u. am Ostermontag ein Emmausspiel. Ein Himmelfahrtsspiel bildete den Beschluss des offenbar als Zyklus aufgefassten Spiels. Erhalten haben sich von dieser Aufführung fünf Handschriften, die neben der oben gen. Sterzinger Vorlage auch auf einen Text aus Hall (Haller Passionsspiel, 2255 Verse) u. auf das Bozner Passionsspiel von 1495 zurückgriffen, das in zwei Redaktionen überliefert ist (A: 3678 Verse; B: 3663 Verse). Die älteste Handschrift des Bozner Fronleichnamsspiels datiert aus dem Jahre 1543 (262 Verse), doch reicht die Tradition seiner Aufführung, die erst in der Mitte des 18. Jh. ihr Ende fand, nachweislich bis 1472 zurück. Die glanzvolle Veranstaltung mit Bühnenspiel, »umgang mit den figuren« u. theoret. Prozession fand bis ins erste Drittel des 16. Jh. fast durchweg jährlich statt, um dann – offenbar aus Kostengründen – in einen Dreijahresturnus überzugehen. Eröffnet wurde das Umgangsspiel mit einer im Sinne der »repraesentatio« höchst glanzvollen Darstellung der Bozner Stadtpatrone Georg u. Margaretha. In der anschließenden Figurenprozession stellten Handwerkerburschenschaften, Zünfte u. Fraternitäten verschiedene Ereignisse der Heilsgeschichte dar. Den Höhepunkt der Festlichkeit bildete ein auf dem Musterplatz aufgeführtes Georgsspiel (Kampf mit dem Drachen, Drachenstich). Weitere Bearbeitungen geistl. Stoffe finden sich in der Handschrift eines Himmelfahrtsspiels aus Cavalese (im Trentiner Fleimstal), das dort 1517 u. 1518 zur Aufführung kam u. zu

Tiroler Spiele

dem sich neben dem Textbuch auch ein Darstellerverzeichnis erhalten hat, in einem Brixner Emmausspiel von 1523, das offenbar den Versuch einer Neufassung der beiden Emmausspiele des Debs-Codex dokumentiert, in dem zweifachen Versuch einer Dramatisierung des Johannes-Evangeliums (1526 u. um 1530; 2132 bzw. 2989 Verse) wie auch in einem sehr eigenständigen, nur in diesem einzigen Textzeugen bekannten Prozessspiel vom Recht, dass Christus stirbt (1529; 1500 Verse). Alle fünf genannten Handschriften sind Abschriften, Reinschriften oder Überarbeitungen von der Hand Rabers, dem auch die Aufzeichnungen einer Marienklage (1511), eines Weihnachtsspiels (1511; 1010 Verse), eines Spiels von David und Goliath (1515; 320 Verse) u. eines Spiels vom reichen Mann und armen Lazarus (1539; 937 Verse) zu verdanken sind. Auch die Tiroler weltl. Spiele, für die weiterhin die Edition Zingerles maßgeblich ist, wurden – mit Ausnahme des Rumpold-undMareth-Spiels im Debs-Codex, des Neidhartspiels von 1511 u. des sog. Neidhart-Szenars (Dirigierrolle eines Neidhartspiels; Zingerle, Nr. 26) – von Raber aufgezeichnet u. seiner Handschriftensammlung einverleibt. Sie stammen aus der Zeit zwischen 1510 u. 1535 u. behandeln sehr unterschiedl. Stoffe: Neben groben u. teilweise obszönen Spielen stehen moralisierende Stücke (z. B. Rex mortis), ein (Jahreszeiten-)Spiel von May und Herbst, ein Rosengartenspiel (Das recken spil), das auf Motive der Dietrich-Epik zurückgreift, u. ein Spiel (Die zwen Stenndt), das in einer Wirtshausdiskussion über die Reformation, die damit verbundenen Unruhen u. die Furcht vor der Türkengefahr aktuelle polit. Themen auf die Bühne brachte. Ausgaben: Oswald Zingerle: Sterzinger Sp.e nach Aufzeichnungen des Vigil Raber. 2 Bde., Wien 1886 (weltl. Sp.e). – J[osef] E[duard] Wackernell: Altdt. Passionssp.e aus Tirol. Graz 1897. – Norbert Hölzl u. Karl Wolfsgruber: Das Emmaus-Sp. aus dem spätmittelalterl. Brixen. In: Der Schlern 42 (1968), S. 151–162. – Walther Lipphardt (Hg.): Die geistl. Sp.e des Sterzinger Spielarchivs. Bd. 1, Bern u.a. 1981. 21986. Bd. 2 bearb. v. Hans-Gert Roloff. Ebd. 1988. Bd. 3 bearb. v. Andreas Traub. Ebd. 1996. Bd. 4 bearb. v. H.-G. Roloff. Ebd. 1990. Bd. 5

Tittel bearb. v. dems. Ebd. 1980. Bd. 6,2 bearb. v. A. Traub u. Sabine Prüser. Ebd. 1996. – Werner M. Bauer: Sterzinger Sp.e. Die weltl. Sp.e des Sterzinger Spielarchivs. Wien 1982. – John Margetts: Neidhartsp.e. Graz 1982. – Bruno Klammer: Bozner Passion 1495. Bern u. a. 1986. – Karin Wilcke: Ein unbekanntes Himmelfahrtssp. des MA. In: WW 37 (1987), S. 184–223, 284–308. Literatur: Adolph Pichler: Ueber das Drama des MA in Tirol. Innsbr. 1850. – J[osef] E[duard] Wackernell: Die ältesten Passionssp.e in Tirol. Wien 1887. – Wolfgang F. Michael: The Staging of the Bozen Passion Play. In: GR 25 (1950), S. 178–195. – Anton Dörrer: Tiroler Umgangssp.e. Innsbr. 1957. – Egon Kühebacher (Hg.): Tiroler Volksschausp. Bozen 1976. – Elizabeth Wainwright-de Kadt: Das ›Bozner Fronleichnamssp.‹ u. Jacob Ruoffs ›Passion‹. In: ZfdPh 99 (1980), S. 385–403. – Hansjürgen Linke: Das mißverstandene ›heu‹. In: ZfdPh 113 (1984), S. 294–310 (zum 3. Bozner Ostersp.). – Ders.: Die beiden Fassungen des Tiroler Fastnachtssp. ›Die zwen Stenndt‹. In: Daphnis 14 (1985), S. 179–218. – Ders.: Das Tiroler (Mittlere) Neidhartsp. u. seine Dirigierrolle. In: Archiv 222 (1985), S. 1–21. – Ders.: Die Ostersp.e des Debs-Codex. In: ZfdPh 104 (1985), S. 104–129. – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Sp.e u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986. – John Margetts: Die mittelalterl. Neidhart-Sp.e. Göpp. 1986. – Bernd Neumann: Das spätmittelalterl. geistl. Sp. in Tirol. In: Zeman 1,2, S. 521–545. – Ders.: Geistl. Schausp. im Zeugnis der Zeit. 2 Bde., Mchn. 1987. – Max Siller (Hg.): Fastnachtsp. – Commedia dell’arte. Innsbr. 1992. – Ders.: Zur Ed. des Tiroler Fastnachtsp. ›Die zwen Stennd‹ (sic). In: Editionsberichte zur mittelalterl. dt. Lit. Hg. Anton Schwob. Göpp. 1994, S. 237–249. – Ders.: Zu den neuen Editionen der geistl. Tiroler Sp.e. In: Lit. u. Sprache in Tirol. Hg. Michael Gebhardt. Innsbr. 1996, S. 193–230. – Monika Schulz: Die Oster- u. Emmaussp.e u. das Himmelfahrtssp. im Debs-Codex. Göpp. 1993. – Harald Zielske: Die Bozener Passionsspielaufführung v. 1514 u. der Bühnenplan v. Vigil Raber. In: Daphnis 23 (1994), S. 287–307. – Fiammetta Bada: Le commedie di Vigil Raber dal tardogotico alla rivoluzione contadina del 1525. Bozen 1996. – Harwick W. Arch: Vigil Rabers Sterzinger Wappenbüchl. Innsbr. 1999. – Ders.: Vigil Rabers Neustifter Wappenbuch. Brixen 2001. – Monika Fink: Geistl. Sp.e im 15. u. 16. Jh. In: Musikgesch. Tirols 1. Hg. Kurt Drexel. Innsbr. 2001, S. 323–333. – Andreas Traub: Zeitdimension im Geistl. Sp. In: ebd., S. 335–351 (zum Debs-Codex). – M. Gebhardt (Hg.): Vigil Raber. Zur 450. Wiederkehr seines Todesjahres. Innsbr. 2004.

548 – Peg Katritzky: What Did Vigil Raber’s Stage Really Look Like? In: ebd., S. 85–116. – Hansjürgen Linke: Verantwortung. In: Ritual u. Inszenierung. Hans-Joachim Ziegler. Tüb. 2004, S. 139–165 (zur Bozner u. Brixner Passion). – Ders.: Sozialisation u. Vergesellschaftung im mittelalterl. Drama u. Theater. In: Das Theater des MA u. der Frühen Neuzeit. Hg. Christel Meier. Münster 2004, S. 63–93 (mit Bozner Beispielen). – Hannes Obermair: The Social Stages of the City. Vigil Raber and Performance Direction in Bozen/Bolzano. In: Concilium medii aevi 7 (2004), S. 193–208. – Herbert Schempf: Recht u. Gericht bei Vigil Raber. In: Forsch. zur Rechtsarchäologie u. rechtl. Volkskunde 24 (2007), S. 267–283. – Klaus Amann: Urban Literary Entertainment in the Middle Ages and the Early Modern Age. The Example of Tyrol. In: Urban Space in the Middle Ages and the Early Modern Age. Hg. Albrecht Classen. Bln./New York 2009, S. 503–534. Bernd Neumann / Hannes Obermair

Tittel, Gottlob August, * 16.11.1739 Pirna/Sachsen, † 16.9.1816 Karlsruhe. – Professor, Kirchenrat u. eklektischer Popularphilosoph. T. wurde 1760 mit einer Dissertation über die Naturrechtslehre von Thomas Hobbes in Jena promoviert u. lehrte dort, weiterhin zahlreiche lat. Abhandlungen publizierend, bis 1764. Dann berief ihn Markgraf Karl Friedrich an das universitätsähnl. höhere Gymnasium (»Lyceum«) in Karlsruhe, wo T. bald führende Positionen in der Kultusbürokratie (Kirchenrat 1773) einnahm u. bis etwa 1808 v. a. philosophische Vorlesungen hielt. Darüber hinaus wirkte er als Begründer u. Leiter der 1767 institutionalisierten ›Lateinischen Gesellschaft (Societas Latina)‹, in der, gestützt auch von einem weiteren Kreis auswärtiger Ehrenmitglieder, bis 1804 regelmäßig Vorträge der Studierenden, darunter von Johann Peter Hebel u. Ernst Ludwig Posselt, gehalten u. diskutiert wurden. Zwei Bände der Reden u. Abhandlungen, auch Dichtungen dieser Gesellschaft erschienen im Druck (Acta Societatis Latinae Marchico Badensis. Karlsr. 1767. Bd. 2, Tüb. 1770. Ferner vier Bände Handschriften der Redner in der LB Karlsruhe). In seinen zahlreichen Vorträgen, Abhandlungen u. vor allem Lehrbüchern profilierte sich T. als repräsentativer Vertreter eines popular-

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philosophischen, von Christian Wolff u. bes. dem Göttinger Philosophen Johann Georg Heinrich Feder (1740–1821) beeinflussten, weiterhin christlich fundierten Moralismus, der sich in seiner Breitenwirkung – gerade für die Literatur des dt. Südwestens – als mentalitätsgeschichtlich höchst signifikant erweist. Die von T. vertretenen Positionen implizieren die Abwehr der Geniebewegung, die Kritik v. a. der Moralphilosophie Kants u. der Kulturkritik Rousseaus, zgl. jedoch offenbar die krit. Aufnahme des engl. Empirismus, ablesbar etwa in T.s dt. Übersetzung (Mannh. 1791) von John Lockes Essay Concerning Human Understanding. T.s Œuvre u. die geistige Formation, die er vertritt, gehören zu einem noch nicht hinreichend erforschten Feld der dt. Spätaufklärung. Weitere Werke: Uber Moral u. Tugend. Einige Vorlesungen zum Eingang in die Sittenlehre. Karlsr. 1776. – Moralische Züge aus dem Character des Teutschen nach Tacitus. Karlsr. 1781. – Erläuterungen der theoret. u. pract. Philosophie nach Herrn Feders Ordnung. Logik. Ffm. 1783. 31792. – Metaphysik. Ebd. 1784. 21788. – Allg. prakt. Philosophie. Ebd. 1785. – Natur- u. Völkerrecht. Ebd. 1786. – Über Herrn Kant’s Moralreform. Ffm./Lpz. 1786. – Erläuterungen der theoret. u. pract. Philosophie. Abhandlungen über einzelne wichtige Materien. Ebd. 1786. – Kantische Denkformen, oder Kategorien. Ebd. 1787. – Dreyssig Aufsätze aus Litteratur, Philosophie u. Gesch. Mannh. 1790. Literatur: ADB-Artikel unbrauchbar. – Bestes Werkverz. bei Theodor Hartleben: Litterärisches Karlsruhe. Karlsr. 1815 (elektronisch in DBA). – Martin Annen: Das Problem der Wahrhaftigkeit in der Philosophie der dt. Aufklärung. Würzb. 1997, S. 163–165. – Wilhelm Kühlmann: Facetten der Aufklärung in Baden. Johann Peter Hebel u. die Karlsruher Lat. Gesellsch. Freib. i. Br. 2009 (Register). Wilhelm Kühlmann

Titurel, Jüngerer ! Albrecht Titz, Johann Peter, * 10.1.1619 Liegnitz, † 7.9.1689 Danzig. – Gelegenheitsdichter, Übersetzer, Verfasser einer Poetik. Nach dem Besuch der Schule in Liegnitz bezog T. das Elisabet-Gymnasium in Breslau, 1636 das Gymnasium in Danzig, an dem er am 14.5.1639 unter dem Vorsitz von Peter

Titz

Oelhaf eine juristische Disputation De objecto dominii, et caussis acquirendi dominii naturalibus (Danzig) verteidigte; sein Studium absolvierte er in Rostock (seit Okt. 1639) u. Königsberg (seit 1644). 1645 wieder in Danzig, wurde T. 1648 Konrektor der Marienschule, 1651 Professor am Gymnasium. Nach einem kurzen Aufenthalt in Leiden wurde er 1653 Professor der Eloquenz am Danziger Gymnasium, 1656 Professor der Poesie. T. ist v. a. durch die Poetik, Zwey Bücher von der Kunst hochdeutsche Verse und Lieder zu machen (Danzig 1642), bekannt geworden. Sein Interesse gilt hier insbes. Fragen der Vers- u. Reimlehre (»Reim-Register«). Die bemerkenswert konservative Ausrichtung an nlat.humanistischen Poetiken kontrastiert mit dem Eintreten für Buchners Metren (Daktylen). Die Gattungsgliederung geht auf Buchners damals noch ungedruckte Poetik zurück. Zur Verbreitung des Epigramms hat T. mit der Übersetzung Florilegii Oweniani centuria [...] versibus germanicis (ebd. 1643; Centuria altera [...]. Ebd. 1645) beigetragen. Seine Bearbeitung des Lucretia-Stoffs steht im Zeichen barock-humanistischer Gelehrsamkeit: Lucretia, sampt beygefügter historischer Erklärung der dunckeln Orter (ebd. o. J. [1643?]). Eigene Wege ging T. mit der Übersetzung zweier Werke des Jacob Cats aus dem Niederländischen (Leben auß dem Tode, oder Grabes-Heyrath zwischen Gaurin und Roden. Ebd. 1644. Knemons Send-Schreiben an Rhodopen [...]. Ebd. o. J. [1647]). Hier findet die moderne Form des Heldenbriefs vor Hoffmannswaldau Anwendung. Die kleinen Sammlungen Noctium poeticarum praemetia (ebd. o. J. [1666]; mit einer Hirtendichtung), Noctium poeticarum manipulus, Sitophili opera studioque collectus (ebd. 1670) u. Noctium poeticarum manipulus, Ponetaerii opera (ebd. 1671) belegen die Kunst der strengen Form. Eine systemat. Darstellung von T.’ Werk steht noch aus. Weitere Werke: Hochzeit-Gedichte Herrn Simon Dachen aus Dantzig übersendet. Königsb. 1641. – Poematiorum iuvenilium libellus. Ebd. 1641. – Ideae rhetoricae, cum promulgationibus actuum in Gymnasio Gedanensi oratoriorum ac poeticorum [...]. Ebd. (1676). Ausgaben: Zehen geistl. Lieder. o. O. u. J. Internet-Ed. in. VD 17. – Dt. Gedichte. Hg. Leopold

Titze Hermann Fischer. Halle 1888. – Fischer/Tümpel, Bd. 3, S. 137–141. – Internet-Ed. weiterer Werke in: VD 17 u. dünnhaupt digital. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 6, S. 4029–4071. – VD 17. – Weitere Titel: Samuel Schelwig: Christl. Predigt, bey ansehnl. LeichBegängnüsse, des [...] Johannis Petri Titii [...]. Danzig 1689. – Daniel Georg Morhof: In obitum viri clarissimi Johannis Petri Titii [...] elegia. o. O. 1689. – Georg Ellinger: Einige Bemerkungen zu J. P. T.s dt. Gedichten. In: ZfdPh 21 (1889), S. 309–328. – Markgraf: J. P. T. In: ADB. – Walter Raschke: Der Danziger Dichterkreis des 17. Jh. Diss. masch. Rostock [1914] 1922, S. 35–71. – Bruno Markwardt: Gesch. der dt. Poetik. Bd. 1, Bln. 3 1964, S. 64–67, 371 f. – Fritz Gause: J. P. T. In: Altpr. Biogr., Bd. 2, S. 738. – Heiduk/Neumeister, S. 109, 252, 481. – Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 1178; Tl. 2, S. 1361 f. – Klaus Bürger: J. P. T. In: Altpr. Biogr., Bd. 5/2 (2007), S. 1965 f. – Simon Dach (1605–1659). Werk u. Nachwirken. Hg. Axel E. Walter. Tüb. 2008, Register. Ferdinand van Ingen / Red.

Titze, Marion, * 23.4.1953 Lichtwalde bei Chemnitz. – Verfasserin von Romanen, Erzählungen, literarischen u. politischen Essays; Funk-, Fernseh- u. Literaturjournalistin. Nach dem Studium der Journalistik in Leipzig (1972–1976) u. einem Fernstudium am dortigen Literaturinstitut »Johannes R. Becher« (1978–1981) arbeitete T. bis 1985 beim DDR-Fernsehen, das sie wegen nonkonformen Verhaltens verlassen musste. Zwischen April 1985 u. Sept. 1988 war sie Chefredakteurin der Literatur- u. Kulturzeitschrift »Temperamente«. Seitdem sie dort ebenfalls aus polit. Gründen entlassen wurde, ist T. als freischaffende Autorin tätig u. lebt in Berlin. Nach der ›Wiedervereinigung‹ verfasste sie Radioessays für den Südwestrundfunk. 1994 erschien ihr Erstling Unbekannter Verlust (Bln. 1994), für den sie im folgenden Jahr mit dem Anna-Seghers-Preis sowie mit dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises ausgezeichnet wurde. Das Buch, in dessen Titel Freuds Definition von Melancholie aufgegriffen wird, behandelt mittelbar ein Thema, zu dem sich die Autorin bereits in ihrem Essay Die Stirnen schattenhaft vergittert (SuF 45, 1993, S. 764–777) geäußert hat: »Die Melan-

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cholie knüpft innerlich ein Band, das äußerlich zerrissen ist.« In dem Bewusstsein, dass ihre DDR-Vergangenheit auch drei Jahre nach der ›Wende‹ noch »Macht über jeden Atemzug« habe, setzt sich die Ich-Erzählerin reflektierenderinnernd mit dieser u. ihrer eigenen »Gespaltenheit« infolge der geschichtl. Veränderungen auseinander. Während die Protagonistin auch den melanchol. Blick auf die verlorene Heimat, in der sie ihre Kindheit verbrachte, zulässt, ist ihr Freund Daniel zynisch, verbittert u. letztlich korrumpierbar geworden. Durfte der Filmemacher, ebenso wie die Erzählerin, noch zu DDR-Zeiten nicht arbeiten, so erhält er nun die Möglichkeit, einen Film über Novalis zu drehen. Hierfür bittet er seine einstige Vertraute um Mitarbeit. Über der gemeinsamen Arbeit zerbricht die Freundschaft, denn Daniel unterwirft sich effekthascherischen Darstellungsweisen u. plant, die Romantik als Vorläuferbewegung des Nationalsozialismus abzubilden. Der Konflikt knüpft somit an den Romantikdiskurs in der DDR an. Der opportunistischideolog. Diskreditierung einer Kunstepoche vermeintlich reaktionärer Gesinnung setzt die Erzählerin die Deutung von einer mit der Gegenwart vergleichbaren »Zwischenzeit« (Christa Wolf) enttäuschter Hoffnungen entgegen. Ein Jahr nach dem Erscheinen von Unbekannter Verlust, das als wichtiger Beitrag zur ›Wendeliteratur‹ wahrgenommen wurde, errang T. durch ihren Filmessay über Imre Kertész (Ich habe viele Wenden gesehen. ORB 1995) u. die Teilnahme am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (Die Frau aus der Hörspielabteilung) die Aufmerksamkeit eines größeren Publikums. Zwar war sie weiterhin in verschiedenen Bereichen des Kulturbetriebs tätig, die zentralen Themen auch der folgenden Arbeiten blieben jedoch zum einen die breite Auseinandersetzung mit der Literaturgeschichte von Calderón bis hin zur ›reziproken Gleichheit‹ Gottfried Benns u. Thomas Manns, zum anderen die individuellen wie polit. Veränderungsprozesse vor u. resultierend aus der ›Wiedervereinigung‹. Im Mittelpunkt ihrer u. a. mit dem Lessingförderpreis des Freistaates Sachsen (1999) prämier-

Tkaczyk

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ten Texte, sei es in der frühen Erzählung Geschütztes Haus (SuF 41, 1989, S. 855–864), dem »Übergangsperioden« beschreibenden Erzählband Das Haus der Agave (Stgt. 1997) oder den essayistischen Erzählungen in Schillers schönes Fieber und andere Diagnosen (Zürich 1999), steht dabei zumeist eine Ich-Erzählerin, die sich selbst zur zweiten DDR-Generation (»die darin jung war«) zählt. Die histor. Forschung würde sie heute als Angehörige der »Integrierten Generation« bezeichnen (Thomas Ahbe u. Rainer Gries: Geschichte der Generationen in der DDR und in Ostdeutschland. Ein Panorama. Erfurt 2007). Den Umstand, dass diese Generation von der Umbruchsituation der 1990er Jahre auch im Privaten auf bes. Weise betroffen war, veranschaulicht T. in dem zuletzt von ihr erschienenen Roman Niemandskind (Zürich 2004). Weitere Werke: Vom Mond das fehlende Stück. Zürich 2000 (Ess.). – Der Maler. In: Vom Fisch bespuckt. Hg. Katja Lange-Müller. Köln 2002, S. 120–124. – Anna K. – ein Bericht. In: Ortstermine. Hg. Hugo Dittberner. Gött. 2004, S. 213–222. – Legale Verleitung zum Irrtum. In: SuF 57 (2005), S. 497–507. – Schlaf, Tod u. Traum. Bln. 2007 (Erz.). – Die retuschierte Wirklichkeit. In: Aus Politik u. Zeitgesch. 2009, H. 11 S. 3–8. Literatur: Joachim Garbe: Dt. Gesch. in dt. Gesch.n der neunziger Jahre. Würzb. 2002, S. 65–69. – Thomas Kraft: M. T. In: LGL. Philipp Böttcher

Titzenhofer, Sophie (Eleonore Helene) von, geb. von Wundsch, gen. Ratzbar, verh. von Kor(t)zfleisch, * 27.12.1749 Groß-Jännowitz bei Liegnitz, † 18.6.1823 Breslau. – Lyrikerin u. Dramatikerin.

Reichenbach zu ihrer Schwester, wo sie sich karitativ u. patriotisch stark engagierte. T.s melancholisch-schwärmerische Gedichte lassen trotz weiter zeitl. Streuung keine nennenswerte Entwicklung erkennen. Im Ton Kleists u. Höltys verfasst, verdanken sich noch ihre späteren lyr. Versuche anakreont. Motiv- u. Themenvorgaben (u. a. Poetische Versuche eines adelichen Frauenzimmers an ihre Freunde. Breslau 1776. Gedichte. Von S. E. von Kortzfleisch. Bln. 1792). Anders als zahlreiche Gelegenheits- u. dynast. Huldigungsgedichte (u. a. Am Sarge Friedrichs, An den Kronprinzen von Preußen. In: Berlinische Monatsschrift, Juli 1792, S. 42 f.) verraten sie trotz ihrer unzeitgemäßen Manier poetisches Talent. Vereint mit Essays u. moralisierenden Erzählungen wurden deshalb etliche ihrer Gedichte mehrfach gedruckt (Vermischte Schriften in Poesie und Prosa. Bln. 1792/93. Neuaufl. 1811). Frühe dramat. Arbeiten im Stil des literar. Rokoko sind forscherlich noch nicht gewürdigt worden (Lausus und Lydia, ein Drama in drey Aufzügen, nach den moralischen Erzählungen des Herrn Marmontel. Breslau 1776. Osman und Bella. Ebd. 1776. Wilhelm und Hannchen. Eine Operette. Ebd. 1778). Entschiedener Patriotismus, antinapoleonische Grundstimmung u. der Einsatz des Honorars für die Kriegsversehrtenfürsorge verhalfen dem Schauspiel Das Landwehr-Kreuz in der Schlacht an der Katzbach [...]. Nebst einigen andern Gedichten [...] (Jauer 1815. Neuausg. Halle 1816) zu einem zeitbedingten Publikumserfolg. Literatur: v. Kortzfleisch: S. E. H. v. T. In: ADB. – Elisabeth Friedrichs: Die deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 18. u. 19. Jh. Stgt. 1981, S. 167 (Lit.). Gerda Riedl

Die Tochter eines kursächs. Majors verbrachte ihre Jugend in Groß-Jännowitz; dort Tkaczyk, Wilhelm, * 27.2.1907 Hindenerhielt sie Privatunterricht u. wurde früh mit burg (Zabrze), † 2.12.1982 Berlin/DDR. – den zeitlebens hochgeschätzten Werken Lyriker. Ewald von Kleists u. Höltys vertraut. Ihre erste Ehe war nicht glücklich. 1805 verwit- T. erlebte schon früh die wirtschaftl. Not wet, heiratete sie 1808 den Sohn ihrer Oberschlesiens nach dem Krieg. Er verlor Freundin Johanna Friederike von Titzenho- seine Lehrstelle in einer Draht- u. Seilfabrik u. fer. Gemeinsam mit ihrem Mann lebte sie schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. zunächst in Glatz (1808/1809), dann in Berlin 16-jährig schrieb er seine ersten Gedichte, (1810/11) u. schließlich in Graudenz (1812/ zunächst für sozialdemokratische, später für 13). Der frühe Tod ihres Gatten veranlasste T. kommunistische Blätter. Seit 1926 war er 1814 zur Übersiedlung nach Olbersdorf bei KPD-Mitgl. u. gehörte zum Bund proleta-

Tochter Syon

risch-revolutionärer Schriftsteller. Johannes R. Becher förderte seinen ersten Gedichtband, Fabriken-Gruben (Magdeb. 1932). Nach dem Zweiten Weltkrieg war T. in verschiedenen Berufen tätig, zuletzt als Bibliothekar beim Kulturbund (bis 1972). 1973 erhielt er den Johannes-R.-Becher-Preis u. 1979 den Nationalpreis. Trotz klassenkämpferischer Themen verraten schon seine ersten Gedichte eine Neigung zu prosaisch-lakon. Interjektionen. Faschismus u. Krieg erschwerten seine Entwicklung, sodass erst 1958 wieder ein Gedichtbändchen (als Band 13 der Reihe Antwortet uns!) erschien: Wir baun uns eigne Himmelswiesen (Bln./DDR). Nach Kriegsende wurden Morgenstern u. Ringelnatz seine – freilich unerreichten – Vorbilder. Sozialkritik tritt zurück zugunsten einer eher iron. Weltbetrachtung. Spottlust u. Oppositionsgeist bewahrten ihn weitgehend vor dogmat. Enge: »Die Frage nach Woher, Wohin / sie foltert mich mit Messern. / Verzeiht, daß ich heut töricht bin – / ich will mich morgen bessern.« T. trat auch als Nachdichter tschech., slowak. u. russ./sowjetischer Poesie hervor. Weitere Werke: Erde. Halle 1963. – Regenbogenbaldachin. Ebd. 1970. – Der Tag ist groß. Ebd. 1972. – Lastkahn mit bunter Fracht. Ebd. 1977. – Meine Wolken sind irdisch. Ebd. 1981. – Rundflüge im Abendrot. Ebd. 1983. Literatur: Mathilde Dau: ›Meine Wolken sind irdisch‹. Der Lyriker W. T. In: WB 28 (1982), H. 3, S. 77–90. – Erich Sobeslavsky: Über W. T. In: SuF 39 (1987), S. 873–877. – Grazyna Szewczyk: Die schles. Dichtungen v. W. T. In: Studien zur Lit.- u. Sprachwiss. Hg. Norbert Honsza. Kattowitz 1987, S. 56–67. – M. Dau: W. T. In: Lit. der Dt. Demokrat. Republik. Hg. Hans Jürgen Geerdts. Bd. 3, Bln./ DDR 1987, S. 437–452, 622–625. – Margret Galler: W. T. ›Ein Sozialist kann nur Dichtung schaffen, auch wenn er den Mond andichtet‹. In: Industrie u. Lit. Beiträge zur oberschles. Regionallit. Hg. Joachim J. Scholz. Bln. 1993, S. 115–133. Hans Stempel / Red.

(Alemannische) Tochter Syon. – Mystischer Traktat, vermutlich Ende des 13. Jh. Im Umkreis der Hoheliedauslegung entstand frühestens Ende des 12. Jh. als geistl. Ge-

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genentwurf zum Anticlaudianus des Alanus ab Insulis ein lat. Text, in dem beschrieben wird, wie die minnekranke Seele (T. S.) von den personifizierten Tugenden den Rat erhält, eine Botschaft zum Himmelskönig zu schicken; Caritas u. Oratio, welche die Reise unternehmen, bringen von dort vier göttl. Gnadentropfen zurück, die sie der Seele zu deren Glück ins Herz gießen. Von diesem in der Tradition der Liebesmystik Bernhards von Clairvaux stehenden Text, der in drei lat. Fassungen vorliegt, wurden im MA neun dt. u. niederländ. Bearbeitungen angefertigt, davon zwei in Versen: die T. S. Lamprechts von Regensburg u. eine zweite kürzere Fassung (knapp 600 Verse; drei Handschriften), die früher dem Mönch von Heilsbronn zugeschrieben wurde. Diese alemann. Version bietet eine auf den Aufstiegsweg u. die Reden der geistl. Personifikationen konzentrierte, streckenweise lyrisch gestaltete Kombination minneallegor. u. mystisch-erbaul. Elemente. Ausgehend vom bekannten paulin. Satz 1 Kor 13,12 (»Wir sehen durch ainen spiegel hie, / Mit vollen augen dort immer je«), definiert sich die nach der Schau des Throns Salomons suchende T. S. als Speculatio – unterwegs, um über Imaginatio u. Ratio, über »meditiren«, »contempliren«, schließlich »jûbiliren« zur wahren »virgo Israhêl« zu werden. Hilfsdienste leisten Cogitatio, Fides (als »mersterne« metaphorisiert), Spes (Gottes »oberste kuchenmaisterin«), Sapientia u. Minne (Gottes »oberigste chelnerein«), die der Suchenden in ihren Spiegeln die Nichtigkeit weltl. u. die Süße geistlich-myst. Daseins vor Augen führen. Minne schießt am Ende ihren Pfeil auf den göttl. Bräutigam ab u. lässt die T. S. ganz von der göttl. Dreieinigkeit »durchfluzzen« werden. Berufungen auf Augustinus, Bernhard u. andere durchziehen den Entwurf eines ausgewogen proportionierten exemplarischen Einigungsweges. Im 14. u. 15. Jh. scheint in frauenmyst. Kreisen allerdings von den Reimversionen eher diejenige Lamprechts gelesen worden zu sein. Unter den Prosaversionen fand diejenige des Johannes von Indersdorf besonderes Gefallen, die noch im 17. Jh. durch Daniel Sudermann versifiziert wurde.

553 Ausgaben:Oskar Schade: Daz buochlîn v. der t. S. Bln. 1849. Übers. Karl Simrock. Bonn 1851. – J. F. L. Theodor Merzdorf (Hg.): Der Mönch v. Heilsbronn. Bln. 1870, S. 129–144. Literatur: Wiltrud Wichgraf: Der Tractat v. der T. v. S. u. seine Bearb.en. In: PBB 46 (1922), S. 173–231. – Dietrich Schmidtke: T. S.-Traktat. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Hildegard E. Keller: Diu gewaltaerinne minne. Von einer weibl. Großmacht u. der Semantik v. Gewalt. In: ZfdPh 117 (1998), S. 17–37. Christian Kiening

Tönnies, Ferdinand, * 26.7.1855 auf Hof Ring/Kirchspiel Oldenswort bei Husum, † 11.4.1936 Kiel. – Soziologe u. Sozialphilosoph. Der Sohn aus reichem Bauernhaus wurde nach dem Studium der Geschichte u. Philologie 1877 in Tübingen promoviert. Während eines Bildungsaufenthalts in England beschäftigte sich T. mit Hobbes. Lange Zeit galt er in Deutschland als dessen bedeutendster Herausgeber u. Interpret (Hobbes’ Leben und Lehre. Stgt. 1896. 31925). Eine Tätigkeit im Preußischen Statistischen Büro weckte T.’ Interesse an konkreten Sozialproblemen (Kriminalität, Streik, Verwahrlosung, Armenfrage, Eugenik), deren Vermessung u. Deutung hinfort seine Aufmerksamkeit fesselten. In diesem Zusammenhang beunruhigte T. die Herausforderung der alteurop. Sozialformen durch die Industriemoderne. Darüber habilitierte er sich 1881 in Kiel mit einer Vorstudie zu seinem Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Sozialismus als empirischer Culturform (Lpz. 1887. 8 1935. Neudr. Darmst. 31988. Zuletzt ebd. 2010), das am Anfang der dt. Fachsoziologie steht. Zu deren institutionellen u. analyt. Wegbereitern zählt T. als Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (1909; 1922 Präsident) durch seine Soziologischen Studien und Kritiken (3 Bde., Jena 1925) u. die Einführung in die Soziologie (Stgt. 1931. Neudr. 2 1981. Zuletzt Saarbr. 2006). Sein Sozialverständnis verband dabei typolog. Denken u. histor. Verlaufsdeutung mit sozialer Wirklichkeitserfassung. Im Sinne eines sozialeth. Bürgersinns engagierte sich T. immer wieder

Tönnies

in Diskussionen um Korrekturen der Gesellschaftsverfassung (Politik und Moral. Ffm. 1901. Die Entwicklung der sozialen Frage. Lpz. 1907. Revidiert Bln. 1926. Neudr. 1989. Geist der Neuzeit. Lpz. 1935). Wegen dieser soziolog. Aufklärungsarbeit erlangte er erst 1913 ein Ordinariat in Kiel. 1933 wurden ihm alle Dienstbezüge gestrichen. T.’ Argumentation war um Sozialmelioration bemüht; Umbrüche wollte er vermeiden. Diese wertkonservative Einstellung kennzeichnet auch sein publizistisches Werk (Der Nietzsche-Kultus. Eine Kritik. Lpz. 1897. Schiller als Zeitbürger und Politiker. Bln. 1905. Die Sitte. Ffm. 1909), das sich kritisch mit tagespolit. Irrationalismen auseinandersetzte. Ebenso wandte sich T. gegen die parteil. Inanspruchnahme des von ihm in die öffentl. Debatte eingeführten Begriffs der »Gemeinschaft« – gemeint im Sinne der polit. Einheit im Gegensatz zu der sich bloß aus Assoziationen zusammensetzenden Gesellschaft –, die er mit verantwortl. Weltbürgertum für vereinbar hielt. Weitere Werke: Philosophische Terminologie in psycholog.-soziolog. Ansicht. Lpz. 1906. – Marx. Leben u. Lehre. Jena 1921. – Kritik der öffentl. Meinung. Bln. 1922. Neudr. 1981. Zuletzt Saarbr. 2006. – F. T. u. Friedrich Paulsen: Briefw. 1876–1908. Kiel 1961. – F. T. Gesamtausg. Hg. Lars Clausen u. a. Bln./New York 1998 ff. Literatur: Eduard Georg Jacoby: Die moderne Gesellsch. im sozialwiss. Denken v. F. T. Stgt. 1971. – Jürgen Zander: F. T. (1855–1936). Nachl., Bibl., Biogr. Kiel 1980. – Lars Clausen (Hg.): Ankunft bei T. Soziologische Beiträge zum 125. Geburtstag v. F. T. Kiel 1981. – Volker v. Barries (Hg.): T. heute. Zur Aktualität v. F. T. Kiel 1985. – Rolf Fechner: F.-T.Bibliogr. Eine Dokumentation seiner Publikationen. Hbg. 1985. 21986. – Alexander Deichsel: Von T. her gedacht. Soziolog. Skizzen. Hbg. 1987. – R. Fechner (Hg.): F. T. zum 50. Todesjahr. Nachrufe u. Würdigungen. Hbg. 1987. – Ders. (Hg.): Der Dichter u. der Soziologe. Zum Verhältnis zwischen Theodor Storm u. F. T. Hbg. 1987. – Carsten Schlüter (Hg.): Symbol, Bewegung, Rationalität. Zum 50. Todestag von F. T. Würzb. 1987. – Klaus H. Heberle (Hg.): F. T. in USA: recent analyses by American scholars. Hbg. 1989. – Cornelius Bickel: F. T. Soziologie als skept. Aufklärung zwischen Historismus u. Rationalismus. Opladen 1991. – L. Clausen u. C. Schlüter (Hg.): Hundert Jahre ›Gemeinschaft u. Gesellschaft‹. F. T. in der internat.

Töpfer Diskussion. Opladen 1991. – Uwe Carstens: Chronik der F.-T.-Gesellsch. Zum 30jährigen Jubiläum des F.-T.-Hauses 1962–1992. Kiel 1992. – R. Fechner: F. T. Werkverz. Bln. u.a. 1992. – Peter-Ulrich Merz-Benz: Tiefsinn u. Scharfsinn. F. T.’ begriffl. Konstitution der Sozialwelt. Ffm. 1995. – Günther Rudolph: Die philosophisch-soziolog. Grundpositionen von F. T. Ein Beitr. zur Gesch. u. Kritik der bürgerl. Soziologie. Hbg.-Harvestehude 1995. – Bernd Kettern: F. T. In: Bautz. – Isabel WenzlerStöckel: Spalten u. Abwehren. Grundmuster der Gemeinschaftsentwürfe bei F. T. u. Helmuth Plessner. Ffm. 1998. – Dieter Lohmeier: Der Briefw. zwischen Theodor Storm u. F. T. In: Stormlektüren. FS Karl Ernst Laage. Hg. Gerd Eversberg. Würzb. 2000, S. 91–127. – Bettina Rösler: Sittenideal u. Systemkritik. Zur optimist. Kulturtragödie v. F. T. Humanismus als wiss. Weltanschauung. 2003 (Elektron. Ressource). – U. Carstens: F. T. Friese u. Weltbürger. Eine Biogr. Norderstedt 2005. – Beat Fux (Hg.): Community and society in the discourse of modern sociology. Essays in honour of F. T. on the occassion of his 150th birthday. Zürich 2006. – Tilo Beckers: Integrationspotentiale öffentl. Meinung. Von F. T. zur Debatte um Liberalismus u. Kommunitarismus. Saarbr. 2007. – F. T.: Gesamtausg. (TG) 1905–1906 [Elektron. Ressource]. Hg. Arno Bammé u. R. Fechner. Bln./New York 2009. Sven Papcke / Red.

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(1820). Daneben schrieb T. Novellen u. Erzählungen; er war Mitherausgeber des Almanachs »Turandot« (1827–29), leitete sieben Jahre die Zeitschrift »Originalien«, gründete 1836 die »Thalia« u. gab 1852–1855 die Wochenschrift »Der Rezensent« heraus. In den 1840er-Jahren war er Dramaturg u. artistischer Direktor am Hamburger Stadttheater. Viele Werke T.s – vor allem seine Bühnenstücke – sind geprägt vom Bedarf an leichter Unterhaltung; sozialkrit. Elemente u. Tendenzen, die dichte, kunstvolle Verknüpfung von Fantastischem u. Realistischem, Humorvollem u. Schauerlichem – bes. in seiner Prosa – heben T. aus der »Massenliteratur« seiner Zeit aber heraus. Weitere Werke: Zeichnungen aus meinem Wanderleben. Hann. 1823. – Muck-Kobold u. Peter Meffert. Kassel 1827. Neudr. Stgt./Zürich 1988. – Lustspiele. 7 Bde., Bln. 1830–51. – Novellen u. Erzählungen. 2 Bde., Hbg. 1842 u. 1844. – Ges. dramat. Werke. Hg. Hermann Uhde. 4 Bde., Lpz. 1873. Literatur: Ludwig Fränkel: K. T. In: ADB. – Goedeke 11/1. – Hartmut Vollmer: Nachw. zu: Muck-Kobold u. Peter Meffert (Neudr.). Hartmut Vollmer

Töpfer, Karl (Friedrich Gustav), * 26.12. 1792 Berlin, † 22.8.1871 Hamburg. – Törne, Volker von, auch: Waldemar Dramatiker, Erzähler, Herausgeber u. Graf Windei, * 14.3.1934 Quedlinburg, Kritiker. † 30.12.1980 Münster. – Lyriker. T. fühlte sich schon früh zur Schauspielkunst hingezogen u. schloss sich gegen den Willen seines Vaters, eines Geheimen Archivars, 19jährig einer wandernden Schauspielgesellschaft an. Nach Engagements in Breslau u. Brünn folgte er 1815 einem Ruf Schreyvogels an das Wiener Burgtheater; unter dessen Anleitung verfasste T. erste kleinere Bühnenstücke. 1822 wurde er mit einer Arbeit über griech. Tragiker in Göttingen zum Dr. phil. promoviert. Danach ließ er sich in Hamburg nieder. Vor allem als Lustspielautor (mit etwa 30 Werken – darunter die viel gespielten Des Königs Befehl, Der reiche Mann, Gebrüder Foster u. Rosenmüller und Finke) erfreute sich T. großer Beliebtheit. Erstmals erfolgreich war er allerdings mit der Dramatisierung von Goethes Hermann und Dorothea

In Kleinstädten des Harzes aufgewachsen, studierte T. in Braunschweig u. Wilhelmshaven, war Steinhauer u. Bauarbeiter u. zog 1962 nach Berlin, wo er 1963 Geschäftsführer der Aktion Sühnezeichen wurde. Das Bewusstsein, als Einzelner – sein Vater war SS-Standartenführer – wie als Deutscher aus dem Faschismus zu kommen, bestimmte T.s Leben u. dichterisches Werk. Es führte ihn in seiner Arbeit für die Aktion Sühnezeichen zum Bekenntnis einer »kollektiven Verantwortung« u. in der Lyrik zu engagierten Gedichten, in denen er Privates gleichwohl nicht aussparte. »Balladen, Lied und Appell, der gewitzte Reim, die zu Formeln verknappte Sprache waren sein Bereich« (Christoph Meckel). Moderate Gefühle u. alltägl. Gegenstände bestimmten seit dem ersten Band,

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Fersengeld (Bln. 1962), T.s von Heine u. Brecht beeinflusste Lyrik. Biblische Sprache u. eine Mischung aus christlich-eschatolog. u. sozialistischer Zukunftsvorstellung prägen die Nachrichten über den Leviathan (Stierstadt 1964). Der letzte Lyrikband, der Sonettenkranz Halsüberkopf. Arkadische Tage (Bln. 1980), beschreibt griech. Landschaft u. antike Mythologie, die sich mit einer für T. charakterist. Wendung ins Konkrete in einer gegenwärtigen Liebesbeziehung spiegeln. Weitere Werke: Der Drache fliegt zum Mi-MaMond (zus. mit Lilo Fromm). Mchn. 1964. – Die Dummheit liefert uns ans Messer. Ein Zeitgespräch in zehn Sonetten (zus. mit Christoph Meckel). Bln. 1967. – Zehn Jahre Aktion Sühnezeichen (zus. mit Franz v. Hammerstein). Ebd. 1968. – Wolfspelz. Gedichte, Lieder, Montagen. Ebd. 1968. – Phallobst. Ebd. 1968 (Lieder). – Poesiealbum Nr. 54. Ausgew. v. Bernd Jentzsch. Bln./DDR 1972. – Rezepte für Friedenszeiten (zus. mit Nicolas Born u. Friedrich Christian Delius). Bln./Weimar 1973 (L.). – Lagebericht. Gedichte u. Lieder (zus. mit Christoph Heubner). Kassel 1976. – Judenfeindschaft im 19. Jh. (mit Karl Kupisch u. Hermann Müntinga). Bln. 1977. – Im Lande Vogelfrei. Ges. Gedichte. Mit einem Nachw. v. C. Meckel. Ebd. 1981. – Flieg nicht fort, mein weißer Rabe. Ebd. 1981 (Lieder). – Zwischen Gesch. u. Zukunft. Aufsätze, Reden, Gedichte. Ebd. 1981. – Ohne Abschied. Gedichte. Ausgew. v. Annie Voigtländer, mit einem Nachsatz v. Heinrich Fink. Ebd. 1983. Literatur: Manfred Bosch: V. v. T. In: KLG. – Nicolai Riedel: V. v. T. In: LGL. Matías Martínez / Red.

Törring, Josef August Graf von, auch: von T.-Gronsfeld, später: von T.-Guttenzell, * 1.12.1753 München, † 9.4.1826 München; Grabstätte: ebd., Alter Südlicher Friedhof. – Dramatiker. T. entstammte einem der ältesten bayerischen Adelsgeschlechter. Nach dem Jura- u. Philosophiestudium in Ingolstadt kehrte er 1773 nach München zurück u. trat in den höheren bayerischen Staatsdienst ein, wo er 1779 zum Oberlandesregierungsrat avancierte. 1775 wurde er Mitgl. der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Der 1780 eingegangenen Ehe entsprossen mehrere Kinder. 1785 erbat T. seine Entlassung, kehrte jedoch vier Jahre später in den Staatsdienst zurück. Sein Wir-

ken war so erfolgreich, dass er es bis zum Präsidenten des Staatsrats im Rang eines Staatsministers brachte (1817). Erst 1825 wurde er auf seinen Wunsch hin in den Ruhestand versetzt. T. verfasste, v. a. vor der Jahrhundertwende, neben seinen beruflich bedingten staatswissenschaftl. Arbeiten verschiedene Abhandlungen wie etwa über den Ehestand, über Mineralogie sowie eine bemerkenswerte Akademische Rede von der Ehrsucht (Mchn. 1776), die am Geburtstag des Kurfürsten Maximilian Joseph vorgetragen wurde. Sie propagiert politisch-eth. Auffassungen des dezidiert bayerischen Patrioten T., die z. T. für sein dramat. Schaffen dieser Jahre relevant sind: Aus Pflicht u. Liebe, nicht um Belohnung u. Ehre willen oder lediglich aus Furcht, dienen die wahren Bürger ihrem Vaterland. Denn jeder Einzelne ist abhängiger Teil u. Mitgl. der Gesellschaft, in der er geboren wurde u. der er alles verdankt. Diesem Pflichtbegriff unterliegen auch die Herrschenden. Überhaupt changierten die Ansichten des frühen T. zur Frage der Standesunterschiede wohl zwischen gemäßigt-freiheitl., das Allgemeinmenschlich-Gleiche über die Standesgrenzen hinweg betonenden Vorstellungen einerseits u. der festen, standesgemäßen Überzeugung andererseits, dass ein reiner, kraftvoller dt. Adel für das Staatswohl unbedingt notwendig sei. Diese aristokratische Gesinnung gewann letztlich die Oberhand, zumal die unbedingte Abhängigkeit des Einzelnen von der Gesellschaft deren faktische Gegebenheiten, wie eben verschiedene Stände, unabänderlich mache. Aristokratischstolze Haltung prägte auch T.s Verhältnis zu seinem literar. Schaffen: Auch wenn das Ethos politisch-patriotischer Wirksamkeit dahinterstand, so schrieb er doch eher nebenbei, u. trotz des großen Erfolgs seiner beiden Dramen, die ihn zu einem der bedeutendsten Vertreter des dt. Ritterdramas machen, verabschiedete er sich früh von der literar. Bühne. 1781 schrieb er an Wolfgang Heribert von Dalberg, er wolle nicht mehr fürs Theater schreiben, da selbst »eines Shakespear’s Glorie einem deutschen Edelmann, einem zum hohen Dienste des Staats gebohrnen Bürger nicht rühmlich seye«

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(21.3.1781). Aus der Verpflichtung des Adels mer mehr zu Wort, denen die Liebe schließzu tugendhaftem Dienst für das Staatswohl lich geopfert wird, wenn auch für die extreme erklärten sich wohl auch T.s Ablehnung des Form des Opfers, nämlich Agnes’ Ertränken Luxus (Akademische Rede) sowie seine Faszina- in der Donau, hinterhältige individuelle tion durch die mittelalterl. Ritterlichkeit des Rachsucht verantwortlich ist. Adels. Ausgabe: Agnes Bernauerin. In: Das Drama der T.s erstes Drama, Kaspar der Thorringer, ist klass. Periode. Erster Teil. Hg. Adolf Hauffen (Dt. erst einige Jahre nach seiner Entstehung ge- National-Litteratur. Hg. Joseph Kürschner. gen den Willen des Autors, der es in der Bd. 138). Stgt. [1891], S. 15–70. Literatur: Otto Brahm: Das dt. Ritterdrama des Vorrede als »Schauspiel für Freunde, nie für den Druck« bezeichnete, veröffentlicht wor- 18. Jh. Studien über J. A. v. T., seine Vorgänger u. den (Klagenf. 1785. Lpz./Wien 1785 u. ö.) u. Nachfolger. Straßb. 1880. – Adolf Hauffen: J. A. an mehreren Orten unter Beifall über die Graf v. T. In: ADB. – Alice Arnold: J. A. Graf v. T. In: Monachia. Hg. Jürgen Wurst u. Alexander Bühne gegangen. Abhängig von Goethes Götz Langheiter. Mchn. 2005, S. 66. von Berlichingen, trägt es ebenso wie T.s andeWalter Olma / Red. res Drama einige Sturm-und-Drang-Züge. Der Autor machte einen seiner Ahnen zum Mittelpunkt der zu Beginn des 15. Jh. angeToggenburger Erbschaftskrieg, 1436 siedelten Geschichte: Der redl. u. tapfere bis 1450. – Chroniken u. politische PuRitter stellt sich zum Wohl des Vaterlands an blizistik. die Spitze einer Erhebung gegen den tyrannisch regierenden Herzog von Landshut, Der T. E. von 1436–1450 (in der älteren Fornachdem er vergeblich friedlich versucht hat, schung »Alter Zürichkrieg« genannt) ist noch ihn zu bessern. Am Ende ist des Helden Burg im 20. Jh. von der Forschung als eidgenöss. zerstört, seine Frau tot, aber zum Wohle Bürgerkrieg, als Auseinandersetzung zwiBayerns wird Frieden mit dem nun einsich- schen der auf eine eigenständige Politik potigen Herzog geschlossen. chenden, sich mit Österreich verbündenden Für sein zweites, allerdings zuerst veröf- Stadt Zürich u. den übrigen, am überlieferten fentlichtes Stück, Agnes Bernauerin. Ein vater- Bundesrecht festhaltenden Eidgenossen darländisches Trauerspiel (Mchn. 1780 u. ö.), gestellt worden. Dass diese Sichtweise dem wählte sich T. ein reales, histor. Sujet zur Konflikt kaum gerecht wird, haben erst Ausgestaltung u. Bearbeitung aus. Das 1781 neuere Forschungen gezeigt: Von einem eidin Mannheim uraufgeführte Werk wurde ein genöss. Bürgerkrieg kann schon deshalb Bühnenerfolg in ganz Deutschland u. stand kaum die Rede sein, weil es eine Eidgenossogar noch bis ins frühe 19. Jh. hinein gele- senschaft als Bundesgeflecht von einiger gentlich auf den Spielplänen. Es fand Aner- Festigkeit in der ersten Hälfte des 15. Jh. noch kennung bei der Kritik, sein Stoff wurde gar nicht gegeben hat, weil die acht Orte erst häufig wieder aufgegriffen; Hebbel u. Otto durch die Bewährungsprobe dieses KonflikLudwig ließen in ihren Bearbeitungen jeweils tes allmählich zur Eidgenossenschaft zusameinen Grafen Törring auftreten. T.s 1435 an- mengewachsen sind. Entscheidende Ursagesetztes Stück beginnt damit, dass der Sohn chen des T. E.s waren vielmehr die Rivalitäten des Herzogs Ernst zu Bayern-München, Al- zwischen Zürich u. Schwyz um die Vorherrbrecht, die arme Augsburger Bürgerstochter schaft am oberen Zürichsee u. am Walensee Agnes gegen alle Standesverpflichtungen u. (Fernhandelsroute Bodenseeraum – Bündner Vermählungsabsichten seines Vaters aus Lie- Pässe – Oberitalien) u. die Versuche des be geheiratet hat. Stehen am Anfang noch Hauses Österreich (mit Kaiser Friedrich III.), die individuellen u. standesübergreifend- den 1415 verlorenen Aargau wieder zu geallgemeinmenschl. Rechte des Herzens im winnen. Die ganze Auseinandersetzung ist Vordergrund, so kommen mit dem Auftritt zudem vor dem Hintergrund der erneut aufvon Kaspar dem Thorringer die aristokrati- flammenden Streitigkeiten zwischen den schen Verpflichtungen für das Vaterland im- schwäb. Städten u. den ihre Herrschaft aus-

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bauenden Landesfürsten zu sehen. Der T. E. wurde 1436 ausgelöst durch die unklare Rechtslage nach dem Tode des kinderlosen Grafen Friedrich IV. von Toggenburg, der zwar sowohl Zürich als auch Schwyz Zusagen hinsichtlich der umstrittenen Gebiete Uznach u. Gaster machte, diese Versprechungen aber in keinem Testament festhielt. Der nun ausbrechende Konflikt lässt sich in drei Phasen gliedern: 1) Zwischen 1436 u. 1441 setzte sich Schwyz in den Besitz der fragl. Gebiete, Zürich antwortete mit einer Lebensmittelsperre, erste militärische Auseinandersetzungen mit der Verwüstung der Zürcher Landschaft folgten, Schiedsgerichtsentscheide der übrigen Orte blieben erfolglos. 2) Nach 1442 weitete sich der Konflikt zwischen Zürich einerseits, Schwyz samt den übrigen Orten andererseits zu einem österr.eidgenöss. Konflikt aus. Aufgrund des Bündnisses Zürichs mit Österreich u. dem Kaiser (1442) gelangte die Stadt zunehmend unter habsburgischen Einfluss. Im Kleinkrieg, der in der ganzen Ostschweiz zwischen Eidgenossen u. österreichisch gesinntem Adel wütete, konnten sich lediglich die festen Städte halten; das offene Land wurde von den Eidgenossen verwüstet u. besetzt, die stadtzürcherischen Aufgebote besiegt. Friedrich III. suchte Unterstützung bei Karl VII. von Frankreich, der ihm die Soldateska der Armagnaken ins Elsass zuführen ließ. 1444 kam es bei St. Jakob an der Birs zu einer Schlacht zwischen einer eidgenöss. Vorhut u. den Armagnaken, die zwar zur gänzl. Aufreibung dieser Vorhut führte, zgl. aber den Dauphin veranlasste, sich mit seinem Heer nach Frankreich zurückzuziehen. Nun erfasste der Kleinkrieg weitere Regionen im Alpenvorraum: Die Appenzeller besetzten das Rheintal, Bern, Solothurn u. Basel belagerten bzw. besetzten die Rheinstädte oberhalb von Basel, u. Savoyen u. Bern unterwarfen das österr. Freiburg i. Ü. 3) 1446 begannen langwierige Friedenverhandlungen, die 1450 endlich zu einem Erfolg führten. In verschiedenen Schiedsverfahren (Zürich-Eidgenossen, Österreich-Eidgenossen, Österreich-Basel) wurde verfügt: Künftig galt der eidgenöss. Rechtsstandpunkt auch für Zürich, die Stadt musste ihr Bündnis mit Österreich aufgeben, erhielt

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aber ihr Herrschaftsgebiet zurück; Österreich schloss mit den Eidgenossen einen dreijährigen Waffenstillstand u. verzichtete stillschweigend auf die 1415 verlorenen Besitzungen; das Verhältnis Österreich-Basel wurde bereits 1449 in der Breisacher Richtung geklärt. Verlauf u. Ausgang des T. E.s waren für die Entwicklung der Eidgenossenschaft von großer Bedeutung: Zürich musste akzeptieren, dass es keine eigenständige Politik gegen die Interessen der übrigen Orte führen konnte; vielmehr wurde es in die sich verfestigende Eidgenossenschaft integriert. Schwyz konnte seinen vorherrschenden Einfluss am oberen Zürichsee ausbauen, u. die Eidgenossenschaft konnte sich im Alpenvorraum als Vormacht gegen Österreich durchsetzen. Der T. E. fand in der zeitgenöss. Chronistik u. Publizistik eine breite Resonanz. Hans Fründ (geb. um 1400 in Luzern, Unterschreiber daselbst, 1437 Landschreiber von Schwyz, 1441 kaiserl. Notar, 1461 Gerichtsschreiber von Luzern, 1468/69 gest.) verfasste um 1447 eine Chronik des Toggenburger Erbschaftskrieges bis zum Waffenstillstand von 1446. Trotz Betonung seiner Objektivität stellt er die Geschehnisse aus der Perspektive der eidgenöss. Partei dar, sieht in der Rechtsverweigerung Zürichs den entscheidenden Kriegsgrund u. schildert Kriegsgräuel der Österreicher ausführlich, verschweigt aber jene der Eidgenossen. Immerhin anerkennt er, es handle sich bei den Zürchern eigentlich auch um Eidgenossen. In seinen Schilderungen stützte er sich teilweise auf seine Kanzlei-Informationen u. auf eigene Erlebnisse als Land- u. Feldschreiber. Fründs Darstellung des T. E.s beeinflusste die Geschichtsschreibung bis ins 20. Jh., weil seine Sichtweise über die Ausschreibungen Bendicht Tschachtlans u. Diebold Schillings in die bernische Historiografie des 15. Jh. u. damit in die eidgenöss. Chronistik des 16 Jh. (Aegidius Tschud) übernommen wurde. Eine der anonymen Fortsetzungen der sog. Zürcher Stadtchronik aus der Mitte des 15. Jh. stellt den T. E. mit aller Schärfe aus Zürcher Optik dar (z.B. Mord von Greifensee); der Text wurde aber kaum rezipiert. Entsprechendes gilt von der sog. Klingenberger Chronik, als deren Autor

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kürzlich Eberhard Wüst, Stadtschreiber von De nobilitate et rusticitate dialogus ... Processus Rapperswil, eruiert worden ist. Wüst schrieb iudicarius. Hg. Sebastian Brant. Straßburg (?) 1500. Literatur: Jean-Pierre Bodmer: Chroniken u. eine Chronik in vier Teilen, die er aber nicht zu einem Gesamttext verarbeitete. Er sieht Chronisten im SpätMA. Bern 1976. – Richard Feller den Konflikt aus der Perspektive des Ost- u. Edgar Bonjour: Geschichtsschreibung der Vom SpätMA zur Neuzeit. Bd. 1, Basel/ schweizer Adels, der mit den Eidgenossen Schweiz. Stgt. 21979, S. 45–50, 60 f. – Ulrich Müller u. Frieabzurechnen sucht u. auch die Zürcher als der Schanze: T. E. In: VL. – Bernhard Stettler: wankelmütige Verbündete mit Kritik nicht Die Eidgenossenschaft im 15. Jh. Die Suche nach verschont. Als pessimistischer, grüblerischer einem gemeinsamen Nenner. Menziken 2004, Beobachter macht sich Wüst über den Aus- S. 139–183. Urs Martin Zahnd gang des Krieges keine Illusionen. Der T. E. ist nicht nur in Chroniken dar- Tolle, Heinrich, * 23.8.1629 Göttingen, gestellt worden; seit etwa 1442/43 wurde er † 2.5.1679 Göttingen; Grabstätte: ebd., auch Anlass zu einer gehässigen Publizistik. vor dem Hochaltar der Johanniskirche. – Der bedeutendste Kopf in diesen Auseinan- Schulmann u. Dramatiker. dersetzungen war zweifellos Felix Hemmerli (geb. 1388/89 in Zürich, Studium in Erfurt u. Der Bäckerssohn studierte nach dem Besuch Bologna, Dr. decr., Notar, Chorherr in Zo- des Pädagogiums seiner Heimatstadt seit fingen u. am Großmünster Zürich, Propst in 1649 Philosophie u. Theologie in Helmstedt Solothurn, gest. 1458/61 als Gefangener in (Magisterpromotion 1653). Nach kurzer TäLuzern). Er verfasste verschiedene Schriften tigkeit als Hauslehrer in Hannover übernahm zu polit. u. rechtl. Fragen seiner Zeit. Um T. bereits 1653 die Leitung des Göttinger 1450 verteidigt er in De nobilitate et rusticitate Gymnasiums, das er in kurzer Zeit zu neuem dialogus Zürichs Recht, sich aus dem eidge- Ruhm führte. 1675 wechselte er in das Amt nöss. Bund zurückzuziehen, da es sich bei des Superintendenten an St. Johannis zu diesen Bünden um »pacta privatorum« Göttingen. Als Leiter des Gymnasiums bemühte sich T. handle; die eidgenöss. Schiedsverfahren widersprächen zudem dem röm. Recht, u. es sei um die Belebung des kulturellen Lebens der zu hoffen, Friedrich III. werde den Streit er- Stadt. Er gründete u. leitete die erste Druneut aufrollen (Processus iudicarius); dass er ckerei Göttingens, verfasste selbst einige sich durch diese Stellungnahmen die Feind- Gymnasialschriften u. förderte das Schulschaft der Eidgenossen zugezogen hat, liegt theater. In Anlehnung an Harsdörffers Seelauf der Hand. Es sind insbes. diese Darstel- ewig schrieb er drei allegor. Schäferspiele, die lungen des T. E.s aus nicht-eidgenöss. Blick- neben lat. Dramen über das Leben Ciceros in winkel, die Historiker wie Richard Feller, der Paulinerkirche, im Rathaus u. in der Aula Walter Schaufelberger u. vor allem Bernhard des Gymnasiums aufgeführt wurden. GeStettler veranlasst haben, die Ereignisse von genstand der kleinen Dramen sind philoso1436–1450 erneut zu untersuchen, die In- phische Lehrsätze über die Wahrheit, die T. in terpretationslinie Fründ-Tschachtlan-Schil- schäferl. Einkleidung darbietet. In Kundegis (Gött. 1670) beschäftigt er sich mit der Philing-Tschudi kritisch zu durchleuchten u. losophie, die den Menschen vor dem Trugden Konflikt in ein größeres histor. Umfeld bild der Sinne schützt, in Wahrgilt (ebd. 1672) einzuordnen. geht es um den Sieg der Wahrheit gegen Ausgaben: Die Chronik des Hans Fründ, LandVorurteile u. kirchl. Autorität, in Willbald schreiber zu Schwytz. Hg. Christian Immanuel (ebd. 1673) beschreibt er das Elend des MenKind. Chur 1875. – Chronik der Stadt Zürich. Hg. Johannes Dierauer (Quellen zur Schweizer Ge- schen, der sich durch sinnl. Lust vom Weg der schichte 18). Basel 1900. – Die sog. Klingenberger Tugend locken lässt. Die weitgehend durch Chronik des Eberhard Wüst, Stadtschreiber v. abstrakte Deduktion bestimmten Dramen Rapperswil. Hg. Bernhard Stettler. St. Gallen 2007. sind in einer Mischung aus Versen u. Prosa – Felix Hemmerli: Varie oblectationis opusculae et tractatus. Hg. Sebstian Brant. Basel 1497. – Ders.:

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abgefasst u. enthalten deutschtümelnde u. volkstüml. Elemente. In seinen wissenschaftl. Arbeiten, die von seinem Nachfolger Justus von Dransfeld postum herausgegeben wurden – Brevissimum logicae compendium [...]. Gött. 1680, u. d. T. Logica Gottingensis [...]. Gött. 1682 u. ö.; Compendium brevissimum Rhetoricae [...]. Gött. 1680, u. d. T.: Rhetorica Gottingensis [...]. Gött. 1687 u. ö.; Ethica et politica [...]. Gött. 1681; Propaedia mathematica [...]. Gött. 1681; Principia theologica [...]. Gött. 1686 –, versuchte T. unter Verzicht auf eigene Interpretationen die aristotel. Philosophie für den Schulunterricht darzustellen. Weitere Werke: EMBLHMA in honorem [...] M. Iulii Hardovici Reichii, Poëtae L. Caes. et Paedagogiarchae hactenus Göttingensis [...]. Helmst. 1650. – In obitum iuvenis ornatissimi Dn. Friderici Strubii [...] carmina [...]. Ebd. 1650. – Talassio in honorem nuptiarum [...] Henrici Heisij et [...] Annae Catharinae [...] Bartholdi [...]. Hann. 1651. – De potissimo scientiae principio, seu definitione disputatio. Präses: Johann v. Felden; Respondent u. Autor: H. T. Helmst. 1653. – Sacrae scripturae dicta primaria quibus praecipuae conclusiones theologicae probari solent. Gött. 1667. Literatur: Bibliografien: Wilhelm Risse: Bibliographia philosophica vetus [...]. Hildesh. 1998. – VD 17. – Weitere Titel: Justus Teichgräber: Christl. Leichpredigt bey [...] Begräbnuß [...] M. Henrici Tollen [...]. Gött. 1679. – Rudolf Koellner: H. T. [...]. Diss. Gött. 1894. – Zedler 44, S. 1134. – Goedeke 3, S. 224. – Gustav Roethe: H. T. In: ADB. – DBA. – Fee-Alexandra Haase: H. T.s Lehrbuch ›Rhetorica Gottingensis‹. Ein Dokument der Kultivierung rhetor. Lehre an einem Gymnasium Deutschlands im 17. Jh. In: Humanistica Lovaniensia. Journal of neo-latin studies 50 (2001), S. 367–379. Renate Jürgensen / Red.

Toller, Ernst, * 1.12.1893 Samotschin bei Bromberg, † 22.5.1939 New York; Grabstätte: ebd., Ferncliff Mausoleum Ardsley (Urnengrab). – Dichter, Publizist; Politiker. Als Sohn eines preußisch-jüd. Kaufmanns wurde T. in die Untergangsphase des dt. Judentums hineingeboren u. verkörpert in Leben u. Werk exemplarisch dessen Schicksal. T. besuchte 1900–1913 zunächst eine Privatschule, dann das Realgymnasium in Brom-

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berg u. studierte seit Febr. 1914 an der Ausländeruniversität in Grenoble. Bei Kriegsbeginn über die Schweiz nach Deutschland gelangt, meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst. In den Kämpfen vor Verdun 1916 begann sein Weg zum Pazifismus u. Sozialismus, von dem er sich eine brüderl. Menschheit erhoffte. Beeinflusst von Max Weber (Lauensteiner Tagung 1917), Gustav Landauer u. Kurt Eisner nahm T. 1917/18 aktiv an der Antikriegsbewegung teil, wurde in der bayerischen Revolution als Mitgl. der USPD zweiter Vorsitzender des Vollzugsrats (Nov. 1918), nach Eisners Ermordung Vorsitzender des Zentralrats (6./7.4.1919) u. Abschnittskommandeur der Roten Armee bei Dachau (16./ 17.4.1919). Am 4.6.1919 wurde er denunziert, in seinem Schwabinger Versteck in München verhaftet u. am 16.7.1919 wegen Hochverrats zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Im Gefängnis entwickelte sich T. zum bekanntesten Dramatiker der Weimarer Republik, dessen Gefängnisdramen (Die Wandlung. Potsdam 1919. Masse Mensch. Ebd. 1921. Die Maschinenstürmer. Lpz. 1922. Der deutsche Hinkemann. Potsdam 1923. Der entfesselte Wotan. Ebd. 1923), zusammen mit den in der Haft entstandenen Gedichten (Gedichte der Gefangenen. Ein Sonettenkreis. Mchn. 1921. Das Schwalbenbuch. Potsdam 1924), die weit über Deutschland hinausreichende literar. Sensation der revolutionären Phase der ersten dt. Republik waren. Nach der Haftentlassung (15.7.1924) widerrechtlich aus Bayern ausgewiesen, begann T. eine leidenschaftlich geführte Kampagne gegen die Klassenjustiz u. für die polit. Gefangenen in aller Welt (Justiz. Erlebnisse. Bln. 1927). Auch sein dramat. Werk unterwarf er nun dieser strengen Kampfposition (Hoppla, wir leben! Potsdam 1927. Feuer aus den Kesseln. Bln. 1930. Die blinde Göttin. Ebd. 1933), die ihn in heftige Auseinandersetzungen mit Nationalkonservativismus u. Nationalsozialismus verwickelte. Vor dem Nationalsozialismus hat T. frühzeitig u. hellsichtig gewarnt (Reichskanzler Hitler. In: Die Weltbühne, 26.2.1930, S. 537–539), wurde daher von Goebbels als Symbol des »internationalen Judentums« zu einem Hauptgegner deklariert, schon im Aug. 1933

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ausgebürgert u. im Exil (seit 27.2.1933) von den dt. Auslandsvertretungen u. Naziagenten verfolgt. T.s Versuch einer Sammlung aller verbannten u. verfolgten Gegner der nationalsozialistischen Weltgefahr, den er mit seiner überraschenden Rede auf dem internationalen P.E.N.-Club-Kongress in Dubrovnik am 28.5.1933 begonnen hatte, scheiterte an der individualistischen Zersplitterung u. der unpolit. Grundhaltung des deutschsprachigen Exils. In der kurzen Partnerschaft u. Ehe mit der Schauspielerin Christiane Grautoff hat T. keinen Halt gefunden. Seine Hilfsaktion für die hungernde span. Zivilbevölkerung während des Spanischen Bürgerkrieges (1938/39), für die er, als ein zweiter Nansen, 50 Mio. Dollar zu sammeln suchte u. zuletzt auch den amerikan. Präsidenten Roosevelt gewinnen konnte, scheiterte durch den faschistischen Sieg in dem Augenblick, in dem sie ein Erfolg zu werden versprach. Drei Tage nach der Siegesparade Francos in Madrid erhängte sich T. im New Yorker Hotel Mayflower. Der Aufstieg T.s zum gefeierten, in mehr als 20 Sprachen übersetzten Dramatiker, der zum Leitbild einer zwischen polit. Aktivismus u. ästhetischem Experiment zerrissenen Literatur wurde, vollzog sich gleichzeitig mit der Entfaltung des Bühnenexpressionismus. T.s Theatererfolge waren so auch die Erfolge seiner Regisseure, die mit Andeutungsbühne, Lichtregie, Massenszenen u. dem techn. Apparat des politisch-agitatorischen Theaters arbeiteten. Die Uraufführung des in expressionistischer Stationentechnik geschriebenen Dramas Die Wandlung (Berlin., 30.9.1919) machte Karlheinz Martin zum eindrucksvollen Bild vom Leidensweg des dt. Judentums u. der gescheiterten Revolution; Masse Mensch – der Titel meint eine Antithese – wurde in der Inszenierung von Jürgen Fehling (ebd., 29.9.1921) zur Auseinandersetzung mit Revolution u. Gegenrevolution in Deutschland, u. Die Maschinenstürmer, wieder unter der Regie von Martin, wurden am 30.6.1922 in Berlin zum flammenden Protest gegen die Ermordung des Reichsaußenministers Walther Rathenau. Der vom nationalistischen Pöbel bei der Hinkemann-Aufführung in Dresden am Vorabend des Reichsgrün-

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dungstags, am 17.1.1924, entfesselte Theaterskandal (Landtagsdebatte 24.1.1924; Freispruch verhafteter Störer wegen Zuerkennung von »Notwehr« gegen Angriffe auf »das edle und jedes Schutzes würdige Gefühl der Vaterlandsliebe«; Sturm dt.-völk. Studenten auf eine Wiener Aufführung des Hinkemann am 10.2.1924) machte dieses Schauspiel, das gegen soziales u. natürl. Leid die Haltung des »Trotzdem« verkündet, zum eigentl. Text des Toller-Tons am Übergang vom Menschheitspathos des Expressionismus zur Konkretion des polit. Theaters. Am 3.9.1927 wurde mit T.s Hoppla, wir leben!, in einer von Piscator agitatorisch veränderten Fassung des Schlusses, das Piscator-Theater in Berlin eröffnet, doch hatte das Stück einen ebenso kurzlebigen Kritikererfolg wie Feuer aus den Kesseln (Urauff. Berlin., 31.8.1930). Dieses historisch-dokumentar. Drama der Marinejustizmorde des Jahres 1917 wurde bei der Premiere enthusiastisch gefeiert, dann aber war »der Kartenverkauf [...] gleich null [...]. Das realistische Zeittheater der zwanziger Jahre war gestorben.« T., der als Dramatiker der Arbeiterbewegung in der vordersten Linie der Auseinandersetzung um das zeitgenöss. Theater u. die modernen Massenmedien stand (Szenarien für die Massenfestspiele der Gewerkschaften in Leipzig 1922–1924; frühe Hörspiele u. Drehbücher für Tonfilme), hat die Experimentierfreude der Regisseure nur bis zu dem Punkt geteilt, an dem das Regietheater den Autortext zur beliebig veränderbaren Spielvorlage degradierte. Er geriet dadurch – auch stilistisch – in den nicht aufgelösten Zwiespalt zwischen einer technizistischen Moderne u. dem Autorentheater in der Tradition der Neuromantik u. konnte mit den im Exil geschriebenen, in engl. Übersetzung erschienenen Dramen (No more peace. London 1937. Pastor Hall. Ebd. 1939) an die früheren Erfolge nicht mehr anknüpfen. Nur in dem späten autobiogr. Werk (Eine Jugend in Deutschland. Amsterd. 1933. Briefe aus dem Gefängnis. Ebd. 1935. Fragmente eines Spanienbuches 1938/ 39) gelang T., was ihm im dramat. Genre nicht mehr gelingen wollte: die Weiterentwicklung der Erlösungsgeste des Verkündigungsdramas zu einem von Überzeugungs-

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kraft u. verhaltener Leidenschaft geprägten, am eigenen Schicksal exemplarisch legitimierten Dokumentarstil, der auch die faszinierenden Reportagen seiner Reisen durch die USA, die Sowjetunion u. Spanien auszeichnet. In den Erinnerungen der Zeitgenossen aber lebt T. als ein hinreißender Redner in dt. u. engl. Sprache, von dessen Charisma die gedruckten Fassungen der Reden (Quer durch. Reisebilder und Reden. Bln. 1930) nur einen unvollkommenen Eindruck geben. Ausgaben: Seven Plays. London 1935. – Ges. Werke. Hg. Wolfgang Frühwald u. John M. Spalek. 5 Bde., Mchn. 1978. Literatur: Bibliografie: John M. Spalek: E. T. and His Critics. A Bibliography. Charlottesville 1968. – Dokumentation: Der Fall T. Komm. u. Materialien. Hg. Wolfgang Frühwald u. J. M. Spalek. Mchn. 1979 (mit Sekundärlit.). – Gesamtdarstellungen: Carel ter Haar: E. T. Appell oder Resignation? Ebd. 1977. 2 1982. – René Eichenlaub: E. T. et l’expressionisme politique. Paris 1980. – Wolfgang Rothe: E. T. Reinb. 1983. – Richard Dove: He was a German. A Biography of E. T. London 1990. Dt. u. d. T. E. T. Ein Leben in Dtschld. Gött. 1993. – Cordula Grunow-Erdmann: Die Dramen E. T.s im Kontext ihrer Zeit. Heidelb. 1994. – Kirsten Reimers: Das Bewältigen des Wirklichen. Untersuchungen zum dramat. Schaffen E. T.s zwischen den Weltkriegen. Würzb. 2000. – Weitere Titel: Dorothea Klein: Der Wandel der dramat. Darstellungsform im Werk E. T.s (1919–30). Diss. Bochum 1968. – W. Frühwald: Kunst als Tat u. Leben. Über den Anteil dt. Schriftsteller an der Revolution in München 1918/ 19. In: Sprache u. Bekenntnis. Sonderbd. des Literaturwiss. Jb. Bln. 1971, S. 361–389. – Thomas Bütow: Der Konflikt zwischen Revolution u. Pazifismus im Werk E. T.s. Hbg. 1972. – Jost Hermand (Hg.): Zu E. T. Drama u. Engagement. Stgt. 1981. – Joachim Oesterheld (Hg.): Jawaharlal Nehru, E. T. Dokumente einer Freundschaft 1927–39. Mit Erinnerungen v. Mulk Raj A¯nand. Halle 1989. – Dt. Exillit., Bd. 2, 1989, S. 1723–1765. – R. Dove u. a.: Traum u. Wirklichkeit. E. T.s span. Hilfsaktion. In: Exil 10 (1990), S. 5–26. – Alfred Bodenheimer: E. T. u. sein Judentum. In: Dt.-jüd. Exil- u. Emigrationslit. im 20. Jh. Hg. Itta Shedletzky. Tüb. 1993, S. 185–193. – Dieter Distl: E. T. Eine polit. Biogr. Schrobenhausen 1993. – E. T. Schallplatte, Rundfunk, Film. Hg. Jeanpaul Goergen. Bln. 1993. – E. T. Pazifist – Schriftsteller – Politiker. Ausstellung vom 7.-19. Dez. 1994, Volkshochschule Karlsfeld. Ingolstadt 1994. – J. A. Jordan: Experience and its

Toller articulation. The question of form in the poetry of E. T. Warwick 1994. – Adam Weisberger: In Memoriam E. T. Jüd. u. psycholog. Aspekte in Leben u. Werk. In: Aschkenas 4 (1994), S. 163–173. – Die Göttin u. ihr Sozialist. Christiane Grautoffs Autobiogr. – ihr Leben mit E. T. Hg. Werner Fuld. Bonn 1996. – Ernst Piper: ›Ich will es mit Liebe umpflügen‹. E. T. 1919 bis 1939. In: Exil 16 (1996), S. 13–24. – Evelyn Röttger: Schriftstellerisches u. polit. Selbstverständnis in E. T.s Exildramatik. In: ZfdPh 115 (1996), S. 239–261. – Carsten Schapkow: Judentum als zentrales Deutungsmuster in Leben u. Werk E. T.s. In: Exil 16 (1996), S. 25–39. – Georg-Michael Schulz: E. T., ›Masse Mensch‹. In: Dramen des 20. Jh. 1 (1996), S. 282–300. – Christa Hempel-Küter u. Hans-Harald Müller: E. T. Auf der Suche nach dem geistigen Führer. In: Lit., Politik u. soziale Prozesse. Studien zur dt. Lit. v. der Aufklärung bis zur Weimarer Republik. Red. Martin Huber. Tüb. 1997, S. 78–106. – Birgit Schreiber: Polit. Retheologisierung. E. T.s frühe Dramatik als Suche nach einer ›Politik der reinen Vernunft‹. Würzb. 1997. – Stephen M. Brockmann: E. T. u. die Weimarer Republik. Würzb. 1999. – E. T. u. die Weimarer Republik. Hg. Stefan Neuhaus. Würzb. 1999. – John Fotheringham: From ›Einheitsfront‹ to ›Volksfront‹. E. T. and the Spanish Civil War. In: GLL 52 (1999), S. 430–442. – Alo Allkemper: ›Aber bin ich nicht auch Jude?‹ Zu E. T.s Judentum. In: Lit. u. Demokratie. FS Hartmut Steinecke. Hg. ders. Bln. 2000, S. 169–183. – Ders.: E. T. (1893–1939). In: Dt. Dramatiker des 20. Jh. Hg. ders. Bln. 2000, S. 216–233. – John Fotheringham: George Orwell and E. T. The dilemma of the politically committed writer. In: Neoph. 84 (2000), S. 1–18. – Gerhard Schmolze: Schwierige Jahre in Dtschld. E. T.s Weg v. der Assimilierung zur Ausbürgerung. In: Dt. Autoren des Ostens als Gegner u. Opfer des Nationalsozialismus. Beiträge zur Widerstandsproblematik Hg. Frank-Lothar Kroll. Bln. 2000, S. 365–381. – Michel Vanhelleputte: E. T. u. die ›Neue Sachlichkeit‹. Zum Drama ›Hoppla, wir leben!‹ (1927). In: Wahlverwandtschaften in Sprache, Malerei, Lit., Gesch. FS Monique Boussart. Hg. Irene Heidelberger-Leonard. Stgt. 2000, S. 193–203. – Volker Ladenthin: Engagierte Lit. – wozu? Aussage oder Sinn. Aporien in T.s Literaturästhetik. In: Engagierte Lit. zwischen den Weltkriegen. Hg. S. Neuhaus, Rolf Selbmann u. Thorsten Unger. Würzb. 2002, S. 53–65. – Leonie Marx: E. T. u. Goethe. In: Goethe im Exil. Deutschamerikan. Perspektiven Hg. Gert Sautermeister. Bielef. 2002, S. 71–84. – Die rote Republik. Anarchie- u. Aktivismuskonzept der Schriftsteller 1918/ 19 u. das Nachleben der Räte – Erich Mühsam, E. T., Oskar Maria Graf u.a. Red. Jürgen-Wolfgang

Toman Goette. Lübeck 2004. – Volker Ladenthin: Die literar. Ästhetik E. T.s. In: ›Laboratorium Vielseitigkeit‹. Zur Lit. der Weimarer Republik. FS Helga Karrenbrock. Hg. Petra Josting u. Walter Fähnders. Bielef. 2005, S. 127–143. – W. Frühwald: Nachrichten vom Sommer der Anarchie. Briefe Erich Mühsams an Paula Sack u. ein unbekanntes Porträt E. T.s. In: ›Die Sprache der Bilder‹. Hermann Haarmann zum 60. Geburtstag. Hg. Klaus Siebenhaar. Bln. 2006, S. 49–56. – Realistisches Schreiben in der Weimarer Republik. Hg. Sabine Kyora und S. Neuhaus. Würzb. 2006. – Rania el Wardy: Das Wandlungskonzept in der expressionist. Dramatik. Ein Denkmodell zur Bewältigung der Krise zur Zeit der Moderne. Ffm. 2009. – Janusz Golec: Jüd. Identitätssuche. Studien zur Lit. im 19. u. 20. Jh. Lublin 2009.

562 Weitere Werke: Busse’s Welttheater. Mchn. 1952 (E.en). – A Kindly Contagion. Indianapolis 1959 (E.en; übers. v. Harry Zohn). – Psychotherapie im Alltag. 14 Episoden. Mchn. 1991. – Heilsame Abstände. Ausgew. E.en. Hg. Evelyne Polt-Heinzl. Wien 1994. – Notrufe. Zehn Gesch.n aus der psychotherapeut. Praxis. Mchn. 1994. Literatur: Evelyne Polt-Heinzl: Der österr. Autor W. T. Eine Einladung zur Wiederentdeckung. In: W. T., Albert Drach, Franz Innerhofer, Gerhard Fritsch, Elfriede Jelinek, Ingeborg Bachmann [...]. Hg. Fausto Cercignani. Milano 2005, S. 157–169. Johann Sonnleitner / Red.

Torberg, Friedrich, eigentl.: F. Kantor, * 16.9.1908 Wien, † 10.11.1979 Wien; Wolfgang Frühwald / Klaudia Hilgers Grabstätte: ebd., Zentralfriedhof (Ehrengrab). – Erzähler, Publizist, Kritiker, Lyriker u. Übersetzer. Toman, Walter, * 15.3.1920 Wien, † 28.9. T. stammte aus jüd. Familie mit böhm. 2003 Wien. – Lyriker, Erzähler. Nach der Matura wurde der Sohn eines Buchhalters 1938 zum Militärdienst eingezogen u. 1942 nach einer schweren Verwundung aus der Wehrmacht entlassen. Nach dem Psychologiestudium in Wien schlug T. die Universitätslaufbahn ein. Der Verfasser mehrerer Standardwerke zur Psychologie lehrte an amerikan. Universitäten u. war Professor für Psychologie an der Universität Erlangen. T. begann unter dem Eindruck des Kriegs 1946–1948 Lyrik im »Plan« u. in Stimmen der Gegenwart (Wien 1952) zu veröffentlichen. Während die reimlosen Gedichte der Sammlung Distelvolk (ebd. 1955) die von Armut u. Depression der Verlierer gekennzeichnete Nachkriegszeit thematisieren, verzichtet T.s Prosa meist auf konkrete u. histor. Bezüge. Der realistische, sachl. Erzählduktus in Die eigenwillige Kamera (ebd. 1951) integriert das Surreale u. Fantastische in den Alltag; die Geschichten sind Ausdruck eines pessimistischen Menschenbildes, aber nicht bar der Hoffnung. Der längste Prosatext T.s, Das Dorf mit dem Drachen (ebd. 1959), kontrastiert die moderne Welt u. ihre zivilisator. Auswüchse mit der archaischen eines abgeschiedenen Tals, in dem der letzte Drache der Welt, eine unauflösl. Chiffre, zuerst als Bedrohung, dann als Touristenattraktion erlebt wird.

Wurzeln. Sowohl sein Vater Alfred Kantor, der als leitender Angestellter einer Spiritusraffinerie arbeitete, als auch seine Mutter Therese Berg kamen aus dem Prager Umland. Schon in den Gymnasialjahren in Prag (seit 1921) veröffentlichte T. Gedichte u. Erzählungen unter seinem aus der letzten Silbe seines Familiennamens u. dem Geburtsnamen seiner Mutter gebildeten Pseudonym (»Jung Juda«, »Selbstwehr«). 1928 begann T., von Max Brod gefördert, als regelmäßiger Mitarbeiter des »Prager Tagblatts«. Sein aus eigener traumat. Erfahrung gespeister Romanerstling Der Schüler Gerber hat absolviert (Bln./Wien/Lpz. 1930. Neuaufl. u. d. T. Der Schüler Gerber. Wien 1954), der den psychologisch genau analysierten Selbstmord eines Gymnasiasten beschreibt, steht in der Tradition bürgerl. Schulkritik des frühen 20. Jh. (Wedekind, Musil, Hesse, Werfel) u. ist T.s von der Kritik am meisten beachtetes Buch. Biografisch geprägt ist auch der Sportroman Die Mannschaft (Lpz./Mährisch-Ostrau 1935. Neuaufl. Wien/Ffm./Zürich 1968), schließlich war T. mit Hagibor Prag 1928 tschechoslowak. Meister im Wasserball. Der Roman, der im Herbst 1935 noch in Deutschland erscheinen konnte u. während der Olympischen Spiele 1936 in Berlin sogar positive Kritiken in reichsdt. Blättern erhielt, steht jedoch dafür, dass T. keineswegs, wie

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gerne behauptet wird, schon 1933 mit Publikationsverbot belegt wurde. Bis 1938 lebte T. als streitbarer Publizist (»Die Weltbühne«), Sportreporter (»Prager Mittag«), Kabarettist (»Literatur am Naschmarkt«), Drehbuchautor (»Der Pfarrer von Kirchfeld«), Theaterkritiker u. Vortragender u. verkehrte in den literar. Cafés in Prag u. Wien (Bekanntschaften u. a. mit Werfel, Broch, Gina Kaus). T., der 1936 vom Berliner Reichssicherheitshauptamt auf eine »Liste deutschfeindlich tätiger Journalisten und Schriftsteller« gesetzt worden war, verließ im Juni 1938 Prag per Flugzeug mit dem Ziel Zürich. Im Juni 1939 ging er nach Frankreich, wo er sich nach Kriegsausbruch zur tschech. Exilarmee meldete. Nicht in Kampfhandlungen verwickelt, floh T. im Juni 1940 via Spanien nach Portugal, wo er im Sept. 1940 mit Hilfe des Emergency Rescue Committees, auf Vorschlag von Erika Mann, als einer von »Ten Outstanding Anti-Nazi Writers« ein Visum für die USA u. einen Einjahresvertrag bei der Filmgesellschaft Warner Bros. in Hollywood erhielt. Dort lebte er bis 1944 als unterbeschäftigter Drehbuchautor. Lediglich der Film A Voice in the Wind (1944) brachte einen Achtungserfolg. In New York, seiner nächsten Exilstation, war er erneut publizistisch tätig (»Die neue Rundschau«) u. fungierte als wichtiger Berater des Bermann Fischer Verlags, dem er zu den Rechten am literar. Werk Franz Kafkas verhalf. Außerdem redigierte er die Verlagschronik Zehnjahrbuch 1938–1948 (Wien/Stockholm 1948). Zentral für T.s Erzählwerk jener Zeit ist die jüd. Identität, verbunden mit einem vertieften religiösen Bewusstsein, u. der an exemplarischen Einzelschicksalen emotional wirksam vorgeführte Konflikt von individueller Entscheidung u. totalitärem System. Im Mittelpunkt der Novelle Mein ist die Rache (Los Angeles [1943]. Wien 1947. Zuletzt Mchn. 2008) steht das bibl. Motiv der Vergeltung, die ein KZ-Häftling an einem brutalen Kommandanten übt. Der Roman Hier bin ich, mein Vater (Stockholm 1948. Neuaufl. Mchn./Wien 1962) schildert in Form eines fiktiven Tagebuchs, wie ein von Schuldgefühlen gegenüber dem Vater getriebener Wiener Jude zum Nazi-Spitzel wird. In Die zweite Begegnung (Ffm. 1950. Neuaufl. Mchn./

Torberg

Wien 1963) verlegt T. die Problematik des Intellektuellen in der Diktatur in das Prag nach der kommunistischen Machtübernahme 1948. Im April 1951 kehrte T. zurück nach Wien, wo er als Mitarbeiter des »Wiener Kurier«, der Sendergruppe »Rot-Weiß-Rot« u. von 1953 bis 1958 als Kulturkorrespondent der »Süddeutschen Zeitung« tätig war, vornehmlich als Theaterkritiker (Das fünfte Rad am Thespiskarren. 2 Bde., Mchn./Wien 1966/ 67). Zudem trat T. als Satiriker, Polemiker u. Glossenschreiber (PPP. Pamphlete, Parodien, Post Scripta. Ebd. 1964) hervor, wobei er sich auf Karl Kraus berief. 1954–1965 leitete T. die von ihm mitbegründete u. vom »Congrès pour la Liberté de la Culture« finanzierte kulturpolit. Zeitschrift »FORVM«. Der darin geäußerte Antikommunismus prägte die kulturelle Atmosphäre im Nachkriegsösterreich wesentlich mit. T. war außerdem maßgeblich daran beteiligt, dass zwischen 1956 u. 1962 keine Stücke von Bertolt Brecht in Österreich aufgeführt wurden (»Brecht-Boykott«). Gegenwärtig wurde dies noch im Prozess gegen die Grazer Autoren Klaus Hoffer u. Alfred Kolleritsch, die T. 1974 in der Zeitschrift »manuskripte« als »CIASchützling« bezeichnet hatten. Große Erfolge auch außerhalb Österreichs errang T. mit dem Erinnerungsbuch Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten (Mchn./Wien 1975), in dem er Gestalten u. Milieu des jüdisch-liberalen Bürgertums u. der Bohème des ehemals habsburgischen Kulturkreises 1918–1938 satirisch-nostalgisch beschwört. Kurios mutet an, dass T. nie im Besitz der österr. Staatsbürgerschaft war. 1924 votierte T.s Vater für die CˇSR; 1945 erhielt T. die US-Staatsbürgerschaft, die er bis an sein Lebensende behielt. Wichtig ist T. als Herausgeber der Gesammelten Werke in vier Bänden (Mchn./Wien 1957–63) von Fritz von Herzmanovsky-Orlando, wiewohl seine Bearbeitung philologisch kritisiert wurde, u. als Editor der Gedichte von Peter Hammerschlag. Seit 1960 reüssierte T. als Übersetzer Ephraim Kishons. T.s Œuvre umfasst neben dem ins MA zurückweisenden, einen jüd. Dichter des 13. Jh. behandelnden Künstlerroman Süßkind von

Torossi

Trimberg (Ffm. 1972) auch formkonservative, von der chassid. Mystik beeinflusste Lyrik (Lebenslied. Mchn./Wien 1958). 1979 erhielt T. den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur. Sein Nachlass befindet sich in der Wienbibliothek im Rathaus. Weitere Werke: Ausgabe: Ges. Werke in Einzelausg.n. 19 Bde., Mchn./Wien bzw. Ffm. 1962–91. – Einzeltitel: Der ewige Refrain. Wien 1929 (L.). – – u. glauben, es wäre die Liebe. Bln./ Wien/Lpz. 1932 (R.). – Abschied. Zürich 1937 (R.). – Mit der Zeit, gegen die Zeit. Graz/Wien 1965. – Golems Wiederkehr. E.en. Ffm. 1968. – Die Erben der Tante Jolesch. Mchn./Wien 1978. – Apropos. Nachgelassenes, Kritisches, Bleibendes. Mchn./ Wien 1981 (Kritiken u. Ess.s). – Auch das war Wien. Hg. David Axmann u. Marietta Torberg. Ebd. 1984 (R.). – Der letzte Ritt des Jockeys Matteo. Hg. D. Axmann u. M. Torberg. Ebd. 1985 (N.). – Auch Nichtraucher müssen sterben. Essays, Feuilletons, Notizen, Glossen. Hg. D. Axmann u. M. Torberg. Ebd. 1985. – Voreingenommen, wie ich bin. Von Dichtern, Denkern u. Autoren. Hg. D. Axmann u. M. Torberg. Mchn. 1991 (Ess.). – Wien oder der Unterschied. Mchn. 1998. – Briefwechsel: ›In diesem Sinne [...]‹. Mchn./Wien 1981. – Kaffeehaus war überall. Briefw. mit Käuzen u. Originalen. Ebd. 1982. – Pegasus im Joch. Briefw. mit Verlegern u. Redakteuren. Hg. D. Axmann u. M. Torberg. Ebd. 1983. – Liebste Freundin u. Alma. Briefw. mit Alma Mahler-Werfel nebst einigen Briefen an Franz Werfel, erg. durch 2 Aufsätze F. T.s im Anhang. Ebd. 1987. – Eine tolle, tolle Zeit. Briefe u. Dokumente aus den Jahren der Flucht 1938–1941. Zürich, Frankreich, Portugal, Amerika. Hg. D. Axmann u. M. Torberg. Mchn. 1989 (Briefw. mit William S. Schlamm). – Ephraim Kishon, F. T.: Dear Pappi – My beloved Sargnagel. Briefe einer Freunschaft. Hg. Lisa Kishon u. D. Axmann. Ins Deutsche übers. v. Dagmar Roth u. D. Axmann. Ebd. 2008. – ›Schreib. Nein, schreib nicht.‹ Briefw. mit Marlene Dietrich. Wien 2008. Literatur: Joseph P. Strelka: F. T. In: Dt. Exillit., Bd. 1, Tl. 1, S. 616–632. – Erwin Ringel: Die Bedeutung v. T.s ›Schüler Gerber‹ für die moderne Selbstmordprophylaxe. In: Das Pult Nr. 57 (1980), S. 66–78. – J. P. Strelka: Der Weg war schon das Ziel. Nachruf auf F. T. In: MAL (1980), H. 3, S. 142–147. – Jean Améry: Sie lernten nicht für das Leben. Schülertragödien v. Emil Strauß, Hermann Hesse, F. T. In: Ders.: Bücher aus der Jugend unseres Jahrhunderts. Stgt. 1981, S. 51–64. – Edith Wenzel: F. T.: ›Süßkind von Trimberg‹. Jüd. Identitätssuche in Dtschld. In: MA-Rezeption II. Hg. Jürgen Kühnel u. a. Göpp. 1982, S. 367–381. –

564 Thomas Trabitsch: F. T. als Theaterkritiker. Diss. Wien 1983. – Franz-Heinrich Hackel: Zur Sprachkunst F. T.s. Ffm. u. a. 1984. – Annemarie Hinker: Der Erzähler F. T. Diss. Graz 1985. – David Axmann (Hg.): Und Lächeln ist das Erbteil meines Stammes. Erinnerungen an F. T. Wien 1988 (mit Bibliogr. v. Ingrid Hilbrand, S. 18–25). – Thomas Dörfelt: Autoren mhd. Dichtung in der literar. Biographik der siebziger Jahre. Göpp. 1989. – Christian Ferber: Schule oder Kasernenhof ? Über F. T.s ›Der Schüler Gerber hat absolviert‹ (1930). In: Romane v. gestern – heute gelesen. Hg. Marcel Reich-Ranicki. Bd. 2: 1918–1933. Ffm. 1989, S. 269–276. – Gerhard Rupp: ›Nichts mehr wahrnehmen, nichts erkennen in zeitlosem Nebel?‹ Schüler reagieren auf die Schulkritik des ›Schüler Gerber‹ v. F. T. In: DU (1989), H. 4, S. 53–67. – Evelyn Adunka: F. T. u. Hans Weigel. Zwei jüd. Schriftsteller im Nachkriegsösterreich. In: MAL (1994), H. 3/4, S. 213–237. – Jörg Thunecke: ›Man wird nicht Jude, man ist es‹. Zur Funktion der jüd. Moral in F. T.s Novelle ›Mein ist die Rache‹. In: ebd., S. 19–36. – Frank Tichy: F. T. Ein Leben in Widersprüchen. Salzb./Wien 1995. – Anne-Marie Corbin: L’image de l’Europe à l’ombre de la guerre froide. La revue ›Forum‹ de F. T. à Vienne (1954–1961). Paris 2001. – Matthias Luserke-Jaqui: Über MA u. Gegenwart. Der Minnesänger Süßkind v. Trimberg u. der gleichnamige Roman v. F. T. In: Studia theodisca 9 (2002), S. 9–22. – Sigurd Paul Scheichl: Why and How F. T.s ›Forum‹ Did Not Confront the Past. In: New German Critique (2004), H. 93, S. 87–102. – Heidrun Ultes-Nitsche: ›Ich bin eine feine Monarchiemischung‹. Identitätskonstruktionen in F. T.s nichtfiktionalen Texten. Hbg. 2005. – Jan Ehlenberger: Adoleszenz u. Suizid in Schulromanen v. Emil Strauss, Hermann Hesse, Bruno Wille u. F. T. Ffm. 2006. – D. Axmann: F. T. Die Biogr. Mchn. 2008. – Marcel Atze u. Marcus G. Patka (Hg.): ›Die Gefahren der Vielseitigkeit‹. F. T. 1908–1979. Wien 2008. Ursula Weyrer / Marcel Atze

Torossi, Eleni, * 7.4.1947 Athen. – Kinderbuchautorin, Rundfunkjournalistin. Die Tochter einer alleinerziehenden Hutmacherin kam 1968, ein Jahr nach dem Militärputsch in Griechenland, in die BR Deutschland, wo sie polit. Asyl erhielt. Seit 1971 arbeitet sie für das Ausländerprogramm u. den Kinderfunk des BR u. schreibt Kulturbeiträge, Reportagen, Kindergeschichten u. Hörspiele. Sie erhielt verschiedene literar. Aus-

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Torresani

Warum Tante Iphigenia mir einen Koch schenkte zeichnungen u. 2009 das Bundesverdienst(Mchn. 2009) sammelt (nach einer Rundkreuz. Von 1973 an übersetzte T. griech. Märchen funksendung) kulinar. Geschichten aus einer u. schrieb zweisprachige Gutenachtgeschich- auf verschiedene Länder verteilten griech. ten für die Kindersendung Betthupferl im BR. Großfamilie. Für T.s sozialpolit. Engagement Erste Texte wurden in Anthologien, Zeitun- stehen das (mit dem ARD Medienpreis ausgen u. Zeitschriften u. in der von ihr zusam- gezeichnete) Rundfunkfeature Verlassen und men mit Luisa Carmen Hölzl herausgegebe- auf sich selbst gestellt. Die Kinder der Gastarbeiter nen Anthologie ausländ. Autorinnen, Frei- (2005 im Notizbuch auf Bayern 2 Radio) u. händig auf dem Tandem (Kiel 1985), veröffent- Begegnungen, die Hoffnung machen. Grenzen gelicht. 1986 erschien Tanz der Tintenfische. Gu- genüber Ausländern überwinden – Ideen und Intenachtgeschichten, nicht nur für Kinder (Kiel. itiativen (hg. zus. mit Anetta Kahane. Freib. i. Reinb. 1989. Erw. u. überarb. Neuaufl. mit Br. 1993). Kleine Worte, große Worte – Eleni dem Untertitel Geschichten von fremden Freun- Torossi im Gespräch mit zeitgenössischen griechiden. Holzkirchen 1998) mit fantasievoll- schen Autoren (Köln 2001) vermittelt in mehr spielerischen Geschichten aus dem Alltag von als 30 Interviews für das griech. Programm (ausländ.) Kindern sowie märchen- u. fabel- des BR einen Überblick über die zeitgenöss. artigen Tier- u. Dinggeschichten, die zur griech. Literatur. T.s Bücher erschienen auch Selbstbehauptung, zur eigenen Besonderheit auf Griechisch. u. zum Verstehen von anderen ermutigen. Weiteres Werk: Ein Tintenfisch will schreiben 1988 folgte Paganinis Traum. Märchen, Fabeln lernen [Interview mit E. T.]. In: Die Reise hält an. und andere Geschichten (Kiel. Erw. u. überarb. Ausländ. Künstler in der Bundesrepublik. Hg. Neuaufl. mit dem Untertitel Märchen und Fa- Carmine Chiellino. Mchn. 1988, S. 89–99. Karl Esselborn beln von der Liebe. Holzkirchen 1998), das ähnl. Kindheits-, Fantasie- u. Traumgeschichten in griech. Szenerie erzählt. Die Erzählung Die Torresani, Karl (Franz Ferdinand Frhr.) Papierschiffe (Hauzenberg 1990) wurde auch von (Lanzenfeld und Camponero), * 18.4. verfilmt. 1846 Mailand, † 12.4.1907 Torbole/GarDie zweisprachigen Erzählungen in Zaudasee. – Erzähler. berformeln (Köln 1998) entfalten Erinnerungen an die eigene Lebensgeschichte, die taube T. entstammt einem alten Südtiroler AdelsMutter u. den früh verschwundenen Vater geschlecht. Im Zuge der 48er-Revolution sowie Erfahrungen der Migration, die nach flüchtete er mit seinem Großvater Karl Jusder Erziehung zur griech. Frauenrolle erst tus, k. k. General-Polizeidirektor der Lomdas Selbständigwerden der jungen Frau er- bardei, seiner früh verwitweten Mutter u. möglichte – ähnlich wie dies von den Auto- seiner jüngeren Schwester aus Mailand nach rinnen der frühen Anthologie trotz ihrer Riva. Die ital. Akkulturierung währte aber doppelten Fremdheit im anderen Land be- nur kurz, da nach der Wiederverheiratung schrieben wurde – u. zur Kommunikation seiner Mutter T.s Stiefvater als Kommandant (mit dem Sohn) in zwei verschiedenen kul- des Pionierkorps nach Klosterneuburg verturellen Mustern führt. In dem (mit einem setzt wurde. Hier wurde T. zunächst durch Literaturstipendium der Stadt München 1996 Hauslehrer unterrichtet u. kam früh in Kongeschriebenen) Kinderroman Gangster, Dollars takt mit dem Militär. Seit 1858 besuchte er und Kojoten (Holzkirchen 1999) kommt ein das Jesuitengymnasium ›Stella Matutina‹ in nach Amerika ausgewanderter Großvater Feldkirch; 1861 wechselte er in die Therenach langer Zeit zur Tochter zurück u. er- sianische Militärakademie in Wiener Neuzählt den Enkeln sein Leben in märchenhaf- stadt. Danach beteiligte er sich mit Austen Abenteuergeschichten von Indianern, zeichnung am Österreichisch-Italienischen Fahrten durch Amerika, vom New Yorker Krieg. Die folgende Generalstabskarriere, die Großstadtleben usw. u. versöhnt sich am ihn zum Rang eines Rittmeisters führte, beEnde mit der verlassenen Tochter. endete T. selbst, indem er sich 1876 als in-

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valid pensionieren ließ, um sich Reisen (nach sucht. Das »Sittenbild« wollte T. ausdrückSkandinavien u. Ägypten) u. der Schriftstel- lich nicht als »Dialectstück« verstanden wislerei widmen zu können. Da sein literar. Be- sen, sondern er schlug ein maßvolles »Wienmühen zunächst ohne Resonanz blieb, ver- erln« als Bühnensprache vor u. wies in desuchte T. eine bürgerl. Existenz zu führen: taillierten Bühnenanweisungen einer angezwei Jahre als techn. Beamter, dann als stei- messenen Inszenierung erfolgreich den Weg. T. gehört zu den Wegbereitern der Wiener ermärk. Landwirt, bis endlich – zwölf Jahre später – sein Roman Aus der schönen wilden Moderne wie Marie von Ebner-Eschenbach, Lieutenants-Zeit (Lpz. 1889. 51904) den Detlev von Liliencron oder Ferdinand von schriftstellerischen Durchbruch bedeutete u. Saar, die alle zur Festschrift Säbel und Feder. großes Echo beim Lesepublikum sowie heute Zum sechzigsten Geburtstag Carl Baron T.s (Dresden 1906) beitrugen. Allerdings blieb vergessene Nachahmer in der Armee fand. T. ist ein bedeutender Repräsentant der seine Wirkung auf die Jahrhundertwende militärischen Belletristik der Moderne. Seine beschränkt. T.s kulturhistorisch bedeutende Schilderungen des k. u. k. Militärlebens Memoiren Von der Wasser- zur Feuertaufe überzeugen, ohne avancierte Erzähltechni- (Dresden u. a. 1900) zeigen ihn als Repräsenken einzusetzen, v. a. durch ihre präzise Mi- tanten des 19. Jahrhunderts. lieuzeichnung u. sprachl. Charakterisierung Weitere Werke: Der beschleunigte Fall. 2 Bde., – mit maßvollem Gebrauch des Dialekts. Die Dresden/Lpz. 1892 (R.). – Steyrische Schlösser. Bln. Schwarzgelben Reitergeschichten (Lpz. 1889) u. 1897 (R.). die »ernsten und ausgelassenen SoldatengeLiteratur: Wurzbach. – Carola Seligmann: Carl schichten« Ibi Ubi (Dresden/Lpz. 1894. 21900) Ferdinand Frhr. v. T. Eine Monogr. Diss. Wien konfrontieren das Offiziersmilieu mit der 1935. – Johann Heinrich Blumenthal: Carl Frhr. T. Welt des einfachen Soldaten, etwa in Hanka. Sein Leben u. Werk. Wien 1957. Achim Aurnhammer Die Geschichte einer Lunge, einer Leber und eines Herzens. Darin erbarmt sich eine Offiziersfrau eines malträtierten rumän. Soldaten, ohne Totentanz ! Mittelrheinischer Totendessen Tod verhindern zu können. T. ver- tanz, ! Niederdeutscher Totentanz, ! suchte seine Militärschilderungen auch auf Oberdeutscher Totentanz andere gesellschaftl. Milieus anzuwenden: so in dem Doppelroman Mit tausend Masten Tovote, Heinz, * 12.4.1864 Hannover, (Dresden 1890. 3., umgearb. Aufl. Dresden † 4.2.1946 Berlin; Grabstätte: Berlinu. a. 1897) u. Auf gerettetem Kahn (Dresden Wilmersdorf, Friedhof Berliner Straße. – 3 1892. Dresden u. a. 1897). In seinem Erzähler. »Künstlerroman« Oberlicht (Dresden 1892) entwirft er am Beispiel eines Bildhauers die Nach dem Besuch des Gymnasiums in HanWelt des modernen Kunstbetriebs. Allerdings nover wollte T. Schauspieler werden, begann wirkt der Schlüsselroman (so ist der Baron dann aber ein Philologiestudium in GöttinRothschild unschwer in der Figur »Blausch- gen, das er in Berlin mit der Habilitation abwerdt« zu erkennen) in seinen Typisierungen schloss. Er lebte seit 1889 meist in Schöneüberzeichnet. Besser gelungen ist der erfolg- berg/Berlin als freier Schriftsteller. reiche Gesellschaftsroman Die Juckercomtesse Man darf T. der Décadenceliteratur zu(Dresden u. a. 1891. 51906), in dem die lesb. rechnen, obwohl er auf dem Naturalismus Liebe diskret behandelt wird. Seine sozial- aufbaute u. als »eleganter Realist« durchaus krit. Erzählung Mikesch-Mali (in: Aus drei sozialkritisch begann. Sein größter Erfolg Weltstädten. Dresden u. a. 1896) hat T. dra- blieb der Roman Im Liebesrausch (Bln. 1890. matisiert: Die Familie Mikesch (Dresden/Lpz. 491921). T. spielte mit Reizen, Nervensensa1901) entwirft ein »Wiener Sittenbild in vier tionen, mit frivoler Erotik u. den Niederlagen Aufzügen«. Geschildert wird die unglückl. der Moral. Letztlich wirken seine flott u. anLiebe eines Mädchens, das der bedrückenden schaulich erzählten Texte gefällig u. feiern Enge ihrer Familie durch Freitod zu entgehen die Lebenslust mit der Wendung ins Kon-

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ventionell-Harmonische. In T.s späteren Werken verwässern alle charakterist. Ansätze zur Trivialliteratur. Maupassant bildete, ähnlich wie für Hartleben u. Ompteda, das stilistische u. stoffl. Vorbild; T. übersetzte 1894 dessen Yvette (Bln.). Die Wiedergabe sinnl. Valeurs nach dem Vorbild des naturalistischen Sekundenstils, die Vermittlung der Erfahrung einer destabilisierten Realität mochten Stärken seiner frühen Texte sein (so die impressionistische Skizze Fallende Tropfen in der »Freien Bühne«, 1890). Sein lässiger Stil wurde gröber u. ordnete sich der monotonen Aneinanderreihung pikanter Berliner Salon- u. Dirnengeschichten unter. T. erwies sich als kommerzieller Nutznießer einer modischen Vorliebe des bürgerlichen, bes. des weibl. Lesepublikums. Weitere Werke: Fallobst. Bln. 1890 (N.n). – Frühlingssturm. Ebd. 1891 (R.). – Der Erbe. Dresden 1891 (R.). – Ich: nervöse Novellen. Bln. 1892. – Mutter! Ebd. 1893 (R.). – Heiml. Liebe. Ebd. 1893 (N.n). – Das Ende vom Liede. Ebd. 1894 (R.). – Heißes Blut. Ebd. 1896 (N.n). – Abschied. Ebd. 1898 (N.n). – Sonnemanns. Ebd. 1904 (R.). – Nicht doch! Harmlose Novellen. Ebd. 1908. – Durchs Ziel. Ebd. 1914 (R.). – Aus einer dt. Festung im Kriege. Ebd. 1915. Literatur: Adalbert v. Hanstein: Das jüngste Dtschld. Lpz. 1900. – Friedrich Schulz: H. T. In: Ders.: Ahrenshoop. Künstlerlexikon. Fischerhude 2001, S. 171. Gerhard Stumpf / Red.

Toxites, Michael, eigentl.: M. Schütz, * 19.7.1514 Sterzing/Tirol, † Aug. 1581 Hagenau. – Neulateinischer Dichter u. paracelsistischer Arzthumanist. Nach dem Besuch der Lateinschule in Dillingen u. dem Erwerb der Baccalaureus-Würde in Tübingen (1532), Aufenthalten in Pavia (1535) u. Wittenberg wirkte T. etwa seit 1537 als Lateinlehrer in Urach, bis er 1540 aufgrund falscher Anschuldigungen gefoltert, »bürgerlich getötet« u. aus Württemberg verbannt wurde. Dank des Beistands führender Gelehrter Basels u. Straßburgs unterrichtete T. dann am Gymnasium in Straßburg (1542–1545) u. Brugg/Kt. Aargau (1549–1551); ein erneuter Aufenthalt in Straßburg u. Dienste für Pfalzgraf Otthein-

Toxites

rich (um 1553/55) schlossen sich an. Nach seiner herzogl. Rehabilitation (1554) zog T. 1556 nach Tübingen, wo er als herzogl. Pädagogiarch der württembergischen Schulen, Universitätslehrer u. Reformator des Pädagogiums wirkte. Seit 1560 wieder in Straßburg, dann in Hagenau (1572), widmete sich T. bis zu seinem Tod hauptsächlich der Medizin u. Alchemie. T. wurde während des Speyrer Reichstags (1544) als Poeta laureatus u. Comes palatinus ausgezeichnet; um 1562 erlangte er die Würde eines Dr. med.; maßgebl. Einfluss auf sein humanistisch-schulpädagog. Streben nahm Johann Sturm (Straßburg), auf seine Hinwendung zum Paracelsismus Adam von Bodenstein (Basel). Zunächst machte sich T. in der humanistisch-protestantischen Respublica literaria mit einer eleg. Querela anseris (Straßb. 1540) u. lat. Gelegenheitsdichtungen einen Namen. Seinen engen Anschluss an Johann Sturm bekunden zahlreiche Sturmiana-Ausgaben (1551–64), darunter Sturms Cicero-Lektionen u. Prolegomena (Zürich 1562), aber auch seine schulreformerische Consultatio de emendandis, recteque instituendis literarum ludis (Tüb. 1557). Ausweislich seiner Spongia stibii (Straßb. 1567), einer Apologie der Antimontherapie, u. einer paracelsistischen Lehrdichtung (Ad Christum pro verae scientiae cognitione oratio. In: A. von Suchten: De secretis antimonii. Straßb. 1570) stellte T. seine dichterischen Fertigkeiten auch in den Dienst der »hermetischen« Medizin u. Alchemia medica. Hauptsächlich aber trat T. nach seiner um 1560/64 erfolgten Hinwendung zur Paracelsischen Medizin als ein tatkräftiger Fachbuchpublizist hervor. T. schuf literar- u. wissenschaftshistorisch bedeutende Alchemica-Ausgaben ([Pseudo]Raimundus Lullus, Petrus Bonus, Bernardus Trevisanus) u. sorgte für den Druck von Werken befreundeter Mediziner (Bartholomäus Carrichter, A. von Suchten, Philomusus Anonymus, Balthasar Conradinus). Schwerpunkt seines publizistischen Wirkens bildeten jedoch seit 1564 zahlreiche ParacelsicaAusgaben u. ein Beitrag zur frühen Paracelsus-Lexikografie (Onomastica II. Straßb. 1574; unter Mitarbeit Johann Fischarts. Reprint Hildesh. 2007), die in T. einen führenden

Träger

Vertreter des oberrheinischen Paracelsismus kenntlich machen, von dem der frühneuzeitl. Aufschwung des dt. Paracelsusrezeption maßgeblich gefördert worden ist. Weitere Werke: Gratiarum actio satirica. In: Johann Sturm: Luctus. Straßb. 1542 (hier u. a. auch Dichtungen auf den Tod von S. Grynaeus, W. Capito, J. Bedrott). – Ecclesiae [...] epistola gratulatoria. Ebd. 1543 (an Hermann v. Wied). – Institutio exhortativa. Basel o. J. [1552] (an Eduard VI. v. England). – Casualie an Ottheinrich. In: J. Curio: Confabulatio. Straßb. 1555. – De tinctura physica (Gedicht). In: Paracelsus: Archidoxa. Straßb. 1570. – Epicedia auf den Tod von J. Winter. In: G. Calaminus: Vita [...] Gvintherii. Straßb. 1575. – Herausgeber: De podagrae laudibus doctorum hominum lusus. Straßb. 1570. Ausgaben: Briefe, Vorreden, Dedikationen: Zaunick (1943). Heinrich Bullinger: Briefw. Bd. 10, Zürich 2003. CP II (2004), Nr. 40–70. – Lobgedicht auf B. Amerbach. In: Amerbachkorrespondenz. Bd. 7. Hg. Beat Rudolf Jenny (1973), S. 490 f. – Spongia stibii. In: Kühlmann (1995). Literatur: Charles Schmidt: Michael Schütz gen. T. Straßb. 1888 (mit Werkverz.). – Karl Sudhoff: Versuch einer Kritik der Echtheit der Paracels. Schr.en. Tl. 1, Bln. 1894. – Otto Rudel: Beiträge zur Gesch. der Medizin in Tirol. Bozen 1925, S. 87, 198–208. – Ellinger 2, S. 180–190. – Rudolph Zaunick: M. T. (Schütz) u. Kurfürst August v. Sachsen. In: Sudhoffs Archiv 36 (1943), S. 90–99. – Josef Strebel: Michael Schütz. gen. T., Ersthg. der Philosophia sagax Paracelsi. In: Nova Acta Paracelsica 4 (1947), S. 99–111. – Johannes Karcher: Theodor Zwinger u. seine Zeitgenossen. Basel 1956, S. 32–34. – Wolfram Brechtold: Dr. Heinrich Wolff (1520–81). Diss. Würzb. 1959. – Norbert Hofmann: Die Artistenfakultät an der Univ. Tübingen 1534–1601. Tüb. 1982. – Jean-Pierre Kintz: La société strasbourgeoise. Paris 1984, S.176 f. u. ö. – Karl-Heinz Weimann: Der Renaissance-Arzt Johann Winther v. Andernach. Seine Beziehungen [...] zum Paracelsus-Lexikon des M. T. In: Würzburger medizinhistor. Mitt.en 7 (1989), S. 215–232. – Wilhelm Kühlmann: Humanistische Verskunst im Dienste des Paracelsismus. Zu einem programmat. Lehrgedicht des M. T. (1514–1581). In: EG 50 (1995), S. 509–526, auch in Kühlmann/Schäfer (2001), S. 25–40. – François Joseph Fuchs: M. T. In: NDBA 37 (2001), S. 3886. – Peter O. Müller: Dt. Lexikographie des 16. Jh. Konzeptionen u. Funktionen frühneuzeitl. Wörterbücher. Tüb. 2001, S. 492–495. – Jaumann Hdb., S. 663. – CP II (2004), S. 41–66 (mit Werkverz.). – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2103–2106 (mit Werkverz.). – Wilfried

568 Kettler: Untersuchungen zur frühnhd. Lexikographie in der Schweiz u. im Elsass. Strukturen, Typen, Quellen u. Wirkungen von Wörterbüchern am Beginn der Neuzeit. Bern 2008, S. 853–878 (zu den Onomastica II). – DBE. Joachim Telle

Träger, (Christian Gottfried) Albert, * 12.6.1830 Augsburg, † 26.3.1912 Charlottenburg bei Berlin. – Lyriker, Herausgeber, Novellist; Politiker. T., Sohn eines Redakteurs u. späteren Kaufmanns, war nach seinem Jurastudium in Halle u. Leipzig seit 1862 Rechtsanwalt in Cölleda, seit 1875 in Nordhausen u. seit 1891 in Berlin. Er gehörte seit 1874 dem Deutschen Reichstag, seit 1879 auch dem Preußischen Abgeordnetenhaus als Mitgl. der Freisinnigen Volkspartei an u. war mit dem liberalen Politiker Eugen Richter befreundet. Als Lyriker der »Gartenlaube« wurde er dem großen Publikum seiner Zeit bes. durch seine sentimentalen Mutter-Lieder bekannt, die seit 1885 von Arno Holz u. anderen Naturalisten verspottet wurden. Dennoch blieb T.s formvollendete epigonale Lyrik bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs ein großer Erfolg. Seine Gedichte (Lpz. 1858) erreichten 1911 die 18. Auflage; seine Anthologien Stimmen der Liebe (1861), Deutsche Lieder in Volkes Herz und Mund (1864) u. Lieder, Balladen, Romanzen harmonisch verbunden mit der bildenden Kunst (1871. Alle Lpz.) waren auf dem Markt führend. Als Herausgeber des Jahrbuchs »Deutsche Kunst in Bild und Lied« (ebd. 1865–84) passte er sich dem Gründerzeitgeschmack an. Weniger Beachtung fanden T.s Novellen u. seine sozialen Skizzen Tannenreiser. Weihnachtsarabesken (Wien 1863). Literatur: Alois Dreyer: T. In: BJ 17 (1912). – Goedeke Forts. Günter Häntzschel / Red.

Trakl, Georg, * 3.2.1887 Salzburg, † 3.11. 1914 Krakau; Grabstätte: Innsbruck, Neuer Mühlauer Friedhof. – Lyriker. Als viertes von sieben Kindern des Eisenhändlers Tobias Trakl u. der Maria Catharina, geb. Halik, wuchs T. im Schaffnerhaus, Waagplatz Nr. 2, in Salzburg auf, kam 1892 auf die Übungsschule der kath. Lehrerbil-

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dungsanstalt, besuchte jedoch den Religionsunterricht in der protestantischen Schule. 1897 wurde er in das k. k. Staatsgymnasium in Salzburg aufgenommen, verließ es jedoch nach der siebten Klasse wegen Misserfolgs u. trat im Sept. 1905 ein Praktikum in der Apotheke »Zum weißen Engel« an. Dort machte er erste Bekanntschaft mit Drogen. Noch in der Gymnasialzeit war er Mitgl. des Dichterzirkels »Apollo« (später »Minerva«). 1906 wurden in Salzburg zwei seiner Dramen uraufgeführt (Totentag, Fata Morgana; beide verschollen). Im Herbst 1908 immatrikulierte er sich zum Studium der Pharmazie in Wien. Er nahm dort regen Anteil an den avantgardistischen Bestrebungen des Akademischen Verbands für Literatur und Musik. 1909 stellte T. seine Gedicht-Sammlung 1909 (in: Aus goldenem Kelch. Salzb./Lpz. 1939) zusammen, Gedichte erschienen auch im »Merker«, in »Ton und Wort« u. im »Ruf«. Nach der Sponsion zum Magister der Pharmazie trat T. im Okt. 1910 den Militärdienst als EinjährigFreiwilliger in Wien an. Am 1.4.1912 begann er einen Probedienst als Militärmedikamentenbeamter (»Medikamentenakzessist«) in der Apotheke des Garnisonsspitals Nr. 10 in Innsbruck. Seit der Veröffentlichung des Gedichts Vorstadt im Föhn (1.5.1912) war T. regelmäßiger Mitarbeiter der Halbmonatsschrift »Der Brenner«, die Ludwig von Ficker zu einem bedeutenden Sammelpunkt jüngster Literatur ausgebaut hatte. Mit dem Karl Kraus gewidmeten Psalm (1.10.1912) erregte T. erstmals öffentl. Aufsehen. Am 30.9.1912 endete der Probedienst; am 31.12. trat T. eine Stelle als Rechnungspraktikant im Ministerium für öffentl. Arbeiten in Wien an, die er jedoch tags darauf schon wieder verließ. Zur selben Zeit schrieb er die fünfteilige Dichtung Helian. Noch einmal konnte er im Juli 1913 einen unbesoldeten Probedienst als Rechnungspraktikant im Kriegsministerium aufnehmen, von dem er sich jedoch schon wenige Tage später krank meldete. Versuche, im Arbeitsministerium oder im Niederländischen Kolonialdienst unterzukommen, scheiterten, T. sah sich aus eigener Schuld einer »lächerlich ungewissen« Zukunft preisgegeben, betrachtete jedoch desto rückhaltloser sein Dichten als »Arbeit«.

Trakl

Seit Anfang 1913 nahmen sich Ludwig von Ficker u. seine Frau Cissi, Karl Kraus u. Adolf Loos sowie Innsbrucker Freunde wie Max von Esterle, Othmar Zeiller u. Karl Röck T.s auch persönlich an. Mitte Juli 1913 erschien als siebter u. achter Band der Reihe »Der jüngste Tag« (Lpz.: Kurt Wolff Verlag) die Sammlung Gedichte. Die zweite Augusthälfte 1913 verbrachte T. mit Kraus, Loos, Altenberg u. dem Ehepaar Ficker in Venedig. Bald nach seiner endgültigen Rückkehr nach Innsbruck entstand im Dez. 1913 ein Selbstporträt, das T. als Maske im Mönchsgewand zeigt; am 10.12.1913 hielt er zusammen mit Robert Michel in Innsbruck seine einzige öffentl. Lesung eigener Werke. Mitte März 1914 reiste T. nach Berlin zu seiner nach einer Fehlgeburt schwer erkrankten jüngsten Schwester Margarethe (Gretl). Vermutlich über Kraus lernte er dort Else Lasker-Schüler kennen. Ein Brief T.s aus Berlin bekundet äußerste Verzweiflung, seine Gesundheit ist durch Drogen- u. Alkoholkonsum zunehmend belastet. Aus einer Spende des Wiener Industriellensohns Ludwig Wittgenstein an bedürftige Schriftsteller u. Künstler erhielt T. im Juli 1914 den namhaften Betrag von 20.000 Kronen zugesprochen, der ihn mit einem Schlag unmittelbarer finanzieller Sorgen enthob. Bei Kriegsbeginn wurde T. als Reservist eingezogen. Seine Einheit wurde in Galizien stationiert u. in der Schlacht von Gródek (8.11. Sept.) erstmals eingesetzt. In einer Scheune nahe dem Hauptplatz der Stadt Gródek hatte T. zwei Tage hindurch 90 Schwerverletzte ohne Medikamente u. ohne ärztl. Anleitung zu betreuen. Auf dem Rückzug, der über Limanowa führte, unternahm er einen Selbstmordversuch. Daraufhin wurde er am 8. Okt. über Wadowice nach Krakau transferiert, wo er im Garnisonsspital Nr. 15 zur Beobachtung seines Geisteszustands festgehalten wurde. Am 24./25. Okt. besuchte ihn dort Ficker u. bemühte sich um T.s baldige Entlassung. Bald nach seiner Rückkehr nach Innsbruck erhielt Ficker eine briefl. Verfügung, in der T. für den Fall seines Todes seinen ganzen Besitz seiner Schwester Gretl zusprach; wohl vom selben Tag stammt eine Karte T.s an Wittgenstein (gleichfalls in

Trakl

Krakau stationiert) mit der Bitte, ihn zu besuchen. T. starb am 3.11.1914 an Herzlähmung. Als nähere Todesursache ist in der Krankengeschichte »Suicid durch Cocainintoxication« angegeben; andere Indizien sprechen gegen Selbstmord, sodass die näheren Umstände des Todes weiterhin im Dunkeln bleiben. T. wurde auf dem Rakoviczer Friedhof in Krakau begraben; 1925 wurden die Gebeine des Dichters nach Innsbruck überführt u. dort beigesetzt. In weniger als einem Jahrzehnt drang T. aus konventionellen Anfängen zur Neuerschließung lyr. Formen vor, welche die Sprachkunst des 20. Jh. maßgeblich beeinflussen sollten. Die Wirkung reicht von der dürftig verdeckten Klanganspielung bis zur dichtesten Motivverarbeitung, welche die »Vorlage« gerade noch ahnen lässt. Auf diese Weise anonym geworden, ist T.s Lyrik in ihrer Rezeption vielleicht am intensivsten gegenwärtig. Im Entstehen von T.s Lyrik lassen sich vier Phasen unterscheiden: Die frühesten Gedichte einschließlich der Sammlung 1909 sind traditionell in Vers, Strophe u. Reim u. lassen Vorbilder wie George, Rilke, Hofmannsthal, aber auch schon Hölderlin, Nietzsche, Baudelaire u. Rimbaud erkennen. Daneben die Dramen Totentag (1905), Fata Morgana (1906), Don Juans Tod (1906–1908) u. Blaubart. Ein Puppenspiel (1910), die Prosastücke Traumland, Barrabas, Maria Magdalena u. Verlassenheit (alle 1906). In den zwischen Ende 1909 u. Sept. 1912 entstandenen Gedichten, meist paratakt. Vierzeilern, wirken sich schon streng kontrollierte Techniken aus, etwa die von T. so genannte »bildhafte Manier, die in vier Strophenzeilen vier einzelne Bildteile zu einem einzigen Eindruck zusammenschmiedet«. Musik im Mirabell u. Kleines Konzert (beide in: Gedichte) sind in dieser Manier des Dreiklangs mit Akkord gearbeitet, auch das Gedicht Vorstadt im Föhn, in dem T. aus einer »begrenzt persönlichen« zu einer »universellen« Form des Dichtens gefunden hat. Die Gedichte vom Herbst 1912 bis zur Jahreswende 1913/14 – beginnend mit Psalm, überwiegend in freien Rhythmen – weisen über Versgruppen hin neuartige melodisch-

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rhythm. Grundfiguren auf. Noch fassbare Bildbedeutungen sind zu Bestandteilen alogischer Bildmuster geworden, in denen sich außersprachliche, v. a. musikalische Strukturvorgaben geltend machen (z. B. Unterwegs, Untergang, Elis, Helian). Die späten Gedichte (Dez. 1913 bis unmittelbar vor T.s Tod) beginnen mit An die Verstummten, Abendländisches Lied u. Abendland u. enden mit Klage (II) u. Grodek; dazu kommen Prosadichtungen (Verwandlung des Bösen, Traum und Umnachtung, Offenbarung und Untergang u. ein Dramenfragment). Die Kürze der Verszeilen in Gedichten wie Die Nacht, Die Heimkehr ist als Variante zur »harten Fügung« in Hölderlins späten Hymnen zu sehen; die zuvor »horizontal« auslaufende Struktur in weicher Musikalität verklingender Verse u. ganzer Gedichte kehrt sich ins »Vertikale« einer Folge von Exklamationen, die den »apokalyptischen Ton« dieser späten Gedichte ausmacht. Die Motive in T.s Lyrik (antike Ursprungsmythen, Orpheus u. Christus u. das mittelalterl. Mönchstum, der »heilige Bruder« Hölderlin, der »heilige Fremdling« Novalis, Rimbaud, Dostojewskij) sind engräumig u. äußerst ökonomisch verarbeitet. Entstehungsvarianten lassen die Herkunft der Motive oftmals gerade noch erkennen, ehe sie in T.s eigene Tonart u. Bildlichkeit aufgehen. Diese ist durch Bildreihung u. die Entgegensetzung von Bild u. Gegenbild gekennzeichnet oder durch bewahrende Versetzung, d.h. durch Wiederauftauchen von Bildbedeutungen in sich ändernden Konstellationen. Dieser Umstand lässt die Gedichte T.s untereinander verwandt, wenn nicht gar als »ein Gedicht« – so in der Deutung Martin Heideggers – erscheinen. Oft ordnet T. seine Motive symmetrisch um eine Achse an (Spiegelung – z. B. Rondel), parallel oder in komplizierter Verschränkung heterogener Bedeutungen. Gedichtgruppen ergeben Gebilde von hoher textl. Dynamik (z. B. Melancholie, das aus zwei urspr. selbstständigen Gedichten entstand). Auch die von T. selbst zusammengestellten Bände Gedichte (Lpz. 1913) u. Sebastian im Traum (ebd. 1915; postum) sind strikt komponiert.

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Die starke sinnl. Wirkung seiner Bilder hat T. später in die Nähe des Expressionismus in Dichtung u. Malerei gerückt; von dessen »Sturz-und-Schrei-Pathos« ist er jedoch weit entfernt. Tatsächlich verdankt sich diese Wirkung paradox den bildlosen Gesetzlichkeiten der Musik, die T. zu formenden Prinzipien weiterentwickelte. Zu diesen gehört auch das Schweigen. Rilke erschien der Helian »gleichsam auf seine Pausen aufgebaut«. Auch T., wie Rimbaud, »notierte das Unausdrückbare«. Ein »armer Kaspar Hauser«, lernte er am Sprachlosen die Sprache neu. Es wechseln Ertönen u. Verstummen, Aufleuchten u. Erlöschen, »Offenbarung und Untergang«, »Traum und Umnachtung«, als hätte T. das Apollinische u. das Dionysische aus der Geburt der Tragödie ebenso konsequent realisieren müssen wie Nietzsches Forderung an den Lyriker, ganz Musiker zu werden. Abstrakte Strukturierung löst den abbildenden Bezug dieser Sprache zur äußeren Wirklichkeit auf; die Sprache »verdinglicht« sich, meint immer mehr sich selbst u. den poetischen Vorgang. In der »Trakl-Welt« (Josef Leitgeb) folgen Szenarien u. Gestalten einander wie Zeichen eines unauflösbaren Rebus oder wie Masken, aus denen Unbekanntes schaut. Immer führt positive sprachl. Setzung ihr Negatives mit sich. Unaufhörlich geschieht Metamorphose, »Alchemie des Wortes«. In den Elis-Gedichten leuchtet Erinnerung an frühmenschl. Dasein auf, doch intensiver gestaltet T. dessen Verlust gemäß der Formel »Goldenes Auge des Anbeginns, dunkle Geduld des Endes« (Jahr. In: Der Brenner, 15.5.1914). Das sich neigende Jahr, der zu Ende gehende Tag geben den zeitl. Duktus u. die Bewegungsrichtung dieser Lyrik an: das Absterben, den »Untergang«. Als »Jünglingin« u. »Mönchin« begegnet in den Gedichten »die Schwester«. Das Inzestmotiv in Blutschuld (in: Aus goldenem Kelch), Frühling der Seele, Passion (in: Der Brenner, 15.3. bzw. 15.2.1914) – dort förmlich aus Wagners Walküre herbeizitiert – erlaubt keine direkten Rückschlüsse aufs Private, lässt jedoch T.s Gedichte immer auch autobiografisch lesen. Das Motiv als Signal für die innere Unmöglichkeit einer Gesellschaftsform steht dazu nicht im Widerspruch.

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T.s Lyrik bildet einen genauen Gegenentwurf zum »Gesamtkunstwerk« Wagners, das – monumental von Grund auf – alle Künste dem Konzept einer Idee unterwirft u. als Spiegel polit. u. ökonomischer Macht gebraucht. So wie Loos seine ornamentfreie Architektur u. Kraus, der nach T.s Ansicht »wie keiner der Welt ein Beispiel« gab, seine Satire, so stellte T. seine Dichtung gegen ein repräsentatives Kultur-Selbstverständnis. Seine Alternative liegt in der Synästhesierung von Sprachvorgängen, in einer bislang nicht erreichten Anreicherung der Sprache mit Bild, Klang, Duft, Schweigen. Es gibt in der Dichtung dieses Jahrhunderts den »TraklTon«. T. verkörperte nicht, wie z. B. George, den von Nietzsche geforderten »Meister«-Dichter, für welchen Dasein u. Welt »einzig ästhetisch gerechtfertigt« sind. Heraustretender Persönlichkeitszug war gefasste Schwermut, »sanfter Wahnsinn«, der von der »Bitternis der Welt« gekostet hat, ihre »ungelöste Schuld«, das Böse, kennt u. mit dem Leiden der Kreatur, dem »ganzen Jammer« der Menschheit solidarisch ist. Deshalb war T. gegen sein eigenes künstlerisches Tun misstrauisch. Nicht Nietzsche, sondern Dostojewskij folgend, empfand er sein Gedicht als »unvollkommene Sühne«. Ausgaben: Die Dichtungen. Erste Gesamtausg. Besorgt durch Karl Röck. Lpz. 1918. Ab 6. Aufl. Salzb. – Dichtungen u. Briefe. Hist.-krit. Ausg. Hg. Walther Killy u. Hans Szklenar. 2 Bde., Salzb. 1969. 2., erg. Aufl. 1987. – Gedichte, Dramenfragmente, Briefe. Hg. Franz Fühmann. Lpz. 1981. – Sämtl. Werke u. Briefw. Innsbrucker Ausg. Hist.-krit. Ausg. mit Faksimiles der handschriftl. Texte T.s. Hg. Eberhard Sauermann u. Hermann Zwerschina. Basel/Ffm., später Ffm. 1995 ff. Literatur: Bibliografie: Walter Ritzer: Neue T.Bibliogr. Salzb. 1983. – Weitere Titel: Ludwig v. Ficker (Hg.): Erinnerung an G. T. Innsbr. 1926. Salzb. 3 1966. – Walther Killy: Über G. T. Gött. 1960. 3., erw. Aufl. 1967. – Otto Basil: G. T. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1965. 192010. – Theodore Fiedler: T. and Hoelderlin. Diss. St. Louis 1969. – Hans-Georg Kemper: G. T.s Entwürfe. Tüb. 1970. – Heinz Wetzel: Konkordanz zu den Dichtungen G. T.s. Salzb. 1971. – Christa Saas: G. T. Stgt. 1974. – Salzburger T.-Symposion. Hg. Walter Weiss u. a. Salzb. 1978. – Londoner T.-Symposion.

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Hg. Walter Methlagl u. a. Ebd. 1981. – Ders. u. a. (Hg.): Untersuchungen zum ›Brenner‹. Ebd. 1981. – Gudrun Grapow: Die Elis-Gedichte T.s. Bern/ Ffm. 1982. – Franz Fühmann: Vor Feuerschlünden. Rostock 1982. U. d. T. Der Sturz des Engels. Hbg. 1982. – Mitt.en aus dem Brenner-Archiv 1 (1982) ff. – Gebhard Rusch u. Siegfried J. Schmidt: Das Voraussetzungssystem G. T.s. Braunschw./Wiesb. 1983. – Eberhard Sauermann: Zur Datierung u. Interpr. v. Texten G. T.s. Innsbr. 1984. – Internat. G.-T.-Symposium Albany/New York. Hg. Joseph P. Strelka. Bern 1984. – G. T. Mchn. 1985 (Text + Kritik. H. 4/4a). – Eric B. Williams: Pictures, poetry and play. Diss. Berkeley 1985. – Gunther Kleefeld: Das Gedicht als Sühne. G. T.s Dichtung u. Krankheit. Eine psychoanalyt. Studie. Tüb. 1985. – Hans Weichselbaum (Hg.): T.-Forum 1987. Salzb. 1988. – Fausto Cercignani (Hg.): Studia Trakliana. Mailand 1989. – E. Sauermann: Die Chronologie der Briefe G. T.s. In: editio 4 (1990), S. 205–228. – Hermann Zwerschina: Die Chronologie der Dichtungen G. T.s. Innsbr. 1990. – Sieglinde Klettenhammer: G. T. in Ztg.en u. Ztschr.en seiner Zeit. Ebd. 1990. – Alfred Doppler: Die Lyrik G. T.s. Beiträge zur poet. Verfahrensweise u. zur Wirkungsgesch. Wien/ Köln/Weimar 1992. Erw. u. überarb. Aufl. Salzb./ Wien 2001. – Adrien Finck u. H. Weichselbaum (Hg.): Antworten auf G. T. Salzb. 1992. – H. Weichselbaum: G. T. Eine Biogr. mit Bildern, Texten u. Dokumenten. Salzb./Wien 1994. – Rémy Colombat u. Gerald Stieg (Hg.): Frühling der Seele. Pariser Trakl-Symposion. Innsbr. 1995. – G. T: 1887–1914. Eine Ausstellung des Forschungsinstituts ›Brenner-Archiv‹ der Univ. Innsbruck. Gestaltet v. W. Methlagl u. E. Sauermann. Innsbr. 1995. – Károly Csúri (Hg.): Zykl. Kompositionsformen in G. T.s Dichtung. Szegeder Symposion. Tüb. 1996. – H. Weichselbaum u. W. Methlagl (Hg.): Deutungsmuster. Salzburger Treffen der T.-Forscher 1995. Salzb. 1996. – Bettina Winkler: Zwischen unendl. Wohllaut u. infernal. Chaos. Vertonungen v. G. T.s Lyrik. Salzb./Wien 1998. – Walter Hinck: ›Zerbrochene Harfe‹. Die Dichtung der Frühverstummten. Georg Heym u. G. T. Bielef. 2004. – Eva Thauerer: Ästhetik des Verlusts. Erinnerung u. Gegenwart in G. T.s Lyrik. Bln. 2007. – Hanna Klessinger: Krisis der Moderne. G. T. im intertextuellen Dialog mit Nietzsche, Dostojewskij, Hölderlin u. Novalis. Würzb. 2007. – R. Colombat u. G. Stieg (Hg.): G. T. Nouvelles recherches. Rouen 2008. – G. Kleefeld: Mysterien der Verwandlung. Das okkulte Erbe in G. T.s Dichtung. Salzb./Wien 2009. – K. Csúri (Hg.): G. T. u. die literar. Moderne. Tüb. 2009. Walter Methlagl / Red.

Tralles, Balthasar Ludwig, * 1.3.1708 Breslau, † 7.2.1797 Breslau. – Arzt, Gelehrter. T. stammte aus einer Kaufmannsfamilie. 1727 bezog er die Universität Leipzig, studierte zunächst Theologie, wechselte bald zur Medizin u. promovierte 1731 in Halle mit der Arbeit De vita animali theoretice et practice considerata. Danach praktizierte er als Arzt in seiner Heimatstadt. 1734 begleitete er August Christoph Graf von Wackerbarth nach Dresden u. verbesserte damit seine desolate ökonomische Situation. Seine erste deutschsprachige Schrift, Vorsorge redlicher Mütter für das Leben und die Gesundheit ihrer ungebornen Kinder [...], erschien 1736 in Breslau, wo er 1741 Dekan des Collegium medicum wurde. 1749 veröffentlichte er eine gegen das materialistische Weltbild La Mettries (L’homme plus que machine. 1748) gerichtete Schrift De machina et anima humana prorsus a se invicem distinctis commentatio (Breslau/Lpz. Dt. ebd. 1776). In seinen letzten Lebensjahren avancierte T. zum Leibarzt des Königs von Polen u. genoss als Mediziner großes Ansehen. Neben zahlreichen lateinisch verfassten Abhandlungen medizinischen Inhalts versuchte sich T. auch als Literat. Eine Reise ins Riesengebirge inspirierte ihn zu dem umfangreichen Versepos Versuch eines Gedichtes über das Schlesische Riesen-Gebürge (ebd. 1750), einem Pendant zu Hallers Die Alpen (1729). T. hielt sich streng an das Vorbild, dessen Verfasser das Werk auch gewidmet ist. Schon in der Jugend, heißt es in der Vorrede, habe er »einen sehr großen Trieb zu der Poesie empfunden«. T. beherrschte souverän das gesamte themat. u. stilistische Spektrum aufgeklärt beschreibender Naturlyrik. Ein Panorama von »unsere[n] Schlesischen Alpen« in Form eines Faltblatts ist dem Text vorangestellt; die Fußnoten enthalten durchweg gelehrte Anmerkungen, was den Charakter des Lehrgedichts unterstreicht; Moraldidaxe u. Gotteslob schließen das Werk ab. – Unrühmlich tat sich T., ein Anhänger Gottscheds, als Gegner Lessings hervor. In den Zufälligen altdeutschen und christlichen Betrachtungen über Hrn. G. E. L. neues dramatisches Gedicht Nathan der Weise (2 Tle., Breslau 1779)

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griff er Lessing scharf an u. warf ihm »die entsetzliche und zügellose Dreustigkeit [...], mit der Religion öffentlich ein Gespötte zu treiben« (S. 4), vor. Der Gescholtene bemerkte dazu in einem Brief an seinen Bruder Karl vom 12.12.1779: »Nur sein hohes Alter rettet den Mann von einem bunten Tanze, den ich sonst mit ihm verführen [sic] würde.« Weitere Werke: Exercitatione physico-medica virtutem Camphorae referigerantem ac internis corporis humani incendiis restinguendis aptissimam [...]. Breslau/Lpz. 1734. – De vena jugulari frequentius secanda commentatio [...]. Ebd. 1735. – Das Aderlassen [...]. Breslau 1736. – Das KaiserCarls-Bad in Böhmen. In einer Ode entworfen [...]. Ebd. 1756. – Gedanken v. der Gegenwart Christi bei dem hl. Abendmahl. Ebd. 1756. – ›Sinngedichte u. a. Kleinigkeiten‹. In: Schles. Anth. Hg. Karl Friedrich Leutner. Ebd. 1773, S. 28–54. – Schreiben v. der dt. Sprache u. Litteratur bey Gelegenheit der [...] Schr. [Friedrichs II.]: über die dt. Litteratur [...]. Ebd. 1781. – Mitleids-volles Trauerschreiben an [...] Anton Freyherrn v. Störck [...]. Ebd. 1781. – Aufrichtige Erzehlung seiner mit König Friedrich [...] gehaltenen Unterredungen [...]. Ebd. 1789. Literatur: A. Kahlert: Friedrich der Große u. T. In: Dt. Museum 9 (1859), S. 265–274. – Max Hippe: B. L. T. In: ADB. Matthias Luserke

Tralow, Johannes, auch: Hanns Low, * 2.8. 1882 Lübeck, † 27.2.1968 Bln./DDR; Grabstätte: Bln., Dorotheenstädtischer Friedhof. – Dramatiker, Verfasser von historischen, Abenteuer- u. Kriminalromanen. T., Sohn eines Kaufmanns, bereiste 1899–1904 Ägypten u. absolvierte in Alexandrien eine kaufmänn. Ausbildung. Nach Lübeck zurückgekehrt, arbeitete er zunächst im elterl. Betrieb. 1908–1910 war er Chefredakteur des »Lübecker Stadt- und Landboten« u. ließ sich anschließend als Journalist in Berlin nieder. Nach dem Wechsel in den Berliner Theaterverlag eröffnete sich ihm 1915 eine Theaterlaufbahn (Regisseur, Schauspieler u. Direktor), die er 1933 aufgab. Während der NS-Zeit lebte er zurückgezogen u. schrieb für seinen Lebensunterhalt Abenteuer- u. Kriminalromane. 1945–1947 war T. Richter der 1. Spruchkammer in Starnberg, 1951–1957 Präsident des P.E.N.-Zentrums

Tralow

Ost u. West. Da er in der BR Deutschland keinen Verleger fand, siedelte er in die DDR über, wo er als freier Schriftsteller lebte. Nach dramat. Werken fand T. mit König Neuhoff (Lpz. 1929. Bln./DDR 1953), der Geschichte eines westfäl. Abenteurers aus dem 18. Jh., u. Gewalt aus der Erde (Bln. 1933. U. d. T. Cromwell. Goslar 1947) zum histor. Roman. Ohne die traditionelle Perspektive aufzugeben, Geschichte aus den Leidenschaften der Helden zu erklären, erschließt sein Hauptwerk, die Osmanische Tetralogie, Aufstieg u. Niedergang des Osmanischen Reichs. In seltsamem Widerspruch verkörpern die titelgebenden Frauengestalten – Roxelane (Zürich/Wien 1942. Mchn. 1949, Bln./ DDR 1953), Irene von Trapezunt (Wiesentheid 1947. Bln./DDR 1953. Veränderte Aufl. 1988) u. Malchatun (Bln. 1952, Bln./DDR 1954) – einerseits eine Sehnsucht nach Frieden, die sie über ihre kriegerische Zeit hinauswachsen lässt, andererseits ergreifen sie in ihrer Liebe zu den osmanischen Dynasten immer wieder die Partei des Reichs. Mit der Schilderung der Kämpfe zwischen Österreichern u. Türken in Der Eunuch (Bln./DDR 1956) schloss T. das Werk ab. In seinem letzten Roman, Mohammed (ebd. 1967), versucht T. als Ergänzung zum Hauptwerk mit dem Leben des Propheten die Wurzeln des Islam darzustellen. Weitere Werke: Das Gastmahl zu Pavia. Bln. 1907 (Dramat. Gedicht). – Kain, der Heiland. Ebd. 1911 (R.). – Peter Fehrs Modelle. Ebd. 1912 (D.). – Inge. Ebd. 1912 (D.). – Ein Mann in seinem Alter. Ein Lustsp. in drei Akten. Ebd. 1914. – Die Mutter. Mchn. 1914 (D.). – Wo bleibt Petermann? Bln. 1936 (R.). – Trebonius erbt eine Frau. Ebd. 1937 (R.). – Filibuster von Veracruz. Ebd. 1938. U.d.T. Wind um Tortuga. Wiesentheid 1948 (R.). – Ein zweifelhafter Mensch. Bln. 1938. U.d.T. Wind aus Alaska. Mchn. 1949 (R.). – Schwarze Orchideen. Bln. 1939. U.d.T. Die Stadt im Dschungel. Mchn. 1949 (R.). – Friederike u. die Freunde. Mchn. 1946 (N.n). – Boykott. Bln. 1950. Bln./DDR 1952. U.d.T. Das Mädchen von der grünen Insel. Ebd. 1959 (R.). – Aufstand der Männer. Bln./DDR 1953, Mchn. 1955 (R.). – Der Eunuch. Bln. 1956 (R.). – Der Beginn. Bln./DDR 1958 (autobiogr. Skizze, Dramen, histor. Miniaturen, Moselgesch.n). – Kepler u. der Kaiser. Ebd. 1961 (R.). Literatur: Helga Stötzer: T. Leben u. Werk. Bln./DDR 1968 (Bibliogr. v. Christa u. Willy Un-

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ger). – Ghazi Sharif: Die Gestalt Mohammeds bei Klabund, Friedrich Wolf u. J. T. Diss. Lpz. 1970. – Der Nachl. J. T. Bearb. v. H. Stötzer u. Helga Döhn. Bln. 1977. Michael Geiger / Red.

Trapp, Ernst Christian, * 8.11.1745 Gut Friedrichsruhe bei Drage/Holstein, † 18.4.1818 Wolfenbüttel. – Evangelischer Theologe u. Pädagoge.

Tramin, Peter von, eigentl.: P. Richard Oswald Frhr. von Tschugguel zu Tramin, * 9.5.1932 Wien, † 14.7.1981 Wien; Grabstätte: ebd., Friedhof Sievering. – Romancier, Erzähler.

T., Sohn eines Gutsverwalters, studierte in Göttingen 1765–1768 auf bes. Empfehlung seines Itzehoer Gymnasiallehrers, des Reformpädagogen Martin Ehlers, bei Johann Peter Miller Theologie u. Pädagogik sowie Philologie bei Heyne. Während seiner Lehru. Rektoratsjahre in Segeberg, Itzehoe u. Altona (1768–1777) verfasste er im Geist des Philanthropismus Aufsehen erregende Schulschriften. Nach kurzer u. krit. Tätigkeit am Dessauer Philanthropin (1777–1779) wurde er als erster dt. Professor für Pädagogik u. als Leiter des »Erziehungsinstituts« (pädagog. Seminar u. Übungsschule im Rahmen der Theologischen Fakultät) an die Universität Halle berufen. Aus Anlass der Auseinandersetzung um die Selbstständigkeit der Pädagogik gegenüber der Theologie gab T. 1783 die Professur zurück; seine konzipierte Vorlesung, die u. d. T. Versuch einer Pädagogik (Bln. 1780. Neudrucke Lpz. 1913 u. Paderb. 1977) veröffentlicht wurde, darf indes zu den ersten Systemwerken der Pädagogik gezählt werden. Das »System« der Pädagogik sah er nach philanthropischen Grundsätzen v. a. in Abhängigkeit von »der menschlichen Natur und der menschlichen Gesellschaft« auf Erfahrung u. Beobachtung gegründet. So wollte T. neben den alten die neuen Sprachen fördern. Unterricht sollte eine Einheit mit Erziehung bilden. Für die Methode gab er u. a. die Regel: »Mache, daß ihm [dem Schüler] das Lernen zum Bedürfnis wird, so daß er nichts lieber thun mag als lernen.« Von bes. Bedeutung sind T.s Aufsätze in der von Campe herausgegebenen Allgemeinen Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens (Hbg./Wolfenb. 1785–92. Darin u. a.: Vom Unterricht überhaupt. Bd. 8, 1787. Von der Notwendigkeit öffentlicher Schulen [...]. Bd. 16, 1792). T. war mit Campe u. Johann Stuve Mitgl. des Braunschweiger »Schuldirektoriums«, der ersten staatl. Schulbehörde (1786–1790). Nach deren Scheitern zog er sich nach Wolfenbüttel zurück u. widmete

T. entstammte einer alten Südtiroler Adelsfamilie; sein Vater, ein Staatsbeamter, fiel im Zweiten Weltkrieg. Schon als 14-Jähriger veröffentlichte T. ein Märchen in der »Kinderpost«. Nach Abbruch des Jurastudiums wurde er Bankkaufmann, übte diesen Beruf bis zu seinem Tod aus u. blieb so immer nur ein »Samstag-Sonntag-Dichter« (Tramin). 1958 machte er die für seine schriftstellerische Entwicklung bedeutende Bekanntschaft mit Doderer. In seinem Entwicklungsroman Die Herren Söhne (Mchn. 1963. Wien/Köln/Graz 1985. Vorw. von Roman Rocek. Nachw. von Eduard Zak) zeichnet T. ein krit. Bild der Wiener Jugend aus »gutem Haus« in der Nachkriegszeit. Die Protagonisten wachsen in die vorgefundene, hermet. Welt hinein u. machen nicht den geringsten Versuch, aus der erstarrten gesellschaftl. Situation auszubrechen. Fantastisch-skurrile Elemente verarbeitet T. in seinem zweiten, nach dem Vorbild von H. G. Wells’ Zeitmaschine verfassten Roman Die Tür im Fenster (Mchn. 1967), in dem ein Erfinder eine Reise in die Vergangenheit unternimmt. T. übt hier keine Kritik an bestehenden gesellschaftl. Verhältnissen, sondern beschränkt sich auf die Schilderung exot. techn. Geräte. Weitere Werke: Divertimento. In: Neunzehn dt. E.en. Hg. Ilse Aichinger. Mchn. 1963, S. 287–308. – Taschen voller Geld. Mchn. 1970 (E.en). Literatur: Lisel Ehrhardt: H. v. Doderer et P. v. T – Maître et disciple. In: Revue d’Allemagne 6 (1974), S. 121–134. – Konstanze Fliedl: Haben u. Nichts. Zu P. v. T.s ›Die Herren Söhne‹. In: Jb. Grillparzer Gesellsch. 16 (1984/85/86), S. 147–166. Alfred Strasser / Red.

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sich im Wesentlichen schriftstellerischen Arbeiten, z. B. 1790–1792 der Fortsetzung des »Braunschweigischen Journals«. Sein Haus wurde zum Treffpunkt junger Literaten. – T.s Nachlass befindet sich im Niedersächsischen Staatsarchiv Wolfenbüttel u. im dortigen Stadtarchiv. Weiteres Werk: Unterredungen mit der Jugend. Hbg./Kiel 1775. Literatur: Samuel Baur: Charakteristik der Erziehungsschriftsteller Deutschlands. Lpz. 1790, S. 513–515. – Alwin Gündel: Leben u. Wirken E. C. T.s. Ebd. 1892. – Theodor Fritzsch: E. C. T. Sein Leben u. seine Lehre. Dresden 1900. – Peter Zimmermann: Briefe T.s an Elisa v. der Recke. In: Braunschweiger Magazin (1918), S. 82 ff.; (1920), S. 20 f. – Fritz Klein: Die Idee der Erziehung in der Pädagogik des Philanthropismus mit bes. Berücksichtigung C. T.s. Diss. Königsb. [1930]. – HKJL 1750–1800, S. 553–561. – Max Fuchs: Das Scheitern des Philanthropen E. C. T. [...]. Weinheim 1984. – Heinrich Kröger: E. C. T. In: Bautz. – Hanno Schmitt: E. C. T. (1745–1818) als erster Pädagogikprofessor in Halle. In: Ders.: Vernunft u. Menschlichkeit. Studien zur philanthrop. Erziehungsbewegung. Bad Heilbrunn 2007, S. 103–115. – Hartmut Wenzel (Red.): E. C. T. (1745–1818). Halle/Saale 2009. Rudolf W. Keck / Red.

Traugemundslied. – Ältestes deutsches Rätselgedicht, 13./Anfang 14. Jh.

Der Traum

abgeleitete Pseud. bezeichnet in der spielmänn. Brautwerbungsepik des 12. Jh. in den Varianten »Tragemunt« u. »Wârmunt« die schematypische Figur des armen, edlen, alten u. ehrwürdigen Wallfahrers, der dem König die rechte Braut zu nennen weiß. Beschlossen werden die Rätselfragen jeweils mit einer Versformel, die dem Befragten die verlangte, ständisch akzentuierte Anerkennung verheißt: »kanstu mir des iht gesagen / sô wil ich dich für einen stolzen knappen haben.« Nach seinen Antworten fordert der Befragte jeweils selbstbewusst zu weiteren Fragen auf. Inhaltlich behandeln die Rätsel naturkundl. Merkwürdigkeiten sowie elementare, mythisch sinnträchtige Naturerscheinungen, aber auch Moralisches. Durch die z.T. vordergründige Verrätselung u. scherzhafte Stilisierung schlägt der Tiefsinn einer uralten, ernsten, mythologisch-rituellen Dichtungsgattung noch durch, am deutlichsten in der Stereotypie der dialogischen Inszenierung u. in der Figur des Fahrenden selbst, in der die heiter überlegenen Charakterzüge des außerhalb der Gesellschaft stehenden Spielmanns mit denen des frommen Pilgers zusammenfließen: ein Pendant zum Wanderer Wodan der eddischen Dichtung, der sich dämonischem Wissenswettkampf um Leben u. Tod stellt.

Der Dialog von fünf mal vier Rätselfragen u. Ausgabe: Karl Müllenhoff u. Wilhelm Scherer -lösungen in stereotypem Gleichlauf umfasst (Hg.): Denkmäler dt. Poesie u. Prosa aus dem 8.–12. insg. 90 Verse. Den szen. Rahmen schafft ein Jh. 3. Ausg. v. Elias Steinmeyer. Bln. 1892. Neudr. Begrüßungsdialog, in dem ein Fahrender Bln./Zürich 1964. Bd. 1, S. 192–195. Bd. 2, scherzhaft überschwenglich über seine letzte S. 305–312. Literatur: André Jolles: Einfache Formen. Lpz. Nachtherberge u. seinen Lohnerwerb Aus3 kunft gibt: Sein Baldachin war der Himmel, 1930. Tüb. 1965, S. 126–149. – Kurt Wagner: Rätsel. In: RL 3, S. 316–321. – Tomas Tomasek: Das mit Rosen war sein Bett umsteckt, Kleidung dt. Rätsel im MA. Tüb. 1994, S. 329–334. – Ders.: u. Speise – den spielmannstypischen Lohn – T. In: VL. – Ders./Heike Bismark: Rätsel. In: RLW 3, erwirbt er in eines stolzen Knappen Weise. 2003, S. 212–214. Ernst Hellgardt / Red. Jeweils zu Beginn der Rätsel u. der Antworten wiederholte Formeln verweisen auf die Wissenskompetenz des mit Meistertitel u. Der Traum. – Anonyme Minnerede des seinem Künstlerpseud. »Traugemund« An15. Jh. geredeten: »Nu sage mir, meister Trougemunt, / zwei und sibenzec lant diu sint dir Der Text (ca. 340 Verse) entfaltet das auch in kunt: waz ist [...]« – »Daz haste gefrâget ei- vielen anderen Minnereden vorkommende nen man / der dir ez wol gesagen kan.« Das Motiv der Liebesbegegnung u. Liebeswervolksetymologisch über das mlat. »drago- bung im Traum. Der von seiner Geliebten manus« vom arab. »targoman« (Dolmetscher) getrennte Sprecher wälzt sich im Liebes-

Traun

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schmerz in seinem Bett u. schläft darüber ein. Susanne Uhl: Der Erzählraum als Reflexionsraum. Im Traum erscheint ihm die Geliebte, die ihm Bern u. a. 2010, S. 246–248. Jacob Klingner Entschädigung für sein Leiden verspricht. Daraufhin wünscht er sich, nach Umarmung u. Küssen, dass sie ihren Mantel ablege, dann Traun, Julius von der, eigentl.: Alexander dass sie zu ihm auf das Bett rücke, schließlich J. Schindler, * 26.9.1819 Wien, † 16.3. dass sie sich nackt unter seine Bettdecke lege. 1885 Wien; Grabstätte: Aigen bei SalzJeder Bitte kommt die Dame erst nach einer burg. – Novellist, Reiseschriftsteller u. kleinen Diskussion nach, in der sie jeweils Lyriker. warnt u. mahnt, er möge ihre Ehre nicht verletzen. Der Geselle beteuert seine reine T. entstammt einer wohlhabenden KaufGesinnung, greift aber schließlich zur er- mannsfamilie. Er studierte bis 1839 Mathefolgreichen Erpressung, er stürbe sofort den matik, Mechanik u. Chemie, dann bis 1843 Liebestod, sollte sie seine Bitte um nacktes Jura in Wien, nachdem er zwischendurch Beieinanderliegen ausschlagen. Als sie ihn zwei Jahre in den Fabriken seines Vaters u. als bittet, sich kurz umzudrehen, während sie Chemiker in einer Kattunfabrik in Steyr gedas Hemd ausziehe, wacht er auf: Ein Freund arbeitet hatte. Der promovierte Jurist war kommt lärmend in die Kammer, um den 1846–1850 u. 1856–1861 Justitiar, Verwalter, Langschläfer zum Messbesuch u. zur Erfül- Rechtsanwalt u. Generalsekretär bei verschiedenen Domänen in Steyr, Kärnten u. lung seiner höf. Pflichten zu ermahnen. Mit insg. 21 Textzeugen aus dem Zeitraum Ungarn u. 1850–1854 im Staatsdienst (in Levon 1430 bis 1590, die teilweise beträchtlich oben u. Graz; Entlassung wegen seiner Puin Umfang, Wortstellung u. Metrik variieren, blizistik während des Vormärz). In Wien war ist der T. die am breitesten überlieferte Min- T. von 1861 an liberaler Landtags- u. Reichsnerede. Er findet sich meist im Rahmen grö- tagsabgeordneter, seit 1862 auch Notar. Als ßerer Sammlungen; daneben gibt es einen glänzender Redner trat er für einen österr. Einzeldruck (Simmern, um 1535). Hans Folz Zentralismus, für ein besseres Bildungssyshat den T. zu einer neuen Minnerede (Bran- tem, Künstlerpensionen u. gegen das Kondis, B 252) sowie zu einem Meisterlied kordat ein. Nach dem Tod seiner ersten Frau, (Mayer, Nr. 97) umgearbeitet. Weiterhin die bei der Geburt ihres dritten Kindes starb, scheint der Text vorbildhaft für eine Reihe u. dem Scheitern bei den Wahlen zog er sich weiterer Traumerzählungen zu sein, so etwa 1870 ins Privatleben zurück u. lebte (1878 für den Beginn des Märe vom Ritter Sociabilis erneut verheiratet) abwechselnd in Salzburg (Fischer, Nr. 122) sowie für das tschech. Ge- u. Wien. T.s kulturhistor. u. zumeist spannende dicht Majovy sen des Hynek von Podiebrad. Ausgaben: Altdt. Wälder (1815), S. 136–144. – Novellen (Die Geschichte vom Scharfrichter RosCarl Haltaus (Hg.): Liederbuch der Clara Hätzlerin. enfeld und seinem Paten. Wien 1852. Die Äbtissin Quedlinb./Lpz. 1840. Neudr. Bln. 1966, von Buchenau. Bln. 1877. Der Schelm von Bergen. S. 127–130. – Jacob Klingner: Minnereden im Wien 1879) u. Balladen (Rosenegger Romanzen. Druck. Bln. 2010, S. 394–403, 434–443. Ebd. 1852. Nachdr. Wien 2008) wurden viel Literatur: Karl Geuther: Studien zum Lieder- gelesen. Die späteren Erzählungen u. Romabuch der Klara Hätzlerin. Halle/Saale 1899, S. 32 f., ne (Oberst Lumpus. Ebd. 1888) sind von stark 36, 73–80. – Dietrich Huschenbett: Hermann v. polit. Tendenz. Seine epischen u. theatral. Sachsenheim. Bln. 1962, S. 108–110. – Tilo Bran- Werke fanden kaum Beachtung. dis: Mhd., mittelniederdt. u. mittelniederländ. Minnereden. Mchn. 1968, Nr. 247. – Walter Blank: T. In: VL. – Jacob Klingner: ›D. T.‹ – ein Überlieferungsschlager? Überlieferungsgeschichtl. Beobachtungen zu einer ›populären‹ Minnerede des 15. Jh. In: Triviale Minne? Hg. Ludger Lieb u. Otto Neudeck. Bln./New York 2006, S. 91–118. – Ders.: Minnereden im Druck (s. o.), S. 73–89, 299–305. –

Weitere Werke: Oberösterreich. Ein Skizzenbuch. Lpz. 1848. – Gedichte. 2 Bde., Wien 1871. Literatur: Franz Kostjak: J. v. d. T. Wien 1928. – Engelbert Schwabl: Novellentechnik bei J. v. d. T. Diss. Ebd. 1935. – Susanne Haider: Alexander Julius Schindler als Reiseschriftsteller. Diss. Ebd. 1951. Hans-Otto Hügel

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Trauner, Ignatius, * 1638 Salzburg, † 21.10.1694. – Prediger aus dem Benediktinerorden, Übersetzer.

Traunsdorf 1677. Internet-Ed. in: Religion & Theologie des 16.-19. Jh. – L. Novarini: Hertzens-Sigill [...]. Übers. I. T. Regensb. 1683. Internet-Ed. in: Mystik & Aszese des 16.-19. Jh.

Von der Zeit vor T.s Eintritt in die berühmte Literatur: Bibliografien: Kat. gedr. deutschspraAbtei St. Emmeram zu Regensburg 1654 ist chiger kath. Predigtslg.en. Hg. Werner Welzig. nichts überliefert. Das Studium absolvierte T. Bd. 1, Wien 1984, S. 167–170, 187–190, 221 f.; am Germanicum in Rom, kehrte dann in die Bd. 2, ebd. 1987, S. 789. – VD 17. – Weitere Titel: Heimatabtei zurück u. wirkte nach seiner Bayer. Bibliothek. Hg. Hans Pörnbacher. Bd. 2, Priesterweihe 1662 als Pfarrer u. Vertreter des Mchn. 1986, S. 507–514, 1296 f., 1340. – Hans Schlemmer: Das wappenreiche Grabdenkmal des Bischofs von Eichstätt. 1691 wurde er zum Barockpredigers u. Abtes I. T. in der Basilika St. Reichsabt von St. Emmeram gewählt. Von Emmeram. In: Die Oberpfalz 75 (1987), bleibendem Wert im Rahmen des geistl. S. 339–343. – Urs Herzog: Geistl. Wohlredenheit. Schrifttums waren seine umfangreichen Pre- Die kath. Barockpredigt. Mchn. 1991, Register. – digtsammlungen, so die Buß- u. Passions- Manfred Knedlik: I. T. In: Bautz. predigten Gallus cantans Das ist Kräender HaußElfriede Moser-Rath † / Red. Hahn, dem im Sünden-Schlaf ligenden HaußGesind des grossen Hauß-Vatters zum Aufferwecken bestelt (o. O. [Regensb.] 1677. Dillingen 31687. Traunsdorf, Trau(e)nsdorff, Draunsdorff, Jo4 1695) u. zwei Bände Sonntagspredigten hann Heinrich von, † nach dem 7.4.1645. u. d. T. Geistliche Seelen-Jagd, das ist: Erstes Do- – Verfasser von historisch-politischen minicale (Dillingen 1685. 21689. 31700) u. Schriften u. von Lehrgedichten. Geistliche Seelen-Jagd, das ist: Anderes Dominicale Über T.s Herkunft ist nichts Genaues be(ebd. 1690). Postum erschienen zwei Konvo- kannt; man hat vermutet, sein Name sei ein lute mit Festtagspredigten, Fragmenta sacra Pseud. oder ein Herkunftsname. Die in ErDas ist: überbliebene geistliche Brosamen (ebd. wägung gezogenen Orte Traundorf bei Linz 1698. 21701 bzw. 1701/02). T. pflegte einen oder Traundorf/Kärnten würden zu seiner seiner gehobenen Position angemessenen se- bairisch gefärbten Sprache passen; mit gleiriösen Stil, ohne sich zeittypischer Elemente chem Recht wäre dann allerdings an Traunsder so beliebten Ständepredigt mit der sym- dorf, v. a. an Traunstorf an der bayerischen bolischen Verteilung von Neujahrsgeschen- Traun zu denken. T. selbst bezeichnete sich ken, Ostereiern, Maibäumen, Martinsgänsen als »Exulant von Adel«, der 1618 aus Glauetc. u. einer passagenweise volkssprachl. Re- bensgründen Österreich habe verlassen müsdeweise zu enthalten. Bemerkenswert ist, wie sen u. als »gewester General Auditor« in präzise T. seine Kanzelreden in den jeweils Diensten des hess. Landgrafen Wilhelm u. des weit über 1000 Seiten umfassenden Bänden Herzogs Georg von Lüneburg in Bern u. Züfür den Gebrauch aufbereitete, etwa mit ei- rich, St. Gallen u. Basel Zuflucht gefunden nem umfängl. »Register oder Anweisung, wie habe (so in den Vorreden seines Werks u. eiman alle gegenwärtige Predigen an den nem Brief an den Bürgermeister von St. GalKirchweyhen predigen und appliciren kan«. len). 1642 erschienen in Bern in kurzer Folge die Hieraus ergibt sich die Funktion von Predigtdrucken, die in erster Linie eine Hilfe für drei Bände seines einzigen gedruckten Amtsbrüder sein sollten, obgleich die meist Werks: J. H. V. V. Z. D. G. L. H. V. F. L. G. A. Erstes in Leder gebundenen u. mit Titelkupfern tausend, deutscher weltlicher Poematum [...]. Ein gezierten Konvolute für Pfarrhausbibliothe- Ander Tausend u. ein Drittes Tausent veröffentlichte T. unter den gleichen Initialen, ersetzte ken unerschwinglich gewesen sein dürften. Ausgaben: Internet-Ed. etlicher Einblattdrucke aber D durch T; sie sind vermutlich folgenbzw. Leichenpredigten in: VD 17 bzw. Religion & dermaßen aufzulösen: Johann Heinrich von Theologie des 16.-19. Jh. – Luigi Novarini: Steur- u. zu T., gewester landgräfl.-hess. u. fürstl.Buch der Seelen-Tribut von unzahlbaren Schuld- lüneburgischer General Auditor. Die Sammigkeiten des Menschen [...]. Übers. I. T. Regensb. lung enthält Epigramme, Sprichwörter, Re-

Trautmann

densarten, Sentenzen, Fabeln u. Schwänke, meist in nicht alternierenden, volkstüml., oft derben Versen; sie entsprachen in ihrem Stil kaum mehr dem Geschmack der städtischpatriz. Leserschaft. Die Stoffe umspannen so gut wie sämtl. Lebensbereiche u. alle Stände. Daneben sind von T. nur Handschriften bekannt. In der Vadiana St. Gallen befindet sich ein Politischer Weltspiegl, den T. 1644 dem Bürgermeister u. Rat der Stadt widmete. Die Evangelische Konsistorialbibliothek Colmar besitzt eine Polygraphia mundi nova, die T. als »pro tempore Gerichtsschreiber« zu Colmar ebenfalls 1644 verfasste. Bisher gar nicht beachtet wurde eine Handschrift der Zentralbibliothek Zürich: Centuria prima observationum nov-antiquarum von 1639. Alle diese Werke zeigen T.s Bestreben, nützliche polit. Verhaltensregeln aus der Geschichte zu gewinnen. Ausgabe: Ausw. in: Wir vergehn wie Rauch v. starken Winden. Dt. Gedichte des 17. Jh. Hg. Eberhard Haufe. 2 Bde., Bln. 1985, Register. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Jakob Baechtold: Gesch. der dt. Lit. in der Schweiz. Frauenfeld 1892, S. 456 f., Anmerkungen S. 146 f., Zusätze S. 212. – Ludwig Fränkel: J. H. v. T. In: ADB. – Albert Bruckner: J. H. v. T.s ›Polit. Weltspiegel‹. In: PBB 56 (1932), S. 314–318. – PierreMarie Maulbecker: J. H. v. T. In: NDBA, Lfg. 37 (2001), S. 3892. Hellmut Thomke / Red.

Trautmann, Franz, * 28.3.1813 München, † 2.11.1887 München. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker.

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(3 Bde., Regensb. 1875), der in Köln angesiedelt ist, spielen alle seine Prosawerke im mittelalterl. u. frühneuzeitl. Bayern, meist in München. T. war ein Meister des historisierenden, holzschnittartigen Chronikstils; seine Sammlungen Die gute alte Zeit (Ffm. 1855), Das Plauderstüblein (Mchn. 1855) oder Münchner Stadtbüchlein (ebd. 1857) fanden als liebevolle Genrebilder beim nach 1848 verunsicherten u. harmoniebedürftigen Lesepublikum großen Anklang. Im Volkston versuchte sich T. mit Eppelein von Gailingen [...] (Ffm. 1852) u. Die Abenteuer des Herzogs Christoph von Bayern [...] (2 Bde., ebd. 1852/53). Stärker humoristisch getönt war der Roman Chronika des Herrn Petrus Nöckerlein [...] (2 Bde., ebd. 1856). Mit Leben, Abenteuer und Tod des Dr. Theodosius Thaddäus Donner. Eine neudeutsche göttliche Komödie (Mchn. 1864) wagte sich T. an eine satir. Darstellung aktueller polit. Probleme. Weitere Werke: Gedichte. Mchn. 1830. – Jugurtha. Mchn. 1837 (D.). – Nürnberger Trichter. Nürnb. 1849/50 (Ztschr.). – Heitere Stadtgesch.n aus alter Zeit. Mchn. 1862. – Meister Niclas Prugger, der Bauernbub v. Trudering. 3 Bde., Regensb. 1879. – Hell u. dunkel. Augsb. 1885 (L.). – Eine heitere Starnberger Gesch. u. Erinnerungen. Ebd. 1887. Literatur: Franz Brümmer: F. T. In: ADB. – Karl Kirchner-Weimar: Der Meister des Chronikstils. In: Ders.: Runensteine. Charlottenburg 1920, S. 116–128. – Carl-Ludwig Reichert: ›Wohin wir blicken – zur Einigung keine Aussicht!‹ Dt. Träume v. Ludwig Steub, Melchior Meyr u. F. T. Mchn. 1990. – Goedeke Forts. Reinhard Wittmann / Red.

Der Sohn eines kgl. Hofjuweliers war Traven, B., alias Ret Marut, Hal Croves (?), 1837–1844 nach Rechtsstudium u. ausgeTraven Torsvan (?), eigentl. (wahrscheindehnten Reisen am Münchner Stadtgericht lich): Hermann Otto Albert Maximilian angestellt. Seit 1846 freier Schriftsteller, beFeige, * 23.2.1882 Schwiebus/Brandentrieb T. auch kunsthistor. Studien u. beteiburg (heute in Polen) [seine Angaben, er ligte sich an der Gründung des Bayerischen sei 1882 in San Francisco oder 1890 in Nationalmuseums. Chicago geboren, entbehren des Anhalts], T.s Stärke lag nicht in seinem dramat. u. † 26.3.1969 Mexico City. – Erzähler, lyr. Werk, sondern in den erzählenden Journalist. Schriften. Sie erschienen zuerst oft in den »Fliegenden Blättern«, zu deren regelmäßi- Ein singulärer Fall: Der Mann, der sich als gen Mitarbeitern er gehörte, sowie in der viel gelesener Romanautor B. Traven nannte, »Hauschronik«. Mit Ausnahme des Romans gab seine persönl. Identität, selbst gegenüber Glocken von St. Alban. Stadt- und Familienroman seinen Verlagen, niemals preis, lebte unter aus den bewegten Zeiten des 17. Jahrhunderts Alias-Namen im Verborgenen u. betrieb

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Maskenspiele, die bis heute die Anstrengungen von Forschern u. literar. Detektiven in Atem halten. Nach neueren, allerdings nicht ganz unumstrittenen Erkundungen (bes. Wyatt, zuerst 1980; auch Jan-Christoph Hauschild in FAZ, 17.7.2009) verbarg sich hinter T. der als Sohn eines Töpfers geborene Hermann Otto Albert Maximilian Feige, der 1896–1900 als Maschinenschlosser ausgebildet wurde u. im Sommer 1906 in Gelsenkirchen eine Stelle beim Deutschen Metallarbeiterverband antrat. Diese kündigte er 1907 auf u. wirkte im Folgenden bis 1915 als Schauspieler unter dem Namen Ret Marut (später von Erich Mühsam mit T. identifiziert). Für die Saison 1907/1908 wird er als Schauspieler u. Regisseur am Stadttheater Essen verzeichnet. Nach wenig glanzvoller Bühnenlaufbahn, hauptsächlich in der Provinz, doch auch am renommierten Düsseldorfer Schauspielhaus, ging er von 1917 an mit der radikalanarchistischen, im Wesentlichen von ihm allein bestrittenen Zeitschrift »Der Ziegelbrenner« (Mchn.) an die literar. Öffentlichkeit, der er bereits seit 1912 als Verfasser von Kurzgeschichten u. Erzählungen nicht ganz unbekannt war. An den bayerischen Räteregierungen beteiligte er sich als Zensor u. war treibende Kraft bei der Sozialisierung der Presse. Am 1.5.1919 wurde Marut festgenommen u. als ›Rädelsführer‹ vor ein Standgericht gestellt. Er entkam jedoch – so hat er es jedenfalls selbst in einem Artikel im »Ziegelbrenner«, der bis 1921 im Untergrund weiter erschien, dargestellt – Minuten, bevor ein zigaretterauchender Leutnant der Weißen Garde das Todesurteil ausgesprochen hätte. Von da an hielt sich Marut verborgen, ging 1923 nach London (Inhaftierung u. Verhör: dort sein angegebener Name: Feige; Einzelheiten durch Aktenrecherchen in Polen bestätigt) u. versuchte 1924 vergeblich, in die USA auszuwandern (angeblich als geborener Amerikaner). Im Sommer 1924 tauchte er im trop. Busch an der Ostküste Mexikos in der Nähe des Erdölhafens Tampico auf. Von hier aus schickte er dem eben erst ins Leben gerufenen Gewerkschaftsverlag Büchergilde Gutenberg die Romane u. Erzählungen, die ihn unter dem erfundenen Namen »B. Traven« bald

Traven

weltberühmt machen sollten: Die Baumwollpflücker (zuerst 1925 in Fortsetzungen im »Vorwärts«. U. d. T. Der Wobbly. 1926), Das Totenschiff (1926), Der Schatz der Sierra Madre (1927), Der Busch (1928), Die Brücke im Dschungel (1929. Alle Bln.). Bei aller Exotik u. Abenteuerlichkeit des Sujets dominiert das Thema der menschl. Identität: die Frage nach dem Ich jenseits aller Definition durch Namen, Herkunft, Klasse u. Ausweispapiere u. damit, v. a. im Totenschiff, das Pathos der Anonymität. In den 1930er Jahren folgten die sechs Bände der Mahagoni-Serie (von Der Karren. Bln. 1931 bis Ein General kommt aus dem Dschungel. Amsterd. 1940), welche die Ausbeutung der Indios in den Holzfällerlagern Südmexikos krass u. brutal beschreiben. Als seine »Herzensbrüder« u. als die »Proletarier« der Neuen Welt hat T. die Indianer gern bezeichnet; entsprechend ist jede Seite seiner mexikan. Romane mit persönl. Sympathie für die Urbevölkerung u. ihr Gemeinschaftsethos geschrieben, das er zum Gegenbild der europ. Zivilisation u. Gesellschaft stilisierte. Darüber hinaus schilderte er mit scharfem Blick die polit., soziale u. kulturelle Umwälzung, die für T. von der indian. Welt ausging u. die ihm mit der Revolution von 1910 nicht abgeschlossen schien. Die Mahagoni-Serie gestaltet sich so zum Epos vom Befreiungskampf der indian. Bevölkerung, Symbol für die Befreiung der Unterdrückten jedes polit. Systems. Das ist den Nationalsozialisten nicht verborgen geblieben; sie setzten T. im Mai 1933 gleich auf die erste ihrer schwarzen Listen. Wenn schon Ret Marut, selbst als Publizist, persönlich die Öffentlichkeit mied u. sich dadurch einen mysteriösen Ruf erwarb, so wurde der Name »B. Traven« bereits Mitte der 1920er Jahre gleichbedeutend mit »geheimnisumwittert«. Während Presse u. Literaturkritik jahrzehntelang herumrätselten, lebte der Autor, »el gringo«, völlig zurückgezogen u. auf der Flucht vor Publicity in Mexiko – zuerst, bis etwa 1930, in einem baufälligen Holzhaus im Dschungel im Hinterland des Staates Tamaulipas am Golf von Mexiko, dann im damals noch nicht mondänen Acapulco, wo er eine bescheidene Obstfarm bewirtschaftete, schließlich, seit seiner

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Heirat 1957, in Mexico City. Als »Traven Trebitsch, Arthur, auch: R. Stibert, * 17.4. Torsvan« – so nannte er sich im Privatleben – 1880 Wien, † 26.9.1927 Eggendorf bei von Luis Spota 1948 in der Illustrierten Graz. – Lyriker, Erzähler, Dramatiker. »Mañana« als der weltweit gesuchte »B. T., Sohn eines der größten Seidenfabrikanten Traven« identifiziert wurde, verstand sich der österr. Monarchie u. Bruder des SchriftTorsvan allenfalls dazu, dass er T. nicht näher stellers Siegfried Trebitsch, versuchte in seibezeichnetes Material geliefert habe. An der nen heftig umstrittenen Schriften eine »PhäVerfilmung seiner Romane, zuerst an John nomenologie des Judentums« zu geben. Hustons The Treasure of the Sierra Madre (1948), Selbst Nachkomme jüd. Vorfahren, denunbeteiligte er sich als Berater unter dem Nazierte T. das Judentum als parasitäre Lemen Hal Croves, wobei er sich als Beauftragbensform, dem er ein glorifiziertes Deutschter des Autors ausgab. tum gegenüberstellte. Er radikalisierte diese Als er 1969 in seinem Stadthaus in Mexico Konzeption durch die Unterscheidung zwiCity starb, waren seine Bücher in mehr als schen einer primären u. einer sekundären zwei Dutzend Sprachen u., wie es heißt, in Geisteshaltung (Geist und Judentum. Wien/Lpz. etwa 25 Mio. Exemplaren verbreitet. Aber 1919); Erstere zeichne sich durch Arbeit, wer der Mann war, dessen Asche von einem Liebe zur Scholle u. Heimatverbundenheit Sportflugzeug aus über den Regenwäldern aus, zu der das Judentum als Vertreter der des Rio Jataté in der Nähe der guatemaltek. sekundären Geisteshaltung nicht fähig sei. Grenze verstreut wurde, warum er ein Leben Auch von Deutschnationalen nicht ernst geim Verborgenen, ja auf der Flucht führte, ist nommen, sah er sich als Opfer eines jüd. Gebis heute in mancher Hinsicht ein Geheimnis heimbundes, dem er mit seiner Schrift Die geblieben. Geschichte meines ›Verfolgungswahns‹ (ebd. 1923) Weitere Werke: Die weiße Rose. Bln. 1929. – entgegentrat. T. war ein Freund u. Förderer Regierung. Ebd. 1931. – Der Marsch ins Reich der von Anton Wildgans, mit dem er eine sieCaoba. Zürich/Wien/Prag 1933. – Die Troza. Zürich/Prag 1936. – Die Rebellion der Gehenkten. benmonatige Seereise nach Indien u. AustraEbd. 1936. – Aslan Norval. Wien 1960. – Der Zie- lien unternahm. gelbrenner. Neudr. Lpz./Zürich 1967. Bln. 1976. Ausgabe: Werkausg. Hg. Edgar Päßler. 18 Bde., Ffm. 1977–82. Literatur: Armin Richter: Der Ziegelbrenner. Bonn 1977. – Peter Küpfer: Aufklären u. Erzählen. Das literar. Frühwerk B. T.s. Diss. Zürich 1981. – Will Wyatt: B. T. Nachforschungen über einen ›Unsichtbaren‹.(engl. 1980) Hbg. 1982. – Rolf Recknagel: B. T. Lpz. 31982. Ffm. 1983. – Angelika Machinek: B. T. u. Max Stirner. Gött. 1986. – Karl S. Guthke: B. T. Biogr. eines Rätsels. Ffm. 1987. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): B. T. Mchn. 1989 (Text + Kritik. H. 102). – Ernst Schürer u. Philip Jenkins (Hg.): B. T. Life and Work. Univ. Park u. a. 1987. – Jörg Thunecke (Hg.): B. T. the Writer / Der Schriftsteller B. T. Nottingham 2003. – Günter Dammann (Hg.): B. T.s Erzählwerk in der Konstellation v. Sprachen u. Kulturen. Würzb. 2005. – Roy Pateman: The Man Nobody Knows. Lanham, MD 2005. – Mathias Brandstädter u. Matthias Schönberg (Hg.): Neue ›BT-Mitteilungen‹. Studien zu B. T. Bln. 2009. – Kosch 23. Karl S. Guthke / Wilhelm Kühlmann

Weitere Werke: Galileo Galilei. Bln. 1901 (Trauersp.). – Aus Max Dorns Werdegang. Bln./Lpz. 1909 (R.). – Friedrich der Große. Ein offener Brief an Thomas Mann. Ebd. 1916. – Seitenpfade. Ebd. 1917 (L.). – Die böse Liebe. Wien 1920 (N.n). – Wir Deutschen aus Österr. Ein Weckruf. Bln./Wien/Lpz. 1920. – Dt. Geist aus Österr. Dichterische Bekenntnisse. Ebd. 1920. – Dt. Geist – oder Judentum! Der Weg der Befreiung. Ebd. 1921. Nachdr. Bremen 1985. – Arische Wirtschaftsordnung. Lpz. 1925. Literatur: Roderich Müller-Guttenbrunn: Der brennende Mensch. Das geistige Vermächtnis v. A. T. Lpz. 1920. Gerald Leitner

Trebitsch, Siegfried, * 21.12.1869 Wien, † 3.7.1956 Zürich. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker, Übersetzer. T. war der Sohn eines reichen Seidenfabrikanten. Der Wohlstand ermöglichte ihm ausgedehnte Reisen in die USA, nach Ägypten, Süditalien, Spanien u. Frankreich, die ebenso wie eine Offizierslaufbahn den Ein-

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stieg in den väterl. Betrieb vorbereiten soll- bildern (Henri Bernstein, Edouard Bourdet, ten. Nach erfolgreichen ersten Schreibversu- Guy de Maupassant) verpflichtet, ist ebenso chen wählte T. jedoch eine Existenz als freier konventionell u. erbaulich wie seine Lyrik, Schriftsteller. Abgesichert durch das Vermö- die selbst im späten Band Aus verschütteten gen seiner Familie sowie seiner Ehefrau An- Tiefen (Zürich 1947) über eine epigonale tonia von Keindl, blieb er freilich unabhängig Nachfolge Rilkes, Ebner-Eschenbachs u. Eivon Einkünften aus literar. Produktion u. chendorffs nicht hinauskam. T.s Reputation Übersetzung. Das Paar führte in der Hiet- verdankt sich mehr seinen Übersetzungs- u. zinger Villa Trebitsch ein gesellschaftlich re- Vermittlungsleistungen sowie einer bourges Leben u. war bekannt u. a. mit den Zeit- geoisen Selbstdarstellung als der Qualität eigenossen Arthur Schnitzler, Hermann Bahr, gener Produktion. Stefan Zweig sowie Franz Werfel u. Alma Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Bln.): Mahler-Werfel. Häufig wurde T. zur Ziel- Das Haus am Abhang. 1906 (R.). – Wellen u. Wege. scheibe von Karl Kraus’ Satiren. Literarische 1913 (L.). – Der Tod u. die Liebe. 1913 (N.). – Spätes Ambitionen entstanden zunächst in Paris Licht. 1918 (R.). – Mord im Nebel. 1930 (R.). – durch die Übersetzung der Komödie Boubou- Heimkehr zum Ich. 1936 (R.). – Die Heimkehr des roche (Wien 1901) von Georges Courteline, Diomedes. 1949. – Briefe: Georges Courteline: Lettres à S. T. In: Europe 350 (1958), S. 31–42. – Berv. a. aber durch die Übersetzung der dramat. nard Shaw’s letters to S. T. Hg. Samuel A. Weiss. Werke Shaws, die er seit seinem Aufenthalt in Stanford, Calif. 1986. – Thomas Mann: Briefe an London 1900 durch die Vermittlung des Kri- Jonas Lesser u. S. T. 1939–1954. Hg. Franz Zeder. tikers William Archer kannte. Der Siegeszug Ffm. 2006. Shaws von dt. Bühnen aus zurück in die anLiteratur: Arthur Trebitsch: Der Fall Ferdigelsächs. Welt ist T.s Initiative zu verdanken nand Gregori u. S. T. Ein Beitr. zur dt. Literatur(Der deutsche Aufstieg Bernard Shaws. In: Welt- gesch. unserer Zeit. Mchn. 1914. – Elisabeth Knoll: bühne 22, 1926, S. 100–107). Nach dem Ver- Produktive Mißverständnisse. George Bernard bot seiner Bücher u. dem Verlust seiner Shaw u. sein dt. Übersetzer S. T. Heidelb. 1992. – Übersetzungsrechte 1938 übersiedelte T., der Hannes Schweiger: Habituelle Divergenzen – S. T. die jüd. Herkunft stets verleugnete u. anti- als Übersetzer u. Vermittler George Bernard Shaws. semitische Tendenzen erkennen ließ, aus In: Übersetzen – translating – traduire. Towards a ›social turn‹? Hg. Michaela Wolf. Wien u.a. 2006, Wien über Prag u. Straßburg nach Zürich. S. 45–54. Arnulf Knafl / Kathrin Klohs Das Exil u. den Zweiten Weltkrieg überstand er nahezu ohne Abstriche im großbürgerl. Lebensstil. Treichel, Hans-Ulrich, * 12.8.1952 VersEin bleibendes Dokument einer »Jugend in mold. – Lyriker, Librettist, Erzähler u. Wien« ist T.s Selbstbiografie Chronik eines LeLiteraturwissenschaftler. bens (Zürich 1951). Sie schildert die gehobene Geschäfts- u. Offizierswelt, die bes. in den T., dessen Eltern während des Zweiten Roman Genesung (Bln. 1902) Eingang fand. Weltkriegs aus Ostpreußen vertrieben worDie existenzielle Bedrohung des Menschen in den waren, verbrachte seine Kindheit in der nicht der Arbeit gewidmeten Zeit ist Westfalen. Nach dem Abitur studierte er Hauptthema von T.s Romanen u. Erzählun- Germanistik, Politologie u. Philosophie an gen. In der von Rilke gerühmten Novelle der FU Berlin u. wurde mit einer Arbeit über Weltuntergang (ebd. 1903) geht der Held an Wolfgang Koeppen promoviert (Fragment ohne seinem Müßiggang zugrunde u. flüchtet sich Ende. Eine Studie über Wolfgang Koepppen. Heizuletzt, als ein »Märtyrer des Sonntags«, in delb. 1984). 1981/82 u. 1984/85 arbeitete er den Freitod. Der Roman Der Verjüngte (Wien als Lektor für dt. Sprache in Italien. 1937) erweitert diese Thematik, da sich der 1985–1991 war er wissenschaftl. Mitarbeiter Held (unter deutl. Anspielung auf Fausts für Neuere deutsche Literatur an der FU Teufelspakt) einer Verjüngungsoperation Berlin, wo er sich 1993 mit der Arbeit Auslöunterzieht. Das dramat. Werk T.s (Muttersohn. schungsverfahren. Exemplarische Untersuchungen Urauff. Wien 1911), wie die Prosa frz. Vor- zur Literatur und Poetik der Moderne (Mchn.

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1995) habilitierte. Seit 1995 ist T. Professor für Dt. Literatur am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. T. machte sich zunächst als Verfasser von Gedichten einen Namen, in denen sich eine skeptisch-melanchol. Grundhaltung gegenüber der gesellschaftl. Entwicklung u. den individuellen Glücksansprüchen mit einer virtuosen Beherrschung des lyr. Formenkanons verbindet (Auswahl in: Gespräch unter Bäumen. Ausgew. u. mit einem Nachw. v. Rainer Weiss. Ffm. 2002. Liebesgedichte. Ffm./ Lpz. 2009). Es folgten Libretti (u. a. für Hans Werner Henze) u. zwei Bände mit autobiografisch geprägter Kurzprosa (Von Leib und Seele. Berichte. Ffm. 1992. Heimatkunde oder Alles ist heiter und edel. Besichtigungen. Ffm. 1996), bevor ihm mit der Erzählung Der Verlorene (Ffm. 1998) der internat. Durchbruch gelang. T. verarbeitet in diesem Text ein Familientrauma, das seine Kindheit überschattet hat: Kurz vor dem Tod seiner Mutter erfuhr T., dass die Eltern 1959 die Suche nach ihrem Erstgeborenen wieder aufgenommen hatten, der ihnen auf der Flucht vor der Roten Armee »abhanden gekommen« war u. der vor den Brüdern als tot galt. T.s Prosatext handelt von einer Kindheit in der Zeit des Wirtschaftswunders u. den verstörenden Folgen, welche die Suche der Eltern nach ihrem verlorenen Sohn für die Identität des Nachgeborenen hat, aus dessen Perspektive sie in der IchForm geschildert wird. Als die Mutter das Findelkind, das sie für ihren Sohn hält (u. dessen Adoption die Behörden ihr verweigert haben), schließlich einmal aus der Ferne zu Gesicht bekommt, schreckt sie davor zurück, es anzusprechen. Der Erzähler aber erkennt in dem jungen Mann sein »nur um einige Jahre älteres Spiegelbild«. T. variierte das Thema des Verlorenen in zwei weiteren Erzähltexten. In Menschenflug (Ffm. 2005) ist es der Romanheld Stephan, ein in die MidlifeCrisis geratener Akademiker, der den Kontakt mit dem (vermeintlichen) Bruder aufnimmt, einem Gespräch aber ausweicht. In Anatolin (Ffm. 2008) trifft der Ich-Erzähler sich zwar mit dem Findelkind, lässt aber einen Gentest durchführen, dessen Befund eine Verwandtschaft ausschließt.

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T.s Vorliebe gilt den Figuren des Verlierers u. Versagers, von deren Versäumnissen u. Verfehlungen er mit Ironie, groteskem Witz u. Sarkasmus in sprachl. Wiederholungen u. Umschreibungen erzählt, die dem geschilderten Unglück die Schwere zu nehmen u. der Scham u. Schande des Scheiterns komische Seiten abgewinnen. Die Kritik sah sich an den Erzählstil Thomas Bernhards erinnert. Diese Stilmittel verwendet T. auch in seinen anderen größeren Erzähltexten, in denen er immer wieder das Thema der Desillusionierung behandelt. In Tristanakkord (Ffm. 2000), einem satir. Künstlerroman, in dem T. Erfahrungen mit dem internat. Musikbetrieb u. aus der Zusammenarbeit mit Henze reflektiert, erzählt T. von Georg, einem schüchternen Doktoranden u. Nachwuchslyriker, der an der Aufgabe scheitert, eine Hymne für ein Libretto des Meisters zu schreiben. Doch nicht nur Georg, auch der eitle u. versnobte Bergmann entlarvt in der Zusammenarbeit seine Schwächen. Der Roman Der irdische Amor (Ffm. 2002) handelt von dem verklemmten Albert, einem Studenten der Kunstgeschichte in Berlin, der seiner Geliebten, der resoluten Elena, in ihre sard. Heimat folgt, wo sie in einem einsamen Bergdorf ein Kosmetikstudio betreibt. Albert wird das Opfer seiner Illusionen. Weder die Geliebte noch das Land erfüllen die Versprechen, die sie ihm in Berlin gegeben zu haben scheinen, wohin er am Ende zurückkehrt. Auch die Erzählung Der Papst, den ich gekannt habe (Ffm. 2007) schildert die Geschichte einer Selbsttäuschung, in der T. einen Hochstapler u. Aufschneider zu Wort kommen lässt. Ähnlich wie Albert ergeht es Paul in dem Roman Grunewaldsee (Bln. 2010). Das Versprechen, das María, mit der er in Málaga ein leidenschaftl. Liebesverhältnis hat, ihm beim Abschied gibt, hält zwar seine Hoffnung auf ein zukünftiges Glück über Jahre hinweg lebendig; sie wird aber enttäuscht, als die beiden sich in Deutschland wiedersehen – kurze Zeit nach dem Fall der Mauer, der auch das Ende der Kreuzberger Idylle signalisiert, in der Paul sich eingerichtet hat. T.s literar. Schaffen wird von poetolog., literaturkrit. u. schreibdidakt. Reflexionen begleitet, in denen er sich zur »Erfindung des

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Autobiographischen« bekennt, den zeit- u. diger Bernhardt: Erläuterungen zu H.-U. T.: Der literargeschichtl. Kontext seines Werks aus- Verlorene. Hollfeld 2006. – Thomas Schaefer: H.-U. lotet u. die Bedingungen literar. Schreibens T. In: KLG. Peter Langemeyer thematisiert (gesammelt in: Über die Schrift hinaus. Essays zur Literatur. Ffm. 2000. Der Entwurf des Autors. Frankfurter Poetikvorlesungen. Treitschke, Georg Friedrich, * 29.8.1776 Ffm. 2000. Der Felsen, an dem ich hänge. Essays Leipzig, † 4.6.1842 Wien. – Regisseur u. und andere Texte. Ffm. 2005). T. wurde für sein Opernlibrettist; Lepidopterologe. Werk mit zahlreichen Preisen u. AuszeichDem Willen des Vaters gemäß erhielt T. eine nungen geehrt. kaufmänn. Ausbildung u. übernahm das eltWeitere Werke: Ein Restposten Zukunft. Bln. erl. Handelshaus. 1799 gab er den ungelieb1979 (L.). – Tarantella. Berlin 1982 (L.). – Aus der ten Beruf auf u. versuchte sich als SchauZeit des Schweigens. Neun Lieder für Arthur Rimspieler u. Dramatiker. Der Erfolg seines ersbaud. Ein Oratorium. Musik: Jeffery Cotton u. a. ten Stücks, Das Bauerngut (Lpz. 1798), verUrauff. Köln 1984. Bln. 1984. – Liebe Not. Ffm. 1986 (L.). – Wolfgang Koeppen: Gesammelte Werke schaffte ihm 1802 eine Stelle als Regisseur u. in sechs Bden. Hg. Marcel Reich-Ranicki in Zu- Dichter an der k. k. Hofoper in Wien. 1805 sammenarbeit mit Dagmar v. Briel u. H.-U. T. Ffm. heiratete er die ital. Tänzerin Magdalena de 1986. – Das verratene Meer. Musikdrama nach dem Caro (1788–1816). 1811–1814 hatte er die Roman ›Gogo No Eiko‹ v. Yukio Mishima. Musik v. Vizedirektion des Theaters an der Wien inne, Hans Werner Henze. Text v. H.-U. T. Bln. 1990 das unter der Orchesterleitung von Louis (Textbuch). – Seit Tagen kein Wunder. Ffm. 1990 Spohr stand. Von 1822 an war er als »Öko(L.). – Der einzige Gast. Ffm. 1994 (L.). – (Hg.) nom« für die Finanzen u. die SachausstatWolfgang Koeppen: ›Einer der schreibt‹. Gespräche tung des Wiener Hoftheaters zuständig. u. Interviews. Ffm. 1995. – Venus u. Adonis. Oper T.s dramat. Produktion ist kaum zu überin einem Akt für Sänger u. Tänzer. Musik v. Hans schauen. Mehr als 50 Opern u. Singspiele, Werner Henze. Text v. H.-U. T. Mainz u. a. 1996 (Textbuch). – Sinfonia N. 9. Für gemischten Chor u. meist nach frz. Vorlagen, hat er in seiner Orchester. Dichtung auf Anna Seghers Roman ›Das Wiener Zeit verfasst; weniger als die Hälfte siebte Kreuz‹ v. H.-U. T. Musik v. Hans Werner davon ist im Druck erschienen. Einige seiner Henze. Mainz u. a. 2000 (Studienpartitur). – (Hg.) Libretti wurden von namhaften Komponisten Wie werde ich ein verdammt guter Schriftsteller? vertont; zum Welterfolg wurde seine TextBerichte aus der Werkstatt. Ffm. 2005 (zus. mit fassung von Beethovens Fidelio (dritte FasJosef Haslinger). – (Hg.) Schreiben lernen – sung, 1814). Beethoven lieferte auch MusikSchreiben lehren. Ffm. 2006 (zus. mit Josef Has- stücke zu zwei »patriotischen Singspielen« linger). – Südraum Leipzig. Ffm. 2007 (L.). – (Gute Nachricht. Wien 1814. Die Ehrenpforte. Wolfgang Koeppen: Werke in 16 Bdn. Hg. H.-U. T. Ebd. 1815) u. vertonte dessen Adaption des Ffm. 2006 ff. Volkslieds Wenn ich ein Vöglein wär [...]. Literatur: H.-U. T. Begleitheft zur Ausstellung Wissenschaftliche Meriten erwarb sich T. der Stadt- u. Universitätsbibl. Frankfurt a. M., 12. gemeinsam mit seinem Kollegen Ferdinand Januar bis 29. Februar 2000. Hg. Stadt- u. UniverOchsenheimer als Schmetterlingsforscher. sitätsbibl. Frankfurt am Main. Redaktion: Alessandra Sorbello Staub. Ffm. 2000 (mit Bibliogr.). – Neben eigenen entomolog. Arbeiten vollenAchim Nuber: Kindheit u. Jugend im Zeichen von dete er nach Ochsenheimers Tod dessen Flucht u. Vertreibung. H.-U. T.s ›Der Verlorene‹ im Handbuch Die Schmetterlinge von Europa Kontext zeitgenöss. Biographierzählungen. In: (Bde. 5–10, Lpz. 1825–35). Flucht u. Vertreibung in der dt. Literatur. Beiträge. Hg. Sascha Feuchert. Ffm. u. a. 2001, S. 265–280. – Thomas Kraft: H.-U. T. In: LGL. – H.-U. T. Hg. David Basker. Cardiff 2004. – Colloquia Germanica. Internationale Ztschr. für Germanistik. Special Issue: H.-U. T. Hg. Steve Dowden u. Jane Curran, Bd. 38 (2005) H. 1. – H.-U. T.: Der Verlorene. Mit einem Komm. v. Jürgen Krätzer. Ffm. 2005. – Rü-

Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Wien): Der portugies. Gasthof. Musik v. Luigi Cherubini. 1803 (Singsp.). – Singsp.e aus dem Frz. 5 Bde., 1803–1808. – Musenalmanach für das Jahr 1805 (zus. mit Karl Streckfuß). 1804. – Wiener Musenalmanach auf das Jahr 1808 (zus. mit Friedrich August Kuhn). 1807. – Gedichte. 1817. – Gedichte. 1841.

Treitschke Literatur: Wurzbach 47. – Goedeke 1,1, S. 338 ff.; 6, S. 572 ff. – Alexander Wheelock Thayer: Ludwig van Beethoven. Bd. 3, Lpz. 21911. – Attila Csampai u. Dietmar Holland (Hg.): Ludwig van Beethoven: Fidelio. Texte, Materialien, Kommentare. Reinb. 1981, S. 137 ff. – Manfred Schuler: Unveröffentlichte Briefe v. Ludwig van Beethoven u. G. F. T. Zur dritten Fassung des ›Fidelio‹. In: Die Musikforsch. 35 (1982), S. 53–62. – Ulrike Arbter: G. F. T., Beethovens dritter ›Fidelio‹-Librettist, in Wien [...]. Diss. Wien 1997. – Jost Hermand: Joseph Sonnleithner, G. F. T. u. Ludwig van Beethoven: ›Fidelio‹ (1805/14): ein Stern der erfüllten Hoffnungen, genannt Erde. In: Ders.: Glanz u. Elend der dt. Oper. Köln 2008, S. 85–99. Wolfgang Griep / Red.

Treitschke, Heinrich (Gotthard) von, * 15.9.1834 Dresden, † 28.4.1896 Berlin; Grabstätte: ebd., Friedhof der St.-Matthäi-Gemeinde. – Historiker, Publizist. Der Sohn eines sächs. Husarenleutnants u. späteren Generals u. Kommandeurs der Festung Königstein suchte, infolge einer Kinderkrankheit 1842 bereits fast ertaubt, schon früh Zuflucht in der Literatur u. in den Geschichten der dt. Helden. 1846–1850 besuchte er die Dresdener Kreuzschule u. geriet dort unter den Einfluss des Rektors, des Goethe-Kenners Julius Ludwig Klee. 1851 wurde T. in Bonn immatrikuliert, wo Dahlmanns Vorlesungen über Geschichte u. Politik großen Eindruck auf ihn machten. 1852 wechselte er, nun als Student der Kameralwissenschaften, nach Leipzig. Nach der Heidelberger Promotion (1854) schloss T. seine Studien mit einer Habilitationsschrift über Die Gesellschaftswissenschaft (Lpz. 1859) ab. Versuche als freier Schriftsteller oder als Journalist scheiterten. 1863 nahm er einen Ruf nach Freiburg i. Br. an, 1867 nach Kiel, dann nach Heidelberg. 1873 wurde T. Nachfolger Rankes in Berlin; nach dessen Tod erbte er den Titel eines Historiografen des preuß. Staates; weitere Ehrungen u. Auszeichnungen folgten. Zusätzlich war er 1857–1889 als Mitarbeiter u. Redakteur der »Preußischen Jahrbücher« tätig u. gehörte 1871–1884 dem Deutschen Reichstag an. Obwohl als Politikwissenschaftler u. Historiker ausgebildet, versuchte sich T. zu-

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nächst als Dichter. Studien (Lpz.) u. Vaterländische Gedichte (Gött.), »zumeist Gedankenlyrik politisch-nationalen Inhalts« (Metz), erschienen 1856/57. In der gleichen Zeit entstanden mehrere unvollendete Dramenentwürfe. Doch zwangen ihn materielle Sorgen, sich der wissenschaftl. Tätigkeit u. dem Journalismus zu widmen. So verfasste er auch eine Reihe von beachteten Essays zur Literaturgeschichte u. a. über Kleist, Keller, Hebbel, Milton u. Byron. Wirkungsreicher waren jedoch seine historisch-polit. Aufsätze aus den 1860er Jahren, die aus vergleichender Geschichte eine Art polit. Wissenschaft entwickelten. Nach einem jugendl. republikan. Rausch 1848 entwickelte sich T. zu einem national-liberalen Befürworter eines starken dt. Staates unter preuß. Führung. Er propagierte die Beschränkung der individuellen Freiheit zugunsten der des Staates. Das deutsche sei »das gedankenreichste der Völker« u. sein Verdienst sei es gewesen, »die frohe Botschaft der Humanität, der echten Freiheit des Geistes, an alle Welt verkündet« zu haben. In seinem wohl bedeutendsten Aufsatz, über Bundesstaat und Einheitsstaat (1863/64) verwarf T. die partikularistische dt. Vergangenheit u. bekannte sich zum Ideal des monarchischen boruss. Einheitsstaates. Die sehr erfolgreichen Aufsätze der frühen Zeit, größtenteils erstmalig in den »Preußischen Jahrbüchern« u. später in mehreren Auflagen als Historische und Politische Aufsätze (Lpz. 1865. 5 1885) erschienen, festigten T.s Ruf als »Herold« des dt. Reichs. Obwohl während der preuß. Verfassungskrise Gegner Bismarcks, wurde T. zum vorbehaltlosen Befürworter des Reichs u. seines ersten Kanzlers. Während der 1870er Jahre eiferte er heftig gegen alle vermeintl. Reichsfeinde. So entstanden u. a. Polemiken gegen den Socialismus und seine Gönner (Bln. 1875), d. h. die Kathedersozialisten, u. gegen die Juden, die T. als »unser Unglück« brandmarkte (Ein Wort über unser Judentum. Ebd. 1880). Später setzte er sich für die Kolonialpolitik u. für den Flottenbau ein; er wurde zum erbitterten Gegner Englands. Die Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert (5 Bde., Lpz. 1879–94), T.s Hauptwerk, verband seine literar., polit. u. histor.

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Interessen. Stark durch Gervinus u. Wilhelm Werke u. Ausg.n. Konstanz 2001 (Online-RessourRoscher beeinflusst, bot das unvollendete ce). – Ulrich Wrywa: H. v. T.: Geschichtsschreibung Werk eine umfassende Darstellung der dt. u. öffentl. Meinung im Dtschld. des 19. Jh. In: Geschichte bis 1847. Ausgehend von der Ztschr. für Geschichtswiss. 51 (2003), S. 781–792. – Bianca Bican: Akadem. Antisemitismus in Dtschld. klassisch-romant. Literaturperiode einerseits im 19. Jh. H. v. T. In: Interkulturelle Grenzgänge. u. den nationalen Befreiungskriegen ande- Akten der wiss. Tagung des Bukarester Instituts für rerseits, feierte T. die Geschichte Deutsch- Germanistik zum 100. Gründungstag. Hg. George lands als Apotheose Preußens. Auch in me- Gut¸ u. Bukarest 2007, S. 430–443. – Goedeke Forts. thod. Hinsicht ist das Werk bedeutsam ge- – Peter Wulf: ›Unter Normalmenschen‹: H. v. T. an wesen, weniger als Erzeugnis gelehrter der Univ. Kiel 1866/67. In: Forsch.en zur branQuellenforschung denn als lebendige, parteil. denburg. u. preuß. Gesch. 18 (2008), 2, S. 171–194. Darstellung auf der Grundlage der Überzeu- – Ernst Schulin: T. u. Max Weber, Meinecke u. gung, dass Volk u. Staat untrennbar seien, Gerhard Ritter. In: Poeten u. Professoren. Eine Literaturgesch. Freiburgs in Porträts. Hg. Achim was zu einer beeindruckenden Mischung von Aurnhammer u. Hans-Jochen Schiewer. Freib. i. Br. Sozial-, Kultur- u. polit. Geschichte führte. 2009, S. 193–200. Joachim Whaley / Red. Nicht umsonst wurde T. gerne mit Macaulay verglichen. Seine staatswissenschaftl. Gedanken ent- Trenck, Friedrich Frhr. von der, * 16.2. wickelte T. unter anderem in wiederholten 1726 Königsberg, † 25.7.1794 Paris. – Vorlesungsreihen über Politik (Hg. Max Cor- Politischer Schriftsteller u. Publizist. nelicus. 2 Bde., Lpz. 1896/97). Dank seines hervorragenden Vortragstalents übte er bis T. entstammte einer angesehenen, begüter1895 großen Einfluss auf mehrere Genera- ten u. weit verzweigten preuß. Adelsfamilie. tionen von Studenten aus. Wegen der Zeit- Nach kurzem Jura- u. Philosophiestudium in gebundenheit seiner Schriften verblasste T.s Königsberg (1741–1743) wählte er der FamiRuhm als Historiker relativ schnell nach sei- lientradition gemäß die Offizierslaufbahn. nem Tod; in der NS-Zeit erfuhr seine Ver- Seine Tätigkeit als Ordonnanz im Gardereherrlichung von staatl. Autorität u. Machträ- giment Friedrichs II. (1743/44) endete jedoch mit der Arretierung (1745), die T. selbst als son wieder Interesse. Folge eines beginnenden Liebesverhältnisses Weitere Werke: Zehn Jahre dt. Kämpfe mit Friedrichs Schwester Amalie begründete; 1865–74. Schr.en zur Tagespolitik. Bln. 1874. 2 1879. – Dt. Kämpfe. N. F. Lpz. 1896. – Reden im dagegen sprechen die offiziellen Akten von Dt. Reichstage 1871–84. Hg. Otto Mittelstädt. Lpz. konspirativen, durch Erbabsichten motivier1896. – Briefe. Hg. Max Cornelicus. 3 Bde., Lpz. ten Briefen T.s an seinen kinderlosen Cousin, 1910–17. – Aufsätze, Reden u. Briefe. Hg. K. M. den berüchtigten österr. Pandurenoberst Schiller. 5 Bde., Meersburg 1929. – Briefe an His- Franz von der Trenck. Der anschließenden toriker u. Politiker vom Oberrhein. Hg. Willy An- Kerkerhaft entzog sich T. durch die Flucht dreas. Bln. 1934. nach Österreich (1747), die vorübergehende Literatur: Herman v. Petersdorff: H. v. T. In: Annahme russ. Dienste (1748/49) u. die ADB 56. – Walter Bußmann: T. Sein Welt- u. Ge- Rückkehr auf hochverschuldet hinterlassene schichtsbild. Gött. 1952. – Andreas Dorpalen: H. v. Besitzungen Franz von der Trencks in UnT. New Haven 1957. – Georg G. Iggers: H. v. T. In: garn (1749). Vager Erbaussichten u. akuter Dt. Historiker. Hg. Hans-Ulrich Wehler. Bd. 2, Finanzprobleme wegen im poln. Danzig, Gött. 1971, S. 66–80. – Karl Heinz Metz: Grundwurde T. von der preuß. Geheimpolizei verformen historiograph. Denkens. Mchn. 1979. – schleppt (1754) u. zu langjähriger Kerkerhaft Stefan Fisch: Erzählweisen des Historikers: H. v. T. auf der Festung Magdeburg verurteilt. Auf u. Thomas Nipperdey. In: Deutschlands Weg in die Moderne: Politik, Gesellsch. u. Kultur im 19. Jh. Fürsprache Maria Theresias kam er in den Hg. Wolfgang Hardtwig. Mchn. 1993, S. 54–62. – Genuss der Begnadigung u. einer österr. Ansgar Frenken: H. v. T. In: Bautz. – Ulrich Lan- Jahrespension (Dez. 1763). Als Hasardeur ger: H. v. T. Polit. Biogr. eines dt. Nationalisten. mittlerweile von einigem Ruf, ließ sich T. Düsseld. 1998. – Christof Rolker (Hg.): H. v. T.: daraufhin in Aachen nieder (1764); dort eta-

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blierte er sich durch eine standesgemäße Ehe, die Eröffnung eines Weinhandels u. publizistische Aktivitäten. Allerdings zeitigten die radikal antiklerikalen u. antiabsolutistischen Tendenzen seines Lehrgedichts Der mazedonische Held in wahrer Gestalt (Aachen 1771) u. seiner Wochenschrift »Der Menschenfreund« (4 Bde., ebd. 1772) eine literar. Fehde mit dem Aachener Domkapitular Franz Anton Tewis, geschäftl. Verluste, lokales Publikationsverbot u. endlich Übersiedlung auf ein ihm verbliebenes, durch agrar. Experimente bald ebenfalls ruiniertes Landgut in Österreich (1780–1786). Trotz Rehabilitierung u. Entschädigung durch die preuß. Regierung (1787/88), der Erhöhung seiner österr. Rente (1791) u. des enormen Erfolgs seiner Autobiografie manövrierte sich der ruhelose T. finanziell u. politisch in immer aussichtslosere Lagen: Häufiger Frontwechsel zwischen österr. u. preuß. Interessen (1787–1789), unverhohlene Parteinahme für die ungarischen Aufständischen (Flugblätter, 1789–1791), Agitation zugunsten der Revolution (als »Despotenopfer«) während einer Frankreichreise (Febr. 1789) u. revolutionäre Publizistik vom dänisch-holsteinischen Zensurparadies Altona aus (1791/92) führten nacheinander zur Streichung aller Gratifikationen u. zu einem umfassenden Publikationsverbot. 1793 begab sich T. deshalb nach Paris, wo er sich wiederum in Schulden stürzte; zudem machten ihn nunmehr seine kosmopolitischen Ideale angesichts forcierter nationaler Propaganda in den beginnenden Koalitionskriegen verdächtig. Einer Intrige Wiener Gläubiger fiel T. schließlich zum Opfer: Am 11.9.1793 inhaftiert, evozierte eine provokante Äußerung des eigenwilligunbeugsamen T. trotz Protektion u. guter Prozessaussichten zwei Tage vor dem Sturz Robespierres das Todesurteil u. die Hinrichtung des »deutschen Belisar« (Selbstbezeichnung T.s). T.s größten literar. Erfolg markiert zweifellos die noch zu seinen Lebzeiten in 40000 Exemplaren verkaufte, seither mit leicht variierenden Titelangaben teiledierte (zuletzt von Eberhard Cyran. Ffm. 1983), immer wieder adaptierte (z. B. Bruno Frank: Trenck, Roman eines Günstlings. Lpz. 1926 u. ö.) u.

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schließlich sogar verfilmte (1972/73. Regie: Fritz Umgelter) Autobiografie Des Friedrichs Freiherrn von der Trenck merkwürdige Lebensgeschichte (Bde. 1 u. 2, o. O. 1786. Bd. 3, Bln. 1787. Bd. 4, Altona 1792. Bd. 5: Der Geniestreich aller Geniestreiche. Altona 1796; postum, wahrscheinlich apokryph): Mit ihrem raschen Wechsel zwischen ungezügelter Polemik u. ungehemmter Selbstdarstellung, zwischen fantastischer Abenteuerschilderung u. penibler Auflistung eigener Finanzverhältnisse repräsentiert sie ein originelles Produkt autobiogr. Literatur des 18. Jh. Darüber hinaus publizierte T. zeitlebens auch belletristische Texte (u. a. Araxane. Ein erdichtetes Trauerspiel. Wien 1754. Des Trencks Sammlung vermischter Gedichte [...]. Ffm./Lpz. 1767) u. veranstaltete selbst eine Gesamtausgabe seiner Werke (Des Freiherrn Friedrich von der Trenck sämmtliche Gedichte und Schriften. 8 Bde., Wien/Lpz. 1786. Bde. 9 u. 10, Straßb., recte Budapest 1791); vor allem aber profilierte sich T. mit seinen bedeutenden Altonaer Periodika (»Trencks Monatsschrift für das Jahr 1792«. Altona 1792. »Proserpina«. Mainz, Altona, recte Hbg. 1793. Neudr. 1976. Mikrofiche Hildesh. 1999) als jakobinisch gesinnter Spätaufklärer. Seine Bewunderung für die Leistungen aufgeklärter Monarchen (u. a. Trauerrede auf patriotische Gedanken bei dem Grabe Josephs II. Breslau 1790) trat darüber freilich erst spät zurück. Literatur: Gustav Gugitz u. Max v. Portheim: T., ein bibliogr. u. ikonograph. Versuch. Wien 1912 (Werkverz., Lit.). – Walter Grab: T. Kronberg/ Taunus 1977 (Lit.). – Heinz Martin Wehrhahn: T. u. die Aachener Publizistik in den Jahren 1773–75. In: Ztschr. des Aachener Geschichtsvereins 84/85 (1977/78), S. 853–873. – T. Werk u. Rezeption. Bremen 1986 (Kat.). – Martin Wiehle: F. Frhr. v. d. T. Militär u. Schriftsteller. In: Ders.: AltmarkPersönlichkeiten. Oschersleben 1999, S. 174 f. – Gernot Roll: F. Frhr. v. d. T. – Zwei Herzen gegen die Krone. arte 2002 (Histor. Spielfilm). Adrian Hummel / Red.

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Trenck, Siegfried (Theodor Julius Gustav) von der, * 2.12.1882 Königsberg, † 12.12. 1951 Berlin. – Epiker, Lyriker, Romancier, Essayist.

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den mit der des dt. Volkes in der nationalsozialistischen Revolution parallelisieren will. Weitere Werke: Das Ewige Lied. Dantes Divina Commedia durch Versenkung u. Eingebung wiedergeboren. Gotha 1921. Neubearb. Weimar 1926. – Offenbarung des Eros. Gotha 1930 (L.). – Don Juan – Ahasver. Eine Passion der Erde. Ebd. 1930 (ep. Dichtung). – Volk u. Führer. Potsdam 1934 (L.). – Wiedergeburt. Lpz. 1937 (L.). – Schwert aus Gottes Mund. Halle 1940 (L.). Michael Geiger

Der Sohn eines Oberlandesgerichtspräsidenten studierte nach der Schulzeit am Collegium Fridericianum Jura in Königsberg, Berlin u. Freiburg i. Br. Nach dem Referendariat in Berlin wurde er 1915 Rechtsanwalt an einem Kreisgericht u. ließ sich 1925 als Patentanwalt u. Notar nieder. Während des »Dritten Reichs« Mitgl. des nationalsozialistischen Trenker, Luis, eigentl.: Alois Franz T., Rechtswahrerbundes, trat er mit der Schrift * 4.10.1892 St. Ulrich/Grödnertal, † 12.4. Die Wahrheit der Erfindung (Bln. 1939) für die 1990 Bozen; Grabstätte in St. Ulrich/ Überwindung des Intellektualismus im Pa- Grödnertal (dort L. T.-Archiv). – Schautentrecht ein, um den Erfinder als Volksge- spieler, Regisseur, Drehbuchautor, Ronossen zu bestimmen, der sein Recht als mancier, Fernsehautor- u. darsteller. »Lehen der Gemeinschaft« empfängt. Mit Der Sohn des Holzbildhauers u. Malers Jakob dem Untergang der NS-Diktatur endete auch Trenker besuchte das Josefinum in Bozen, T.s literar. Publizität; bis zu seinem Tod lebte anschließend ebenda die Bau- und Kunster zurückgezogen in Berlin. handwerkerschule (1903–1905) sowie die Der dichterischen Initiation durch Dantes Realschule in Innsbruck (bis 1912). Schon Divina Commedia u. ihrer Seelenläuterung ge- früh anerkannt als geprüfter Bergführer u. horchend, versteht sich T.s Werk als Gottes- Skilehrer, studierte er in Wien Architektur, suche in einer dem Materialismus u. der ein Studium, das er erst sehr viel später in Mechanisierung anheimgefallenen Zeit. Graz (1920–1922) erfolgreich abschloss. Im Leuchter um die Sonne (Gotha 1921), der erste Ersten Weltkrieg diente er, zuletzt als OberBand des Lebensbuches, bestimmt Gott als leutnant, vorwiegend in seiner Heimat an der »Uridee des Wertes« u. beschwört Religions- österr.-ital. Front (1915–1918). Sein Erleben stifter, Dichter u. Denker als Zeugen der ei- verarbeitete er in mehreren Romanen, v. a. in genen Geisteshaltung. Ihnen ordnete T. in Sperrfort Rocca Alta. Der Heldenkampf eines den epischen Dichtungen Flamme über die Welt Panzerwerks (Bln. 1938) u. Hauptmann Ladurner. (ebd. 1926), dem zweiten Band des Lebensbu- Ein Soldatenroman (Mchn. 1940). Für diese u. ches, u. Fortunat (ebd. 1931) sagenhafte Ge- andere frühen Romane ist, wenngleich von T. stalten (Parzival, Tristan, Merlin) zu. Diese teilweise bestritten, die Zusammenarbeit mit ringen, bloßer Geistigkeit abhold, von Blut u. anderen Autoren (»Ghostwritern«), v. a. mit Leidenschaft getrieben um ihre Lichtgestalt T.s Kriegskamerad Fritz Weber (1895–1972), u. Gotteskindschaft. Dem Ziel, die Synthese bezeugt. von Geist u. Blut zu vollbringen, sind der 1921 wurde T. als Bergführer u. Schaudritte Band des Lebensbuches mit dem pro- spieler von Arnold Fanck für den Film entgrammat. Titel Stern im Blut (ebd. 1928) u. deckt (Hauptrolle u. a. in dem Ufa-Film Der Herakles – Christus (ebd. 1930) verpflichtet. Heilige Berg mit Leni Riefenstahl, 1926). T. Ohne je zur Welthaltigkeit des Epischen zu entwickelte die Technik seines Lehrers weiter finden, erschöpfen sich die Dichtungen in u. schuf den nicht mehr im Atelier gedrehten expressivem Gestus u. in Sentenzen u. Bil- »Film ohne Schminke«. Unter T.s seit 1928 dern, welche die Verbindlichkeit des Mythos selbstständig gedrehten Filmen wie dem prätendieren. Solche Schwächen prägen auch Kriegsdrama Berge in Flammen (1931, auch in T.s letztes Prosawerk Reichhardt aus der Fülle frz. u. engl. Fassung; als Roman 1931, über(Bln. 1941), einen breit angelegten Bil- arb. zuletzt Mchn. 1980), später im Genre dungsroman, der die Selbstfindung des Hel- ähnlich auch der Matterhornfilm Der Berg ruft

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(1937; T. als Regisseur u. Darsteller), wurde besonders die Andreas-Hofer-Verfilmung Der Rebell (1932, als Roman Wien u. a. 1933) von Goebbels als vorbildl. Werk v. a. wegen seiner Massenszenen herausgestellt u. T. (bis 1940) offiziell gefördert. Mit Der verlorene Sohn (1934; auch als Roman Bln. 1934), einer sozialkrit. Geschichte über einen glücklosen Skilehrer in den USA, setzte er in seinem Filmschaffen einen neuen Akzent. Beim Südtiroler Abstimmungskampf verhielt sich T. schwankend, optierte jedoch nach langem Zögern für Deutschland (1940), was ihn, obwohl er sich gegen die erzwungene Auswanderung der Südtiroler wandte, Sympathien in seiner Heimat kostete. Nach Problemen mit dem NS-Regime arbeitete er seit 1940 fast nur noch in Italien (dort der Papstfilm Pastor Angelicus, 1942; in Deutschland nur 1942 als Darsteller im Robert-Koch-Film Germanin). Ähnlich wie in seinen rund 20 Spielfilmen, die teilweise durchaus auch auf moderne Regisseure des ›Neorealismus‹ einwirkten, treten in T.s Abenteuer- u. alpinen Heimatromanen (insg. Millionenauflagen in mehreren Sprachen) immer wieder Charaktermerkmale wie männl. Heldentum, Familiensinn, Tapferkeit u. Bodenständigkeit in den Vordergrund. T.s aus der Grenzlage mitverursachter Patriotismus u. der Anklang, den er zeitweise bei Mussolini u. bei Nazigrößen fand (Hitler als T.-Fan), wurden in der Literatur u. Presse vielfach kritisch diskutiert. Diese Kritik wie auch T.s nicht selten kolportagehaft wirkende Themen u. Erzählstrukturen haben seine Verdienste um die Entwicklung des Natur- u. Abenteuerfilms längere Zeit überschattet, konnten auf Dauer seiner Beliebtheit aber nicht schaden. Dies führte auch dazu, dass er, nach dem Krieg in München u. Bozen lebend, seit den 1950er Jahren als vitaler Erzähler immer wieder auch im Fernsehen auftrat (z. B. 1959 in der ARD: Luis Trenker erzählt). In zahlreichen Büchern (darunter auch Reise-, Berg- u. Wanderführern), Interviews, Dokumentarfilmen u. Fernsehproduktionen setzte sich T. gerade in seinen letzten Jahren immer wieder für die Erhaltung der naturbelassenen Landschaft u. für die Integrität seiner Heimat ein.

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T. erhielt viele Auszeichnungen, darunter das Ehrenkreuz der Stadt Wien (1966), das Komturkreuz der Republik Italien (1966), den bayerischen Verdienstorden (1979), das Filmband in Gold (1982) u. das Bundesverdienstkreuz am Bande (1982). Weitere Werke (fast alle Werke T.s erschienen in mehreren Auflagen u. Bearbeitungen bzw. Übersetzungen, seine Filme auch in elektron. Fassungen auf VHS oder DVD): Helden der Berge. Bln. 1935 (R.). – Der Kaiser v. Kalifornien. Film 1936. Hbg. 1961 (R.). – Der Feuerteufel. Film 1940. Bln. 1939 (R.). – Leuchtendes Land. Mchn. 1942. Bln. 1985 (R.). – Sterne über den Gipfeln. Mchn. 1942. Heimat aus Gottes Hand. Flensburg 1948 (R.). – Duell in den Bergen. Roman aus den Dolomiten. Gütersloh 1952. – Sonne über Sorasas. Ein heiterer Roman aus den Dolomiten. Ebd. 1953. – Schicksal am Matterhorn. Ebd. 1957 (R.). – Das Wunder v. Oberammergau. Hbg. 1960 (R.). – Die Farm am Kilimandscharo. Düsseld. 1960 (R.). – Sohn ohne Heimat. Ebd. 1960 (R.). – Alles gut gegangen. Gesch.n aus meinem Leben. Hbg. 1965 u.ö. Erg. Aufl. Mchn. 1979 (Autobiogr.). – Mein Südtirol. Ebd. 1965. – Meine besten Gesch.n. Mchn. 1982. – Die schönsten Berge der Dolomiten (zus. mit Helmut Dumler). Mchn. 1990. – Goldene Bergwelt. Mchn. 1992. Literatur: Das große L.-T. Buch. Mchn. 1974. – Wolfgang Gorter: Mein Freund L. T. Seebruck am Chiemsee 1977. – Antonin Kratochvil: Abendgespräche mit L. T. Mchn. 1980. – Roderich Menzel: L. T. Düsseld. 1982. – Rudolf Nottebohm u. HansJürgen Panitz: Fast ein Jahrhundert L. T. Mchn. 1987. – Hansjörg Waldner: ›Deutschland blickt auf uns Tiroler.‹ Südtirol-Romane zwischen 1918 u. 1945. Wien 1990, S. 49–65, 124–142, 180–185. – Florian Leimgruber (Hg.): L. T., Regisseur u. Schriftsteller. Die Personalakte T. im Berlin Document Center. Bozen 1994. – Klaus Kanzog: ›Der Kampf als inneres Erlebnis‹. Der Traktat Ernst Jüngers ›Kriegsbriefe gefallener Studenten‹ u. der Mythos des Kämpfers in L. T.s Film ›Berge in Flammen‹. In: Lit. im Wandel. FS Viktor Zˇmegacˇ. Hg. Marijan Bobinac. Zagreb 1999, S. 309–323. – Stefan König u. Florian Trenker: Bera Luis. Das Phänomen L. T. Eine Biogr. Mchn. 2006. – Julia Teresa Friehs: Amerika in L. T.s ›Der Verlorene Sohn‹ (1934). Wien 2008. – H.-J. Panitz: L. T. ungeschminkt. Bilder Stationen, Begegnungen. Mit großer Filmografie u. DVD ›Sein letztes Interview‹. Innsbr./Bozen 2009. Wilhelm Kühlmann

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Trentini, Albert von, * 10.10.1878 Bozen/ Südtirol, † 18.10.1933 Wien. – Erzähler, Dramatiker, Essayist.

Trescho 1920 (R.). – Die Geburt des Lebens. Reichenberg 1924 (R.). – Novellen. Mchn. 1924. – Paradies. Ebd. 1924 (D.). – Tirol Anno 1809. Bln. 1924 (Ess.). – Die Flucht ins Dunkle. Ein Lied v. der Welt. Mchn. 1926. – Ges. Werke. Mchn. 1927/28 (nur 3 Bde. ersch.). – Schöpferisches Leben. Ebd. 1932 (Ess.s). – Erziehung zur Persönlichkeit. Ebd. 1935 (Ess.). – Aus seinen Werken. Zum 100. Geburtstag des Tiroler Dichters. Hg. Johannes B. Trentini. Bozen 1978. Literatur: Lili Gusztav: A. v. T. Diss. Wien 1933. – H. Hegen: Die weltanschaul. Entwicklung A. v. T.s. Diss. Innsbr. 1949. – Friedrich Schreyvogl: Gedenkrede auf A. v. T. In: Der Schlern 14 (1933), S. 505 f. – Sieglinde Klettenhammer: Fronten in der Lit. des 20. Jh. Identität als Thema der deutschsprachigen Exilprosa aus Südtirol. In: Brücke u. Brücken. Hg. Johann Holzner u. Elisabeth Walde. Wien/Bozen 2005, S. 298–314.

Aus alter Trientiner Adelsfamilie stammend, avancierte T. nach dem Studium der Rechtswissenschaft (Dr. iur.) bis zum Sektionschef im Wiener Innenministerium. Er war Mitgl. des »Dürerbunds«, zählte in den 1920er Jahren zu den aktivsten Mitarbeitern des konservativen »Kulturbunds« (1931–1933 Präsident), der nach 1930 zu einem Sammelpunkt für NS-Tendenzen wurde. Trotz der Adaption seines Werks für die NS-Kulturpolitik blieb er jedoch bei seiner konservativkath. Linie. Basierend auf einer kulturpessimistischen u. zivilisationskrit. Grundhaltung, lässt T. seine Helden im verzweifelten Johannes Sachslehner / Red. Einzelkampf gegen »Hohlheit und Gottferne« des modernen Lebens antreten. Neuromantische u. expressionistische Elemente Trescho, Sebastian Friedrich, * 9.12.1733 verbinden sich so zu einer antimodernisti- Liebstadt/Preußen, † 29.10.1804 Mohschen Erzählprosa, die in der individuellen rungen (heute: Morag). – ErbauungsRückbesinnung auf Glauben u. Gefühl, schriftsteller. Pflichterfüllung u. Verzicht das Heil vor Der Sohn eines Stadt- u. Gerichtsschreibers Entfremdung sucht. Am klass. Konflikt zwi- erhielt in Mohrungen Unterricht durch den schen sinnl. u. »höherer« Liebe demonstrie- Pfarrer Christian Reinhold Willamovius u. ren dies T.s frühe Romane Der große Frühling studierte seit 1751 in Königsberg Theologie, (Bln. 1908), Sieg der Jungfrauen (ebd. 1910. wo er durch die dortige pietistische Schule Neuaufl. 1937) u. Candida (ebd. 1916). T. geprägt wurde. Früh kränklich, ein Hyposcheut auch nicht vor letzter Konsequenz chonder, schloss er das Studium mit der Perzurück: Der Held des Romans Unser Geist spektive eines kurzen Lebens im Elternhaus (Bln./Stgt. 1916) gibt an der Front sein Leben ab. Als 1760 an der Stadtkirche in Mohrunfür das Kollektiv. Der Gestaltung des ver- gen die Stelle des zweiten Geistlichen frei meintlich unüberwindbaren »völkischen« wurde, nahm er, nachdem er drei Jahre HofGegensatzes zwischen Deutschen u. Italie- meister gewesen war, das Amt eher unfreinern widmen sich der Roman Deutsche Braut willig an, um es bis 1804 zu behalten. T. widmete sich nun der Schriftstellerei, (Mchn. 1921. Neuaufl. Bln. 1937) u. in neuer Variation auch T.s erfolgreichstes Werk, der indem er zunächst schöngeistige, dann theoin expressionistischer Manier geschriebene logisch-erbaul. Schriften hervorbrachte. Er Künstlerroman Goethe (2 Bde., Mchn. 1923. gefiel sich darin, »in Eins den Asketen und Neuaufl. Bln. 1937). Ein Teil seines Nachlas- den Schöngeist zu spielen« (Rudolf Haym: ses befindet sich im Brenner-Archiv der Uni- Herder. Neudr. Bd. 2, Darmst. 1954, S. 26). So veröffentlichte er die kleine Schrift Betrachversität Innsbruck. tungen über das Genie (Königsb. 1755) u. 1761 Weitere Werke: Lobesamgasse 13. Bln. 1911 (R.). – Comtesse Tralala. Ebd. 1911 (R.). – Südtirol. den umfangreichen Band Religion, Freundschaft Lpz. 1912. – Der letzte Sommer. Bln. 1913. Neu- und Sitten, in einigen Gedichten (Königsb./Lpz.), aufl. Wien/Bln. 1935 (R.). – Stunden des Lebens. worin er beide Tendenzen verband. In der Bln. 1913 (N.n). – Unser Verhältnis zu Italien. Vorrede bekannte er: »Es ist besser, ein matMchn. 1916. – Die Möwe mit dem goldenen Ring. Bln. 1919. Neuaufl. 1931 (E.en). – Ehetag. Heilbr.

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ter Stoiker, als ein feuriger und sinnreicher Epikuräer zu sein.« Hamann nannte T. ein »animal scribax«, u. T. ist wohl nur deshalb in der Literaturgeschichte verblieben, weil er den 17-jährigen Herder im Frühjahr 1761 für mehr als ein Jahr als Famulus für Kopistendienste aufnahm. Herder hat möglicherweise von T.s Bibliothek profitiert; sein Urteil über ihn war hart; er nannte T.s Schriften »Pastoralschmierereien« (an Hamann, Aug. 1764). Immerhin hatte sich T. mit ihnen Ansehen weit über Ostpreußen hinaus verschafft. Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Königsb.): Gedanken über den Umstand, daß der Erlöser in den besten Jahren seines Lebens gestorben. 1759. – Näschereien in die Visitenzimmer am Neujahrstage. 1762. – Sterbebibel oder die Kunst, selig u. fröhlich zu sterben. 1762 u. ö. – Vorteile u. frühzeitige Bekanntschaft mit dem Tode. 1774. Literatur: Johannes Sembritzki: T. u. Herder. In: Altpreuß. Monatsschr. 41 (1904), H. 7/8. – Ders.: T., Diakonus in Mohrungen. Sein Leben u. seine Schr.en. In: Oberländ. Geschichtsbl. 7 (1905). – Wilhelm Dobbek: J. G. Herders Jugendzeit [...]. Würzb. 1961, S. 35–44. – Ernst-Rüdiger Kiesow: S. F. T.: seine Rolle in Herders Biogr. u. seine Bedeutung als theolog. Schriftsteller. In: Theolog. Literaturztg. 119 (1994), Sp. 745–756. Peter Fischer / Red.

Die treue Magd. – Mittelalterliche Schwankerzählung des 14. Jh.

ger heimkehrt, hält er die engumschlungen Schlafenden für eine Person u. lässt sich von der Magd über den Gast informieren, dessen Schönheit die Männer bewundern. Nun erst stellt die Magd erschrocken fest, dass die Herrin nicht in ihrem Bett liegt, begreift die Situation u. zündet heimlich die Scheune an, um die Frau vor Entdeckung zu retten. Die Männer eilen zum Löschen, die Magd weckt die Liebenden, der Ehebruch bleibt unentdeckt. Drei Tage verweilt der Student auf Wunsch des Hausherrn auf dem Hof; als Gelehrter in Paris muss er noch oft an die Frau denken. Eine bes. Nuance verleihen dem Geschehen eingebaute Elemente der Alltagsfrömmigkeit, etwa die häufige Anrufung der Patronin der Reisenden, der hl. Gertrud, die nicht nur dem sie bes. verehrenden Studenten zur Herberge verhilft, sondern auch der Magd den rettenden Gedanken eingibt. Im Schlussgebet hebt der Dichter die vorbildl. Treue der Magd hervor. Ausgaben: Friedrich Heinrich v. der Hagen: Gesammtabenteuer. Bd. 2, Stgt./Tüb. 1850. Neudr. Darmst. 1961, S. 315–331. – Ursula Schmid (Hg.): Codex Karlsruhe 408. Bern/Mchn. 1974, S. 720–729. Literatur: Stephen L. Wailes: Students as Lovers in the German Fabliau. In: Medium Aevum 46 (1977), S. 196–211, hier S. 205–209. – Hanns Fischer: Studien zur dt. Märendichtung. Tüb. 21983, S. 372 f. (Bibliogr.). – Hartmut Beckers: Die t. M. In: VL. Ulla Williams / Red.

Protagonist der in einer längeren niederdt. (624 Verse) u. einer knappen hochdt. Fassung (428 bzw. 386 Verse) anonym überlieferten Treuer, Gotthilf, * 11.2.1632 Beeskow, Reimpaarerzählung des 14. Jh. ist ein kluger † 20.3.1711 Frankfurt/O. – Evangelischer Student. Der als tugendsam u. unschuldig Prediger, Pädagoge, Verfasser eines geschilderte Jüngling befragt die Knechte Reimlexikons, Gelegenheitsdichter. seines Vaters nach ihrer Meinung über die Freuden der Welt. Einer lobt das Leben der Der Sohn des Beeskower Bürgermeisters war Fürsten, der andere die Gelehrsamkeit der mütterlicherseits mit dem Theologen u. HisGeistlichen, der dritte den Frauendienst. toriker Cyriakus Spangenberg verwandt. T. Dem Studenten erscheint die Kombination besuchte die Schule in Beeskow u. ließ sich als von Wissenschaft u. Frauendienst als erstre- Minderjähriger 1642 in die Matrikel der benswert; er lässt sich von seinem Vater nach Universität Frankfurt/O. eintragen (EidesParis schicken. Unterwegs nimmt ihn eine leistung erst als Prediger am 12.2.1675). Sein Gutsherrin trotz der Abwesenheit ihres Gat- Studium absolvierte er ab 4.6.1650 in Altdorf, ten auf, gewinnt ihren charmanten Gast lieb wo er Kasualgedichte schrieb, im Juni 1651 u. vergnügt sich in der Nacht mit ihm. Als der den Magistergrad erwarb (vgl. die EinlaHausherr morgens mit zweien seiner Schwä- dungs- u. Gratulationsschriften [Einblatt-

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Treuge

drucke]: VD17 125:011811X u. VD17 dor«); um die Aufnahme in die Fruchtbrin125:016878M) u. zum Dichter gekrönt wurde gende Gesellschaft (Brief vom 10.1.1656 an (vgl. Einblattdr.: VD17 75:696721K). 1652 Georg Neumark; Staatsarchiv Weimar) bewurde er zum Subkonrektor, ein Jahr später mühte er sich vergeblich. zum Subrektor des Berliner Gymnasiums Weitere Werke: Tetrao¯ros Xe¯te¯mato¯n sive Zum Grauen Kloster berufen u. veröffent- Quadriga quaestionum philosophicarum. Präses: lichte eine Gereimte Dicht- und Reimkunst jn Johann Paul Felwinger. Altdorf 1651. – Cornelius sechszehen langen Verßlein abgefasset (o. O. 1654). Nepos Marchicus de vitis illustrissimorum domus Seit 1660 Diakon in Beeskow, wurde er 1672 Brandenburgicae electorum actu symbolico emblePrediger an der Unterkirche, 1673 an der matico figurato [...]. Bln. 1654 (Einladungsschrift). – Mit Gottes hülfflicher Treue! Verpflantzter RauOberkirche in Frankfurt/O.; 1676 avancierte tenStamm bey Beerdigung des [...] Fürsten [...] Joer zum Archidiakon. hann Georgen des Erstens [...]. Freiberg 1656. – T.s Œuvre ist umfangreich u. weit gefä- Thesium theologiae polemicae de vera et genuina chert; er ist Verfasser zahlreicher Gelegen- institutionis coenae dominicae declaratione et fide, heitscarmina, Leichenpredigten u. Abdan- Praeside [...] Patre Wenceslao Ecker [...] e societate kungen. Aus seiner Feder stammt das Jesu Wratisl. refutationem e scriptura sacra [...] Schauspiel Bivium Herculis (Bln. 1659); 1681 partim monstravit, partim addidit, M[agister]. G. gab er anlässlich einer mehrjährigen Heu- T. Frankf./O. 1673. – Stand- u. Trost-Reden bey schreckenplage den als Bußaufruf verstande- denen christlichen Leichbedanckungen [...]. nen Traktat Die Heuschrecken wie sie in der Heil. Frankf./O. 1677. Ausgaben: Fischer/Tümpel 3, S. 503 f. – InterSchrifft, in ihrer Vermehr- und Vertilgung, in ihrer natürlichen Eigenschafft, in Historien und Sprüch- net-Ed. mehrerer Werke in: HAB Wolfenbüttel (dünnhaupt digital). wörtern betrachtet werden (Frankf./O.) heraus, Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. 1688 u. d. T. Kurtze Beschreibung der heidnischen Bd. 6, S. 4072–4082. – William Jervis Jones: GerTodten-Töpffe (Nürnb.) ein sehr erfolgreiches man lexicography in the european context. A deBuch über die in der Mark Brandenburg ge- scriptive bibliography [...]. Bln. u. a. 2000, Nr. fundenen Tongefäße. Bemerkenswert u. 1088 f. – VD 17. – Weitere Titel: Johann Friedrich häufig benutzt ist T.s in der Tradition der Bachmann: Michael Schirmer. Bln. 1859. – Jakob »poetischen Schatzkammern« stehendes Franck: G. T. In: ADB (fälschlich Wilhelm T.). – Werk Deutscher Daedalus begreiffendt ein voll- Evang. Pfarrerbuch für die Mark Brandenburg seit ständig außgefuhrtes poetisch Lexicon (Bln./ der Reformation. Bearb. Otto Fischer. Bd. II/2, Frankf./O. 1660. Bln. 21675; mit Vorrede Berlin 1941, S. 900. – Bruno Markwardt: Gesch. der 3 August Buchners). Das Bedeutungswörter- dt. Poetik. Bd. 1, Bln. 1964, Register. – Heiduk/ Neumeister, S. 109, 252, 482. – Noack/Splett, Bd. 3, buch weist 1300 Stichworte auf, die aus den S. 545–565. – Ingo Stöckmann: Vor der Lit. Eine Schriften bekannter Dichter gesammelt wurEvolutionstheorie der Poetik Alteuropas. Tüb. den. Es enthält Artikel mit »kunstrichtigen 2001. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2115–2117 Adjectiven / anmuthigen Umschreibungen / (fehlerhaft). Gabriele Henkel / Reimund B. Sdzuj zierlichen Gleichnüssen / Sprichwörtern [...] wie auch deutlichen Erläuterungen«. 1692 nahm T. im Streit um die Offenbarungen der Treuge, Lothar, * 10.11.1877 Kulmsee, Rosamunde Juliane von der Asseburg mit ei† 12.10.1920 Berlin. – Lyriker. ner Schrift (Wolmeynende christl. Warnung wider die Offenbahrungen eines adelichen Fräuleins [...]. Nach dem Besuch des humanistischen GymBln.) scharf gegen ›chiliastische Schwerme- nasiums in Danzig, das er trotz materieller reien‹ Stellung (vgl. dazu die anonyme Ge- Nöte der Familie absolvieren konnte, nahm genschrift Wohlgemeinte Erinnerung, über die T. ein Theologiestudium in Greifswald auf u. Wohlgemeinte Warnung [...]. o. O. 1692, sowie wechselte 1897 nach Berlin zum Studium der die Vertheidigungs-Schrifft der christl. Warnung Mathematik, Physik u. Chemie, allerdings Hrn. M. Treuers [...]. o. O. 1692). ohne Examina abzulegen. T. weigerte sich T. war Mitgl. des 1658 von Johann Rist zunächst, eine berufl. Laufbahn einzuschlagegründeten Elbschwanenordens (»Fideli- gen, u. versuchte, sich durch Privatstunden

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ein Einkommen zu sichern. Das bewahrte ihn des Jahres u. in der sich daraus ergebenden u. jedoch nicht vor finanziellen Schwierigkei- oft umständl. Langatmigkeit des Duktus, die ten, von denen auch die Korrespondenz mit Georges brachylog. Ideal entgegensteht. Melchior Lechter u. Friedrich Gundolf be- Georges Anerkennung fand T.s Gedicht An richtet. Eine Stellung an einer Privatschule Maximin. Triadische Totenmesse, das von ihm in gewährleistete T. eine gewisse finanzielle Si- das Maximin-Gedenkbuch (1907) aufgenommen cherheit; 1912 heiratete er Helene Adamus. wurde. Für diese Huldigung dankte T. Ge1915 wurde T. zum Kriegsdienst eingezogen orge mit einer ihm gewidmeten Tafel An Lou. aufgrund seiner naturwissenschaftl. Kom- thar. Weniger epigonal sind T.s spätere Gepetenz in einer Schallmessgruppe in Lettland eingesetzt. Nach dem Krieg arbeitete T. in dichtsammlungen: In Huldigungen vereint Berlin-Schmargendorf für das Wohlfahrts- sich eine Vorliebe für das Groteske (An ein amt, wurde Bezirksverordneter u. Gemein- Gespenst von Goya, Chor der Verfluchten) mit eideschöffe. Er trat in die Deutsche Demokra- ner Reorientierung an Shakespeare (An Horatische Partei ein. Sein polit. Engagement zio, An Horazio und seine Freundin), die T.s äswurde jedoch durch die Verschlimmerung thetizistischer Ornamentalpoetik eine tragider Lungentuberkulose eingeschränkt, an der sche Dimension verleiht (An Ophelia). Ars er bereits im Krieg erkrankt war. T. starb nach peregrina verbindet hingegen den Einfluss von Georges Baudelaire-Übersetzungen mit einer einem Kuraufenthalt im Schwarzwald. Von der Literaturgeschichtsschreibung fast präexpressionistischen Sprache – paradigvöllig vergessen u. auch in der Memoirenli- matisch dafür ist die apokalypt. Vision von teratur des George-Kreises selten erwähnt, Angelus irae u. vor allem Der Triumph des Progehörte T. zu den ersten Schülern Stefan metheus, ein Gedicht in freien Rhythmen, das Georges. Er lernte George wohl in einem in seiner Inszenierung der Titanomachie u. Kolleg bei Max Dessoir im Wintersemester des Feuerraubs des Prometheus dem expres1899 kennen. Melchior Lechter kannte T. sionistischen Drang nach starker Dynamisiehingegen bereits seit längerer Zeit, wie aus rung u. vitaler Erneuerung Ausdruck vereinem Brief von 1901 hervorgeht, u. unter- leiht. Zu erinnern ist schließlich auch an T.s hielt mit ihm zwanzig Jahre lang eine enge autobiografisch gefärbte lyr. Prosa Aus den Erlebnissen eines Lieblings der Grazien sowie an Freundschaft. Von der fünften Folge der »Blätter für die seine Übertragungen antiker Lyrik. Kunst« (1901) an, in der er als Lyriker lanciert Weitere Werke: Schule der Mathematik. 2 wurde, war T. ein regelmäßiger Mitarbeiter Bde., Bln. 1911–14. – Die Apotheose der Masse. von Georges Zeitschrift. Bis zur neunten Ebd. 1920. – Werk u. Nachl. Eingel. u. ausgew. v. Folge der »Blätter« (1910) erschienen dort Karlhans Kluncker. Amsterd. 1971. Mario Zanucchi insg. siebzig Gedichte von ihm, die er später in seine Gedichtsammlungen aufnahm: Der Traum der Trennung, Die Tempel gen Mittag, Die Trew, Abdias, * 29.7.1597 Ansbach, † 12.3. gepriesenen Inseln, Sonette, Eros Anangke, Huldioder 4.1669 Altdorf. – Evangelischer Pasgungen u. Ars Peregrina. T.s frühe Lyrik, die tor, Mathematikprofessor u. Kalenderauch George als »zu sehr abhängig« befand, steller. steht im Zeichen einer prononcierten Epigonalität. Mühelos nachweisen lässt sich diese Der Sohn des Kantors u. Pfarrers Michael Dependenz etwa an den Elegien des Jahres aus Trew (1563–1620) u. von Ottilia, Tochter des Traum der Trennung – Jahreszeitgedichten, die Diakons von Feuchtwangen Magnus Gallus, dem Jahr der Seele nachempfunden sind – oder besuchte in Heilbronn die dt. Schule u. von in den Zyklen Die Tempel gen Mittag u. Die ge- 1611 bis 1618 ebendort die Fürstenschule, wo priesenen Inseln, die dem Algabal verpflichtet sein Vater seit 1601 Konrektor war. In Witsind. T.s Lyrik unterscheidet sich allerdings tenberg schloss er das Studium der Theologie, von George in der Verwendung des eleg. Philosophie u. Mathematik am 20.3.1621 mit Distichons u. des Hexameters in den Elegien dem Magister artium ab. In Heidenheim bei

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Gunzenhausen, dann in Markt Erlbach war er 1622–1624 als Vikar bzw. Diakon tätig u. übernahm 1625 das Rektorat der Lateinschule in Ansbach. Nach dem Tod der ersten Frau, Barbara Weselius, Tochter des Pastors Georg Weselius aus Gundelsheim, am 20.7.1634 heiratete T. am 26.1.1635 Maria Ursula Geyer, Tochter des Ansbacher Kämmerers. Von den zehn Kindern aus erster Ehe erreichte Johann Adam das Erwachsenenalter. Bis 1700 als Buchbinder u. Buchhändler in Altdorf tätig, verlegte er (u. a.) das Porträt seines Vaters. Sechs der elf Kinder aus T.s zweiter Ehe erreichten das berufstätige Alter, von denen der Apotheker Christoph Trew zu Lauf u. der in Altdorf Mathematik u. Medizin studierende Sigismund Trew (1643-ca. 1669), der astronomische Gehilfe des Vaters, bes. Erwähnung verdienen. Als T. kriegsbedingt in Ansbach kein Gehalt mehr erhielt, bewarb er sich 1636 mit Erfolg um die Nachfolge des Lehrstuhls von Daniel Schwenter (1585–1636) an der Universität Altdorf. Das Observatorium, das T. schon 1637/38 (nicht erst 1657) auf einem Turm der Altdorfer Stadtmauer errichten ließ, gehört zu den ältesten Sternwarten im Reichsgebiet. Ein Quadrant, Sextant, ein Jakobsstab u. ein Fernrohr standen für Beobachtungen der Planetenstände, der Kometen von 1652, 1661 u. 1664/65 u. für Finsternisse, auch im akadem. Unterricht, zur Verfügung. Der Trewturm wurde 1657 mit einem drehbaren Dach ausgestattet u. für akadem. Himmelsbeobachtungen bis nach 1700 benutzt. Aus Dank für die Berufung des 1635 völlig verarmten Großvaters nach Altdorf schenkte Christoph Trews Sohn Christoph Jacob (1695–1769), Arzt u. Botaniker, der dortigen Akademie die Quellen zur Familiengeschichte enthaltende Sammlung Treu, die in der UB Erlangen einsehbar ist. Von der Wittenberger Studienzeit zeugen drei theolog. Disputationen, in denen T. als Respondent auftrat (gedruckt Wittenb. 1620. 1622. 21626). T.s erste selbstständige Publikation, im Untertitel ein Kurtzes musikalisches Kunstbüchlein (Rothenburg 1635), ist, ebenso wie die vierte seiner musiktheoret. Disputationen (1662), der Teilung der Intervalle auf dem Monochord gewidmet. T.s Verdienste

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um eine präzise musikal. Temperatur würdigte sein Schüler, der Musiktheoretiker u. Dichter Wolfgang Caspar Printz, 1690 in seiner Beschreibung der Edelen Sing- und KlingKunst. T.s etwa 60 akadem. Schriften decken v. a. die Fächer des Quadriviums, inklusive moderne Ingenieurswissenschaften, ab. Eine Generation vor Erhard Weigel bemühte sich T. in Lehrbüchern u. der astronomischen Tagespublizistik darum, den Laien mathematisches, astronomisches u. astrolog. Grundwissen in einfacher, an Beispielen reicher dt. Prosa zu vermitteln. Im Manuale Geometriae practicae (1636), in der dt. Geodaesia universalis: Das ist, kurtzer [...] Bericht vom Landund Feldmessen (Nürnb. 1641) u. der lat. Physica Aristotelica (ebd. 1656) empfahl er die Mathematik als Methoden- u. Grundlagenwissenschaft. Das als Vorlesungsskript konzipierte Directorium mathematicum ad cujus ductum et informationem tota mathesis [...] methodice doceri et facile disci possunt (1657) enthielt Einführungen in die Algebra, die prakt. Geometrie sowie in die Astronomie, Geografie, Optik, Musiktheorie u. Mechanik. Zwischen 1645 u. 1648 las T. auch über Militär- u. Zivilarchitektur, nachdem er 1641 ein Compendium fortificatorium publiziert hatte. Die Summa geometriae practicae (1663. 21673. 31718. 41750) ist (nach H. Gaab) T.s bedeutendster Beitrag zur Geometrie. Leibniz u. Jakob Thomasius lobten in Briefen zwischen 1669 u. 1678 wiederholt T.s Physica aristotelica (1656) wegen ihres klaren axiomat. Aufbaus. An den seit den beiden Urteilen gegen Galilei (1616 u. 1633) besonders intensiven interkonfessionellen Diskussionen über die Vereinbarkeit der empir. u. mathemat. Astronomie mit dem Wortlaut der Schrift beteiligte sich T., indem er dort, wo empir. oder mathemat. Befunde im Widerstreit mit dem Literalsinn der Schrift standen, diesen, wie übrigens andere theologisch ausgebildete Astronomen auch, zu verteidigen versuchte. Im Discursus Von Grund und Verbesserung der Astrologiae (1643) versuchte T., auf der Basis von Keplers Astrologiereform im Tertius interveniens (1609), die astrolog. Prognostik, traditionell Bestandteil der Jahreskalender, auf eine überprüfbare Grundlage zu stellen, reduzierte sie auf eine physikal. Influxusleh-

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re u. empfahl ihren physiolog. Nutzen. In der astrolog. Tagespublizistik der Jahre 1653/54 verurteilte er apokalypt. Katastrophenprognosen einer »astrologia vulgaris«, mit der Kalendersteller wie Andrea Argoli u. Israel Hiebner im Falle der totalen Sonnenfinsternis über Nürnberg am 2./12.8.1654 den Laien grundlos Furcht einjagten. Der Nucleus Astrologiae correctae (1651) zielte auf eine mathematisch präzisere, besser handhabbare Geburtshoroskopie. T. bestritt die Bedeutung der Tierkreiszeichen, lehnte die Häuserlehre ab, hielt aber die phys. Fernwirkung planetarischer Aspekte, analog zu den Wirkungen von Sonne u. Mond, für empirisch erwiesen. T.s Kometenschriften von 1652, 1661 u. 1665 leiteten zur exakten Beobachtung der Bahn, Höhe u. phys. Beschaffenheit der Kometen an u. wollten der Lehre Tycho Brahes, wonach Kometen supralunare Himmelskörper sind, auch bei Laien zur Durchsetzung verhelfen. In seiner Astrologia medica hoc est de scientia (1663) u. verschiedenen iatromathemat. Schriften (etwa Compendium compendiorum astronomiae & astrologiae [1660]; Practica universalis [1660]) empfahl er, indem er die galenische Humoralpathologie auf Nerven u. Muskeln ausdehnte, den Ärzten, Badern u. Barbieren, sich in Therapie, Hygiene u. Diätetik nach den Angaben seiner Kalender zu richten u. auf den phys. Einfluss des Mondes u. der Planeten Rücksicht zu nehmen, wogegen die Nürnberger Stadtärzte protestierten. T. bekämpfte – in der Tradition der Altdorfer Naturphilosophie – die paracels. Medizin als Vermischung von Astrologie mit Magie. Von 24 Schreibkalendern der Jahre 1642 bis 1665 sind (seit 1646) 20 Jahrgänge erhalten. Die früheren Schreib-Kalender (Nürnberg: Endter 1642) übten in meteorolog. u. polit. Prognostik größere Zurückhaltung als die späteren. 1654 ging T. als offizieller Nürnbergischer Kalenderschreiber mit den angeblich haltlosen astrolog. Prognostiken in den Kalendern seines Hauptkonkurrenten Marcus Freund (1603–1662) ins Gericht u. zog sich die Kritik des Nürnberger Collegium Medicum zu. T. mischte sich in seinem Unvorgreiflichen Bedencken und Discurs, von Vergleich- und Verbesserung der Calender (Altdorf 1665) u. in seiner Herzog August d.J.

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von Braunschweig-Lüneburg gewidmeten Gründtlichen Calender Kunst (1666) in die Bemühungen um eine Kalenderreform ein, indem er vorschlug, den julianischen u. gregorianischen Kalender wenigstens in der Berechnung der Festtage zu synchronisieren u. für 1700 die Schaltregel des Gregorianischen Kalenders zu übernehmen. Seine Regel war die, dass Ostern am Sonntag zwischen dem 16. u. 22. Tag nach dem ersten Neumond nach dem Frühlingsäquinoktium zu feiern sei. Weihnachten sollte auf den gregorianischen Termin gelegt, also näher an den Termin des Wintersolstitiums gerückt werden. Wie er selbst in zwei Briefen an Herzog August d.J. bekundet, machte T. sein Unvorgreifliches Bedencken auf dem Regensburger Reichstag von 1665 den anwesenden Reichsfürsten bekannt u. wollte es auch dem Kaiser übermitteln. Sein Versuch scheiterte allerdings, mit seinem Reichs-Calender, dessen erster Jahrgang 1667 er mit Herzog Augusts Unterstützung im Lüneburger Verlag von Johann u. Heinrich Stern Seligen Erben publizierte, seine bescheidenen, als vorläufig eingeschätzten Reformideen zu propagieren. Ausgaben: Grundriss der verbesserten Astrologie (1651). Bearb. v. Josef Fuchs. Diessen vor München 1927. Mössingen 1996 (modernisierter Text). – Internet-Ed. mehrerer Werke in: http:// books.google.de. Literatur: Bibliografien: Hanspeter Marti: Philosoph. Dissertationen dt. Universitäten 1660–1750 [...]. Mchn. u. a. 1982, Nr. 8636–8642. – Wilhelm Risse: Bibliographia philosophica vetus [...]. Hildesh. 1998. – Hans Gaab: Der Altdorfer Mathematik- u. Physikdozent A. T. (1597–1669). Astronom, Astrologe, Kalendermacher u. Theologe. Ffm. 2011, S. 472–569. – VD 17. – Weitere Titel: Günther: A. T. In: ADB. – DBA. – Klaus Matthäus: Zur Gesch. des Nürnberger Kalenderwesens. Die Entwicklung der in Nürnberg gedruckten Jahreskalender in Buchform. In: AGB 9 (1969), Sp. 965–1396, hier Sp. 1063–1067. – Paul Dandorfer: Die Autoritäten in den Vorlesungsverzeichnissen der philosoph. Fakultät der Univ. Altdorf (1624–1808/09). Teil I. Diss. Erlangen-Nürnb. 1974 (Abdr. der Vorlesungsverzeichnisse, S. 107 ff.). – Kurt Pilz: 600 Jahre Astronomie in Nürnberg. Nürnb. 1977, S. 278–281. – Jürgen Schneider: A. T., Mathematum & Physices Professor Publicus meritissimus (1597–1669). In: Jb. für fränk. Landesforsch. 53 (1992), S. 119–130 (Abdr. des Nach-

Tribus

595 rufs von Rektor Lukas Friedrich Reinhart v. 16. April 1669). – Werner Braun: Dt. Musiktheorie des 15. bis 17. Jh. (= Gesch. der Musiktheorie, Bd. 8/II). Darmst. 1994, Register. – Die dt. Akademie des 17. Jh. Fruchtbringende Gesellsch. Hg. Martin Bircher u. Klaus Conermann. R. II, Abt. C, Bd. 2, Tüb. 1997, Register. – Hans Recknagel: Die Nürnbergische Univ. Altdorf u. ihre großen Gelehrten. o. O. [Altdorf] 1998, S. 116–125. – Wilhelm Schmidt-Biggemann, Walter Sparn u. Wolfgang Rother: Die Schulphilosophie. In: Ueberweg, 17. Jh., S. 392–587 u. Register, bes. S. 395 u- 469. – Claudia Brosseder: Im Bann der Sterne. Caspar Peucer, Philipp Melanchthon u. andere Wittenberger Astrologen. Bln. 2004, 296–299. – Hans Gaab: A. T. [...]. In: Arithmet. u. algebraische Schriften der frühen Neuzeit. Hg. Rainer Gebhardt. AnnabergBuchholz 2005, S. 341–352. – SL: A. Treu. In: MGG 2. Aufl. Bd. 16 (Pers.), Sp. 1034 f. – H. Gaab: Der Kontakt von A. T. mit Hzg. August v. Braunschweig-Lüneburg. In: Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Hg. Klaus-Dieter Herbst u. a. Ffm. 2009, S. 225–240. – H. Gaab 2011 (s. oben). Barbara Mahlmann-Bauer

Tribelhorn-Wirth, Hanne, * 2.9.1901 Bern, † 10.5.1961 Heiligenschwendi/Kt. Bern. – Erzählerin u. Kinderbuchautorin. Nach der Volks- u. Sekundarschule in Bern wurde T. Schülerin eines Pensionats in Sévery-Morges/Kt. Waadt u. erwarb sich anschließend ein Diplom am Haushaltungsseminar in Freiburg/Schweiz. Ab 1921 schrieb sie Feuilletons, Zeitschriften- u. Werbetexte für die Firma Maggi. 1924 heiratete sie einen Eisenbahnbeamten u. lebte mit ihm in Bern u. zuletzt in Gampelen/Kt. Bern. Zum Schreiben kam sie erst wieder, als ihre beiden Töchter erwachsen waren. 1944 erschien als Wettbewerbsbeitrag bei der Büchergilde Gutenberg Zürich ihr Romanerstling Wo fängt Jacqueline an?: ein heiteres Sommerbuch mit viel welschem Charme, das von der zunächst uneingestandenen Liebe eines verträumten jungen Mannes namens Georges zu Jacqueline, der Schwester seiner verstorbenen Braut Bluette, handelt u. viel Tiefes u. Wahres in einem leichten, sprachlich nicht immer ganz lupenreinen Parlando versteckt. Die Fortsetzung Ende und Anfang (Zürich 1946) liefert auf feinsinnig-wehmütige Weise jene Liebesge-

schichte zwischen Georges u. Bluette nach, auf die der erste Roman neugierig macht. Der Humor u. die spielerische Leichtigkeit, die T.s Romane auszeichnen, kamen bes. auch ihren zeitweise sehr erfolgreichen Jugendbüchern zugute: Vermisst wird Peter Perello (ebd. 1944), Waterproof & Co. (Aarau 1948), Ein Mann namens Martin (Zürich 1954). Charles Linsmayer

Tribus, Max, * 4.1.1900 Fügen/Zillertal, † 1.5.1983 Innsbruck. – Verfasser historischer u. religiöser Dramen. T., Spross einer Tiroler Richterfamilie, schlug nach den Gymnasialjahren in Hall u. Innsbruck die Laufbahn eines Finanzbeamten ein. Sein eigentl. Interesse galt schon früh dem Theater. Er trat zunächst als Initiator u. Spielleiter von Bühnen u. Festspielen hervor, so der Altdeutschen Volks- und Märchenspiele in den frühen 1920er Jahren in Innsbruck u. der Feldkircher Festspiele 1929–1935. Mit der Rückkehr nach Innsbruck 1939 begann T.’ literar. Schaffen. Den meisten seiner Werke liegen histor. Stoffe aus der Tiroler Geschichte zugrunde, u. immer wieder stehen außergewöhnl. Charaktere, wie etwa der Astronom u. Landvermesser Peter Anich (Innsbr. 1942) oder der Erfinder der Nähmaschine Josef Madersberger (ebd. 1943), im Mittelpunkt. Figureninventar, szen. Anlage u. die mundartl. Sprache der Dramen verweisen auf die Tradition des Volkstheaters. T.’ Werk wird getragen von einer Haltung christl. Humanität. Seine Tiroler Variante des Jeanne d’Arc-Stoffs, Das Mädchen von Spinges, musste nach der Uraufführung im Innsbrucker Landestheater 1942 wegen der pazifistischen Wendung vom Spielplan gestrichen werden, erwies sich aber später als eines seiner erfolgreichsten Stücke. Weitere Werke: Franz v. Defregger – Der gefälschte Guldenzettel. Graz 1941. – Jesus v. Nazareth, der Messiaskönig. Innsbr. 1946. – Das Notburgaspiel. Mchn. 1950. – Maximilian I. Fürst u. Kaiser. Innsbr. 1959. Literatur: Wilhelm Bortenschlager: Mysterienu. Festsp.e. Adolf Innerkofler, M. T. u. Hermann Kuprian. In: Ders.: Tiroler Dramen u. Dramatiker im 20. Jh. St. Michael 1982. Volker Busch

Trierer Floyris

Trierer Floyris. – Fragmentarischer Versroman, um 1170.

596 Ausgabe: Gilbert de Smet u. M. Gysseling: Die T. F.-Bruchstücke. In: Studia Germanica Gandensia 9 (1967), S. 157–196. Literatur: Gilbert de Smet: Der T. F. u. seine frz. Quelle. In: FS Ludwig Wolff. Neumünster 1962, S. 203–216. – René Perennec: Le T. F., adaptation du roman de Floire et Blancheflor. In: EG 35 (1980), S. 316–320. – Johannes H. Winkelman: Zum T. F. In: Neoph. 66 (1982), S. 391–406 (Lit.). – Verena Schäfer: Flore u. Blancheflur. Textversionen u. die verschiedenen Illustrationen bis ins 19. Jh. Mchn. 1984. – G. de Smet: T. F. In: VL. Anette Syndikus / Red.

Der sog. T. F., die erste dt. Bearbeitung des beliebten Stoffs, entstand im niederrheinischmaasländ. Raum, nach neuesten sprachgeschichtl. Untersuchungen im niederfränk. Grenzgebiet. Erhalten sind 368 Verse aus dem Schlussteil des Romans; zwischen den 16 Bruchstücken einer Handschrift sind jeweils etwa 80–85 Verse ausgefallen. Floyris kommt auf seiner Suche nach Blantscheflur zu einem Brückenpächter nach Babylon; dieser rät ihm, wie er zu seiner Geliebten gelangen kann, die der König gefangen hält. Trierer Osterspiel u. Marienklage. – Tatsächlich gelingt es Floyris, den Turm- Spätmittelalterliche geistliche Spiele, erswächter als Helfer zu gewinnen; die Wieder- te Hälfte des 15. Jh. aufgeschrieben. vereinigten werden jedoch vom König ent- Die T. M. u. das T. O., die in der ersten Hälfte deckt u. zum Tode verurteilt. Die Interventi- des 15. Jh. von einem unbekannten Verfasser on der Fürsten kann das verhindern. Im offenbar anhand einer älteren Vorlage aufgeletzten Fragment ist Floyris’ Abreise er- zeichnet wurden, stehen in enger Verbindung wähnt; die vorangegangene Hochzeit – wie miteinander. Während die T. M. die Feier des andere verbindende Erzähleinheiten – ist Karfreitags beschließen sollte, bildete das in nicht überliefert (zum übrigen Inhalt vgl. den der Handschrift unmittelbar folgende OsterArtikel »Konrad Fleck«). spiel den Auftakt der OstersonntagsfeierlichDer fragmentar. Zustand erschwert die keiten. Aufführungsort beider Spiele dürfte Beurteilung. Von der häufig postulierten hö- der Innenraum einer (Kloster-)Kirche gewefisch-didakt. Tendenz ist im erhaltenen Text sen sein. wenig zu bemerken: Schon in der frz. FasDie T. M., in der Maria, Johannes, Petrus u. sung fehlt die ritterl. Bewährung des Helden; Christus als einzige Darsteller fungieren, beim T. F. wird darüber hinaus nichts von der ginnt mit einer langen Klage der Mutter höf. Bildung der Protagonisten gesagt, sämtl. Gottes u. der beiden Jünger, nach der sie sich beschreibenden Partien (so die Schilderung zum Kreuz begeben. Es folgen weitere Klader exemplarischen Schönheit des Paars) sind gegesänge Marias angesichts des Gekreuzigzurückgedrängt, u. sogar das Minnegespräch ten, dessen Bitte an Johannes, sich ihrer anbeim Wiedersehen entfällt. – Insgesamt zunehmen, die Kreuzesworte Christi u. erzeichnet der Verfasser die Morgenländer, bes. neute Klagestrophen. Für Spieltext u. -aufbau den Turmwächter, freundlicher u. menschli- hat der Bearbeiter die Vorlage benutzt, auf cher: Dieser erhält Züge des entgegen- die auch die in das Alsfelder Passionsspiel einkommenden Brückenpächters, indem das gebettete Marienklage zurückgeht, doch hat freundschaftl. Gespräch mit jenem in die er im Gegensatz zum Alsfelder Redaktor spätere Episode übertragen wird. Ob sich der versucht, »eine Marienklage aus dem RahMaasländer dabei auf die »version aristocra- men eines Passionsspiels wieder in ein eitique« selbst oder auf eine frühere, zu re- genständiges ›Drama‹ zu verwandeln« (Henkonstruierende Fassung derselben stützt, ist nig), d. h. sie auf eine dem Kirchenraum geumstritten. – Der T. F. selbst hatte keine mäße Aufführungsform zu reduzieren. greifbare Nachwirkung; am Beginn der ReAuch das T. O. stellt wohl den Versuch eizeption frz. Literatur nimmt er jedoch zu- ner solchen Reduktion dar. Es umfasst lesammen mit den Werken Heinrichs von diglich den Grabbesuch der drei Marien (die Veldeke u. Eilharts von Oberg eine wichtige sog. Visitatio), die Rückkehr Maria Magdalenas zum Grab u. ihre Begegnung mit Christus Position ein.

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in Gestalt eines Gärtners sowie einen unmittelbar an die anwesenden Zuschauer gerichteten Epilog, in dem Maria Magdalena die Auferstehung Christi u. die damit verbundene Erlösungsfunktion verkündet u. bekräftigt. Das Spiel schließt mit der vom »cantor« angestimmten Ostersequenz »victimae paschali«. Ausgaben: August Heinrich Hoffmann v. Fallersleben (Hg.): Marienklage (u. T. O.). In: Fundgruben für Gesch. dt. Sprache u. Lit. 2 (1837), S. 259–279. – Ursula Hennig u.a. (Hg.): Trierer Marienklage u. Osterspiel: Codex 1973/63 der Stadtbibl. Trier. Göpp. 1990. – Trierer Marienklage: Wackernagel 2, S. 347–352, Nr. 510. – Trierer Osterspiel: Richard Froning: Das Drama des MA. Bd. 1. Stgt. 1891, S. 49–56. Neudr. Darmst. 1964. – Eduard Hartl: Das Drama des MA. Bd. 2, Lpz. 1937, S. 48–58. Neudr. Darmst. 1964. Literatur: Anton Schönbach: Über die Marienklagen. Graz 1874. – Hanns Ott: Personengestaltung im geistl. Drama des MA. Diss. Bonn 1939. – Arnold Geering: Die Nibelungenmelodie in der T. M. In: Ber. über den Internat. Musikwissenschaftl. Kongreß Basel 1949. Basel 1949, S. 118–121. – Ruprecht Wimmer: Deutsch u. Latein im Ostersp. Mchn. 1974, S. 167–174. – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Ebd. 1986. – Hansjürgen Linke: Drama u. Theater. In: Die dt. Lit. im späten MA. Hg. Ingeborg Glier. Tl. 2, ebd. 1987, S. 182 f. – Ursula Hennig: T. M. u. O. In: PBB (1988), S. 63–77. – Andreas Traub: Zur Musik der T. M. u. des T. O. In: ebd., S. 78–100. – Ulrich Mehler: T. M. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – U. Hennig: T. O. In: VL. – U. Mehler: Marienklagen. Bd. 1 u. 2. Amsterd./Atlanta 1997. – Michael Embach: Trierer Literaturgesch. Das MA. Trier 2007. Bernd Neumann / Red.

Trierer Silvester. – Fragmente einer mitteldeutschen (rheinfränkischen? hessischen?) Legendendichtung, um 1170. 858 Verse (von ca. 3000) der Dichtung, entstanden ca. 1170 auf der Grundlage des Konstantin-Silvesterabschnitts der dt. Kaiserchronik (dort 2826 Verse), sind in einer um 1200 geschriebenen Trierer Sammelhandschrift geistlich-weltl. Inhalts überliefert, aus deren Bestand auch Bruchstücke einer Ägidiuslegende u. des Trierer Floyris erhalten blieben.

Trierer Silvester

Um Kaiser Konstantin vom Aussatz zu heilen, soll ihm ein Bad im Blut unschuldiger Kinder bereitet werden. Als Konstantin den Jammer der Mütter seiner Opfer sieht, rührt ihn menschl. Erbarmen, u. er verzichtet auf die Heilung. Doch Papst Silvester, auf den ihn die Apostel Peter u. Paul in einem Traum hingewiesen haben, heilt ihn im Bad der Taufe. Darauf führt Konstantin das Christentum als Staatsreligion ein u. regelt die Verhältnisse des Reichs mit Silvester neu. Durch die Einführung des Christentums gerät er in Konflikt mit seiner jüd. Mutter Helena. Zur Schlichtung wird ein großer Religionsdisput zwischen Silvester u. gelehrten Vertretern des Heiden- u. Judentums anberaumt, an dessen Beginn die Fragmente abbrechen. Nach der Kaiserchronik bleibt Silvester im Disput überlegen u. siegt zuletzt, indem er einen von einem seiner Gegner durch Zauber getöteten Stier durch sein Gebet wieder zum Leben erweckt. Juden u. Heiden bekehren sich. Auch Helena wird Christin. Auf einer Wallfahrt nach Jerusalem findet sie das Hl. Kreuz wieder; in die Kaiserstadt Trier zurückgekehrt, stattet sie diese reichlich mit Reliquien aus. So ist die Silvesterlegende mit dem lokalen Kultbrauchtum Triers verbunden. Nach einiger Zeit verlässt Konstantin Rom wegen einer Hungersnot. Er überlässt Stadt u. Reich der Statthalterschaft des Papstes u. gründet auf göttl. Traumgeheiß Konstantinopel. (Die Konstantinische Schenkung bleibt in den S.-Fragmenten unerwähnt.) Silvester bezwingt schließlich gewaltlos u. auf wundersame Weise einen Drachen, der das röm. Christenvolk bedroht. In den Trierer Fragmenten ist der Text sicher als Bearbeitung der KaiserchronikFassung anzusprechen. Die Forschung, die sich überwiegend mit der schwierigen Frage nach den lat.-griech. Silvesterquellen der Kaiserchronik befasst hat, lässt außer Betracht, ob dem T. S. zusätzlich eine ältere triererischdt. Fassung der Legende zugrunde liegt, die ihrerseits von der Kaiserchronik überarbeitet wurde. Die erhaltenen Bruchstücke des T. S. könnten dann wiederum eine Modernisierung der älteren dt. Fassung auf der Grundlage der Kaiserchronik sein.

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Ausgaben: Max Roediger: Trierer Bruchstücke III. Silvester. In: ZfdA 22 (1878), S. 145–209 (mit Komm.). – Der T. S. Hg. Carl Kraus. Hann. 1895. Neudr. Mchn. 1968. (MGH Dt. Chroniken I). Literatur: Francis G. Gentry: Bibliogr. zur frühmhd. geistl. Dichtung. Bln. 1992, Nr. 380–392. – Carl Kraus: Einl. zur Ausg. a. a. O. – Ernst Friedrich Ohly: Sage u. Legende in der Kaiserchronik. Münster 1940, S. 165–171. – Eberhard Nellmann: Zum T. S. In: ZfdPh 85 (1966), S. 48 f. – Karin Schneider: Got. Schr.en in dt. Sprache I. Wiesb. 1987, S. 118 f. – E. Nellmann: T. S. In: VL. Ernst Hellgardt

Triller, Daniel Wilhelm, * 10.2.1695 Erfurt, † 22.5.1782 Wittenberg. – Mediziner; Lyriker, Fabeldichter, Übersetzer. Der Sohn eines Erfurter Mathematik- u. Literaturprofessors verlor früh seine Eltern u. wuchs bei einem Verwandten auf. Er besuchte das Gymnasium in Zeitz u. nahm 1713 das Studium der schönen Wissenschaften in Leipzig auf, wo ihm Mencke den Polyhistorismus vermittelte, der zu Beginn des 18. Jh. in Leipzig noch bodenständig war. 1714 schrieb T. sich für das Medizinstudium ein u. beschäftigte sich seitdem gleichzeitig mit medizinisch-naturwissenschaftl. u. literarisch-geisteswissenschaftl. Themen. So ist es bezeichnend, dass er sich auf dem die beiden Bereiche verbindenden Gebiet der Medizingeschichtsschreibung verdient gemacht hat, namentlich mit Veröffentlichungen zu dem von ihm hochgeschätzten Hippokrates. Sein Studium schloss er 1718 mit der Promotion ab, nachdem er 1716 den Magistergrad erworben hatte. 1720 ging er als Landarzt nach Merseburg, heiratete eine Apothekerstochter u. führte nach dem Tod des Schwiegervaters die Apotheke selbst. Nach dem Tod seiner ersten Frau 1729 wurde er Leibarzt des Erbprinzen von Nassau-Saarbrücken. Die häufigen Reisen mit dem Erbprinzen, u. a. in die Schweiz, nach Straßburg, Paris u. Holland, nutzte T., um gelehrte Kontakte zu knüpfen u. sich geistig weiterzubilden. 1734 heiratete er die 20 Jahre jüngere Henriette Thomä († 1751). Als Leibarzt u. Hofrat zog er 1745 nach Weißenfels u. 1746 nach Dresden, bis sein rastloses berufl. Wanderleben schließlich mit

der Ernennung zum Medizinprofessor in Wittenberg 1749 zur Ruhe kam. T.s erste literar. Publikation ist die Übertragung eines christl. Trauerspiels von Hugo Grotius (Hugonis Grotii leidender Christus. Lpz. 1723), die T. mit dem Urtext, erklärenden Anmerkungen u. mit Passionsandachten ergänzte. Der stark theolog. Bezug kehrt in der Folgezeit im dichterischen Werk T.s immer wieder. Orientiert hat er sich hierbei an seinem großen Vorbild Brockes, dem er seine ersten Werke widmete. Brockes’ physikotheolog. Weltsicht, die die Existenz Gottes in der Schönheit der Natur u. in deren Nützlichkeit für den Menschen bestätigt sieht, bestimmt T.s umfangreichstes Werk, die Poetischen Betrachtungen, über verschiedene aus der Natur- und Sittenlehre hergenommene Materien (6 Bde., Hbg. 1725–55). Ein weiteres Kennzeichen der Poetischen Betrachtungen ist die Darstellung medizinischer Sachverhalte in literar. Form, also die Verbindung von T.s poetischer Neigung mit seiner naturwissenschaftl. Ausbildung, ein Verfahren, das er später auch in separaten Lehrgedichten anwandte (Geprüfte Pockeninoculation ein Physicalisch-moralisch Gedicht [...]. Ffm./Lpz. 1766. Gedicht von der Veränderung der Arzneikunst. Wittenb. 1768). In die Fahrwasser des literar. Streites, der zwischen Gottsched u. den Zürchern Bodmer u. Breitinger seit 1740 ausgetragen wurde, geriet T. mit seinen Neuen Aesopischen Fabeln, worinnen in gebundener Rede allerhand erbauliche Sittenlehren und nützliche Lebensregeln vorgetragen werden (Hbg. 1740. Erw. 1750), denen 1737 eine theoret. Erörterung zum Thema Fabel (in: Poetische Betrachtungen. Bd. 2, S. 548 ff.) vorausgegangen war. In der stark polarisierenden Zeit fassten die beiden Schweizer die Fabeln als einen Affront u. a. gegen ihre Theorie der Verbindung des Wunderbaren mit dem Wahrscheinlichen auf. So galt T. in der Folgezeit in der literar. Diskussion als Parteigänger Gottscheds, war es aber allein schon wegen seiner engen Anlehnung an Brockes nur eingeschränkt. Doch die Heftigkeit des Streites ließ auch T. polemisch werden, u. er verfasste das »HeldenGedicht« Der Wurmsaamen (3 Bde., Ffm. 1751–52), worin er in Hexametern Bodmers

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Patriarchendichtungen u. deren Vorbild, – Otto Klein: Gymnasium illustre Augusteum zu Weißenfels. Bd. 1, Weißenfels 2003, S. 129–133. – Klopstocks Messias, parodierte. Die unversöhnl. Polemik zwischen Leipzig Ferdinand van Ingen: Hugo Grotius’ ›Tragoedia u. Zürich machte es auch unmöglich, ge- Christus Patiens‹ (1608), Johann Klajs Bearbeitung (1645) u. D. W. T.s Übers. (1723). In: Regionaler meinsame literar. Interessen zu pflegen, z.B. Kulturraum u. intellektuelle Kommunikation v. die Edition der Dichtungen Martin Opitz’. So Humanismus bis ins Zeitalter des Internet. FS kamen zwei konkurrierende Ausgaben fast Klaus Garber. Hg. Axel E. Walter. Amsterd. u. a. gleichzeitig auf den Markt: Der eine Band, 2005, S. 873–911. – Lidija Pichtownikowa: Synerden die Zürcher 1745 herausgaben, hat ein gie des Fabelstils. Die dt. Versfabel vom 13.-21. Jh. für die Zeit ungewöhnlich hohes textkrit. Aachen 2008. Felix Leibrock / Red. Niveau, blieb aber Fragment; die von T. besorgte Ausgabe (Martin Opitzens Teutsche Gedichte, in vier Bände abgetheilet, von neuem sorg- Triller, Valentin, * um 1493 Guhrau fältig übersehen, allenthalben fleißig ausgebessert, (Góra)/Niederschlesien, † 1573 (?) Obermit nöthigen Anmerkungen erläutert. Ffm. 1746) panthenau (?). – Theologe, Kirchenliedsteckt textkritisch gesehen voller Mängel u. dichter. ist im Kommentar schwach (vgl. das hauptsächlich von Breitinger verfasste Pamphlet T. erscheint 1511 in der Matrikel der UniDer gemißhandelte Opiz in der Trillerischen Aus- versität Krakau u. ist, vermutlich nach Konfertigung seiner Gedichte. o. O. 1747), war aber version, 1555–1573 als evang. Pfarrer in auf dem Buchmarkt offensichtlich erfolgrei- Oberpanthenau bei Nimptsch (Niemcza) nachgewiesen. T. gab das erste schles. Gecher als die Zürcher Ausgabe. Weitere Werke: Der sächs. Prinzenraub [...]. sangbuch heraus: Ein schlesisch Singebüchlein Ffm. 1743 (Verserzählung). – Klage- u. Trauerge- aus göttlicher Schrifft (Breslau 1555; u. d. T. Ein dichte über das Absterben seiner Henriette. Wit- christlich Singebuch, fur Layen und Gelerten, Kin2 tenb. 1752. – Ein Arzt v. vier u. siebzig Jahren er- der und alten. Ebd. 1559). Es enthält 90 einlebet heut sein Doctorfest, [Wittenberg den 2 Au- stimmige Melodien, sieben in zweistimmigust 1768] das Gott ihm glücklich feyern läßt, als gem u. 43 in dreistimmigem Tonsatz. funfzig Jahr vollendet waren, [Halle den 2 August Die 145 reformatorisch geprägten Liedtex1718.]. Wittenb. o. J. (1768). te verfasste T. wohl selbst. Lieder Luthers Ausgaben: Diätetische Lebensregeln oder Be- kommen nicht vor, jedoch in luth. Gesanglehrung, wie es anzufangen, ein hohes Alter zu er- büchern gedruckte Lieder nach lat. Hymnen langen [...]. Hg. u. eingel. v. Heinrich Schipperges. u. Sequenzen sowie vorreformator. Lieder in Aachen 2000. – Internet-Ed. der meisten Texte in: eigenen Fassungen. Vielleicht wollte T. so Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. »eine schlesische Liedtradition gegen die 2007. Wittenberger [...] stellen« (Zahn). Die Lieder Literatur: Catalogus Bibliothecae D. W. Trilleweisen unterschiedl. Vers- u. Strophenformen ri. Wittenb. 1783. – Erich Schmidt: D. W. T. In: ADB. – Rüdiger Lorentzen: D. W. T. u. seine auf, es begegnen Dreireime u. komplizierte ›wahrhaft hippokratischen‹ Freunde [...]. Diss. Reimschemata. Kein Text T.s kam in evang. med. Gött. 1964. – Leif Ludwig Albertsen: Das Gesangbücher; auf kath. Seite nahm Johann Lehrgedicht [...]. Aarhus 1967, Register. – Walter Leisentrit 39 Lieder in sein Gesangbuch (1567 Schatzberg: Scientific themes in the popular lite- u. ö.) auf, die wiederholt nachgedruckt wurrature and the poetry of the German Enlighten- den. Michael Praetorius übernahm elf Lieder ment, 1720–1760. Bern 1973. – Elisabeth Her- u. Melodien in die Musae Sionae VII (1609). brand: Die Entwicklung der Fabel im 18. Jh. [...]. Nicht sehr verbreitet, bleiben beide – in Wiesb. 1975. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 31, den Liedern übereinstimmende – Ausgaben S. 370. – Hans-Georg Kemper: Dt. Lyrik der frühen als Sammlung anderweitig nicht erhaltener Neuzeit. Bd. 5/2, Tüb. 1991, Register. – Gisela Melodien u. als älteste Quellen für eine Reihe Dehmel: Die Arzneimittel in der Physikotheologie. Mit einem Geleitwort v. Fritz Krafft. Münster 1996. heute noch bekannter Dichtungen u. vorre– Theorien zu Fabel, Parabel u. Gleichnis. Hg. formator. Kirchenweisen bedeutsam. Reinhard Dithmar. Ludwigsfelde 2000, S. 244–251.

Ausgabe: Wackernagel, Bd. 4, S. 19–82.

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Literatur: Johannes Zahn: V. T. In: ADB. – Ders.: Die Melodien der dt. evang. Kirchenlieder. Gütersloh 1889–93, passim. – Hellmuth Eberlein. V. T. u. sein schles. Singebüchlein. In: Jb. für schles. Kirche u. Kirchengesch. N. F. 34 (1955), S. 48–59; N. F. 35 (1956), S. 22–30. – Johannes Kulp: Sonderbd. [zum Hdb. zum EKG]. Gött. (auch Bln.) 1958, Register. – Konrad Ameln: V. T.s Bekenntnis. In: Jb. für Liturgik u. Hymnologie 16 (1971), S. 163–169. – Joachim Stalmann: V. T. In: Bautz. – Gunter Kennel: V. T. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 1999 (22001), S. 329. – Wer ist wer im Gesangbuch? Hg. W. Herbst. Gött. 2001, S. 329. – Martin Elste: V. T. In: New Grove. – André Schnyder: Das geistl. Tagelied des späten MA u. der frühen Neuzeit. Textslg., Komm. u. Umrisse einer Gattungsgesch. Tüb. 2004. – Anna Man´ko-Matysiak: Schles. Gesangbücher 1525–1741 [...]. Wrocl/aw 2005. – Joachim Stalmann: V. T. In: MGG 2. Aufl. Bd. 16 (Pers.), Sp. 1048 f. (Lit.). Klaus Düwel / Red.

Trips, Franz Xaver, * 30.3.1630 Köln, † 16.9.1696 Bad Honnef. – Pfarrer, neulateinischer Poet. T. besuchte in Köln das Trikoronaten-Gymnasium. 1645 war er in der Universität Köln immatrikuliert u. trat am 22.4.1648 in die Societas Jesu in Köln ein. 1658 wurde er in Hildesheim zum Diakon geweiht u. empfing die Priesterweihe. Nach seinem letzten Gelübde 1660 in Düsseldorf verließ T. auf eigenem Wunsch den Jesuitenorden. Am 8.12.1667 trat er die Nachfolge seines Onkels Durandus Fingerhut als Pfarrer von St. Viktor zu Xanten an. Von Philipp Wilhelm, dem Herzog von Jülich-Berg, nach Honnef gerufen, musste er dort miterleben, wie der Ort in den Holländischen Krieg (1672–1678) hineingezogen wurde u. die Truppen Turennes 1672 durch das Herzogtum Berg zogen. Erzbischof u. Kurfürst Maximilian Heinrich entdeckte ihn u. berief ihn 1682 als Kaplan u. Bibliothekar an seine Residenz in Bonn. Nach Maximilians Tod kehrte T. 1688 nach Honnef zurück. Dort konnte er beobachten, wie frz. Truppen Honnef in Brand steckten. Kirche, Pfarrhaus u. 200 Häuser wurden ebenso zerstört wie seine Manuskripte, Predigten u. Exzerpte aus 40 Jahren Bibliotheksarbeit. Am

23.4.1696 wurde T. zum Dechanten von Siegburg gewählt. Neben Gelegenheitsgedichten ist T.’ Bedeutung besonders darin zu sehen, dass er die zeitgenöss. Geschichte des Rheinlands sowie Europas schilderte u. kommentierte. So fühlte er sich wie sein Vorbild Ovid als geborener Dichter. Beim Essen, schlaflosen Wachen oder beim Spazierengehen drängten sich ihm Verse auf. T. hatte mit Neidern zu kämpfen. In seiner Elegie Cur author inter curas pastorales per intervalla canat beschrieb er 1679 seine Leidenschaft u. rechtfertigte sich vor seinen Nörglern, die ihn nur als Pfarrer sehen wollten. T. bezog in seinen Gedichten politisch Stellung u. sprach sich früh gegen eine franzosenfreundl. Politik der dt. Fürsten aus. Deutlich wird diese Haltung in der Europae status descriptio metrica, die zunächst am kurfürstl. Hofe eingezogen u. nicht veröffentlicht wurde. Für seine antifrz. Verse wurde er gerügt, so dass er nun anonym veröffentlichte. Das carmen Querela et Suspirium Urbis Bonnae, als Teil einer Trilogie gedacht, wurde postum gedruckt. Der Jesuit Pantaleon Eschenbrender veröffentlichte erstmals im Tyrocinium poeticum (Köln 1729. Weitere Auflagen 1745, 1763, 1775), einer Anleitung für Lateinschüler, neben einigen anderen Werken von T. in einem Anhang auch dieses Gedicht als Beispiel für gelungene Poesie. Als von Holland aus das Geschehen 1673 nach Osten verlagert wurde, zog der frz. General Turenne mit 21.000 Soldaten durch das Rheintal. In seinem Gedicht Ducatus Montensis plorans et gemens verarbeitete T. 1673 anonym die Verwüstung des Herzogtums Berg. Den zweiten Teil der Trilogie bildet das Gedicht Bonna Lamentans, das die Beschießung Bonns 1673 zum Inhalt hat; im dritten Teil lässt T. 1676 die Stadt Bonn die schlimmen Ereignisse des Jahres 1673 noch einmal ausführlicher darstellen. Weitere Werke: Lignum vitae rex arborum fagus: In salutifero et sacrosancto nomine Iesu supra omnes arbores exaltata, sive Prodigiosa SS. Nominis Jesu prope Rhenobacum in arbore fago reperta effigies, poeticis coloribus et septem Artium Liberalium suffragiis exornata. Köln 1683. – Musa genethliaca sive bene ominata nativitas, Serenissimi

601 [...] Principis Maximiliani Henrici Dei gratia Arciepiscopi Coloniensis [...] honori sacra. Bonn 1686. – CHRISTIANI HEROES IN HVNGARIA ET ALIBI ADVERSVS IVRATOS HOSTES OTOMANOS STRENVE PVGNANTES. Köln 1688. – Idea infulatae virtutis Reverendissimi et Serenissimi gloriosae et felicis recordationis Maximiliani Henrici Archiepiscopi et Electoris Coloniensis ad tumbam funeralem anathematis loco appensa. Bonn 1688. – Unediert ist der ›Tractatus historico-poeticus‹, in dem T. die Ereignisse 1688–1690 darstellt (besprochen v. Karl August Neuhausen: Urbs Bonna exusta. Eine unbekannte zeitgenöss. Darstellung der völligen Zerstörung Bonns 1689. In: Zeitgeschehen u. seine Darstellung im MA. Hg. Christoph Cormeau. Bonn 1995, S. 237–257). Ausgabe: Querela et suspirium urbis Bonnae. Text, Übers. u. Komm. v. Hermann Krüssel. In: Bonna solum felix. Bonn in der lat. Lit. der Neuzeit. Hg. Beate Czapla, Marc Laureys u. Karl August Neuhausen. Köln 2003, S. 134–173. Literatur: Uta Schmidt-Clausen: Das lat. Gedicht des F. X. T. über den Gülich-Aufstand in Köln. Hildesh. u. a. 2010. Hermann Krüssel

Tristan als Mönch. – Reimpaarerzählung des 13. Jh. In zwei Handschriften des Tristan Gottfrieds von Straßburg (R: Brüssel, 15. Jh., mit Bildern aus der Werkstatt Diepold Laubers; S*: Straßburg, 1489, verschollen) ist zwischen dem Torso Gottfrieds u. dem Schlussteil der Fortsetzung Ulrichs von Türheim ein selbstständiges Tristan-Gedicht von 2705 Versen eingetragen worden, dem der Herausgeber Paul den Titel T. a. M. gab. Der unbekannte Autor wurde aufgrund der Reimsprache ins Alemannische gesetzt. Reime, Versbau u. Stil sprechen für eine Datierung in die erste Hälfte des 13. Jh. T. a. M. gehört zum Typus der Episodengedichte des Tristanstoffs u. steht in der Tradition der Folies Tristan, ist dabei als Rückkehrschwank aber relativ schlecht in die Brüsseler Handschrift integriert, da etwa Tristans Hochzeit mit Isolde Weißhand vorausgesetzt wird, ohne dass sie in Gottfrieds Roman erzählt wurde. Der Autor kannte neben Gottfried auch Eilhart u. Hartmann von Aue; er spielt auf den Reinhard Fuchs sowie den Lanzelotstoff an.

Tristan als Mönch

Ginover will ein Treffen mit ihrem Geliebten, den man wohl als Lanzelot identifizieren kann, arrangieren u. lässt ihren Gatten König Artus ein Fest ausrufen, zu dem alle nach Ehre strebenden Ritter erscheinen u. ihre Liebste mitbringen sollen. Tristan, der bereits Isolde (Weißhand) geheiratet hat, muss dem Fest entweder fernbleiben u. an Ehre verlieren oder die Ehefrau mitnehmen u. die ferne blonde Isolde brüskieren. Schließlich zieht er mit der Gattin u. deren Bruder Keydin nach Karidol. Nachts träumt er von der Geliebten, die ihm bittere Vorwürfe macht, hält den Traum für Wirklichkeit u. flüchtet wie wahnsinnig in die Wildnis, wohin ihm sein Begleiter Kurnewal folgt. Im Wald findet er einen toten Ritter u. verfällt auf eine List: Kurnewal muss den Toten, dessen Gesicht weiter verstümmelt wird, für Tristan ausgeben, dieser taucht als Mönch in einem Kloster unter. Tief erschüttert von Tristans vermeintl. Tod, ergehen sich die Mitglieder des Artushofs in langen Klagereden u. preisen die höf. Vorbildlichkeit des Verstorbenen, während Tristan in der Mönchsverkleidung die Trauerszenerie amüsiert beobachtet. Der Tote wird schließlich zu seinem Oheim, König Marke, überführt, Tristan reist als Bruder Wit im Gefolge. Marke ist über den Tod des Neffen betroffen, bricht in Klagen aus u. bedauert sein Verhalten gegenüber den Liebenden. Isolde hingegen gibt sich nach außen zurückhaltend, erst nach expliziter Aufforderung durch Marke gibt sie ihrem tiefen Schmerz nach, küsst u. liebkost den toten Ritter, was Tristan eifersüchtig beobachtet. Da schickt er der Freundin einen Brief, um sie über die List aufzuklären, u. die beiden ersinnen einen Plan: Isolde bricht zum Schein an der Leiche zusammen, wird krank in ihre Gemächer gebracht u. schafft, indem sie nach Bruder Wit als Arzt verlangt, Gelegenheit zum Stelldichein. Nach der Liebeszusammenkunft nimmt der Verkleidete rechtzeitig vor einer Entdeckung Abschied u. kehrt als Tristan wieder in sein Erbland Parmenie zurück, womit er sich gegen die Minne u. für die Herrschaft entscheidet. Das Gedicht memoriert bekannte TristanSzenen u. knüpft an geläufige Motive der

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Stoffgeschichte an. Andererseits zeigt es mit Trithemius, Johannes, * 1.2.1462 Tritder Verkleidungs- u. Verwechslungshand- tenheim/Mosel, † 13.12.1516 Würzburg. lung Parallelen zur spätmittelalterl. – Monastischer Schriftsteller, (Literar-)Schwankliteratur. Tristan agiert als raffiniert- Historiker, Erfinder von Geheimschrifdreister Betrüger, während Isolde im Ver- ten. gleich zu Gottfrieds Roman eine passive Rolle einnimmt. Im breiten Auserzählen der To- Der aus einer Winzerfamilie stammende T. tenfeier u. der angesichts des Betrugs unan- (nach seinem Geburtsort nannte er sich latigemessen rühmenden Klagereden der Hof- nisiert stets »Tritemius«) trat nach Studien an mitglieder gestaltet der Text eine Memoria, der Universität Heidelberg 1482 als 20-Jähdie in der Trauer um den falschen Leichnam riger in das Benediktinerkloster Sponheim die in Gottfrieds Prolog vorgesehene Verge- bei Kreuznach ein u. wurde bereits 18 Monate genwärtigung der toten Liebenden ironisch später zum Abt gewählt. Unter T. wurde der kommentiert. Bemerkenswert ist die Dar- Konvent monastisch (Bursfelder Kongregatistellung von Täuschung u. Selbsttäuschung on) reformiert u. wirtschaftlich saniert; die im Bereich der Emotionen u. bei der Selbst- von ihm aufgebaute Bibliothek (mit über vergewisserung des Protagonisten, dessen 2000 Titeln) machte Sponheim bald zu einem Subjektkonstitution in einem Aushandeln viel besuchten Zentrum des dt. Frühhumasozialer Positionen u. Rollen zur Darstellung nismus. Der Abt erwarb Ruhm als Redner u. kommt. Schriftsteller im Dienst der Reform seines Ausgaben: T. a. M., dt. Gedicht aus dem 13. Jh. Ordens, v. a. aber als Verfasser der ersten geHg. Hermann Paul. In: Sitzungsber.e der Kgl. druckten Literaturgeschichte mit etwa 1000 Bayer. Akademie der Wiss.en, philosophisch-phi- Autoren von den Kirchenvätern bis zum lolog. u. histor. Classe. Jg. 1895, Mchn. 1895, ausgehenden 15. Jh. (De scriptoribus ecclesiastiS. 317–427 (Besserungen in: ebd. Jg. 1896, Mchn. cis. Mainz 1494); sein Catalogus illustrium vi1897, S. 687–691). – T. a. M. Untersuchungen u. krit. Ed. v. Betty C. Bushey. Göpp. 1974. – T. a. M. rorum Germaniae (ebd. 1495 u. ö.) ist die erste dt. Literaturgeschichte. Daneben erwarb er Mhd./nhd. Hg. Albrecht Classen. Greifsw. 1994. Literatur: Peter Strohschneider: Gotfrit-Fort- sich später einen Ruf als Historiker (Annales s.en. In: DVjs 65 (1991), S. 70–98, hier S. 83–87. – Hirsaugienses. 2 Bde., gedr. St. Gallen 1690. Hans-Hugo Steinhoff: T. a. M. In: VL u. VL (Nach- Chronicon Sponheimense u. a.), aber bei der träge u. Korrekturen). – Jan-Dirk Müller: Vergiftete Nachwelt auch als »Geschichtsfälscher«, der Erinnerung. Zu ›T. a. M.‹. In: Homo Medietas. vor wohlmeinenden Fiktionen (»Wastwald«, Aufsätze zu Religiosität, Lit. u. Denkformen des »Hunibald«, »Meginfried«) nicht zurückMenschen vom MA bis in die Neuzeit. FS Alois schreckte. Er war Freund u. KorrespondenzMaria Haas. Hg. Claudia Brinker-v. der Heyde u. Niklaus Largier. Bern u. a. 1999, S. 455–470. – Elke partner – erhalten sind 269 Briefe – hervorKoch: Selbsttäuschung u. Subjektivierung in ›T. a. ragender Vertreter des dt. Humanismus (u. a. M.‹. In: Inszenierungen v. Subjektivität in der Lit. Johannes von Dalberg, Conrad Celtis, Dietdes MA. FS Ingrid Kasten. Hg. Martin Baisch u. a. rich Gresemund, Johannes Reuchlin) u. Königst./Ts. 2005, S. 155–169. – Tobias Bulang: Mitgl. der Heidelberger »Sodalitas litteraria Tristan lacht – Betrugsszenario u. Akte des Fin- Rhenana« sowie im Dienst Kaiser Maximiligierens in ›T. a. M.‹. In: Mitt.en des Dt. Germaans u. Kurfürst Joachims I. von Brandenburg nistenverbandes 52 (2005), S. 362–378. als Verfasser von Geheimschrifttraktaten (PoChristoph Huber / Sandra Linden lygraphia, Steganographia). Seine Bücherleidenschaft, die häufige Abwesenheit von seinem Kloster u. nicht zuletzt der Vorwurf okkulter Neigungen führten schließlich dazu, dass er 1506 Sponheim mit der kleinen Abtei St. Jakob (Schottenkloster) in Würzburg vertauschen musste. Schüler u. Nachfolger fand der Vertreter eines christl. Humanismus

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v. a. unter den Mitgliedern des Benediktinerordens (Johannes Butzbach). Literatur: Isidor Silbernagl: J. T. Landshut 1868. Regensb. 21885. – Klaus Arnold: J. T. Würzb. 1970. 2., bibliogr. u. überlieferungsgeschichtlich neu bearb. Aufl. 1991 (mit Werkverz.). – Christel Steffen: Untersuchung zum ›Liber de scriptoribus ecclesiasticis‹ des J. T. In: AGB 10 (1970), Sp. 1247–1354. – J. T. ›De laude scriptorum‹ – Zum Lobe der Schreiber. Hg. u. übers. v. K. Arnold. Würzb. 1973. – K. Arnold: ›Additamenta Trithemiana‹. In: Würzburger Diözesangeschichtsbl. 37/ 38 (1975), S. 239–267. – Klaus Ganzer: Zur monast. Theologie des J. T. In: Histor. Jb. 101 (1981), S. 384–421. – Noel E. Brann: The Abbot T. (1456–1516). Leiden 1981. – K. Arnold: Humanismus u. Hexenglaube bei J. T. In: Der Hexenhammer. Hg. Peter Segl. Köln 1988, S. 217–240. – Ders.: Eine Frage der Glaubwürdigkeit – J. T. in seinen Briefen u. Selbstzeugnissen. In: War Dr. Faustus in Kreuznach? Realität u. Fiktion im FaustBild des Abtes J. T. Hg. Frank Baron u. Richard Auernheimer. Alzey 2003, S. 13–81. – Harald Müller: Habit u. Habitus. Mönche u. Humanisten im Dialog. Tüb. 2006. – Michael Embach: J. T. OSB (1462–1516) u. die Bibl. v. Kloster Sponheim. In: Zur Erforsch. mittelalterl. Bibl.en. Hg. Andrea Rapp u. M. Embach. Ffm. 2009, S. 101–135. Klaus Arnold

Tritonius, Peter, auch: Peter Treibenreif, * etwa 1465 Bozen, † etwa 1525 vermutlich Hall/Tirol. – Humanist, Komponist.

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druckten Zeugnisse des musikal. Frühhumanismus. Die Komponisten des 16. Jh. betrachteten die Odenvertonungen T.’ als Prototypen der Gattung. In dem vierstimmigen Note-gegen-Note-Satz wurden unter strenger Berücksichtigung der antiken Metren lediglich Brevis u. Semibrevis zur Rhythmisierung verwendet. Bemerkenswert ist die Verbindung der metr. Odenkomposition mit dem luth. Choral. T. ist möglicherweise der Herausgeber des ältesten bekannten gedruckten kath. Gesangbuchs, das 1524 in Schwaz u. d. T. Hymnarius: durch das gantz Jar verteutscht erschien. Ausagben: Melopoiae sive harmoniae tetracenticae [...]. Augsb. 1507. Internet-Ed. in: VD 16. – Dass. Hg. Giuseppe Vecchi. Bologna 1967. – Harmonie [...] super odis Horatii Flacci [...]. Augsb. 1507. Internet-Ed. in: VD 16. – Hoc enchiridio continentur versus quidam, quibus tenera puerorum memoria potissimum exercenda est. Schwaz 1521. Internet-Ed. in: ebd. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Rochus v. Liliencron: Die Horaz. Metren in dt. Kompositionen des 16. Jh. Lpz. 1887. – Robert Eitner: P. T. In: ADB. – Franz Waldner: P. T. u. das älteste gedr. kath. Gesangbuch. In: Monatshefte für Musikgesch. 27 (1895), S. 13–27. – Giuseppe Vecchi: Dalle ›Melopoiae [...]‹ [...] di Tritonio (1507) alle ›Geminae undeviginti odarum horatii melodiae‹ (1552). In: Memorie della Accademia delle scienze dell’istituto di Bologna. Classe di scienze morali 8. Serie 5 (1960), S. 101–124. – Worstbrock, Nr. 201. – Eckhart Schäfer: Dt. Horaz [...]. Wiesb. 1976, S. 11–13. – Martin Staehelin: Horaz in der Musik der Neuzeit. Mchn. 1981. – Joachim Draheim u. Günther Wille: Horaz-Vertonungen vom MA bis zur Gegenwart. Eine Anthologie. Amsterd. 1985. – Edith Weber: Le style ›Nota contra Nota‹ [...]. In: Jb. für Liturgik u. Hymnologie 32 (1989), S. 73–93. – Die Musik des 15. u. 16. Jh. Hg. Ludwig Finscher. Bd. 3, Laaber 1990. – Peter Bergquist (Stephen Keyl): P. T. In: New Grove. – Gundula Bobeth: P. T. In: MGG 2. Aufl. Bd. 16 (Pers.), Sp. 1053 f. Friedhelm Brusniak / Red.

T. studierte seit 1486 in Wien, seit 1497 in Ingolstadt, wo er auf Anregung seines Lehrers Celtis die Oden des Horaz vertonte. Um 1500 wirkte er als Lateinschullehrer in Tirol u. vielleicht als Musiklehrer an der Kathedralschule in Brixen (Magisterpromotion in Padua 1503). Dann wandte er sich nach Wien, wo er bis zum Tod Celtis’ 1508 blieb. Bis 1512 war er in Bozen, danach bis 1519 Lateinschulrektor in Hall. 1521 ist er in Schwaz nachweisbar, 1524 wieder in Hall. Die Bedeutung T.’ liegt in seinen Odenvertonungen, den Melopoiae sive harmoniae teTröbst, Christian Gottlob, * 25.7.1811 tracenticae super XXII genera carminum (Augsb.: Apolda, † 3.4.1888 Weimar. – Publizist, Erhart Oeglin, 1507 u. ö.). Der gesungene Übersetzer. Vortrag der Oden sollte nach Auffassung von Celtis den Schülern das Einprägen der kom- Der Sohn eines Nadlermeisters besuchte das plizierten Schemata erleichtern. Die Oden- Gymnasium in Weimar (1828–1833), wo er sammlung gilt als eines der frühesten ge- als Lieblingsschüler des Direktors regelmäßig

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Goethe das jährl. Schulprogramm überreichen durfte; in Jena studierte er Theologie, Mathematik u. Naturwissenschaften (Promotion 1839). Danach lebte T. bis 1846 als Hauslehrer in Moskau u. lernte u. a. Tolstoj u. Bodenstedt (dem er einen Verleger vermittelte) kennen. 1856 übernahm er die Leitung der Weimarer Realschule. Die Förderung fortschrittl. Erziehungsmethoden u. die dt.-russ. Kulturbeziehungen waren die Hauptthemen seiner literar. Arbeiten u. zahlreicher Predigten. T. verfasste kleinere theolog., mathemat. u. histor. Abhandlungen (u. a. Der Nordpol oder Geschichte der merkwürdigsten Reisen [...]. Weimar 1853. Der Sonnenstaat des Campanella. Programm der Realschule Weimar, 1860) u. trat als erster Übersetzer von Puschkins Novellenwerk hervor: 1840 veröffentlichte er Balkins Erzählungen (darunter auch Pique Dame), 1848 folgte Die Hauptmannstochter (beide Jena); anderes (u. a. Lermontov) erschien in Zeitschriften. Literatur: Fritz Cappeller: Erste dt. Übers. v. Puschkins Novellen. In: Wiss. Ztschr. der FriedrichSchiller-Univ. Jena 8 (1958/59), Gesellschafts- u. Sprachwiss. Reihe. H. 1, S. 161–178. – Goedeke Forts. – Cord Christian Troebst: C. G. T. (1811–1888): ein bedeutender u. geachteter Bürger Alt-Weimars. In: Weimarbrief 2007, 1, S. 50–65 (Tl. 1); 2, S. 157–173 (Tl. 2). Tl. 3 in: ebd. 2008, 1, S. 104–123. – Ders.: C. G. T. Gelehrter zwischen Weimar u. Moskau. Weimar [2009]. Cord Christian Troebst / Red.

Tröltsch, Carl Friedrich, * 11.6.1729 Weißenburg/Bayern, † 27.12.1804 Erlangen. – Verfasser von Romanen; Übersetzer. T. hat, meist anonym, ein gutes Dutzend Schriften veröffentlicht; etwa die Hälfte davon sind Übersetzungen aus dem Französischen u. Lateinischen. Manche seiner Arbeiten blieben ungedruckt, so etwa seine Materialien u. Kommentare zur fränkisch-brandenburgischen Geschichte. T. publizierte nur zwischen seinem 22. u. 37. Lebensjahr, obgleich er auf die Einnahmen aus seinen Büchern angewiesen war; ein öffentl. Amt hat er nach dem Jurastudium (ab 6.4.1747 in Erlangen) u. einer Zeit als Privatsekretär in Ansbach u. Nürnberg (bei kaiserl. Gesandten Frhr. von Widmann) nie innegehabt. Eine

Anstellung als Ratskonsulent in Weißenburg schlug er aus. Nach Jahren in Nürnberg ließ er sich um 1770 in Erlangen nieder, wo er, »ein Mann von mannichfachen Kenntnissen [...], als Sonderling und Einsiedler« (in: Allgemeine Literatur Zeitung, Halle 1805, Intelligenzblatt 14, 23.1., S. 110 f.), in geheim gehaltener Armut als Privatgelehrter bis zu seinem Tod lebte. T. begann mit Romanen, einer Gattung, die in den 1750er Jahren auf zunehmendes Interesse stieß (Der Fränkische Robinson. Onolzbach [Ansbach] 1751. U. d. T. Der Fränkische Avanturier. 1753. Geschichte einiger Veränderungen des menschlichen Lebens. Lpz. 1753. Neudr. Ffm. 1971. Geschichte eines Kandidaten. Ffm./ Lpz. [Nürnb.] 1753. U. d. T. Das Glück für Tugendhafte. 1769). So sehr sie auch in Handlungsstruktur, Themen u. Motiven der Gattungstradition verpflichtet bleiben, lassen die drei Romane doch auch T.s Anstrengung erkennen, mehr als nur stoffreiche Unterhaltung zu liefern. Sie werden von romantheoret. Vorreden begleitet, die neben T.s großer Belesenheit v. a. sein Bestreben zeigen, dem Roman als »ausübende Weltweißheit« (Vorrede zu Robinson) einen Platz im System der Gattungen zu verschaffen (Vom Nutzen der Schauspiels-Regeln bei den Romanen. In: Geschichte einiger Veränderungen, S. 3–26; S. 3–23 Nachdr. Weber: Texte). Das aus rezeptionsästhet. Gründen vertretene Programm, Personen mittleren Standes zu wählen, realisiert T. schon im Robinson, auch wenn z.T. christl. Maximen die Verbindung zwischen türk. Sklaverei u. Empirie des Lesers herstellen müssen. Die Geschichte eines Kandidaten hingegen – von Lessing als wahr u. lehrreich gerühmt (in: Berlinische privilegirte Zeitung, 1753, 83. Stück) – verlegt T. ganz in die bürgerl. Welt des 18. Jh., die er als von Geldgier, Ämterpatronage u. Lieblosigkeit geprägt darstellt. Er entwirft, die Probleme seines Standes aufgreifend, ein soziales Feld, in dem der Held sich selbst treu bleibt u. auf der Suche nach bürgerl. Glück mit seinen christlich-sittl. Maximen scheitert. T. rettet das glückl. Ende im (thematisch neuen) Konflikt zwischen Individuum u. Gesellschaft – u. damit den Roman als moralisches »System« – nur dadurch, dass er die Haupt-

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figur Freunde finden lässt, die ihr Heirat u. bürgerl. Existenz in ländl. Idylle ermöglichen. Dass T. nicht nur mit seinen Romanen ein Gespür für den literar. Markt besaß, belegen sowohl eine seiner letzten Veröffentlichungen mit dem gewollt publikumswirksamen Titel Der kluge Kapitalist (Nürnb. 1766. 21768), eine mit eigenen Zusätzen versehene Übertragung von Johann Friedrich Kobes Commentatio iuris [...] de pecunia [...] (Gött. 1761), als auch seine wohl erfolgreichste Publikation Die Frauenzimmerschule oder sittliche Grundsätze zum Unterricht des schönen Geschlechts [...]. (Frankf./Lpz. [Bamberg] 1766. 1767, 1776, 1789, 1804). Diese z. T. aus La Rochfoucaulds Maximes u. anderer Autoren übernommene u. von T. erweiterte »Sammlung kernhafter und weiser Lebensregeln« (›Vorerinnerung‹) »Zur Bildung eines edlen Herzens und Führung eines klugen Lebenswandels« (Titlblatt) – ausgegeben als das Werk einer Autorin – entfaltet das weibl. Tugendprogramm wie es die moralischen Wochenschriften entwickelt hatten, steht aber auch am Beginn der Diskussion um die Geschlechterrollen, die im Anschluss an Hippels Über die Ehe im letzten Drittel des 18. Jh. geführt wurde. Seine Übersetzungen frz. Geschichtswerke (Charles Jean François Hénault: Chronologischer Auszug der Geschichte Frankreichs. Bamberg 1760 [1759]. Nachtr. ebd. 1761. Original: Nouvel abrégé chronologique de l’histoire de la France. Paris 1744 u.ö. Louis-Gabriel du Buat-Naçay: Geschichte der alten Staatsverfassung in Frankreich, Teutschland und Italien. Bamberg 1763. Original: Les origines ou l’ancien gouvernement de la France. o. O. [Haag]) antworteten auf ein gestiegenes Interesse an europ. Politik während des Siebenjährigen Krieges. Mit Der aufgefangene Friedensbothe (Augsb. 1761) ging T. noch einen Schritt weiter. Denn mit dieser in der parteiischen Literatur zum Siebenjährigen Krieg bemerkenswerten Schrift versuchte er – sich seiner bürgerl. Stellung durchaus bewusst – als »Privatperson«, die auf »Muthmassungen« angewiesen sei, weil sie die »Geheimnisse des Kabinets« (S. 9) nicht kenne, publizistisch Einfluss zu nehmen in einer Situation, in der England u. Preußen diplomatisch aktiv wurden, um den

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Krieg zu beenden (Nov. 1760). Als bemüht unparteiischer Beobachter (S. 12) analysiert er mittels der von »Leidenschaften [...] gereinigten Vernunft« (Vorbericht) die europ. Machtverhältnisse wie die Ursachen u. den Verlauf des Krieges u. plädiert für eine antimachiavellistische Politik (Vorbericht: »Menschenblut zu schonen, solte allen christlichdenkenden Patrioten« angelegen sein). Schließlich unterbreitet er konkrete, auf einen Interessenausgleich zwischen den Staaten zielende Vorschläge, wie der Frieden wiederhergestellt werden könne (S. 46–56). T. gehörte einer Generation an, die wie Kant im Krieg den Quell aller Übel gesehen u. wie Klopstock 1790 die (vermeintl.) Absage der frz. Nationalversammlung an den Eroberungskrieg begrüßt haben dürfte. Auch mit dem Staats-Testament des Marschallen und Herzogs von Belle-Isle (Bremen 1762) – einer erstaunlich zeitnahen, mit den »Anmerkungen eines Reformierten« versehenen Übersetzung des Testament politique du Maréchal Duc [Charles Fouquet] de Belle-Isle (Amsterd. 1762. Hg. François Antoine de Chevrier), als dessen Verfasser T. Voltaire vermutet, – verbindet sich der Anspruch einer bürgerl. »Privatperson« auf polit. Meinungskundgabe. Wenngleich T. hinter der Kritik an dem »ehrsüchtigen Kriegsmann« Friedrich II. (S. 45) u. seinen ungerechten Kriegen (S. 46, 51, 56) gestanden haben mag: Entscheidender für ihn dürfte gewesen sein, dass er sich mit diesem von einem bürgerl. Denken geprägten Fürstenspiegel unter dem Aspekt der Aufgaben u. Verantwortlichkeiten eines »Fürsten« (an Hand von Beispielen aus der jüngeren europ. Staatspolitik) an der zeitgenöss. Debatte um eine vernünftige, gerechte u. zum Wohl der Untertanen Frieden gewährleistende Herrschaftsform beteiligen konnte, ohne sich als Autor zu exponieren. Weitere Werke: Vermischte Aufsätze zum Nutzen u. Vergnügen. Schwabach 1754. – Jean Baptista Labat: Reisen nach Spanien u. Welschland. Nürnb. 1758–62 (Übers.). – Herausgeber: Gellerts Unterredung mit Friedrich dem Zweyten. Bamberg 1766 [zuerst u.d.T. Auszug eines Briefes aus Leipzig vom 27. Jan. 1761. In: (anonym): Fünfter u. Sechster Brief v. G. W. Rabener u. C. F. Gellert. Lpz./Dresden 1761, S. 82–94].

Troeltsch Literatur: Hugo Friedrich: Abbé Prévost in Dtschld. Heidelb. 1929. – Lieselotte E. Kurth: K. F. T. u. der Roman der Aufklärung. In: MLN 85 (1970), S. 663–685. – Ernst Weber: Die poetolog. Selbstreflexion im dt. Roman des 18. Jh. Stgt. 1974, S. 151 ff. – Texte zur Romantheorie II (1732–1780). Mit Anmerkungen, Nachw. u. Bibliogr. v. E. Weber. Mchn. 1981, S. 154–174, 575 f. – E. Weber u. Christine Mithal: Dt. Originalromane zwischen 1680 u. 1780. Eine Bibliogr. [...]. Bln. 1983. Ernst Weber

Troeltsch, Ernst, * 17.2.1865 Haunstetten bei Augsburg, † 1.2.1923 Berlin. – Evangelischer Theologe, Philosoph, Kulturpolitiker u. politischer Publizist. T. war einer der führenden Repräsentanten des Kulturprotestantismus. Er hat die protestantische Theologie als Kulturwissenschaft des Christentums verstanden u. sie in enger disziplinärer Zusammenarbeit mit den Geistes- u. Sozialwissenschaften ausgearbeitet. Bis zum Ersten Weltkrieg legte T. ein weit gespanntes Theologieprogramm vor, in dessen Zentrum der Versuch stand, die kulturelle Mitteilbarkeit religiöser u. theolog. Gehalte in der Situation des Fin de siècle zu sichern. Von 1891 an Privatdozent in Göttingen, seit 1892 a. o. Prof. für Systematische Theologie in Bonn, wechselte T. 1894 als Ordinarius nach Heidelberg, wo er seit 1910 auch an der Philosophischen Fakultät las. Durch seine Zugehörigkeit zum Max-Weber-Kreis gewann T. Kontakte zu führenden Intellektuellen u. Literaten des Kaiserreichs. Nach dem Kriegsausbruch wurde er zu einem der wirkungsmächtigen Interpreten der kulturellen Lage Deutschlands, indem er zunehmend für eine Synthese von dt. u. westeurop. Ideengut eintrat (gesammelte Reden u. Aufsätze in: Deutscher Geist und Westeuropa. Tüb. 1925). 1914 auf den damals einflussreichsten philosophischen Lehrstuhl Deutschlands nach Berlin berufen, fasste T. in seinem – unvollendeten – philosophischen Hauptwerk Der Historismus und seine Probleme (in: Gesammelte Schriften. Bd. 3, Tüb. 1922) die geschichtsphilosophischen Traditionen Europas so zusammen, dass sie auch für die dt. Politik u. Kultur in der europ. Konfliktlage nach dem Weltkrieg wirksam werden konnten. An der

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Seite reformbereiter Intellektuellenpolitiker wie Max Weber, Walther Rathenau, Friedrich Meinecke u. Friedrich Naumann setzte sich T. schon vor 1918 publizistisch für eine demokratische Reform des Kaiserreichs ein u. reflektierte die Revolution von 1918 u. bes. die Weimarer Demokratie in einem polit. Konzept, das mit der geschichtl. Notwendigkeit der Demokratie auch die religiöse u. kulturelle Orientierungsbedürftigkeit des polit. Wandels betonte. Diese Haltung führte ihn als Kulturpolitiker in die linksliberale Deutsche Demokratische Partei, die er 1919/20 in der Preußischen Landesversammlung u. als parlamentarischer Unterstaatssekretär im Preußischen Kultusministerium vertrat. Als polit. Schriftsteller war T. einerseits einer der wichtigsten Zeitdiagnostiker der frühen Weimarer Republik u. übte z. B. auf einige der polit. Schriften Thomas Manns Einfluss aus; andererseits sah T. »in der Erzählungsliteratur den Spiegel der Zeiten« u. hat deshalb auch in seinen wissenschaftl. Schriften Weltliteratur rezipiert u. wichtige Werke der zeitgenöss. dt. Literatur als freier Mitarbeiter dt. Tageszeitungen rezensiert. Seine postum gesammelt publizierten Spektator-Briefe. Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 1918/22 (Tüb. 1924), die T. urspr. für Ferdinand Avenarius’ Zeitschrift »Der Kunstwart« schrieb, fanden aufgrund ihrer analyt. Prägnanz weite Verbreitung in der republikan. Intelligenz u. sind auch noch heute wichtige Dokumente zur geistigen Lage der Weimarer Republik. Weitere Werke: Die Absolutheit des Christentums u. die Religionsgesch. Tüb. 1902. 31929. Neudr. 1969. 1973. – Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. Mchn. 1906. Erw. 1911. 51928. Neudr. 1961. – Ges. Schr.en. 4 Bde., Tüb. 1912–25. Neudr. Aalen 1961–77. – Krit. Gesamtausg. Hg. Friedrich Wilhelm Graf u. a. Bln./New York 1998 ff. Literatur: Friedrich Wilhelm Graf u. Hartmut Ruddies: E. T. Bibliogr. Tüb. 1982. – Horst Renz u. F. W. Graf (Hg.): T.-Studien. Bde. 1, 3 u. 4, Gütersloh 1982–87. – F. W. Graf u. H. Ruddies: E. T. Geschichtsphilosophie in prakt. Absicht. In: Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit. Hg. Josef Speck. Bd. 4, Gött. 1986, S. 128–164 (mit Lit.). – Hans-Georg Drescher: E. T. Leben u. Werk. Ebd. 1991. – Max A. Myers u.

607 Michael R. LaChat (Hg.): Studies in the theological ethics of E. T. Lewiston u. a. 1991. – H. Ruddies: Histoire et the´ ologie chez E. T. Hg. Pierre Gisel. Genf 1992. – H.-G. Drescher: E. T.: his life and work. Minneapolis 1993. – F. W. Graf u. Trutz Rendtorff (Hg.): E. T.s Soziallehren. Studien zu ihrer Interpr. Gütersloh 1993. – Ulrich Platte: Ethos u. Politik bei E. T.: von der eth. Theorie zur polit. Konkretion in seiner Kriegspublizistik. Egelsbach u. a. 1995. – Wilhelm Hennis: Die spiritualist. Grundlegung der ›verstehenden Soziologie‹ Max Webers: E. T., Max Weber u. William James’ ›Varieties of religious experience‹. Gött. 1996. – Arie L. Molendijk: Zwischen Theologie u. Soziologie. E. T.s Typen der christl. Gemeinschaftsbildung: Kirche, Sekte, Mystik. Gütersloh 1996. – Johann Hinrich Claussen: Die Jesus-Deutung v. E. T. im Kontext der liberalen Theologie. Tüb. 1997. – Klaus-Gunther Wesseling: E. T. In: Bautz. – ›Die Tragödie des Reiches Gottes?‹ E. T. als Leser Georg Simmels. Gütersloh 1998. – Camille Froidevaux: E. T., la religion chre´ tienne et le monde moderne. Paris 1999. – Mark D. Chapman: E. T. and liberal theology: religion and cultural synthesis in Wilhelmine Germany. Oxford /New York 2001. – F. W. Graf (Hg.): E. T.s ›Historismus‹. Gütersloh 2001. – Horst Renz (Hg.): E. T. zwischen Heidelberg u. Berlin. Gütersloh 2001. – F. W. Graf (Hg.): E. T. in Nachrufen. Gütersloh 2002. – Wolfgang Schluchter u. F. W. Graf: Asketischer Protestantismus u. der ›Geist‹ des modernen Kapitalismus: Max Weber u. E. T. Tüb. 2005. – Byung-Oh Kang: Gesch., Gesellsch., Religion. Untersuchungen zum Methodenverständnis E. T.s. Bln./Münster 2006. – Lori Pearson: Beyond essence: E. T. as historian and theorist of Christianity. Cambridge, Mass. 2008. – Georg Pfleiderer u. Alexander Heit (Hg.): Protestantisches Ethos u. moderne Kultur: zur Aktualität v. E. T.s Protestantismusschrift. Zürich 2008. – Martin Harant: Religion – Kultur – Theologie. Eine Untersuchung zu ihrer Verhältnisbestimmung im Werke E. T.s u. Paul Tillichs im Vergleich. Ffm. u. a. 2009. – Echol Nix: E. T. and comparative theology. New York u. a. 2010. Hartmut Ruddies / Red.

Troemer, Johann Christian, auch: Der Deutsch-Franços, Jean Chretien Toucement, * um 1697 Dresden, † 1.5.1756 Dresden. – Gelegenheitsdichter u. Verserzähler. Was über T.s Leben bekannt ist, basiert weitgehend auf Rekonstruktionen aus seinen Schriften. Schenkt man diesen Glauben, so wurde T., Sohn dt.-frz. Eltern, in Dresden u.

Troemer

Nürnberg zum Buchhändler ausgebildet u. studierte dann in Wittenberg (Immatrikulation am 24.10.1718) u. Leipzig (kein Eintrag in der Matrikel). Immer wieder versuchte T., sich als Hofpoet anzudienen, insbes. dem sächs. Hof. Er schlug sich in verschiedenen Ämtern durch; so war er u. a. Alleen- u. Bauaufseher sowie Oberpostkommissar. 1728 begann er in Alexandrinern Gelegenheitsgedichte u. historisch-anekdot., nicht selten drastisch-derbe u. grobianische Verserzählungen u. Versberichte aus den europ. Hauptstädten zu publizieren (Dresden, Paris, Breslau, Wien, Petersburg). Dabei griff er auch auf die Volksliteratur zurück. Noch zu Lebzeiten veröffentlichte er – neben zahlreichen Einzeldrucken – zwei voluminöse Bände seiner Schriften. Das Dilemma dieses naiven Poeta minor war, dass er offenbar den Paradigmenwechsel zu einer bürgerlich-aufgeklärten Literaturkonzeption nicht zu begreifen u. zu vollziehen vermochte. Sein literar. Markenzeichen, das ihn in die Tradition der Alamode-Kultur einordnet, war eine eher schematisch betriebene dt.-frz. Sprachmengerei. Damit ging er auch in die Literaturgeschichte ein: Lessings Riccaut de la Marlinière in Minna von Barnhelm spricht T.s »Deutsch-Francösch«. Weitere Werke: Jean Chretien Toucement des Deutsch Franços Schrifften [...]. Lpz. 1736. Internet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. – Die Avantures von Deutsch Francos [...]. Nürnb. 1745. Nachdr. Wien 1954. – Schrifften. 2 Bde., ebd. 1772. Internet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. – Internet-Ed. etlicher Werke in: HAB Wolfenbüttel (dünnhaupt digital). Literatur: Bibliografien: Goedeke 4,1, S. 38–40. – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 6, S. 4083–4102. – Kosch, Bd. 23, Sp. 590 f. – Weitere Titel: Erich Schmidt: J. C. T. In: ADB. – Paul Albrecht: Leßing’s Plagiate. Bd. 4, Hbg./Lpz. 1891, S. 1652 ff. – David Paisey: A Dresden opera-goer in 1756. J. C. T., called ›Der Deutsch-Franzos‹. In: Music and bibliography. FS Alec Hyatt King. Hg. Oliver Neighbour. New York 1980, S. 69–88. – Wolfgang Braungart: Einer aus Eulenspiegels Verwandtschaft: Der ›DeutschFranços‹ J. C. T. In: Eulenspiegel-Jb. 24 (1984), S. 119–132. – Kerstin Heldt: Der vollkommene Regent. Studien zur panegyr. Casuallyrik am Beispiel des Dresdner Hofes Augusts des Starken. Tüb. 1997. Wolfgang Braungart / Red.

Tröster

Tröster, Johannes, * um 1425 Amberg, † 24.4.1485 (1487?) Regensburg. – Frühhumanist.

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Wie er in einem vorangestellten Brief an Vorchtenauer erklärt, verstand T. den Dialog als literar. Gesellenstück, das er auf Anregung Johannes Roths – andere Handschriften nennen den ital. Humanisten Johannes Baptista Donisius – schrieb. Enea lieferte in einem Brief vom 9.7.1454 eine durchaus positive Beurteilung. Dass T. das von Piccolomini verkörperte stilistische Ideal getroffen hatte, zeigt die Überlieferung des Dialogus: in zwei der insg. sieben Handschriften ist die Verfasserschaft Piccolomini zugeschrieben.

T. trat um 1450, nach einem im Winter 1442 in Wien aufgenommenen Studium, in die Dienste Kaiser Friedrichs III., wo er für die Erziehung des Ladislaus Posthumus mitverantwortlich war. Er schloss sich den Humanisten um Piccolomini an; 1451 wurde T. auch von Eneas mit der Ausbildung seines Neffen Francesco, des nachmaligen Pius III., betraut. Auf dem Romzug Friedrichs in den Ausgaben: Dialogus: Raimundus Duellius: gescheiterten Fluchtversuch des Ladislaus Miscellaneorum, quae ex codicibus mss. collegit, verwickelt, wurde T. 1452 sofort entlassen. liber I. Augsb. 1723, S. 227–245 (Abdr. der St. Erst 1455 kam er auf Vermittlung Eneas bei Pöltener Hs.). – Die Frühzeit des Humanismus u. Johannes Vitéz, dem Bischof von Großward- der Renaissance in Dtschld. Hg. Hans Rupprich. ein, unter, ehe er um 1457 im salzburgischen Lpz. 1938. Neudr. Darmst. 1964, S. 182–197 (Mischung v. Hss.). – Briefe: C. Höfler: Slg. v. Urkunden Bistum angestellt wurde u. (spätestens 1462) zu einer künftigen Gesch. [...]. In: Oberbayer. Armit der Propstei von Mattsee u. (1467) der chiv 4 (1843), S. 330–360, hier S. 331–336. – Georg Domherrenwürde in Regensburg ein gere- Voigt: Die Briefe des Aeneas Silvius [...]. In: Archiv geltes Auskommen fand. für Kunde österr. Geschichtsquellen 16 (1896), T.s Prägung durch den Humanismus zeigt S. 321–424, Nr. 267, 372, 439, 471, 524. – Joseph sich in seiner weit verzweigten Korrespon- Schlecht: Pius III. u. die dt. Nation. Kempten/ denz (bes. Brünn, Universitätsbibl., Cod. Mk Mchn. 1914, S. 36. – Der Briefw. des Eneas Silvius Piccolomini. Hg. Rudolf Wolkan. Abt. III/1, Wien 96, 134r-155v ; teilweise unediert), in seiner 1918. Nr. 46, 57, 131, 196. umfangreichen Sammlung von Drucken u. – Literatur: Paul Lehmann: Dr. J. T. Ein humaz.T. selbst kopierten – Handschriften (Autonist. gesinnter Wohltäter bayer. Bücherslg.en. In: graf in St. Pölten, Stiftsbibl., Cod. 69 u. ö.), Histor. Jb. 60 (1940), S. 646–663 (auch in: Ders.: bes. aber in seinem Dialogus de remedio amoris Erforsch. des MA. Bd. 4, Stgt. 1961, S. 336–352; (1454). T.s Behandlung der »Liebe als mit älterer Lit.). – Alfred A. Strnad: Francesco ToKrankheit« folgt in Disposition (Diagnose, deschini-Piccolomini. In: Röm. Histor. Mitt.en 8/9 Ursachen, Heilmittel) u. Vorlagen (Ovid u. (1964/66), S. 101–425, hier S. 120–126, 291 f. – Avicenna) durchaus mittelalterl. Traditionen. Georg Braungart: De Remedio Amoris [...]. In: AKG 62/63 (1980/81), S. 11–28. – Franz Josef Die Form der dialogischen Einkleidung alWorstbrock: J. T. In: VL. – Mariarosa Cortesi: Zur lerdings, in der T. seinem Freund Wolfgang Bücherslg. des J. T. († 1485). In: Pirckheimer Jb. für Vorchtenauer als ärztl. Ratgeber gegenüber- Renaissance- u. Humanismusforsch. 23 (2008), tritt, der rhetorisch durchgebildete Stil u. der S. 217–231. – Michaela Schuller-Juckes: J. T. als häufige Rekurs auf antike Mythologie u. früher Auftraggeber des Salzburger Buchkünstlers Bildlichkeit sind humanistisch. Besondere Ulrich Schreier. In: ebd., S. 233–245. Frank Fürbeth / Red. Bedeutung erhält der Dialog dadurch, daß in einem Vorspiel der liebeskranke Vorchtenauer in der Hoffnung, sich vor Amor verstecken zu können, die vorbeidefilierenden Hofan- Trog, Hans, * 20.1.1864 Basel, † 10.7.1928 gehörigen mustert u. dabei genaue Charak- Zürich. – Essayist, Kunst- u. Literaturkriteristiken der Wiener Humanisten gibt; T.s tiker. Verzicht auf Namensnennungen fordert den Früh vaterlos, wuchs T. in Basel auf, wo er zeitgenöss. Leser zur Dekodierung auf u. von 1882 bis zur Promotion 1887 Geschichte, macht ihn so zum Teilnehmer eines intel- Kunstgeschichte, Philosophie u. Altphilololektuellen Spiels. gie studierte. Besonders nachhaltig war die

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Schulung durch Jacob Burckhardt, dessen erster Biograf er 1898 wurde (Jakob Burckhardt. Eine biographische Skizze. Basel 1898). Seit 1887 war er Feuilletonredakteur der Basler »Allgemeinen Schweizer Zeitung« u. erwarb sich mit seiner Kunst-, Literatur- u. Theaterkritik das nötige Ansehen, um 1901 in gleicher Funktion an die »Neue Zürcher Zeitung« berufen zu werden. Mit der Wahl Alfred Reuckers zum Direktor des Stadttheaters begann in Zürich im selben Jahr eine Blütezeit des Theaters, die T. die Möglichkeit gab, sich mit der aktuellen Produktion des europ. Theaters auseinanderzusetzen. Außer für die deutschsprachige setzte sich T. auch engagiert für die welschschweizerische Literatur von René Morax, Philipp Monnier u. Gaspard Valette ein, während er als Kunstkritiker schon früh für Ferdinand Hodler eintrat. Mit seinen annähernd 5000, nie gesammelt erschienenen Artikeln war T. einer der einflussreichsten, aber auch zukunftsorientiertesten Kritiker seiner Zeit. »In Sachen des Geschmacks ist die Intoleranz mindestens so mächtig wie in denen der Gesinnung«, lautete sein Credo, »und der Kritiker kommt oft genug in die Lage, an die Einsicht eines künftigen Geschlechts Berufung einzulegen« (in: Neue Zürcher Zeitung, 30.10.1909). Literatur: Lydia Burger: H. T. als Theaterkritiker. Diss. Zürich 1955. Charles Linsmayer

Trojan, Johannes, * 14.8.1837 Danzig, † 23.11.1915 Rostock. – Journalist, Redakteur; Lyriker, Jugendschriftsteller. Als Sohn eines wohlhabenden Danziger Kaufmanns u. zeitweiligen Reichskammerabgeordneten studierte T. seit 1856 in Göttingen Medizin, später in Bonn u. Berlin Deutsche Philologie. Der Tod seines Vaters zwang ihn zum Abbruch des Studiums; erfolglose Versuche als freier Schriftsteller schlossen sich an. Einige Publikationen erregten das Interesse Glaßbrenners, auf dessen Vermittlung T. 1862 Hilfsredakteur der »Berliner Montagszeitung« wurde, 1866 Redakteur beim politisch-satir., nationalliberal ausgerichteten Berliner Wochenblatt »Kladderadatsch«. Absolute Loyalität zu Bismarcks Kurs trug T. dessen Sympathien ein u. ließ

Trojan

ihn 1886 Chefredakteur des »Kladderadatsch« werden (bis 1903). Nach Bismarcks Demission geriet T. wiederholt in Konflikt mit den Zensurbehörden, die in einer zweimonatigen Festungshaft wegen Pressevergehens u. Majestätsbeleidigung endeten (1898). 1907 mit der Verleihung des Professorentitels rehabilitiert, lebte T. seit 1909 zurückgezogen in Warnemünde. Neben satir. Arbeiten für den »Kladderadatsch« publizierte T. feuilletonistische Plaudereien (u. a. Berliner Bilder. Hundert Momentaufnahmen. Bln. 1903), autobiogr. Arbeiten (u. a. Zwei Monate Festung. Ebd. 1899. Erinnerungen. Ebd. 1912), lesenswerte Reiseberichte (u. a. Auf der anderen Seite. Streifzüge am Ontariosee. Ebd. 1902), Erzählungen (u. a. Von Einem zum Andern. Ebd. 1893), Gedichte u. Kinderlieder. Wegen ihrer humoristischen Harmlosigkeit wurden vor allem T.s lyr. Versuche (u. a. Gedichte. Lpz. 1883 u. ö. Scherzgedichte. Ebd. 1891 u. ö. Neue Scherzgedichte. Stgt. 1903) häufig kritisiert (Theodor Storm). Seine verbreiteten Bilderbücher (u. a. Allerlei Thiergeschichten. Straßb. 1872. Ernst und Scherz. Stgt. 1900) u. Kinderlieder (u. a. Hundert Kinderlieder. Bln. 1899) erregten mit dem Lob biedermeierl. Beschaulichkeit u. der Glorifizierung bürgerl. Intimität in nationalistischen, auf staatstragende Pädagogik bedachten Kreisen wenig Beifall. Ausgaben: Ausw. aus seinen Schr.en. Hg. Erich Kloß. Stgt. 1907. – Ode an den Sauerstoff. Scherzgedichte. Hg. Klaus Beyer. Bln. 1979. Literatur: Heinrich Spiero: J. T. In: BJ Überleitungsbd. 1 (1925), S. 174 f. – Klaus Schulz: Kladderadatsch. Bochum 1975. – Klaus Doderer u. Rüdiger Edelmann: T. In: LKJL. – Ann Tayler Allen: Satire and Society in Wilhelmine Germany. Kladderadatsch & Simplicissimus. Kentucky 1984 (Lit.). – Friedrich Mülder: J. T. 1837–1915. Ein Spötter u. Poet zwischen Kanzler u. Kaiser. Hbg. 2000. – Goedeke Forts., S. 364–372 (Werkverz.). – Peter Oliver Loew: Die Danziger Lit. zwischen 1793 u. 1945 am Beispiel einiger Schriftsteller: Friedrich Wilhelm Krampitz – J. T. – Walther Domansky – Martin Damß. In. Ostpreußen, Westpreußen, Danzig. Eine histor. Literaturlandschaft. Hg. Jens Stüben. Mchn. 2007, S. 53–70, bes. 58–62. Adrian Hummel / Red.

Trojanow

Trojanow, Ilija, * 23.8.1965 Sofia/Bulgarien. – Verfasser von Reportagen, Essays u. Romanen, Übersetzer. T. erhielt 1971 mit seinen Eltern in München polit. Asyl. Ein Jahr später zog er mit ihnen nach Nairobi, wo er, mit Unterbrechung durch einen dreijährigen Aufenthalt in Deutschland, bis 1984 die dt. Schule besuchte. Nach dem Abitur studierte er in München einige Semester Jura u. Ethnologie u. arbeitete als Verleger. Es folgten Aufenthalte in Afrika, Indien u. Arabien, über die er Reportagen u. Reiseführer veröffentlichte (In Afrika. Mythos und Alltag Ostafrikas. Mchn. 1993. An den inneren Ufern Indiens. Eine Reise entlang des Ganges. Mchn./Wien 2003. Zu den heiligen Quellen des Islam. Als Pilger nach Mekka und Medina. Mchn. 2004). Sein Debüt als Erzähler gab T. mit dem Roman Die Welt ist groß und Rettung lauert überall (Mchn./Wien 1996), der die Geschichte einer Selbstbehauptung u. Selbstfindung im Exil schildert. T.s Interesse gilt bes. der Figur des Grenzgängers zwischen Identität u. Alterität. Internationale Anerkennung gewann T. mit dem histor. Abenteuerroman Der Weltensammler (Mchn./Wien 2006), der Episoden aus dem Leben des brit. Offiziers, Entdeckungsreisenden u. Orientalisten Richard Francis Burton (1821–1890) behandelt. T. schildert Burtons Erlebnisse in Indien, seine Pilgerfahrt zu den heiligen Stätten des Islams u. seine Reise zu den Quellen des Nils aus doppelter Perspektive: einerseits aus der des Protagonisten, wobei er sich auf dessen Veröffentlichungen stützt, andererseits aus der seiner einheim. Begleiter. T., der die von Burton besuchten u. beschriebenen Orte auch aus eigener Anschauung kennt, ließ 2007 eine kommentierte Auswahl von Texten aus dem Werk des Briten folgen (Nomade auf vier Kontinenten. Auf den Spuren von Sir Richard Francis Burton. Ffm. 2007). Neben Reiseführern u. Romanen verfasste T. gesellschaftskrit. Essays u. Pamphlete, in denen er Machtmissbrauch u. Korruption im postkommunistischen Bulgarien geißelt (Hundezeiten. Heimkehr in ein fremdes Land. Mchn./Wien 1999. Aktualisierte Neuausg. u. d. T. Die fingierte Revolution. Bulgarien, eine

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exemplarische Geschichte. Mchn. 2006), gegen Samuel P. Huntington die These verficht, dass nicht der »Kampf«, sondern der »Zusammenfluss« die Entwicklungsdynamik der Kulturen bestimmt (Kampfabsage. Kulturen bekämpfen sich nicht – sie fließen zusammen. Zus. mit Ranjit Hoskoté. Aus dem Engl. v. Heike Schlatterer. Mchn. 2007) u. zum Widerstand gegen staatl. Eingriffe in die Privatsphäre aufruft, die mit der ›terroristischen Bedrohung‹ gerechtfertigt werden (Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte. Zus. mit Juli Zeh. Mchn. 2009). Weitere Werke: Kenia mit Nordtansania. Reiseführer. Mchn. 1996. – Autopol. Mchn. 1997 (R.). – (Hg.): Döner in Walhalla. Texte aus der anderen dt. Literatur. Köln 2000. – Der Sadhu an der Teufelswand. Reportagen aus einem anderen Indien. Mchn. 2001. – Voran ins Gondwanaland. In: Ferne Nähe. Tübinger Poetik-Dozentur 2007 (zus. mit Feridun Zaimoglu). Hg. Dorothee Kimmich u. Philipp Ostrowicz unter Mitarb. v. Maik Bozza. Künzelsau 2008, S. 67–94. – Der entfesselte Globus. Reportagen. Mchn. 2008. Literatur: Hartmut Steinecke: ›Fantasie ist das Elixier jedes Spiels‹. I. T.: ›Die Welt ist groß u. Rettung lauert überall‹. In: H. S.: Gewandelte Wirklichkeit – verändertes Schreiben? Zur neuesten dt. Lit.: Gespräche, Werke, Porträts. Oldenb. 1999, S. 145–152. – Cornelia Zetzsche: I. T. In: LGL. – Michaela Haberkorn: ›Treibeis‹ u. ›Weltensammler‹: Konzepte nomad. Identität in den Romanen v. Libusˇe Moníková u. I. T. In: Von der nationalen zur internat. Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Lit. u. Kultur im Zeitalter globaler Migration. Hg. Helmut Schmitz. Amsterd./New York 2009, S. 243–261. – Martina Ölke: Interkulturalität u. Exotismus. I. T.s Erfolgsroman ›Der Weltensammler‹. In: Interkulturelles Lernen. Mit Beiträgen zum Deutsch- u. DaF-Unterricht, zu ›Migranten‹-Bildern in den Medien u. zu Texten von Özdamar, T. u. Zaimoglu. Hg. Petra Meurer, Martina Ölke u. Sabine Wilmes. Bielef. 2009, S. 35–47. – Ekaterina Klüh: Interkulturelle Identitäten im Spiegel der Migrantenliteratur. Kulturelle Metamorphosen bei I. T. u. Rumjana Zacharieva. Würzb. 2009. Peter Langemeyer

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Troll, Thaddäus, eigentl.: Hans Bayer, * 18.3.1914 Bad Cannstadt, † 5.7.1980 Stuttgart (Freitod). – Lyriker, Erzähler, Übersetzer.

Troll-Borostyáni

des schönen Gefühls zu entlarven und dahinter die handfesten Interessen sichtbar zu machen – die Kälte des frömmelnden Spießers und die Bigotterie der Inquisitoren, mit ihrer ›sodele‹ und ›jetzetle‹-Rede« (Walter Jens). Seine Übertragung von Molières Stück Der Geizige ins Schwäbische u. ins Stuttgart des Jahres 1875 (Der Entaklemmer. Ebd. 1976. Auch als Hör- u. Fernsehspiel) verstärkt die Molière’sche Sozialkritik durch den honorigen u. biederen Dialekt. Den polit. Schriftsteller T. zeigt die Erzählung Der Tafelspitz (ebd. 1979), in der mit Hilfe eines wundertätigen Stücks Fleisch Missstände in Industrie u. Kirche bloßgestellt werden. Seit 1981 vergibt der Förderkreis deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg alljährlich den Thaddäus-Troll-Preis.

Der Handwerkerssohn studierte 1932–1938 Germanistik, Kunstgeschichte, Theater- u. Zeitungswissenschaften (Promotion 1938). Nach Kriegseinsatz u. brit. Gefangenschaft wurde T. 1946 Redakteur der satir. Zeitschrift »Das Wespennest«; von 1948 an arbeitete er als freier Autor in Stuttgart. Er war Gründungsmitgl. des Verbandes Deutscher Schriftsteller. Unter seinem eigentl. Namen schrieb er Theaterkritiken, Essays u. Kabarett-Texte. Zusammen mit seiner Frau Susanne Ulrici veröffentlichte er mehrere Bücher (Wohl bekomms. Gütersloh 1957. Und dazu guten AppeWeitere Werke: Sehnsucht nach Nebudistan. tit. Ebd. 1961. Wie man sich bettet. Zürich Ein heiterer Roman. Mchn. 1956. – Warum sind 1968). Bekannt wurde er unter seinem Pseud. Schwaben anders, Thaddäus Troll? Ein Autor wird durch Arbeiten über Schwaben u. in schwäb. ausgefragt v. Hermann Sand. Mchn. 1975. – Paradiese auf Erden. Künzelsau 1977. – Der himml. Mundart. Sein Gesamtwerk folgt, wie T. im selbst Computer u. andere Gesch.n v. droben u. drunten, verfassten Nachruf schreibt, dem Grundsatz, v. draußen u. drinnen, v. hüben u. drüben, v. dadass »sich Ernstes in heiterem Gewand besser heim u. unterwegs. Hbg. 1978. – Thaddäus Trolls schwäb. Schimpfwörterei. Stgt. 1987. – Vom verkauft«. Zu den in T.s Werk vorkommenSchlafen. Drei E.en. Hbg. 1991. – Oft habe ich Ihden Formen des Humors gehören Witze, nen schon in Gedanken geschrieben. Briefe von u. Wortspiele u. Pointen ebenso wie Satire u. an Thaddäus Troll. Ausgew. v. Susanne Ulrici. Tüb. Ironie. Er behandelte vielfältige Themen: 1992. Alltägliches, Sprach-, Zeit- u. GesellschaftsLiteratur: In memoriam T. T. In: Exempla 10 kritisches stehen nebeneinander. T.s größter (1984), S. 5–131. Detlev Janik / Red. Erfolg war das Buch Deutschland, deine Schwaben (Hbg. 1968. Bearb. u. d. T. Deutschland deine Schwaben im neuen Anzügle. Ebd. 1978. Troll-Borostyáni, Irma von, auch: Leo Forts. Preisend mit viel schönen Reden. Ebd. Bergen, Veritas, * 31.3.1847 Salzburg, 1972). T. entlarvt darin die spießige Engstir- † 10.2.1912 Salzburg. – Sozialwissennigkeit, die sich hinter der Fassade des schaftlerin, Frauenrechtlerin, Erzählerin, wohlanständigen schwäb. Biedermanns ver- Publizistin. birgt. Zusammen mit Sachbüchern über In Budapest verdiente die Beamtentochter Schwaben (Stuttgart. Stgt. 1969) stempelte nach dem frühen Tod des Vaters als Musikdieses Werk seinen Verfasser fälschlicherwei- lehrerin den Lebensunterhalt für sich u. ihre se zum »Heimatdichter«. Dieses irreführende kranke Mutter. Hier heiratete sie 1874 den Urteil wurde noch verstärkt, als T. die Schriftsteller Nandor von Borostyanyi († schwäb. Mundart als Mittel seiner Kunst 1902). Seit der Geburt der Tochter ständig entdeckte. In dem Gedichtband O Heimatland kränkelnd, begann T. nach deren Tod 1877 (Hbg. 1976) spiegelte T. dem Leser durch zu publizieren. Der Mission unseres Jahrhungemütvolle Heimeligkeit der Volkssprache derts. Eine Studie über die Frauenfrage (Preßburg ein Idyll nur vor, um seine Gesellschaftskritik 1878) folgte ihr Kontroversen entfachendes umso pointierter u. überraschender vorbrin- »Memorandum [...] zur Beseitigung sozialer gen zu können. T. versuchte, »die Ideologie Irrtümer und Leiden« Im freien Reich (Zürich

Trolle

1884 u. ö.). T. plädierte in robust vorgetragenen Argumenten, auch als Rednerin bei freidenkerischen Versammlungen, für staatl. Schulbildung aller, freie Entscheidung zur Ehescheidung für Frauen, weibl. Wahlrecht u. die Abschaffung der Prostitution als geduldeter Institution des Staates. Neben einem Katechismus der Frauenbewegung (Lpz. 1–31903) schrieb sie auch Erzählprosa (Aus der Tiefe. 2 Bde., Dresden 1892. Dem Verdienste seine Krone. Bln. 1903) u. Kulturhistorisches (Das Weib und seine Kleidung. Lpz. 1897). Ausgabe: Ausgew. kleinere Schr.en. Hg. Wilhelmine v. Troll. Lpz. 1914. Literatur: Josef Donnenberg: I. v. T.-B. u. die Frauenfrage. Familienkrise u. Frauenbildung um 1890 am Beispiel der Salzburger Schriftstellerin. In: Salzburg 131 (1991), S. 201–223. – Christa Gürtler: Weiblichkeitsmuster in der Frauenlit. des 19. Jh. Louise Aston – Lou Andreas-Salomé – I. v. T.B. In: Mitt.en des Instituts für Wiss. u. Kunst Wien 46 (1991), 3, S. 27–32. – Theresia Klugsberger: Schwierige Verhältnisse. Liebe u. Sexualität in der Frauenlit. um 1900. Stgt. 1992. – C. Gürtler: Radikale Freidenkerin mit Bubikopf u. Zigarre. I. v. T.-B. (1847–1912). In: ›... das verheißene Land der Freiheit und Gleichheit‹? Der radikale Flügel der bürgerl. Frauenbewegung. Red. Gilla Dölle. Kassel 1995, S. 42–46. – Edelgard Biedermann: Eine Genossin des leibhaftigen Gottseibeiuns? Zu Bertha v. Suttners Briefw. mit I. v. T.-B. 1886–1890. In: ÖGL 45 (2001), S. 134–152. Eda Sagarra / Red.

Trolle, Lothar, * 22.1.1944 Brücken/Goldene Aue. – Dramatiker, Hörspielautor, Erzähler, Nachdichter. T., Sohn einer Hebamme u. eines Bautechnikers, der in einem Strafbataillon der NSWehrmacht umkam, besuchte die Geschwister-Scholl-Schule in Sangerhausen – in der Parallelklasse saß zur selben Zeit Einar Schleef (1944–2001). Nach einer Handelslehre studierte T. 1966–1970 Philosophie in Berlin, wo er bis heute lebt. 2007 war er, zusammen mit Julia Schoch, Stadtschreiber zu Rheinsberg. Als Hausautor arbeitete er für das Schauspiel Frankfurt (1991) u. für das Berliner Ensemble (1994–1999). T.s erste Stücke entstanden während des Studiums (Papa Mama. 1967. Urauff. Krefeld 1979). 1971 wurde Das beispielhafte Leben und

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der Tod des Peter Göring (zus. mit Thomas Brasch) in Ost-Berlin uraufgeführt. Es zeigte sich aber bald die Kluft zwischen T.s Ästhetik u. den offiziellen Vorstellungen: Lustvoll konfrontierte er im Gewand des Kasperlespiels derbe Sprachlichkeit (etwa im Knittelvers) mit dadaistischen Auflösungsformen (im Hinblick auf Ort, Zeit u. Handlung). Das große unvollendete Stück Greikemeier. Szenen zwischen Himmel und Erde (entstanden infolge einer Wette mit Thomas Brasch 1969–1974) über die Versuchung eines Genossenschaftsbauern durch die »Sieben Todsünden des Sozialismus« wartet noch auf einen Regisseur – immerhin fand die Faust-Parodie mit großer Verzögerung einen Verlag (in: Zwei Komödien. Bln. 2010). Nachdem die Texte der 1970er u. 1980er Jahre, zunächst durch Lesungen eingeführt, in der Zeitschrift »Mikado« (1983–87) erschienen waren, sind die Theater aufmerksam geworden: 34 Sätze über eine Frau, die Kasper-Stücke (beide Urauff. Gera 1985), Weltuntergang Berlin I u. II (Urauff. Bln. 1980 bzw. Bln./DDR 1987) zeigen T. als den einzigen Surrealisten einer DDR-Dramatik, die sich an der Idee eines Work in progress entwickelt – fernab von Brechts Dialektik, die T. schon durch die Infragestellung der Gattungsgrenzen unterläuft; das hinderte ihn nicht, Brecht für die Bühne zu bearbeiten (zuletzt in seiner Theaterfassung von Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar; Berliner Volksbühne 2009). Seine Minidramen erinnern eher an den Reduktionismus des absurden Theaters, insbes. Becketts: Die Krebse (1964; Urauff. 1987), Das Klassenfenster (1984; Urauff. 1987), Gezwitscher und Die Stimme der Sonne (Urauff. 1987). Dabei verzichtet er entweder weitgehend auf Regieanweisungen oder er lässt das Stück hinter den Szenenbeschreibungen zurücktreten wie in Die 81 Min. des Fräulein A. (Bln. 1995). In der ausgewiesenen »Komödie« Die Stunde des Herrn (Urauff. Rostock 1993) nimmt er das bibl. Bild wörtlich u. gewährt dem Herrn ein monologisches Stündchen. In lyr. Einschüben tritt der ›Herr‹-Gott auch schon in der »GroßstadtSinfonie« (Frank Castorf) Hermes in der Stadt (Bln. 1991; Urauff. 1992) auf, dessen Protagonist den Menschen illusionslos, gespickt mit bibl. u. literar. Anspielungen, die (kul-

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turellen) Stärken gegen ihre (kriminellen) Werkverz. In: L. T.: Nach der Sintflut, a. a. O., Schwächen aufwiegt. Das Hörspiel Jozia, die S. 589–604. Fritz Mierau / Günter Baumann Tochter des Delegierten oder Die heilige Johanna in der Wohnküche (Radio DDR 1986; als Drama Troller, Georg Stefan, * 10.12.1921 Wien. Urauff. Schwerin 1988) erhielt 1987 den – Dokumentarfilmer, Drehbuchautor, Hörspielpreis »Terre des Hommes«; 1991 Radio- u. Fernsehreporter. folgte derselbe Preis für Rubinowicz (Deutschlandsender Kultur). Mit dem Film kam T. in T. kam als zweiter Sohn des jüd. Pelzhändlers Kontakt als dramaturgischer Berater (Wim Nathan Troller zur Welt. Schon als JugendliWenders: In weiter Ferne, so nah. 1992/93) u. als cher empfand er sich trotz der AssimilatiSchauspieler (Michael Gwisdek: Abschied von onsbemühungen der Familie als AusgestoAgnes. 1993/94). 2009 brillierte T. als Libret- ßener. 1938 begann eine chaotische Flucht tist für die Johannes-Passion in Oberhausen vor den Nationalsozialisten, welche die Fa(Regie: Joan Anton Rechi), für die er Christus milie durch halb Europa u. 1941 schließlich in die ernüchternde Hartz-IV-Realität einer in die USA führte. 1943 kehrte T. als Gefangenenvernehmer im Dienste der US-Army heutigen Großstadt schickte. zurück. Enttäuscht vom Opportunismus der Weitere Werke: Hammel u. Bammel als Verkehrspolizisten. 1970. Urauff. Heidelb. 1980. – Nachkriegszeit, der fehlenden Reue für die (Bearb.) Ludvig Holberg, Jeppe vom Berge [...]. unter den Nationalsozialisten begangenen 1986 (ungedr.). – Barackenbewohner. Urauff. Karl- Verbrechen, ging er 1945 wieder in die USA Marx-Stadt 1989. – Das Klassenfenster. Dramolet- u. studierte in Kalifornien Anglistik u. te. Prosa u. a. Texte. Freising 1991. –Tannhäusers Theaterwissenschaft. Mit einem FulbrightRequiem auf seinen unbekannten Nachbarn. Stipendium für die Sorbonne siedelte er 1949 Urauff. Dresden 1991. – Ein Vormittag in der nach Paris über, seinem Wohnort bis heute. Freiheit oder Sie gestatten. Lehmann, vorn mit L Seit 1952 arbeitete T. als Rundfunk-, später wie Lenin. Urauff. Ffm. u. Bln. 1991. – Annas als Fernsehreporter. 1962–1971 erkundete er zweite Erschaffung der Welt. Urauff. Graz 1993. mit seinem Pariser Journal (WDR) die außerHörspielfassung 1997. – Sie zu dritt unter einem gewöhnl. Menschen u. Geheimnisse dieser Apfelbaum. Deutschlandradio Berlin 1994 Stadt. Parallel entstanden viel beachtete (Hörsp.). – die baugruppe (nach A. Platonow). Filmfeatures über u. a. Jack London, Arthur Urauff. Bln. 1996. – Das Hildebrandslied. Urauff. Bln. 2006. – Nach der Sintflut. Ges. Werke. Hg. Rimbaud u. Paul Gauguin, die mexikan. ReTilman Raabke. Bln. 2007. – Übersetzungen: Euripi- volution oder Guatemala. 1972–1993 produdes: Medea (Urauff. Bln. 2004). – Daniil Charms: zierte T. für das ZDF die stilbildende PorJelisaweta Bam. In: Russ. Stücke 1913–33. Bln./ trätreihe Personenbeschreibung u. drehte auch DDR 1983. – Vitezslav Nezval: Depesche auf Rä- danach weiter Porträtfilme. 1988 veröffentdern. Theatertexte 1922–1927. Bln. 2001. – Her- lichte er seine – später verfilmte – Autobioausgeber: Mikado oder Der Kaiser ist nackt. Selbst- grafie Selbstbeschreibung (Hbg. Verb. u. erg. verlegte Lit. in der DDR (zus. mit Uwe Kolbe u. Neuausg. Düsseld. 2009). T.s darin beschrieBernd Wagner). Darmst. 1988. bene Emigrationserfahrung bildete zuvor Literatur: Christoph Müller: Clownsspiele, bereits die Grundlage für Axel Cortis SpielDenkspiele, Mysterienspiele. Ein Porträt des DDR- filmtrilogie Wohin und zurück (ZDF 1982–86), Dramatikers L. T., dessen wichtigste Stücke bisher für die T. das Drehbuch schrieb. ungespielt sind. In: Theater heute 18 (1977), H. 3, Mit seinem subjektiven Interviewstil u. S. 22–24. – Fritz Mierau: Der Dramatiker T. In: dem Bemühen, die eigene Sicht der Realität Spiele u. Spiegelungen v. Schrecken u. Tod. Zum in bewusster Durchformung darzustellen, Werk v. Heiner Müller. Hg. Paul Gerhard Klussmann u. Heinrich Mohr (Jb. zur Lit. in der DDR 7). wandte sich T. ausdrücklich gegen das doBonn 1990, S. 65–68. – Ein Zettel, unter der Tür kumentarische Objektivitätsgebot. Seine durchgeschoben. L. T. im Gespräch mit Sebastian zahllosen Interviews betreibt er dabei als Huber. In: L. T.: Die 81 Min. des Fräulein A. Bln. Selbsttherapie. Vor dem Hintergrund der ei1995, S. 39–46. – Axel Schalk: L. T. In: LGL. – genen, durch Identitätsverlust, Isolation u. Ders.: L. T. In: KLG. – Tilman Raabke: Nachw. Mit Lebensangst geprägten Emigrantenexistenz,

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die dem Holocaust nur durch Zufall entronnen ist, versucht er in einfühlsam-krit. Befragungen die Traumata seiner Interviewpartner zu erforschen, um zu erfahren, wie sie überlebten. Zu den innersten Geheimnissen dieses Partners vorzudringen, setzt für T. voraus, »dass du ihn verstehst, billigst, magst, ja liebst«. Besonders eindrücklich gelang T. dies in der Darstellung des querschnittsgelähmten Vietnamveteranen Ron Kovic. Den Interviewer sieht er als »Menschenfresser«, der sich »vom warmen Blut« seiner Opfer nährt, um sich »selbst damit zu stärken« u. so das eigene Leben zu bewältigen. Seine Botschaft ist dementsprechend nicht politisch, sondern psychologisch. Im Interview mit medienerprobten, sich seiner Strategie verweigernden Stars drohen T.s um Entmystifizierung bemühte Darstellungen jedoch bisweilen zur Demontage zu werden. Für sein filmisches Werk erhielt T. zahlreiche Preise. Weitere Werke: Pariser Journal. Hbg. 1966. – Pariser Gesch.n. Düsseld. 1972. – Personenbeschreibung. Tagebuch mit Menschen. Hbg. 1990. – Das fidele Grab an der Donau. Mein Wien 1918–1938. Düsseld. 2004. – Ihr Unvergeßlichen. 22 starke Begegnungen. Düsseld. 2006. Literatur: Susanne Marschall u. Bodo Witzke (Hg.): ›Wir sind alle Menschenfresser‹. St. Augustin 1999. Harald Jakobs

Tromlitz, A. von, eigentl.: (Karl) August (Friedrich) von Witzleben, * 27.3.1773 Gut Tromlitz/Thüringen, † 5.6.1839 Dresden. – Verfasser historischer Romane u. Erzählungen. Nach kurzem Besuch des Gymnasiums in Halle wechselte T. bereits 1782 an die Weimarer Pagenschule, wo er u. a. von Musäus u. Herder unterrichtet wurde. Mit 13 Jahren begann er seine militärische Laufbahn: zunächst im Dienste Preußens, 1806 für den Herzog von Braunschweig, den Fürsten von Hohenlohe u. den Großherzog von Berg. 1812 wechselte er zur russ. Seite u. kommandierte 1813 die hanseatische Legion. Nach dem Pariser Frieden 1814 kehrte er, mehrfach ausgezeichnet, dem Militär den Rücken u. privatisierte auf Gut Beuchlitz bei

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Halle, in Berlin, Dresden u. auf dem Weingut Kynast in Zitzschewig (heute Stadtteil von Radebeul) im Elbtal. Aus seinen vier Ehen hatte T. vier Kinder, darunter der preuß. Generalleutnant u. Militärschriftsteller Gerhard August von Witzleben. T.’ militärischer Karriere folgte eine ebenso erfolgreiche als Schriftsteller. Nach ersten Versuchen noch in den 1790er Jahren (Avantüren der Deutschen am Rhein. o. O. 1797/98. Das stille Thal. Ffm. 1799) publizierte er seit 1822 äußerst produktiv (u. viel gelesen), nunmehr pseudonym. Der Erstveröffentlichung seiner zahlreichen Romane u. Erzählungen in Zeitschriften oder dem von ihm selbst herausgegebenen Taschenbuch »Vielliebchen« (Lpz. 1828–41) folgte bereits 1829 eine erste Ausgabe Sämmtlicher Schriften (36 Bde., Dresden 1829–33), der er noch zu Lebzeiten zwei Ergänzungssammlungen folgen ließ (jeweils 36 Bde., ebd. 1833–36 u. 1837–43). T. etablierte v. a. mit seinen geschichtl. Sujets einen neuen Texttyp, wie er im Realismus dominant werden sollte. Historische Wendepunkte wie das Stockholmer Blutbad (Scenen aus dem Leben König Christians II. von Dänemark. In: Vielliebchen 10, 1837), der Dreißigjährige Krieg (Die Pappenheimer. In: Abendzeitung, Nr. 121–236, 1827. Zuletzt Bln. 1926) oder die Niederländischen Unruhen (Die Blinde. In: ebd., Nr. 118–139, 1824) markieren dabei polit., soziale u. ideolog. Wandlungsprozesse, in denen alte u. neue Denksysteme als zumeist unvermeidbar aufeinanderprallen. T.s Nachruhm reichte über das ausgehende 19. Jh. (Ausgewählte Schriften. 6 Bde., Lpz 1872) bis ins frühe 20. Jh. Zu den erfolgreicheren Werken zählt T.s historische Erzählung Die Vierhundert von Pforzheim (Lpz./Dresden 1833. Neuaufl. Lpz. 1895 u. 1920), der eine fragwürdige lokalpatriotische Heldenlegende aus dem Dreißigjährigen Krieg zu Grunde liegt (vgl. David Cofte: Die vierhundert Pforzheimer. In: HZ 32, 1874, S. 23–48) u. die die Grundlage der Oper Albrecht Roser, ein badischer Held (Elberfeld 1898) bildet. T.s erfolgreichstes Werk ist die für die Reihe »Das malerische und romantische Deutschland« verfasste Romantische Wanderung durch die Sächsische Schweiz (Lpz. 1836/37), die, 1838 ins Englische übersetzt, bis heute immer wieder aufgelegt wird

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(u. d. T. Sächsische Schweiz. Mchn. 1978. Koblenz 1978. Wolfenb. 2010). Weitere Werke: Die Entführung. Urauff. Bln. 1823 (D.). – Frauenwert. Bln. 1823 (R.). – Die Douglas. Ebd. 1826 (D.). Literatur: Hanns Morawetz: August v. Witzleben. Diss. Breslau 1934. Dominica Volkert / Achim Aurnhammer

Trott, Magda, auch: Lena Torahn, * 20.3. 1880 Freystadt/Niederschlesien, † 12.5. 1945 Misdroy/Pommern. – Roman- u. Jugendbuchautorin. T. siedelte 23-jährig mit ihrer Familie nach Berlin über. Die gelernte Kindergärtnerin veröffentlichte zunächst kleinere Erzählungen u. Märchen, später u. a. triviale Unterhaltungsromane (Liebesopfer. Lübeck/Bln. 1923. Um Herd und Vaterland. Bln. 1915), die heute vergessen sind. Zu T.s umfangreichem Œuvre (über 200 Bücher), darunter Heft- u. Illustriertenromane, gehören auch Theaterstücke (Vampire. Zeitbild in 1 Akt. Bln. 1921) u. Ratgeber (Kochbuch. Mönchen-Gladbach 1921. Ich heirate! Bonn 1934). Nachhaltig bekannt wurde sie durch ihre Jugend- u. Mädchenbücher, wobei die Goldköpfchen-, Pommerle- u. Pucki-Reihen bis heute zu den erfolgreichsten zählen. So wurden von den zwölf Bänden der Pucki-Reihe bis 1950 insg. sieben Mio. Exemplare verkauft. Die fiktiven Mädchenbiografien propagieren das traditionelle Frauenbild der treusorgenden Ehefrau u. Mutter u. trugen damit auch zur Verbreitung des nationalsozialistischen Mädchen- u. Frauenbildes bei. Weitere Werke: Försters Pucki. Neudr. 12 Bde., Stgt. 1991. – Goldköpfchen. Neudr. 10 Bde., Balve 1991. Literatur: Malte Dahrendorf: M: T. In: LKJL 3 (mit Bibliogr.). Birgit Buchholz

Trotzendorf, Trozendorf, Valentin, eigentl.: V. Friedland, * 14.2.1490 Troitschendorf (Trotzendorf) bei Görlitz, † 26.4.1556 Liegnitz. – Schulreformer u. Theologe. Erst im Alter von fast 20 Jahren wurde dem Bauernsohn ständiger Schulbesuch in Görlitz

Trotzendorf

ermöglicht. Nach einem Artesstudium in Leipzig (Immatrikulation 1514, Bakkalaureat 1515) ging T. als Griechischlehrer nach Görlitz, wurde nach der Priesterweihe (1518) Pönitentiar am Breslauer Dom (1519–1524), bezog jedoch schon am 31.5.1519 die Wittenberger Universität. Der Luther- u. Melanchthonschüler wirkte seit 1525 im schles. Goldberg als Lehrer u. später als Rektor der Lateinschule. T. widmete sich in Goldberg zunächst v. a. der Durchsetzung der Reformation in Schlesien. 1527 wurde T. nach Liegnitz an die 1526–1529 bestehende erste evang. Universität berufen, an der er in den theolog. Auseinandersetzungen mit den Anhängern Schwenckfelds (v. a. Valentin Krautwald) zum Wortführer der oppositionellen luth. Partei wurde. 1531 übernahm er, nach Aufenthalt in Wittenberg, erneut das Rektorat in Goldberg u. widmete sich nun ganz der Schulreform im Geiste Melanchthons. Die Schulordnung von 1546 dieses ersten, zur »Schola ducalis« erhobenen schles. Gymnasiums wurde für viele Schulen zum Vorbild. Sie verbindet eine qualifizierte didakt. Aufbereitung des Stoffs mit einer an die Schülerbedürfnisse angepassten Lernorganisation. Nach einer Brandkatastrophe 1554 musste die Schule nach Liegnitz umsiedeln. Für den intensiv betriebenen Katechismusunterricht verwendete T. auch eigene Lehrbücher. Neue method. Grundlagen erarbeitete er nach dem Erscheinen von Melanchthons Examen für die Methodi doctrinae catecheticae. Iuxta distinctos discentium ordines in schola Goltbergensi (Wittenb. 1565), einen Sammelband von vier für die verschiedenen Altersstufen bestimmten Katechismen. Als Anhang veröffentlichte der Herausgeber, T.s Schüler Laurentius Ludovicus, das Rosarium, eines der ältesten Spruchbücher der evang. Kirche. T.s Erläuterungen u. Kommentare dazu erschienen gesondert (Rosarium scholae Trocedorfii [...]. Wittenb. 1565). Weitere Werke: Catechesis scholae Goltpergensis [...]. Wittenb. 1558 (Vorr. v. Melanchthon). – Precationes [...] recitatae in schola Goltbergensi [...]. Hg. Laurentius Ludovicus. Ebd. 1564. Internet-Ed. in: VD 16.

Troxler Literatur: Bibliografien: Bauch, 1921. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 31, S. 394 f. – Kosch, Bd. 23, Sp. 648 f. – VD 16. – Weitere Titel: Karl Julius Löschke: Leben u. Wirken des V. Friedland. gen. T. [...]. Breslau 1842. – Ders.: V. T. [...]. Ebd. 1856. – Die evang. Schulordnungen des 16. Jh. Hg. Reinhold Vormbaum. Bd. 1, Gütersloh 1860, S. 53 f. (Abdr. der Schulordnung v. 1546). – Meister: V. T. In: ADB. – Gustav Bauch: V. T. u. die Goldberger Schule. Bln. 1921. Internet-Ed. in: ULB Düsseld. – Karl Weidel: V. T. In: Schles. Lebensbilder. Bd. 4, Breslau 1931, S. 98–107. – Franz Weigl: V. T. u. seine Zeitgenossen. Donauwörth o. J. [1947]. – Arno Lubos: V. T. Ein Bild aus der schles. Kulturgesch. Ulm 1962. – Manfred P. Fleischer: Späthumanismus in Schlesien. Ausgew. Aufsätze. Mchn. 1984, passim. – Johannes Grünewald: Das älteste Bildnis V. T.s. In Erinnerung an seinen 500. Geburtstag. In: Jb. für schles. Kirchengesch. 69 (1990), S. 7. – HKJL, Bd. 1, Register. – Johannes-Martin Kamp: Kinderrepubliken [...]. Opladen 1995. – Hdb. der dt. Bildungsgesch. Hg. Notker Hammerstein. Bd. 1, Mchn. 1996, Register. – Alfred Michler: V. T., nauczyciel S´laska. Zl/otoryja 1996 (Zusammenfassung in dt. Sprache). – Elke Axmacher: V. T. In: Bautz. – Marita Koerrenz: V. T. In: RGG. Jörg Köhler / Red.

Troxler, Ignaz Paul Vital, * 17.8.1780 Beromünster/Kt. Luzern, † 6.3.1866 Aarau. – Philosoph, Arzt. Nach der Lateinschule arbeitete T. ein Jahr als Sekretär des Regierungsstatthalters von Luzern; seit 1799 studierte er in Jena Medizin, Naturwissenschaften u. Philosophie. Er wurde Schüler u. Freund Schellings, der T.s Ideen zur Grundlage der Nosologie und Therapie (Jena 1803) als »das Beste, was nach naturphilosophischen Ansichten über eigentliche Medizin bis dahin geschrieben war«, lobte. Nach der Promotion in Göttingen 1804 kehrte T. als Arzt nach Beromünster zurück. 1806 erschien die Kampfschrift Einige Worte über die grassierende Krankheit und Arzneikunde im Kanton Luzern im Jahre 1806 (Zug); der Verhaftung entzog er sich durch Flucht nach Wien, wo er bis 1810 eine ärztl. Praxis unterhielt (u. mit Beethoven verkehrte). Nach seiner Rückkehr veröffentlichte er 1812 seinen ersten philosophischen Entwurf, Blicke in das Wesen des Menschen (Aarau). An den polit. Ereignissen von 1814 nahm er mit Flugschriften regen

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Anteil. Seit 1819 Philosophielehrer an Schulen in Luzern u. Aarau, wurde er 1830 Professor der Philosophie an der Universität Basel, wegen seiner polit. Gesinnung aber 1831 vertrieben. 1834–1853 lehrte T. in Bern. T. suchte den Dualismus zwischen Welt u. Mensch mit seiner »transzendentalen« Anthropologie oder Anthroposophie zu überwinden, indem er das Gemüt wieder in die Mitte des Denkens stellte, das letztlich auf die Einheit von Gott u. Mensch bezogen sein muss. Dabei stützte er sich auf Platon, Plotin, die mittelalterl. dt. Mystiker, Paracelsus u. Böhme. Weitere Werke: Naturlehre des menschl. Erkennens, oder Metaphysik. Aargau 1828. Neuausg. Hbg. 1985. Zuletzt Saarbr. 2007. Digitalisat Google. – Logik. 3 Tle., Stgt./Tüb. 1829/30. – Vorlesungen über Philosophie. Bern 1835. Neuausg. 1942. – Philosoph. Enzyklopädie u. Methodologie der Wiss.en. Auszugsweise hg. v. Iduna Belke. Beromünster 1953. – Briefe: s. Literatur. Literatur: Jakob Gamper: I. P. V. T.s Leben u. Philosophie. Diss. Bern 1907. – Iduna Belke: I. P. V. T. Beromünster 1948. – Der Briefw. zwischen I. P. V. T. u. Karl August Varnhagen v. Ense 1815–1858. Veröff. u. eingel. durch I. Belke. Anhang: Der Briefw. zwischen T. u. Ludmilla Assing 1859–1861. Hg. durch die Stiftung v. Schnyder v. Wartensee. Aarau 1953. – Emil Spiess: I. P. V. T. Bern/Mchn. 1967 (Bibliogr.). – Albert Güntensperger: Die Sicht des Menschen bei I. P. V. T. Ebd. 1973. – Peter Heusser: Der Schweizer Arzt u. Philosoph I. P. V. T. [...]. Diss. Basel 1983. – Hans-Rudolf Schweizer: I. P. V. T. (1780–1866). In: Große Schweizer u. Schweizerinnen. Erbe als Auftrag. Hundert Porträts. Hg. Erwin Jaeckle. Stäfa 1990, S. 273 ff. – Daniel Furrer: I. P. V. T. (1780–1866) u. seine Zeit. Ein Leben für Freiheit u. Einheit. 2004 (Elektron. Ressource). – Franz Lohri: I. P. V. T. (17.8.1780–6.3.1866). Eine biogr. Studie. Aarwangen 2004. – Andreas Dollfus: I. P. V. T. – ein geistiger u. polit. Erneuerer der Schweiz. Eine Anth. Schaffh. 2005. – Ute Schönwitz: Schelling war mein Lehrer u. er war mir mehr: I. P. V. T.s Leben in Briefen an Karl August Varnhagen v. Ense u. Anton Sebastian Federer. Zürich/St. Gallen 2008. – D. Furrer: Gründervater der modernen Schweiz: I. P. V. T. (1780–1866). Diss. Freiburg (Schweiz) 2009. – Hans Erhard Lauer u. Max Widmer: I. P. V. T. Zürich 2009. – D. Furrer: I. P. V. T. Der Mann mit Eigenschaften (1780–1866). Zürich 2010. Roland Pietsch / Red.

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St. Trudperter Hoheslied. – Frühmittelhochdeutsche Übersetzung u. Auslegung des Hohenliedes, 12. Jh. Das T. H. ist anonym überliefert, doch setzt der Text einen sehr belesenen, mit der »modernen« Theologie seiner Zeit (Rupert von Deutz, Honorius Augustodunensis, Hugo von St. Victor, Wilhelm von St. Thierry, Bernhard von Clairvaux) vertrauten Verfasser voraus. Seinen Namen verdankt das T. H. dem Schwarzwaldkloster St. Trudpert, dem zeitweiligen Aufbewahrungsort der ältesten vollständig erhaltenen Handschrift (um 1230, Wien, Österr. Nationalbiblothek, 2719). Noch aus dem 12. Jh. (3. Viertel) stammt der älteste Textzeuge, die zwei Blätter umfassenden Hardenbergschen Fragmente (Nürnberg, German. Nationalmuseum, 42518). Intensiv diskutiert wurden Entstehungszeit (zwischen 1110 u. 1170) u. Entstehungsort, der aufgrund sprachl. Indizien im bayerischen oder im alemann. Raum vermutet wurde. Ohly resümiert in seiner Ausgabe: »Heute kann eine Entstehung um 1160 im steirischen Benediktinerkloster Admont als recht sicher gelten« (S. 328). Dies passt gut zu dem Ergebnis einer Untersuchung, die Entstehung u. Überlieferung des T. H. aus seinem »Sitz im Leben« erklärt: Es sei eine Frucht der Hirsauer Reformbewegung, u. seine Verbreitung sei über die »Reformgruppe um die Schiene St. GeorgenPrüfening-Admont« erfolgt (Küsters). Das T. H. bietet eine Übersetzung des »Hohenliedes« u. dessen allegor. Interpretation. Auf einen kurzen Textabschnitt folgt jeweils die Auslegung. Das T. H. übernimmt die Übersetzung fast unverändert aus Willirams von Ebersberg Hohelied-Paraphrase (1060/69). Dagegen sind Willirams Auslegungen nur partiell herangezogen, weil der Autor des T. H.s nicht auf das ekklesiolog. Deutungsmodell des Älteren zurückgreift. Für ihn bezeichnen Bräutigam u. Braut nicht mehr Christus u. die Kirche, sondern den trinitar. Gott (oft auch den Hl. Geist) u. Maria oder die Einzelseele. In dieser Umakzentuierung kommt eine tiefgreifende Veränderung der Frömmigkeitshaltung im 12. Jh. zum Ausdruck. Bei Williram stand einem dogma-

St. Trudperter Hoheslied

tisch gesehenen Christus eine Kirche gegenüber, deren zentrale Aufgabe die Vermittlung bzw. Rezeption von Glaubenswahrheiten war; jetzt stehen sich die göttl. Liebe u. die auf diese Liebe antwortende Seele gegenüber, der sich jedem Einzelnen zuwendende Bräutigam u. die in ständig wachsendem Verlangen nach dieser Liebe begehrende Braut. So werden die »Cantica« erstmals in dt. Sprache dazu genützt, Gottessehnsucht u. ihre mögl. Erfüllung in der »unio mystica« andeutend in Worte zu fassen. Das Publikum des T. H. sind »geistliche Menschen« (Prolog), u. zwar, wie aus den Anreden deutlich wird, Mitglieder von Frauenkonventen. Ihnen will es umfassende Unterweisung bieten: theolog. Grundwissen anhand der »Hohelied«-Exegese (zentrale Begriffe bisweilen in lat. Sprache) u. Einführung in das allegor. Schriftverständnis überhaupt. Wichtigstes Anliegen ist die Anleitung zu einem vertieften Gemeinschaftsleben, in das das Buch auch selbst als Gegenstand der gemeinsamen Lektüre u. Meditation integriert ist. Darüber hinaus zielt das T. H. auf einen Reifungsprozess der Einzelseele, der schließlich zur Begegnung mit dem göttl. Geliebten in der ewigen Schau hinführen soll. Als nicht nur geglaubte, sondern erfahrene Gewissheit kann dieses Glück den Menschen bisweilen schon hier, im seligen Augenblick der »unio mystica«, zuteil werden. Doch macht das T. H. nicht nur deutlich, dass die »unio« ein unverdientes Gnadengeschenk ist. Es zeigt auch, wie die »erwachsene« Seele freiwillig darauf verzichten kann, um eine andere Form der Gemeinschaft mit dem Geliebten zu ereichen, die Gemeinschaft im Leiden. Das Fundament für diese Haltung sieht der Autor in den Schlussworten des Hohenlieds »Fuge a me«, in deren Auslegung er u. a. sagt: »lâ mir hie daz scharpf gesiune dîner aehtaere« (144, 15a; Ohly, S. 304). Der Autor bedient sich rhetorischer Mittel, die ihm aus der Predigtpraxis u. wohl auch aus der Erfahrung mit lat. Kunstprosa vertraut waren. So verlebendigt er seine Darlegungen durch Publikumsanreden, Hinweise auf persönl. Erfahrungen u. rhetorische Fragen. Er strukturiert seinen Text durch leitmotivartige Wortwiederholungen, Ana-

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phern, Parallelismen u. Chiasmen u. achtet nenfrömmigkeit. Wiesb. 2002. – Christine Stridde: insbes. auf den Rhythmus seiner Sätze, so Die performative Zumutung. Sprechakt, Deixis u. dass sich seine Prosa an herausgehobenen Imagination im St. T. H. In: Imagination u. Deixis. Stellen (z.B. Prologe, Gebetspartien) zu einem Studien zur Wahrnehmung im MA. Hg. Kathryn Starkey u. Horst Wenzel in Verb. mit Wolfgang hymn. Stil steigert, den Ohly als adäquaten Harms. Stgt. 2007, S. 85–103. Ausdruck der neuen Frömmigkeitshaltung Gisela Vollmann-Profe versteht u. dessen Gestalt er in seiner Ausgabe sichtbar macht. Das Interesse am T. H. war, wie acht er- Trummer, Hans, * 17.5.1947 Bruck an der haltene Textzeugen belegen, zumindest im Mur/Steiermark, † 20.8.2007 Wien. – Ersüddt. Raum beachtlich u. langanhaltend: zähler, Hörspiel- u. Drehbuchautor. Noch im 16. Jh. wurde es abgeschrieben. Exzerpte fanden als Teil des »Palmbaum-Trak- Seine Kindheit in Bruck hat T. in seinem tates« Eingang in die verbreitete Sammlung ersten Roman Versuch, sich am Eis zu wärmen der St. Georgener Predigten. Ob das T. H. (Hbg. 1979) u. im zuletzt erschienenen Rospäteres myst. Schrifttum beeinflusste, ist man Die Erzählung eines anderen (Graz 2004) verarbeitet: Im Versuch schildert er ein renoch kaum erforscht. pressives Kleinstadtmilieu, dessen Zwänge Ausgaben: St. T. H. Hg. Hermann Menhardt. Halle 1934. – Text der Klosterneuburger Hs. des die Entfaltung der Persönlichkeit einengen, frühmhd. Hohen Liedes. Hg. Erik Leibenguth. In: in der Erzählung eines anderen wird neben Wisniewski 1995 (s. Lit.), S. 313–434. – Das St. T. H. selbstreflexiven Abschnitten die Geschichte Eine Lehre der liebenden Gotteserkenntnis. Hg. der Eltern erzählt. Nach längeren AufenthalFriedrich Ohly unter Mitarbeit v. Nicola Kleine. ten in Griechenland studierte T. Publizistik Ffm. 1998 (Formkrit. Leseausgabe mit Übers. u. u. Kunstgeschichte in Graz u. Wien. Seit 1969 umfangreichem Komm., in den die älteren Arbei- war er als freier Schriftsteller tätig. 1990 ten Ohlys zum T. H. eingegangen sind; Lit.). übersiedelte er mit seiner Lebensgefährtin in Literatur: Josefine Runte: Das St. T. H. u. die den Senegal, von wo er 2001 nach Österreich myst. Lehre Bernhards. Marburg 1949. – Waltraut- zurückkehrte u. bereits in den 1970er Jahren Ingeborg Geppert: Die myst. Sprache des St. T. H. begonnene Arbeiten abschloss, darunter das L. Bln. 1952. – Roswitha Wisniewski: Versuch einer Sprechstück dandolo (zus. mit Wilhelm Einordnung des St. T. H. L. in die Theologie u. Dengstler. ORF 2005). Philosophie seiner Zeit. Ebd. 1953. – Hermann T., eines der Gründungsmitglieder der Menhardt: Zum St. T. H. L. In: ZfdA 88 (1957/58), Grazer Autorenversammlung, veröffentlichte S. 266–291. – W.-I. Sauer Geppert: Wörterbuch zum St. T. H. Bln./New York 1972. – Urban Küs- zunächst Prosa in den Zeitschriften »prototers: Der verschlossene Garten. Düsseld. 1985. – kolle« u. »manuskripte«. Die Novelle Luises Maurice Bogaers: Chiast. Strukturen im St. T. H. L. Auffahrt (Hbg. 1981) schildert den Aufbruch Amsterd. 1988. – Regine Hummel: Myst. Modelle einer 60-jährigen Frau zu einem selbstbeim 12 Jh.: ›St. T. H.‹, Bernhard v. Clairvaux, Wil- stimmten Leben. In einer sorgsam gewählten helm v. St. Thierry. Göpp. 1989. – Hildegard Eli- Sprache u. eingebunden in ein realistisches sabeth Keller: Wort u. Fleisch. Körperallegorien, Erzählkonzept dokumentiert T. Möglichkeimyst. Spiritualität u. Dichtung des St. T. H. im ten zur Überwindung eines kleinbürgerl. Horizont der Inkarnation. Bern u. a. 1993. – Kurt Lebenslaufs. Die Auswirkungen des Milieus Ruh: Gesch. der abendländ. Mystik. Bd. 2, Mchn. auf die Persönlichkeit bleiben Thema auch 1993, S. 22–53. – R. Wisniewski: Das frühmhd. des Romans Die dunkle Frau (ebd. 1987) – eine Hohe Lied, sog. St. T. H. L. Ffm. u. a. 1995. – F. Liebesgeschichte, die an der BeziehungsunOhly: St. T. H. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekfähigkeit der Protagonisten scheitert. Neu ist turen). – Hans-Jörg Spitz: Zur Bedeutung v. ›Andacht‹ im St. T. H. In: Lingua Germanica. Studien ein Moment der Aussöhnung, das sich zagzur dt. Philologie. FS Jochen Splett. Hg. Eva haft Bahn bricht: »Der, der ich in meiner JuSchmitsdorf u. a. Münster/Bln. 1998, S. 317–332. – gend war, das war nicht ich. Um der zu werStefanie Seeberg: Die Illustrationen im Admonter den, der ich bin, brauche ich mindestens Nonnenbrevier v. 1180. Marienkrönung u. Non- neunzig Jahre.« T. wollte – bei aller Kritik –

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nicht gesellschaftsverändernd wirken. Seine Tschabuschnigg, Adolf Ignatz (Ritter) Texte verbleiben bei der genauen Beschrei- von, auch: A.T.V. Süd, * 20.7.1809 Klabung ihrer Gegenstände. Im Vordergrund genfurt, † 1.11.1877 Wien; Grabstätte: steht das minutiöse Abwägen von Hoffnung Klagenfurt, Friedhof St. Ruprecht. – Eru. Melancholie; in Spiegelungen u. Brüchen zähler, Lyriker; Politiker. wird Fragen der Identität nachgeforscht. T. verfasste auch Hörspiele für den ORF (Drei T. entstammte einer Ende des 17. Jh. in den Frauen. 1983. Begegnung in Symi. 1991. Haus- Adelsstand erhobenen Familie. Nach dem frauengespräche. 1994) u. TV-Dokumentatio- Besuch des Gymnasiums u. Lyzeums in Klagenfurt 1819–1826 absolvierte er ein Jusstunen mit Elisabeth Scharang. dium an der Universität Wien, das er 1830 Weitere Werke: Der kleine Mirko. Ein Mamiabschloss. Seit der Gymnasialzeit literarisch Roman (zus. mit Peter Matejka). Wien/Mchn. 1972. Verfilmung ORF 1972. Neuausg. Wien 2006. – interessiert, trat T. 1832/33 mit ersten Seine Verblüffung über die Veränderung in ihrem selbstständigen Veröffentlichungen, einer Erzählung u. einem Band Gedichte, an die Wesen. Mchn./Wien 1974. Waldemar Fromm Öffentlichkeit, denen 1835 der Band Novellen Truog-Saluz, Tina, * 10.12.1882 Chur, (Wien) folgte. Im März 1836 wurde T. auf eine vakante † 25.3.1957 Chur. – Erzählerin. Stelle mit einem bescheidenen Gehalt an das Die Tochter eines Ingenieurs wuchs in Chur, Stadt- u. Landrecht in Triest berufen. Dort im Engadin u. in Bern auf, wurde Volks- verkehrte er 1837 u. a. mit Francesco schullehrerin u. lebte nach ihrer Heirat im Dall’Ongaro, der sich in der von ihm herausEngadiner Dorf Lavin. Literarisch trat T. erst gegebenen Zeitschrift »La Favilla« für den als 40-Jährige mit den Erzählungen Das Erbe Dialog der lokalen Kulturen einsetzte. Seit u. Peider Andri (beide Basel 1921) an die Öf- 1837 unternahm T. ausgedehnte Reisen fentlichkeit u. blieb der einmal gewählten (Schweiz, Süddeutschland u. Italien) u. trat Form beschaulich-bildhaften, leicht stilisier- mit Leopold Kordesch, dem Herausgeber der ten Erzählens lebenslang ebenso treu wie in Ljubljana/Laibach erscheinenden Zeitdem Schauplatz Unterengadin u. dem Thema schrift »Carniola«, in Kontakt, in der er zwi»Bündner Schicksale in Geschichte und Ge- schen 1838 u. 1844 Gedichte u. Reiseskizzen genwart«. Sie gehörte zu den ganz wenigen veröffentlichte. 1841 heiratete er Julie von Autoren Deutsch-Bündens u. hob sich durch Heufler u. veröffentlichte seinen ersten Roihre stark frauenspezif. Optik u. ihr einfühl- man Ironie des Lebens (2 Tle., Wien), der als sames Verständnis für soziale Randexisten- Thesenroman über die Liebe, Religion, Fazen vorteilhaft von der zeitgenöss. Berg- u. milie u. Kunst jungdt. Züge aufweist sowie Heimatliteratur ab. Dennoch war es v. a. die Goethe, Hegel u. zgl. Aspekten einer KonAssoziation zu Graubünden u. dessen alpi- versationsnovelle verpflichtet ist. 1844 kehrte ner, urwüchsiger Landschaft u. Bevölkerung, T. als Rat zum Stadt- u. Landrecht nach Kladie ihren Büchern zeitweise auch in genfurt zurück. Deutschland eine erstaunlich große LeserAuch der 1846 folgende Roman Der moderne schaft eintrug. Eulenspiegel (2 Bde., Pest) ist formal-struktuWeitere Werke: Der rote Rock. Basel 1924 (E.). rell von Inhomogenität u. zeittypischen – Im Winkel. Erzählung aus dem alten Chur. Ebd. Themen gekennzeichnet, d.h. einerseits von 1925. – Soglio. Eine Bündner Familiengesch. Ebd. der Frage nach den Möglichkeiten der Kunst 1937. – Aus Heimat u. Fremde. Ebd. 1939 (N.). – in einer von Ökonomie u. Technik geprägten Bündner Novellen. Basel 1950. Welt (Bd. 1), andererseits vom Thema der Literatur: Patricia Ursina Carl: Die Bündner Emanzipation der Frau, das reißerisch inSchriftstellerin T. T.-S. (1882–1957). Zwischen szeniert, aber zgl. restaurativ klischiert wird, Tradition und Aufbruch. Chur 2007. Charles Linsmayer sowie von der nationalen Frage, wobei der für Österreich wichtige Aspekt der Formulierung slaw. Autonomieansprüche gegen dt. Hege-

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moniekonzepte literarisch verhandelt wird (Bd. 2). In Grundthesen erscheint hier der spätere Essay Zur Frage der Nationalitäten vorweggenommen, der 1848 in L. A. Frankls »Wiener Sonntagsblättern« erschien. Auch im 1845 begründeten, offiziell nie registrierten »Leseverein« führte T. bis zu seinem Wechsel an das Oberlandesgericht in Graz (1854) das Protokollbuch über die jährl. Ankäufe u. das monatl. Lektüreprogramm der maximal zwölf Mitglieder. 1848 nahm T. aktiv am polit. Leben teil: Er trat in die städt. Nationalgarde ein, ging jedoch auf Distanz zum demokratischen Flügel (›Kärntner Volksverein‹) u. konzentrierte sich auf Verfassungsfragen im provisorischen Landtagsausschuss. Zudem arbeitete er als Vertreter der Kärntner Provinzialstände in Wien am konstitutionellen Verfassungsentwurf mit. Aus dieser Zeit stammt auch die Bekanntschaft mit Vinzenz Rizzi. 1849–1851 folgten Reisen nach Belgien, Frankreich, Holland u. England, auf denen T. vor allem Aspekte der Jurisdiktion u. des Strafvollzugs studierte. Nach längerer Pause trat er 1854 mit dem thematisch wie formal ungewöhnl. Roman Die Industriellen (2 Tle., Zwickau) wieder als Schriftsteller hervor; der erhoffte Erfolg trat allerdings nicht ein. 1859 wurde T. Hofrat am Obersten Gerichtshof in Wien u. 1861 in den Reichsrat als Abgeordneter des Kärntner Landtags entsandt, in dem er u. a. im Finanzausschuss wirkte. In dieser Funktion arbeitete er bis 1869 zentrale Gesetzesvorhaben (Staatsgrundgesetz, Strafprozessordnung, Finanzgesetzgebung) mit aus u. wurde 1870/71 im Kabinett Potocki Justiz- u. vorübergehend auch Kulturminister. Als Abgeordneter nicht wiedergewählt, wurde T. in das Herrenhaus berufen, dem er bis zu seinem Tod angehörte u. wo er wieder im Justizbereich tätig wurde, aber auch schon 1872 für die Einführung direkter allgemeiner Wahlen plädierte. Während dieser Jahre intensiver polit. Tätigkeit trat die literar. Produktion zurück; in den 1860er Jahren erschien, eher unbemerkt, nur der Roman Grafenpfalz (Nordhausen 1862) sowie der Band Gedichte in dritter Auflage bei Brockhaus (Lpz. 1864). Zwischen 1869 u. 1872 unternahm T. weitere Reisen, die ihn

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nach Skandinavien, Ungarn u. Polen u. zuletzt über Griechenland bis Ägypten führten. In seinen letzten Lebensjahren wandte sich T. wieder stärker der Literatur zu, arbeitete den Industriellen-Roman zu Fabrikanten und Arbeiter (Würzb. 1876) um u. legte mit Sünder und Thoren (2 Bde., Bremen 1875) u. Grosse Herren und kleine Leute (ebd. 1877) zwei zum Themenfeld des sozialen u. habituellen Wandels aufschlussreiche Romane vor. Aspekte der Modernisierung der Arbeitswelt, der Kapitalisierung der Verhältnisse sowie der Demontage einer sich auch moralisch deklassierenden Aristokratie stehen im Zentrum dieser Romane, die auch konzeptionell hinsichtlich verwendeter Techniken der Parallelisierung von sozialen u. familiären Räumen bemerkenswert waren, in der sprachl. Gestaltung aber hinter den Erwartungen blieben. – T. verstarb nach der Rückkehr von einem Kuraufenthalt in Karlsbad; die gerade begonnene Werkausgabe wurde danach aufgegeben. Weitere Werke: Das Haus des Grafen Orwinski. Lpz. 1832 (unter Pseud.). – Humoristische Novellen. Wien 1841. – Buch der Reisen. Wien 1842. – Neue Gedichte. Wien 1851. – Aus dem Zauberwald. 1856. – Nachlass: Kärntner Landesarchiv, Nr. 130. Literatur: Wurzbach. – Goedeke 12 (1929), S. 284–288. – Erika Hügel: A. v. T. Nachl. u. lyr. Schaffen. Diss. masch. Wien 1950. – Othmar Rudan: Im Wandel unwandelbar. Der Kärntner Dichter u. Politiker A. Ritter v. T. 1809–1877. Porträt einer problemat. Persönlichkeit. Klagenf. 1977. – Hans H. Hahnl: Vergessene Literaten. Wien 1984, S. 51–54. – Johann Strutz: A. Ritter v. T.s Roman ›Die Industriellen‹ In: ÖGL 28 (1984), H. 2, S. 90–108. – Hugh Ridley: Signifizierung u. Zynismus. In: Bewegung im Reich der Immobilität. Revolutionen in der Habsburgermonarchie 1848–1849. Hg. Hubert Lengauer u. Primus-Heinz Kucher. Wien/Köln/Weimar 2001, S. 299–310. – Kosch 24. – P.-H. Kucher (Hg.): A. Ritter v. T. (1809–1877). Lit. u. Politik zwischen Vormärz u. Neoabsolutismus. Wien/Köln/Weimar 2006. – Wynfrid Kriegleder: A. v. T.s Roman ›Der moderne Eulenspiegel‹. In: ebd., S. 121–136. – Mira Miladinovic´ Zalaznik: ›[...] und sinnlos kehrt auch so mancher Slave, den Deutschland bereits gastfreundlich als den seinen aufgenommen hatte, freiwillig zu den stürmenden Fahnen zurück‹. Das Slawenbild bei A. v. T. In: ebd., S. 167–184. Primus-Heinz Kucher

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Tscharner, Vinzenz Bernhard von, * 4.5. 1728 Bern, † 16.9.1778 Bern. – Lyriker, Übersetzer, Historiker. Der Spross einer angesehenen Berner Patrizierfamilie (der Vater amtierte als Landvogt in Königsfelden u. Frauenfeld) genoss eine sorgfältige Erziehung durch einen Hauslehrer. Schon früh begann er sich in poetischen Übersetzungen zu üben (seine 1750 edierte Übertragung von Hallers Gedichten ins Französische erlebte mehrere Auflagen), verfasste aber auch eigene Gedichte in Klopstock’schem Ton u. patriotischer Manier. 1750/51 unternahm er eine Bildungsreise durch Holland, England u. Frankreich. Als Sekretär der einflussreichen Ökonomischen Sozietät Bern publizierte er u. a. 1761 ein physiokratisches didakt. Gedicht Von der Wässerung (Zürich). Er betätigte sich auch als Historiker u. Verleger: So edierte er in Yverdon eine neue Ausgabe der Encyclopédie, zu der er zahlreiche Artikel über Schweizerische Topografie u. Historie beisteuerte. T. wurde 1764 in den Großen Rat aufgenommen u. schloss seine polit. Laufbahn als Landvogt in Aubonne (1769–1775) ab. Weitere Werke: Poésies choisies de Mr. de Haller. Gött. 1750 u. ö. – Freundschaftl. Geschenke. Ebd. 1750 (L.). – Historie der Eidgenossen. 3 Bde., o. O. 1763. 1758. 1768. – Lobrede auf Hrn. Albrecht Haller. Bern 1778. – Histor., geograph. u. polit. Beschreibung des Schweitzerlandes. 2 Bde., Bern 1782/83 (= Übers. v. T.s Zusätzen zur Encyclopédie). Literatur: Richard Hamel: Mittheilungen aus Briefen an V. B. T. Rostock 1881. – Ders. (Hg.): Briefe v. Zimmermann, Wieland u. Albrecht v. Haller an T. Ebd. 1881. – Bloesch: V. B. v. T. In: ADB. – Gustav Tobler: V. B. T. Neujahrs-Blatt der Literar. Gesellsch. Bern auf das Jahr 1896. Bern 1895. – Enid Stoye: Vincent Bernard de T. 1728–1778. A study of Swiss culture in the eighteenth century. Freib./Schweiz 1954. Christoph Siegrist

Tscherning, Andreas, * 18.11.1611 Bunzlau/Schlesien, † 27.9.1659 Rostock. – Lyriker, Dramatiker, Dichtungstheoretiker u. Orientalist. T. entstammte einer Kürschnerfamilie. Wie sein Vorbild, Mentor u. Verwandter Opitz

besuchte er zunächst die renommierte Stadtschule seines Geburtsorts, bis ihn Krieg u. Gegenreformation 1629 nach Görlitz an das dortige Gymnasium trieben. Aber auch hier waren die Kriegsfolgen so verheerend, dass T. bereits 1630/31 auf das Elisabeth-Gymnasium in Breslau überwechselte. In den kommenden Jahren trat T. mit ersten Gelegenheitsdichtungen an die Öffentlichkeit. Wohl aus Finanznot begann er sein Studium erst 1635 an der kriegsfernen u. blühenden Universität Rostock, wo er u. a. den Poetikprofessor u. frühen Opitz-Verehrer Peter Lauremberg hörte u. sich dem Studium des Arabischen widmete. Private Gründe forderten ihn schon im folgenden Jahr zurück in die schles. Heimat, zuerst nach Bunzlau, dann nach Breslau, wo er – finanziell mittellos – als Hauslehrer arbeitete. In dieser Zeit erschien mit seiner Centuria Proverbiorum Alis [...] distichis Latino-Germanicis expressa (Breslau 1641. Zwei erw. u. verb. Neuauflagen mit arab. Text publizierte er zusammen mit der Sammlung Deutscher Getichte Frühling 1646 u. 1649) die erste Übersetzung aus dem Arabischen ins Deutsche. Nach einem kurzen Aufenthalt als Hauslehrer in Thorn konnte T. schließlich mit Hilfe seines Freundes u. Förderers Apelles von Löwenstern 1642 seine Studien in Rostock fortsetzen. Kurz zuvor erschien seine erste Lyriksammlung Deutscher Getichte Früling (Breslau 1642. Überarb. 2. u. 3. Aufl. 1646 u. 1649), die ihn als Poet überregional bekannt machte. Gemeinsam mit einer Sammlung lat. Gelegenheitsgedichte, der Semicenturia Schediasmatum (Rostock 1643. Erw. Aufl. u. d. T. Schediasmatum Liber unus. 1644. 2. Teil 1650), dürfte dieses Werk entscheidend dazu beigetragen haben, dass T. 1644, im Jahr seiner Magisterpromotion, zum Professor der Poesie an der Universität Rostock berufen wurde. Er blieb bis zu seinem Lebensende in dieser Position u. – abgesehen von kleineren Reisen – auch in der Warnowstadt. Wie Dach in Königsberg widmete sich T. in Rostock der Ausbreitung von Opitz’ Versreform, allerdings stand er dabei, anders als Dach, vor Ort weitgehend alleine. Wiederholt klingt in T.s Kasualdichtungen Bedauern darüber an, dass er aus finanziellen Gründen auf ausgedehnte Studienreisen verzichten

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musste. Seine Vernetzung mit räumlich entfernten Freunden u. Förderern sowie mit anderen Gelehrten u. Poeten (Opitz, Buchner, Titz, Rist, Schupp, Harsdörffer u. a.) fand v. a. über Gelegenheitsdichtungen u. auf briefl. Wege statt. In Rostock publizierte T. neben der Lyriksammlung Vortrab Des Sommers Deutscher Getichte (1655) u. a. das Drama Judith (1646) u. die Proverbia Arabica Germanice expressa (1654) sowie die Sammlung Promulsis Programmatum Academicorum Poeticorum (1658). Nach seinem Tod 1659 folgte ihm sein Schüler Morhof im Amt nach. Die Ideen der Wahrung der Reichseinheit über eine gemeinsame nationale Literatursprache u. der Abwehr der aus der konfessionellen Spaltung erwachsenden Gefahren durch eine am europ. Calvinismus geschulte irenische Friedensordnung, wie von Opitz u. anderen vertreten, hatte sich T. früh zu eigen gemacht. Friedensappelle u. Kritik am Krieg kehren in T.s Dichtungen wieder. Daneben findet sich in seinen beiden deutschsprachigen Sammlungen Deutscher Getichte Früling u. Vortrab Des Sommers Deutscher Getichte nahezu das ganze Themen- u. Formenspektrum barocker Lyrik. Bemerkenswert erscheint, dass hier, anders als in vielen Gedichtsammlungen seiner Zeitgenossen, die Lyrik nicht nach Gegenständen, Anlässen oder Gedichtformen gegliedert wird. In den Kasualgedichten, die den größten Teil der beiden Sammlungen ausmachen, finden sich immer wieder ausführl. Reflexionen zu Gelehrsamkeit u. Poesie, die häufig nicht allgemein bleiben, sondern, ähnlich wie manches – heute – ungleich bekanntere Gedicht Dachs oder Flemings, auf die eigene Biografie u. Position innerhalb der res publica litteraria Bezug nehmen. Selbstbewusst gedenkt T. etwa der Hürden der eigenen Bildungs- u. Dichterlaufbahn sowie ihrer Überwindung oder stilisiert die biografisch für ihn zentralen Städte Rostock u. Bunzlau zu Musenorten. Den Vergleich mit seinen heute intensiver rezipierten Zeitgenossen muss T. nicht scheuen. So steht etwa sein monumentales Lob der Buchdruckerey, das zgl. eine intensive Auseinandersetzung mit den widerstreitenden zeitgenöss. Geschichtsbildern darstellt, Zesens Gebundene[r]

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Lob=Rede an die Kunst des Bücherdruckens in nichts nach. Mit dem Bethlehemitischen Kindermord in dem Gedicht Rachel Deplorans Infanticidium Herodis (Breslau? 1635), einer frei u. amplifizierend in dt. Alexandriner übertragenen Elegie des Caspar Barlaeus, u. mit dem Drama Judith, einer um zwei Akte vermehrten Neuaufl. der Judith Opitz’, gelang T. die Aktualisierung des bibl. Stoffs für die protestantische Bedrängnis in Zeiten der Gegenreformation. Beide Texte wie auch beispielhaft die OpitzParaphrasen LobGesang JESU Christi (Rostock 1635) u. Lob des Weingottes (ebd. 1636) weisen ihn zgl. als den Dichter aus, den noch Gottsched, Lessing u. Ramler schätzten: als disziplinierten Arbeiter an der Metrik u. Sprache der Opitz-Schule. Gerade T.s wiederholte, dem zeitgenöss. Prinzip der aemulatio verpflichtete Auseinandersetzung mit Opitz’ Lyrik führte in der auf Originalität bedachten Germanistik des späten 19. u. frühen 20. Jh. zu einer Abwertung von T.s Werk (vgl. v. a. die Biografie Borcherdts) u. in der Folge zu einer geringen literaturwissenschaftl. Beachtung des bis ins 18. Jh. bewunderten Autors, den Zeitgenossen in eine Reihe mit Opitz, Gryphius u. Fleming stellten. Bis in die jüngste Zeit fand T.s Lyrik in der Germanistik kaum Beachtung, allein sein Gedicht Melancholey Redet selber hat sie in größerem Umfang beschäftigt. Abgesehen von einzelnen in Anthologien aufgenommenen Texten ist T.s lyr. Werk bis heute schwer zugänglich. Mit der Herausgabe seiner Poetik Unvorgreiffliches Bedencken über etliche mißbräuche (Lübeck 1658. Erneut u. vermehrt mit einer Schatzkammer Von schönen und zierlichen Poetischen redens-arten. 1659) zögerte der überzeugte Opitzianer T. lange. Die Gründe dafür dürfen wohl in dem Versuch gesehen werden, eine vermittelnde Rolle zwischen den widerstreitenden zeitgenöss. poetolog. wie sprachwissenschaftl. Positionen einzunehmen. T. treibt in seiner Poetik die Diskussion nicht voran, er möchte konsolidieren, verdeckt eher den Streit, als dass er ihn herausarbeitet. Aus den Poetiken Opitz’, Buchners, Schottelius’, auch Gueintz’ u. Titz’, nimmt er Anregungen auf, spart selbst nicht mit Kritik u. steuert

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Tschesch, (Hans Dietrich) Johann Theodor von, * 18.3.1595 Voigtsdorf/Schlesien, † 22.2.1649 Elbing. – Theosoph; Epigrammatiker.

Böhmes, ihre stille Tätigkeit u. bildeten einen großen Freundeskreis, in dessen Mittelpunkt T. u. Abraham von Franckenberg standen. Beide waren Sammler u. Interpreten der Schriften Böhmes, Vermittler u. Verteidiger seiner Lehre. Wachsende Enttäuschung über Leben u. Welt, die T. in immer tiefere Zurückgezogenheit führte, ließ ihn seine Ämter aufgeben. 1642 verließ er Schlesien u. ging u. a. nach Danzig, Amsterdam u. Hamburg (dort 1644 als »der Leidende« Mitgl. der Deutschgesinnten Genossenschaft). T.s Werke sind z.T. verschollen. Seine bahnbrechenden theosophischen Abhandlungen über das Wesen der Religion stellen die zentrale Frage nach dem Sinn der Konfessionen im Christentum (Zeller). Neuauflagen, die sie bis ins 18. Jh. erlebten, zeugen von ihrer damaligen Aktualität u. Bedeutung. Auch als Dichter war T. bekannt: Neben mehreren Kasualgedichten ist eine Sammlung von 1200 lat. Epigrammen, Vitae cum Christo sive Epigrammatum sacrorum Centuriae XII (Amsterd. 1644), erhalten. Das Werk erlaubt einen Einblick in religiöse u. philosophische Anschauungen des Verfassers, gibt Aufschluss über wichtige Erlebnisse, über Bekanntschaften u. T.s Lektüre, im Ganzen aber ist es Ausdruck einer »praktischen, persönlich erlebten Frömmigkeit in der Nachfolge Christi« (Baldinger). Sein bekenntnishafter Charakter stellt es in die Nachbarschaft der religiösen Autobiografie.

Nach dem Jurastudium in Marburg trat T. als Rat in den Dienst Friedrichs V. von der Pfalz, dann in den der reformierten schles. PiastenHerzöge Georg Rudolf u. Johann Christian von Brieg und Liegnitz, deren kirchl. Reformbestrebungen er aktiv unterstützte: Umstritten, aber höchst wahrscheinlich, ist T.s Urheberschaft der als kultur- u. kirchengeschichtl. Quelle bedeutenden Treuhertzigen Erinnerung an Die Evangelische Priesterschaft in Deutschland, die bis 1735 als Christ-Fürstliches Bedencken unter dem Namen Herzog Johann Christians erschien (siehe János Bruckner: Abraham von Franckenberg. A bibliographical catalogue. Wiesb. 1988, S. 13–20). Unter der Herrschaft der Piasten-Fürsten entfalteten die Vertreter der schles. Mystik, Anhänger

Weitere Werke: Discursus Academicus De Defensione Extrajudiciali. Marburg 1618. – Eerste Apologie ende Christelycke Voorberecht. Amsterd. 1644 (niederl.). – Kurtzer u. einfältiger Bericht Von der einigen wahren Religion. Ebd. 1646. Wesel/ Duisburg/Ffm. 1690. – Zwiefache Apologia [...] auf die fünf lästerl. Hauptpuncte Davids Gilberti v. Utrecht. Ebd. 1676. – Einleitung in dem [!] Edlen Lielien-Zweig des Grundes u. der Erkäntniß der Schrifften [...] Böhmens. Amsterd. 1679. 1684. – Pfingst-Erstlinge. (Angehängt: Von der Sünde wider den H. Geist). Ffm./Lpz. 1684. Wesel 1690. – Siebenfaches Gedenck-Ringlein. Ffm./Lpz. 1684. – Kurtze Entwerffung der Tage Adams im Paradiese. In: Der [...] Seeligen Jane Leade letzte LebensStunden. Amsterd. 1705 (auch Hss. UB Wrocl/aw ). – Aufmunternde Gründe zu Lesung der Schrifften Jacob Boehmens [...] nebst J. T. v. T. Leben. (Darin: Kurtze Entwerffung der Tage Adams im Paradiese).

doch immer wieder auf eine mittlere Position. Kein konzeptloser Eklektiker ist hier am Werk, sondern ein politisch wacher Späthumanist, dem u. a. zu verdanken ist, dass der von Opitz eingeleiteten Literaturreform nicht das gleiche Schicksal widerfuhr wie dem Alten Reich nach 1648. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 6, S. 4103–4134. – Weitere Titel: Max Hippe: A. T. In: ADB. – Hans Heinrich Borcherdt: A. T. Mchn./Lpz. 1912. – Susanne Schulte: A. T. In: Bautz (dort auch weitere Literatur bis 1995). – JörgUlrich Fechner: Ein poet. Nachrichtenbrief v. A. T. nach Breslau. In: Memoria Silesiae. Hg. Mirosl/awa Czarnecka u. a. Wrocl/aw 2003, S. 271–280. – Ralf Georg Bogner: Pazifistische Zumutungen. A. T.s Gedicht ›Liebet Friede‹ als poet. Appell zu einer universalen menschl. Konfliktvermeidung. In: Lyrik im histor. Kontext. FS Reiner Wild. Hg. Andreas Böhn u. a. Würzb. 2009, S. 32–38. – Misia Sophia Doms: ›Jch / alß welcher sich befleist | Grosser Leute Gunst zu kriegen‹. Poetische Strategien zur Steigerung des Ansehens als Gelehrter u. Dichter in der Lyrik A. T.s. In: KulturPoetik 9 (2009), H. 2, S. 155–177. – Grantley McDonald: The Emblem of Melancholy in Seventeenth-Century Germany: A. T.’s ›Melancholey Redet selber‹. In: Melancholie – zwischen Attitüde u. Diskurs. Hg. Andrea Sieber u. Antje Wittstock. Gött. 2009, S. 95–117. Bernd Prätorius / Misia Sophia Doms

Tschinag Ffm./Lpz. 1731. – Briefe: Vertrauliche Send-Schreiben. o. O. 1711 (an Abraham von Franckenberg u. Martin Zobel). In: Valentin E. Löscher: Unschuldige Nachrichten. Lpz. 1712, S. 50–52, 967–969. 1713, S. 231–235. 1714, S. 763–769. 1718, S. 108–111 (an Johann Theodor von Saurma). – Briefe in: Abraham v. Franckenberg: Briefw. Eingel. u. hg. v. Joachim Telle. Stgt.-Bad Cannstatt 1995. – Hss. UB Wrocl/aw (an Abraham Willemszoon van Beyerland u. Saurma). – Hss. Herzogin Anna Amalia Bibl. Weimar (an Lazar u. Elias Henckel). Literatur: Gustav Koffmane: Die religiösen Bewegungen in der evang. Kirche Schlesiens. Breslau 1880. – Will-Erich Peuckert: Die Rosenkreutzer. Jena 1928. – Ernst Benz: Der Prophet Jakob Böhme. Wiesb. 1959. – Winfried Zeller: Augustin Fuhrmann u. J. T. v. T. In: Ders.: Theologie u. Frömmigkeit. Marburg 1971, S. 137–153. – Annemarie Baldinger-Meier: Lat. u. dt. Dichtung im 17. Jh.: J. T. v. T. In: Daphnis 6 (1977), S. 291–312. – Ferdinand van Ingen: Böhme u. Böhmisten. Bonn 1984. – John Bruckner: Dichtung u. Erbauungslit. In: Lit. u. Volk im 17. Jh. Bd. 2, Wiesb. 1985, S. 579–588. – Siegfried Wollgast: Philosophie in Dtschld. [...] 1550–1650. Bln./DDR 1988, S. 762–775. – Ders.: Morphologie schles. Religiosität in der Frühen Neuzeit. In: Kulturgesch. Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Hg. Klaus Garber. Bd. 1, Tüb. 2005, S. 113–190. – Dietrich Meyer: Die Entstehung u. Wirkung des ›Briegischen Bedenkens‹ v. 1627. In: Dziedzictwo reformacji w ksiestwie legnicko-brzeskim. Das Erbe der Reformation in den Fürstentümern Liegnitz u. Brieg. Hg. Jan Harasimowicz u. Aleksandra Lipin´ska. Legnica 2007, S. 153–169. – Tünde Beatrix Karnitscher: Vigasz ›éhezo lelkek‹ számára. A sziléziai spiritualista, J. T. v. T. Lazarus Henckelnek írt levelében említett müveinek nyomában‹. In: Acta Historiae Litterarum Hungaricarum. Bd. 30. Hg. Font Zsuzsa (im Druck). Ewa Pietrzak

Tschinag, Galsan, eigentl.: Irgit Schynykbai-oglu Dshurukuwaa, * 1943/44 BajanÖlgii-Aimag/Mongolei. – Erzähler, Lyriker, Essayist; Übersetzer, Lehrer, Literaturwissenschaftler; Redakteur, Lektor, Herausgeber; Schamane; Stammesoberhaupt. T. wurde 1943 oder 1944 – sein genaues Geburtsdatum ist nicht bekannt – als jüngster Sohn einer tuwin. Nomadenfamilie in der Westmongolei geboren. Nach Abschluss der

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Schule begann er 1961 ein Studium der mongol. Sprache u. Literatur an der staatl. Universität in Ulaanbaatar. 1962 erhielt er ein Stipendium für ein Studium in Leipzig. Er lernte zunächst am Herder-Institut Deutsch u. studierte seit 1963 Germanistik an der Karl-Marx-Universität. Seither schreibt er seine literar. Texte vorwiegend auf Deutsch. Nach seiner Abschlussarbeit über Erwin Strittmatter kehrte T. 1968 in die Mongolei zurück, lehrte dort an der Universität in Ulaanbaatar dt. Sprache u. Literatur u. übersetzte u. a. dt. Literatur ins Mongolische. 1976 erhielt T. wegen »politischer Unzuverlässigkeit« Berufsverbot. Daraufhin arbeitete er zunächst als Journalist für die Gewerkschaftszeitung »Chödölmör« (»Die Arbeit«), 1987–1990 als Redakteur u. Herausgeber der Zeitschrift des mongol. Journalistenverbands, »Setgüültsch« (»Der Journalist«), u. 1990/1991 als Cheflektor bei »MongolKino«. Der Adelbert-von-Chamisso-Preis, den er 1992 für seine Erzählung Eine tuwinische Geschichte (Bln./DDR 1981 u. Bln. 1992 u. d. T. Eine tuwinische Geschichte und andere Erzählungen. Erw. Neuausg. Mchn. 1995) erhielt, eröffnete ihm eine schriftstellerische Karriere in der westl. Welt. Seine Romane, Erzählungen u. Gedichte erscheinen seither kontinuierlich in dt. u. Schweizer Verlagen. In Erzähl- u. Sprachstil knüpft T. an die reichhaltige mündl. Literatur der turksprachigen Tuwa an u. erweitert die dt. Sprache u. Literatur damit um neue Sicht- u. Ausdrucksweisen. Anhand von oft autobiografisch grundierten Einzel- u. Familienschicksalen – z. B. in der Romantrilogie Der blaue Himmel, Die graue Erde u. Der weiße Berg (Ffm. 1994, 1999 u. 2000) – schildert T. die traditionelle Lebensweise seines Volkes im Ringen mit einer übermächtigen Natur u. radikalen politisch-sozialen Umbrüchen. Einen Traum erfüllte sich T., indem er 1995 einen Teil seines verstreut lebenden Volkes in die Heimat, das Altai-Gebirge, zurückführte, das es wegen Zwangsumsiedlung hatte verlassen müssen. Er beschreibt diese Heimkehr in der tagebuchartigen Erzählung Die Karawane (Mchn. 1997). T. versteht sich als Mittler zwischen den Kulturen u. lebt sowohl in der Hauptstadt

Tschink

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Ulaanbaatar als auch im Altai. Bei seinen Tschink, Kajetan, * 22.4.1763 Wien, zahlreichen Lesungen, Interviews u. Vorträ- † 26.3.1813 (oder 7.11.1809) Olmütz. – gen im Ausland wirbt er um Verständnis u. Romanautor. Unterstützung für sein Volk. Seine Romane Zunächst schlug T. die geistl. Laufbahn ein, u. Erzählungen wurden in zahlreiche Spraindem er 1780 in den Karmeliterorden in chen übersetzt u. mehrfach ausgezeichnet, Wien eintrat, ohne jedoch die Priesterweihe u. a. 2001 mit dem Heimito-von-Dodererzu erhalten. 1792 wechselte er nach Jena, um Preis u. 2008 mit dem Literaturpreis der dort Philosophie zu studieren, wobei er sich deutschen Wirtschaft. v. a. mit Kant auseinandersetzte. Am Lyceum Weitere Werke: Der siebzehnte Tag. Mit einem in Olmütz lehrte er in der Folge Logik, MeNachw. v. Erika Taube. Mchn. 1992 (E.en). – Das taphysik u. Praktische Philosophie. Seine Ende des Liedes. Mchn. 1993 (E.en). – Zwanzig u. ein Tag. Ffm. 1995 (R.). – Alle Pfade um deine Jurte. wissenschaftl. Publikation beschränkt sich Frauenfeld 1995 (L.). – Nimmer werde ich dich auf den Grundriß der Logik (Olmütz 1802). Mit der Schrift Unpartheyische Prüfung des zu zähmen können. Ebd. 1996 (L.). – Im Land der zornigen Winde. Gesch. u. Gesch.n der Tuwa- Rom erschienenen kurzen Inbegriffs von dem Leben Nomaden aus der Mongolei (zus. mit Amelie und Thaten des Josephs Balsamos oder des sogeSchenk). Ebd. 1997. – Wolkenhunde. Ebd. 1998 (L.). nannten Cagliostro (Wien 1791) beteiligte sich – Der Wolf u. die Hündin. Ebd. 1999 (E.). – Son- T. an der Diskussion um Okkultismus, Magie nenrote Orakelsteine. Schamanengesänge. Ebd. u. Magnetismus im Allgemeinen, um den 1999. – Dojnaa. Mchn. 2001 (E.). – Tau u. Gras. vielbesprochenen Abenteurer Cagliostro im Zürich 2002 (E.en). – Der Steinmensch von Ak-Hem. Speziellen. Mit seinen literar. Werken trug er Frauenfeld 2002 (L.). – Die Verteidigung des Steins gegenüber dem Beton. Zwei Reden. Ebd. 2003. – Das zur Neuentstehung der Gattung des Geistergeraubte Kind. Ffm. 2004 (R.). – Mein Altai. Mchn. seherromans in der Goethezeit bei: Sowohl in 2005 (E.en). – Das zaubermächtige Goldplättchen u. der Geschichte eines Geistersehers. Aus den Papieandere Märchen aus der Gegenwart. Frauenfeld ren des Mannes mit der eisernen Larve (3 Bde., 2006. – Jenseits des Schweigens. Ebd. 2006 (L.). – ebd. 1790–93) als auch in den WundergeLiebesgedichte. Mit einem Nachw. des Autors. Ffm./ schichten samt den Schlüsseln zu ihrer Erklärung Lpz. 2007 (L.). – Die neun Träume des Dschingis (ebd. 1792) werden wunderbare u. fantastiKhan. Ffm./Lpz. 2007 (R.). – Auf der großen blauen sche Phänomene präsentiert, für die es aber Straße. Zürich 2007 (E.en). – Das Menschenwild. stets rationale Erklärungen gibt, sodass sich Eine Erzählung aus dem Altai. Ffm./Lpz. 2008. – Die in der dargestellten Welt Magie u. Zauber Rückkehr. Roman meines Lebens. Ffm./Lpz. 2008 (Autobiogr.). – Der singende Fels. Schamanismus, jeweils nur als Täuschung des zu leicht verHeilkunde, Wiss. G. T. im Gespräch mit Klaus führbaren Betroffenen herausstellen. Meist Kornwachs u. Maria Kaluza. Hg. Maria Kaluza. Zü- ist technolog. u. physikal. Wissen für die Auflösung des vermeintl. Wunders nötig, rich 2009. – Das andere Dasein. Bln. 2011 (R.). Literatur: Lerke Saalfeld: Rund u. eckig. Ge- über das aber nur ein kleiner Personenkreis spräch. In: Ich habe eine fremde Sprache gewählt. verfügt. Diese Kenntnis stellt auch eine GeAusländ. Schriftsteller schreiben deutsch. Hg. ders. fahr für die Unwissenden dar, die sich stets Gerlingen 1998. S. 85–108. – Cornelia Schrudde: G. als die Opfer von Machtmissbrauch durch T. Der tuwin. Nomade in der deutschsprachigen Wissen erweisen. Lit. Ffm. 2000. – Anton Philipp Knittel: G. T. In: KLG. – Jörg Drews: G. T. In: LGL. – Linda Koiran: Schreiben in fremder Sprache: Yoko Tawada u. G. T. Mchn. 2009. – Marlies Prinzing: Der Schamane. Begegnung mit G. T. Bln. 2010. Robert Steinborn

Weitere Werke: Mischrumi, das räthselhafte Mädchen aus Medina. 2 Bde., Arnstadt 1804. – Herausgeber: Ueber Gottesdienst u. Religionslehre der österr. Staaten (zus. mit Leopold A. Hoffmann). Wien 1784–86 (Ztschr.). – Krit. Bemerkungen über den religiösen Zustand der k. k. Staaten. Ebd. 1786–88 (Ztschr.). – Blumenlese der Musen (zus. mit Johann Karl v. Lackner). Ebd. 1790/91. Stefan Iglhaut

Tschirnhaus

Tschirnhaus, Tschirnhauß, Tschirnhusius, auch: Tschirnhausen, Ehrenfried Walter Graf von, * 10.4.1651 Rittergut Kieslingswalde bei Görlitz/Oberlausitz, † 11.10.1708 Dresden. – Naturforscher, Philosoph, Mathematiker u. Techniker. Der Sohn des kursächs. Rats Christoph von Tschirnhaus wurde zusammen mit seinen Brüdern Friedrich Gottlob u. Georg Albrecht zunächst zu Hause unterrichtet, ehe er das Gymnasium in Görlitz besuchte u. mit 18 Jahren zum Studium in die Niederlande nach Leiden geschickt wurde. Dort studierte der junge Adlige seit 1669 neben bzw. anstelle der pflichtgemäßen Jurisprudenz v. a. Mathematik, Philosophie, die Physica (Naturforschung) u. Medizin. Seine Lehrer waren der Philosoph Arnold Geulincx, der Mediziner (Iatrochemiker) Franz de le Boë (Franciscus Sylvius, † 1672; nicht zu verwechseln mit dem Theologen F. Sylvius/François Dubois in Douai: 1581–1649, u. dem gleichnamigen Humanisten, † 1530 in Paris) sowie der Mathematiker u. Cartesianer Schotanus (Frans van Schooten). Die ehemals böhm. Oberlausitz war vom Kaiser an Kursachsen verpfändet u. diesem 1635 angegliedert worden. Das protestantische Territorium war noch hussitisch beeinflusst sowie während der Offensive der Gegenreformation von Glaubensflüchtlingen aus den umliegenden habsburgischen Ländern geprägt. Auch deshalb war das Studium an der damals modernsten Universität des protestantischen Europa für ein Mitgl. des Landadels (wie auch für viele Schlesier, darunter spätere Barockdichter, im 17. Jh.) eine naheliegende Option, nachdem T. zuvor bereits mit den Lehren von Johann Heinrich Alsted, Amos Comenius u. wahrscheinlich auch des Görlitzer gelehrten Schuhmachers Jacob Böhme bekannt geworden war. 1672 unterbrach T. seine Studien, um sich während anderthalb Jahren unter dem Kommando des Barons von Nieuwland der niederländ. Armee anzuschließen im Feldzug gegen die Franzosen; Ludwig XIV. versuchte vergeblich, die protestantischen u. republikan. Generalstaaten zu katholisieren. Nach der Rückkehr 1674 führte T. die schon von Leiden aus geknüpften Kontakte

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zu Spinoza (seit 1669 in Den Haag, † 1677) weiter, ehe er sich im folgenden Jahr auf seine Kavalierstour begab, die zu einer ergiebigen gelehrten Bildungsreise von mehreren Jahren geriet. In dieser Zeit legte er die Grundlagen zu seinen späteren Interessen u. Tätigkeiten bzw. baute sie weiter aus. 1675 hielt er sich zunächst drei Monate in London auf; dann führte ihn die Reise nach Paris u. in Italien bis Palermo u. Malta. In London verkehrte er mit den Gründern der Royal Society, mit Henry Oldenburg, dem jahrelangen Briefpartner Spinozas, mit Robert Boyle, John Pell, John Wallis, dem Freidenker John Collins u. wohl auch mit Newton. Oldenburg empfahl ihn nach Paris an Christiaan Huygens, den auch mit Spinoza in Verbindung stehenden führenden Mathematiker der Zeit. Er begegnete Leibniz, Arnauld, dem Abbé Mariotte u. dem Direktor der Académie des Sciences u. wichtigsten Minister des Königs Jean-Baptiste Colbert, dessen Söhne er unterrichtete. Einer Anekdote zufolge habe T., der bald zu den prominenten Verächtern des lateinsprachigen Späthumanismus gehören sollte, seine Schüler mangels Französischkenntnissen auf Latein unterrichten müssen, ein pikantes Paradox. Er befasste sich mit Philosophie u. Mathematik u. schon damals immer auch mit techn. Anwendungen, dem Bau von Teleskopen u. a. optischen Instrumenten, u. er knüpfte Kontakte zu den Autoritäten wie dem Konstrukteur von Brennspiegeln, François Villette in Lyon. Italien, das er 1676–1679 bereiste, war für T. nicht die Heimat der Studia humanitatis, der Bibliotheken u. Handschriften, sondern des Physikers Galilei u. des gelehrten Linsenschleifers Giovanni Borelli in Rom, wo er auch Athanasius Kircher begegnete, sowie des Optikers Manfredo Settala in Mailand. Auf der Rückreise 1679 hielt er sich erneut in Paris auf u. trat in persönl. Verbindung zu Nicolas Malebranche. Seit etwa 1680 lebte u. arbeitete T. die meiste Zeit auf dem Familienbesitz u. in Dresden. 1682 weilte er in Paris, wo er auf Colberts Vorschlag zum Mitgl. der Akademie gewählt wurde. Die Zuordnung zur frühen Aufklärung charakterisiert T.’ Bedeutung nicht hinreichend. Er war weder Späthuma-

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nist noch Polyhistor, sondern – mehr noch als Erhard Weigel in Jena – der erste u. am meisten authent. Repräsentant der Neuen Wissenschaft in Deutschland. Weigels Fixsterne sind Pythagoras, Aristoteles u. Euklid; T. orientierte sich an Malebranche u. Huygens, Newton u. Leibniz. Zumal in Deutschland hatte ihm die Universität nichts zu bieten. Gleich Leibniz setzte T. auf die Organisation der anwendungsbezogenen Wissenschaft außerhalb der Universitäten. Dem heimischen gelehrten Betrieb hat er immer fern gestanden, das Amt des Kanzlers der neuen Universität in Halle lehnte er ab. Als Naturforscher u. Philosoph ohne universitäre Position stand er vereinzelten ›Amateuren‹ wie Guericke oder Hevelius u. dem Typ des englischen ›virtuoso‹ nahe, der in Bacons Wissenschaftsutopie New Atlantis im »House of Solomon« begegnet. Anders als Leibniz verzichtete er als Angehöriger des Landadels auch auf Ämter bei Hofe, zog sich auf seinen Landsitz zurück, gründete eine standesgemäße Familie (1682 Heirat mit Elisabeth Eleonore von Lest), übernahm nach dem Tod des Vaters 1684 die Verwaltung der Güter u. installierte dort seine Bibliothek u. das Forschungslaboratorium. Doch die Hoffnungen auf eine Jahrespension des frz. Königs für den académicien wie auf die Gründung einer Sächsischen Akademie zerschlugen sich. Bedrängt auch von den für Kursachsen u. nicht zuletzt seine eigenen Unternehmungen verheerenden Folgen des schwed. Krieges 1706/ 1707, blieb T. nichts anderes übrig, als sein Privatvermögen aufzubrauchen. 1693 starb seine erste Frau; 1702 heiratete er Elisabeth von der Schulenburg, die noch zu seinen Lebzeiten starb (1706). Mehrmals unternahm er Informationsreisen zu Leibniz nach Hannover, 1701/1702 eine Vortrags- u. Forschungsreise über Holland nach Paris. Am Ende war er arm u. starb in Dresden. Fontenelle verfasste den Nachruf der Pariser Akademie. T. ist der erste Philosoph, bei dem der radikal nachhumanistische Szientismus westeurop. Provenienz in Deutschland voll zur Geltung kommt. So verfasste er sein philosophisches Hauptwerk Medicina mentis zuerst auf deutsch, weil er das Gelehrtenlatein ver-

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nachlässigt hatte, u. ließ das Manuskript von dem Leidener Freund Pieter van Gent 1687 für den Druck in Amsterdam ins Lateinische übersetzen. Die Schulrhetorik verachtete er wie Malebranche als »eitle Schwätz-Kunst«. Auf dem Weg der Philosophiegeschichte brachte man es nur zu einem »Philosophus verbalis«; eine »Philosophia historialis« sei das Höchste, was die alten Wortwissenschaften erreichen könnten. Aber auch diese sei eben nur eine Sammlung von »opiniones«, ohne Kriterium, »welchen zu folgen oder nicht«, beliebiges Wissen also, das nicht an eine zielführende Erkenntnismethode gebunden ist. Zu einem »Philosophus realis« (im Sinne der Cartesianer, nicht Campanellas, den er wohl nicht kannte) bedarf es der Erkenntnis der »res ipsae« u. vor allem: »quicquid incognitum, sed humano tamen intellectui pervium est, propriis ingenii sui virtutibus in lucem producere« (›etwas Neues, noch unbekannte Wahrheiten erkennen mit den eigenen Geisteskräften‹). So heißt es prägnant in der neuen Leservorrede zur 2. Ausgabe (1695) der Medicina mentis, sive artis inveniendi praecepta generalia – der Titel wohl in Anlehnung an Ciceros Formel von der Philosophie als »medicina animi« (Tusc. III 1,6). Sie ist seine ›prima philosophia‹ u. kein philosophisches System, aber nicht im Sinne einer Metaphysik (»inutiles speculationes«), sondern nach Descartes u. Malebranche als Ars inveniendi, »Methodus detegendi incognitas veritates«, mit der Mathematik als Leitdisziplin, also »more geometrico«. In der Nachfolge Spinozas (De emendatione intellectus) ist insbes. die Logik neu gefasst als Methodologie des begriffl. Denkens, die zur Erkenntnistheorie tendiert. Ihr Verfahren wird von der syllogist. Schlusslehre auf eine Definitionslehre umgestellt. ›Definition‹ ist an Sachhaltigkeit gebunden; bereits Begriff u. Definition lassen das Wesen der Sachen denkbar werden. Schließlich aber sind die ›Sachen‹ Gegenstand nicht der Philosophie, sondern der experimentellen, erfahrungsgeleiteten Forschungspraxis, die T. seit den 1670er Jahren entfaltete. T. war relativ unbelastet von den dt. Kontroversen um Aristotelismus u. Cartesianismus. Er orientierte sich an Spinoza, zu dessen kleinem vertrauten Kreis er

Tschirnhaus

seit 1674 gehörte. Neben Oldenburg, der immer in London lebte, war T. der einzige dt. Gelehrte, mit dem Spinoza Umgang pflegte u. Briefe wechselte. Östlich des Rheins wurde dieser auch von so krit. Autoren wie Jakob Thomasius, dessen Sohn Christian u. Samuel Pufendorf, der sich selbst immer von den »Schwarzröcken« verfolgt sah, heftig abgelehnt. Dass T. seinen Spinozismus verleugnete, als er in den »Monatsgesprächen« angegriffen wurde (März u. Juni 1688, darauf als ›Gegendarstellung‹ sein Eilfertiges Bedencken im Juni-Heft u. die Entgegnung von Thomasius im gleichen Heft; ein Anhang an mein Eilfertiges Bedencken blieb ungedruckt, vgl. die Ed. von Wurtz 1983), lässt sich vielleicht auch mit seiner Weigerung erklären, sich in den dt. Gelehrtenstreit hineinziehen zu lassen. »Spinosam habe ich gekennet«, schreibt Pufendorf im Anschluss an Thomasius’ T.-Kritik (Briefw. 1996, Nr. 137 an Thomasius, S. 195), »das war ein leichtfertiger vogel, deorum hominumque irrisor, und hatte das novum Testamentum und Alcoran in einem band zusammen gebunden. Ich finde auch nichts subtiles bey ihm; ist aber schon der mühe werth, daß man ihn funditus destruire«. Gleichzeitig arbeitete T. an mathemat. Fragen wie der Quadratur- u. Tangentenmethode, der Auflösung algebraischer Gleichungen (»T.-Transformation«) u. an der Herstellung u. Anwendung techn. Instrumente. Mit der Gründlichen Anleitung zu nützlichen Wissenschafften (zuerst 1700) wirkte er auf August H. Franckes u. Christian Weises Erziehungskonzepte. Weise, zu dem er in freundschaftl. Beziehungen stand, widmete ihm seine Curiösen Gedancken von deutschen Versen (zuerst 1692). Schon als Student war er mit der Pädagogik des Comenius in Berührung gekommen. Andererseits suchte er im merkantilistischen Manufakturwesen, das er direkt bei Colbert kennengelernt hatte, den politisch-ökonomischen Rahmen für die prakt. Umsetzung u. Finanzierung seiner Forschungen. Früh entwickelte er Brennspiegel, die er so weit optimierte, dass er Tonerde zum Schmelzen bringen konnte. So schuf T. zumindest die Grundlage für die europ. Nacherfindung des Porzellans, die oft

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dem Dresdner Gehilfen Johann Friedrich Böttger allein zugeschrieben wurde. Dieser eher subalternen Frage hat man in der Vergangenheit einen großen Teil der Literatur über T. gewidmet. Werke und Editionen: (Anon.): Medicina corporis, seu cogitationes admodum probabiles de conservanda sanitate. Amsterd. 1686. 1695 [Vorrede: Amicus authoris ad lectorem]. – Medicina mentis, sive tentamen genuinae logicae in qua disseritur de methodo detegendi incognitas veritates. Ebd. 1687. Ed. nova auctior et correctior, mit neuer Leservorrede des Verf. u. neuem Untertitel (... sive artis inveniendi praecepta generalia). Widmung an König Ludwig XIV. Lpz. 1695. Dt.: Übers., Komm. u. Biogr. v. Johannes Haussleiter. Lpz. 1963. Frz.: Médicine de l’esprit. Einf., Übers., Anmerkungen u. Beilagen v. Jean-Paul Wurtz. Paris/Straßb. 1980. – Eilfertiges Bedencken wider die objectiones, so im mense Martio Schertz- u. Ernsthaffter Gedancken über den Tractat Medicinae Mentis enthalten. In: Christian Thomasius: Monatsgespräche, Juni 1688, S. 746–792. – Medicina mentis et corporis. Amsterd./Lpz. 1695. Nachdr. mit Vorw. v. Wilhelm Risse. Hildesh. 1964. – Nova et singularis geometriae promotio, circa dimensionum quantitatum curvarum. In: Acta Eruditorum 1695, S. 489–493. – (Paul Winckler): Der Edelmann. Hg. E. W. v. T. Ffm./Lpz. 1696. Lüneb. 1696. Nürnb. 1697 (R.). – Responsio ad observationes dominorum Bernoulliorum, quae in Actis Eruditorum mense Junio hujus anni continentur. In: Acta Eruditorum 1696, S. 519–524. – Von großen Lentibus oder Brenn-Gläsern, so 3 biß 4 pedes im diametro halten. Nebenst einer ausf. Nachricht, wie dergleich Gläser zu gebrauchen, u. von deren effectis. o. O. (ca. 1700). – Gründliche Anleitung zu nützlichen Wissenschafften absonderlich zu der Mathesi und Physica, wie sie anitzo von den Gelehrtesten abgehandelt werden. Halle 1700. Ffm. 1708. Nachdr. mit Einl. hg. v. Eduard Winter. Stgt. 1967 (nach der 4., verm. u. verb. Aufl. 1729). – Die T.-Handschrift ›Anhang an mein so genantes Eilfertiges bedencken‹. Einf., Transkription u. Anmerkungen v. J.-P. Wurtz. In: Studia Leibnitiana 15 (1983), S. 149–204. – Gesamtausgabe. Hg. Eberhard Knobloch. Lpz. 2000 ff. (Reihe 1: Werke; Reihe 2: Amtl. Schriften). Literatur: Christian Thomasius: Monatsgespräche 1688, März (Thomasius: Besprech. der ›Medicina mentis‹, S. 387–443), Juni (T.: ›Eilfertiges Bedencken‹, S. 746–792, u. Thomasius: Gegenkritik, S. 793–854). Halle 1690. Nachdr. Ffm. 1972. – Johann Melchior Steinbrück: Lebens- u. Todes-Gesch. des E. W. v. T. [...]. Görlitz 1709. –

629 Bernard de Fontenelle: Eloge de M. de T. In: Histoire de l’Académie Royale des Sciences 1709. Paris 1711, S. 114–124. – Peter Georg Mohrenthal: Lebensbeschreibung des welt-berühmten E. W. v. T., ingleichen Nachricht von seinen Schr.en u. seltenen Erfindungen. Dresden 1731 (Curiosa Saxonica, III. Repos.). – Zedler, Bd. 45 (1745). – Christian Wolff: Eigene Lebensbeschreibung. Hg. H. Wuttke. Lpz. 1841, S. 123–127. – G. W. Leibniz: Mathemat. Werke. Bd. 4 (Briefw.). Hg. Carl I. Gerhardt. Hann. 1859. Nachdr. Hildesh. 1971. – Der Briefw. v. G. W. Leibniz mit Mathematikern. Hg. C. I. Gerhardt. Bln. 1899. Nachdr. Hildesh. 1987. – Hermann Weißenborn: Lebensbeschreibung von E. W. v. T. auf Kießlingswalde u. Würdigung seiner Verdienste. Eisenach 1866. – Otto Liebmann: E. W. v. T. In: ADB. – Curt Reinhardt: Beiträge zur Lebensgesch. v. E. W. v. T. In: Jahresber. der Fürstenu. Landesschule St. Afra in Meißen. Meißen 1903. – Johannes Maria Verweyen: E. W. v. T. als Philosoph. Bonn 1905. – Curt Reinhardt: T. oder Böttger? In: Neues Lausitzer Magazin 88 (1912), S. 1–162. – Giorgio Radetti: Cartesianesimo e Spinozismo nel pensiero di E. W. v. T. In: Rendiconti della Accademia Nazionale dei Lincei 14 (1938), S. 566–601. – P. Hoffmann: Die Entwicklung der Geographie im 17. u. 18. Jh. u. ihre Widerspiegelung in den Schr.en u. in der Bibl. v. E. W. v. T. In: E. W. v. T. u. die Frühaufklärung in Ost- u. Mitteleuropa. Hg. Eduard Winter. Bln./DDR 1960, S. 326–335. – Wolfgang Janke: T. In: Schles. Lebensbilder. Bd. 5, Würzb. 1968. – Joseph E. Hofmann: E. W. v. T. In: DSB. – Siegfried Wollgast: E. W. v. T., der erste dt. Spinozist. In: Marxismus u. Spinozismus. Lpz. 1981, S. 138–175. – Jean-Paul Wurtz: T. u. die Spinozismusbeschuldigung: die Polemik mit Christian Thomasius. In: Studia Leibnitiana 13 (1981), S. 61–75. – S. Wollgast: E. W. v. T. [...]. In: Sitzungsber.e der Sächs. Akademie der Wiss.en. Philologisch.-histor. Kl. Bd. 128,1. Bln./ DDR 1988. – Günter Gawlik: Thomasius u. die Denkfreiheit. In: Christian Thomasius 1655–1728. Interpr.en zu Werk u. Wirkung. Hg. Werner Schneiders. Hbg. 1989, S. 256–273. – Cornelis A. van Peursen: E. W. v. T. and the ›Ars inveniendi‹. In: Journal of the History of Ideas 54 (1993), S. 395–410. – Ulrich G. Leinsle: E. W. v. T. In: Bautz. – Samuel Pufendorf: Briefw. Hg. Detlef Döring (= Ges. Werke. Hg. Wilhelm SchmidtBiggemann. Bd. 1). Bln. 1996. – S. Wollgast: Leibniz, T. u. der Dresdner Sozietätsplan. In: Leibniz u. Europa. Hg. Samuel M. Rapoport. Velten 1997, S. 73–96. – Gunter E. Grimm: Letternkultur. Wissenschaftskritik u. antigelehrtes Dichten in Dtschld. v. der Renaissance bis zum Sturm u. Drang. Tüb. 1998. – Jakob Bernoulli: Die Werke.

Tschirnhaus Bd. 5: Differentialgeometrie. Hg. David Speiser u. a. Basel 1999. – Marcus Popplow: Neu, nützlich u. erfindungsreich. Die Idealisierung v. Technik in der frühen Neuzeit. Münster u. a. 1998. – Mark A. Kulstad: Leibniz’ ›De summa rerum‹. The origin of the variety of things. In: L’actualité de Leibniz: les deux labyrinthes. Stgt. 1999, S. 69–85. – EikeChristian Hirsch: Der berühmte Herr Leibniz. Eine Biogr. Mchn. 2000. – Peter Bachmaier: Gnothi seauton! Erkenne dich selbst! Philosophiegeschichtl. Abriß zum Problem der Selbsterkenntnis. Tl. 3: Vom engl. Empirismus zu Kant u. dem engl. Utilitarismus. Mchn. 2001, S. 183 ff. – Rudolf Zaunick: E. W. v. T. Hg. Lothar Dunsch. Dresden 2001. – Günter Mühlpfordt: T. u. seine Korrespondenten. Zum Werden der europ. GelehrtenRepublik. In: Experimente mit dem Sonnenfeuer. E. W. v. T. (1651–1708). Kat. der Sonder-Ausstellung. Dresden 2001, S. 13–15. – Gisela Haas: T. u. die sächs. Glashütten in Pretzsch, Dresden u. Glücksburg. In: ebd., S. 55–67. – Uwe Mayer: Am Rand der Gelehrtenrepublik. T. als Mathematiker. In: ebd., S. 25–35. – Ders.: Zwischen Brennpunkt u. Peripherie. Der sächs. Mathematiker, Techniker u. Philosoph E. W. v. T. Diss. Halle 2001. – Ueberweg, 17. Jh. Bd. 4/2, S. 958–966. – Detlev Pätzold: Spinoza. Aufklärung. Idealismus. Die Substanz der Moderne. 2., erw. Aufl. Assen 2002 (bes. Kap. 4). – Mark A. Kulstad: Leibniz, Spinoza, and T. Metaphysics à trois, 1675–1676. In: Spinoza. Metaphysical themes. Hg. Olli Koistinen u. John Biro. Oxford 2002, S. 221–240. – Kolloquium aus Anlaß des 350. Geb. v. E. W. v. T. [...] 2001 in Dresden. Hg. Dagmar Hülsenberg. Lpz. 2003 (= Gesamtausg., Beibd.). – G. E. Grimm: Argumentation u. Schreibstrategie. Zum VulkanismusDiskurs im Werk v. E. W. v. T. In: Scientiae et artes. Hg. Barbara Mahlmann-Bauer. Wiesb. 2004, Bd. 1, S. 579–292. – Technikvermittlung u. Technikpopularisierung. Histor. u. didakt. Perspektiven. Hg. Lars Bluma u. a. Münster u. a. 2004. – Giovanni M. Scarpella u. Aldo Scimone: The work of T., La Hire and Leibniz on catacaustics and the birth of the envelopes on lines in the 17th century. Bln. 2004. – New DSB, Bd. 7 (2008). – Günter Mühlpfordt: E. W. v. T. Zu seinem 300. Todestag am 11. Oktober 2008. Lpz. 2008. – S. Wollgast: Zum Geistesband zwischen dem Zittau Christian Weises u. E. W. v. T. In: Poet u. Praeceptor. Christian Weise (1642–1708). Hg. Peter Hesse u. a. Dresden 2009, S. 75–122. – Eckhard Bahr: Dresden. Dresden 2010. Herbert Jaumann

Tschudi

Tschudi, Aegidius (Gilg), * 5.2.1505 Glarus, † 28.2.1572 Glarus. – Politiker u. Geschichtsschreiber. Das Bild des wichtigsten schweizerischen Geschichtsschreibers der frühen Neuzeit war einer starken Wandlung unterworfen. Während sein Chronicon Helveticum bis ins 19. Jh. kanonische Geltung hatte, Schiller den »herodotischen, fast homerischen Geist« des Werks pries u. Goethe es als ideales Instrument der Menschenbildung rühmte, verwarf es die krit. Forschung wegen zahlreicher »Irrtümer und Fälschungen«. Zu Lebzeiten umstritten war der einem angesehenen Geschlecht entstammende, von Zwingli u. Glarean an den Humanismus herangeführte T. als Politiker. Obwohl angesichts der konfessionellen Spaltung der Schweiz inopportun, blieb T. immer ein treuer Anhänger des kath. Glaubens. Dies schlug sich in der Ausübung zahlreicher öffentl. Ämter nieder (1529–1532 Vogt der VII Orte in Glarus, 1533–1535, 1549–1551 Landvogt in Baden usw.); als Landmann von Glarus (1558–1563) konspirierte er mit dem kath. Schwyz sogar gegen die eigene Bürgerschaft, um eine Rekatholisierung von Glarus zu erreichen. In diesem sog. Tschudi-Handel (1556–1564) gescheitert, widmete er sich nur noch früh aufgenommenen u. im Ausland vertieften histor. Forschungen. Nachdem T. 1526 eine topografisch-antiquar. Schilderung Graubündens (zweisprachig hg. von Sebastian Münster u. d. T. Uralt warhafftig Alpisch Rhetia – de Prisca et vera alpina Rhaetia. Basel 1538. 21560. Nachdr. Bologna 1974) vorgelegt u. 1557 eine Schweizer Geschichte von 800 bis 1470 entworfen hatte, schrieb er 1569–1571 als wichtigstes Werk das sog. Mittelbuch mit der Schweizer Geschichte von 1000 bis 1370. Die Frühgeschichte blieb unvollendet. Schon die Historiker des 16. u. 17. Jh. machten regen Gebrauch von dem erst seit 1734 edierten Chronicon Helveticum – nicht nur wegen der Fülle des akribisch durchdrungenen Materials, sondern auch wegen der narrativen Organisation u. historiografischpolit. Tendenz des Werks. Auf der Basis einer annalistischen Darstellung bietet T. eine

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einheitl. Erzählung der eidgenöss. Geschichte. Wesentliche Ereignisse, v. a. die zahlreichen Kämpfe, sind spannend bildhaft inszeniert. Für die Zeichnung der Parteien im Unabhängigkeitskampf verwendet T. ein einfaches Schwarz-Weiß-Schema. Während die ehrbaren Schweizer nur ihre primordiale Freiheit verteidigen, verstoßen die Habsburger gegen Recht u. Moral, ihre Niederlage ist demgemäß Ausdruck der göttl. Gerechtigkeit. Die fast typolog. Verbindung von Reichs-, Bundes- u. Familiengeschichte weist den »ehrlichen ursprung« des Bündnisses der Eidgenossen nach. Damit befriedigt T. ein legalistisches Rechtfertigungsbedürfnis der eidgenöss. Oberschicht. Die Darstellung der »Befreiung« selbst zielt auf Anschaulichkeit u. lückenlose Motivierung der Handlungen. Wo die Urkunden dazu nicht genügen, bedient sich T. mündl. Überlieferung (Volkslieder u. Sagen, darunter die Sage von Wilhelm Tell), sach- u. volkskundl. Materials u. eben auch in großem Umfang eigener Erfindungen. Letzteres trägt ihm zwar den Ruf eines Fälschers ein, aber damit gelingt es dem »Sekretär der geschichtlichen Vorhersehung« (Wehrli), ein chaotisches histor. Geschehen übersichtlich zu ordnen, ihm einen Sinn zu verleihen u. so ein spezifisch schweizerisches Bedürfnis nach einer myth. Überhöhung des Befreiungskampfes zu befriedigen. Weitere Werke: Beschreibung des zweiten Kappelerkrieges v. 1531. Hg. Theodor v. Liebenau. In: Archiv für Schweizer. Reformationsgesch. 1 (1903). – Vom fëgfür. Hg. Isobel A. Knowles. Glasgow 1924. – Haupt-Schlüssel zu zerschidenen Alterthumen [...] Galliae comatae. Hg. Johann Jacob Gallati. Konstanz 1758. Nachdr. Lindau 1977. Ausgabe: Chronicon Helveticum. Histor.-krit. Ausg. hg. v. Bernhard Stettler. 13 Bde., 2 Erg.-Bde. u. 4 Registerbde. Basel 1968–2001. Literatur: Bibliografie: Richard Feller u. Edgar Bonjour: Geschichtsschreibung der Schweiz vom MA bis zur frühen Neuzeit. 2 Bde., Basel/Stgt. 2 1979. – Weitere Titel: Max Wehrli: A. T. Geschichtsforscher u. Erzähler. In: Schweizer. Ztschr. für Gesch. 6 (1956), S. 433 ff. – Bernhard Stettler: Geschichtsschreibung im Dialog. In: ebd. 29 (1979), S. 556 ff. – Ders.: T.s Bild v. der Befreiung der drei Waldstätte u. dessen Platz in der schweizer. Historiographie. In: A. T. ›Chronicon Helveticum‹. Tl. 3, Bern 1980, S. 9* ff. – Beate Rattay: Entste-

Tschudi

631 hung u. Rezeption polit. Lyrik im 15. u. 16. Jh. – dargestellt am Beispiel der histor. Lieder im ›Chronicon Helveticum‹ des A. T. Göpp. 1986. – B. Stettler: T.-Vademecum. Annäherungen an A. T.s ›Chronicon Helveticum‹. Basel 2001. – T. u. seine Zeit. Hg. Katharina Koller-Weiss u. Christian Sieber. Basel 2002. – Jaumann Hdb.

Tschudi, Johann Heinrich, auch: Ericus von Tunnegg, Ericus von Tannegg, * 19.6. 1670 Schwanden/Kanton Glarus, † 19.5. 1729 Schwanden. – Historiker, Popularisator gelehrten Wissens, Zeitschriftenherausgeber.

Gerhard Wolf / Red.

Der Sohn eines in verschiedene kommunale Ämter berufenen, angesehenen Bürgers nahm nach einer Grundausbildung in seiner Heimat 1688 am Zürcher Carolinum das Theologiestudium auf, das er 1690 an der Universität Basel mit der gleichzeitigen Ordination zum Pfarrer abschloss. 1692 wurde T. Diakon, 1719 Hauptpfarrer in Schwanden. In einer ersten, bis um 1713 dauernden Publikationsphase verfasste er Schriften zur Erbauung u. Katechese, ein Traktat über medizinische Aufklärung sowie eine polit. Stellungnahme zum Zweiten Villmergerkrieg. In der geografisch-histor. Beschreibung Des Lobl. Orths und Lands Glarus (Zürich 1714) u. einer Abhandlung über das glarnerische Untertanengebiet Werdenberg (Chur 1726) beschäftigte er sich unter patriotischem Blickwinkel mit regionalgeschichtl. Themen. Schauplätze der Geschichte waren für ihn Wirkungsstätten göttl. Vorsehung. Auch im benachbarten Deutschland bekannt waren T.s Monatliche Gespräche einiger guter Freunde von allerhand geist- und weltlichen Dingen (Zürich 1714–25), in denen er sich als Vertreter einer gemäßigten Orthodoxie u. Wegbereiter der Aufklärung vorwiegend mit kulturellen, polit., philosophischen u. theolog. Fragen auseinandersetzte. Sein Bestreben, eine mittlere Position zu finden, drückt sich auch in seinem Verhältnis zum Pietismus aus. Mit dem Zürcher Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer stand er in häufigem Briefwechsel.

Tschudi, Fridolin, * 11.6.1912 ZürichSeebach, † 5.1.1966 Klosters/Kt. Graubünden. – Lyriker, Satiriker. Aus einer Glarner Familie stammend, wuchs T. in Zürich auf u. studierte dort nach der Handelsmatura Rechts- u. Staatswissenschaften. Als Redakteur der Universitätszeitung »Zürcher Student« kam er mit dem Journalismus in Berührung u. gab das Studium bald zugunsten einer freien Tätigkeit als Zeitungsmitarbeiter, Verfasser von KabarettTexten, Filmdrehbüchern u. satir. Gedichten auf. Von 1944 bis zu seinem Tod schrieb T. allwöchentlich ein satir. Gedicht für die Titelseite der »Weltwoche«. Seine Lyrik, die in Bänden wie Heissgeliebte Karoline (Zürich 1953), Kleines Handbuch der Heiterkeit (ebd. 1958), Lächle lieber, statt zu lachen (ebd. 1960. 1977) u. Ausgewählte Verse (ebd. 1966. Mit einem Gedenkwort von Alois Carigiet) erschien, ist formal bei aller iron. Verfremdung eher konventionell u. erinnert an Erich Kästner; sie vermag aber dem schweizerischen Alltagsleben auf vergnüglich-humorige Weise glanzvolle satir. Pointen abzugewinnen, die sie in ihrem liebenswürdigen Bänkelsängertum unverwechselbar machen. Weitere Werke: Zürich 2000. Gedichte, Verse, Sprüche. Ausw.: Paul Rothenhäusler u. Marta Tschudi. Nachw. v. P. Rothenhäusler. Stäfa 1986. – Lächle lieber statt zu lachen. Mit F. T. durch das Jahr. Ein immer währender Kalender, deutsch, englisch, baselditsch, züritüütsch. Ebd. 2003. Charles Linsmayer

Weitere Werke: 231 Briefe T.s (1720–1729) in der Zentralbibl. Zürich. Literatur: Gottfried Heer: J. H. T. In: ADB. – Adolf Dütsch: J. H. T. u. seine ›Monatlichen Gespräche‹. Frauenfeld/Lpz. 1943. – Hans Hubschmid: Gott, Mensch u. Welt in der schweizer. Aufklärung. Eine Untersuchung über Optimismus u. Fortschrittsgedanken bei Johann Jakob Scheuchzer, J. H. T., Johann Jakob Bodmer u. Isaak Iselin. Affoltern am Albis 1950. – Hermann Landolt: Die Schule der Helvetik im Kanton Linth 1798–1803 u.

Tschudi ihre Grundlagen im 18. Jh. Diss. Zürich 1973. – Martin Baumgartner: Grosse Glarner. 26 Lebensbilder aus fünf Jh.en. Glarus 1986. – Jaumann Hdb., Bd. 1, S. 665. Hanspeter Marti

Tschudi, Nikolaus Friedrich von, auch: Dr. C. Weber, * 1.5.1820 Glarus, † 24.1. 1886 Melonenhof bei St. Gallen. – Theologe, Staatsmann, landwirtschaftlicher Schriftsteller.

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Obstbaumkulturen vor Ungeziefer wirkte er auch für den Vogelschutz in der Schweiz u. den Nachbarländern (Die Vögel und das Ungeziefer. o. J.). Von Bedeutung ist auch sein Eintreten für pädagogische Anliegen, die er als Leiter des kantonalen Erziehungsdepartements (1868–1873, 1875–1885), als schweizerischer Ständerat (seit 1877) u. als eidgenöss. Schulrat (seit 1881) vertrat. Dem Tod seiner zweiten Gattin folgte 1879 eine dritte Ehe mit Johanna Sophie Rossander. Nach einem Schlaganfall, der ihn zum Rücktritt von allen Ämtern gezwungen hatte, starb T. auf seinem Gut.

T. entstammte einer traditionsreichen Familie in Glarus; sein Vater betrieb einen Exporthandel, den die Mutter nach seinem frühen Tod übernahm. T. studierte in Basel, Bonn, Berlin (bei Ph. C. Marheineke) u. ZüWeitere Werke: Der Sonderbund u. seine Aufrich Theologie u. war zunächst seit 1843 als lösung. St. Gallen 1847 (unter Pseud.). – Die landPfarrer in Lichtensteig/Toggenburg tätig, gab wirthschaftl. Ausstellung in St. Gallen. Ebd. 1854. aber schon 1847 das Pfarramt nach der – Ueber die landwirthschaftl. Bedeutung der Vögel. Trennung von seiner ersten Frau Bertha Ebd. 1854. – Das Waisenhaus in St. Gallen. Ebd. Sulzberger wieder auf, um sich in zweiter, 1861. – Grosses allegorisch-mystischphantast. Festu. Singspiel auf die fünfzehnte Stiftungsfeier des begüterter Ehe mit Adolfina Schwarz in St. Chrysostomus am 24. Januar 1863 in der Walhalla. Gallen auf seinem kleinen Gut ›Melonenhof‹ Ebd. 1863. – Alpwirthschaftl. Streiflichter. Ebd. v. a. privaten Studien zu widmen. Als Berliner 1865. – Die Organisation der Fortbildungsschule. Student korrespondierte T. mit Jacob Burck- Zürich 1871. – Der Landammann Suter. Histor. hardt, als Pfarrer mit Jeremias Gotthelf, den Kriminalerzählung. Trogen 1884. er zur Mitwirkung an einer Sammlung Literatur: F. Anderegg: F. v. T. In: LandSchweizer Kühreihen ermuntern wollte. wirthschaftl. Lesebuch v. F. v. T. 8., durchges. u. Nach vereinzelten literar. Texten für Al- verm. Aufl. Hg. ders. Frauenfeld 1888, S. 462–464. manache u. Zeitschriften (»Alpenrosen«, – Emil Bächler: F. v. T., 1820–1886. Leben u. »Elsässische Neujahrblätter«, »Illustrirte Werke. St. Gallen 1947. – H[ermann] Wartmann: F. Zeitschrift für die Schweiz«) u. Publikationen v. T. In: ADB. – Robert Weber: Die poet. Natiounter fremdem Namen verfasste T. vor allem nallit. der dt. Schweiz. Bd. 3, Glarus 1867, S. 121–130. Christian von Zimmermann Werke zu Natur u. Landwirtschaft der Schweiz. Neben eher naturkundl. Werken wie dem erfolgreichen Buch Das Thierleben der Tucher, Endres (II.), Andreas, * 5.4.1423 Alpenwelt (Lpz. 1853), in dem auch legendNürnberg, † 14.4.1507 Nürnberg, Grab in arischen Schlangen, Drachen u. TatzelwürSt. Sebald. – Baumeister und Verfasser mern nachgespürt wird, verfasste T. voreines Baumeisterbuchs. nehmlich nützl. Schriften zur Bildung ländl. Bevölkerungsschichten (Landwirthschaftliches Der älteste Sohn des Endres (I.) Tucher († Lesebuch. Frauenfeld 1864; zahlreiche Aufla- 1440), des Stammvaters der jüngeren Linie gen). T. war in zahlreichen Verbänden u. Be- der einflussreichen Nürnberger Patrizierfahörden tätig; so war er Gründungsvorsit- milie, kam 1454 als Alter Genannter anstelle zender der St. Galler Sektion des Schweizeri- seines Onkels Berthold (III.) in den Rat u. war schen Alpenvereins u. gründete den 1461–1476 Baumeister der Stadt Nürnberg. »Schweizerischen Obst- und Weinbauver- Für dieses Amt führte er eine schriftl. Geein«, dessen Anliegen er in einer Preisschrift schäftsführung ein, die aus einem ausführl. Der Obstbaum und seine Pflege (ebd. 1871) for- Bericht über Organisation u. Tätigkeit eines muliert hatte. Durch seinen Hinweis auf die der wichtigsten Ämter der Reichsstadt Bedeutung der Vögel für den Schutz der Nürnberg besteht.

Tucher

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Diese lokal- u. kulturgeschichtlich interessanten Aufzeichnungen, die T. 1464–1470 verfasste u. mit Nachträgen bis 1475 versah, sind als das nach ihm benannte Baumeisterbuch der Stadt Nürnberg bekannt (Original: Nürnberg, Germanisches National Museum, 28 Hs. Merkel 1). Außer zu den allg. Rechten u. Pflichten des Baumeisters macht T. Angaben über Gebäude, Straßen, Brücken, Brunnen, Steinbrüche u. Handwerkerberufe u. schildert auch präzise Festlichkeiten u. Brauchtum. Als Quellen dienten ihm u. a. das Baumeisterbuch von 1452 seines zweiten Vorgängers im Amt, Lutz Steinlinger, Aufzeichnungen seines Onkels Berthold (III.) Tucher, Ratserlässe, Dienstverträge u. Bestallungseide. Der kinderlose T. trat 1476 mit Zustimmung seiner Frau in den Kartäuserorden ein u. starb dort als Conversbruder. Ausgaben: E. T.s Baumeisterbuch der Stadt Nürnberg (1464–75). Einl. u. Bearb. v. Friedrich v. Weech. Hg. Matthias Lexer. Stgt. 1862. Neudr. Amsterd. 1969. Literatur: Ernst Mummenhoff: E. T. In: ADB. – Wilhelm Schwemmer: Das Mäzenatentum der Nürnberger Patrizierfamilie Tucher vom 14.-18. Jh. In: Mitt.en des Vereins für Gesch. der Stadt Nürnberg 51 (1962), S. 18–59, bes. S. 40 f. – Helgard Ulmschneider: Berthold III. u. Endres II. T. In: VL. Ulla Britta Kuechen / Red.

Tucher, Hans (VI.) d.Ä., * 10.4.1428 Nürnberg, † 24.2.1491 Nürnberg. – Verfasser der Beschreibung einer Pilgerfahrt nach Palästina, zum Katharinenkloster auf dem Sinai u. zu den ägyptischen Städten Kairo u. Alexandria. T., Angehöriger der Nürnberger Patrizierfamilie Tucher, trat im Mai 1476 in den Inneren Rat seiner Heimatstadt ein, war seit 1480 Alter Bürgermeister u. hatte bis zu seinem Tod mehrere Ämter inne, u. a. die Pflegschaften über das Augustinerinnenkloster in Pillenreuth (1480) u. das Augustinerkloster in Nürnberg (1487). Am Druck der 1484 erschienenen Reformation der Stadt Nürnberg u. am Ausbau der Ratsbibliothek 1486/87 wirkte er entschieden mit. Aus seiner ersten Ehe 1455 mit Barbara Ebner (gest. 6.11.1467) gingen 9 Kinder hervor; vor Mai 1477 heiratete er Ursula Harsdorffer (gest. 1504).

Durch die anschaul. Beschreibung seiner 49-wöchigen Reise ins Heilige Land, auf der er Jerusalem u. im Anschluss daran das Katharinenkloster auf dem Sinai sowie die ägypt. Städte Kairo u. Alexandria besuchte, hat sich T. einen Platz in der frühen dt. Literaturgeschichte erworben. Sein damals aktueller Augenzeugenbericht, dem die im 15. Jh. veränderte Reiseroute u. -bedingungen zugrundelagen, kann als der erste gedruckte Reisebericht eines Zeitgenossen in dt. Sprache gelten. In der Vorrede begründet T., in vorbildlicher christl. Haltung, seine Reise (unternommen allein »vmb gotes ere vnd meiner sel selikeit« willen) u. richtet sein »puchlein« (nach T. sprachlich »eynfeltiglich vnd schlechtlich«) an »ander from cristenlich brüder«, damit sie »dester minder beschwert ab sölcher langer reise entpfahen«. Danach schildert er tagebuchartig u. in zwei Berichtteilen seinen Aufbruch von Nürnberg mit seinem Wallbruder u. Ratskollegen Sebald Rieter d.J. (6.5.1479), die Schiffsfahrt von Venedig zum Heiligen Land (Reiseroute entlang der dalmatin. Küste über Kreta u. Johanniterstützpunkt Rhodos bis nach Jaffa, 10.6.-28.7.1479) u. den Aufenthalt in Jerusalem (Besuch der Heiligen Stätten unter Geleit der Franziskaner, Gleichnuß von dem tempel deß Heiligen Grabs, Ritterschlag, 28.7.-5.9.1479), sowie auch die anschließende Reise von Jerusalem zum Katharinenkloster auf dem Sinai (Wüstendurchquerung u. Bergbesteigung der beiden Dschebel Moses u. Katharina, 21.9.-8.10.1479), die Aufenthalte in Kairo u. Alexandria (u. a. Mokattam-Höhen mit Nilebene, Besuch des Palasts des Sultans; Stadtbefestigung von Alexandria u. Gärten, Festsetzung der venezian. Kaufleute, 15.10.1479–6.2.1480), u. die stürm. Schiffsreise von Alexandria nach Venedig (6.2.18.3.1480). Die chronolog. Erzählstruktur bietet T. einen Rahmen, in den er weitgefächerte Informationen u. Exkurse über die durchreisten Länder u. Völker einfügen kann, die teils landeskundlich, teils kulturell oder auf aktuelle Ereignisse beziehend bei seiner Leserschaft auf ein großes Interesse stießen.

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Nach einem sorgfältigen redaktionellen ner: Fortunatus. Freib. i. Br. 1990 (mit weiterer Verfahren, das sich heute bis ins Detail Lit.). – Helgard Ulmschneider: H. T. In: VL. – nachzeichnen lässt, beförderte T. den Reise- Volker Alberti: Von Nürnberg nach Jerusalem. Die bericht 1482 selbst in den Druck. Allzu per- Pilgerreise des reichsstädt. Patriziers H. T. 1479 bis 1480. Simmelsdorf 2000. – Randall Herz: H. T.s sönlich anmutende Stellen wurden zugunsd.Ä. ›Reise ins Gelobte Land‹. In: Wallfahrten in ten des neuen Konzepts als Handbuch für Nürnberg um 1500. Akten des interdisziplinären Jerusalemreisende unterdrückt. Ausführliche Symposions vom 29. u. 30. Sept. im Caritas PirckReiseinstruktionen wurden beiden Teilen der heimer-Haus in Nürnberg. Hg. Klaus Arnold. Reisebeschreibung angeschlossen, außerdem Wiesb. 2002, S. 79–104. – Ders.: Studien zur mehrere thematisch verwandte Texte beige- Drucküberlieferung der ›Reise ins Gelobte Land‹ H. fügt wie z. B. ein Chronikauszug über Jeru- T.s des Älteren. Bestandsaufnahme u. histor. Aussalem, eine Beschreibung des Heiligen Grabs wertung der Inkunabeln unter Berücksichtigung der späteren Drucküberlieferung. Nürnb. 2005. u. ein Musterschiffsvertrag. Randall Herz Das erfolgreiche Konzept fand u. a. in dem wegen seiner Holzschnitt-Illustrationen berühmten Palästinareisebericht des Bernhard Tucholsky, Kurt, auch: Kaspar Hauser, von Breydenbach (1486) Nachahmung, des- Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz sen Text außerdem weitgehend auf T. beruht. Wrobel (vereinzelt auch: Paulus Bünzly, Seine literar. Wirkung bezeugt v. a. die Ein- Theobald Körner, Old Shatterhand, in der arbeitung in den frühen dt. Roman Fortuna- Forschung umstritten: Hugo Grotius), tus, in dem Fortunatus’ Reise durch die »zway * 9.1.1890 Berlin, † 21.12.1935 Göteborg; kaiserthumb unnd zwaintzig christenlicher Grabstätte: Mälarsee/Schweden, Friedhof künigreich« T.s Itinerar folgt. Geografische von Mariefred. – Journalist, Essayist, LyWerke des 16. Jh. verdanken T. viele landes- riker, Erzähler. kundl. Angaben über das Heilige Land u. T. verbrachte die Kindheit in Berlin, Stettin u. Ägypten. wieder Berlin, besuchte dort seit 1899 das Drei Ausgaben des T.schen Werks erschie- Französische Gymnasium, wechselte 1903 nen 1482, weitere Ausgaben folgten 1484, zum kgl. Wilhelms-Gymnasium, verließ die 1486 u. 1561; mehr als 20 Handschriften sind Schule nach dem Einjährigen u. machte 1909 überliefert. Das Werk fand zuletzt in Feyer- das Abitur als Externer. Sein Jurastudium in abends Reyßbuch deß Heyligen Lands (Ausgaben Berlin (Sommersemester 1910 in Genf) been1584, 1609, 1629, 1659) Aufnahme. dete er an der Friedrich Wilhelms-Universität Ausgaben: Martin Crusius: Turcograeciae libri 1912: Zu diesem Zeitpunkt war aus dem Juocto. Basel 1584, S. 231 f. (Zusammenfassung der rastudenten schon der journalistisch-literaReiseroute in lat. Sprache). – Heinrich Künzel: Drei risch tätige freie Schriftsteller geworden. T. Bücher dt. Prosa, in Sprach u. Stylproben, Erster war von großbürgerl. Herkunft. Zeichen des Teil. Ffm. 1838, S. 104–106 (Auszüge). – Das Rei- gesellschaftl. u. ökonomischen Erfolgs seiner sebuch des H. T. Hg. Erhard Pascher. Klagenf. 1978 assimilierten jüd. Familie ist der rasche Auf(Abdr. des Druckes Straßb. 1484); Korrekturen bei stieg des Vaters Alex Tucholsky vom BuchHerz, ›Die Reise ins Gelobte Land‹ (2002), S. XVI u. halter zum Direktor in der Bank »Berliner Anm. 13. – Randall Herz: Briefe H. T.s d.Ä. aus dem Heiligen Land u. a. Aufzeichnungen. In: Mitt.en für Handelsgesellschaft«. Schon als 15-Jähriger Gesch. der Stadt Nürnberg 84 (1997), S. 61–92. – R. verlor T. den Vater – die Mutter überlebte den Herz: ›Die Reise ins Gelobte Land‹ H. T.s des Äl- Sohn u. starb als Opfer Hitler-Deutschlands teren (1479–1480). Untersuchungen zur Überlie- im Konzentrationslager Theresienstadt 1943. ferung u. krit. Ed. eines spätmittelalterl. Reisebe- Ein beträchtliches väterl. Erbe erleichterte T. richts. Wiesb. 2002 (mit weiterer Lit.). den Start als Schriftsteller. Mit seiner 1914 Literatur: Reiner Hausherr: Ein Pfarrkind des bei der Universität Jena eingereichten Disheiligen Hauptherren St. Sebald in der Grabeskir- sertation wurde er am 12.2.1915 zum Dr. jur. che. In: Österr. Ztschr. für Kunst u. Denkmalpflege promoviert; anschließend wurde er als Ar40 (1986), S. 195–204. – Christiane Hippler: Die Reise nach Jerusalem. Ffm. 1987. – Hannes Käst-

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mierungssoldat zum Kriegsdienst an die Ostfront eingezogen. Seit 1907 veröffentlichte T. Texte in den Feuilletons der dt. Presse, zunächst oft im sozialdemokratischen »Vorwärts«, seit Anfang 1913 insbes. in Siegfried Jacobsohns »Schaubühne« (seit 1918 »Weltbühne«). T. avancierte rasch zum Starautor dieses spannendsten literarisch-polit. Blatts der späten Kaiserzeit u. der Weimarer Republik. Mit allen seinen Pseudonymen: als Theobald Tiger lyrisch, als Peter Panter feuilletonistisch, als Ignaz Wrobel politisch u. als Kaspar Hauser gleichsam metaphysisch trug er in literarischjournalistischer Formen- u. Themenvielfalt entscheidend zum Charakter der »Weltbühne« bei, die Diskussionsstoff u. -forum der demokratischen Intellektuellen u. Künstler in der ersten dt. Republik war. Ernüchtert vom Kriegserlebnis hatte sich T. vom Kunstu. Theaterkritiker zum linksorientierten polit. Schriftsteller gewandelt. Von Ende 1918 bis April 1920 arbeitete T. als fest angestellter Chefredakteur des »Ulk«, der satir. Beilage des »Berliner Tageblatts«, anschließend als freier Publizist für zahlreiche deutschsprachige Zeitungen u. Zeitschriften – immer jedoch mit bes. Bindung an den von ihm als Lehrmeister angesehenen Jacobsohn. Dieser schickte ihn – nach einem Intermezzo als Privatsekretär eines Berliner Bankdirektors während der Inflation – im April 1924 als Korrespondent der »Weltbühne« nach Paris; freilich schrieb T. mit festem Vertrag auch für die »Vossische Zeitung« u. das »Prager Tagblatt« u. als freier Mitarbeiter weiterhin für alle dt. Blätter mit guten Honoraren. Im schwed. Exil zählte er sich rückblickend zu den »bestbezahlten deutschen Journalisten«: Geistige Arbeit war nach T.s Auffassung entsprechend ihrer Qualität zu entlohnen. An erfolgreiche schriftstellerische Arbeit auf der Grundlage verarmten Künstlertums glaubte er keine Sekunde. T. heiratete 1920 eine Jugendfreundin, die Ärztin Else Weil. Die große Liebe seines Lebens indessen war die Deutschbaltin Mary Gerold, die T. noch während seines Kriegsdienstes 1917 in Kurland kennen gelernt hatte. 1920 beim Wiedersehen in Berlin entfremdete sich das Liebespaar, doch eine Bin-

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dung blieb trotz T.s erster Ehe bestehen. Nach der Scheidung von Else Weil heiratete T. Mary Gerold am 30.4.1924 in Berlin. Anschließend lebten beide in Paris. Die zweite Ehe scheiterte schon 1928 – scheiden allerdings ließ sich T. erst 1933, um so seine Frau vor Verfolgung in NS-Deutschland zu schützen. In seinem Testament von 1935 setzte er sie als Universalerbin ein. M. Gerold-Tucholsky (1898–1987) gab nach 1945 die Schriften T.s im Rowohlt Verlag heraus u. baute das Kurt-Tucholsky-Archiv auf (heute im Deutschen Literaturarchiv in Marbach/ Neckar). T. war Liebhaber vieler Frauen; die Sensibilität, die Zartheit seiner Briefe an Mary (Unser ungelebtes Leben. Reinb. 1982) ist von poetischem Reiz, seine Korrespondenz aus dem schwed. Exil mit der Schweizer Ärztin Hedwig Müller (»Nuuna«) von hohem zeithistor. u. essayistisch-literar. Wert (Briefe aus dem Schweigen. Ebd. 1977. Die Q-Tagebücher. Ebd. 1978). Nach dem Tod Jacobsohns 1926 sah sich T. gezwungen, in Berlin die ungeliebte Tätigkeit als Redakteur der »Weltbühne« zu übernehmen, die er im Okt. 1927 Carl von Ossietzky übergab. Zunächst wieder in Paris, lebte T. seit April 1929 in Schweden. Er reiste oft: nach Dänemark, Frankreich, England, Österreich, immer wieder auch nach Deutschland, u. a. zu intensiver politischliterar. Vortragstätigkeit. Sein letzter Text für die »Weltbühne« erschien am 17.1.1933; zuvor hatte er am 29.9.1932 noch für die Eröffnungsnummer der »Wiener Weltbühne« geschrieben, des österr. Ablegers des Berliner Blatts. Am 10.5.1933 warfen die Nationalsozialisten auch T.s Schriften auf ihre Bücherscheiterhaufen, u. am 23.8.1933 stand sein Name auf der ersten Ausbürgerungsliste des NS-Staats. Auf Hitler reagierte T. mit Boykott. Er veröffentlichte nichts mehr, entzog sich auch der gegen Hitler publizierenden Emigrantenszene. Publizistischen Kampf von außen gegen die mit Hitler sympathisierende Bevölkerungsmehrheit in Deutschland hielt er für eitel u. aussichtslos. Am Ende ohne Geldquelle in Schweden, aus Verzweiflung an Deutschland, nicht mehr zu trösten von seiner Freundin Hedwig Müller in Zürich u. der ihn umsorgenden Sekretärin Gertrude Meyer

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im schwed. Hindås, wählte T. den Freitod. Er starb nach der Einnahme von Gift im Sahlgren’schen Krankenhaus in Göteborg. T.s Werk präsentiert sich als Kaleidoskop der kleinen literar. u. journalistischen Formen. Vom polit. Tagesgedicht bis hin zur Gerichtsreportage, vom Kabarettsong bis zur Buchkritik, vom soziolog. Essay bis zum sentimentalen Chanson, vom Liebesgedicht über die Theater- u. Kleinkunstkritik bis zum polit. Leitartikel hat T. mit seinem Gesamtwerk die Palette der Möglichkeiten des politisch-literar. Journalismus voll ausgeschöpft. T. war Satiriker, Lyriker, Essayist, KabarettTexter, Humorist, Literat, polit. Kritiker – ein freier Schriftsteller in der Berufsrolle des freien Journalisten. Der einzelne Text T.s ist interpretierend stets im Blick auf den publizistischen Ort seiner Veröffentlichung u. dessen spezif. Publikum zu lesen. So erklärt sich das Nebeneinander von politisch scharfen Essays für das intellektuelle Multiplikatoren-Publikum der »Weltbühne« u. charmanten Feuilletons für die »Vossische Zeitung« u. deren liberal-konservatives, bildungsbürgerl. Lesepublikum. Aufklärungspotentiale beider Textsorten lassen sich in der Spannung von Text u. spezif. Leserschaft gleichermaßen nachweisen. Großen Publikumserfolg hatten schon zu Lebzeiten T.s Buchveröffentlichungen: die kleinen, heiter-iron. Romane Rheinsberg (Bln. 1912) u. Schloß Gripsholm (ebd. 1931), der politisch-polem. Text-Bildband Deutschland, Deutschland über alles (zus. mit John Heartfield. Ebd. 1929) u. die von T. selbst zusammengestellten Bände seiner im dt. Blätterwald verstreuten Texte: Mit 5 PS (ebd. 1928), Das Lächeln der Mona Lisa (ebd. 1929) u. Lerne lachen ohne zu weinen (ebd. 1931). Die Lyrikbändchen Fromme Gesänge (ebd. 1919) u. Träumereien an preußischen Kaminen (ebd. 1920) sowie die Grotesken in Der Zeitsparer (ebd. 1914) versammelten ebenfalls zuvor verstreut publizierte Texte, waren jedoch nur in kleiner Auflage erschienen. Der philosophischliterarisch gefärbte Reisebericht Ein Pyrenäenbuch (ebd. 1927), inzwischen hochgeschätzt, blieb bei Erscheinen nahezu unbeachtet; auch das gemeinsam mit Walter Hasenclever verfasste Theaterstück Christoph Kolumbus

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wurde nach nur zwei Aufführungen in Leipzig im schon nationalsozialistisch gestimmten Klima des Sept. 1932 abgesetzt (Erstdr. Bln. 1985). Um sein Publikum politisch zu überzeugen, schrieb T. unterhaltsam, unberührt von allen expressionistischen Formexperimenten. Er war literar. Aufklärer, der Sprachkritik verpflichtet; seine Texte reflektieren immer auch ihre anthropolog. u. publizistischen Grenzen. T. verkörperte in seiner Zeit den Typus des intellektuellen, linksbürgerl. Publizisten mit durchaus polit. Anspruch im Blick auf ein breites Feuilletonpublikum im Zeitalter des polit. Parteienstreits. Sein heiml. Vorbild war Heinrich Heine. Er bewunderte den Theaterkritiker Alfred Polgar, hatte trotz Wertschätzung ein eher distanziertes Verhältnis zu Alfred Kerr u. Karl Kraus, lobte den jungen Erich Kästner. Er erkannte Brechts lyr. Genialität an, aber verzieh nicht dessen Laxheit im Umgang mit literar. Quellen, machte schon gar nicht dessen Weg zum Kommunismus mit. Trotz Sympathien für die extreme polit. Linke hielt er den politischökonomischen Ansatz des Marxismus für analytisch u. literarisch grobmaschig u. für politisch naiv. T.s Blick auf den polit. Alltag seiner Zeit war von der radikaldemokratischen Auslegung der Weimarer Verfassung bestimmt. Virtuos verteidigte er deren Prinzipien gegen ihre konservativ-reaktionären Zerstörer, gegen das gleichgültige Bürgertum, u. er brandmarkte die seiner Meinung nach politisch unprofilierte Rolle der Weimarer SPD. T.s andauernder Erfolg bei den Lesergenerationen nach 1945 ist erklärlich, weil er nicht tagesjournalistisch das heute vergessene Handeln polit. Hauptdarsteller begleitete. Im Medium seines literarisch-journalistischen Formenreichtums machte er die Szenerien des ihm als Beobachter zugänglichen dt., frz., engl., dän., schwed. – also europäischen – Alltags zu seinem Zentralthema. Nicht vornehmlich die jeweilige kulturelle oder polit. Prominenz, sondern das Publikum interessierte ihn: wie die Menschen mit Politik, Kultur, mit den Erfahrungen nach dem Weltkrieg, mit den Versprechungen der polit. Parteien, den Hoffnungen der Künstler auf

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Bühnen u. in Büchern umgingen. T.s Werk gibt Auskunft über seine Mitwelt, insbes. über die Deutschen von 1910 bis 1935, über ihr gesellschaftl. Bewusstsein, ihre Verbohrtheiten u. Macken, ihre Liebenswürdigkeiten, über den kulturell-polit. Prozess, der im Nationalsozialismus endete. Heute lässt sich T.s Werk als Modell unterhaltsamer Kritik an gelebter Demokratie lesen. Ausgaben (Erscheinungsort jeweils Reinb.): Ges. Werke. Hg. Mary Gerold-Tucholsky u. Fritz J. Raddatz. 3 Bde., 1960/61. Neudr. als Tb.-Ausg. in 10 Bdn., 1975. Erg.-Bde.: Bd. 1: Dt. Tempo. 1985. Bd. 2: Republik wider Willen. 1989. – Ausgew. Briefe 1912–35. 1962 (= Bd. 4 der Ges. Werke). Erg.Bd.: Ich kann nicht schreiben, ohne zu lügen. Briefe 1913–35. 1989. – Gesamtausg. Texte u. Briefe. Hg. Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp u. Gerhard Kraiker. 22 Bde. 1996–2011. – Briefe an eine Katholikin. 1970. – Das K. T. Chanson Buch. Texte u. Noten. Hg. M. Gerold-Tucholsky u. Hans Georg Heepe. 1983. – Werke – Briefe – Materialien (CD-ROM). Bln. 1999. Literatur: Bibliografien: Das K.-T.-Archiv. Ein Ber. v. Petra Goder-Stark. Marbach 1978. – Elmar E. Holly: Die Weltbühne. Ein Register sämtl. Autoren u. Beiträge. Bln. 1989. – Antje Bonitz u. Thomas Wirtz: K. T. Ein Verz. seiner Schr.en. 3 Bde., ebd. 1991. – Biografien: Hans Prescher: K. T. Ebd. 1959. – Gerhard Zwerenz: K. T. Mchn. 1979. – Helga Bemmann: K. T. Ein Lebensbild. 1990. – Michael Hepp: K. T. Biogr. Annäherungen. Reinb. 1993. – Klaus Bellin: Es war wie Glas zwischen uns. Die Gesch. v. Mary u. K. T. Bln. 2010. – Interpretationen: Harold L. Poor: K. T. and the Ordeal of Germany 1914–35. New York 1968. – Helmut J. Mörchen: Schriftsteller in der Massengesellsch. Stgt. 1973. – Irmgard Ackermann (Hg.): K. T. Sieben Beiträge zu Werk u. Wirkung. Mchn. 1981. – William John King: K. T. als polit. Publizist. Ffm. 1983. – Anton Austermann: K. T. Der Journalist u. sein Publikum. Mchn./Zürich 1985. – Jochen Meyer u. A. Bonitz: Entlaufene Bürger. K. T. u. die Seinen. Marbach 1990 (Kat.). – Annemarie Stoltenberg: Ich bin doch nicht Euer Fremdenführer. T. u. seine Buchkritiken. Hbg. 1990. – I. Ackermann (Hg.): T. heute. Mchn. 1991. – M. Hepp (Hg.): ›Schweden – das ist ja ein langes Land!‹ K. T. u. Schweden. Oldenb. 1994. – Ders. (Hg.): K. T. u. das Judentum. Oldenb. 1996. – Ders. (Hg.): K. T. u. die Justiz. Oldenb. 1998. – Stefanie Oswald u. Roland Links (Hg.): ›Halb erotisch – halb politisch‹. Kabarett u. Freundschaft bei K. T. Oldenb. 2000. – Sabina Becker (Hg.): K. T. Das literar. u. publizist. Werk. Darmst. 2002. – Uwe

Tügel Wiemann: K. T. u. die Politisierung des Kabaretts. Paradigmenwechsel oder literar. Mimikry? Hbg. 2004. – Daniel Wirsching: ›Das hat alles nicht mehr mit Ihnen u. Ihrer Arbeit zu tun.‹ K. T. im Spiegel der zeitgenöss. Kritik (1927–1933). Wien 2006. – Friedhelm Greis u. Ian King (Hg.): T. u. die Medien. St. Ingbert 2006. – F. Greis u. I. King (Hg.): Der Antimilitarist u. Pazifist T. St. Ingbert 2008. – Ursula Blanke-Kießling: ›... dieser Staat ist nicht mein Staat ...‹. Über das Staats- u. Verfassungsdenken K. T.s. Baden-Baden 2009. – Dieter Mayer: K. T. – Joseph Roth – Walter Mehring. Beiträge zu Politik u. Kultur zwischen den Weltkriegen. Ffm. 2010. Anton Austermann / Red.

Tügel, Ludwig, * 16.9.1889 Hamburg, † 25.1.1972 Ludwigsburg. – Erzähler u. Romancier. Der Bruder von Tetjus Tügel begann nach der Mittleren Reife eine »Odyssee durch dreiundzwanzig Berufe des sogenannten praktischen Lebens«: vom Polizeimitarbeiter bis zum Modellschiffbauer. T. lebte einige Zeit in der Worpsweder Künstlerkolonie, nahm am Ersten Weltkrieg teil u. ließ sich schließlich 1928 in Ludwigsburg nieder. Auch politisch blieb T. lange ein Suchender: Er engagierte sich in einem Soldatenrat, war mit Ossietzky befreundet, lehnte aber im Grunde das Parteienspektrum der Weimarer Republik ab u. ergab sich einer individualistisch nationalkonservativen Haltung. 1933 schloss er sich der NSDAP an, blieb aber Einzelgänger, wie sein Rücktritt als Verbandsgauleiter von Schwaben im Reichsverband Deutscher Schriftsteller 1934 beweist. Im Zeichen des Spätexpressionismus stehen die Erzählung Die Herren Ark und von Besch (Bremen 1921) u. die Novelle Kolmar (ebd. 1922). Danach fand T. zu einer assoziativen, häufig monologischen Erzählweise, welche die Grenzen zwischen Wirklichem u. Fantastischem verwischt. Von Hebbels pantragischer Weltsicht u. Schopenhauers metaphys. Pessimismus beeinflusst, handeln seine Werke oft von Sonderlingen u. Außenseitern. Liebe u. Tod, Schicksal u. Schuld, Angst u. Verhängnis werden anhand von spukhaften, magischen Begebenheiten u. Phänomenen thematisiert. Ein weiteres Motiv ist der Kriegsheimkehrer, der sich in einer neuen

Tügel

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Zeit nicht zurechtfindet. T.s Hauptwerk, die Tügel, (Otto) Tetjus, eigentl.: Otto Martin Thüme-Tetralogie, welche die Bände Pferde- Eduard T., * 18.11.1892 Hamburg, musik (Mchn. 1935. Hbg. 81962), Die Char- † 23.10.1973 Oese bei Bremervörde. – oniade oder Auf dem Strom des Lebens (Hbg. Maler; Lyriker, Erzähler, Dramatiker, 1950), Ein ewiges Feuer (ebd. 1963) u. einen Kabarettist. unveröffentlichten Text umfasst, schildert in Episodenform die Selbstsuche eines am Ran- Der Sohn eines Hamburger Kaufmanns u. de stehenden Künstlers, eines modernen späteren Generaldirektors eines rheinischen Simplicissimus zwischen Erstem Weltkrieg u. Hüttenunternehmens wuchs im Hamburger Stadtteil Hamm u. in Stolberg bei Aachen auf. Weimarer Republik. Obwohl T.s Werk ein origineller Beitrag Seine Brüder waren der Dichter Ludwig, der zur Literatur des Magischen Realismus in den Theater- u. Hörspielregisseur Hans u. das 1930er u. 1940er Jahren ist, obwohl Hermann Mitgl. der Deutschen Christen u. Hamburger Hesse T. schätzte u. ihn auch finanziell un- Landesbischof Franz Tügel. Nach dem Beterstützte, Ernst Weiß T. »eine der wenigen such der Hamburger Kunstakademie ging T. Hoffnungen der jungen deutschen Roman- 1909 als freier Maler u. Schriftsteller nach epik« nannte, geriet er schon in den 1960er Worpswede. Dort begann er ein exzentr. BoJahren in Vergessenheit u. ist heute so gut wie hemeleben, von dem acht Ehen zeugen; seine erste Frau Vera war die älteste Tochter Riunbekannt. chard Dehmels. Trotz ausgedehnter Reisen u. Weitere Werke: Jürgen Wullenwever. Lübecks großer Bürgermeister. Jena 1926 (Biogr.). – Der bleibendem Kontakt zu Hamburg – in den Wiedergänger. Ffm. 1929 (R.). – Die Treue. Hbg. 1920er Jahren gründete er dort das Kabarett 1932. Neudr., hg. u. mit einem Nachw. v. Thomas »Bronzekeller« – blieb er dem archaischen B. Schumann. Ebd. 1986 (E.). – Sankt Blehk oder Teufelsmoor zeitlebens treu, wohnte später Die große Veränderung. Mchn. 1934 (R.). – Frau in Brillit (»Tügel-Hügel«) u. seit 1953 auf Geske auf Trubernes. Eine Saga. Ebd. 1936. – Lerke. dem »Quickhof« in Oese. Ebd. 1936 (E.). – Das Borkumer Tief. Hbg. 1938 Die fantastischen Moorimpressionen von (E.). – Der Brook. Ebd. 1938 (E.). – Die FreundT.s preziösen Bildern finden sich auch im lischaft. Ebd. 1939 (N.n). – Die See mit ihren langen Armen. Ebd. 1940 (E.). – Der Kauz. Ebd. 1942 (E.). – terar. Werk, bes. in seiner sinnl., expressiven Auf der Felsentreppe. Ebd. 1948 (E.en). – Das alte Lyrik. Seine Vitalität war zu derber Apotheose Pulverfass. Ebd. 1948 (E.en). – Bartholomäus von Rausch u. Geschlecht ebenso fähig wie zu Grothmanns fünfzigster Geburtstag. Ebd. 1948 äußerster Zartheit u. Melancholie (Nicht nur (E.). – Der Ferner. Witten 1954 (E.). – Die Dinge wir. Hbg. 1921. Nur Gedichte. Worpswede hinter den Dingen. Bremen 1959 (E.en). – Boodevar 1930. Daß ich so schlicht verbliebe. Hbg. 1946. erzählt. Hg. u. mit einem Nachw. v. Heinz Stolte. Gedichte. Ebd. 1949). In seinen meist im PräHbg. 1964 (E.en). sens erzählten Romanen (Lamm im Wolfspelz. Literatur: Heinz Stolte: L. T. Der Erzähler. Ebd. 1941. Gold im Nebel. Ebd. 1943) u. NoHbg. 1964. – Louis Ferdinand Helbig: Der unhe- vellen (Ödlandfrauen. Ebd. 1943. Das Ebenbild. roische Held in L. T.s Roman ›Pferdemusik‹. In: Le Ebd. 1947) schilderte T. die mühselige Seite discours sur le héros en Europe au début du XXe siècle. Textes réunis par Danièle Beltran-Vidal. des Moorlebens u. das Schicksal bäuerl. GeMontpellier 2001, S. 123–140. – Helmut Kreutzer: stalten, bes. von Frauen, zwischen karger Zwischen den Fronten. Dt. Hörsp.e um 1930 Liebe u. einsamem Tod. Der scheinbare Wi(Martin Raschke, Gerhard Menzel, L. T.). In: Orbis derspruch zwischen Regionalismus u. moLinguarum 21 (2002), S. 55–67. dernem Ausdruckswillen – bezeichnend das Thomas B. Schumann / Red. im niederdt. Dialekt geschriebene expressionistische Drama Mien un Dien (ebd. 1921) – stand der Rezeption von T.s Werken bisher im Wege. Weitere Werke: Erdsingsang. Neue Gedichte. Bremen 1923. – Jörn Klunkermel. Dekameronade. Itzehoe 1928. – Der Teufel der schönen Frauen.

639 Hbg. 1949 (N.n.). – Ein Herz kommt um. Ebd. 1951 (R.). – Das Vagabündel. Stgt. 1952 (L.). Literatur: Bernd Küster: Kunstwerkstatt Worpswede. Worpswede 1989, S. 134–143. – Helmut Stelljes (Hg.): Es drängt mich zum Wort. Texte u. Bilder. Bremen 1992. – Ina Ewers-Schultz: O. T. T. (1892–1973) als Maler. Ausstellungskat. Hbg. 2002. – Gudrun Scabell: Der Poet des Nebellandes. Eine Hommage an T. T., Maler u. Dichter in Worpswede, Bederkesa, Brillit u. Oese. In: Zwischen Elbe u. Weser 25 (2006), S. 4–6. – Donata Holz: T. T. Maler u. Poet. Lilienthal 2006. Dieter Sudhoff † / Red.

Tülsner, Tülsnerus, Tülßner, Adam, Adamus, * um 1592 Eilenburg, † um 1661 Dresden. – Neulateinischer Epigrammatiker, Verfasser geistlicher Sonette.

Tünger

Hundertfacher Gut schwedischer Siegs- und EhrenSchild (Lpz. o. J.) verdeutschte. Der Andacht dienen die lat. u. dt. Epigramme der Suspiriola ad Christum, Seufftzerlein zu Christo (Dresden 1648). T.s bedeutendste dt. Veröffentlichung sind Hundert geistliche Sonnete (ebd. 1644), die – formal u. strukturell Opitz’ Poetik u. der rhetorischen Tradition verpflichtet – überwiegend luth. Gebetbuch- u. Bibeltexte paraphrasieren (u. a. Glaubenswahrheiten, Geburt u. Passion Christi), sich aber auch in Gebeten u. Betrachtungen den Bedingungen menschl. Lebens zuwenden (In Armuht und Elende, In Creutz-Beschwerunge / zu Gott usw.). Weiteres Werk: Der ein- u. neuntzigste Psalm [...] in sechszehenerley Arten teutscher Poesie gesetzet. Dresden 1633. Ausgaben: Internet-Ed. mehrerer Einblattdru-

T. studierte ab 1612 in Leipzig u. schloss 1615 cke in: VD 17. mit dem Magistergrad ab. Weiteren – ungeLiteratur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: nauen – Aufschluss über sein Leben geben Joseph Leighton: A. T. [...]. In: Daphnis 6 (1977), allein Hinweise in seinen Veröffentlichun- S. 91–122 (mit Bibliogr.). – Heiduk/Neumeister, gen, v. a. in den zahlreichen Gelegenheitsge- S. 110, 253, 482 f. u. Register. – Flood, Poets Laudichten; ohne Bestätigung bleibt dabei die reate, Bd. 4, S. 2127–2129. Volker Meid / Red. Angabe in einer späteren Chronik, T. sei »Churfürstl. Cantzley-Secretarius« gewesen. Tünger, Augustin, * 1455 Endingen am Jedenfalls lebte er seit etwa 1618 in Dresden Kaiserstuhl, † vor 1510 Konstanz. – Veru. hatte eine – wahrscheinlich unbedeutende fasser einer lat.-dt. Fazetiensammlung. – Verwaltungsposition inne. Seine Frau Anna starb 1648; wiederholte Hinweise auf seine Nach einem Studium der Artes in Erfurt (seit »Armuht« sind wohl wörtlich zu nehmen. 1467), das wohl ohne Abschluss blieb, wurde 1661 erschien sein letztes bekanntes Gele- T. zwischen 1474 u. 1478 Anwalt (Prokuragenheitsgedicht. tor) am bischöfl. Gericht in Konstanz. Seit T. begann um 1618 mit nlat. Gedichten 1496 war er auch Syndikus des Konstanzer (darunter – sicher in Hinblick auf eine mögl. Domkapitels. 1501 wurde er Reichs- u. HofAnstellung – Casualcarmina auf Angehörige gerichtsprokurator des Herzogtums Würtder kurfürstl. Familie), später gingen lat. u. temberg. Er starb, wohl in Konstanz, zwidt. Produktion nebeneinander her. Der nlat. schen dem 15.5.1507 u. dem 5.7.1510 (BärTradition verpflichtet ist das umfangreiche mann). epigrammat. Werk, das religiös-erbaul., moAls einziges Werk, zudem unikal handralische, zeit- u. personenbezogene Texte schriftlich überliefert sind die lat.-dt. Facetiae, umfasst u. in mehreren Sammlungen vorliegt die T. am 28.11.1486 Graf Eberhard im Bart (Epigrammatiorum miscellorum centuriae tres. von Württemberg widmete. Es handelt sich Dresden 1626. Epigrammatum triplicatorum, um eine Sammlung von 54 lat. Kurzerzähtridistichorum centuria singularis. Ebd. 1629. lungen, denen T. für den des Lateinischen Epigrammatiorum miscellorum [...] sylloge, IV. nicht mächtigen Grafen jeweils eine dt. centuriis exhibita. Ebd. 1641. De pace Germaniae Übersetzung beigab. In der Handschrift centuria epigrammatiorum. Ebd. 1650). Einen (Stuttgart, WLB, HB XV 24a) folgen auf einen gewissen Erfolg hatte er mit seinen Epi- dt. u. einen lat. Widmungsbrief an Graf grammen zu Ehren Gustav Adolfs von Eberhard die dt. auf die lat. Fazetien, sodass Schweden (ebd. 1633), die Anton Francke als jene als Selbstübersetzung des lat. Originals

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Ausgabe: A. T.s Facetiae. Hg. v. Adelbert v. anzusehen sind (Honemann). Mit seinem literar. Erstling wollte T. Kontakt zum wich- Keller. Tüb. 1874. Literatur: Gustav Roethe. A. T. In: ADB. – tigsten Förderer des Humanismus im dt. Südwesten knüpfen, doch scheint dieser Konrad Vollert: Zur Gesch. der Facetienslg.en des Versuch folgenlos geblieben zu sein, denn XV. u. XVI. Jh. Bln. 1912, S. 26–33. – Volker Honemann: Zu A. T. u. seinen Fazetien. In: FS Walter eine im Widmungsbrief angekündigte FortHaug u. Burghart Wachinger. Hg. Johannes Janota setzung der Facetiae ist nicht erhalten. T.s u. a. Tüb. 1992, Bd. 2, S. 681–693. – Wilfried BarEntschluss, jede Fazetie mit einem Epimyth- ner: Überlegungen zur Funktionsgesch. der Fazeion zu ergänzen, wurde als Verstoß gegen tien. In: Kleinere Erzählformen des 15. u. 16. Jh. Gattungsvorgaben (Vollert; Barner), aber Hg. W. Haug u. B. Wachinger. Tüb. 1993, auch als Interpretation der Gattung im Sinne S. 287–310. – V. Honemann: A. T. In: VL. – Dieter humanistischer Moralphilosophie gewertet Mertens: Eberhard im Bart u. der Humanismus. In: Eberhard u. Mechthild. Hg. Hans-Martin Maurer. (Kipf). Stgt. 1994, S. 35–81, hier S. 65 f. – Michael BärLiteraturgeschichtlich bemerkenswert sind mann: ›In der stat Endingen dannen ich pürtig T.s Facetiae als erste Sammlung in Deutsch- bin‹. Zur Herkunft u. zum literaturgeschichtland, die programmatisch auf mündlich um- lichen Umfeld A. T.s. In: Ztschr. des Breisgaulaufende Erzählungen zurückgreift. T. be- Geschichtsvereins ›Schau-ins-Land‹ 126 (2007), zeichnet seine Facetiae als »cluoge[] geschich- S. 89–99. – Johannes Klaus Kipf: ›Cluoge geten [...], so ich von miner kinthait erlernt und schichten‹. Humanistische Fazetiensammlungen in gedechtnüß behalten hab« (Keller, S. 4). im dt. Sprachraum. Stgt. 2010, S. 181–223. – Ders. Folgerichtig sind die meisten Geschichten in A. T. In: EM. Johannes Klaus Kipf der Oberrheinregion lokalisiert. Häufig sind Zeitgenossen aus T.s unmittelbarer Umge- Türckis, Damian, * vor 1590 Torgau (?), bung oder Personen der jüngeren Zeitge- † nach 1634. – Verfasser von Dramen, schichte wie der Zürcher Chorherr Felix geistlicher Lyrik u. panegyrischer DichHemmerli, der Fehdeunternehmer Hans von tung. Rechberg oder dessen Sohn Albrecht, FürstÜber T.’ Leben ist wenig bekannt. Er war probst von Ellwangen, sowie die Bischöfe zwischen 1606 u. 1634 schriftstellerisch täOtto IV. u. Hermann III. von Konstanz Prottig; den Großteil seiner Druckwerke u. agonisten oder Gewährspersonen. Das Thehandschriftlich überlieferten Gelegenheitsmenspektrum umfasst Liebes-, Wirtshaus- u. dichtungen, Gebete u. Klagelieder verfasste er Studentenabenteuer, merkwürdige Begeben- für den Sächsischen Hof. Seit 1611 bezeichheiten auf Reisen oder in der Messe, aber auch nete sich T. als »seines Gesichts beraubter Anekdoten im Umkreis von Fehden u. Krie- Teutscher Poet vnd Bürger zu Torgaw« (Hs. gen. SLUB Dresden J 54.g, Bl. 41f.). Zahlungen des Zwar ist trotz zweimaliger Motivparallelen Sächsischen Hofes an den »blinden Poeten« nicht erweisbar, dass T. Poggio Bracciolinis sind bezeugt. T.’ Bildungsgang liegt im Liber facetiarum gekannt hat, doch darf man Dunkeln. Immerhin lässt die Gratulation vndt annehmen, dass T.s Selbstbezeichnung der Glückwünzschung, auss Virgilij schrifften gezogen, Sammlung als »facetiae« bzw. »facecien« wie Graff Turnus mit Ænæm [!] umb Lavinia (Keller, S. 5 u. 7) vom Titel dieser verbreiteten gekempffet (Hs. Dresden J 338) auf LateinSchrift angeregt wurde. Andere schriftl. Vor- kenntnisse schließen. Auch die polit. Position lagen sind nicht bekannt. Angesichts der T.’ bleibt unklar. Der anfängl. enthusiast. unikalen Überlieferung ist eine größere Glückwündschung/ Allen Christlichen Fürsten/ [...] Nachwirkung der Sammlung unwahrschein- Sonderlich aber [...] Dem [...] Matthia, Erwehleten lich. Heinrich Bebels Facetiae (1508–12) wei- Römischen Keysers (Wittenb. 1617) folgen im sen jedoch sechs Parallelen zu T. auf; bei einer Verlauf des Dreißigjährigen Krieges klare Erzählung (Nr. 53) lassen wörtl. Überein- Positionsnahmen für König Gustav Adolf von stimmungen vermuten, dass Bebel T.s Schweden wie die Frewdenreiche Christliche Sammlung kannte (Kipf 2010, S. 208–212). Dancksagung: Das [...] Jesus Christus/ Der König-

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lichen Majestät zu Schweden/ so wohl auch unsern Passion Gebet: Von den Heylsamen Wunden und Gnädigsten Chur und LandesFürsten/ den 8. Sep- BlutStrimen des ewigen Allmechtigen Sohnes tembris dieses 1631. Jahres vor [...] Leipzig Wieder Gottes/ unsers einigen Erlösers und Heylandes Jesu des [...] Graff Johann Tillen Macht und Gewalt die Christi. Wittenb. 1628. – Nützliche und auch sehr tröstliche Erklärung deß Gesichts/ so man im Buch Victoria [...] verliehen und geben (o. O. 1631. Inder Weißheit am 12. Capitel beschrieben findet. ternet-Ed. in: ULB Sachsen-Anhalt). Die Wittenb. 1631. christl. Überhöhung des Kriegsgeschehens Literatur: Johannes Bolte: D. T. In: ADB. – aus luth. Position in Form eines Bußgebets ist Eberhard Semrau: Dido in der dt. Dichtung. Bln./ dagegen durchaus zeittypisch: Ein Hertzlich Lpz. 1930, S. 16–18. – Heiduk/Neumeister, S. 110, und inbrünstig Christlich Bußgebet (Wittenb. 253, 483, 504, 550. – Johanna Braitmaier: Vergilius cothurnatus. Der Dido-Mythos bei Vergil u. in den 1626). Forscherlich kaum gewürdigt sind zwei Dramen von Nicodemus Frischlin u. D. T. (Wiss. mytholog. Trauerspiele, ein Dido-Drama u. Arb.) Freib. 2010. Achim Aurnhammer eine Pyramus u. Thisbe-Tragödie, die nach Boltes Vermutung anlässlich der Hochzeit Johann Georgs von Sachsen mit Magdalena Tüsch, Hans Erhart, auch: Johannes E. Sibylla von Preußen 1607 entstanden sein Düsch, * 15. Jh. Straßburg (?), † 15. Jh. könnten. Beide Dramen sind in einer reprä- Straßburg (?). – Chronist u. (Kalender-) sentativen Handschrift überliefert (HAB Dichter. Wolfenb. Cod. Guelf. 992 Novi): Eine Schœne Newe Tragedy¨ aüs Dem Erstenn vnnd Vierten Büch Zur Biografie T.s. sind nur wenige AnhaltsVirgily¨ Von Aenæa Vnnd Von der Kœnigin DIDO punkte überliefert. Nachdem er 1460 sein (ebd., Bl. 1–171) ähnelt mit 47 Rollen u. sei- Straßburger Bürgerrecht aufgegeben hatte, ner »geschwätzigen Breite« (Semrau) einem lebte er in den 1470er Jahren als verheirateter großen Schuldrama. Inwieweit T. auf Vergil Mann wieder in der Stadt. Er nahm für zurückgreift, ist fraglich; dagegen ist die Straßburg am Neusser Krieg gegen den burgundischen Herzog Karl den Kühnen 1474/ starke Anlehnung an Thomas Murners Knit75 teil u. wirkte dort als Dolmetscher, vieltelvers-Übersetzung der Aeneis von 1515 leicht auch als Schreiber. Aus dieser Zeit ernachgewiesen (Braitmaier). T. wertet Aeneas hielten sich zwei eigenhändige Briefe an T.s in moralisierender Absicht auf, während er Gemahlin Eva u. den befreundeten Straßdie Dido-Figur kritisch darstellt. Eine Schoene burger Bürger Jakob Ber. Neüe Tragedia aüs dem Oüidio von der Hertzslichen Von T. sind bekannt die Burgundische Histovnnd Schmertzslichen Liebe, Py¨ramo vnd Thisbe rie, zwei poetische Kalender für 1466 bzw. (ebd., Bl. 174–250) hebt stark auf die mora1482 u. ein zweistrophiges Gedicht, das er lische Frage nach der Legitimität der Liebe ab dem Augsburger Humanisten Sigismund (In: Drei deutsche Pyramus-Thisbe-Spiele Gossembrot widmete, der sich 1461 ins [1581–1607]. Hg. Alfred Schaer. Tüb. 1911). T.’ Straßburger Johanniterkloster zurückgezoBedeutung für die voropitzische Modernigen hatte. In der Burgundischen Historie, die sierung der dt. Literatur ist bisher noch nicht 1477 in zwei Drucken erschien (einer davon untersucht worden. mit acht Holzschnitten), berichtet T. vom Weitere Werke: Ein Christlich Tractat unnd Leben Herzog Karls des Kühnen, der in der New Jahr. Wittenb. 1618. – Eine Christliche Schlacht bei Nancy am 5.1.1477 sein Leben TrostSchrifft: Auff den Hoch trawrigen Hertzbeverlor. Er verarbeitet in klarer antiburgunditrübten und doch seeligen Todesfall/ Der weyland scher Haltung u. a. die Burgundische Legende, Durchleuchtigsten [...] Fürstin und Frawen/ Fraeine anonyme Erzählung über Herzog Karl wen Sophien, Gebohrne Marggräffin auß dem Churfürstlichen Stamm Brandenburg/ Hertzogin (1477 in Straßburg gedruckt), u. seine als zu Sachsen. o. O. 1623. – Ein Christlich und Gott- Augenzeuge gesammelten Erfahrungen vom seelig Tractat, Speculum Mundi genandt/ Welches Neusser Krieg. T.s Chronik findet in der gevon vielen zukünfftigen Dingen handelt. o. O. genwärtigen Geschichtsschreibung kaum Er1624. – Ein hertzlich und inbrünstig Christlich wähnung.

Der Tugendhafte Schreiber

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Im handschriftlich überlieferten Neu- andere Straßburger Flugschr.en gegen Karl v. mondkalender für 1466, der in dreizehn Ab- Burgund. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins schnitte mit je 20 Versen gegliedert ist, posi- 106 (1958), S. 53–93, 277–363. – Joseph Lange: tioniert sich T. ebenfalls als ein polit. Dichter, ›Pulchra Nussia‹. Die Belagerung der Stadt Neuss durch Herzog Karl den Kühnen v. Burgund. In: der den elsäss. Adel auffordert, sich der »LiNeuss, Burgund u. das Reich. Neuss 1975, S. 9–190 gue du Bien public« gegen König Ludwig XI. (mit wenigen Erwähnungen der T.schen Chronik). von Frankreich anzuschließen. Die kalendar. – Eckehard Simon: The ›Türkenkalender‹ (1454) Daten fügte er am Ende jedes Abschnitts ein. attributed to Gutenberg an the Strasbourg lunation Der zweite, in zwölf Abschnitte unterteilte tracts. Cambridge/Mass. 1988, S. 49–58. – Frieder Kalender für das Jahr 1482 liegt als Straß- Schanze: H. E. T. In: VL. Mario Müller burger Einblattdruck vor u. orientiert sich vermutlich an einem älteren Neumondka- Der Tugendhafte Schreiber. – Lyriker, lender mit dreizehn Abschnitten. Dort er- erstes Viertel 13. Jh. zählt T. in gereimter Form von einem Dialog zwischen einer unverheirateten Mutter u. Biografisch ist über den T. S. nichts bekannt. ihrer Tochter Clärlein, in dem die Mutter der Der Name steht vielleicht in der Tradition Tochter rät, ihren Lebensunterhalt wie sie, ähnlicher ›sprechender‹ Namen einiger nämlich mit Buhlerei zu verdienen. Die Sangspruchdichter des 13. Jh. u. könnte auf Tochter lehnt unumwunden ab: »Ich wolte einen besonderen eth. Anspruch verweisen. vil lieber sterben, dann myn narung so er- Bemerkenswert ist, dass der T. S. als Protagonist im fiktiven ›Sängerstreit auf der werben.« Das Gedicht an Gossembrot (Sig frig gen got, Wartburg‹ erscheint. Es mag von daher sein, nit spot min) ist gleichfalls ein moralisches dass der T. S. Beziehungen zum Thüringer Lehrgedicht über Zorn, Neid, Nächstenliebe Hof hatte. Der literar. ›Sängerstreit‹ wird in etc. Es fordert den Humanisten zu einer Heiligenviten u. Chroniken erwähnt; dort poetischen Antwort auf; jedoch ist von Gos- findet sich der Vorname ›Heinrich‹ in Versembrots Gedicht nur die Überschrift u. ein bindung mit dem T. S. Unter der Chiffre T. S. finden wir zwölf poetolog. Vorwort erhalten. Töne in der Großen Heidelberger LiederhandAusgaben: Edmund Wendling u. August Stöber schrift. Den Texten voran geht eine schwer (Hg.): Die burgund. Hystorie. Eine Reimchronik v. deutbare Miniatur, die möglicherweise einen H. E. T. 1477. Colmar 1876 (online: http://dfgviewer.de). – Karl Schneider: Untersuchungen zur Rechtshandel zeigt u. mit den folgenden burgund. Hystorie des H. E. Düsch. Diss. Straßburg Texten nicht erklärt werden kann. Eine Par1910 (S. 126–128: Briefe T.s). – Émile Picot u. allelüberlieferung in der Jenaer LiederhandHenri Stein (Hg): Recueil de pièces historiques schrift gibt es nur für Ton 12, der dort unter impréemes sous la règne de Louis XI. Reproduites dem Tonautornamen ›Stolle‹ aufgezeichnet en fac-similé avec des commentaires historiques et ist. Ein jüngerer Fragmentfund hat eine bibliographiques. 2 Bde., Paris 1923 (Burgundische Strophe in Walthers von der Vogelweide Historie). – Martin Steinmann: Ein polit. Kalen- Erstem Philippston zutage gefördert, an dedergedicht auf das Jahr 1466 v. J. E. Düsch. In: ren Ende der Name »Der tugent scriber« noBasler Ztschr. für Gesch. u. Altertumskunde 70 tiert ist (Ton 13). Der Name kann sich aber (1970), S. 119–130. – Rolf Max Kully: Das Clärlein. auch auf die darauffolgende Strophe bezieIn: ZfdA 107 (1978), S. 138–150. – Cramer, Bd. 3, hen, die im Zweiten Philippston Walthers 1982, S. 340 (Text ›Sig frig gen got, nit spot min‹), geschrieben wurde. S. 572 (Kommentar). Elf der überlieferten Töne stellen MinneLiteratur: Paul Joachimsohn: Aus der Bibl. lieder dar, die davon zeugen, dass der T. S. Sigmund Gossembrots. In: Zentralblatt für Biblioüber sehr gute Kenntnisse vom (Hohen) thekswesen 11 (1894), S. 249–268, 297–307. – Karl Schneider: Die burgund. Hystorie u. ihr Verfasser. Minnesang verfügt. Er beherrscht sicher die In: Jb. für Gesch., Sprache u. Lit. Elsaß-Lothringens klass. Terminologie (die er zu erweitern in 26 (1910), S. 95–164. – Kurt Ohly: Nicolaus: ›De der Lage ist) u. weiß um die minneideolog. preliis et occasu ducis Burgundie historia‹ u. drei Implikationen der Gattung. Seine Lieder ge-

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ben sich traditionell, heben sich indes von haften Schreibers. In: Lit. u. Macht im mittelalterl. vielen ›nachklassischen‹ Minnetönen da- Thüringen. Hg. Ernst Hellgardt, Stephan Müller u. durch ab, dass sie sprachlich-rhetorisch u. Peter Strohschneider. Köln u. a. 2002, S. 127- 141. Thomas Bein reimtechnisch auf sehr hohem Niveau stehen. Im Mittelpunkt vieler Lieder steht das verherrlichende Umwerben einer geliebten Tumler, Franz (Ernest Aubert), * 16.1. Dame, oft verknüpft mit Klagegesten des 1912 Gries bei Bozen, † 20.10.1998 Berleidenden Mannes. Der Minnesang ist eine lin. – Lyriker u. Erzähler. serielle literar. Textsorte, die ein dichtes intertextuelles Gewebe darstellt. Insofern ver- Der Sohn eines früh verstorbenen Gymnasiwundert es nicht, Spuren anderer Minnesän- allehrers wuchs in Linz auf u. wurde Volksger im Werk des T. S. zu finden, bes. deutlich schullehrer. Nach dem ersten Bucherfolg solche, die auf gute Kenntnis des Minnesangs 1935 lebte er als freier Schriftsteller, nach von Walther von der Vogelweide schließen freiwilligem Kriegsdienst (seit 1941) zulassen. nächst in Österreich u. siedelte 1954 nach Ton 12 ist von ganz anderer Natur: ein Berlin über. T. war seit 1959 Mitgl. der BerSangspruchton, der von Carl von Kraus für liner Akademie der Künste, von 1967 bis 1968 unecht erklärt wurde. Es handelt sich um ein Direktor u. von 1968 bis 1970 stellvertretenfünfstrophiges Streitgespräch zwischen den der Direktor ihrer Abteilung für Literatur. Er Artusrittern Keie u. Gawein, in dessen Verlauf erhielt u. a. den Literaturpreis der Bayeridie Frage diskutiert wird, wie aufrichtig man schen Akademie der schönen Künste (1967), sich am Hof zu benehmen habe bzw. wie weit die Adalbert-Stifter-Medaille (1969), den es nötig sei, sich opportunistisch zu verhal- Adalbert-Stifter-Preis (1971), das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst ten. Die beiden gegebenenfalls dem T. S. zuge- I. Klasse (1981), den Andreas-Gryphius-Preis schriebenen Strophen im Maastrichter Frag- (1982) u. das Österreichische Bundesverment gehören ebenfalls in die Gruppe der dienstkreuz »Litteris et Artibus«, I. Klasse – Sangspruchdichtung. Nimmt man an, der Professor h.c. (1987). T.s Leben u. Werk steName bezieht sich auf die ihm voranstehende hen im starken Bezug zu Südtirol. Seit 2007 Strophe, so hätte der T. S. einen bemerkens- wird alle zwei Jahre der von der Südtiroler werten Text über männl. Homosexualität Landesregierung gestiftete Franz-Tumler-Liverfasst, die scharf verurteilt wird. Gehört der teraturpreis für deutschsprachige DebütroName allerdings zur auf ihn folgenden Stro- mane verliehen. T.s Debüt, die romanhafte Erzählung Das phe, so wäre der T. S. Autor einer didakt. Strophe, die davor warnt, sich auf böse u. Tal von Lausa und Duron (Mchn. 1935) schildert den Untergang eines ladin. Hirtendorfes falsche Menschen einzulassen. Ausgaben: Friedrich Heinrich v. der Hagen während des Ersten Weltkriegs. Sie traf das (Hg.): Minnesinger. Bd. 2, Lpz. 1838, S. 148–153 herrschende Interesse an Bauern- u. Heimat(Ton 1–12). – KLD 1, S. 406–414 (nur Ton 1–11). – literatur u. machte T. auf Anhieb populär. Bis Helmut Tervooren u. Thomas Bein: Ein neues 1944 war er der erfolgreichste österr. Fragment zum Minnesang u. zur Sangspruchdich- Schriftsteller seiner Generation u. erreichte tung. In: ZfdPh 107 (1988), S. 1–26, hier S. 4 f. mit weiteren Werken wie dem OffiziersroLiteratur: Ingrid Kasten: Studien zu Thematik man Der Ausführende (ebd. 1937) u. dem »Anu. Form des mhd. Streitgedichts. Diss. Hbg. 1973, schluss«-Roman Der Soldateneid (ebd. 1939) S. 68–73. – KLD 2, S. 499–507. – Gisela Kornrumpf eine Gesamtauflage von 300.000 Exemplau. Burghart Wachinger: Alment. In: Gedenkschr. ren. In dieser Zeit war T. als Lyriker u. EsHugo Kuhn. Stgt. 1979, S. 356–411. – Thomas sayist einer der eifrigsten Mitarbeiter der Bein: Orpheus als Sodomit. In: ZfdPh 109 (1990), S. 33–55. – Barbara Weber: Œuvre-Zusammenset- Zeitschrift »Das innere Reich«, die ästhetizungen bei den Minnesängern des 13. Jh. Göpp. schen Anspruch mit NS-Ideologie zu vereinen 1995, S. 127–140. – Andreas Krass: Die Ordnung suchte. T. erklärte seine Verstrickung in der des Hofes. Zu den Spruchstrophen des Tugend- Selbstanalyse Jahrgang 1912 (Hbg. 1967) als

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Versuch, Vaterlosigkeit u. Heimatverlust durch ideolog. Identität auszugleichen. Die Meldung zum Kriegsdienst habe er bereits als Form innerer Emigration gewählt. Unter dem Eindruck von »Blindheit und Versagen« vollzog T. nach 1945 einen stilistischen Wandel: Er gab die klassizistische Manier auf, die ihm wider Willen Ruhm als Nachfahre Stifters eingebracht hatte, u. verzichtete weitgehend auf Fiktion. Die Texte sind autobiografisch u. zunehmend vom Zweifel an der Erzählbarkeit bestimmt. Der Roman Der Schritt hinüber (Ffm. 1956) wird zwar von einer Handlung getragen – der Beziehung einer Frau, deren Mann in Kriegsgefangenschaft ist, zu ihren Bewerbern –, stellt aber die Motive der Handlung ständig in Frage: »Immer geschieht etwas anderes als das, was geschieht [...]. Was eigentlich geschieht, läßt sich nicht herunterdrehen auf eine Geschichte.« Im Roman Der Mantel (ebd. 1959) wird die Erzählhaltung ganz von der Fragwürdigkeit der Fabel bestimmt. Der Protagonist behauptet, durch Anschaffung, Verlust, Wiedergewinnung eines Mantels u. schließlich Verzicht darauf entscheidend verändert worden zu sein. Aus verschiedenen Perspektiven versucht der Ich-Erzähler wie ein Detektiv, »das, was wirklich geschah«, zu rekonstruieren. Das Aufrufen der Erinnerung u. die unerbittl. Rechenschaft über die inneren Motive des Handelns sind wiederum Thema der meisterhaft knappen Erzählung Nachprüfung eines Abschieds (Zürich 1961), in der an wenigen Situationen der Erzähler seine Liebesunfähigkeit erkennt. In dem Prosagedicht Volterra (Ffm. 1962) gibt es keine Fabel mehr, nur noch Stimmen, die etwas Unnennbares zu fassen suchen, das auf einer Reise in die etrusk. Stadt spürbar war. Die stilistischen Mittel sind Wiederholung zur Beschwörung der Gegenstände, Perspektive- u. Tempuswechsel, ellipt. Sätze. T. hat hier einen Endpunkt seines Erzählens erreicht. Im Roman Aufschreibung aus Trient (ebd. 1965) definiert er zwar erzählerische Aufrichtigkeit als »Verlust an Geschichten, in denen ich bei früherem Erzählen zu leben vorgegeben hatte«, kehrt aber zurück zur rekonstruierbaren Fabel, bei der die Kontrapunktik verschiedener Stim-

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men mehr Manier als Notwendigkeit ist: Indem sich der Ich-Erzähler bei einem unfreiwilligen Aufenthalt in Trient der Landschaft u. Geschichte Südtirols bewusst wird, vergewissert sich T. seiner eigenen Herkunft. Der Roman Pia Faller (Mchn. 1973) führt auf der Suche nach der Kindheit in die andere für T. prägende Landschaft: nach Linz u. an die Donau, die hier zgl. Metapher wird für die vorübergehende Zeit, aus deren Fluß der Erzähler nur wenige Momente herausgreifen u. lediglich als Sprache vergegenwärtigen kann. Das Lesebuch Aber geschrieben gilt es (Bozen 1992) versammelt Texte u. Essays aus dem gesamten Œuvre T.s, denen Reflexionen zu Poetik, Sprache u. Schreibverfahren gemeinsam sind. Weitere Werke: Die Wanderung zum Strom. Mchn. 1937 (E.). – Im Jahre 38. Ebd. 1939 (E.en). – Der erste Tag. Ebd. 1940 (E.). – Anruf. Ebd. 1941 (L.). – Auf der Flucht. Wien 1943 (E.). – Ländl. Erzählungen. Graz 1944 (E.n). – An der Waage. Hameln 1947 (Prosa). – Einmal war etwas Gutes geschehen. Ebd. 1947. – Liebes-Lobpreisung. Ebd. 1947 (E.) – Landschaften des Heimgekehrten. Ebd. 1948 (L.). – Der alte Herr Lorenz. Salzb. 1949 (R.). – Neue Blick auf die Erde: 10 Landschaften. Hameln 1949 (P.). – Heimfahrt. Ebd. 1950 (R.). – Das Hochzeitsbild. Ebd. 1953 (E.). – Ein Schloß in Österr. Mchn. 1953 (R). – Schüsse auf Dutschke. Bln. 1968 (E.). – Das Land Südtirol. Ebd. 1971 (Ess.). – Ein Landarzt. Zollikon 1972 (E.) – Sätze v. der Donau. Ebd. 1972 (Gedichtezyklus). – Landschaften u. E.en. Ebd. 1974. – Das Zerteilen der Zeit. Innsbr. 1989 (L.). – Der Keksfresser: An der Waage: Aufzeichnungen aus dem Lagerhaus. Weitra 1990 (P.). Literatur: Peter Demetz u. Hans Dieter Zimmermann (Hg.): Arsenal. Beiträge zu F. T. Mchn. 1977. – H. D. Zimmermann (Hg.): Welche Sprache ich lernte. Texte v. u. über F. T. Ebd. 1986 (mit Bibliogr.). – F. T. Beiträge zum 75. Geburtstag. Hg. Bundesländerhaus Tirol. Wien 1987 (= Zirkular 14. 1987). – Wilhelm Burger: Heimatsuche. Südtirol im Werk F. T.s. Ffm. 1989. – Hansjörg Waldner: F. T.: Der Ausführende. In: Dtschld. blickt auf uns Tiroler. Südtirol-Romane zwischen 1918 u. 1945. Wien 1990, S. 161–167. – Ferruccio Delle Cave (Hg.): Auf der Suche nach dem Wort. F. T. zum 80. Geburtstag. Bozen 1992. – Leonhard Huber: Die Architektur des Textes. Das Verhältnis v. Raum- zu Sprachkonstrukten in F. T.s Prosa. Ffm. 1994. – Uwe Heldt: F. T. In: LGL. – Barbara Hoiß: Ich er-

Tuotilo

645 finde mir noch einmal die Welt. Versuch über Moderne, Heimat u. Sprache bei F. T. Innsbr. 2006. – Johann Holzner u. B. Hoiß: Stationen u. Strategien. Über F. T. Innsbr. 2009. – Dies. (Hg.): F. T. Beobachter – Parteigänger – Erzähler. Innsbr./Wien/ Bozen 2010. – Wendelin Schmidt-Dengler u. Hansjörg Waldner: F. T. In: KLG.

rich Meisser: Die Sprichwörterslg. Sebastian Francks v. 1541. Amsterd. 1974, S. 335–388. – Irmgard Simon: Zum Humanismus in Münster u. zu den Sprichwortslg.en v. Johannes Murmellius (1513) u. A. T. (1514). In: Niederdt. Wort 40 (2000), S. 47–75; 41 (2001), S. 57–89. Wolfgang Mieder / Red.

Jost Nickel / Ewa Mazurkiewicz

Tunnicius, Tunicius, Anton, * um 1470 Münster/Westf., † nach 1544 Münster/ Westf. – Humanist u. Sprichwortsammler. T. besuchte um 1481 die niederländ. Schule in Deventer u. war ab 1500 Gymnasiallehrer an der Lateinschule am Dom zu Münster. Auf Anregung des Gründers dieser Schule, Rudolf von Langen, verfasste er die erste umfassende dt. Sprichwortsammlung, In germanorum paroemias studiose iuventuti perutiles monosticha cum germanica interpretatione (Köln 1513. 3 1515. Mit nhd. Übers., Anmerkungen u. Wörterbuch hg. v. Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Bln. 1870. Nachdr. Amsterd. 1967). T. bot 1362 niederdt./westfäl. Sprichwörter, denen er lat. Übersetzungen in Hexametern beigab, um seine Schüler Latein u. Moral zu lehren. Obwohl er einige Sprichwörter aus dem Volksmund aufgegriffen haben mag, übernahm er doch mindestens 645 Texte aus der niederländ. Sammlung Proverbia communia (Deventer 1480), mindestens 67 aus Heinrich Bebels Proverbia germanica (Straßb. 1508) u. schöpfte sonst aus der Bibel u. dem antiken Schrifttum. Ihren größten Einfluss hatte T.’ Sammlung auf Sebastian Francks Sprichwörter, schöne, weise, herrliche Clugreden (Ffm. 1541). Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Heinrich Hoffmann v. Fallersleben: Die ältesten dt. Sprichwörterslg.en. In: Weimarisches Jb. für dt. Sprache. Lit. u. Kunst 2 (1855), S. 173–186. – Ludwig Fränkel: A. T. In: ADB. – Albert Leitzmann: Zu den mittelniederdt. Sprichwörterslg.en. In: PBB 45 (1920/21), S. 121–130. – Friedrich Seiler: Dt. Sprichwörterkunde. Mchn. 1922, S. 109–112. – Ders.: Das dt. Lehnsprichwort. Bd. 4, Halle 1924, S. 116–165. – Karl Schulte-Kemminghausen: Eberhard Tappes Slg. westfäl. u. holländ. Sprichwörter. In: FS Conrad Borchling. Neumünster 1932, S. 91–112. – Proverbia Communia. Hg. Richard Jente. Bloomington/Ind. 1947, S. 35 f. – Ul-

Tuotilo, * um 850 Alemannien, † an einem 27.4. nach 912. – Dichter, Musiker u. bildender Künstler. Mit seinen Freunden Ratpert u. Notker Balbulus wurde T. in St. Gallen von Iso unterrichtet. Nacheinander verwaltete er die Wirtschaft, die Kirche u. das Gästehaus. Als Schöpfer von Reliefs ist er im Nekrolog genannt (sicher zuzuschreiben sind die Elfenbeintafeln des St. Galler Codex 60); die Chronik Ekkeharts IV. rühmt ihn auch als Maler u. Architekten, als Lehrer im Saitenspiel u. Rohrpfeifen, als Dichter u. Komponisten. Von den dort genannten Tropen sind fünf erhalten. Die größte Wirkung – auch für die Ausbreitung des Tropus – hatte der Weihnachtstropus Hodie cantandus est (allein aus dem 10. bis 12. Jh. stammen mindestens 19 Handschriften). Der erste namentlich bekannte Tropendichter wurde bis zur Reformation als »sant Tütel« in St. Gallen verehrt. Ausgaben: Corpus troporum 1. Cycle de Noël. Hg. Ritva Jonsson. Stockholm 1975, S. 107, 315–317. – Corpus Troporum 3. Cycle de Pâques. Hg. Gunilla Björkvall u. a. Ebd. 1982, S. 104, 334–336, 341 f. – Vollständig bei Rüsch, a. a. O., S. 32 f., 39–42. Literatur: Ernst G. Rüsch: T. Mönch u. Künstler. St. Gallen 1953. – Johannes Duft u. Rudolf Schnyder: Die Elfenbein-Einbände der Stiftsbibl. St. Gallen. Beuron 1984, S. 753 (Lit.). – Marguerite Menz-Von der Mühll: Die Elfenbeintafeln des T. in St. Gallen. In: Unsere Kunstdenkmäler 44 (1993), S. 392–395. – Reinhard Düchting: T. In: VL (Lit.). – P. A. Mariaux: La vierge dans l’atelier de T. De l’artiste médiéval considéré comme un ›théodidacte‹. In: Revue de l’histoire des religions 218 (2001), S. 171–195. Anette Syndikus / Red.

Turek

Turek, Ludwig (Andreas), * 28.8.1898 Stendal/Altmark, † 9.11.1975 Berlin/ DDR. – Erzähler u. Hörspielautor.

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Die Tradition der proletarisch-revolutionären Literaturbewegung führte T. auch nach 1945 fort (Die Freunde. Bln./SBZ 1947). Mit Die goldene Kugel (Bln./DDR 1949) schrieb T. einen frühen fantastisch-utop. Roman der DDRLiteratur. Der Roman über Berliner Trümmerfrauen, Anna Lubitzke (ebd. 1952. Verfilmt 1960 u. d. T. Steinzeitballade), ist S.s Beitrag zur heute diskreditierten »Aufbauliteratur«, der sich streckenweise als Anti-Aufbauroman lesen lässt.

T. wuchs nach dem frühen Tod des Vaters, eines Schlossers, als Hofjunge u. Kleinknecht bei Bauern auf. Nach Schriftsetzer- u. Buchdruckerlehre war er in verschiedenen Berufen tätig. 1912 wurde er Mitgl. der Sozialistischen Arbeiterjugend, distanzierte sich von deren rechtem Flügel, ging später zur USPD u. gehörte der KPD seit ihrer Gründung an. Weitere Werke: Leben u. Tod meines Bruders Er desertierte im Ersten Weltkrieg u. kämpfte Rudolf. Moskau 1932 (E.). – Die letzte Heuer. Prag im März 1920 auf Seiten der Roten Armee im 1935. Verfilmt 1950. Mit Geleitwort v. Irmtraud Ruhraufstand. Aus einjähriger Festungshaft Morgner. Bln./DDR 1988 (R.). – Herbert Bachvon Spartakisten befreit, wurde er 1930 manns große Reise. Ebd. 1952 (E.). – Mittelstürmer Mitgl. im Bund proletarisch-revolutionä- Werner Schwing. Bln./DDR 1954 (R.). – Familie Siebenbrodt. 1954 (Hörspielfolge). – ›Palermo‹ auf rer Schriftsteller u. Arbeiterkorrespondent. richtigem Kurs. Bln./DDR 1955 (E.). – Wie ich zum Knapp 30-jährig schrieb T. sein erstes, er- Schreiben kam. In: Hammer u. Feder. Ebd. 1955, folgreiches Buch, den autobiogr. Roman Ein S. 479–484. – Die Flucht der Grüngesichtigen. Ebd. Prolet erzählt (Bln. 1930. Halle u. Ffm. 1985), 1959 (E.en). – Familie Nagelschwert. Ebd. 1961 der sofort ins Russische übersetzt wurde. (R.). – Ich war kein Duckmäuser. Ebd. 1961 (auto1930–1932 lebte T. in der Sowjetunion als biogr. Kinderbuch). – Mein Freund Bruno. Ebd. Schriftsetzer u. Werftarbeiter, 1932 fuhr er in 1975 (R.). – Die Liebesfalle. Ebd. 1976 (E.en). Vereinem selbstgebauten Segelboot von der filmt 1976. Literatur: L. T. In: Bibliogr. Kalenderbl. der Wolga zur Riviera. 1933–1939 war er im frz. Berliner Stadtbibl. 8 (Bln./DDR 1963), S. 21–24. – Exil Steuermann u. Kapitän auf MittelmeerIrmfried Hiebel: Ein proletarisch-revolutionärer schiffen (vgl. die Autobiografie Klar zur Wende. Erzähler. In: Von der Novemberrevolution zum Bln./DDR 1949). Nach der Internierung in Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Frankreich 1940 kehrte er illegal nach Hg. Kulturbund der DDR. Bln./DDR 1980, Deutschland zurück u. beteiligte sich am S. 72–78. – Stephan Gruner: L. T.s ›Ein Prolet erWiderstandskampf. Bis zu seinem Tod lebte zählt‹. In: WB 34 (1988), S. 1659–1674. – Françoise Muller: Regard d’enfant sur la misère: L. T. In: T. als freier Schriftsteller in Ost-Berlin. Wie andere aus der Arbeiterkorresponden- Regards littéraires sur l’enfance. Coord. scientifique: F. Muller. Lille 1994, S. 65–82. – Birgit Hertenbewegung zehrte T. beim Schreiben vom kula: L. T. In: Dies. u. Simone Trieder: Verboten, eigenen, abenteuerl. Erleben. Mit Ein Prolet verschwiegen, verschwunden. Schriftstellerinnen erzählt, seinen bis in die Gegenwart mehrfach u. Schriftsteller im Gebiet des heutigen Sachsenaufgelegten, authent. »Lebensschilderungen Anhalt zur NS-Zeit. Halle 2008, S. 138–147. eines deutschen Arbeiters« in Vorkrieg, Krieg Gesine von Prittwitz / Red. u. Revolutionsjahren, ging er in die Literaturgeschichte ein: »Vorliegendes Buch ist nicht das Produkt eines Schriftstellers, son- Turel, Adrien, * 5.6.1890 St. Petersburg, dern die Arbeit eines werktätigen Proleten«, † 29.6.1957 Zürich; Grabstätte: ebd., heißt es im Vorwort von 1930. T. schrieb an- Friedhof Sihlfeld. – Psychoanalytiker, schaulich u. dokumentarisch über die Lage Philosoph; Essayist, Lyriker, Erzähler. der dt. Arbeiter. Ähnlich ist die Perspektive in Der Sohn eines in russ. Diensten stehenden Klar zur Wende, wo S. die Schilderung seiner Schweizer Gymnasiallehrers u. einer preuß. Mittelmeerfahrten 1933–1937 mit Berichten Mutter wurde mit drei Monaten von einer über das Arbeiterelend in südeurop. Ländern Lähmung befallen, die ihn für immer behinverbindet. derte. Ab 1891 wuchs T. am Genfersee fran-

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Turrini

zösischsprachig auf, bis die Familie nach dem haltsame, z.T. sogar vergnügl. Romane zu väterl. Bankrott 1900 nach Berlin übersie- kleiden. So entstanden der Science-Fictiondelte, wo er das Leibniz-Gymnasium be- artige Kriminalroman Die Greiselwerke (Zürich suchte u. ab 1912 Germanistik, Romanistik u. 1942. Neuausg. 1981) sowie die Satire Reise Geschichte studierte. 1917 kam er durch einer Termite zu den Menschen (ebd. 1960. 1983) Magnus Hirschfeld u. Heinrich Körber mit u. der autobiografisch inspirierte Entwickder Psychoanalyse in Berührung, der er sich lungsroman Die zwölf Monate des Dr. Ludwig fortan unter Aufgabe des Studiums als Ana- Stulter (ebd. 1959. 1984), die beide erst poslytiker u. Propagandist engagiert widmete. tum durch die 1958 von Lucie Turel-Welti Seit dem Debüt mit dem expressionistisch gegründete »Stiftung Adrien Turel« ediert beeinflussten Lyrikband Es nahet gen den Tag wurden. T.s denkerische Brillanz u. Ver(Wolgast 1918) publizierte T. auch Gedichte, trautheit mit der europ. Geistesgeschichte Dramen (Christi Weltleidenschaft. Bln. 1923) u. wird augenfällig in Bachofen – Freud. Zur Essays (Selbsterlösung. Ebd. 1919) u. entwi- Emanzipation des Mannes vom Reich der Mütter ckelte allmählich eine eigene »Weltlehre«, (Bern 1938) oder in dem erstaunl. Roman die naturwissenschaftl., astronomische, psy- über Marschall Moritz von Sachsen, Voltaire cholog. u. anthropolog. Elemente miteinan- u. andere, Dein Werk soll deine Heimat sein der verschmolz u. in der Theorie vom »vier- (Zürich 1942). Angesichts seines noch weitdimensionalen Menschen« gipfelte, der mit gehend unaufgearbeiteten Nachlasses – er den Mitteln des atomaren »Ultratechnoi- liegt in der Zentralbibliothek Zürich – u. in kums« ein neues, paradiesisches Kapitel der Ermangelung einer verlässlichen WerkanalyMenschheit herbeiführen sollte. Zusammen- se ist es unmöglich zu entscheiden, ob T. nur fassend ist dies dargestellt in Die Eroberung des ein »hochbegabter Wirrkopf« (Robert Jungk) Jenseits (Bln. 1931), Von Altamira bis Bikini, die oder tatsächlich ein der Zeit vorauseilender Menschheit als System der Allmacht (Zürich 1947) prophetischer Denker gewesen ist. u. – fasslicher – in Bilanz eines erfolglosen Lebens Literatur: François Bondy, Alfred A. Häsler (Bd. 1, ebd. 1956. Zürich/Hbg. 1989. Bd. 2: u. a.: A. T. Zürich 1974. – Martin Kraft: A. T. Rechenschaftsbericht eines ewig Arbeitslosen. Ebd. Nachw. zu A. T.: ›Die Greiselwerke‹. Neu hg. v. 1959. Ausw. hg. von Hugo Loetscher. Frau- Charles Linsmayer (Frühling der Gegenwart. Bd. 7). enfeld 1976). Auch T.s Lyrik, die in den Ebd. 1981. – Hugo Eberhardt: Experiment ÜberBänden Weltleidenschaft (Zürich 1940) u. Vom mensch. Das literar. Werk A. T.s. Ebd. 1984. – Ders. u. Wolfgang Bortlik (Hg.): A. T. zum 100. GeMantel der Welt (ebd. 1947) ihren Höhepunkt burtstag. Aarau 1990. – Hermann Levin Goldscherreichte u. nach expressionistischen Anfän- midt: Pestalozzis unvollendete Revolution. Philogen eher dem philosophischen Lehrgedicht sophie dank der Schweiz v. Rousseau bis T. Wien zuneigte, steht fast ganz im Banne seiner ei- 1995. Charles Linsmayer genwillig-genialischen Weltschau. Um 1930 stand T. in enger Beziehung zu Harro Schulze-Boysen u. der kommunisti- Turmair, Johannes ! Aventinus, Joschen Gruppe um die Zeitschrift »Der Geg- hannes ner«, in deren Schriftenreihe 1932 sein Essay Recht auf Revolution (Bln.) erschien. Wohl dieTurrini, Peter, * 26.9.1944 St. Margareser Beziehungen wegen wurde T. nach Hitlers then/Kärnten. – Dramatiker, Lyriker, Machtantritt vorübergehend inhaftiert. 1934 Drehbuchautor. kehrte er über Paris in die Schweiz zurück u. lebte, ab 1947 unterstützt durch seine ver- Nach der Hauptschule in Klagenfurt besuchte mögende zweite Frau Lucie Turel-Welti, als der Sohn einer Steirerin u. eines Italieners seit »Sozialphysiker« u. freier Autor in Zürich. 1958 die Handelsakademie. Auf dem nahe Abgeschnitten von seinen dt. Freunden u. seines Wohnorts gelegenen Tonhof des froh, für seine Arbeiten überhaupt noch einen Komponisten Gerhard Lampersberg (dem Verlag zu finden, versuchte T. während des Thomas Bernhard in Holzfällen ein Denkmal Zweiten Weltkriegs, seine Ideen in unter- setzte) kam T. bereits als Jugendlicher in

Turrini

Kontakt mit Künstlern der österr. Nachkriegsavantgarde (H. C. Artmann, Thomas Bernhard u. a.). Bis 1971 übte er an wechselnden Orten verschiedene Tätigkeiten aus (Stahlarbeiter, Magazineur, Vertreter, Werbetexter, Barmann u. Hoteldirektor, Hilfsarbeiter). Mit seinem ersten Stück, Rozznjogd (1967. Dialekt- u. hochtdt. Fassung Wollerau/Wien/ Mchn. 1973. Urauff. Wien 1971), welches das Lebensgefühl seiner Generation traf wie zuvor nur die Stücke Wolfgang Bauers, konnte sich T. auf Anhieb als einer der wichtigsten Vertreter der jüngeren österr. Dramatik etablieren. Ein junges Paar, das sich auf einem Schuttabladeplatz trifft, entledigt sich der Wegwerfartikel, die es am Leib trägt, um ganz nackt zu einer unverfälschten Beziehung finden zu können – da wird es von Vorübergehenden für Ratten gehalten u. abgeknallt. Das Stück, von T. als »verzweifelter Selbstreinigungsprozeß« u. »Entwurf totaler Freiheit« interpretiert, lässt sich als Allegorie lesen: die Welt als Müllhalde, der Mensch ein »wandelnder Mistkübel«. Eine grausame Parabel von der Vernichtung eines Außenseiters ist Sauschlachten (Wollerau/Wien/Mchn. 1973. Urauff. Mchn. 1972), das sich in die Tradition des sozialkrit. Volksstücks stellt (vergleichbar mit Martin Sperrs Jagdszenen aus Niederbayern): Aus Protest gegen die Engstirnigkeit seiner Umwelt weigert sich der Bauernsohn Valentin zu sprechen u. gibt nur noch Grunzlaute von sich. Zuerst verhöhnt u. gequält, wird er schließlich von der Familie im Beisein der Dorfhonoratioren wie eine Sau geschlachtet, gebraten u. verspeist. Die Zertrümmerung gewohnter Moralvorstellungen, die Ablehnung von Konsumdenken u. kleinbürgerl. Lebenshaltung, krasses Vokabular u. grelle Szenen sind wesentl. Elemente jener »aggressiven Schockdramaturgie« (Jutta Landa), die T.s frühe Stücke auszeichnet. Dialektdichtung u. Sprachreflexion schließen an die österr. Nachkriegsavantgarde an; das Thema der Sprachverweigerung erinnert an Peter Handkes Kaspar. T.s Dramenästhetik zeichnet sich jedoch aus durch die Kombination experimenteller u. traditioneller dramat. Mittel.

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Von einer produktiven Auseinandersetzung mit der dramat. Tradition zeugen etwa seine Klassikerbearbeitungen Der tollste Tag (nach Beaumarchais. Wollerau/Wien/Mchn. 1973. Urauff. Darmst. 1972) u. Die Wirtin (nach Goldoni. Wien/Mchn. 1978. Urauff. Nürnb. 1973), die eine formale u. stilistische Anlehnung mit einem intertextuellen Widerruf verbinden: Bei T. wird Figaro schließlich zum Mörder u. stranguliert den Grafen. Schonungslose Analyse von Machtstrukturen u. radikale Gesellschaftskritik prägen auch T.s weiteres Schaffen. Auf dem Weg zu seinem charakteristischen »engagierten neorealistischen Stil« (Fischer) vollzog T. zunächst einen Medienwechsel u. wandte sich 1974 dem Film zu. Gemeinsam mit Wilhelm Pevny entstand die Fernsehserie Alpensaga (Erstsendungen ORF 1976–80. 3 Bde., Salzb./Wien 1980), welche die »Geschichte des österreichischen Bauernstandes« von der Jahrhundertwende bis nach 1945 behandelt. Obwohl gründlich recherchiert, wurden die v. a. von Seiten der kath. Kirche, des österr. Bauernbundes u. des Kameradschaftsbundes, aber auch ORF-intern heftig angegriffenen u. als »kommunistisch« denunzierten sechs Folgen der Chronik erst jeweils nach Historikergutachten zur Produktion freigegeben. Dem v. a. durch den kommerziellen Heimatfilm verbreiteten Bild dörfl. Idylle hält die Alpensaga eine krit. Bestandsaufnahme wirtschaftl., sozialer u. polit. Konflikte entgegen. Auch bei T.s gemeinsam mit Rudi Palla u. Dieter Berner geschriebener Arbeitersaga behinderten polit. Interventionen die Produktion. Die vierteilige Fernsehserie schildert »Geschichten aus der Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung« (von den geplanten sechs Teilen wurden nur vier realisiert: Müllomania. Wien 1988. Erstsendung ORF 1988. Die Verlockung. Wien 1989. ORF 1988. Das Plakat. Wien 1989. ORF 1990. Das Lachen der Maca Daracs. Erstsendung ORF 1991). Mit dem Einakter Josef und Maria (ebd. 1980. Urauff. ebd. 1980) kehrte T. zur Bühne zurück. Im selben Jahr erschien der Gedichtband Ein paar Schritte zurück (Mchn.), der Kindheits- u. Jugenderlebnisse verarbeitet u. T.s persönlichste Texte enthält. Seinen Ruf

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als »Skandalautor« bestätigte T. mit dem als den Komponisten Gerhard Lampersberg, u. polit. Schlüsselstück gehandelten Schauspiel das Künstlerdrama Mein Nestroy (Ffm. 2008. Die Bürger (Wien/Mchn. 1982. Urauff. Wien Urauff. Wien 2006). Das Stück behandelt die 1982) u. dann mit dem viel gespielten Stück Beziehung Nestroys zu seiner LebensgefährDie Minderleister (Ffm. 1989. Urauff. Wien tin, der Schauspielerin Marie Weiler, u. prä1988): Der Arbeiter Hans wird wegen der sentiert mit Formzitaten des Wiener VolksStahlkrise entlassen, dank der Fürsprache ei- theaters sowie der Commedia dell’arte den nes Ministers jedoch als Ordner wieder ein- ›tragischen‹ Komödianten Nestroy als Idengestellt. Er muss die »Minderleister« aussor- tifikationsfigur des Gegenwartsdramatikers. T.s dramat. Werk wurde in zahlreiche tieren. Als er merkt, dass die alten Kumpels ihn meiden, setzt er sich selbst auf die Liste u. Sprachen übersetzt u. mit bedeutenden Preispringt in den Hochofen. Mit szenisch ein- sen ausgezeichnet, etwa dem Gerhartdringl., den Realismus aufbrechenden Meta- Hauptmann-Preis (1981) u. dem Johannphern zeigt T., wie die Entfremdung in der Nestroy-Ring (2008). 2010 wurde T. die EhArbeitswelt mit der Entfremdung in der Pri- rendoktorwürde der Universität Klagenfurt vatsphäre korrespondiert. Tod und Teufel (Ffm. verliehen. T.s Vorlass befindet sich seit 2010 1990. Urauff. Wien 1990) zeigt einen Klein- im neu gegründeten Archiv der Zeitgenossstadtpfarrer, der auf der Suche nach der sen Krems/Niederösterreich. Sünde Alkoholismus u. Rauschgiftsucht, ArWeitere Werke: Erlebnisse in der Mundhöhle. beitslosigkeit u. Pornographie, illegale Waf- Reinb. 1972 (R.). – Campiello. Wien 1982. Urauff. fengeschäfte u. die unheilvolle Verfilzung ebd. 1982 (D.). – Im Namen der Liebe. Hbg. 1993. von Politik u. Industrie kennenlernt. Das Erw. Ausg. hg. v. Silke Hassler. Ffm. 2005 (L.). – Die Stück, eine Mischung aus Passionsgeschichte Schlacht um Wien. Mchn. 1995. Urauff. Wien 1995 u. Skandalreport, macht seinem Untertitel (D.). – Die Liebe in Madagaskar. Mchn. 1998. Urauff. Wien 1998 (D.). – Ein irrer Traum (Lese(eine Kolportage) alle Ehre. An das ›Orgienbuch 1). Hg. S. Hassler u. Klaus Siblewski. Mchn. mysterientheater‹ Hermann Nitschs erin- 1999. – Das Gegenteil ist wahr (Lesebuch 2). Hg. nernd, zeigt es erneut T.s Nähe zur österr. dies.n. Mchn. 1999. – Zuhause bin ich nur hier: am Nachkriegsavantgarde. Theater (Lesebuch 3). Hg. dies.n. Mchn. 1999. T.s bisher erfolgreichstes Stück, Alpenglühen Literatur: Jutta Landa: Bürgerl. Schocktheater. (Hbg./Zürich 1992. Urauff. Wien 1993), in- Entwicklungen im österr. Drama der 60er u. 70er szeniert ein virtuoses Spiel mit Identitäten u. Jahre. Ffm. 1988. – Wolfgang Schuch u. Klaus Siist zgl. ein poetolog. Bekenntnis des Autors: blewski (Hg.): P. T. Texte, Daten, Bilder. Ffm. 1991. Die Begegnung eines geheimnisvollen blin- – Bernd Fischer: P. T. In: Dt. Dramatiker des 20. Jh. den Einsiedlers mit einer alternden Wiener Hg. Alo Allkemper u. Norbert Otto Eke. Bln. 2000, Prostituierten, die sich als Sekretärin des S. 733–745. – Hermann Beil: P. T. In: LGL. – MiBlindenvereins entpuppt, aber auch eine ge- chael Töteberg: P. T. In: KLG. – Klaus Amann (Hg.): P. T. Schriftsteller. Kämpfer, Künstler, Narr u. scheiterte Schauspielerin zu sein scheint, Bürger. St. Pölten/Salzb. 2007. spiegelt die Realität in der Kunst, in den Wolfgang Seibel / Hanna Klessinger Rollen-Spielen des Theaters. Das Stück, das 1993 am Wiener Burgtheater uraufgeführt wurde u. den Mülheimer Dramatikerpreis Tuschick, Jamal, * 10.2.1961 Kassel. – erhielt, markiert den Höhepunkt von T.s Romancier, Journalist, Übersetzer. Zusammenarbeit mit dem Regisseur Claus Peymann, der als Burgtheaterdirektor meh- T. wurde als Sohn eines Libyers u. einer rere Stücke T.s uraufführte. Die Künstler- Deutschen geboren. Er wuchs nach dem früproblematik bestimmt auch T.s Stücke Da hen Tod des Vaters in seiner Heimatstadt als Ponte in Santa Fe (Ffm. 2002. Urauff. Salzburg Teil der dt. »Mehrheitsgesellschaft« auf. 2002) über Mozarts berühmten Librettisten, Nach seiner Übersiedlung nach Frankfurt/M. das autobiografisch fundierte Konversations- 1987 war er sowohl als Journalist wie auch als stück Bei Einbruch der Dunkelheit (Ffm. 2007. Schriftsteller tätig. T. schreibt u. a. für die Urauff. Klagenfurt 2006), eine Hommage an »tageszeitung«, die »Junge Welt« u. die

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»Frankfurter Rundschau«. Seit 2010 lebt er wieder in Kassel. T.s schriftstellerisches Werk gliedert sich in drei Phasen. Seine frühen Prosabände wie Erster Versuch zur Jetlage (Stgt. 1991) bieten Skizzen urbanen Lebens in der Großstadt Frankfurt. Die kurzen Texte verzichten meist auf Handlungen, stattdessen bieten sie akrib. Detailbeobachtungen. Erster Versuch u. Die Begeisterung der Körper (Ffm. 1991) erschienen in kleinen Verlagen u. erreichten keine größere Öffentlichkeit. Dies änderte sich jedoch um die Jahrtausendwende, als T. im Zuge einer neuen Welle von Literatur eingewanderter bzw. aus Einwandererfamilien stammender Autoren erstmals eine größere Öffentlichkeit erreichte. Als Herausgeber des Bandes Morgen Land. Neueste deutsche Literatur (Ffm. 2000) versammelt er so unterschiedl. Schriftsteller wie Maxim Biller, Franz Dobler, Selim Özdogan u. Feridun Zaimoglu. Die Provokation steckt im Untertitel des Bandes – nämlich die Forderung nach einem gleichberechtigten Platz dieser Autorinnen u. Autoren neben u. mit ihren »nicht-eingewanderten« Kollegen. Hier verortet T. teilweise auch sein eigenes Schreiben. Deutlich wird dies im Artikel »Bruder, du bist meine Stimme« über Zaimoglu, den T. zum von Thomas Kraft herausgegebenen Sammelband aufgerissen. Zur Literatur der 90er (Mchn./Zürich 2000, S. 105–116) beisteuerte. Was T. an jenem lobt, lässt sich durchaus auf seine eigenen Texte beziehen: der Anspruch auf authent. Darstellung literaturferner Gesellschaftsschichten sowie der Wille zur ästhetischen Provokation gegen etablierte Positionen, dabei aber durchaus in Anlehnung an bereits existente Underground- u. Avantgardetraditionen seit der Klassischen Moderne. Im Gegensatz zu Zaimoglus frühen Texten wird T.s hybride Herkunft jedoch nur so weit zum Thema, als seine Figuren häufig aus dem gleichen Milieu stammen wie ihr Autor. Als wichtige Einflüsse aus der Gegenwartsliteratur nennt T. u. a. Peter Kurzeck, Wilhelm Genazino u. die Reportagen von Gabriele Goettle. Mit Bezug auf die eigenen Texte sieht T. sich eher als Beobachter denn als Erfinder neuer Geschichten, sodass literar. u. journa-

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listische Praxis bisweilen ineinander übergehen. Ebenso passend erscheint T.s Selbsteinordnung, er schreibe eine »Heimatliteratur ohne schlechtes Gewissen«, die den Alltag in der Provinz soziologisch genau abbilde, statt diesen zu verklären (Gespräch mit Shirin Sojitrawalla). T.s Vorgehensweise wird von der Kritik jedoch auch negativ gewertet: »J. T. ist [...] ›detailsüchtig‹, sein Interesse gilt dem einzelnen Satz, doch die Konstruktion seiner Geschichte gerät ihm aus dem Blick. So erschöpft sich [T.] über weite Strecken im Beobachten, Beschreiben und Registrieren und findet nicht zum Erzählen« (Lutz Hagestedt). Praktisch löst T. seine Poetik mit einer Trilogie von Texten ein, die seit der Jahrtausendwende in rascher Abfolge erscheinen: Keine große Geschichte (Ffm. 2000), Kattenbeat (Ffm. 2001) u. Bis zum Ende der B-Seite (Ffm. 2003). Sie stellen die zweite Phase von T.s Werk dar. Die Texte spielen vorwiegend in Kassel, mit gelegentl. Abstechern nach Frankfurt u. Göttingen; die Sprache hält die Balance zwischen einer gehobenen literar. Kunstsprache u. einem literarisierten Straßenslang, der sich an Autoren wie Jack Kerouac, William S. Burroughs, Jörg Fauser, aber auch an Georges Bataille u. Jean Genet orientiert. Die Erzählungen sind in Montagetechnik geschrieben, mit teilweise abrupten Sprüngen zwischen den einzelnen Abschnitten. Auf der Handlungsebene sind besonders die ersten beiden Erzählungen ineinander verzahnt. Verfolgt werden die Lebenswege in einer Kasseler Clique im alternativen Milieu der 1980er u. 1990er Jahre. Drogen, Alkohol, Kneipen u. Rockmusik finden ebenso ihren Platz wie Hausbesetzungen u. Straßenkämpfe. Der erste Band schildert aus wechselnden Perspektiven die Jugend des Gitarristen Selkirk Barrenboyne Burroughs, der als Nachfahre von Hugenotten u. Südstaatlern aufwächst. Kattenbeat handelt dagegen von zwei Freunden Burroughs’, Teichmann u. Koller, wobei im Falle des Letzteren seine Selbstfindung als Journalist im Vordergrund steht; im dritten Teil sind immer wieder seine Reportagen in den Text einmontiert. Bis zum Ende der B-Seite schließlich beschäftigt sich mit der Jugend zweier getrennt aufwachsender

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Zwillingsbrüder in Kassel u. der schwäb. Provinz, die der Ich-Erzähler Revue passieren lässt. Auch hier lebt der Protagonist wieder im proletar. Milieu, während sein Bruder Kaiman behütet in der schwäb. Provinz groß wird. Nach längerer Pause setzte T. zu einer dritten Phase an. Sein vielleicht bestes Buch, der Erzählband Aufbrechende Paare (Ffm. 2008), beobachtet den Alltag einer Gruppe kleinbürgerl. Figuren im Frankfurt der Gegenwart. Die sprachl. Nähe zur Beat Generation tritt zugunsten eines leiseren, v. a. an Genazino orientierten Stils zurück. In der Nachfolge widmet sich T. zunächst nichtfiktionalen Texten, etwa dem mit Gisela Getty u. Jutta Winkelmann verfassten Die Zwillinge oder Vom Versuch Geist und Geld zu küssen (Ffm. 2008). Hier zeichnet T. die bewegte Lebensgeschichte der beiden Filmemacherinnen im gegenkulturellen Milieu der 1960er bis 1970er Jahre u. ihre Begegnungen mit Persönlichkeiten wie Paul Getty u. Bob Dylan auf; das Buch erhielt zumeist vernichtende Kritiken. Weitere Werke: Wolfgang Gruhle. Oben bleiben. Artist u. Unternehmer. Bln. 2010. – Die Apfelweinkönigin oder ›Der Himmel über der Humboldtstraße‹ (mit Tine Köhl). Bln. 2010. Literatur: Daniel Beskos: Zwischen den Orten. J. T.s Romandebüt ›Keine große Geschichte‹. In: literaturkritik.de Nr. 11, Nov. 2000. – Lutz Hagestedt: Burroughs beerbt Becketts Enkel. Gedrechselt, poliert u. detailsüchtig: J. T.s Erstling. In: ebd. – Shirin Sojitrawalla: Heimatlit. ohne schlechtes Gewissen. In: Deutschlandfunk Büchermarkt, 30.1.2009 (Gespräch mit J. T.). – Frank Witzel: ›Ich bin der geborene Gast.‹ In: die tageszeitung, 2.9.2002 (Gespräch mit J. T.). – Andreas Wirthensohn: J. T. In: LGL. Stefan Höppner

Twinger von Königshofen, Jakob, * 1346, † 27.12.1420; Grabstätte: Straßburg, Kirche St. Thomas. – Archivar u. Chronist. Aus einer Familie stammend, die sich in führenden Ämtern um die Stadt verdient gemacht hatte, schlug T. die geistl. Laufbahn ein, wurde Kleriker u. 1382 Priester in Straßburg, dann vor 1386 Pfarrer zu Drusenheim u. schließlich 1395 Kapitelherr im

Twinger von Königshofen

Stift St. Thomas in Straßburg, wo ihm die Führung des Archivs anvertraut war u. er umfängl. Kopialbücher aller Stiftsurkunden sowie ein lat.-dt. Glossar anlegte. Schon vor 1382 hatte er mit einer lat. Geschichtskompilation (ungedruckt) begonnen, die ihm als Vorarbeit u. Materialsammlung für seine geplante Deutsche Chronik diente, welche er dann, zusätzlich gestützt auf die Straßburger Chronik des Fritsche Closener, 1382 in Angriff nahm u. in einer ersten Redaktion um 1390 fertigstellte. Zwei weitere Überarbeitungen folgten; mit der zweiten beschäftigte er sich bis zu seinem Tod. Ziel dieses Lebenswerks war, die »klugen Laien« belehrend u. unterhaltend in das geschichtl. Standardwissen seiner Zeit einzuführen, insbes. aber auch dem Bürgertum Straßburgs zu einer geschichtl. Identitätsfindung zu verhelfen, indem er seine Stadt in den welt- u. heilsgeschichtl. Rahmen einfügte. Entsprechend weitläufig u. dennoch regional konzentriert ist der in sechs Kapitel eingeteilte Stoff: die Universalgeschichte bis zu Alexander dem Großen, die Geschichte Roms, der Kaiser bzw. der Könige bis Wenzel, die Geschichte der Päpste, der Straßburger Bischöfe u. der Stadt Straßburg als bürgerl. Gemeinde. – Die Chronik erfuhr eine Verbreitung wie kein anderes deutschsprachiges Geschichtswerk des MA (über 80 Handschriften u. ein Inkunabeldruck). Vielfach diente sie während des 15. Jh. in Ausstrahlung auf den schweizerischen, niederrheinischen, bayerischen u. österr. Raum als Modell für weitere Stadt- u. Regionalgeschichten. Ausgaben: Chronik des J. T. v. K. Hg. Carl Hegel. Neudr. Gött. 1961 (= Dt. Städtechroniken. Bde. 8 u. 9). – Die Vokabulare v. Fritsche Closener u. J. T. v. K. Hg. Klaus Kirchert u. Dorothea Klein. Tüb. 1995. Literatur: Fritz Hofinger: Studien zu den dt. Chroniken des Fritsche Closener v. Straßburg u. des J. T. v. K. Diss. Mchn. 1974. – Heinrich Schoppmeyer: Zur Chronik des Straßburgers J. T. v. K. In: FS Franz-Josef Schmale. Darmst. 1988, S. 283–297. – Klaus Kirchert: Eine Fassung der ›Termini iuristarum‹ aus der Hand J. T.s v. K. In: Überlieferungsgeschichtl. Editionen u. Studien zur dt. Lit. des MA. Hg. Konrad Kunze u.a. Tüb. 1989, S. 154–167. – Gisela Kornrumpf: Chronik u. Roman. Das ›Buch von Troja I‹ als Quelle J. T.s v. K. In: Die dt. Trojalit. des MA u. der frühen Neuzeit. Hg.

Tychsen Horst Brunner. Wiesb. 1990, S. 457–467. – K. Kirchert: Städt. Geschichtsschreibung u. Schullit. Rezeptionsgeschichtl. Studien zum Werk v. Fritsche Closener u. J. T. v. K. Wiesb. 1993. – Dorothea Klein u. Gert Melville: J. T. v. K. In: VL. – Richard Olivier: Histoire de Strasbourg, histoire pour Strasbourg. La chronique allemande de J. T. v. K. In: Revue d’Alsace 127 (2001), S. 219–239. Gert Melville / Red.

652 Orientalistik. Diss. Rostock 1984. – Dies.: O. G. T. [...]. In: Rostocker wissenschaftshistor. Manuskripte 12 (1985), S. 64–68. – Klaus-Gunther Wesseling: O. T. In: Bautz. Hartmut Bobzin / Red.

Tympius, Tympe, Timpe, Matthaeus, auch: Paulus Pytthmaetus, * 1566 Heessen (heute: Hamm), † 26.3.1616 Münster. – Pädagoge, katholischer Theologe, VerfasTychsen, Oluf (Olaus) Gerhard, * 14.12. ser u. Übersetzer geistlicher Literatur. 1734 Tondern, † 30.12.1815 Rostock. – Evangelischer Theologe, Orientalist u. Sein Kölner Theologiestudium (1586–1593) kombinierte T. mit einer Rhetorikprofessur Missionar. T. besuchte seit 1752 das Gymnasium in Altona u. erhielt schon dort Unterricht in oriental. Sprachen. Durch den Umgang mit dem Hamburger Rabbiner Jonathan Eibenschütz erwarb er sich eine gute Kenntnis des Talmud. In Halle (seit 1756) wurde T. von Johann Heinrich Callenberg, dem Begründer des »Institutum Judaicum«, für die Judenmission gewonnen, blieb aber auf zwei Missionsreisen durch Deutschland u. Dänemark (1759/60) erfolglos. Seit 1760 lehrte er Hebräisch bzw. oriental. Sprachen an der Universität Bützow, seit 1789 in Rostock. An beiden Orten erwarb er sich bes. Verdienste um die Universitätsbibliothek; seine eigene, v. a. an seltenen Judaica reiche Bibliothek (Katalog hg. von Anton Theodor Hartmann. Rostock 1817) ist heute im Besitz der Universität Rostock. – T.s umfängl. Schriftstellerei berührt Themen der Judenmission u. -emanzipation, des hebräischen Bibeltextes, der hebräischen Numismatik, der arab. Paläografie u. der Buch- u. Bibliothekskunde. Zweifelhaften Ruhm erwarb sich T. in der Affäre um den maltesischen Abbé Giuseppe Vella, dessen gefälschten Codice diplomatico di Sicilia sotto il governo degli Arabi (Palermo 1789–92) er für echt hielt. Dieser Stoff bildet das Thema von Leonardo Sciascias Roman Il consiglio d’egitto (Turin 1963. Dt. u. d. T. Der Abbé als Fälscher. Olten 1982). Weitere Werke: Verzeichnis bei Hamberger/ Meusel 8, S. 141–147; 16, S. 55; 21, S. 145 f. Literatur: Johann Friedrich de le Roi: Die evang. Christenheit u. die Juden. Bd. 2, Bln. 1891, S. 39 ff. – Heinrich Klenz: O. G. T. In: ADB. – Ramona French: O. G. T. [...]. Eine Untersuchung seiner Korrespondenz als Beitr. zur Gesch. der

am dortigen Laurentianum bzw. einem Konrektorat in Jülich. 1595, nach der Priesterweihe, wurde er Rektor an der Osnabrücker Domschule; ab 1608/09 leitete er das Collegium Dettenianum in Münster. T. veröffentlichte etwa 80 Schriften. Für den Schulbetrieb schrieb er u. a. lat. Rhetoriklehrbücher u. Loci-communes-Sammlungen, aber auch dt. programmat. Schriften, die ein besseres Schulsystem (Kinderzucht. Münster 1597. 21610) oder die Gründung einer Universität in Münster (Erhebliche [...] Ursachen, warumb weise [...] Leuth [...] beschlossen haben, [...] daß man in [...] Münster [...] anfange eine hochberühmbte Universitet [...] zu fundieren [...]. Ebd. 1612. Nachdr. Ebd. 1980) befürworteten. Sein geistl. Schrifttum ist teils apologetisch-polemisch, teils praktischmoralisch-aszetisch ausgerichtet. Von T.’ eigenständigen Werken waren u. a. die Catholischen Leichpredigen (ebd. 1609. Später u. d. T. Leich: trost: und Busspredigen. Ebd. 1613 u. weitere Bde.) beliebt. Nachhaltiger Bedeutung kommt T. als Vermittler von europäischer geistl. Literatur der tridentin. Reformbewegung in die kath. Gebiete Nordwestdeutschlands zu. Einen entscheidenden Beitrag leistete er zur Verbreitung der Schriften von Luis de Granada in dt. Sprache (u. a. in seiner Braut der Gottsförchtigen, oder das erste theyl der Teutschen moralischen oder sittlichen Theologey [...]. Münster 1601; insg. 4 Bde., 1601–03). Weitere Werke: Der Ceremonien Warumb [...]. Münster 1609. – Leonardus Lessius: Rahtsfrag welchen Glauben man annemmen, oder, zu welcher Religion man tretten soll. Übers. M. T.

653 Münster 1610. – Spicilegium oratoriae praxios [...]. Köln 1610. Ausgaben: Erhebliche [...] Ursachen [...]. Münster 1980. – Luis de Granada: Memoriale Granatae, Gülden memorial, oder Denckbüchlein [...]. Übers. M. T. Mainz/Köln 1612. Internet-Ed. in: Mystik & Aszese des 16.-19. Jh. (Belser Wiss. Dienst). – Richtschnur deß Lebens aller Religiosen [...]. Münster 1614. Internet-Ed. in: ebd. Literatur: Bibliografien: Kosch, Bd. 24, Sp. 197–200. – VD 17. – Weitere Titel: P. Bahlmann: M. T. In: ADB (mit Lit.). – Guillaume van Gemert: Zum Verhältnis v. Reformbestrebungen u. Individualfrömmigkeit bei T. u. Albertinus. In: Fröm-

Tympius migkeit in der frühen Neuzeit. Hg. Dieter Breuer. Amsterd. 1984, S. 108–126. – Ders.: Zur Rezeption der Werke v. Luis de Granada im dt. Sprachraum in der frühen Neuzeit. In: Beiträge zur Aufnahme der ital. u. span. Lit. in Dtschld. im 16. u. 17. Jh. Hg. Alberto Martino. Amsterd./Atlanta 1990, S. 289–336. – Ders.: Zur Geiler-von-KaysersbergRezeption im frühen siebzehnten Jh. Der Einfluß eines indizierten Autors auf Albertinus u. T. In: Morgen-Glantz 2 (1992), S. 101–111. – Radmila Pavlícˇková: ›Da ligt nu alles an der kunst wol zu sterben‹. Die Slg. ›Catholische Leichpredigten‹ des M. T. In: WBN 36 (2009), S. 65–79. Guillaume van Gemert / Red.

U Ude, Karl, * 14.1.1906 Düsseldorf, † 1.4. 1997 München. – Journalist, Erzähler.

Literatur: Johannes Klein: Gesch. der dt. Novelle. Wiesb. 41960, S. 552–558. – Ursula KnöllerSeyffahrt: K. U. In: Welt u. Wort 26 (1971), S. 14–17. – Arthur Dittmann: Der Mensch lebt nicht v. Kunst allein. Wie sich der Schriftsteller u. Journalist K. U. in München verliebte. In: Tradition verpflichtet. Große Familien in Bayern. Hg. Karl Jörg Wohlhüter u. Kurt Hogl. Regensb. 1999, S. 219–224. Waldemar Fromm / Red.

Nach dem Studium in Bonn, Marburg, Paris u. München war U. Literatur- u. Theaterkritiker. Seit 1946 Redakteur bei der »Süddeutschen Zeitung«, wurde er zum Chronisten des kulturellen Lebens in München. Er stellte die Anthologien Hier schreibt München (Mchn. 1961) u. Denk ich an München (gemeinsam mit Hermann Proebst. Ebd. 1966) zusammen u. Udo von Magdeburg. – Geistliche Versgab die Reihe Geistiges München u. 1949–1973 erzählung aus dem 14. Jh. die literar. Monatsschrift »Welt und Wort« Die als Negativexempel konzipierte Erzäh(Bad Wörishofen, dann Tüb.) heraus. lung vom lasterhaften Bischof Udo fand Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich U. Aufnahme in einigen lat. Exempelsammlunfür die in Deutschland wenig geschätzte gen, die wiederum als Grundlage volksForm der Kurzgeschichte eingesetzt. Hieran sprachl. Versionen dienten. Die wichtigste ist knüpften auch seine eigenen anekdotisch- eine wohl aus dem bairisch-österr. Raum volkstüml. Novellen – eine Form, die U. be- stammende Versfassung (804 Verse) aus dem vorzugte, da sie etwas »Entscheidendes, 14. Jh., die aus zwei Visionsberichten zuSchicksalhaftes« zum Ausdruck bringe. Die sammengesetzt ist. Im ersten Teil ist Udo ein Protagonisten werden dem Konflikt zwischen nur wenig begabter Schüler an der Domindividuellem Glücksanspruch u. sozialer schule, dem Maria Weisheit u. Verstand verErwartung ausgesetzt; sie scheitern jedoch leiht. Er macht Karriere u. wird zum Erzbinicht an den äußeren Umständen, sondern an schof geweiht, kümmert sich aber nicht um fehlender moralischer Integrität. seine Pflichten u. geht sogar ein Verhältnis Weitere Werke: Das Ringen um die Franziskus- mit einer Äbtissin ein. Im Dom erlebt ein Legende. Mchn. 1932 (R.). – Hier Quack. Freib. i. Br. frommer Kleriker, wie Gott, Maria u. die 1933 (R.). – Schelme u. Hagestolze. Mühlacker 1940 Heiligen über Udo richten u. ihn schließlich (E.en). – Vergnüglicher Stellungswechsel. Heitere enthaupten lassen. Man findet den Leichnam Bilder v. allen Waffengattungen des Heeres (zus. mit u. den Blutfleck vor dem Altar. Im zweiten Klaus Kuhn). Mchn. 1942. – Die Pferde auf Eisen- Teil erlebt ein reisender Kleriker, wie die höhe. Ebd. 1942 (N.). – Damals als wir Rollschuh Seele Udos von einer Teufelsschar zu Luzifer liefen. Ebd. 1956 (Erinnerungen). – (Hg.): Besondere gebracht wird. Er wird so gequält, dass er Kennzeichen. Selbstporträts zeitgenöss. Autoren. letztlich dazu gepresst werden kann, Gott zu Ebd. 1963. – Frank Wedekind. Mühlacker 1966 (Biogr.). – Maleridyllen. Mchn. 1975. – Malerpoeten. verfluchen. Nun ist er reif für die Hölle, in die Ebd. 1976. – Bauernromantik. Ebd. 1978. – Alltags- er dann gestürzt wird. Als sein Leichnam idylle. Ebd. 1978. – Künstlerromantik. Ebd. 1979. – keine Ruhe gibt, wird er im Sumpf versenkt München leuchtet. Ebd. 1979. – Schwabing v. innen. u. schließlich verbrannt. Die Asche wird in Kulturelle Ess.s. Mit einem Vorw. v. Christian Ude. die Elbe gestreut, worauf alle Fische fliehen. Ausgew. u. komm. v. Günter Gerstenberg. Ebd. 2002. Erst nach zehn Jahren u. vielen kirchl. Zere-

Uechtritz

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monien kehren sie zurück. Durch die Nen- (R.). – Einsteigen ... Türen schließen! Ravensburg nung von Personen u. Orten soll dem Er- 1955 (E.en). – W. Ü.s Kosm. Schaufenster. Stgt. zählten ein histor. Anstrich gegeben werden, 1956. – Erzähltes u. Geschütteltes. Kunterbunte um die abschreckende Wirkung des Exem- Gesch.n u. ein Sack voll Schüttelreime. Reutl. 1983. Walter Olma pels zu verstärken. Die Unerbittlichkeit des göttl. Gerichts u. das Grauen der Hölle werden wie in den Weltgerichtsspielen ein- Uechtritz, (Peter) Friedrich von, auch: Anton Fahne, * 12.9.1800 bei Görlitz, dringlich ins Bewusstsein gerufen. Ausgaben: Karl Helm: Die Legende vom Erzbischof U. v. M. In: Neue Heidelberger Jbb. 7 (1897), S. 95–120. – Helmut de Boor: Die dt. Lit.: Texte u. Zeugnisse. Bd. 1,1. Mchn. 1965, S. 355–366. Literatur: Anton E. Schönbach: Die Legenden vom Erzbischof U. v. M. In: Sitzungsber.e der österr. Akademie der Wiss. 144 (1901). – Edvin Öhgren: Die Udo-Legende: Ihre Quellen u. Verbreitung mit bes. Berücksichtigung ihrer Übers. ins Russ.-Kirchenslavische. Uppsala 1954. – Helmut de Boor: Die dt. Lit. im späten MA. Tl. 1, Mchn. 1962, S. 557 f. – Nigel F. Palmer: Visio Tnugdali. The German and Dutch Translations and their Circulation [...]. Mchn./Zürich 1982, S. 412–414. – Fidel Rädle: ›De Udone quoddam horribile‹. Zur Herkunft eines mittelalterl. Erzählstoffes. In: Tradition u. Wertung. FS Franz Brunhölzl. Hg. Günter Bernt u. a. Sigmaringen 1989, S. 281–293. – N. F. Palmer: U. v. M. In: VL. Werner Williams-Krapp / Red.

Überzwerch, Wendelin, eigentl.: Karl Fuss, * 25.11.1893 Memmingen/Allgäu, † 5.3.1962 Wilhelmsdorf bei Ravensburg. – Lyriker u. Erzähler. Nach dem Studium in Tübingen, das er 1923 mit einer Dissertation über Alexander Puschkin abschloss, war Ü. Bibliothekar in Essen, später freier Schriftsteller in Wilhelmsdorf. Bekannt wurde er durch sein Buch Aus dem Ärmel geschüttelt. Fast 1001 Schüttelreime (Stgt. 1935), dem er auch anonyme Texte oder solche fremder Autoren u. ein Vorwort mit Überlegungen zum Schüttelreim beigab. Die Sammlung fand so großen Anklang, dass der Engelhorn Verlag gleich eine zweite folgen ließ: Reimchen, Reimchen, schüttle dich! Abermals 1001 Schüttelreime (ebd. 1936). Auch danach publizierte Ü. heitere Prosa u. Lyrik, gelegentlich Uff guat schwäbisch (Reutl. 1951). Weitere Werke: Ein seltsam Ding ist doch der Leib ... Bln. 1939 (E.en. L.). – Der Rettichschwanz. Bln. 1940 (L.). – Das Viergestirn. Flensburg 1950

† 15.2.1875 Görlitz. – Dramatiker, Romancier.

Der Sohn eines Landadligen wuchs in Dresden auf u. besuchte seit 1814 das Görlitzer Gymnasium, seit 1818 die Universität Leipzig zum Studium der Rechte. Dort lernte er u. a. Adam Müller u. Tieck kennen. Als Justizbeamter zog er 1821 nach Berlin, wo er mit Heine, Grabbe u. Willibald Alexis in Kontakt trat u. histor. Tragödien zu schreiben begann. Als erstes Stück erschien der Fünfakter Chrysostomus im Druck (Brandenburg 1822). Die Tragödie Alexander und Darius (Bln. 1827) ging über mehrere Bühnen u. wurde durch ein Vorwort Tiecks gefördert; sie blieb sein erfolgreichstes Werk. Ebenfalls aufgeführt wurde 1827 sein ungedrucktes Trauerspiel Das Ehrenschwerdt. Mit Novellen u. Erzählungen, umfängl. histor. Romanen sowie Beiträgen zu Literaturzeitschriften konnte sich U. nicht entscheidend behaupten. 1828 nach Trier versetzt, wechselte er 1829 an das Landgericht Düsseldorf. Am Rhein verbrachte er die längste Periode seines Lebens, bis er sich, schon fünf Jahre im Ruhestand, 1863 nach Görlitz zurückzog. Trotz starker Neigung zum Katholizismus war U. Protestant geblieben. – Er stand in vertrauter Korrespondenz mit Tiecks Tochter Dorothea u. beteiligte sich am regen Düsseldorfer Kulturleben um die Malerschule Schadows u. Immermanns Theater. Unter Pseud. erschien 1837 Die Düsseldorfer Malerschule [...]; 1839/40 publizierte U. zwei Bände Blicke in das Düsseldorfer Kunst- und Künstlerleben (beide Düsseld.). Weitere Werke: Trauerspiele. Bln. 1823. – Rosamunde. Düsseld. 1834 (Trauersp.). – Die Babylonier in Jerusalem. Ebd. 1836 (Trauersp.). – Albrecht Holm. 7 Bde., Bln. 1851–53 (R.). – Eleazar. 3 Bde., Jena 1867 (R.). Literatur: Erinnerungen an F. v. U. u. seine Zeit in Briefen v. ihm u. an ihn. Vorw. v. Heinrich v.

Ueltzen Sybel. Lpz. 1884. – Max Mendheim: P. F. v. U. In: ADB. – Goedeke. – Wilhelm Steitz: F. v. U. als dramat. Dichter. Görlitz 1909. – Kurt Meyer: Die Romane v. F. v. U. Breslau 1911. – Jochen Strobel: Ent-Stellungen: Zum Briefw. zwischen Friedrich Hebbel u. F. v. U. u. seiner Ed. durch Felix Bamberg. Mit einem ungedruckten Brief v. U. an Hebbel. In: Hebbel-Jb. 57 (2002), S. 81–105. Achim Hölter

Ueltzen, Hermann Wilhelm Franz, * 29.9. 1759 Celle, † 5.4.1808 Langlingen bei Celle. – Verfasser erbaulicher Schriften, Lyriker. Im Schulalter fiel U. durch schnelle geistige Fortschritte u. poetische Improvisationsgabe auf. Der Generalsuperintendent Johann Friedrich Jacobi ermöglichte seinem Hebräisch-Schüler, dem Sohn eines wenig bemittelten Proviantverwalters, das Theologiestudium in Göttingen (1777–1780). U. schlug sich in Bremen, wo er Mitgl. der Teutschen Gesellschaft wurde, u. in Oldenburg als Hauslehrer durch. 1789 erhielt er eine Pfarre in Langlingen, heiratete u. lebte dort als ein von seiner Gemeinde hochgeschätzter Prediger bis zu seinem Tod. Schon in Göttingen trat er mit der Schrift Über Briefe überhaupt und über Briefstyl insbesondere (Gött. 1779) an die Öffentlichkeit u. schrieb für die »Göttingischen Nebenstunden«. In Oldenburg verfasste er unterhaltsame u. erbaul. Beiträge für Boies »Deutsches Museum«, für die »Blätter vermischten Inhalts«, ein »Taschenbuch für Jünglinge« u. den Göttinger »Musenalmanach«. Dort erschien (1786) sein Liebesgedicht Ihr (»Namen nennen Dich nicht«), das volkstümlich wurde u. auf Jean Paul einen großen Eindruck machte (Goethe dagegen mochte es nicht). Viele von U.s Gedichten sind nach Melodien bekannter Kirchenlieder gefertigt. Bekannt wurde auch sein Liedchen von der Ruhe (in: Musenalmanach, 1788), das von Daniel Gerstenberg, Peter von Winter u. Beethoven (Opus 32, Nr. 3) vertont worden ist. Weitere Werke: 12 Predigten über wichtige Stellen der Hl. Schr. Bremen 1785. – Tb. für Jünglinge, die sich dem Studiren weihen wollen (zus. mit Heinrich Wilhelm Rotermundt u. August Friedrich Crome). 2 Bde., ebd. 1786/87. – Gedichte.

656 2 Bde., ebd. 1796. – Mannigfaltigkeiten zur angenehmen u. nützl. Unterhaltung. 4 H.e., Jena 1807. Harry Timmermann

Uetz, Christian, * 8.8.1963 Schweiz. – Lyriker, Prosaist.

Egnach/

U. besuchte das Lehrerseminar u. studierte Philosophie, Komparatistik u. Altgriechisch. Nach längerem Aufenthalt in Berlin lebt U. heute in Zürich. Er steht der Spoken PoetryBewegung nahe u. nutzt für seine Texte häufig auditive Medien. U. ist mit seinen sprachl. Techniken der Konkreten Poesie verpflichtet. Er operiert mit Permutationen, Variationen, Klangassoziationen u. Verballhornungen (»Memmsch«, »zwangwitzigstes Jahundherz«). Seine Gedichte versteht er als »Partitur«, was der performative Vortrag unterstreicht. Die Rezitation erlaubt U., seine Idee von der »magischen Einsheit von Wort und Klang« (Zoom nicht. Graz/Wien 1999), mit der er sich zgl. auf Gottfried Benn u. Thomas Kling bezieht, umzusetzen. Die Texte leben von der Differenz zwischen seinen Neologismen u. der korrekten Orthografie. Dabei besteht die Gefahr, dass die Wirkung seiner Neuschöpfungen von der Mühe der Rückübersetzung aufgezehrt wird. Andere Texte sind als Namens-Montagen angelegt wie etwa: »Gott / Goethe, / das ist goldverdammter, / vom Hirnmmel durch Joyce verdarmter / Verdivina / Dante« (aus: Nichte. Graz/Wien 1998. U. d. T. Nichte und andere Gedichte 1999 auch als CD). Sie changieren zwischen Nonsense, Dekonstruktion u. Klamauk. U. versteht seine Spracharbeit als »zwanghaft«: »Der Klang ist es, der meine Worte zum Zwingen bringt, und der Zwang ist es, der sie zum Klingen bringt.« Die zirkuläre Struktur ist exemplarisch für U.’ Gedichte u. reflexive Prosa. In ihrem Mittelpunkt steht das »Nicht«, für U. eine Art Statthalter für Sprache, Wort, Traum u. utop. Existenz. Entsprechend vollziehen seine reflexiven Texte, die der Form des Prosagedichts nahe kommen, den Prozess von sprachphilosophischen zu ontolog. u. quasi sprachtheolog. Spekulationen. Im Titeltext von Das Sternbild versingt (Ffm. 2004) heißt es: »Das Leben ist

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keine Existenz, solange es nicht Gott ist. [...] Real gemacht ist es Poesie.« U. erhielt u. a. 2000 den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung. Weitere Werke: Luren. Frauenfeld 1993 (L.). – Reeden. Ebd. 1994 (zus. Luren u. Reeden. Ebd. 1998). – m. T. Siegendorf 1998 (L.; auch als CD). – Don San Juan. Ffm. 2002 (P.). – Live im Schiffbau. Zürich 2002 (CD). – Nur Du, u. nur Ich. Zürich 2011 (R.). Literatur: Thomas Widmer: C. U. In: LGL. Jürgen Egyptien

Uexküll, Jakob (Johann Baron) von, * 8.9. 1864 Keblas/Estland, † 25.7.1944 Capri. – Biologe.

Uffenbach

berlain, Ludwig Klages) u. der von Johannes Müller in die dt. Biologie eingeführten Metamorphosenlehre Goethes versuchte U., eine Lebensidee, ein Urbild als bildende Voraussetzung allen Lebens zu beschreiben. Weitere Werke: Umwelt u. Innenwelt der Tiere. Bln. 1909. – Theoret. Biologie. Ebd. 1920. – Streifzüge durch die Umwelten v. Tieren u. Menschen (zus. mit Georg Kriszat). Ebd. 1934. Neudr. Ffm. 1983. – Nie geschaute Welten. Die Umwelten meiner Freunde. Bln. 1936. Neudr. Mchn. 1957 (Autobiogr.). – Der Sinn des Lebens. Hg. Thure v. Uexküll. Godesberg 1947. Literatur: Gudrun v. Uexküll: J. v. U. Seine Welt u. seine Umwelt. Hbg. 1964. – Joachim Illies: J. v. U., August Thienemann, Bernhard Grzimek. In: Die Großen der Weltgesch. Hg. Kurt Fassmann. Bd. 11. Zürich 1978, S. 733–745. – Jutta Schmidt: Die Umweltlehre J. v. U.s in ihrer Bedeutung für die [...] Verhaltensforsch. Diss. Marburg 1980. – Hartmut Wehrt: Ökologie u. die Problematik des Überlebens. Ein Physiker (Niels Bohr) u. ein Biologe (J. v. U.) als Wegbereiter einer neuen Wiss. Die Tragweite der Bedeutung als Naturfaktor. In: Humanökologie. Beiträge zum ganzheitl. Verstehen unserer geschichtl. Lebenswelt. Hg. ders. Bln. u. a. 1996, S. 227–256. – Karl Edlinger: Theoret. Probleme biolog. Erkenntnistheorien. Zur Relevanz des Organismusbildes v. Ernst Cassirer u. J. v. U. In: Vielfalt u. Konvergenz der Philosophie. Hg. Winfried Löffler. Wien 1999, S. 145–150. – Oliver A. I. Botar: Notes towards a study of J. v. U.’s reception in early twentieth-century artistic and architectural circles. In: Semiotica 134 (2001), S. 593–597. – Kalevi Kull (Hg.): J. v. U.: a paradigm for biology and semiotics. Bln./New York 2001. – John Deely: Semiotics and J. v. U.’s concept of umwelt. In: Sign systems studies 32 (2004), 1/2, S. 11–34. – Florian Höfer: Die Notwendigkeit der Kommunikation. Die Missachtung eines Phänomens bei J. v. U. Diss. Bonn 2007 (Online-Ressource.). – Heike Delitz: J. v. U. In: Bautz. Angela Schrameier / Red.

Der balt. Gutsherrensohn führte nach Abschluss seines Zoologiestudiums das Leben eines reisenden u. forschenden Privatgelehrten, bis 1926 die Hamburger Universität aufgrund der Erfolge seiner experimentellen Untersuchungen an Meerestieren für den damals 62-Jährigen ein dem Aquarium angegliedertes Institut für Umweltforschung einrichtete, das U. bis zu seinem endgültigen Rückzug auf die Insel Capri 1940 leitete. Auf Capri fand U. 1929 das sog. Uexküll’sche Gesetz, nach dem die durch Nerven übertragene Erregung immer dem durch Beugung gedehnten Muskel zufließt. U. ist der Begründer der biolog. Umweltlehre, die das Verhalten von Lebewesen aus ihren artspezif. Umwelten – den Erscheinungswelten der lebenden Subjekte – zu erklären sucht: »Jede Umwelt ist dadurch charakterisiert, dass sie nur solche Dinge enthält, die für das Subjekt von Bedeutung sind. Alles, was für das Subjekt ohne Bedeutung ist, wird nicht beachtet und spielt in der Umwelt keine Rolle« (Das allmächtige Leben. Hbg. 1950, Uffenbach, Zacharias Conrad von, * 22.2. S. 19). Die Erkenntnis einer spezif. Einpas1683 Frankfurt/M., † 6.1.1734 Frankfurt/ sung von Sinnesleistungen u. ReaktionsverM. – Privatgelehrter u. Büchersammler. mögen in die Umwelt bei jeder Tierart machte U. zum Wegbereiter der vergleichen- Als Sprössling einer wohlhabenden Frankden Verhaltensforschung. Darwins Theorem furter Patrizierfamilie konnte U., von Ämdes »struggle for life« lehnte U. ab, da das tern weitgehend unabhängig, sich zeitlebens mechanistische Konzept das Entstehen u. seinen Vorlieben, dem Reisen und dem BüÜberleben der Arten nicht hinreichend er- chersammeln, widmen. Der Grundstein für klären könne. Unter dem Eindruck der Le- sein besonderes Faible für lat., griech., hebensphilosophie (Houston Stewart Cham- bräische u. oriental. Handschriften, von de-

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nen er eine der imposantesten zeitgenöss. sammlung jedoch u. ein Gros der U.schen Sammlungen in Deutschland anlegte, scheint Handschriften gelangten in den Besitz der bereits 1694 mit dem Besuch des Gymnasi- Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg ums in Rudolstadt gelegt worden zu sein, wo u. zählen bis heute zu ihrem wertvollsten er einige Jahre als Schüler u. Hausgenosse des Bestand. Orientalisten Johann Ernst Müller verbrachWeitere Werke: Bibliotheca Uffenbachiana te. Im Sommer 1698 begab sich U., mit Mssta. Halle 1720. – Bibliotheca Uffenbachiana Rücksicht auf den dortigen soliden Franzö- universalis. Ffm. 1729–31. – Commercii epistolaris sischunterricht, an die Straßburger Universi- Uffenbachiani selecta. Hg. Johann Georg Scheltät, von wo es ihn nach dem Verlust der Eltern horn. Ulm/Memmingen 1753. Literatur: Jöcher. – Zedler. – Johann Georg im März 1700 an die Universität Halle zog. Hermann: Leben Herrn Z. C. v. U. Ulm 1753. – Dort logierte er im Hause Georg Ernst Stahls, besuchte v. a. Johann Franz Buddes Vorle- Rudolf Jung: Z. K. v. U. In: ADB. – Gustav Adolf Erich Bogeng: Über Z. C. v. U.s Erfahrungen u. sungen u. erwarb 1703 unter dem Vorsitz von Erlebnisse bei der Benutzung dt., engl. u. holländ. Christian Thomasius den Doktor beider öffentl. Bücherslg.en in den Jahren 1709–11. In: Rechte. Beiträge zum Bibliotheks- u. Buchwesen. Hg. Zurück in Frankfurt, richtete U. über Adalbert Hortzschansky. Bln. 1913, S. 30–46. – mehrere Jahre seine Privatbibliothek ein, die Josef Becker: Die Bibl. des Z. K. v. U. In: FS Georg er auch der Öffentlichkeit zugänglich mach- Leyh. Aufsätze zum Bibliothekswesen u. zur Forte. Er begann einen umfangreichen Gelehr- schungsgesch. Lpz. 1937, S. 129–148. – Konrad tenbriefwechsel zu unterhalten, der seiner Franke: Z. C. v. U. als Handschriftensammler. In: Sammlung von über 20.000 Autografen sehr AGB 7 (1967), Sp. 1–208. – Supellex epistolica Ufzugute kam, u. beschäftigte sich in kleineren fenbachii et Wolfiorum. Kat. der U.-Wolfschen Briefslg. Hg. u. bearb. v. Nilüfer Krüger. 2 Bde., unveröffentlicht gebliebenen Schriften Hbg. 1978. – Peter Jörg Becker: Bibliotheksreisen insbes. mit Fragen des Bibliothekswesens u. in Dtschld. im 18. Jh. In: AGB 21 (1980), Sp. der Historia literaria. Auf den oftmals mit 1391–1408. – Bernd Bader: Mäzene, Künstler, Büseinem Bruder Johann Friedrich von Uffen- chersammler. Exlibris der Universitätsbibl. Giebach unternommenen Reisen, von denen die ßen. Gießen 2007. – Klaus Arnold: Z. C. v. U Merkwürdigen Reisen durch Niedersachsen, Hol- (1683–1734). Ein Blick auf ausgewählte Stücke aus land und Engelland (Hg. Johann Georg Schel- seinen Slg.en. Hbg. 2007. – Michael Maul: Die horn. Ulm/Memmingen 1753/54. Internet- Gebrüder U. zu Besuch in der Gänsemarktoper. Ed. in: HAB Wolfenb.) ein beeindruckendes Bemerkungen zu einem altbekannten Reisebericht. Zeugnis über eine Bildungsreise im frühen In: Göttinger Händel-Beiträge. Bd. 12. Hg. Hans Joachim Marx u. Wolfgang Sandberger. Gött. 2008, 18. Jh. ablegen, hat U. stets die Bibliotheken, S. 183–196. – Renate Knoll: Bibliologia in KönigsNaturalienkammern, Münzkabinette u. berg? Michael Lilienthals Beitrag zur europ. GeBuchhandlungen aufgesucht u. seine eigene dächtniskultur der Frühen Neuzeit. Zu seinen Bibliothek, die in ihrer Blütezeit etwa 60.000 Briefen an Z. C. v. U. In: 750 Jahre Königsberg. Hg. Schriften umfasste, fortwährend erweitert. Bernhart Jähnig. Marburg 2008, S. 303–318. Nach seiner Heirat 1711 hatte U. kleinere Wiebke Hemmerling Ämter seiner Heimatstadt inne, ehe er 1721 zum Ratsmitglied, in den folgenden Jahren Uhland, (Johann) Ludwig, * 26.4.1787 zum jüngeren Bürgermeister u. endlich zum Tübingen, † 13.11.1862 Tübingen; GrabSchöffen berufen wurde. Von seinen Amtsstätte: ebd., Alter Friedhof. – Lyriker, geschäften beansprucht, gesundheitlich anDramatiker, Germanist, Politiker. gegriffen u. in Ermangelung männl. Nachkommenschaft fasste U. den Entschluss zur U. entstammte einer Familie der württemVeräußerung seiner Sammlungen u. erarbei- bergischen »Ehrbarkeit«. Sein Vater, ein getete für diesen Zweck einen vierbändigen lernter Jurist, war Tübinger UniversitätsseVerkaufskatalog. Große Teile der Sammlun- kretär; sein Großvater wirkte dort als Theogen wurden so noch lange über U.s Tod 1734 loge. Seit 1793 besuchte U. die örtl. Lateinhinaus in alle Winde zerstreut. Die Brief- schule; 1801 schrieb er sich als Jurist an der

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Universität ein, musste aber wegen seiner Jugend bis 1805 Kurse an der sog. Artistenfakultät belegen, wo er von Karl Philipp Conz Impulse empfing. Aus der Studienzeit stammte U.s langlebige Vorliebe für Waltharius manu fortis, Veit Webers (= Leonhard Wächters) Sagen der Vorzeit, Saxo Grammaticus, Paulus Diaconus, Herders Volksliedersammlung u. die mhd. Epik des Heldenbuchs. U.s Lyrik zwischen 1799 u. 1805, stilistisch unsicher u. vorromant. Einflüsse verratend, ist Ausdruck empfindsamer Melancholie u. vager Vorzeitsehnsucht. Neue Anregungen erhielt er durch einen Tübinger Studentenkreis u. a. um Justinus Kerner, Karl Mayer, Heinrich Köstlin, der im Sinne der Romantik für volkstüml. u. »altdeutsche« Literatur (Volkslieder u. -bücher, Heldenepen) schwärmte. Die Tübinger begeisterten sich für Des Knaben Wunderhorn, zu dessen zweitem Band sie 1808 einige Gedichte beisteuerten. Noch vor der Wunderhorn-Lektüre hatte U. 1805 mit Gedichten wie Gretchens Freude u. Die Kapelle seinen eigenen Ton gefunden, doch bleibt der Einfluss auf die Balladen der nächsten Jahre erkennbar. In Seckendorffs »Musenalmanachen« für 1807 u. 1808 erschienen seine ersten Gedichte (1807: 28 Texte, darunter zwei übersetzte Bruchstücke aus dem Heldenbuch. 1808: sieben Gedichte, darunter Des Knaben Berglied). Als Antwort auf eine unfreundl. Rezension des ersten Almanachs in Cottas »Morgenblatt« riefen die Tübinger Romantiker ein handschriftl. »Sonntagsblatt für gebildete Stände« ins Leben, das von Jan. bis März 1807 erschien (u. als Ganzes erst 1961 durch Bernhard Zeller in Marbach/Neckar zum Druck gelangte). U. publizierte darin neben Lyrik auch ein Bruchstück aus dem Nibelungenlied u. den programmat. Aufsatz Über das Romantische. Zielscheibe der Satire im »Sonntagsblatt« war das »Morgenblatt«, waren v. a. dessen Spätaufklärer Weisser u. Haug. Erst Jahre später öffnete Cotta sein Journal auch der Romantik; 1815 verlegte er U.s gesammelte Gedichte. Die meisten Tübinger Romantiker verließen im Herbst 1807 die Universität. U. hingegen bestand 1808 die Fakultätsprüfung u. das Advokatenexamen u. wurde im April 1810 zum Dr. jur. promoviert. Danach hielt

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er sich ein Jahr in Paris auf, um das frz. Rechtswesen zu studieren; seine Liebe gehörte aber dem Studium mittelalterl. dt. u. frz. Manuskripte in der Nationalbibliothek. Er sah Varnhagen wieder, lernte Chamisso u. Koreff kennen u. betrieb mit Immanuel Bekker altfrz., span. u. portugies. Studien. Auf der Rückreise besuchte er Kerner in Wildbad, der den »Poetischen Almanach für 1812« vorbereitete. Neben den Tübingern waren darin u. a. Fouqué, Chamisso, Varnhagen u. Hebel vertreten. Von U. stammten drei Dutzend Gedichte, darunter Der gute Kamerad (die populäre Vertonung, noch heute Teil militärischer Begräbnisfeiern, stammt von Friedrich Silcher aus dem Jahr 1825), u. Übersetzungen aus dem Altfranzösischen u. Spanischen. 1813 edierten die Freunde einen zweiten Almanach, den »Deutschen Dichterwald« (Hg. Kerner, Fouqué u. U. Tüb.), in dem auch Eichendorffs Das Mühlrad erschien. U. meisterte verschiedene Tonarten: Neben einem Zyklus von acht Wanderliedern stehen Gedichte im Wunderhornstil (Der Wirtin Töchterlein), sagenhafte Balladen, Gesellschaftslieder, eine Glosse u. eine literar. Satire. Vom frühen sentimentalen Subjektivismus hatte sich U.s Dichtung zu farbiger Plastik entwickelt; die wachsende Episierung seiner histor. Balladen gipfelte in den Nibelungenstrophen des Zyklus Graf Eberhard der Rauschebart (1815). Seine Gedichte von 1815 gliederte U. in »Lieder, Sinngedichte, Sonette, Balladen, Romanzen«. Substanzielle Ergänzungen zur ersten Auflage (in der sich der stilistische Bogen vom leidenschaftl. Pathos in Des Sängers Fluch bis zum trockenen Humor der Schwäbischen Kunde spannt) finden sich in der zweiten (1820), der fünften (1831), der achten (1834) u. der neunten Auflage (1835). Die neuen, symbolstarken Gedichte (u. a. Das Glück von Edenhall, Bertran de Born) verdankten sich zwei kurzen Perioden eruptiver Schaffenskraft 1829 u. 1834, obwohl U.s lyr. Ader 1817 zu versiegen begann. Dieser Verlust wurde sowohl konstitutionspathologisch gedeutet als auch – z. B. von Goethe u. Heine – als Resultat von U.s polit. Engagement. Denn 1815 griff U. in den württembergischen Verfassungsstreit mit oppositionellen Gedanken ein, die als Flug-

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blätter verteilt u. als Vaterländische Gedichte (Tüb. 1817) publiziert wurden. Politische Töne klingen auch an in U.s – als Schul- u. Lesedramen lange geschätzten – histor. Trauerspiel Ernst, Herzog von Schwaben (Heidelb. 1818) u. dem Schauspiel Ludwig der Baier (Bln. 1819), Letzteres laut U.s Tagebuch 1810–1820 (Hg. Julius Hartmann. Stgt. 1893) als »Symbol der deutschen Stammeseinheit« konzipiert. In dieser Zeit fristete U. eine ärml. Advokatenexistenz in Tübingen u. Stuttgart. 1819 wurde er als Vertreter Tübingens in den württembergischen Landtag gewählt, dem er bis 1826 angehörte. 1820 heiratete er Emilie Vischer, Stieftochter eines begüterten Stuttgarter Hofrats; die harmon. Ehe blieb kinderlos. Durch die allg. Politisierung infolge der frz. Julirevolution ermutigt, ließ sich U. 1833 als Stuttgarter Abgeordneter wieder in den Landtag wählen; da ihm die Regierung den erbetenen Urlaub verweigerte, gab er seine geliebte Professur auf. Nach sechs Jahren kompromissloser nationalliberaler Opposition schied er abermals aus der aktiven Politik aus, stellte sich aber 1848 erneut zur Wahl u. zog für den Wahlkreis Tübingen in die Deutsche Nationalversammlung ein, in der er demokratische u. großdt. Ideen vertrat u. bis zum bitteren Ende der Auflösung des Stuttgarter Rumpfparlaments verharrte. Danach lebte er als Privatgelehrter zurückgezogen in Tübingen. U.s lebenslanges wissenschaftl. Interesse hatte sich erstmals 1812 in seinem Aufsatz Über das altfranzösische Epos (in Fouqués »Musen«) geäußert, durch den er zu den Begründern der Romanistik in Deutschland gehört. Trotz seines polit. Einsatzes führte U. dieses Werk weiter. 1822 folgte die Monografie Walther von der Vogelweide (Stgt./Tüb.). Seine in den 1820er Jahren betriebenen Minnesang- u. Heldeneposstudien waren U. von Nutzen, als er Ende 1829 zum Professor für dt. Sprache u. Literatur in Tübingen berufen wurde. 1830–1832 hielt er – neben wöchentl. Stilübungen – folgende Vorlesungen: Geschichte der dt. Poesie im MA, Nibelungenlied, Geschichte der dt. Poesie im 15. u. 16. Jh., Sagengeschichte der german. u. romanischen Völker.

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1836 erschien Der Mythus von Thor (Stgt./ Tüb.); 1844 u. 1845 folgten zwei Bände Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder (ebd.), die erste wissenschaftlich fundierte, das ganze Genre umfassende Sammlung. Einige große Projekte – Abhandlungen zur Heldenepik, zum Volkslied u. zur schwäb. Sagenkunde – blieben Fragment u. erschienen – abgesehen von einigen Auszügen in der »Germania« 1856–1863 – postum u. d. T. Schriften zur Geschichte der Dichtung und der Sage (Hg. Adelbert von Keller u. a. 8 Bde., Stgt. 1865–1877). U.s Ruhm als Lyriker war über 100 Jahre lang phänomenal. Die Verbindung des romantisch-volkstüml. Dichters mit dem idealistischen Demokraten ließ ihn im 19. Jh. zu einem dt. Mythos werden. Zahlreiche Vertonungen, etwa von Franz Schubert, Robert Schumann, Johannes Brahms, Richard Strauss u. Franz Liszt, gehören nach wie vor zum Kern musikal. Aufführungspraxis; auch jüngere Komponisten wie Othmar Schoeck oder Lutz-Werner Hesse widmeten sich eingängig U.s Texten. Bis heute sind zahlreiche Schulen, Straßen u. öffentl. Einrichtungen im Tübinger Raum nach ihm benannt, u. a. das Institut für Empirische Kulturwissenschaft seiner früheren Alma mater, der Eberhard Karls Universität. Von breitem, auch außerwissenschaftl. Interesse an seiner Person zeugen ferner populäre (z.B. Karin de la RoiFrey: U. von A bis Z. Leinfelden-Echterdingen 1998) sowie zwischen Biografie u. Fiktion oszillierende Darstellungen (z.B. Peer-Uli Faerber: Schwäbische Kunde. Roman um L. U. Schwäbisch Gmünd 1989). U.s Bedeutung als Pionier der Germanistik ist hingegen von der Fachwissenschaft erst im 20. Jh. richtig erkannt worden. Der L.-U.Preis zeichnet seit 1991 alle zwei Jahre am Geburtstag des Dichters Forschungen zu Württemberg, zur Mundart oder zu U. selbst aus. Ausgaben: Werke. Hg. Hartmut Fröschle u. Walter Scheffler. 4 Bde., Mchn. 1980–84. – Briefe: Briefw. Hg. Julius Hartmann. 4 Bde., Stgt./Bln. 1911–16. – W. Scheffler: L. U. privat: der wohl letzte Nachlaßbestand aus Familienbesitz; mit 4 erstveröffentlichten Briefen des Dichters [1835 bis 1845]. In: JbDSG 41 (1997), S. 11–20 [Briefe S. 15–20]. – Hermann Taigel: L. U. als Pfleger sei-

661 ner Neffen. Zwölf bisher unveröffentlichte Briefe U.s. In: ebd. 44 (2000), S. 15–35. – Neuere Teil- und Einzelausgaben (Auswahl): Ausgew. Werke. Hg. Hermann Bausinger. Mchn. 1987. – Ausgew. Kostbarkeiten. Zusammengestellt v. Gottfried Berron. Lahr 21990. – Gedichte. Ausw. u. Nachw. v. Peter v. Matt. Stgt. 2004. – Lieder u. Balladen. Ausgew. u. eingel. v. Hans Mattern. Crailsheim 2006. – Die linden Lüfte sind erwacht [...]. Lyrik u. Balladen [Hörbuch]. Paderb. 2007. – Gedichte u. Reden. Eingel. u. hg. v. H. Bausinger. Tüb. 2010. – Lied der Nibelungen: ›alte hoch- u. niederdeutsche Volkslieder‹. Bremen 2011. Literatur: Bibliografien: Hartmut Fröschle: L. U.-Bibliogr. 1945–80. In: Beiträge zur schwäb. Lit.u. Geistesgesch. 2 (1982), S. 177–191. – Karen Baker: L. U.-Bibliogr. 1900–1944. In: Suevica 4 (1987), S. 149–184. – Monika Waldmüller: Bibliogr. L. U. Selbständige u. unselbständige Drucke zu Lebzeiten 1806–1862. In: L. U. 1787–1862 [Ausstellungskat.]. Hg. Ulrich Ott. Marbach 1998, S. 77–95. – Weitere Titel: Walter Reinöhl: U. als Politiker. Tüb. 1911. – Hermann Schneider: U. Leben, Dichtung, Forsch. Bln. 1920. – Heinz Otto Burger: Schwäb. Romantik. Köln 1928. – Hellmut Thomke: Zeitbewußtsein u. Geschichtsauffassung im Werke L. U.s. Bern 1962. – H. Fröschle: L. U. u. die Romantik. Köln 1973. – Walter Scheffler u. Albrecht Bergold: L. U. 1787–1862. Dichter, Germanist, Politiker [Ausstellungskat.]. Marbach am Neckar 1987. – Hermann Bausinger (Hg.): L. U. Dichter, Politiker, Gelehrter. Tüb. 1988. – Fritz Wagner: L. U. u. das Waltharielied. Zum Nachleben des mlat. Walthariusepos. In: WW 43 (1993), S. 549–556. – Victor Gerard Doerksen: L. U. and the critics. Columbia, SC 1994. – Ders.: L. U.’s ›Stylisticum‹: a creative writing class of the 1830s. In: Analogon rationis. FS Gerwin Marahrens. Hg. Marianne Henn u. Christoph Lorey. Edmonton 1994, S. 291–301. – Irmtraud M. Oskamp: Hanno Buddenbrooks Gedicht. Didakt. Anmerkungen zu einem lyr. Text v. L. U. In: Neue Sammlung 34 (1994), S. 535–545. – Dietmar Till: Vom ›Stilistikum‹ zum ›Creative writing‹. L. U. (1787–1862) u. die ›Rhetorik des Schreibens‹ in Tübingen. In: 550 Jahre Tübinger Rhetorik – 30 Jahre Rhetor. Seminar [Ausstellungskat.]. Hg. Joachim Knape. Tüb. 1997, S. 147–151. – Christian Gastgeber: L. U. Aus den reichen Quellen des Wissens ... Unbekannte Autographen in der ÖNB. In: Biblos 49 (2000), 2, S. 279–292. – Georg Braungart: L. U. Des Sängers Fluch – Versuch einer Rettung. In: Lese-Erlebnisse u. Literatur-Erfahrungen. FS Kurt Franz. Hg. Günter Lange. Baltmannsweiler 2001, S. 128–139. – Dieter Langewiesche: Vom Scheitern bürgerl.

Uhlenkamp Nationalhelden: L. U. u. Friedrich Ludwig Jahn. In: HZ 278 (2004), S. 375–397. – Luigi Reitani: Der ›edierte Editor‹. Die Erstausg. der Gedichte Hölderlins durch L. U. u. Gustav Schwab u. die Bemühungen des Autors, eigene u. fremde Texte zu edieren. In: Editio 21 (2007), S. 90–109. – Ilonka Zimmer: U. im Kanon. Studien literar. Praxis u. Kanonisierung im 18. u. 19. Jh. Diss. Siegen 2008. – Anne G. Michaelis: Die Welt der Poesie für neugierige Leser. Bd 3: Dichter der Romantik in Schwaben. Lpz. 2008. – Manfred Walz: Ferdinand Freiligrath u. L. U.: zwei Geistesverwandte. In: ›Stehen sollt ihr wie ein reifes Ährenfeld‹. Hg. Kurt Roessler u. Peter Schütze. Bielef. 2009, S. 159–182. – Mark-Georg Dehrmann: Des Sängers Fluch. Philologie u. Dichtung bei L. U. In: Poeta philologus. Eine Schwellenfigur im 19. Jh. Hg. ders. u. Alexander Nebrig. Bern u.a. 2010, S. 83–100. – Simon Denninger: L. U. als Germanist, Dichter u. Politiker: Ruinen, Schwerter, Schreiberskunst [Elektronische Ressource]. Mchn. 2011. Hartmut Fröschle / Kathrin Klohs

Uhlenkamp, Arthur Manuel, auch: Arthur Manuel, eigentl.: A. Meyer, * 5.5. 1894 Thalwil/Kt. Zürich, † 29.12.1971 Zizers/Kt. Graubünden. – Pfarrer; Lyriker, Erzähler, Verfasser religiöser Spiele. Nach einigen Semestern Germanistik in Zürich wechselte U., erschüttert durch die Katastrophe des Ersten Weltkriegs, zur Theologie über, fand aber auch nach dem theolog. Staatsexamen 1919 keine Antwort auf sein ruheloses Suchen. So durchwanderte er Italien, Frankreich, Deutschland, veröffentlichte erste weltl. u. religiöse Lyrik (Gedichte. Erlenbach 1922. 15 geistliche Lieder. Zürich 1923. 2. Aufl. u. d. T. Das innere Wort. Russikon 1938. Der stille Spiegel. Zürich/Lpz. 1935) u. wurde Universitätslektor in Liverpool, wo er 1923 zum Dr. phil. promovierte. Dann war er, wovon sein Prosaband Sonne im Engadin (ebd. 1931) auf munter-frische Weise Zeugnis gab, eine Zeit lang Kurdirektor von Pontresina, um schließlich als Regieassistent an das Deutsche Theater nach Berlin zu gehen. Nach einem Jahr als freier Schriftsteller auf Sylt – dort entstand sein mythisch-euphorischer Roman Insel-Lichter (Lpz. 1934) – kehrte er 1932 endgültig in die Schweiz zurück u. übernahm Pfarrstellen in Russikon u. zuletzt in Jenaz. Nach dem Erscheinen des Entwick-

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lungsromans Drei Jahre machen einen Mann Weile nebst einem Anhang [...] verliebter und ga(Zürich 1936) publizierte U. praktisch nur lanter Gedichte (Ffm./Lpz. 1749) hervor. noch religiöse Texte (u. a. Der ewige Mund. Literatur: Johann Martin Lappenberg: Die Prophetengeschichten. Ebd. 1940. So spricht das poet. Ztg.en zu Hamburg. In: Ztschr. des Vereins Leben. Affoltern 1953) u. Theaterstücke (u. a. für Hamburgische Gesch. 2 (1846), S. 491–493. – Hiob. Pfäffikon 1949. Feuer vom Himmel. Der Ferdinand Heitmüller: A. G. U. Hbg./Lpz. 1894. arme Lazarus. Beide ebd. 1950. Ges. u. d. T. Neudr. Nendeln 1978. Jürgen Rathje Geistliche Spiele. Affoltern 1955). U.s Werk, das in der Lyrik seinen Höhepunkt findet, ist in jeder Phase auffallend stark durch das GotUhse, Bodo, * 12.3.1904 Rastatt/Baden, teserlebnis bestimmt u. offenbart gerade in † 2.7.1963 Berlin/DDR; Grabstätte: ebd., seinen qualvollen Zweifeln u. in seinem RinDorotheenstädtischer Friedhof. – Rogen um den Glauben eine sehr modern anmancier, Erzähler, Journalist. mutende existentielle Dimension, mit der es sich von der gängigen religiösen Dichtung U., der aus preußisch-schles. Offiziers- u. Beamtenfamilie stammte, wuchs in Glogau abhebt. Charles Linsmayer auf. 1920 nahm er am Kapp-Putsch teil, trat 1921 in den »Bund Oberland« u. 1927 in die Uhlich, Adam Gottfried, * 1720 BischofsNSDAP ein. Er arbeitete 1927 bei einer NSwerda, † nach 1756 Frankfurt/M. (?). – Zeitung in Ingolstadt u. war 1928 in Itzehoe Lustspieldichter, Lyriker, Übersetzer. Chefredakteur der ersten holsteinischen NSU. studierte 1737 in Wittenberg Jura, zog Zeitung. Nach dem Bruch mit der NSDAP 1738 mit der Neuberin nach Hamburg, 1930 wurde er Mitgl. der KPD u. 1932 Sewechselte 1740 in Lüneburg zur Truppe Jo- kretär des »Deutschen Reichsbauernkomihann Friedrich Schönemanns, 1742 in Ham- tees«. Im Mai 1933 emigrierte er nach burg zu Sophie Charlotte Schröder, 1743 in Frankreich, nahm am Spanischen BürgerBerlin wieder zu Schönemann, ging nach krieg teil u. kehrte 1938 nach Frankreich Hamburg zu Angelo u. Pietro Mingotti sowie zurück; 1939 emigrierte er nach Mexiko, wo zu Franz Schuch u. edierte dort 1746–1748 er die literar. Redaktion der Zeitschrift seine »Poetischen Zeitungen«. 1748 wurde er »Freies Deutschland« leitete. Nach der in Frankfurt/M. Lustspieldichter der Schu- Rückkehr nach Berlin 1948 übernahm U. die ch’schen Truppe. Dort geriet der Gottsche- Leitung der Zeitschrift »Aufbau«, war leidianer U. in einen Theaterstreit mit der tendes Mitgl. des »Kulturbundes zur demoErneuerung Deutschlands«, Geistlichkeit, gegen die er Eines christlichen kratischen Comödianten Beichte an GOtt, bey Versagung der 1950–1954 Abgeordneter der Volkskammer, öffentlichen Communion (Ffm. 1751. Ffm./Lpz. 1950–1952 Vorsitzender des Deutschen 2 1771) schrieb, die dieser Form der Diskri- Schriftstellerverbands, seit 1956 Sekretär der minierung von Schauspielern ein Ende be- Akademie-Sektion Dichtkunst und Sprachreitete. U. hatte 1742 die Schauspielerin pflege, Mitgl. des Vorstands des Deutschen Hanna Rudolf geheiratet. Aus der Ehe gingen P.E.N.-Zentrums Ost u. West u. 1963 Chefredakteur der Zeitschrift »Sinn und Form«. mehrere Kinder hervor. U., ein »linker Mann von rechts«, schrieb U. knüpfte an Borkenstein an mit dem Schlendrian oder des berühmten Bookesbeutels Tod 1935 die »Chronik seines Lebens«, Söldner und und Testament (in: Erste Sammlung neuer Lust- Soldat (Paris 1935. Bln./DDR 1956), in der er spiele. Danzig/Lpz. 1746. Die Zweyte Sammlung über die polit. Praxis der Nationalsozialisten erschien ebd. 1747). Er übersetzte u. a. Stücke u. die Entwicklung der nationalen Bewegung von Molière, Marivaux u. Voltaire, gab zwischen 1921 u. 1930 berichtete. Er hatte Christian Friedrich Zernitz’ Versuch in Mora- mit Gedichten begonnen; ein Roman über die lischen und Schäfer-Gedichten [...] (Hbg./Lpz. Landvolkbewegung blieb unvollendet, der 1748) heraus u. trat seinerseits mit Ausge- Roman Christian Klee, der Soldat des Friedens suchten und Anmuthigen Schriften für die lange ungedruckt.

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U.s Roman Leutnant Bertram (Mexiko 1943. Bln./SBZ 1947) erzählt, wie ein dt. Flieger die ersten Jahre der NS-Zeit erlebt. Als Bertram in Spanien von Interbrigadisten abgeschossen wird, weiß u. sagt er: »Ich bin kein Faschist.« Die Helden des 1948 erschienenen Romans Wir Söhne (Bln./SBZ) sind Glogauer Realschüler u. Offizierssöhne, die in den Jahren vor 1918 ihre Selbstfindung erleben. U.s Absicht war es, der dt. Jugend »aus den Lehren von 1918 den Zugang zu den Lehren zu erleichtern, die das Jahr 1945 für sie vorbereitete«. Eine Chronik des dt. Widerstands gegen den dt. Faschismus (Die Patrioten. Erstes Buch: Abschied und Heimkehr. 1954. Fragment des zweiten Buchs: 1965), geschrieben auf der Grundlage von Gestapoakten, blieb unvollendet. U.s konventionell-realistische Romane u. Erzählungen zeigen einen differenzierten Umgang mit der Psychologie ihrer Helden; deren Entwicklung, die Schauplätze, die Atmosphäre werden glaubhaft, wenn auch nicht immer ohne Überzeichnung, geschildert. Weitere Werke: Ausgabe: Ges. Werke in Einzelausg.n. Hg. Günter Caspar. 6 Bde., Bln./Weimar 1974–83. – Einzeltitel: Die erste Schlacht. Straßb. 1938 (E.). – Die hl. Kunigunde im Schnee u. a. E.en. Bln./DDR 1949. – Die Brücke. Ebd. 1952 (E.en). – Roman einer jungen Ehe. 1952 (Filmdrehbuch). – Tgb. aus China. Bln./DDR 1956. – Mexikan. E.en. Ebd. 1957. – China zwischen gestern u. morgen. 1957 (Filmdrehbuch). – Die Aufgabe. Eine Kollwitz-Erzählung. Dresden 1958. – Reise in einem blauen Schwan. Bln./DDR 1959 (E.en). – Gestalten u. Probleme. Ebd. 1959. – Das Wandbild. Ebd. 1960 (E.). – Sonntagsträumerei in der Alameda. Ebd. 1961 (E.). – Im Rhythmus der Conga. Ebd. 1962 (Reiseber.). – B. U. u. F. C. Weiskopf: Briefw. 1942–48. Bln./Weimar 1990. – Übersetzer: Vicente Lombardo-Toledano: Johann Wolfgang v. Goethe. Mexiko 1944. – Herausgeber: gekabelt aus moskau: Schriftsteller u. Krieg. London 1943. – Egon Erwin Kisch: Schreib das auf, Kisch! Bln./DDR 1951. – E. E. Kisch: Ges. Werke (zus. mit Gisela Kisch). 7 Bde. ebd. 1960–74. Literatur: Bibliogr. Kalenderbl. der Berliner Stadtbibl. 6, F. 3, Bln./DDR 1964, S. 15–22. – Joel Agee: Zwölf Jahre. Eine Jugend in Ostdtschld. Mchn. 1982. – Günter Caspar (Hg.): Über B. U. Ein Almanach. Bln./Weimar 1984. – Klaus Walther: B. U. Leben u. Werk. Bln./DDR 1984. – Walter Schle-

Uhse voigt: Untersuchungen zu den Romanen ›Leutnant Bertram‹, ›Wir Söhne‹ u. ›Die Patrioten, Erstes Buch. Abschied u. Heimkehr‹ v. B. U. u. zur öffentl. Verständigung über diese Romane bis Anfang der achtziger Jahre. Magdeb. 1986. – Lenka Reinerová: Es begann in der Melantrichgasse. Erinnerungen an Weiskopf, Kisch, U. u. die Seghers. Bln. u. a. 1985. – Walfried Hartinger: B. U. als Literaturkritiker im Exil. In: Die dt. Literaturkritik im europ. Exil (1933–1941). Hg. Michel Grunewald. Bern u. a. 1993, S. 115–127. – Kay Dohnke: Rechenschaft über einen dt. Irrweg. Zum Verhältnis v. Realität u. Fiktion in B. U.s Exilroman ›Söldner u. Soldat‹. In: Literaten in der Provinz – provinzielle Lit.? Schriftsteller einer norddt. Region. Hg. Alexander Ritter. Heide in Holstein 1991, S. 136–162. – Ders.: Völkischer Nationalismus u. revolutionärer Habitus. Publizistische Strategie u. ideolog. Wandel B. U.s (1927–1932). Eine Fallstudie zur Weimarer Rechten. In: Die polit. ›Rechte‹. Lit., Theater, Film. Hg. Helmut Kreuzer. Gött. 1994, S. 51–61. – Renata v. Hanffstengel: Mexiko im Werk v. Bodo Uhse. Das nie verlassene Exil. New York u. a. 1995. – Birgit Schmidt: Wenn die Partei das Volk entdeckt. Anna Seghers, B. U., Ludwig Renn u. a. Ein krit. Beitr. zur Volksfrontideologie u. ihrer Lit. Münster 2002 (mit Bibliogr.). – Carl Freytag: B. U. ›Leutnant Bertram‹. In: Erinnern u. Erzählen. Der span. Bürgerkrieg in der dt. u. span. Erzähllit. u. in den Bildmedien. Hg. Bettina Bannasch u. Christiane Holm. Tüb. 2005, S. 353–364. Konrad Franke / Red.

Uhse, Erdmann, * 1.12.1677 Guben, † 5.9. 1730 Merseburg. – Verfasser historischer u. didaktischer Schriften, Lexikograf. Der Sohn eines Handwerkers wurde im Sommer 1695 an der Universität Leipzig immatrikuliert, wo er am 17.4.1696 das Bakkalaureat u. am 27.1.1698 den Magistergrad erwarb. Noch während seines Studiums begann er eine schriftstellerische Tätigkeit als Autor u. Herausgeber, von der er einige Jahre seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. 1711 trat er eine Stelle als Gymnasialrektor in Merseburg an, die er bis an sein Lebensende innehatte. Einen Ruf an die Leipziger Universität lehnte er ab. Das schriftstellerische Werk U.s ist umfangreich u. besteht v. a. aus biografisch-histor. Nachschlagewerken, die allerdings meist Kompilationen sind (z.B. Leben der berühmtesten Kirchen-Lehrer und Scribenten des XVI. und XVII. Jahr-Hunderts [...]. Lpz.

Ujvary

1710). Bemerkenswerter u. von einer gewissen Originalität ist sein Wohl-informirter Redner (Lpz. 21704. Internet-Ed in: http:// books.google.de. 51712. Nachdr. Kronberg/ Ts. 1974. 91727). Das damals sehr populäre Regelwerk enthält prakt. Vorschläge zur Abfassung von Reden für bestimmte gesellschaftl. Anlässe u. ist ein Beispiel für die zeitübl. galante Rhetorik, die sich allmählich von den Erfordernissen des barocken Hofzeremoniells abwandte u. einen Stil zu prägen versuchte, der sich mehr an den Gegebenheiten des bürgerl. Lebens orientierte. Weitere Werke: De utili studiosorum conversatione. Präses: Magister E. U.; Respondent: Samuel Roth. Lpz. 1698. Internet-Ed. in: HAAB Weimar. – Sciagraphiam de studio excerpendi [...] sistet Autor-Respondens Johan. Balthasar Schubert. Präses: E. U. Lpz. 1699. – Wohl-informirter Poet [...]. Lpz. 1703. 1719. Internet-Ed. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Hg. Paul Raabe. Mchn. 2007. – Universal-Geograph.-Histor. Lexikon. Lpz. 31705. 4 1710. – Kirchen-Historie des XVI u. XVII JahrHunderts [...]. Lpz. 1710. – Leben u. Taten der Könige in Frankreich. Lpz. 1716. Ausgaben: Internet-Ed. mehrerer Werke in: http://books.google.de. Literatur: Zedler, Bd. 48 (Schriftenverz.). – Max v. Waldberg: E. U. In: ADB. – Bruno Markwardt: Gesch. der dt. Poetik. Bd. 1, Bln. 31964, Register. – Franz Heiduk: Nachw. In: Christian Hölmann: Galante Gedichte [...]. Mchn. 1969, S. 229. – Volker Sinemus: Poetik u. Rhetorik im frühmodernen dt. Staat [...]. Gött. 1978, Register. – Ingo Stöckmann: Vor der Literatur. Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas. Tüb. 2001. – Jörg Wesche: Literar. Diversität. Abweichungen. Lizenzen u. Spielräume in der dt. Poesie u. Poetik der Barockzeit. Tüb. 2004. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2133–2136. Andreas Sturies / Red.

Ujvary, Liesl, * 10.10.1939 Preßburg (Bratislava). – Verfasserin experimenteller Poesie u. Prosa, Hörspielautorin, Übersetzerin, Computerkünstlerin. 1945 übersiedelte die Familie nach Österreich; seit 1958 studierte U. an den Universitäten in Wien u. Zürich Slavistik, althebräische Literatur u. Kunstgeschichte. 1965–1970 unterrichtete sie Russisch an der Dolmetscherschule Zürich u. promovierte 1968 an der dortigen Universität über Ilja

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Ehrenburgs Roman Julio Jurenito (Zürich 1971). Ein Lehrauftrag für russ. Literatur führte U. 1969/70 nach Tokio; danach besuchte sie die Moskauer Staatsuniversität. Seit 1971 lebt sie als freie Schriftstellerin u. Fotografin in Wien. U. verfasst experimentelle Texte, Essays zur Kulturgeografie, Literatur- u. Kunsttheorie, Hörspiele (zus. mit Bodo Hell) u. Hörstücke für das »Kunstradio« (ORF). Vor allem in ihrem Textband Sicher & Gut (Wien 1977) setzt U. die Tradition einer spezifisch österr., das Klischee in der Alltagssprache polemisch aufgreifenden Avantgarde fort – das Geschehen vollzieht sich in der (experimentell-konkret gehandhabten) Sprache. In Schöne Stunden (Bln. 1984) beschreibt U. die Unmöglichkeit, aus einer Welt der Sprach-, Sprech- u. Wortmanipulationen zu entkommen. Der ununterbrochene Strom der Wörter ist »das rhetorische Abbild der Situation, in der sich unsere Gesellschaft befindet« (Ujvary). Als »Neophile«, wie sie sich selber bezeichnet, begibt sie sich mit ihren Texten immer wieder in neue Forschungsgebiete u. verknüpft sie mit der Frage nach Sprache, Bewusstsein u. Ich-Identität. So steigert sich die Erzählerfigur in Lustige Paranoia (Klagenf. 1995) ganz in ihre Paranoia hinein u. lässt ihr ganzes Denken, die gesamte Sprache um die eigene Gehirntätigkeit u. deren Beobachtung kreisen. In Kontrollierte Spiele. 7 Artefakte (Wien 2002) verarbeitet U. u. a. Themen zu künstlicher Intelligenz, Gehirnforschung, Theorien der Erforschung des Beobachters u. der Wahrnehmung. Auch der 2006 erschienene Prosaband Alphaversionen (ebd.) beschäftigt sich in radikal-konstruktivistischer Manier im Anklang an Programmiersprache u. Computersimulation mit der Gefühls- u. Gedankenwelt eines Cyborg-Ichs. Weitere Werke: (Hg.): Freiheit ist Freiheit. Inoffizielle sowjet. Lyrik. Zürich 1975 (russ.-dt.). – Fotoroman Bisamberg. Wien 1980. – rosen, zugaben. Linz 1983 (L). – Menschen & Pflanzen Porträts. Wien 1983 (Kat. zu einer Fotoausstellung). – Tiere im Text. Ebd. 1991 (R.). – Heiße Stories. Wien 1993 (R.). – Hoffnungsvolle Ungeheuer. Zehn Prosastücke. Wien 1993. – Das reine Gehirn. Klagenf. 1997 (R.).

Ulenhart

665 Literatur: Sigurd Paul Scheichl: Thematisierung von Parole u. Sprachnorm in experimentellen Texten. Am Beispiel v. Elfriede Czurda, L. U. u. Bodo Hell. In: Thematisierung der Sprache in der österr. Lit. des 20. Jh. Hg. Michael Klein u. S. P. S. Innsbr. 1982, S. 135–153. Kristina Pfoser-Schewig / Sonja Schüller

Ulenberg, Kaspar, * 24.12.1548 Lippstadt, † 16.2.1617 Köln. – Katholischer Theologe, Dichter, Übersetzer u. Komponist.

Weitere Werke: Einfältige Erklerung der sieben Büspsalmen [...]. Köln 1586 u. ö. – Ein schön New gemacht Liedt [...]. o. O. 1583 (Schmählied auf den ehem. Kölner Kurfürst Gebhart Truckseßen). – Trostbuch für die kranken u. sterbenden [...]. Köln 1590 u. ö. – Historia de vita, moribus, rebus, gestis, studiis ac denique morte praedicantium Lutheranorum, Doct. Martini Lutheri. Philippi Melanchthonis. Matthiae Flacii Illyrici. Georgii Maioris, et Andreae Osiandri [...]. Köln 1622. – Historia Zwinglii (ungedr.). Ausgaben: Erhebliche u. wichtige Ursachen,

Aus einer luth. Familie stammend, besuchte warumb die altgleubige catholische Christen bey U. Schulen in Lippstadt, Soest u. Braun- dem alten waren Christenthumb bis in ihren Tod schweig. Er studierte ab 1569 an der Univer- bestendiglich verharren [...] sollen. Köln 1589. InBewegsität Wittenberg Philosophie u. Theologie. ternet-Ed. in: VD 16. – Zweiundzwanzig gründe [...]. Mainz 1833. 21840. – Wackernagel 5, 1572 konvertierte er zum Katholizismus (vgl. S. 1067–1085. dazu Graves et iustae causae, cur catholicis in Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Weicommunione veteris [...] christianismi, constanter tere Titel: Räß, Convertiten, Bd. 2, S. 550–570 (mit [...] permanendum sit [...]. Köln 1589) u. wechTextauszug [Causa 12] in dt. Übers.). – Heinrich selte an die Kölner Universität (Magister ar- Reusch: K. U. In: ADB. – Joseph Solzbacher: K. U. tium 1574). 1575 wurde er Professor (1592 [...]. Münster 1948. – Ders.: Die Psalmen Davids, in Rektor) am Kölner Laurentius-Gymnasium. allerlei dt. Gesangsreime gebracht durch K. U., 1576 zum Priester geweiht, übernahm er Köln 1582. In: Kirchenmusikal. Jb. 34 (1950), Priesterstellen in Kaiserswerth u. ab 1583 in S. 41–55. – Konrad Hagius Rinteleus: Die Psalmen Köln. Ab 1605 Pfarrer an der Universitäts- Davids nach K. U. [...]. Hg. Johannes Overath. kirche, war er 1610–1612 Rektor der Kölner Düsseld. 1955. – J. Overath: Untersuchungen über die Melodien des Liedpsalters v. K. U. [...]. Köln Universität. U.s Die Psalmen Davids in allerlei teutsche ge- 1960. – Ferdinand Haberl: Zu Editionsproblemen der Musik des 16. Jh. Liedpsalter nach K. U. In: sangreimen bracht (Köln 1582 u. ö.) sind der Musica sacra 84 (1964), S. 64–67. – Hans Müskens: wichtigste kath. Beitrag zum Psalmenlied im Der Wahrheit verpflichtet. K. U., Pfarrer u. Lehrer. 16. Jh. Das Werk bewegt sich etwa in der In: Friedrich Spee u. das nördl. Rheinland. Hg. Mitte zwischen luth. u. calvinistischen Psal- Heinz Finger. Düsseld. 2000, S. 61–70. – Wilhelm mendichtungen. 80 verschiedene »genera Janssen: K. U., sein Leben u. seine Zeit. In: Mocarminis« oder »art reymen« führen zu ei- natshefte für evang. Kirchengesch. des Rheinlandes nem abwechslungsreichen Strophenbau. Der 52 (2003), S. 1–19. – Daniela Wissemann-Garbe: Text folgt akzentuierender Versbetonung; Der Psalter U.s. In: ebd., S. 21–48. – Dieter GutSprache u. Stil sind gewandt, zumal sie im knecht: Die Rezeption des Genfer Psalters bei C. U. Gegensatz zu Lobwassers dt. Psalter (1573) In: Der Genfer Psalter u. seine Rezeption in Dtschld., der Schweiz u. den Niederlanden, 16.-18. nicht an übernommene Melodien gebunden Jh. Hg. Eckhard Grunewald u. a. Tüb. 2004, waren. U.s Psalter wurde bis ins 19. Jh. immer S. 253–262. – D. Wissemann-Garbe: C. U. In: MGG wieder aufgelegt; bis in die Gegenwart er- 2. Aufl. Bd. 16 (Pers.), Sp. 1190. – Der Kolumbascheinen Psalmenlieder (Melodien) U.s in pfarrer K. U. u. die Gesch. der Kolumbapfarre. Eine kath. Gesangbüchern. Mehrstimmige Bear- Ausstellung der Diözesan- u. Dombibl. Köln [...]. beitungen gab es bereits im 16. Jh. (u. a. von Hg. Werner Wessel. Köln 2007. Orlando di Lasso). Auf U.s 1614 begonnener Klaus Düwel / Red. Bibelübersetzung (Sacra Biblia, Das ist, Die gantze H. Schrifft [...]. Köln 1630; zahlreiche Ulenhart, Niclas, * Anfang des 17. Jh. – weitere Aufl.n) basiert die im kath. Raum Cervantes-Übersetzer. weit verbreitete Mainzer Bibel (zuerst 1662). U.s Leben liegt völlig im Dunkeln. Er dürfte ein kath. Prager Jurist (Kanzleibeamter) ge-

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wesen sein. Unter seinem Namen, womöglich Ulenspiegel, Eulenspiegel. – Schwankroein Pseud., ist nur ein Werk überliefert: die man des 16. Jh. u. literarische Symbolfizusammen mit der ersten dt., wohl nicht von gur. U. stammenden Lazarillo-Übersetzung geIn der Straßburger Druckerei Johannes Grüdruckte Historia, von Isaac Winckelfelder und ningers (Grieninger) entstanden 1510/11, Jobst von der Schneid (in: Zwo kurtzweilige, lustige, 1515 u. 1519 die ältesten überlieferten U.und lächerliche Historien [...]. Augsb. 1617. Acht Ausgaben: Ein kurtzweilig lesen von Dyl UlenAufl.en bis ins frühe 18. Jh.). Sie geht zurück spiegel geboren uß dem Land zuo Brunßwick. Wie er auf eine der Novelas ejemplares (1613) von sein Leben volbracht hatt. XCVI. seiner geschichten. Cervantes, Rinconete y Cortadillo, die in der Gemäß der Vorrede war der ungenannte AuSevillaner Schelmenzunft des Monipodio als tor im Jahre 1500 gebeten worden, U.-Histoeiner verkehrten Welt der realen Gesellschaft rien zu sammeln u. aufzuschreiben. Diese einen Spiegel vorhält. U. transponiert die Geschichten u. deren Titelfigur sind seither Geschichte nach Prag. Dabei vermittelt er vielfach bearbeitet worden. Sie haben ihrernicht nur historisch interessantes Lokalkoloseits – oft vom Original losgelöste – Werke rit, sondern unterlegt dem Werk zudem eider Literatur, Musik, Kunst u. des Films annen neuen Sinn: Indem er in der Prager geregt. Schelmenzunft des Zuckerbastel die unterUnsicher ist, ob der Titelheld gelebt hat. schiedl. Konfessionen in voller ReligionsfreiDie einzige histor. Nachricht findet sich in heit zusammenleben lässt, funktioniert er die Hermann Botes sog. Hannoverscher Weltchronik Vorlage in eine Utopie der religiösen Toleu. bezieht sich auf Ulenspiegels Tod im ranz um. Die Herkunft der Hauptpersonen Pestjahr 1350 in Mölln. Auch für die Autorsowie deren krit. Distanz zur etablierten Geschaft des U. existieren keine urkundl. sellschaft verbinden Vorlage u. Übersetzung Nachweise oder Hinweise. Seit der Studie mit der pikaresken Tradition. U.s History ist Peter Honeggers (vgl. Honegger) aber spreein früher Beleg für eine umfassendere dt. chen plausible Argumente für Bote (etwa Beschäftigung mit Cervantes. 1450–1520), v. a. das Akrostichon ERMANB Ausgaben: Historia v. Isaac Winckelfelder [...]. in den Initialen der letzten Historien des U. Kommentiert u. mit einem Nachw. v. Gerhart sowie intertextuelle Bezüge zwischen U. u. Hoffmeister. Mchn. 1983 (Nachdr. der Ed. 1617; anderen Werken Botes. Initialen von 25 Hismit Bibliogr.). Lpz. 1983. torien des Straßburger U.-Druckes bilden Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: bruchstückhaft das viermal wiederkehrende Karl v. Reinhardstoettner: N. U. In: ADB. – Hubert Rausse: Zur Gesch. des span. Schelmenromans in Alphabet, ein spielerisches Ordnungsprinzip, Dtschld. Münster/Westf. 1908. – Reiner Schulze- das sich auch in anderen Bote-Werken findet. van Loon: N. U.s ›Historia‹. Diss. masch. Hbg. 1955 Der Braunschweiger Zolleinnehmer u. Ver[1956]. – Werner Beck: Die Anfänge des dt. Schel- fasser von Zollvorschriften, Chroniken, menromans. Zürich 1957. – Matthias Bauer: Der Streitliedern u. lehrhaften Reimdichtungen Schelmenroman. Stgt. 1994. – Volker Roloff: Span. (vgl. den Artikel »Hermann Bote«) kommt Schelme in Böhmen. In: ›Böhmische Dörfer‹. allerdings als Verfasser des Grüninger-Drucks Streifzüge durch eine seltene Gegend [...]. Hg. Pe- kaum in Frage. Wahrscheinlich ist er der ter Gendolla. Gießen 1995, S. 135–150. – Gerhart Autor einer älteren niederdt. Version. Ob Hoffmeister: N. U. In: German Baroque Writers, diese als Druck vor der hochdt. Ausgabe von 1580–1660. Hg. James Hardin. Detroit/London 1510/11 existiert hat, kann nur vermutet 1996, S. 350–352. – Alberto Martino: Die Rezeption des ›Rinconete y Cortadillo‹ u. der anderen pi- werden. Dass der U. ein Werk humanistisch karesken Novellen v. Cervantes im deutschspra- gebildeter, hochdt. schreibender Autoren aus chigen Raum (1617–1754). In: Daphnis 34 (2005), Straßburg sei (vgl. Schulz-Grobert), ist höchst S. 23–135. – Araceli Marín Presno: Zur Rezeption zweifelhaft (vgl. Blume 1994). Philologische der Novelle ›Rinconete y Cortadillo‹ v. Miguel de Gründe sprechen vielmehr für einen oberCervantes im deutschsprachigen Raum. Ffm. 2005. rheinischen (elsäss.) Übersetzer als Autor des Guillaume van Gemert / Red. hochdt. U., bei dem Umformulierungen u.

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Umstellungen die urspr. Akrosticha teils zerstörten. Dass der U.-Verfasser auf eine mündl. oder schriftl. U.-Erzähltradition zurückgreifen konnte, beweist ein lat. Briefwechsel zweier Geistlicher aus dem Jahr 1411, in dem sich ein Hinweis auf den verderbl. Einfluss des Ullenspeygel findet (vgl. Colberg). Stoff- u. Motivanleihen des U. stammen aus dt. (u. a. Pfaffe Amîs, Kahlenberger Pfaffe, Wigoleis vom Rade, Salomon und Markolf; Hans Folz: Die Wahrsagebeeren), lat. (Mensa philosophica) u. vor allem ital. Quellen (Boccaccio, Sacchetti, Poggio). Spätere Ausgaben aus Erfurt (1532), Straßburg (um 1532) u. Köln (um 1533) fügen den urspr. 95 Historien noch weitere hinzu. Der U.-Autor bezeichnet die U.-Geschichten als »Historien«, die er zu einer fingierten Lebenschronologie des Titelhelden ordnet. Die Historien spielen allerdings im Zeitraum von der Wahl Lothars von Supplinburg zum dt. König (1125) bis zur Amtszeit des Abtes Arnold Papenmeier († 1510) von St. Ägidien zu Braunschweig. Immer aber ist Geschichte im U. rückbezogen auf das Zeitverständnis der Übergangsepoche um 1500. Erzählform ist der Schwank. Geprägt wird dessen Struktur u. Inhalt vom Erzählmuster der List: Ein schlauer Spitzbube spielt einem höher gestellten u. eigentlich überlegenen Widersacher einen üblen Streich. Die U.Historien geben Vertreter praktisch aller Geburts- u. Berufsstände oder auch Charaktertypen mit ihrer Dummheit u. ihren Lastern der Lächerlichkeit preis. Der stereotype Charakter der Titelfigur entspricht der wiederkehrenden Handlungskonstellation u. folgt den erzähltechn. Vorgaben der Handlungskomik. Deshalb macht sie keine Entwicklung durch. Ulenspiegel wird in den Ausgaben des 16. Jh. als Schalk, Bösewicht, Bube oder Lecker bezeichnet. Titelholzschnitte zeigen ihn auf einem Pferd sitzend, in den ausgestreckten Armen Eule u. Spiegel haltend, barhäuptig oder mit Narrenkrone, im Zaddelrock mit angenähten Schellen. Als Schalk ist Ulenspiegel im urspr. Wortsinn ein boshafter Mensch, der überall Schaden anrichtet. Um seine Schalkheit auszuspielen, wendet er die Methoden des listigen Narren an, der sich

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verstellt u. virtuos in viele Rollen schlüpft. Als gemeiner Schalksnarr stellt er durch seine Streiche Schwächen seiner Mitmenschen oder Übelstände seiner Mitwelt bloß u. macht sich danach jedesmal fluchtartig aus dem Staub. Kleidung, Lebensweise u. Verhalten kennzeichnen Ulenspiegel als sozialen Außenseiter, der gesellschaftl. Regeln u. Ordnungen nicht beachtet u. gerade dadurch Missstände deutlich macht. Wie einen Spiegel hält der Autor seiner Zeit das U.-Buch vor. Schon der niederdt. Name des Titelhelden drückt seinen schalkhaften Charakter aus. Das Substantiv »ule« bedeutet Eule. Das SpätMA sieht in dem Vogel weniger das Weisheitssymbol der Minerva, sondern verbindet mit ihm Eigenschaften wie hinterlistig, närrisch u. lichtscheu. Das Verbum »ulen« heißt reinigen, »speigel« bezeichnet das Hinterteil. Damit spielt der Name auch auf den sog. schwäb. Gruß an: Der Analbereich hat in der Tat für das Verhalten des Schalks große Bedeutung, denn Verachtung u. Strafe drückt Ulenspiegel vorzugsweise durch skatolog. Wortwahl u. fäkal. Gesten aus. Ulenspiegels nonkonformes Verhalten setzt gesellschaftl. Konventionen außer Kraft. Indem er diese übererfüllt, stellt er die gewohnte Ordnung auf den Kopf u. agiert wie in einer verkehrten Welt. Besonders drastisch u. folgenschwer geschieht dies in den Handwerkerhistorien durch das Mittel der Sprachkomik: Ulenspiegel nimmt als Geselle oder Gehilfe die bildlich gemeinte, uneigentl. Rede seiner Meister wörtlich u. führt dadurch im zerstörerischen Werk seiner Streiche die Verhältnisse ad absurdum. Die Popularität u. die weite Verbreitung der U.-Historien schon im 16. Jh. belegen zahlreiche dt. Neudrucke sowie fläm., frz., engl., poln., jidd. u. lat. Übersetzungen. Als literar. Gestalt besitzt Ulenspiegel den flachen Charakter einer typisierten Figur u. bietet damit der Rezeption vielfältige Möglichkeiten, den Titelhelden höchst ambivalent zu deuten u. widerspruchsvoll neu zu gestalten. Ulenspiegels normwidriges Verhalten konnte anziehend sein, weil die Missachtung von Ordnung u. Tabus, Normen u. Werten entlastend wirken u. weil das Publi-

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kum im lachenden Einverständnis die über- EM. – W. Wunderlich: Till Eulenspiegel. Mchn. legene Perspektive des Schalks einnehmen 1984. – Herbert Blume u. Eberhard Rohse (Hg.): konnte. Doch bis ins 19. Jh. beurteilten v. a. Hermann Bote. Tüb. 1991. – H. Blume: Hermann Geistliche, Literaten u. Pädagogen Figur u. Bote – Autor des Eulenspiegel-Buches? In: Eulenspiegel-Jb. 34 (1994), S. 11–32. – Heinz-Günter Geschichten als zotig u. pöbelhaft. InhaltliSchmitz: Der wiedererstandene Eulenspiegel. In: che u. sprachl. Eingriffe bis weit ins 19. Jh. Nd. Jb. 118 (1995), S. 57–98. – Martin M. Winkler: hinein tilgten kirchenfeindl. Stellen u. ver- Der lat. Eulenspiegel des Ioannes Nemius [...]. Tüb. harmlosten unflätige oder anstößige Teile 1995. – Reinhard Tenberg: Die dt. Till Eulenspie(vgl. Schmitz). Erst die romant. Neubewer- gel-Rezeption bis zum Ende des 16. Jh. Würzb. tung der Prosaromane des 15. u. 16. Jh. als 1996. – Jürgen Schulz-Grobert: Das Straßburger »Volksbücher« hat mit ästhetischen u. mo- Eulenspiegelbuch. Tüb. 1999. – William McDoralischen Vorbehalten aufzuräumen versucht. nald: Mythos Eulenspiegel. In: Verführer, SchurAls volkstüml. lustiger Schelm spielte Ulen- ken, Magier. Hg. Ulrich Müller u. W. Wunderlich. spiegel v. a. in der Kinderliteratur eine wich- St. Gallen 2001, S. 228–241. – Andreas Bässler: Eulenspiegel erzähltheoretisch. In: Fabula 46 tige Rolle. (2005), S. 291–304. – Eva Willms: Überlegungen Diese zwiespältige Aufnahme des U.-Buchs zum Eulenspiegel. In: Eulenspiegel-Jb. 45 (2005), hat auch die literar. Rezeption seit dem 16. S. 41–72. Werner Wunderlich Jh. beeinflusst u. eine Reihe sehr unterschiedl. u. widersprüchl. Konfigurationen Ulenspiegels hervorgebracht. Sie reichen von Ulitz, Arnold, * 11.4.1888 Breslau, † 12.1. Johannes Paulis moralischen Exemplen in 1971 Tettnang. – Erzähler, Lyriker. Schimpf und Ernst (1522), Hans Sachs’ drast. Meisterliedern, Spruchgedichten u. Fast- Der Sohn eines schles. Eisenbahnbeamten nachtsspielen (1533–57) u. Johann Fischarts wuchs in Kattowitz auf, studierte Germanisunflätigem Grobian (Eulenspiegel Reimensweiß. tik u. neuere Sprachen in Breslau u. war an1572) über Charles de Costers flandr. Natio- schließend bis 1933 Lehrer. Noch während nalhelden (La légende d’Ulenspiegel. 1868) bis zu des Ersten Weltkriegs, den er in Russland Gerhart Hauptmanns leidendem Gottsucher mitmachte, veröffentlichte U. erste Novellen (Des großen Kampffliegers, Landfahrers, Gauklers u. Gedichte; dem kriegerischen Ungeist der und Magiers Till Eulenspiegel Abenteuer, Streiche, Zeit zollte er damals nur spärl. Tribut. Erst Gaukeleien, Gesichte und Träume. 1928), Brechts während des »Dritten Reiches« pries er opskept. Aufklärer (Eulenspiegel-Geschichten. portunistisch Eroberertum, dt. Edelmut u. 1948) oder Christa u. Gerhard Wolfs früh- soldatische Gesinnung. Nach 1945 hatte er bürgerl. Revolutionär (Till Eulenspiegel. 1972), nur noch in Kreisen schles. Vertriebener mit den schlechteren seiner Bücher, die er beum nur einige zu nennen. Ausgaben: Ein kurtzweilig Lesen v. Dil Ulen- schönigend redigierte (Der große Janja. Breslau spiegel. Nach dem Druck v. 1515 hg. v. Wolfgang 1939. Revidiert Stgt. 1953), begrenzten ErLindow. Stgt. 1978. Zuletzt 2001. – Dyl Vlenspie- folg. 1962 wurde ihm das Schlesierschild gel. In Abb. des Drucks v. 1515 (S 1515). Hg. Wer- verliehen, die höchste Auszeichnung der ner Wunderlich. Göpp. 1982. – Von Vlenspiegel Landsmannschaft Schlesien. eins bauren sun des lands Braunschweick. Erfurt In seinen frühen Romanen u. Erzählungen bei Melchior Sachse, 1532. Hg., mit einem Nachw. verbindet U. sehr überzeugend die Traditiou. einer Auswahlbibliogr. vers. v. W. Wunderlich. nen schles. Mystik u. expressionistisch geHildesh. u. a. 1990. – Die Wandlungen des Till stimmter lyr. Hymnik mit einem durch Eulenspiegel. Texte aus 5 Jh.en EulenspiegelDichtung. Hg. Siegfried Sichtermann. Köln/Wien schulpädagog. Neigungen geleiteten harten Tatsachensinn. Eindrücke aus Russland u. 1982. Literatur: Eulenspiegel-Jb. 1 ff. (1965 ff.). – das Erlebnis der Revolution geistern furios Peter Honegger: U. Ein Beitr. zur Druckgesch. u. durch das 1920 in München erschienene Erzur Verfasserfrage. Neumünster 1973. – Werner zählepos Ararat, in dem das Chaos des Roten Wunderlich (Hg.): Eulenspiegel-Interpr.en. Mchn. Oktober u. dessen zerstörende Gewalt visio1979. – Bernd Ulrich Hucker: Eulenspiegel. In: när beschworen werden. Die Geheimnisse u.

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stärkenden Kräfte der Natur werden dem Dichter. Bonn 1977. – Oskar Pusch: A. U. Sein Zivilisationswahn entgegengesetzt. Spott auf Schaffen als Dichter u. seine Persönlichkeit. Bonn Amerika- u. Technik-Kult findet sich in dem 1981. – Manfred Herfert: Der Schlesier A. U. Sein 1924 erschienenen Inflationsroman Das Tes- Leben u. sein Werk. Leverkusen 1988. – Robert Rduch: Poln. Motive im Werk v. A. U. In: Texte in tament (Mchn.). Kontexten. Hg. Robert Buczek, Carsten Gansel u. Doch die wichtigsten Stoffe lieferte dem Pawel/ Zimniak. Zielona Góra 2004, S. 177–191. – Autor sein Lehrerberuf: Die Romane Die Bärin Ders.: ›Aufhören zu radeln, das ist der Tod‹. Mo(Mchn. 1922) u. Aufruhr der Kinder (Bln. 1928) derne Taugenichtsfigur in der ›Der verwegene Besowie glänzend gebaute psycholog. Novellen amte oder Was ist die Freiheit?‹ v. A. U. In: Erin(Boykott. Scharlach. Lpz. 1930) spielen im nerte Zeit. FS Lothar Pikulik. Hg. Zygmunt MielSchulmilieu. U. gelang es hier beispielhaft, czarek. Tschenstochau 2006, S. 201–214. – Ders.: sich in die Seele junger Menschen zu versen- Unbehaustheit u. Heimat. Das literar. Werk von A. ken; er spürte den Grausamkeiten, Sprung- U. (1888–1971). Ffm. u. a. 2009. Klaus Völker haftigkeiten u. Verwirrungen von Schülergemütern nach u. zeigte die UnzulänglichkeiUllmann, Günter, * 4.8.1946 Greiz, † 9.5. ten oder hilflose Verständnisbereitschaft von 2009 Greiz. – Lyriker, Maler, KinderErwachsenen gegenüber den Nöten von Kinbuchautor. dern. Eine kompromisslose, böse Satire schrieb U. mit dem kom. Roman Worbs (Bln. U. legte 1966 sein Abitur ab. Er schlug sich 1930), der die Entwicklung eines biederen auf dem Bau durch, nachdem ihm das DDRBürgers vom Oberbuchhalter zum Moral- Regime den Weg für ein Kunststudium weüberwachungsoffizier schildert. Als Spießer gen seiner angeblich dekadenten Arbeiten zieht der Mann in den Weltkrieg, als ent- genauso versperrt hatte, wie sie die Aufnahhemmter Großkotz kehrt er heim: ein un- me an das Leipziger Literaturinstitut hinterfreiwilliger Prophet von dreistem Glücksrit- trieb. Das hielt U. allerdings nicht davon ab, tertum u. rücksichtsloser Bauchphilosophie. nebenbei zu malen u. zu schreiben; zudem Weitere Werke: Die vergessene Wohnung. wirkte er als Drummer, Texter u. Sänger in Mchn. 1915 (E.en). – Die Narrenkarosse. Ebd. 1916 der Beatles-orientierten Gruppe »gallow (N.n). – Der Arme u. das Abenteuer. Ebd. 1919 (L.). birds« (Galgenvögel), später zwangsweise – Die ernsthaften Toren. Ebd. 1922 (N.n). – Der umbenannt in »rats« u. schließlich in »media Lotse. Ebd. 1924 (L.). – Der verwegene Beamte oder nox« – der »sozialismusfremde, englische Was ist die Freiheit? Stgt. 1925 (E.). – Barbaren. Gesang« machte die Staatssicherheit auf ihn Mchn. 1926 (R.). – Christine Munk. Ebd. 1926 (R.). aufmerksam. Seine Proteste gegen den Ein– Der Bastard. Bln. 1927 (R.). – Der Schatzwächter. marsch der sowjetischen Truppen in Prag Ebd. 1928 (N.n). – Die Unmündigen. Grenzfälle aus dem Seelenleben Jugendlicher. Lpz. 1931 (N.n). – 1968 u. gegen die Vertreibung bzw. AusbürEroberer. Ebd. 1934 (R.). – Stationen der Liebe. Bln. gerung von Reiner Kunze u. Wolf Biermann 1935 (E.). – Der Gaukler v. London. Breslau 1938 brachten U. sogar Gefängnis u. psych. Re(R.). – Der wunderbare Sommer. Ebd. 1939 (R.). – pressalien ein. An den Vernehmungen zerDie Reise nach Kunzendorf. Ebd. 1940 (E.). – brach er, konfrontiert mit persönl. Interna, Hochzeit! Hochzeit! Merseburg 1940 (E.). – Der die sein Freund M. Böhme erspitzelt hatte. In verlorene Ring. Breslau 1941 (N.n). – September- der Folge litt er an Verfolgungswahn, vernacht. Ebd. 1941 (N.n). – Die graue Truhe. Ebd. suchte sich umzubringen u. landete kurzzei1942 (N.n). – Die Braut des Berühmten. Bln. 1942 tig in der Psychiatrie. Bis 1989 schrieb er 14 (R.). – Bitter-süße Bagatellen. Schloß Laupheim Bücher für die Schublade, die – sieht man von 1948 (E.en). – Das Teufelsrad. Ebd. 1949 (E.en). – Novellen. Ausgew. v. Angelika Spindler, mit Vorw. einer Gedichtpublikation in der West-Zeitschrift »L’80« im Jahr 1980 ab – erst nach der v. Egbert H. Müller. Würzb. 1988. Wende veröffentlicht wurden, welche er aktiv Literatur: Alois Maria Kosler: Das Bild des Menschen in der Dichtung v. A. U. Wangen 1958. – begleitete: »Ich weiß nicht, ob ich die DDR Marjatta Heiniemi: Über Schimpfnamen in dem länger überstanden hätte«, kommentierte er Roman ›Ararat‹ v. A. U. Germanistisches Institut. 2006 rückblickend in der »Süddeutschen Helsinki 1965. – Siegfried Haertel: A. U. – Lehrer u. Zeitung«. 1990 fand er eine Stelle bei der

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Stadtverwaltung seiner Heimatstadt, der er gen aus meinem Leben. Vechta 2004 (P.). – Die zeitlebens treu geblieben war, zuständig für Wiedergeburt der Sterne nach dem Feuerwerk. kulturelle Angelegenheiten. U. wurde mit der Ffm. 2008. – Die Vögel sind musikal. Leute. Vechta Bürgermedaille der Stadt Greiz (1996) u. der 2009. Literatur: Reiner Kunze: Begehrte, unbequeme Adolf-Mejstrik-Ehrengabe der Deutschen Freiheit. Interviews zu Fragen von [...] G. U. [u. a.]. Schillerstiftung (2004) ausgezeichnet. Hauzenberg 1993. – Udo Scheer: Der Greizer LyVon der Lyrik des bewunderten Reiner riker G. U. In: StasiSachen 4 (1993), S. 27–34. – Kunze beeinflusst, straft U. die Obrigkeit mit Volker Müller: Nicht einmal Strittmatter wollten lakon. Verachtung: »der winter / bleibt klein / wir gelten lassen. Begegnungen mit G. U. In: die sonne / hat vier ecken«. Rückzugsgebiete Palmbaum 7 (1999), S. 66–77. – U. Scheer: G. U. In: sieht er in Kinderbüchern meist geringen LGL. – Ders.: Horizont um den Hals. Der Greizer Umfangs, deren Gedichte vielfach in Antho- Lyriker G. U. In: Horch u. Guck 3 (2009), S. 50–53. Günter Baumann logien aufgenommen wurden: »Der April, der April / heißt Eulenspiegel, Till. / Er wirft dir Regen ins Gesicht, / doch selber wäscht er Ullmann, Regina, * 14.12.1884 St. Gallen, sich nicht« (Der Tintenfisch springt über die † 6.1.1961 Ebersberg/Obb.; Grabstätte: Klassenbänke. Ahlhorn 2001). Schonungslos u. Feldkirchen bei München, Friedhof. – mahnend setzt er sich dagegen in seinen Erzählerin u. Lyrikerin. kargen, eindringlich-surrealen Zeit- u. Liebesgedichten mit den Unbilden der Existenz, Die Tochter eines jüd. Kaufmanns österr. »den Horizont um den Hals« (1992), und der Nationalität u. einer dt. jüd. Mutter durchzwischenmenschl. Sprachlosigkeit, zgl. aber lebte eine schwere, durch den frühen Tod des auch mit der Sehnsucht nach Aufbruch aus- Vaters (1889), ein problemat. Verhältnis zur einander. Neben dem Stein ist das Licht eine Mutter u. durch schwere Entwicklungsstöimmer wiederkehrende Chiffre (Lichtschrei. rungen überschattete Kindheit. Ab 1902 lebGedichte aus drei Jahrzehnten. Pfaffenweiler ten Mutter u. Tochter in München, zeitweise auch in Wien, wo U. sich autodidaktisch 1995. Lichtzeichen. Gedichte aus drei Jahrzehnten. weiterbildete u. 1906 bzw. 1908 zwei TöchHg. Siegfried Heinrichs. Chemnitz/Bln. 1996. tern das Leben schenkte, deren Väter der Lichtstein. Gedichte aus drei Jahrzehnten. Dresden Wirtschaftswissenschaftler Hanns Dorn bzw. 1996. Steinlicht. Gedichte, Aphorismen, Epigramder Psychoanalytiker Otto Groß waren. me und kurze Prosa von 1966–2001. Ahlhorn Nachdem sie im Juni/Juli 1907 im »St. Galler 2002). Als Herausgeber setzte U. dem reTagblatt« mit den drei Prosatexten Sonntag in nommierten Lyrikzirkel seiner Heimatstadt der Schmiede, Mittagsstunde u. Kinderfest erstein Denkmal (Der Greizer Kreis. eine Anthologie mals an die Öffentlichkeit getreten war, puaus den 70er Jahren der ehemaligen DDR bis in die blizierte die 23-Jährige mit dem Einakter Gegenwart. Vechta-Langförden 2002. Schreiben Feldpredigt (Ffm. 1907), der Leidensgeschichte in Greiz. Eine Anthologie. Vechta 2005); als bileines gelähmten Knaben, der in der Feldardender Künstler, Maler expressiver Landbeit u. dem dadurch herbeigeführten Tod schaften u. konkreter Plastiker ist er noch zu Erlösung findet, ihr erstes Buch. Von der entdecken. Mutter bestärkt, sandte sie es im Frühling Weitere Werke: Stein-Schrei. Bln./Haifa 1990 1908 Rilke, der in der Folge in einen bis zu (L.). – Gegenstimme. Polit. Epigramme 1968–1988. seinem Tod fortgeführten Briefwechsel mit Bln./Haifa 1991. – Warum der Elefant so schöne ihr trat (s. Rainer Maria Rilke: Briefwechsel mit große Ohren hat. Reichenbach-Osterhofen 1993. – Regina Ullmann und Ellen Delp. Ffm. 1987), sie Die rote Sonne steht in der Tür. Reichenbach 1993 literarisch u. materiell förderte u. öffentlich (P.). – Kindergedichte. Bln./Haifa 1994. – Die Sonne taucht im Wassertropfen. Gedichte für Kinder. für sie eintrat. So schrieb er das Geleitwort zu Bucha 1998. – Gespräch der Seele mit sich selbst. ihrem ersten Prosaband, Von der Erde des Lebens In: Jürgen Serke: Zu Hause im Exil. Mchn./Zürich (Mchn. 1910), u. nahm maßgebl. Einfluss auf 1998, S. 331–351. – Mein Traumbaum. Ahlhorn Auswahl u. Gestaltung ihrer Gedichte (Lpz. 2000. – Schwarze Schafe lesen Camus. Erinnerun- 1919). Auf den Einfluss des Ehepaars Anna u.

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Ludwig Derleth dagegen ging ein anderes Ereignis zurück, das U. die Hinwendung zu der für ihr Werk äußerst bedeutsamen süddt. barocken Volksfrömmigkeit u. zur neutestamentl. u. mittelalterl. Hagiografie ermöglichte: die Konversion zum Katholizismus im Nov. 1911. Dem großen intellektuellen Freundeskreis, dem neben Rilke u. Derleth auch Lou Andreas-Salomé, Karl Wolfskehl, Rudolf Kassner, Hans Carossa, Arthur Schnitzler, Editha Klipstein, Albert Steffen, Eva Cassirer, Ellen Schachian-Delp sowie später Carl Jacob Burckhardt, Hermann Hesse u. Thomas Mann angehörten, war es zu verdanken, dass U. der Versuchung, populäre Heimatkunst zu schreiben, bei aller Gemeinsamkeit von bäuerl. Schauplatz u. Thematik widerstand u. unter enormen, zeitweise zum völligen Verstummen führenden Anstrengungen einem überaus hohen ästhetischen Ideal nachlebte. »In diesen kleinen Erzählungen ist alles das erreicht, wonach die falschen Volks- und Heimatdichter so sehr streben«, erkannte Hesse. »Es duftet nach Brot und Honig, [...] nach Stall und nach Volk; es wird von kleinen Leuten und Kindern erzählt, und alles ist voll Geheimnis.« Der hohen Wertschätzung, die sie in den 1920er u. 1930er Jahren dank ihrer Prosabände Die Landstraße (Lpz. 1921. Zuletzt Zürich 2007. Darin die von Rilke als ihre gültigste betrachtete Erzählung Von einem alten Wirtshausschild), Die Barockkirche (Zürich 1925), Vom Brot der Stillen (2 Bde., Erlenbach 1932) u. Der Apfel in der Kirche (Freib. i. Br. 1934) als heimat- u. traditionsverbundene christl. Dichterin von höchstem ästhetischen Niveau genoss, stand, der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt, ihr privates Schicksal einer materiell hilfsbedürftigen, psychisch labilen, der einengenden Fürsorge der Mutter ausgesetzten, künstlerisch verunsicherten Frau gegenüber. Mit der Mutter wohnte sie ab 1915 eine Zeit lang (wie später Rilke) in einem Turm in Burghausen/Salzach, wo sie sich als Gärtnerin u. Imkerin versuchte. 1917–1923 lebte sie – zunächst allein – in Mariabrunn bei München, wo eine Reihe ihrer erfolgreichsten Erzählungen entstand. 1923 erwarb die Mutter ein Haus in Planegg, das die beiden Frauen in der Folge aber nur selten bewohnten. Nach

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Rilkes Tod lebte U., eingeladen von Nanny Wunderly-Volkart, sechs Monate in Muzot; 1929 ermöglichte ihr die gleiche Mäzenin in Meilen am Zürichsee eine – allerdings nur kurzfristig wahrgenommene – Existenz als Herstellerin von bemalten Wachsfiguren. 1935 wurde U. aus dem dt. Schriftstellerverband ausgeschlossen, 1936 gab sie das Haus in Planegg auf u. übersiedelte nach Salzburg. 1938, nach dem Tod der Mutter u. nach dem »Anschluss« Österreichs, konnte sie noch kurz vor Einführung des fatalen J-Stempels mit Hilfe von Nanny Wunderly-Volkart die Schweiz erreichen u. zog sich in das von Nonnen geführte Marienheim in St. Gallen zurück, wo sie, 1950 ins Stadtbürgerrecht aufgenommen u. 1954 mit dem Kulturpreis geehrt, bis 1959 lebte. Ihre letzten Monate verbrachte sie unter der Obhut ihrer Tochter Camilla in Eglharting/Bayern. Die Rückkehr in die Schweiz u. die Beruhigung der äußeren Lebensumstände waren ihrer Produktivität förderlich gewesen, u. mit den insg. 19 erstpublizierten Erzählungen der Bände Der Engelskranz (Einsiedeln 1942), Madonna auf Glas (ebd. 1944) u. Schwarze Kerze (ebd. 1954) legte sie nochmals eine Serie eindringl., dichter Texte vor, die jenes Urteil bestätigten, das die »Schöne Literatur« bereits am 28.10.1922 über ihr Schaffen abgegeben hatte: »Regina Ullmann ist eine der ganz wenigen Frauen, die wirklich dichterische Kräfte haben. Sie erfindet nicht eigentlich, ist nicht eigentlich schöpferisch, aber sie erzählt die einfachsten Dinge [...] in unvergeßlicher Weise.« In Stein bedeutet Liebe (Zürich 2007) hat Eveline Hasler U. u. ihrer unglückl. Liebe zu Otto Groß ein eindringl. romanhaftes Denkmal gesetzt. Ausgaben: Ges. Werke. 2 Bde., Einsiedeln 1960. – Erzählungen, Prosastücke, Gedichte. Hg. Friedhelm Kemp. 2 Bde., Mchn. 1978 (um einen biogr.bibliogr. Anhang erw. Ausg. der Ges. Werke). – ›Ich bin den Umweg statt den Weg gegangen‹. Ein Lesebuch. Zusammengestellt u. mit einem biogr. Nachw. hg. v. Charles Linsmayer. Frauenfeld/Stgt./ Wien 2000. Literatur: Walter Tappolet: R. U. Eine Einf. in ihre E.en. St. Gallen 1955. – Ellen Delp: R. U. Eine Biogr. Einsiedeln 1960. – Werner Günther: R. U. In: Ders.: Dichter der neueren Schweiz. Bd. 2, Bern 1968, S. 542–580. – Don Steve Stephens: R. U.

Ulrich von Etzenbach Biography, Literary Reception, Interpretation. Diss. Austin/USA 1980. Charles Linsmayer

Ulrich von Etzenbach. – Romanautor des späten 13. Jh. In den Romanen Alexander u. Wilhelm von Wenden aus dem letzten Drittel des 13. Jh. nennt sich ein »Uolrîch von Etzenbach« als Autor. U. gibt an, in Böhmen geboren zu sein. Den Alexander begann U. um 1270 am Prager Hof unter Ottokar II.; nach dessen Tod wird sein Sohn Wenzel II. zum Adressaten. Die fast 30.000 Verse sind in elf teils fragmentar. Handschriften aus dem 14./15. Jh. überliefert, die sich in drei Fassungen gliedern lassen. Hauptquellen sind die Alexandreis Walthers von Châtillon u. für Buch 1 u. 10 die Fassung J2 der Historia de preliis. Im Gegensatz zu Walthers Alexanderbild, das vom Konzept der »translatio imperii ad Graecos« geprägt ist, nähert U. den Stoff dem höf. Roman an. Doch stilistisch neigt er, noch stärker als ohnehin im nachklass. Versroman üblich, zu Fragmentierung u. nichtlinearen Gestaltungsformen. In den einzelnen Episoden werden widersprüchl. Varianten des mittelalterl. Alexanderbildes präsentiert. U.s Alexander ist bald abschreckendes Beispiel für herrscherl. Hochmut, bald Werkzeug Gottes oder höf. Held. Der Erzähler stilisiert sich selbst als Lehrerfigur, bezieht sich aber seinerseits ehrfurchtsvoll auf Wolfram als Vorbild. Inhaltlich erscheint das Werk als Kompendium westl. Hofkultur: In ausführl. Minne- u. Turnierschilderungen werden ritterl. Rituale dem böhm. Publikum vorgeführt. Zugleich insistiert U. immer wieder darauf, dass sein Werk als Ergebnis eines Diskurses, fast als höf. Gemeinschaftsprodukt zu lesen sei. Eine Episode (Alexander, VV. 24.479–24.498) wird sogar ausdrücklich auf eine mündl. Erzählung durch den König selbst zurückgeführt. Auf diese Weise werden Erzähler u. Publikum zu einer Gemeinschaft integriert, die Anspruch auf Teilhabe an westlichen höf. Diskursen u. deren herrschaftslegitimierender Kraft erheben kann. Entscheidend ist dafür die Kompetenz zur korrekten Einhaltung ritterl. Normen, die anhand immer neuer Episoden der Alexan-

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dergeschichte beispielhaft vorgeführt wird. Dieses didakt. Programm ist im 10. Buch ergänzt durch ein Panorama exotischer Gegenwelten, mit denen die höf. Reisenden sich auseinanderzusetzen haben. So dient die Erzählung als »exemplum« für die Gegenwart – insbes. durch die immer wieder vollzogene Identifikation Alexanders mit Ottokar II. Selbst wenn mit dessen Tod auf dem Marchfeld die polit. Intention des Werks obsolet wurde, fungiert der Makedonenkönig auch für Wenzel II. als »exemplum morale«. Vielleicht veranlasst durch U.s Tendenz zur ausführl. »historiographischen« Berichterstattung, wurden in der ersten Hälfte des 14. Jh. mehrere Passagen des Alexander in die Weltchronik-Kompilation Heinrichs von München eingefügt. Drei Alexander-Handschriften enthalten einen Anhang (2100 Verse) über Belagerung u. Übergabe der Stadt Tritonia. Alexanders Angriff scheitert zunächst daran, dass die Tritonier, die eine Art »stadtgewordene Universität« bewohnen, mit Hilfe ihres gelehrten Wissens seine Belagerungstechniken wirkungslos machen. Der König wendet sich an seinen alten Lehrer Aristoteles u. erhält von ihm den Rat, seinen Machtanspruch argumentativ zu begründen. So ergibt sich schließlich eine einvernehml. Lösung. Der Text propagiert städt. Selbstbewusstsein u. ein Herrschaftsmodell adliger Mitregentschaft, wie es ansatzweise seit der Mitte des 13. Jh. in der landständ. Bewegung Böhmens existierte. Der Anhang ist dem böhm. Hochadligen Borso II. von Riesenburg gewidmet, in dem U. vielleicht einen neuen Gönner fand. Noch deutlicher auf die Premysliden u. die Situation Böhmens im 13. Jh. bezogen ist der um 1290 für Wenzel II. geschriebene Wilhelm von Wenden: Auf der Reise des Heidenfürsten Wilhelm von Wenden ins Hl. Land gebiert seine Frau Bene Zwillingssöhne, die an christl. Kaufleute verkauft werden. Die Mutter bleibt in einer Nachbarstadt zurück; Wilhelm lässt sich in Jerusalem taufen u. kämpft als Kreuzritter. Auf der Heimfahrt trifft er – unerkannt – Bene, inzwischen Herrin ihres Gastlandes, u. unterrichtet sie im Glauben; in zwei Räubern erkennt er seine Söhne u. er-

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wirkt ihre Begnadigung. Schließlich erken- In: Philologica Pragensia 33 (1990), S. 10–20. – nen u. versöhnen sich Eltern u. Kinder; alle Benedikt Konrad Vollmann: U. v. E., Alexander. In: Anwesenden werden getauft; Wilhelm re- Positionen des Romans im späten MA. Hg. W. giert als christl. Fürst das um Benes Land er- Haug u. Burghart Wachinger. Tüb. 1991, S. 54–66. – H.-J. Behr: U. v. E. In: VL. – Hartmut Kugler: weiterte Wenden u. dehnt seine Herrschaft Alexander u. die Macht des Entdeckens. Das 10. von Dänemark bis Italien aus. Der Bezug auf Buch im Alexanderroman U.s v. E. In: Eastern and die Familie Wenzels II. ist offenkundig. Western Representations of Alexander the Great. Schon in der z. T. wörtlich Wolframs Wille- Hg. Margart Bridges u. J. Christoph Bürgel. Bern halm-Prolog aufnehmenden Vorrede deutet 1996, S. 27–44. – Birgit Meineke: Krakauer NeuU. »Bene« als Latinisierung von »Guta« fund zum Alexanderroman des U. v. E. Gött. 1999. (Tochter Rudolfs von Habsburg u. Gattin – Ruth Finckh: U. v. E. ›Alexander‹: Ein böhm. Wenzels, die 1289 die Zwillinge Wenzel u. Lehr-Stück. In: Alexanderdichtungen im MA. Hg. Agnes gebar). »Wenden« ist nach Böhmen Jan Cölln, Susanne Friede u. Hartmut Wulfram. lokalisierbar: Der Roman, den »Heinrich der Gött. 2000, S. 355–406. – Markus Stock: Vielfache Erinnerung. Universaler Stoff u. partikulare BinWalch« (v. 85) – wohl Henricus Italicus (de dung in U.s v. E. Alexander. In: ebd., S. 407–448. – Isernia), Pronotar der böhm. Kanzlei – in R. Finckh: Vom Sinn der Freiheit. U.s v. E. ›AlexAuftrag gab, ist als Propagandaschrift zu le- ander-Anhang‹ u. der zeitgenöss. Macht-Diskurs. sen, die den böhm. Führungsanspruch im In: Herrschaft, Ideologie u. Geschichtskonzeption slaw. Raum bekräftigen soll, wobei Wilhelm in Alexanderdichtungen des MA. Hg. Ulrich Mölk. als Instrument göttl. Weltplanung fungiert. Gött. 2002, S. 358–411. – Petra Hörner: IdentiHat U. sich selbst schon ausdrücklich in die tätsfindung in U.s v. E. ›Wilhelm von Wenden‹. In: Nachfolge Wolframs gestellt, so wurde der Böhmen als ein kulturelles Zentrum dt. Lit. Hg. Alexander bereits im 13. Jh. als dessen Werk dies. Ffm. u.a. 2004, S. 45–62. – Ernst Erich Metzrezipiert: Der Redaktor einer schwäb. Hand- ner: Frühmittelalterl. Faktizitäten im slawisch-dt. ›Wilhelm von Wenden‹. In: Dt. Lit. des MA in u. schriftengruppe hat alle Hinweise auf Wolfüber Böhmen II. Hg. Vaclav Bok u. H.-J. Behr. Hbg. ram getilgt, U.s Selbstnennungen durch 2004, S. 73–110. Norbert H. Ott / Ruth Finckh »Wolfrat von Eschebach« ersetzt u. den Text so an die geläufige Wolfram-Rolle angeschlossen. Ulrich von Gutenburg. – Lied- u. LeichUnwahrscheinlich ist die Zuschreibung der dichter, Ende des 12. Jh. (?). »höfischen« Fassung D des Herzog Ernst an U. (Rosenfeld 1929); v. a. die betont antikaiserl. Aufgrund der mögl. literar. Bezüge zu Tendenz des Werks macht sein Entstehen am Friedrich von Hausen u. seinem Kreis könnte böhm. Hof in der Zeit engen Einvernehmens der Sänger mit dem 1172–1186 in ital. Urzwischen Wenzel II. u. Otto von Habsburg kunden des Mainzer Erzbischofs Christian, Kaiser Friedrichs I. u. König Heinrichs VI. schwer vorstellbar. Ausgaben: Alexander. Hg. Wendelin Toischer. mehrfach bezeugten Ulrich von Gutenburg Tüb. 1888. Neudr. Hildesh. 1974. – Wilhelm v. identisch sein. Ob dieser U. einer der von der Wenden. Hg. Hans-Friedrich Rosenfeld. Bln. 1957. Forschung in Betracht gezogenen Familien Literatur: Hans-Friedrich Rosenfeld: Herzog dieses Beinamens angehörte (vgl. Schweikle, Ernst D u. U. v. E. Lpz. 1929. Neudr. New York S. 524 f.), konnte noch nicht zweifelsfrei ge1967. – Norbert H. Ott: U.s v. E. Alexander illus- klärt werden; eine eindeutige Identifikation triert. In: Zur dt. Lit. u. Sprache des 14. Jh. Hg. des Dichters steht noch aus. Unter dem NaWalter Haug u. a. Heidelb. 1983, S. 155–172. – men überliefert die Weingartner LiederhandTrude Ehlert: Deutschsprachige Alexanderdich- schrift (B) ein sechsstrophiges Lied, die Große tung des MA. Ffm./Bern/New York 1989, Heidelberger Liederhandschrift (C) einen Leich u. S. 129–201. – Hans-Joachim Behr: Lit. als Machtdie in B aufgenommenen Strophen mit z.T. legitimation. Mchn. 1989, S. 143–206, 225–234. – Claudia Medert: Der Alexander U.s v. E. Gött. 1989. verbesserten Reimen. Auf weitere, uns nicht – Werner Schröder: Die Rolle der Mäzene u. der erhaltene Dichtungen bezieht sich vielleicht wahre Patron des U. v. E. In: ZfdA 118 (1989), eine Stelle des Liedes (3,7: »swie vil ich doch S. 243–279 – Emil Skála: Wilhelm v. Wenden [...]. gesanc«).

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Während die reim- u. verstechn. Kunstfertigkeit des Leichs sich von der Formtechnik des Liedes abhebt, die v. a. in der Fassung B Minneliedern der Frühzeit nahesteht, wird in der sprachl. u. motivl. Gestaltung eine gemeinsame Grundtendenz sichtbar, auch wenn das Lied stilgeschichtlich früher einzuordnen ist. Geht man mit Sayce von einer Datierung des Leichs erst im späten 13. Jh. aus, wird die gleichzeitige Autorschaft U.s für beide Dichtungen fraglich. Das Lied, eine Minneklage mit sechs Stollenstrophen aus Fünfhebern, wurde früher als eine Reihe von Einzelstrophen aufgefasst, doch sprechen die formalen Bindungen zwischen den Strophen für eine liedhafte Einheit wenigstens der ersten fünf Strophen, während Strophe 6 – mit abweichender Reim- u. Kadenzgestaltung – urspr. selbstständig gewesen sein könnte. Das Lied zeigt den gleichen Strophenrahmen u. das gleiche Reimschema wie ein Lied des Trouvère Blondel de Nesle (um 1200), mit dem es auch aufgrund zweier motivl. Bezüge – die von den Augen der Dame geschlagene Wunde u. die Augen der Angebeteten als Rute – in Beziehung gesetzt wird. Typische Motive des Hohen Sangs (Kontrast zwischen der Sommerfreude u. der geringen Hoffnung des Liebenden, standhaftes Beharren auf treuem Dienst) sowie die formale u. sprachl. Gestaltung sprechen für eine Zugehörigkeit des Sängers zum sog. rheinischen Hausenkreis u. legen eine Datierung dieser Strophen gegen Ende des 12. Jh. nahe. U.s Leich, eine umfangreiche, virtuose Komposition von rund 340 Versen, gilt als der älteste uns bekannte dt. Minneleich (anders Sayce). Er besteht aus einem doppelten Kursus mit je sechs Abschnitten, die in verschiedene Versikel zerfallen; die Formstrukturen des ersten Kursus werden im zweiten bei jeweils abweichender Versikelzahl aufgegriffen. U. verwendet Zwei-, Drei- u. Vierheber u. setzt Paar-, Kreuz-, Reihen- u. Zwischenreim ein. Die Einleitungsformel im lat. Briefstil, der Einsatz des »ornatus difficilis« u. die exempla aus der höf. Literatur stellen die Bildung des Dichters unter Beweis. U. greift typische Themen des Hohen Sangs auf: Im Mittelpunkt steht das Werben des Sängers

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um die sich versagende Dame, wobei U. auch von anderen rheinischen Sängern des Hausenkreises verwendete Motive wie Liebeskrieg oder Wendung gegen die Neider einsetzt. Der Leich schließt mit einer Beteuerung der absoluten Abhängigkeit des Liebenden von seiner Dame. Darüber, ob der Leich, für den romanische Beziehungen nachgewiesen sind, auf das Vorbild Hausens zurückgeht, den Der von Gliers in seinem dritten Leich neben U. unter anderen als Leichdichter preist, lassen sich nur Vermutungen anstellen, da von Hausen kein Leich überliefert ist. Für die Bekanntheit des Sängers sprechen nicht nur die Aufnahme seiner Dichtungen in die großen Liederhandschriften um 1300, sondern auch mehrere Dichterzeugnisse: Außer bei Dem von Gliers wird U. in einer Reinmar von Brennenberg zugeschriebenen Strophe u. in Der Crône Heinrichs von dem Türlin zusammen mit anderen bedeutenden mhd. Dichtern lobend erwähnt. Ausgaben: Minnesangs Frühling 1 (38. Aufl.), S. 150–165 (zitiert). – Günther Schweikle (Hg.): Die mhd. Minnelyrik 1. Darmst. 1977, S. 284–315, 524–537 (mit nhd. Übertragung u. Komm.). Literatur: Bibliografie: Tervooren, S. 67 f. – Weitere Titel: Hans Spanke: Zur Gesch. der lat. nichtliturg. Sequenz. In: Speculum 7 (1932), S. 367–382. – Hugo Kuhn: Minnesangs Wende. Tüb. 21967, S. 136 f. – H. Spanke: Romanische u. mlat. Formen der Metrik v. Minnesangs Frühling. In: Der dt. Minnesang. Hg. Hans Fromm. Darmst. 5 1972, S. 255–329, hier S. 300 f. (zuerst 1929). – Ursula Aarburg: Melodien zum frühen dt. Minnesang. In: ebd., S. 378–421, hier S. 389, 396, 405 (zuerst 1956/57). – Minnesangs Frühling 2, S. 83–85. – Olive Sayce: The Medieval German Lyric 1150–1300. Oxford 1982, S. 128–130, 371–407 u. passim. – Manfred Eikelmann: Denkformen im Minnesang. Tüb. 1988 (Register). – Eva Willms: Liebesleid u. Sangeslust. Mchn. 1990 (Register). – Hermann Apfelböck: Tradition u. Gattungsbewußtsein im dt. Leich. Tüb. 1991 (Register). – Helmut Tervooren: U. v. G. In: VL. – Uwe Meves: Der Minnesänger U. v. G.: zur Problematik seiner histor. Bezeugung. In: Vom MA zur Neuzeit. FS Horst Brunner. Hg. Dorothea Klein u. a. Wiesb. 2000, S. 49–72. Claudia Händl

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Ulrich von Liechtenstein, * um 1200/10, † 26.1.1275; Grabstätte: Johanneskapelle des Chorherrenstifts Seckau. – Landespolitiker u. Verfasser von Minneliedern, -lehren u. einer fiktiven Minnedienerautobiografie. U. v. L. wurde zwischen 1200 u. 1210 als eines von fünf Kindern Dietmars III. von Liechtenstein (urk. 1164–1218) u. seiner Frau Gertrud geboren. Die Landesministerialen »de Liechtenstein« stammen von der edelfreien Familie der Traisen-Feistritzer ab u. zählen zu den einflussreichsten Landherren der Steiermark. U. war verheiratet mit Perchta von Weitzenstein aus Kärnten u. hatte vier Kinder. Seine politisch umfassende Tätigkeit spiegelt sich in überaus reichen urkundl. Belegen u. bedeutenden Funktionen in der Landespolitik der Steiermark, Österreichs, Kärntens u. Krains. U. wird zwischen 1227 u. 1274 in 94 Urkunden genannt u. hat bedeutende polit. Ämter inne: 1244/45 ist er als Truchsess der Steiermark bezeugt, von 1267 bis 1272 ist er Marschall u. 1272 zudem Landrichter. Die zahlreichen Bezeugungen U.s enthalten keinerlei Informationen über den Minnelieddichter u. den Verfasser der Werke Frauendienst (FD) u. Frauenbuch (FB). Der FD ist in drei Handschriften (einer vollständigen u. zwei Fragmenten) um 1300 überliefert, was für ein rein zeitgenöss. Interesse spricht. Die Lieder finden sich zudem in der Großen Heidelberger Liederhandschrift (C) aus dem Anfang des 14. Jh. Das FB ist unikal im spätmittelalterl. Ambraser Heldenbuch (1504–1516/17) erhalten. Der FD ist eine fiktive Autobiografie in 1850 Strophen zu acht Reimpaarversen; er wurde nach Angaben der Figur »Ulrich« 33 Jahre nach seiner Schwertleite, d.h. 1255 beendet. In die Erzählung sind 57 Lieder, ein Leich, sieben Briefe – fünf in Versen, zwei in Prosa – u. drei ›Büchlein‹ inseriert. Es handelt sich um eine Gattungsmischung mit zeitgeschichtl. Einbindung. Der Erzähler nennt 172 histor. Personen zumeist aus dem österreichisch-steirisch-kärnt. Landadel u. eine Reihe topografischer Begriffe derselben Region. Datierbare Ereignisse sind die Hochzeit der

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Fürstentochter Agnes 1222, die den Rahmen für die Schwertleite des Protagonisten »Ulrich« abgibt, u. der Tod Herzog Friedrichs II. von Österreich am 15.6.1246. Der Dichter U. v. L. lässt einen Ich-Erzähler das Leben »Ulrichs« als Minneritter erzählen, das seinen Ausgang nimmt vom Knappendienst bei einer namenlosen adligen Dame. Nach seiner Schwertleite trägt er ihr den Dienst als Minneritter an. Die Dame lehnt ab, aber »Ulrich« setzt seinen doppelten Dienst als Turnierritter u. Verfasser von Briefen, Minnetraktaten u. Liedern fort. Markante Stationen seines Dienstes für die erste Dame sind die Mundoperation, der er sich unterzieht, weil der Dame sein Mund missfällt, u. wenig später eine Fingeramputation infolge eines im Kampf verletzten Fingers. Diese medizinisch nicht indizierte Amputation zelebriert »Ulrich« als Minneopfer u. sendet seiner Dame den abgeschnittenen Finger im Corpus eines Büchleins als Minnereliquie zu. Ritterlicher Höhepunkt des ersten Dienstes ist eine Turnierfahrt, die »Ulrich« in der Verkleidung der Königin Venus von Venedig über Wien bis nach Böhmen unternimmt. Als Lohn gewährt ihm seine Dame ein Treffen auf ihrer Burg, auf das er zwei Tage lang, getarnt als Aussätziger, unter Aussätzigen warten muss. Schließlich ist es soweit, u. der Minnediener wird an Bettlaken zum Burgfenster hinaufgezogen. Als »Ulrich« – vermeintlich am Ziel seiner Wünsche – auf seinem Minnelohn insistiert, entledigt sich die Dame seiner durch eine List. Nach einer kurzen Lebenskrise nimmt »Ulrich« sein Minnewerben in der alten Form wieder auf. Aufgrund einer nicht näher bezeichneten »untât« der Dame kündigt er ihr in Str. 1365 den Dienst auf. Nach einer Zeit des Dichtens als »vrowen vrier man« (1375, 4) sucht »Ulrich« sich eine neue Minnedame, der er nun Liedkunst u. Ritterschaft widmet. Er begibt sich, als König Artus verkleidet, auf eine zweite Turnierfahrt, die ihm ähnl. Erfolg wie die Venusfahrt einbringt, bis er sie aufgrund polit. Konflikte abbrechen muss. Negative Ereignisse wie der Tod des Herzogs von Österreich u. »Ulrichs« Gefangenschaft trüben das epische Geschehen gegen Ende des FD immer mehr ein,

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während Lieder u. Lehren zunehmen u. das Minnerede, der ein Zwischenstadium zwidüstere Bild durch einen freudebringenden schen Minnelehre u. Minnerede markiere, oder auch als Sonderfall. Das FB enthält ein Minnedienst konterkarieren. Der FD ist erstens ein hybrider Text, eine Streitgespräch zwischen Ritter u. Dame um Montage aus literar. Topoi, Motiven, Formen den Verlust von »vreude« in der höf. Gesellu. Gattungen. Er ist zweitens die als wahr schaft. Im folgenden analysieren die beiden suggerierte, im Verlauf des ersten Dienstes oft Gesprächspartner, wie es dazu kam u. ob komisch gestaltete Autobiografie des Ritters Männern oder Frauen die größere Schuld u. Minnedieners »Ulrich«. Drittens versam- gebührt; d.h. die Disputanden üben deutlimelt der Dichter Ulrich von Lichtenstein im che u. zwar geschlechtsspezif. GesellschaftsFD seine Minnesangproduktion vollständig kritik. Nach diesem dialogischen u. recht u. konstruiert für sie einen epischen Rahmen. gleichberechtigten Schlagabtausch mündet Am ehesten erinnert diese Machart an alt- das FB in eine Minnelehre für Frauen ein, die provenzalische ›vidas‹ (fiktive Lebensbe- bei aller Konventionalität doch eine Besonschreibungen) u. ›razos‹ (Liedkommentare), derheit aufweist: sie verbindet Minne- u. die von den Trobadors als Vorspiel zu ihren Ehelehre miteinander. Außer Dialog u. Rede Liedern entworfen wurden u. in denen sie lyr. weist der Text noch ein drittes StruktureleMotive als wahre Erlebnisse ausgaben. Vier- ment auf: einen epischen Rahmen, der allertens wählt der Dichter für seine Erzählung dings mehr angedeutet als ausgeführt ist: Der die Ich-Perspektive. Und fünftens kongruiert Ich-Erzähler »von Liechtenstein herr Ulrich« die beschriebene Welt des Spiels nicht mit der (v. 1828) belauscht heimlich den Disput des historisch-polit. Realität, setzt sich aber in Paares, um am Ende als Minnekundiger den Streit zu schlichten u. hinüberzuführen in Beziehung zu ihr. Die Addition dieser Merkmale macht den einen allgemeinen Frauenpreis. Frauendienst zu einem singulären Phänomen Ausgaben: U. v. L. Mit Anmerkungen v. Theoder europ. Literaturgeschichte des 13. Jh. dor v. Karajan. Hg. Karl Lachmann. Bln. 1841. Während man früher versuchte, den FD als Nachdr. Hildesh. 1974. – Frauendienst. Hg. ReinMinnesängerbiografie zu lesen, später dann hold Bechstein. Lpz. 1888. – Frauendienst. Hg. 22003 (zit.). – FrauDichtung u. Wahrheit des Textes auseinan- Franz Viktor Spechtler. Göpp. 2 derzudividieren u. ihn als Dokument der enbuch. Hg. ders. Göpp. 1993. – Frauenbuch. Hg., Sozialgeschichte auszuwerten oder auch die übers. u. komm. v. Christopher Young. Stgt. 2003 (zit.). – Lieder u. Leich: KLD I, S. 428–494. – Überdidakt. Interessen einer Minnelehre zu betosetzungen: Frauendienst. Roman. Aus dem Mhd. ins nen, fokussiert die Forschung heute den ex- Nhd. übertragen v. F. V. Spechtler. Klagenf. 2000. ponierten Fiktionalitätscharakter u. die VielLiteratur: Jan-Dirk Müller: U. v. L. In: VL (Lit. falt der Kommunikationsmodelle, die der bis 1994). – Sandra Linden u. Christopher Young Text im Spannungsfeld von Mündlichkeit, (Hg.): U. v. L. Leben – Zeit – Werk – Forschung. Schriftlichkeit u. Körperlichkeit durchspielt. Bln./New York 2010 (grundlegendes Handbuch Dem FB, einem minnedidakt. Werk in 2134 mit kommentierter Bibliografie). Reimpaarversen, hat der Dichter im Epilog Karina Kellermann eine relative Datierung »dô was ich vünf und drîzec jâr / ritter ritterlîch gewesen« (v. 2108 f.) u. den Titel »vrouwen buoch« Ulrich von Pottenstein, * um 1360, (v. 2125) mitgegeben. Glaubt man dieser † Ende 1416 oder 1417. – Verfasser kateAussage, ergibt sich durch die Datierung der chetischer Prosa u. Übersetzer von Fabeln. Schwertleite Ulrichs im FD (s. o.) das Jahr 1257 für die Fertigstellung des FB. In der U. wirkte als Kaplan der Wiener Herzogin Forschungsgeschichte zu U. v. L. hat das FB Beatrix, der Frau Albrechts III. von Österstets im Schatten des so irritierenden u. des- reich. Um 1390 übernahm er die Pfarre Pothalb zu Deutungen animierenden FD ge- tenstein südwestlich von Wien u. trat dem standen. Der Text gilt gemeinhin als Vorläu- Wiener Domkapitel von St. Stephan bei. 1404 fer oder früher Repräsentant der Gattung u. 1406 ist er als Pfarrer in Mödling bezeugt;

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seit ca. 1411 war er Dekan in Enns-Lorch bei Hlawatsch: Das katechet. Werk U.s v. P. Tüb. 1980 (S. 144–357: Ed. v. Kap. 22 u. Gesamtregister des Linz. U. ist einer der bedeutendsten Repräsen- katechet. Werks). – Ulrike Bodemann: Die Cyriltanten der »Wiener (Übersetzer-)Schule«. Von lusfabeln u. ihre dt. Übers. durch U. v. P. Untersuchungen u. Editionsprobe. Mchn. 1988. – G. seinen beiden deutschsprachigen Werken ist Baptist-Hlawatsch: Dekalog-Auslegung: Das erste die kaum näher datierbare vierteilige Kate- Gebot. Text u. Quellen. Tüb. 1995. – Helmut Puff: chismus-Summe für »die frumen vnd verstan- ›Allen menschen nuczlichen‹. Publikum, Geden layen« das bedeutendere: Als umfang- brauchsfunktion u. Aussagen zur Ehe bei U. v. P. reichstes dt. Summenwerk des MA besteht sie In: Text u. Geschlecht. Mann u. Frau in Eheaus der Auslegung des Pater noster schriften der frühen Neuzeit. Hg. Rüdiger Schnell. (Kap. 1–13), des Ave Maria (Kap. 14–20), des Ffm. 1997, S. 176–196. – G. Baptist-Hlawatsch u. Credo (Kap. 21–42), des Magnificat u. Deka- U. Bodemann: U. v. P. In: VL. – Sabine Obermaier: logs (Kap. 47–70). Kein einziger der elf be- Zum Verhältnis v. Titelbild u. Textprogramm in deutschsprachigen Fabelbüchern des späten MA u. kannten Textzeugen tradiert das an Exkursen der frühen Neuzeit. In: Gutenberg-Jb. 77 ( 2002), reiche Riesenopus vollständig – es würde S. 63–75. – Zeman Gesch. Bd. 2/2, 2004, S. 218–225 1200 eng beschriebene Folioblätter umfassen. u. ö. Walter Buckl / Red. Die Hauptanliegen des zur fortlaufenden Lektüre wie als Nachschlagewerk nutzbaren Buchs waren Laienunterweisung u. Ketzer- Ulrich von Richental ! Richental, Ulbekämpfung. Es entstand teils auf Anregung rich von Reinprecht II. von Wallsee, Hauptmann ob der Enns u. ab 1412 Hofmeister Albrechts Ulrich von Singenberg, Truchsess zu St. V. u. verspricht seinem Leser eine Kontrast- Gallen. – Zwischen 1209 u. 1228 bezeuglektüre zur Heldenepik der »rekchen stre- ter Schweizer Lieddichter. ytpücher«, nämlich eine Lehre u. Anleitung zum »nucz deiner sele, deines hayles vnd der Der Sänger, der in den Handschriften ohne ewigen selichait, wie du die gewinnen vnd Angabe des Vornamens als Truchsess von St. erstreyten mügest«. Als Übersetzer favorisiert Gallen bzw. als Truchsess von Singenberg U. eine freie Sinnübertragung (»umbred/ge- bezeichnet wird, kann mit Ulrich III. von main dewtsch«) gegenüber dem eng an Stil u. Singenberg identifiziert werden, der einer Ministerialenfamilie mit Syntax des Latein orientierten »aygen dewt- angesehenen Stammsitz im Thurgau angehörte, die Besch«. U.s mit 19 Handschriften breiter überlie- ziehungen zum Stauferhof unterhielt. Zwiferte Übersetzung der Cyrillus-Fabeln fällt in schen 1209 u. 1219 folgte Ulrich III. seinem seine Amtszeit zu Enns. Er bearbeitete damit Vater im Truchsessenamt des Klosters St. ein im SpätMA beliebtes lat. Werk (über 150 Gallen nach. 1228 ist er zum letzten Mal urerhaltene Handschriften ab 1337–1347) eines kundlich bezeugt. Man vermutet, er sei bald nicht identifizierbaren Verfassers. Diese erste nach Walther von der Vogelweide, dem er deutschsprachige Prosafabelsammlung des einen Nachruf widmete (Nr. 20 V), gestorben. U.s Œuvre ist in den um 1300 entstandeMA wirkte auf den Meistersänger Daniel Holzmann (Versifizierung 1571) wie auch nen drei großen alemann. Liederhandschrifüber Anton Sorgs Augsburger Druck von ten überliefert: Die meisten seiner Strophen 1490 (u. d. T. Buch der natürlichen Weisheit) auf gelangten aus gemeinsamen Quellen in die Große (C) u. Kleine Heidelberger Handschrift (A), Hans Sachs. davon einige auch unter anderen SängernaLiteratur: Georg Scharf: Proben eines krit. men, während die Weingartner Handschrift (B) Textes der dt. Cyrillusfabeln des U. v. P. In: ZfdPh 59 (1935), S. 147–188. – Gerold Hayer: U. v. P. (ca. nur wenige Strophen U.s enthält. Zu den 1360–1429). Paternoster-Auslegung. Nach der Hs. Strophen sind keine Melodien überliefert, a X 13 des Erzstiftes St. Peter zu Salzburg krit. hg. doch lassen sich in einigen Fällen bekannte u. eingel. Diss. masch. Salzb. 1972 (mit Ed. v. Spruchtöne der Zeit unterlegen (Nr. 28: Kap. 1–13 des katechet. Werks). – Gabriele Baptist- Reinmars von Zweter Frau-Ehren-Ton; Nr.

Ulrich von Singenberg

29/29a: Walthers König-Friedrich-Ton; dazu vielleicht Nr. 27: Gautiers d’Espinau Amours et bone volontés; vgl. auch Walthers Vokalspiel 75,25). Die meisten der überlieferten Strophen, die Schiendorfer in 36 Lieder u. Strophenreihen gruppiert (Nr. 6, 15, 20, 26 u. 29 in Parallelfassungen), sind stollig gebaut; unstollig sind Nr. 27 u. 34. U. ist v. a. Minnesänger, doch hat er auch eine Anzahl von Spruchstrophen verfasst (vgl. Nr. 16, 28, 29, 30, 31 u. 35), in die er neben allg. religiösen, moralischen u. gesellschaftl. Themen auch aktuelle polit. Konstellationen im Reich einbezieht, ohne dass man allerdings die genaueren Ereignisse eindeutig festlegen könnte. Die polit. Strophen zeigen U. unter anderem im Umkreis seines Lehnsherrn, des Abtes von St. Gallen, u. König Heinrichs VII. Originell ist die Umkehrung der in der Spruchdichtung verbreiteten Klage des Fahrenden in Nr. 29 III/29a mit ihrer Vermischung der Rollen des Spruchdichters, des Minnesängers u. des biogr. Ichs: Anders als sein »meister [...] von der Vogelweide« ist der Sänger »wirt« ohne wirtschaftl. Sorgen, der sich ganz dem Singen »von der heide und von dem grüenen klê« (29 III/9) widmen kann. In dieser Rollenvermischung kann man eine Anspielung auf die Biografie U.s sehen, eines der ersten nichtprofessionellen deutschsprachigen Sängers – wenn nicht des ersten überhaupt –, der sich gleichzeitig Minnesang u. Sangspruchdichtung widmete. Auch an anderen Stellen wird die Sängertätigkeit in Verbindung mit biogr. Anspielungen thematisiert, so etwa scherzhaft das Singen im Dienst einer höf. Dame in Nr. 22, wo auf traditionelle Minnestrophen ein Dialog zwischen Rüedelîn, dem Sohn des Sänger-Ichs (VI), u. einem nicht näher bestimmten Sprecher (VII) folgt: Der Sohn möchte der Dame an Stelle des Vaters dienen, was ihm unter Hinweis auf sein ungehobeltes Wesen verweigert wird. Da U. einen Sohn namens Rudolf hatte, kann man auch diese Stelle als Spiel mit autobiogr. Versatzstücken sehen. Neben polit. Thematik (insbes. in Nr. 30, aber auch in Nr. 29) hat U. mit den Strophenreihen Nr. 16 u. Nr. 35 auch religiöse Dichtung in seinem Repertoire.

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Als Minnesänger steht U. in der Tradition des klass. Hohen Sangs, über dessen Formen, Motive u. Rollen er souverän, bis zur parodistischen Umgestaltung, verfügt. Neben der traditionellen Minnekanzone mit Dienstu. Werbethematik hat U. weitere, bisweilen experimentell variierte Liedtypen in seinem Repertoire: so die Dialoglieder Nr. 5, 24 u. 36 u. die Lieder mit Tageliedszenerie Nr. 7 (mit Refrain) u. 12. Auch wenn der Einfluss Reinmars des Alten u. Walthers auf U. unverkennbar ist, so ist er doch kein bloßer Nachahmer, sondern erweist sich gerade in den Bezügen zu Walther als subtiler Parodist mit durchaus originellen Zügen nicht nur inhaltl., sondern auch formaler Art. Als solcher war er auch seinen Dichterkollegen ein Begriff, wie die anerkennenden Worte in einer Reinmar von Brennenberg zugeschriebenen Strophe (Mitte des 13. Jh.?) zeigen: »von Sante Gallen friunt, dîn scheiden tuot mir wê: / du riuwes mich, dîns schimpfes manger kunde wol gelachen.« Ausgabe: Max Schiendorfer (Hg.): Die Schweizer Minnesänger. Bd. 1: Texte. Tüb. 1990, S. 88–138, 397 f., 403, 405 (Melodien). Literatur: B. Kuttner: Zu U. v. S. In: ZfdPh 14 (1882), S. 466–479. – Karl Bartsch (Hg.): Die Schweizer Minnesänger. Frauenfeld 1886. Nachdr. Frauenfeld/Darmst. 1964, S. XXVI–XLIII. – Wilhelm Stahl: U. v. S., der Truchseß v. St. Gallen. Diss. Rostock 1907. – Emil Ploss: Walthers Spruch 28,1–10 u. die Parodie des S. In: FS Hans Eggers (= PBB [Tüb.] 94, Sonderheft [1972]), S. 577–596. – Ulrich Müller: Untersuchungen zur polit. Lyrik des dt. MA. Göpp. 1974, S. 56–59 u. passim. – Eugen Thurnher: König Heinrich (VII.) u. die dt. Dichtung. In: Dt. Archiv zur Erforsch. des MA 33 (1977), S. 522–541, bes. S. 527, 535 f. – KLD 2, S. 610, 615 f. – Olive Sayce: The Medieval German Lyric 1150–1300. Oxford 1982 (Register). – Viola Bolduan: Minne zwischen Ideal u. Wirklichkeit. Ffm. 1982, S. 51–58, 142–162. – Max Schiendorfer: U. v. S., Walther u. Wolfram. Bonn 1983. – Ders.: Beobachtungen zum Aufbau der Minnesanghss. sowie ein editor. Konzept. Das Beispiel U. v. S. In: ZfdPh 104 (1985), Sonderheft, S. 18–51. – Manfred Eikelmann: Denkformen im Minnesang. Tüb. 1988 (Register). – Eva Willms: Liebesleid u. Sangeslust. Mchn. 1990 (Register). – Barbara Weber: ŒuvreZusammensetzungen bei den Minnesängern des 13. Jh. Göpp. 1995 (Register S. 396 f.). – Jens Köhler: Der Wechsel. Textstruktur u. Funktion einer

679 mhd. Liedgattung. Heidelb. 1997, S. 259–264, 266–268. – M. Schiendorfer: U. v. S. In: VL. – Rüdiger Schnell: Frauenlied, Manneslied u. Wechsel im dt. Minnesang. Überlegungen zu ›gender‹ u. Gattung. In: ZfdA 128 (1999), S. 127–184, bes. S. 158 f. Claudia Händl

Ulrich von Türheim, * erste Hälfte des 13. Jh. – Verfasser höfischer Versromane. Den Autor, der sich in jedem seiner drei Werke mit Namen nennt, identifiziert man mit einem 1236 u. 1244 (evtl. auch noch später) urkundlich bezeugten Angehörigen einer Ministerialenfamilie im Dienste der Augsburger Bischöfe. Die Texte zielen allerdings auf einen Kreis um die stauf. Könige Heinrich (VII.) u. Konrad IV. Für deren Berater, den Reichsschenken Konrad von Winterstetten († 1243), verfasste U. seine TristanFortsetzung; in einer Klagerede im Rennewart betrauert er neben Konrads Tod denjenigen König Heinrichs († 1242) u. den der Freiherren Albert († 1245) u. Heinrich II. von Neifen († 1246), die auch zu den Ratgebern des stauf. Königshofs zählten. Rudolf von Ems rühmt U. als Autor eines Clies in seinem zwischen 1235 u. 1243 ebenfalls für Konrad von Winterstetten verfassten Willehalm von Orlens. Kliges u. Tristan sind demnach vor 1243 entstanden, der Rennewart danach. Von U.s Kliges, einer Nachdichtung des Cligès von Chrétien de Troyes, sind nur ca. 500 Verse aus dem letzten Drittel des Werks in einer Handschrift des frühen 13. Jh. fragmentarisch überliefert. Ob es sich dabei, wie in U.s anderen beiden Werken, um die Fortsetzung eines unvollendeten Romans handelt, ist nicht zu entscheiden; eine für Konrad Fleck bezeugte ältere Cligès-Dichtung ist nicht erhalten. Chrétiens Roman handelt von der Liebe des griech. Kaisersohns Cligès zu Fenice, die seinen Onkel Alis heiraten soll. Ein Zaubertrank verhindert den Vollzug dieser Ehe, ein zweiter bewirkt Fenices Scheintod; Cligès kann sie aus ihrem Grab entführen. Das Paar flieht an den Artushof; später tritt Cligès die Nachfolge seines Vaters als Kaiser von Konstantinopel an. Die Konzeption des von Chrétien anscheinend als Anti-Tristan entworfenen Werks dürfte U.

Ulrich von Türheim

insg. übernommen haben; in den überlieferten Passagen finden sich z. T. jedoch Änderungen gegenüber der vermutl. Vorlage. Mit seinem Tristan (3730 Verse) setzt U. Gottfrieds unvollendetes Werk fort. Die Ergänzung, die unmittelbar an Gottfrieds Torso anschließt u. in weiten Teilen auf Eilharts von Oberg Tristrant basiert, lässt sich in drei Handlungsstränge gliedern: Der erste berichtet von Tristans Eheschließung mit Isolde Weißhand in Arundel; die Ehe wird jedoch nicht vollzogen, da Tristan fürchtet, durch diese Heirat die Liebe der blonden Isolde zu verlieren. Der zweite schildert verschiedene Rückkehrabenteuer zur blonden Isolde, mit der es in Cornwall zu einer erneuten Liebesvereinigung kommt. Im dritten Teil, der wieder in Arundel spielt, hilft Tristan seinem Schwager Kaedin bei einem Minneabenteuer, in dessen Verlauf Kaedin getötet u. Tristan durch einen vergifteten Pfeil schwer verwundet wird. Er schickt nach der blonden Isolde, die einzig Rettung bringen könnte. Als ihm Isolde Weißhand deren Ankunft verheimlicht, stirbt Tristan, u. die blonde Isolde stirbt ihm nach. König Marke lässt, nachdem er von der Trankwirkung erfahren hat, beide zusammen bestatten; über ihrem Grab wachsen Weinrebe u. Rosenstock ineinander. Die in U.s Tristan zumindest in den Erzählerkommentaren, nicht immer jedoch in der Figurenperspektive, deutl. Umakzentuierung der Gottfried’schen Fassung ist den zeitgenöss. Rezipienten – anders als weiten Teilen der Forschung – offenbar nicht problematisch gewesen. In allen sieben Handschriften, die U.s Fortsetzung überliefern, geht Gottfrieds Tristan der nur wenige Jahre später entstandenen Ergänzung wie selbstverständlich voraus. Die in der zweiten Hälfte des 13. Jh. (etwa gleichzeitig mit Ulrichs von dem Türlin Arabel) entstandene Willehalm-Fortsetzung U.s ist mit 36.518 Versen mehr als doppelt so lang wie Wolframs Werk. Im ersten Teil des Rennewart, der ausdrücklich an den letzten Vers des Willehalm anknüpft, werden das siegreiche Ende der zweiten Alischanzschlacht, Rennewarts Taufe u. dessen Heirat mit der frz. Königstochter Alise geschildert. Um deren gemeinsamen Sohn Malefer kreist das

Ulrich von Türheim

umfangreiche Erzählgeschehen des zweiten Teils. Er wird als Kleinkind in den Orient entführt u. wächst bei seinem Großvater Terramer auf. Als Führer eines heidn. Heeres kehrt er zurück, konvertiert zum Christentum u. bekämpft nun seinerseits erfolgreich Terramer, dessen Reich er schließlich erobert. Auf göttl. Weisung heiratet er die christl. Amazonenkönigin Penteselie, mit der er einen Sohn namens Johannes zeugt, der sich als großer Heidenkämpfer erweist. Der – zgl. den gesamten Zyklus – abschließende dritte Teil der Handlung kehrt erneut zu Willehalm zurück, der sich wie Gyburg mittlerweile dem geistl. Leben zugewandt hat. Zu einem letzten siegreichen Kampf gegen die erneut anrückenden Sarazenen verlässt er seine Klause noch einmal u. gründet anschließend ein Kloster, in dem er als Heiliger stirbt. Im ersten u. dritten Teil griff U. auf frz. Quellen (Bataille d’Aliscans, Moniage Rainouart, Moniage Guillaume) zurück, den Malefer-Teil gestaltete er dagegen selbst. Vor allem in diesem von einem Protagonisten handelnden Teil, der gleichermaßen mit beiden Seiten blutsverwandt ist, finden sich Passagen, die einen – unter christl. Suprematie stehenden – Ausgleich zwischen den Kulturen andeuten. In anderen Teilen dominiert hingegen die Ideologie des Kreuzzugs. Insgesamt lässt sich bei U. eine starke Tendenz zur Hagiografisierung konstatieren. Im Rennewart begegnen zahlreiche Verweise auf Wolframs Willehalm, nicht jedoch auf Ulrichs von dem Türlin Arabel. Mit beiden zusammen wird U.s Text in acht von zehn Handschriften als Zyklus überliefert; auch einige der rund 30 fragmentarisch erhaltenen Handschriften entstammen Zyklen. Gemeinsam mit Arabel u. Willehalm wurden ebenfalls Teile des Rennewart im 14. Jh. in die Weltchronik Heinrichs von München integriert; im 15. Jh. ging er als Prosaauflösung in das Buch vom heiligen Wilhelm ein, für dessen legendarischen Duktus er besonders geeignet ist. Rittertum u. Heiligkeit gehen dort eine enge Verbindung ein, so z. B. in der neu gestalteten Schlussszene, wenn man nach Wilhelms Tod entdeckt, dass er unter seiner Kutte einen Harnisch trug, der ihm ins Fleisch eingewachsen war.

680 Ausgaben: Cliges. Hg. Hans Gröchenig u. Peter H. Pascher. Klagenf. 1984. – Tristan. Hg. Thomas Kerth. Tüb. 1979. – Rennewart. Hg. Alfred Hübner. Bln. 1938. Neudr. 1964. Literatur: Eberhard K. Busse: U. v. T. Bln. 1913. – Friedrich Wilhelm: Studien zu U. v. T. In: Münchner Museum 4 (1924), S. 1–76. – András Vizkelety: Neue Fragmente des mhd. Cligès-Epos aus Kalocsa (Ungarn). In: ZfdPh 88 (1969), S. 409–432 – Burghart Wachinger: Zur Rezeption Gottfrieds v. Straßburg im 13. Jh. In: Dt. Lit. des späten MA. Hg. Wolfgang Harms u. a. Bln. 1975, S. 56–82. – Christa Westphal-Schmidt: Studien zum ›Rennewart‹ U.s v. T. Ffm. 1979. – Thomas Kerth: The Denouement of the Tristan-›minne‹. In: Neoph. 65 (1981), S. 79–93. – Klaus Grubmüller: Probleme einer Forts. Anmerkungen zu U.s ›Tristan‹-Schluß. In: ZfdA 114 (1985), S. 338–348. – William C. McDonald: The Fool-Stick. Concerning Tristan’s Club in the German Eilhart-Tradition. In: Euph. 82 (1988), S. 127–149. – Brigitte Schöning: Name ohne Person. Auf den Spuren der Isolde Weißhand. In: Der frauwen buoch. Hg. Ingrid Bennewitz. Göpp. 1989, S. 159–178. – Peter Strohschneider: Gotfrit-Forts.en. In: DVjs 65 (1991), S. 70–98. – Jan-Dirk Müller: Tristans Rückkehr. Zu den Fortsetzern Gottfrieds v. Straßburg. In: FS W. Haug u. B. Wachinger. Hg. Johannes Janota. Tüb. 1992, Bd. 2, S. 529–548. – Daniel Rocher: Cligès in Dtschld. In: Chrétien de Troyes and the German Middle Ages. Hg. Martin H. Jones u. a. Cambridge 1993, S. 111–119. – Alan R. Deighton: Die Quellen der Tristan-Forts.en U.s v. T. u. Heinrichs v. Freiberg. In: ZfdA 126 (1997), S. 140–165. – Monika Schausten: Erzählwelten der Tristangesch. im hohen MA. Mchn. 1999, S. 201–250. – P. Strohschneider: U. v. T. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Barbara Sabel: Toleranzdenken in mhd. Lit. Wiesb. 2003, S. 163–196. – Armin Schulz: Die Spielverderber. Wie ›schlecht‹ sind die Tristan-Fortsetzer? In: Mitt.en des Dt. Germanistenverbandes 51 (2004), S. 262–276. – Bernd Bastert: Rewriting ›Willehalm‹? In: ZfdPh 124 (Sonderh. 2005), S. 117–138. – Holger Deifuß: ›Hystoria von dem wirdigen ritter sant Wilhelm‹. Ffm. 2005. – Martin Baisch: Textkritik als Problem der Kulturwiss. Tristan-Lektüren. Bln./New York 2006, S. 115–122, 133–305. – Thordis Hennings: Frz. Heldenepik im dt. Sprachraum. Heidelb. 2008, S. 264–501. – Cordula Politis: The taming of the Amazon. Pentesilie in U. v. T. ›Rennewart‹. In: Medium Aevum 77 (2008), S. 77–95. – B. Bastert: Helden als Heilige. Tüb. 2010, S. 88 f., 191–211, 300–311, 327–332. Bernd Bastert

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Ulrich von dem Türlin. – Autor der Arabel, 13. Jh. In den Versen 3,26 u. 304,30 sowie in einem Akrostichon (vv. 7,1–8,8) einer als Arabel bezeichneten ätiolog. Vorgeschichte von Wolframs Willehalm nennt sich als Autor ein sonst nicht belegter »Vlrich von dem Türlîn«. Woher er stammt, ob er etwa, wie die ältere Forschung annahm, mit Heinrich von dem Türlin verwandt ist, bleibt unsicher. Auch die Akrostichon-Widmung (vv. 8,9–8,31) für den »edeln cunich von beheim«, der in 8,23 als »Ottaker [...] künig in vier landen« (Ottokar II. von Böhmen) bezeichnet wird, liefert nur bedingt Aufschlüsse über die Entstehungsumstände. Wenn mit den »vier landen« Böhmen u. Mähren (als Einheit), Österreich, die Steiermark u. das – seit 1269 von den Premysliden regierte – Kärnten gemeint sind, hätte U. die Arabel in den 1270er Jahren im Umfeld des Prager Hofes verfasst. U. benutzt dabei als Strophenform für seine WillehalmVorgeschichte die Wolframs Dreißiger-Gliederung weiterentwickelnde Einunddreißiger-Laisse, bei der 28 Verse paarweise, die letzten drei als Trias miteinander reimen. Mit Laisse 317 (in einigen Handschriften auch etwas früher), nach Arabels Taufe u. Hochzeit mit Willehalm, endet der Text. Die an König Ottokar gerichtete Widmung begegnet nur in einer einzigen Handschrift (Heidelb., cpg 395), die eine Fassung (*A) des in zwei divergierenden Fassungen überlieferten Werkes repräsentiert. In der Heidelberger Handschrift folgt nahtlos eine bis zum Beginn des Willehalm, dem Einfall der Sarazenen in die Provence, führende Fortsetzung in rund 900 Paarreimversen, ohne dass sich der Willehalm selbst in dieser Handschrift finden würde. Die andere Fassung (*R), die das Widmungsakrostichon jedoch nicht kennt, ist hingegen fast durchgängig im zykl. Verbund mit Wolframs Willehalm u. Ulrichs von Türheim Rennewart überliefert. Möglicherweise fehlt die Widmung hier, weil Ottokar II. mit der Genese des Zyklus nicht in Verbindung stand. Welche der beiden Fassungen die ältere ist, ob es sich eventuell sogar um gleichzeitige Parallelfassungen handelt, ist nach bisherigem Kenntnisstand nicht zu entscheiden. In der

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Arabel existieren zahlreiche Verweise auf den Willehalm, jedoch keine auf den Rennewart; Ulrichs von Türheim Willehalm-Fortsetzung, die etwa zur gleichen Zeit entstand, scheint U. demnach nicht gekannt zu haben. Das, was der Willehalm an Handlung voraussetzt, aber von Wolfram nicht ausführlich berichtet wird (Willehalms Jugend am Hof Karls des Großen, seine Gefangenschaft bei dem Heiden Tybald, die Liebe zu dessen Gattin Arabel, ihre gemeinsame Flucht, Arabels Taufe auf den Namen Gyburg u. ihre Heirat mit Willehalm), möchte die Arabel nachtragen: »des mâterî uns vil enge / her Wolfram hât betiutet: / diu wirt nû baz beliutet« (vv. 4,6–4,8). Anders als Ulrich von Türheim entwickelt U. seine Geschichte nur aus Wolframs Text. Elfmal beruft er sich auf sein Vorbild Wolfram, dessen Erzählstrategien U. partiell imitiert, so z. B. im Wechsel zwischen auktorialer u. personaler Perspektive. Doch im Unterschied zu anderen Nachahmern Wolframs (wie Albrecht, Verfasser des Jüngeren Titurel) unterschiebt er sein Werk nicht dem Vorgänger, sondern beharrt auf seiner Identität als Autor: Die von ihm erzählte Geschichte mit der Wolframs harmonisierend, schließt er sich an dessen Ruhm an. Wolframs grundlegende Konzeption einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Christen u. Heiden u. einer Diskussion der daraus resultierenden Probleme modifiziert U. Zwar steht am Anfang der Arabel eine Schlacht zwischen Sarazenen u. Christen, in deren Verlauf Willehalm gefangen genommen wird. Das Textzentrum bildet aber die – erotisch hoch aufgeladene – Minne zwischen Willehalm u. Arabel. Nicht als Krieger, sondern gleichsam als Missionar macht U.s Willehalm seine wichtigste Eroberung, wenn der in heidn. Gefangenschaft geratene christl. Kämpfer während einer Schachpartie der Heidenkönigin Arabel Grundaussagen des christl. Glaubens näher bringt, sie dadurch für die fremde Religion zunächst interessiert u. schließlich vom Christentum überzeugt. In dieser ersten geistl. Schachallegorie in dt. Sprache verschmelzen religiöser Diskurs u. Minnediskurs kunstvoll miteinander. Allerdings werden beide nicht nur dort übereinander geblendet, deren »Engführung« (Ur-

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ban) bildet vielmehr ein konstitutives Mo- Reichenberg/Lpz. 1937. – Werner Schröder: Der ment des gesamten Textes. Große Bedeutung Wolfram-Epigone U. v. d. T. u. seine ›Arabel‹. Stgt. gewinnt es z. B. in der Taufszene, in der die 1985. – Timothy McFarland: Minne-translatio u. völlig entkleidete Arabel einerseits in ihrer Chanson de geste-Tradition. In: Geistl. u. weltl. Epik des MA in Österr. Hg. David McLintock u. a. Schönheit u. der daraus resultierenden erot. Göpp. 1987, S. 57–73. – Hans Joachim Behr: Lit. als Attraktivität präsentiert, andererseits durch Machtlegitimation. Mchn. 1989, S. 125–143. – diesen Akt vom Makel ihres Unglaubens u. Holger Höcke: ›Willehalm‹-Rezeption in der ›Araihrer Ehe mit einem Heiden reingewaschen bel‹ U.s v. d. T. Ffm. 1996. – Susanne Aderhold: wird u. als durch die Taufe Neugeborene u. ›mins hertzen wunne‹. Diss. Osnabr. 1997, wieder ›jungfräulich‹ Gewordene unter dem S. 55–145. – W. Schröder: U. v. T. In: VL u. VL neuen Namen Gyburg eine ideale Ehepart- (Nachträge u. Korrekturen). – Peter Strohschneider: Kemenate. Geheimnisse höf. Frauenräume bei nerin für Willehalm ist. Dem Verständnis des mittelalterl. Publi- U. v. d. T. u. K. v. Würzburg. In: Das Frauenzimkums kam die zykl. Konzeption offenbar mer. Die Frau bei Hofe in SpätMA u. früher Neuzeit. Hg. Jan Hirschbiegel u. Werner Paravicini. entgegen: Acht der zehn (annähernd) vollStgt. 2000, S. 29–45. – Bernd Schirok: Autortext, ständigen Arabel-Handschriften tradieren die Fassung, Bearbeitung. In: ZfdA 130 (2001), Willehalm-Vorgeschichte im Verbund mit S. 166–196. – Barbara Sabel: Toleranzdenken in Wolframs Text u. der Nachgeschichte Ulrichs mhd. Lit. Wiesb. 2003, S. 197–253. – Bernd Bastert: von Türheim; eine weitere (Heidelb., cpg Rewriting ›Willehalm‹? In: ZfdPh 124 (Sonderh. 395) überliefert U.s Vorgeschichte mit dem 2005), S. 117–138. – Holger Deifuß: ›Hystoria von ihr dort vorangehenden Karl des Stricker. In dem wirdigen ritter sant Wilhelm‹. Ffm. 2005. – einer Handschrift steht die Arabel zusammen Monika Schulz: Eherechtsdiskurse. Heidelb. 2005, mit dem Jüngeren Titurel Albrechts; in diesem S. 117–138. – Melanie Urban: Kulturkontakt im Fall wurden jedoch ursprünglich selbststän- Zeichen der Minne. Ffm. 2007. – B. Bastert: Helden als Heilige. Tüb. 2010, S. 89 f., 191–225, 311–322. dige Teile später zusammengebunden. Viele Norbert H. Ott / Bernd Bastert der knapp 20 bekannten Fragmente entstammen ebenfalls meist zykl. Handschriften; eine aus dem 14. Jh. stammende ale- Ulrich von Winterstetten. – Zwischen mann. Kurzfassung der Vorgeschichte ist als 1241 u. 1280 bezeugter Schweizer Lied- u. Einleitung zu Wolframs Text lediglich unikal Leichdichter. überliefert. Die in der ersten Hälfte des 14. Jh. Der Dichter U. gehörte einem bekannten erfolgte Einfügung umfangreicher Passagen oberschwäb. Ministerialengeschlecht an. Er aus allen drei Teilen des Willehalm-Zyklus in war das vierte von insg. elf Kindern Konrads die Weltchronik Heinrichs von München ver- von Schmalnegg-Winterstetten, der seit 1243 deutlicht, dass der Willehalm u. seine Ergän- das Reichsschenkenamt innehatte. Urkundzungen als »historische Wahrheit« rezipiert lich bezeugt ist U. zwischen 1241 u. 1280. Die werden konnten. In der im 15. Jh. im Zürcher in der Großen Heidelberger Liederhandschrift (C) Raum vorgenommenen, in drei Handschrif- U.s Œuvre vorangestellte Miniatur zeigt in ten überlieferten Prosifizierung des Zyklus, Variation eines Botenbildes auch das Wappen dem Buch vom heiligen Wilhelm, liegt das Ge- derer von Winterstetten, das bis auf wenige wicht hingegen auf der dem Stoff gleichfalls Abweichungen in der Farbgebung mit dem inhärenten Tendenz einer legendarisch- Wappen der Familie, wie es in der Züricher heilsgeschichtl. Aufladung; keineswegs zu- Wappenrolle überliefert ist, übereinstimmt. fällig wird die Prosaauflösung jeweils im In Handschrift C sind unter U.s Namen 40 Kontext hagiografischer u. weiterer geistl. Lieder u. fünf Leichs überliefert. Eher dürftig Werke überliefert. ist die weitere Überlieferungslage, die nur Ausgabe: U. v. d. T., Arabel. Hg. Werner Schrö- Strophenfragmente verzeichnet, ohne U. als der. Stgt./Lpz. 1999. Verfasser zu nennen. Inzwischen verschollen Literatur: Hermann Suchier: Über die Quelle sind Pergamentblätter H. Schreibers, die U.s v. d. T. u. die älteste Gestalt der Prise d’Orenge. Paderb. 1873. – Emil Popp: Die Sprache U.s v. d. T.

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Leich IV mit Melodie enthalten (Abb. bei Kuhn, 21967, Tafel I). In U.s Leichs u. Liedern dominiert das Thema der (vergebl.) Minnewerbung, das mit der Klage des Sängers u. dem Preis der vrouwe, deren Gunst er erbittet, verknüpft wird. In Leich II, III u. IV wird die Minnethematik um einen Natureingang u. eine abschließende Aufforderung zum Tanz (typische Elemente sind die Reihung von Mädchennamen u. der Ruf heiâ hei) ergänzt. Gemeinsam ist den Minneleichs eine außerordentlich komplexe Architektonik, die von der Kunstfertigkeit U.s zeugt u. die auf den ersten Blick traditionelle Inhalte formal variiert: Die Zergliederung der Verse in kleinste formale Einheiten (Kuhn) gerät bei U. zu einem ›Spiel‹ mit Sprache, das die inhaltl. Variationen komplettiert u. die Literarizität u. Ästhetik des poetischen Sprechens exponiert (Cramer). Vor allem diese bes. Tektonik hebt U.s Leichs von denen seiner Vorgänger ab. Nicht eindeutig zu klären ist dabei das Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Leichdichtungen U.s u. denen des Tannhäusers. U.s Lied-Œuvre besteht aus fünf dreistrophigen Tageliedern (VII, XIII, XXVII, XXVIII, XXIX), zwei Dialogliedern (IV u. XI) u. einer Frauenklage (XXXVII). Die meisten der Werbelieder (v. a. die fünfstrophigen Kanzonen) zeigen folgenden Aufbau: Natureingang (wie bei Gottfried von Neifen begegnen Sommer- u. Winterlieder), Klage u. Frauenpreis. Neben der vrouwe wird gelegentlich auch die Minne selbst apostrophiert u. vom Sänger darum gebeten, ihn von seinem Leid zu erlösen (VII). Muten die Werbelieder U.s auf den ersten Blick konventionell an, so liefern sie doch auch subtile Variationen traditioneller Gattungselemente (IX) oder gar wie Lied XXXVI, in dem die Dame das Sänger-Ich drastisch u. derb zurückweist, überraschende Stilbrüche. Eine formale Neuerung stellt der bei U. nahezu ausnahmslos verwendete Refrain dar (ohne Refrain sind III, XVII u. die Tagelieder), der sich nicht in seiner formalen Funktionalität erschöpft (Streicher), sondern auch kontrastierend oder pointierend auf die Thematik der Strophen bezogen ist (IV u. IX). In seinen Tageliedern greift U. auf die typischen Ele-

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mente der Gattung, v. a. auf Wolfram von Eschenbach zurück. In Lied XXIX ergänzt er das Tageliedpersonal um die Figur der Dienerin, was auf den Einfluss Ulrichs von Liechtenstein schließen lässt. Einen deutl. Kontrast zum höf. Sang bilden die Frauenklage, in der eine maget den Niedergang männl. Sitten u. des Minnesangs bedauert (vgl. Steinmar), u. die beiden Dialoglieder, von denen Lied IV ein Gespräch zwischen Mutter u. Tochter (vgl. Neidhart), Lied XI einen Dialog zwischen Sänger-Ich u. Dame bietet. Vor allem diese Dialoglieder machen auf die Poetizität u. Funktionalität der Gattung aufmerksam, indem sie teils auf parodistische Weise Traditionelles konterkarieren u. aus Sicht der Sprecherinstanzen desavouieren (Laude). Damit wird exponiert, was die subtilen Variationen der traditionellen Lieder nunmehr andeuten: Wie andere Dichter des 13. Jh. perpetuiert U. nicht bloß schematisch Konventionen des hochhöf. Sangs, vielmehr nutzt er – freilich mit wechselnder Prägnanz – die Möglichkeit, die Rezipienten auf den künstlerischen Eigenwert u. die poetolog. Dimensionen von Minnesang aufmerksam zu machen. Ausgaben: KLD I, S. 495–554; KLD II, S. 558–597 (Komm.). – Burghart Wachinger (Hg.): Lyrik des späten MA. Ffm. 2006, S. 220–237, 739–745 (Komm.). Literatur: Aribert Selge: Studien über U. v. W. Bln. 1929. – Hugo Kuhn: Minnesangs Wende. Tüb. 2 1967, bes. S. 91–142. – Silvia Ranawake: Höf. Strophenkunst. Mchn. 1976. – Gerhard Streicher: Minnesangs Refrain. Göpp. 1984 – Claudia Händl: Rollen u. pragmat. Einbindung. Göpp. 1987, S. 302–361. – Sieglinde Hartmann: U. v. W. u. die ›Materie‹ des Dichtens. In: Ist zwîvel herzen nâchgebûr. FS Günther Schweikle. Hg. Rüdiger Krüger u. a. Stgt. 1989, S. 105–126. – Ernst Bremer: Ästhetische Konvention u. Geschichtserfahrung. Zur hist. Semantik im Minnesang U.s v. W. In: Lied im dt. MA. Hg. Cyril Edwards u. a. Tüb. 1996, S. 129–145. – Thomas Cramer: Waz hilfet âne sinne kunst? Lyrik im 13. Jh. Bln. 1998, bes. S. 159–188. – Christina Kreibich: Der mhd. Minneleich. Würzb. 2000, S. 64–102. – Silvia Ranawake: Schenk U. v. W. In: VL. – Peter Strohschneider: Tanzen u. Singen. Leichs v. U. v. W., Heinrich v. Sax sowie dem Tannhäuser u. die Frage nach dem rituellen Status des Minnesangs. In: Mittelalterl. Lyrik. Probleme

Ulrich von Zazikhoven der Poetik. Hg. Thomas Cramer u. a. Bln. 1999, S. 197–231. – Corinna Laude: Minnesangs Ohnmacht – Minnesangs Chance. Zur Kunstauffassung U.s v. W. In: GRM N. F. 53 (2003), S. 1–26. – S. Ranawake: ›Hübscher klaffe vil‹: Das Werbegespräch U.s v. W. (KLD Nr. 11) u. das dt. Dialoglied. In: Dialoge – sprachl. Kommunikation in u. zwischen Texten im dt. MA. Hg. Nikolaus Henkel u. a. Tüb. 2003, S. 175–188. – Gert Hübner: Minnesang im 13. Jh. Eine Einf. Tüb. 2008, S. 116–124. Rachel Raumann

Ulrich von Zazikhoven. – Verfasser eines nach 1194 geschriebenen Versromans. Der Epilog des Versromans Lanzelet (9144 Verse) nennt den Namen des Verfassers u. als Quelle ein »welschez buoch«. Das Übersetzungsexemplar habe ein gewisser Huc von Morville besessen, eine der Geiseln, die Richard Löwenherz stellen musste, um 1194 aus der Gefangenschaft Heinrichs VI. freizukommen. (Wahrscheinlich war Huc an der Ermordung Thomas Beckets beteiligt.) Der Autor stammt aufgrund seiner Sprache aus dem hochalemann. Raum. Eine Identifikation mit dem gleichnamigen, 1214 urkundlich bezeugten Leutpriester aus Zezikon nahe dem Dorf Lommis im Thurgau ist nahe liegend; eine andere Möglichkeit ist die Herkunft aus dem Weiler Zizingen/Gemeinde Auggen nahe Neuenburg/Rhein, was die Gönnerschaft des Zähringerherzogs Berthold V. impliziert, der neben seinem Vater als Mäzen der Artusromane Hartmanns von Aue in Frage kommt (Bärmann 1989). Der Roman ist in zwei Handschriften (Wien, 14. Jh., klass. Lautstand; Heidelberg, 15. Jh., modernerer Lautstand, archaische Elemente im Wortschatz) u. vier Fragmenten (am wichtigsten Oxford, erstes Viertel des 13. Jh.) überliefert. Er bietet die älteste dt. Bearbeitung des Lancelot-Stoffs. Zeitgenössische Erwähnungen von U.s Lanzelet finden sich bei Rudolf von Ems (Willehalm von Orlens, v. 2193 ff, Alexander, v. 3199 ff.); die Manessische Handschrift zitiert in der Miniatur Alrams von Gresten die ersten Verse des Romans. Nach Vertreibung u. Tod des tyrannischen Königs Pant von Genewis wird sein Sohn von einer Meerfee gerettet u. auf einer paradiesi-

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schen Insel in einem Frauenstaat erzogen. 15jährig zieht er aus, um Namen u. Geschlecht zu erfahren. Dazu muss er den Ritter Iweret besiegen. Wie Erec wird er zunächst durch den Peitschenschlag eines Zwergs entehrt. Er besteht eine Kette von Kampf- u. Minneabenteuern, erwirbt dabei mehrfach Frau u. Landesherrschaft. Nach zwei Partnerinnen erringt er schließlich durch den Sieg über ihren Vater Iweret Iblis als dritte Ehefrau. Nun erscheint eine Botin der Ziehmutter, enthüllt ihm seinen Namen u. schenkt ihm als Hochzeitsgabe ein märchenhaftes Zelt, das die tugendhafte Idealität der Iblis nochmals bestätigt. Während er zuvor aus Scham über seine Namenlosigkeit den Artushof gemieden hatte, ist Lanzelet nun zur Artusritterschaft bereit. Gleich bei seiner Ankunft gelingt ihm der Sitz auf dem Tugendstein, womit er sich zum Kämpfer für die entführte Ginover qualifiziert: L. tritt gegen König Valerin an, der Artus mit einem listigen Blankoversprechen seine Ehefrau abgelistet hatte, die endgültige Befreiung gelingt erst später in einer Gemeinschaftsaktion der Artusritterschaft. Lanzelet hilft somit, die zerstörte Ehre des Artushofs nach dem Königinnenraub wiederherzustellen. Dabei kommt auch die Verwandtschaft des Helden zu Artus als Onkel, spiegelbildlich zum Verhältnis Artus-Gawan (bei U. trägt er die ältere Namensform Walwein), zum Tragen. Durch Sonderleistungen kämpft sich Lanzelet zum Rang des besten Ritters hoch. Er rächt die Beleidigung des Zwergs, hat wenig Freude an der Zwangsehe mit der Königin von Pluris u. wird von den Artusrittern aus dieser Minnegefangenschaft befreit (gleichzeitig beweist Iblis in der »Mantelprobe« ihre Keuschheit). Die wegen eines Minnevergehens verzauberte Prinzessin Elidia (Clidra) von Thile erlöst er schließlich durch einen Drachenkuss (frühester Beleg des Motivs vom »Fier baiser«). Zuletzt kehrt der Held in seine Heimat zurück, tritt die Nachfolge des Vaters an u. sichert sich eine dauerhafte, mit Nachkommen gesegnete Herrschaft. Die literarhistor. Einordnung dieser Handlung macht Schwierigkeiten, denn anders als in Chrétiens de Troyes Chevalier de la Charette (zwischen 1177 u. 1181) u. in der

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Prosatradition des Lancelot-Stoffes geht L. in U.s Roman keine heiml. Liebesbindung mit Königin Ginover ein. Bei der verlorenen Vorlage, welcher der Übersetzer nach eigener Angabe eng folgt (v. 9322 ff.), scheint es sich um ein Gegenkonzept zum Artusroman chrétienscher Prägung oder zumindest um eine spielerische Variation zu handeln. In eine andere Richtung weisen Vergleiche zum frühhöf. Roman Eilharts von Oberg u. Heinrichs von Veldeke, sodass U. möglicherweise auf eine frühe rheinischdt. Artustradition zurückgreift. Doch ist das Vorbild von Hartmanns Erec schon zeitlich nicht auszuschalten u. die Bekanntschaft mit Wolframs ältesten Parzival-Passagen (Buch III) wahrscheinlich. Um die Strukturierung der verwirrenden Episodenfülle hat sich die Forschung intensiv bemüht. Fest steht der biogr. Rahmen, in dem sämtl. Handlungsorte Stationen auf einem Lebensweg bilden. Der Held wird wie im Perceval/Parzival in eine Gegenwelt entrückt, die allerdings als positive matriarchale Macht weiterhin schützend die Hand über ihn hält, als er sich von ihr löst u. in die Welt auszieht. Lanzelet macht in der myth. Suche nach dem eigenen Namen einen Prozess der Selbstfindung durch. Die Handlungsfolge suggeriert dabei einen Entwicklungsgang; zgl. ist Lanzelet, wie der Tugendstein beweist, von Anfang an ein fertiger Held, der, von »fortuna stabilis« begleitet, sämtl. Aventiuren erfolgreich bewältigt. Aus einer archaischen Feenwelt stammend, bemüht er sich um die Eingliederung in die höf. Ritterkultur u. wird, bemerkenswert »wîpsaelec«, immer wieder in neue Zweierbeziehungen geführt, bevor er seine Identität in der rechten Minneexistenz mit Iblis findet. In dieser Form weist der Roman, dem man immer wieder eine seichte Stofffülle vorgeworfen hat, durchaus komplexe Problemstellungen auf wie die Frage nach der Identität u. der familiären Bindung des Protagonisten oder den Bedingungen des Artusrittertums u. der Artusnorm, die durch Tugendproben diskursiviert wird. Die Struktur läuft anders als in Chrétiens Modell des doppelten Kursus in Ketten, in denen ein Element mehrere Folgehandlungen auslöst u. Lanzelet als Problemlöser agiert. Eine alternative Sicht setzt eine symmetr. Kreisstruktur

Ulrich von Zazikhoven

an, in der der Sieg über Iweret, der zur Namenserkenntnis führt, das Zentrum bildet. Der Artushof wirkt nicht nur als abstrakte Norminstanz, die einzelne Stellvertreter aussendet, sondern agiert koordiniert als Familienverband. Anders als der schwermütige, psychisch labile Lancelot der chrétienschen Tradition ist Lanzelet sozial integriert u. in der Gemeinschaft der Artusritter aufgehoben. Feudalrechtliche Fragen, die aktuelle Einbettungen erlauben, haben von der Vertreibung des Vaters Pant an Gewicht. Ausgaben: Lanzelet. Hg. Karl August Hahn. Ffm. 1845. Neudr. mit Nachw. u. Bibliogr. v. Frederick Norman. Bln. 1965. – Lanzelet. Engl. v. Kenneth G. Webster. Anmerkungen u. Einf. v. Roger Sherman Loomis. New York 21951. – U. v. Z.: Lanzelet. Mhd./nhd. v. Wolfgang Spiewok. Greifsw. 1997. – U. v. Z.: Lanzelet. Text – Übers. – Komm. Studienausg. Hg. Florian Kragl. Bln./New York 2009 (mit Lit.). Literatur: Werner Richter: Der ›Lanzelet‹ des U. v. Z. Ffm. 1934. – Stefan Hofer: Der ›Lanzelet‹ des U. v. Z. u. seine frz. Quelle. In: Ztschr. für roman. Philologie 75 (1959), S. 1–36. – Kurt Ruh: Der ›Lanzelet‹ U.s v. Z. Modell oder Kompilation? In: Dt. Lit. des späten MA. Hg. Wolfgang Harms u. a. Bln. 1975, S. 47–55. – Helga Schüppert: Minneszenen u. Struktur im ›Lanzelet‹ U.s v. Z. In: Würzburger Prosastudien 2. Untersuchungen zur Lit. u. Sprache des MA. FS Kurt Ruh. Hg. Peter Kesting. Mchn. 1975, S. 123–138. – K. Ruh: Höf. Epik des dt. MA. Tl. 2, Bln. 1980, S. 34–49. – Walter Haug: ›Das Land, von welchem niemand wiederkehrt‹. Tüb. 1978, S. 52–61. – René Pérennec: Artusroman u. Familie: daz welsche buoch von Lanzelete. In: Acta germanica 11 (1979), S. 1–51. – Klaus M. Schmidt: Frauenritter oder Artusritter? Über Struktur u. Gehalt v. U.s v. Z. ›Lanzelet‹. In: ZfdPh 98 (1979), S. 1–19. – Rodney W. Fisher: U. v. Z.’s Lanzelet: In Search of ›Sens‹. In: Archiv 217 [132] (1980), S. 277–292. – James A. Schultz: ›Lanzelet‹: a flawless hero in a symmetrical world. In: PBB 102 (1980), S. 160–188. – Dieter Welz: Lanzelet im ›schoenen walde‹: Überlegungen zu Struktur u. Sinn des ›Lanzelet‹-Romans. In: Acta Germanica 13 (1980), S. 47–68. – Patrick M. McConeghy: ›Aventiure‹ and anti-›aventiure‹ in U. v. Z.’s ›Lanzelet‹ and Hartmann v. Aue’s ›Iwein‹. In: GR 57 (1982), S. 60–69. – K. Ruh: Lancelot. Marburg 1982. – John Margetts: Ehel. Treue im ›Lanzelet‹ U.s v. Z. In: FS Siegfried Grosse. Hg. Werner Besch u. a. Göpp. 1984, S. 383–400. – Jean-Marc Pastré: L’ornement difficile et la datation du ›Lanzelet‹

Ulrich d’U. v. Z. In: Actes du colloque des 14 et 15 janvier 1984. Lancelot. Hg. Danielle Buschinger. Göpp. 1984, S. 149–162. – R. Pérennec: Le livre français de Lanzelet dans l’adaptation d’U. v. Z. In: ebd., S. 179–189. – Barbara Thoran: Zur Struktur des ›Lanzelet‹ U.s v. Z. In: ZfdPh 103 (1984), S. 52–77. – Michael Bärmann: U. v. Z. u. die Entstehung des mhd. ›Lanzelet‹-Romans. In: Das Markgräflerland 2 (1989), S. 62–84. – Elisabeth Schmid: Mutterrecht u. Vaterliebe. Spekulationen über Eltern u. Kinder im ›Lanzelet‹ des U. v. Z. In: Archiv 229 [144] (1992), S. 241–254. – Walter Blank: Zu den Schwierigkeiten der Lancelot-Rezeption in Dtschld. In: Chrétien de Troyes and the German Middle Ages. Hg. Martin H. Jones u. Roy Wisbey. Cambridge/London 1993, S. 121–136. – Wolfgang Spiewok: Zur Minneproblematik im ›Lanzelet‹ des U. v. Z. In: Fiktionalität im Artusroman. Hg. Volker Mertens u. Friedrich Wolfzettel. Tüb. 1993, S. 135–145. – Ulrike Zellmann: Lanzelet. Der biogr. Artusroman als Auslegungsschema dynast. Wissensbildung. Düsseld. 1996. – Andreas Daiber: Bekannte Helden in neuen Gewändern? Intertextuelles Erzählen im ›Biterolf u. Dietleib‹ sowie am Beispiel Keies u. Gaweins im ›Lanzelet‹, ›Wigalois‹ u. der ›Crône‹. Ffm. u. a. 1999. – Isolde Neugart: U. v. Z. In: VL. – Nicola McLelland: U. v. Z.’s ›Lanzelet‹. Narrative Style and Entertainment. Cambridge 2000. – Armin Schulz: Der neue Held u. die toten Väter. Zum Umgang mit myth. Residuen in U.s v. Z. ›Lanzelet‹. In: PBB 129 (2007), S. 419–437. Christoph Huber / Sandra Linden

Ulrich, Maria, * 24.11.1894 Oberarth/Kt. Schwyz, † 12.10.1967 Adliswil bei Zürich. – Erzählerin. Aus einer mittellosen Arbeiterfamilie stammend, wurde U. nach der Primarschule selbst Arbeiterin in einer Textilfabrik in Arth, bis sie sich zur Büroangestellten emporzuarbeiten vermochte u. in dieser Funktion 43 Jahre in einer Zürcher Seidenfabrik tätig war. Ihr literar. Schaffen, dessen bescheidene handwerkl. Voraussetzungen sie sich autodidaktisch erwarb, wuchs ganz aus ihrem Alltag in der Fabrik u. ihren Beobachtungen im Arbeitermilieu heraus. Bereits im Erstling Goldwies. Erzählung aus der schweizerischen Seidenstoffindustrie (Zürich 1928), aber auch in den Erzählungen Der Heimweg (Basel 1930) u. Der unbekannte Arbeiter (Einsiedeln 1940), v. a. jedoch in ihrem großen sozialen Roman Arm und reich (Zürich

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1945) gelang es ihr als einer der ganz wenigen wirklich proletar. Autorinnen der Schweiz, Themen wie den Kampf ums tägl. Brot, die Enge u. Trostlosigkeit der Arbeiterwohnungen, die durch den Lebenskampf verdüsterten Beziehungen zwischen Mann u. Frau, Kindern u. Eltern sowie die minderwertige Stellung der arbeitenden Proletarierin auf überzeugende u. authent. Weise zu gestalten. Künstlerisch überfordert war sie dagegen, wenn sie sich, wie in Das Kreuz von Schwyz (Einsiedeln 1941), einer biogr. Annäherung an die aus Schillers Tell bekannte Stauffacherin, oder im Jugendbuch Die alte Treu (Basel 1930), auf patriotisch-histor. Stoffe einließ. Charles Linsmayer

Ulrichs, Timm, * 31.3.1940 Berlin. – Kunstproduzent, Objektkünstler, Konzept- u. Aktionskünstler, Verfasser konkreter Poesie. Nach dem Abitur in Bremen studierte U. an der TH Hannover Architektur. Wegen verschiedener Aktionen von der Hochschule verwiesen, brach er sein Studium 1966 endgültig ab. Anfang der 1960er Jahre gründete er seine »Werbezentrale für Totalkunst / Banalismus / Extemporismus« in Hannover; in zahlreichen Ausstellungen u. Aktionen propagierte, produzierte u. publizierte er »konkrete, materiale, serielle Texte, Bilder und Gegenstände, interdisziplinäre, integrale Kunst, Permanent-Kunst, Ich-Kunst, IdeenKunst, Körper-Kunst, Panartistik, Totalkunst-Objekte und -Szenen, Totalpoesie, Totalmusik, Totaltheater«. Manifeste u. Essays kommentieren U.’ künstlerische Objekte u. Aktionen. 1972 wurde er Professor am Institut für Kunsterziehung Münster der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf. Er gilt als einer der bedeutendsten dt. Konzept- u. Aktionskünstler, der mit vielen Kunstpreisen ausgezeichnet wurde u. dessen Werke in vielen Einzel- u. Gruppenausstellungen gezeigt wurden. Zum 70. Geburtstag widmeten ihm das Sprengel Museum Hannover u. der Kunstverein Hannover 2010/11 eine umfangreiche Werkschau: Timm Ulrichs. Betreten der Ausstellung verboten! Werke von 1960 bis 2010 (Ostfildern 2010, Kat.).

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U. entwickelte seine Konzeption von Totalkunst auch in Auseinandersetzung mit dem Dadaismus. An Duchamps anschließend, werden Objekte, Handlungen, Situationen durch den Akt des Benennens – durch Bezeichnung, Beschriftung – als Kunstwerke definiert, oder es wird umgekehrt Sprachliches in konkrete gegenständl. Objekte überführt. Haben somit bereits die Totalkunstwerke eine literar. Dimension, lieferte U. darüber hinaus Beiträge – auch theoret. Art – zur konkreten Poesie (gesammelt in dem 1968 in Stuttgart erschienenen Band Lesarten und Schreibweisen). Weitere Werke: Totalkunst, das neue Maß aller Dinge. Hann. 1961 (Ess.s). – Klartexte. Ebd. 1966 (konkrete Texte, Ess.s). – Spielpläne. Ebd. 1967 (materiale Poesie). – Retrospektive 1960–75. Braunschw. 1975 (Kat., Texte v. u. über T. U., Abb.en, Bibliogr. u. Ausstellungsverz.). – Totalkunst. Lüdenscheid 1980 (Kat., mit Bibliogr.). – Totalkunst: Angesammelte Werke. Ludwigshafen 1984 (Kat.). – Landschafts-Epiphanien. Hg. Ferdinand Ulrich. Recklinghausen 1991 (Kat.). – Dem Betrachter den Rücken zukehrend. Siegen 1994 (Kat.). – Der detektor. Blick. Bln. 1997 (Kat.). – T. U. macht mobil. Möbel-Skulpturen u. -Installationen. Freib. i. Br. 1999 (Kat.). – Die Druckgrafik. Hg. Norbert Nobis. Hann. 2003. – Die Welt im Wohnzimmer. Nürnb. 2009 (Kat.). Literatur: Bernhard Holeczek: T. U. Braunschw. 1982. – Karl Riha: T. U. In: KLG. – Raoul Hausmann: Briefe an T. U. u. a. Texte. Siegen 1985. – K. Riha: Tatü Dada. Dada u. nochmals Dada bis heute. Aufsätze u. Dokumente. Hofheim 1987, S. 243–253. – Ansgar Schnurr: Über das Werk v. T. U. u. den künstler. Witz als Erkenntnisform. Analyse eines pointierten Vermittlungs- u. Erfahrungsmodells im Kontext ästhet. Bildung. Norderstedt 2008. Walter Olma

Ulrichslegenden, seit dem frühen 13. Jh. Ulrich war 923–973 Bischof von Augsburg, führte nach der Legende ein strenges, heiligmäßiges Leben, war unermüdlich im Dienst der Kirche u. des Reichs tätig u. trug 955 zum Sieg über die Ungarn auf dem Lechfeld entscheidend bei. Seine Heiligsprechung 993 war die erste feierl. Kanonisierung überhaupt; er ist Patron der Stadt u. des Bistums Augsburg. Ein Zeitgenosse, der Dompropst Gerhard von Augsburg, verfasste zwischen

Ulrichslegenden

982 u. 993 die erste lat. Vita, die mehrfach überarbeitet wurde. Die verbreitetste Version stammt von Berno von Reichenau (1030); sie diente als Quelle für die älteste u. literarisch bedeutendste dt. Legende, die im frühen 13. Jh. entstandene Versdichtung des Augsburger Benediktiners Albertus von Augsburg. Erst im 14. Jh. kam es zu weiteren Versionen, dann aber im Rahmen von Prosalegendaren (z.B. Elsässische Legenda aurea, Bebenhauser Legendar). Um die Mitte des 15. Jh. entstand in Augsburg eine umfangreiche Prosalegende, die in drei Augsburger Handschriften überliefert ist, wovon zwei illustriert sind. Quelle ist eine lat. Legende, die eine durch weiteres Quellenmaterial bereicherte Version der Gerhard-Vita darstellt. Sigismund Meisterlin benutzte die dt. Legende für die für den Rat hergestellte dt. Übersetzung seiner Cronographia Augustensium. Eine beachtl. Verbreitung erreichte der Text durch seine Übernahme 1477 in das Erfolgslegendar Der Heiligen Leben durch den Augsburger Drucker Johann Bämler. Anlass war die nur knappe Fassung des in Nürnberg entstandenen Legendars, die Bämler als ungenügend wertete. Da Bämlers Ausgabe für alle weiteren Auflagen des Legendars als Vorlage diente, erreichte die Legende eine große Leserschaft im gesamten dt. Sprachraum. Nur der Nürnberger Drucker Anton Koberger hielt diese Legende für zu umfangreich u. ersetzte sie wieder durch die alte Version, verwertete jedoch einige Stoffelemente der Langfassung. Die in dieser Legende enthaltene Kultpropaganda für den Patron der wichtigsten Konkurrenzstadt Nürnbergs wollte er offenbar aus lokalpatriotischen Gründen stark reduzieren. Ausgaben: Albert Hirsch: Die dt. Prosabearb. der Legende vom hl. Ulrich. In: Münchener Archiv 4 (1915), S. 1–67. Literatur: Werner Wolf: Von der Ulrichsvita zur Ulrichslegende. Diss. Mchn. 1967. – Gaby Steinbauer: St. Ulrich, Patron des Bistums Augsburg. Untersuchungen zur Ulrichslegende. Sankt Ottilien 1981. – Werner Williams-Krapp: Die dt. u. niederländ. Legendare. Tüb. 1986. – Karl-Ernst Geith: Ulrich v. Augsburg. In: VL. Werner Williams-Krapp / Red.

Ulsen

Ulsen, Ulsenius, Dietrich, Theodericus, auch: Dirk van Ulsen, * ca. 1460 Zwolle, † Jan. 1508 ’s-Hertogenbosch. – Arzthumanist, Dichter. Nachdem er das Gymnasium in Zwolle absolviert hatte, zog U. zum Studium der Artes u. der Medizin nach Deutschland (Heidelberg?) u. vielleicht Italien (Padua?, Bologna?). 1487 befindet er sich als Stadtarzt in Kampen/Overijssel, 1488–1492 in Deventer, wie Abschiedsgedichte an Alexander Hegius, den berühmten Rektor des dortigen Lebuinums, belegen. Seit 1492 wirkte U. für zehn Jahre als Stadtarzt in Nürnberg u. verkehrte dort ebenso in humanistischen Kreisen um Hartmann Schedel, Petrus Danhauser u. Conrad Celtis wie in höf. Zirkeln um Maximilian I., u. a. in Linz, Innsbruck u. Wien, wo U. Mitgl. der ›Sodalitas litteraria Danubiana‹ u. vielleicht vor 1502 zum poeta laureatus gekrönt wurde. 1502 musste er nach misslungenen Spekulationen Nürnberg verlassen u. übernahm eine Medizinprofessur in Mainz. 1503 besuchte er Augsburg, wo im selben Jahre eine von ihm betreute Ausgabe des ps.-hippokratischen Briefes De insania Democriti (auch Epistulae ad Damagestum, in der lat. Fassung des Rinuccio Aretino) erschien. In Freiburg hatte er seit 1504 den Lehrstuhl für Medizin inne u. konnte Verbindungen nach Straßburg u. Basel knüpfen. Doch bereits 1505 ließ er sich nach einem Aufenthalt in Köln, wo er mit J. Trithemius in Kontakt trat, in Lübeck nieder u. stand bis 1507 als Leibarzt im Dienste der Herzöge von Mecklenburg. Seine Rückkehr in die Niederlande überlebte er nicht lange. U.s enge Freundschaft mit Celtis zeigt sich nicht nur in einigen recht persönl. Briefen, sondern auch darin, dass U. bei der Uraufführung von Celtis’ Ludus Diane 1501 in Linz als Darsteller mitwirkte, sowie in zahlreichen lat. Gedichten, etwa U.s Begleitpoem zu Celtis’ Libri Odarum quatuor oder dessen Geleitgedichten zu U.s Jodocus-Hymnus. Denn der Humanist, der seinem Namen stets das Toponym ›Phrisius‹ anhängte, gerierte sich auch als enthusiastischer Anhänger seines Landsmannes Rudolf Agricola, was besagter De sancto Jodoco hymnus (Deventer 1509) doku-

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mentiert, eine in sapph. Strophen abgefasste Parodie auf Agricolas Carmen heroicum de vita S. Judoci (gedr. Köln 1508), dessen Manuskript U. womöglich selbst aus den Niederlanden nach Nürnberg gebracht haben mag. U. beteiligte sich am frühen Schrifttum zur Morbus Gallicus-Bekämpfung u. schuf ein in der Forschung oft beachtetes, als Einblattdruck verbreitetes Flugblatt Vaticinium in epidemicam Scabiem (Nürnb. 1496. Augsb. 21496), das neben einer Beschreibung der Krankheit u. der astromedizinischen Erklärung ihrer Ursache in einhundert lat. Hexametern einen oftmals A. Dürer zugeschriebenen Holzschnitt bietet. In diesen Bereich gehören auch seine fünfzig Aphorismen über die Heilung der ›Franzosenkrankheit‹ (De cura mali francici, Ms.), der auch ein Epigramm in den Beigaben der Insania Democriti gewidmet ist. Während das Vaticinium eine Heilung der Krankheit vorenthält, schlägt U. in diesen Texten, wie auch in seinem Hippokrates-Kommentar (Clinicus pharmacandi modus. Nürnb. 1496), eine astromedizinisch wie humoralpathologisch begründete Behandlungsmethode gegen die ›Franzosen‹ vor. Weitere Werke: Verschiedene Gedichte, medizinische u. philosophische Texte in Abschriften H. Schedels (BSB München MS clm 428, 486, 528, teilweise ediert in Santing [s.u.]; 569, 957, 962, teilweise ediert in Sudhoff u. Santing [s.u.]). – Hippocrates: Aphorismi. Nürnb. 1496. – Speculator Consiliorum enigmaticus. Nürnb. 1501. – Briefe (außer Widmungsbriefen in eigenen oder fremden Werken): Der Briefw. des Conrad Celtis. Ges., hg. u. erl. v. Hans Rupprich. Mchn. 1934, S. 90 f., 131 f., 139, 173 f., 176 f., 186, 193–195, 200, 202–204, 209–211, 214 f., 225 f., 269, 280 f., 306, 453 f., 621 f. Ausgabe: Conrad Heinrich Fuchs (Hg.): T. U. Phrisii Vaticinium in epidemicam Scabiem, quae passim toto orbe grassatur. Nebst einigen anderen Nachträgen zur Sammlung der ältesten Schriftsteller über die Lustseuche in Deutschland. Gött. 1850. Literatur: Bibliografie: Santing 1992 (s.u.), S. 265–270. – Weitere Titel: Johannes Trithemius: Liber de scriptoribus ecclesiasticis. Basel 1494, S. 398. – Suffridus Petrus: De Scriptoribus Frisiae Decades XVI et Semis. Franeker 21699, S. 92 f. (vgl. 89 f.). – Georg Andreas Will: Nürnbergisches Gelehrten-Lexicon. Bd. 4, Nürnb./Altdorf 1758,

689 S. 96 f. – Jöcher 4, Sp. 1677. – Karl E. H. Krause: Der Leibarzt D. U. In: Jbb. des Vereins für Mecklenburgische Gesch. u. Altertumskunde 47 (1882), S. 141–145. – Bernhard Hartmann: Conrad Celtis in Nürnberg. Nürnb. 1889, S. 15–19, 27, 44 f. – Hermann Arthur Lier: T. U. In: ADB. – Johannes Ültzen: Das Flugblatt des Arztes T. U. vom Jahr 1496 über den dt. Ursprung der Syphilis u. seine Illustration. In: Archiv für patholog. Anatomie u. Physiologie 162 (1900), S. 371–373. – Karl Sudhoff: Aus der Frühgesch. der Syphilis. Handschriften- u. Inkunabelstudien, epidemiolog. Untersuchung u. krit. Gänge. Lpz 1912, S. 24, 48–55. – Ders.: Graph. u. typograph. Erstlinge der Syphilislit. Mchn. 1912, S. 8–10 u. Tafel VI. – W. Voss: Eine Himmelskarte vom Jahre 1503 mit den Wahrzeichen des Wiener Poetenkollegiums als Vorlage Albrecht Dürers. In: Jb. der Preuß. Kunstsammlungen 64 (1943), S. 89–150, hier S. 112 f., 116, 120, 127 f. – Brian Lawn: The Salernitan Questions. An Introduction to the History of Medieval and Renaissance Problem Literature. Oxford 1963, S. 113–128. – Dieter Wuttke: T. U. als Quelle für das Epigramm auf den Orpheus-Eurydike-Plaketten Peter Vischers des Jüngeren. In: Ztschr. des Dt. Vereins für Kunstwiss. 20 (1966), S. 143–146. – Raimund Kemper: Zur Syphilis-Erkrankung des Conrad Celtis, zum ›Vaticinium‹ U.s u. zum sog. ›Pestbild‹ Dürers. In: AKG 59 (1977), S. 99–118. – Walter L. Strauss (Hg.): The Illustrated Bartsch. Bd. X/2: Sixteenth century German artists: Albrecht Dürer. Commentary. New York 1981, S. 476 f. – Wolf-Dieter Müller-Jahncke: Astrologisch-mag. Theorie u. Praxis in der Heilkunde der Frühen Neuzeit. Wiesb. 1985, S. 198–201. – Jean Michel Massing: Dürer’s Dreams. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 49 (1986), Sp. 238b-244b, hier Sp. 241b/ 242a. – C. G. Santing: T. U., alter Agricola? The Popularity of Agricola with Early Dutch Humanists. In: Rodolphus Agricola Phrisius 1444–1485. Hg. Fokke Akkermann u. Arie J. Vanderjagt. Leiden u.a. 1988, S. 170–179. – Dies.: Geneeskunde en humanisme. Een intellectuele biografie van T. U. (c. 1460–1508). Rotterdam 1992. – Thomas Rütten: Demokrit – lachender Philosoph u. sanguin. Melancholiker. Leiden 1992, S. 152 f. – Catrien G. Santing: Medizin u. Humanismus. Die Einsichten des Nürnbergischen Stadtarztes T. U. über Morbus Gallicus. In: Sudhoffs Archiv 79 (1995), S. 138–149. – Dieter Mertens: Zur Sozialgesch. u. Funktion des poeta laureatus im Zeitalter Maximilians I. In: Gelehrte im Reich. Hg. Reiner Christoph Schwinges. Bln. 1996, S. 327–348, hier S. 340. – Philipp Portwich: Das Flugblatt des Nürnberger Arztes T. U. v. 1496. In: Berichte zur Wissenschaftsgesch. 21

Ungar (1998), S. 175–183. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2141 f. Jost Eickmeyer

Ungar, Hermann, * 20.4.1893 Boskowitz (Boskovice), † 28.10.1929 Prag. – Erzähler, Dramatiker. Der Sohn einer wohlhabenden jüd. Familie, der früh vielseitige literar. Interessen bekundete, wuchs zweisprachig (dt. u. tschechisch) auf. Nach kurzem Studium der hebräischen u. arab. Sprache in Berlin entschloss er sich 1912 zum Studium der Rechts- u. Staatswissenschaften in München. Bei Kriegsausbruch meldete er sich als Einjährig-Freiwilliger. Nach einer Verwundung frontdienstuntauglich, konnte U. das Jurastudium in Prag fortsetzen (Promotion 1918). Er begeisterte sich für die russ. Revolution u. war ein Anhänger der jungen tschechoslowak. Republik u. der Politik ihres Präsidenten Masaryk. Wenn er auch meist in Brotberufen arbeitete, als Angestellter des tschechoslowak. Amtes für Außenhandel, als Kulturattaché u. zuletzt als Ministerialkommissar im Prager Außenministerium, hielt er doch ein Leben ohne die künstlerische Tätigkeit des Schreibens für unerträglich. Angeregt durch seine Erlebnisse als Kriegsteilnehmer in Galizien u. Wolhynien, schrieb er 1916/17 das erst postum veröffentlichte »Drama aus der Zeit Napoleons«, Krieg (Paderb. 1990), ein engagiert pazifistisches Erweckungsdrama mit expressionistisch gesteigertem Schiller-Pathos. In den beiden Erzählungen des Bandes Knaben und Mörder (Lpz./Wien/Zürich 1920) u. dem Roman Die Verstümmelten (Bln. 1923) diagnostizierte er die Abgründe, Bösartigkeiten u. Schrecken einer haltlos gewordenen Welt, in welcher der empfindsame u. zur Hingabe bereite Mensch unentrinnbar zum »Verstümmelten« wird. Die bes. Kunst dieses Erzählers, den Leser durch die Schilderung von seelisch Extremem u. zugespitzt Groteskem »das eigentlich Menschliche empfinden zu lassen«, würdigte damals bes. Thomas Mann gegenüber einem Publikum, dem die visionäre Sachlichkeit u. düstere Melancholie zu makaber u. lebensfern vorkam. Der Dokumentarbericht Die Ermordung des Hauptmanns

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Hanika (Bln. 1925) u. der Roman Die Klasse für Dramatik« für das beste dt. Bühnenwerk (ebd. 1927) bekräftigten U.s Ruf als konse- des Jahres ausgezeichnet. In kurzen Szenen quenten Schilderer »unreinlicher Situatio- schilderte U. das von Krieg u. Inflation genen« u. menschl. Verstrickungen in einem zeichnete Leben in einem Berliner Mietshaus von Angst bestimmten Ordnungssystem. Der als Sinnbild der Gesellschaft der Weimarer von T. Mann postum herausgegebene Band Republik. 1934 verhaftet u. mit Schreibverbot belegt, mit kleinen Erzählungen, Colberts Reise (Bln. 1930), zeigt noch einmal exemplarisch, zu gelang U. 1937 die Flucht nach England. Dort welcher »grotesken Sakramentalität des gehörte er zu den Begründern der von Hans Sinnlichen« (Mann), gerade im Bruchstück- José Rehfisch gegründeten Kulturvereinihaften oder eben nur knapp Skizzierten, gung Club 1943. Nach dem Krieg war U. dieses schwermütige Talent fähig war. Mit Kulturkorrespondent des BBC u. schrieb zwei Theaterstücken, Der rote General (1928) u. Drehbücher, Hörspiele u. Rundfunkvorträge Die Gartenlaube (Bln. 1930. Urauff. 1929), über das zeitgenöss. engl. Theater. Für die dt. konnte U. auch ein breiteres Publikum er- Bühne bearbeitete er Schauspiele von Terence reichen dank der hier entfachten polit. Rattigan, Charles Morgan u. Peter Ustinov. Spannung u. einem ungetrübt heiteren Witz, Heiner Widdig hinter dem dennoch das menschl. Grauen lauert. »Larven sieht man«, schrieb Alfred Unger, Friederike Helene, geb. von RoKerr, »gefühlt von einem, der mitnichten die thenburg, * 1741 oder 1751 Berlin, † 21.9. Welt, aber ihre Welt verlassen wollte.« Weitere Werke: Das Gesamtwerk. Nachw. v. Jürgen Serke. Wien/Darmst. 1989. – Der Bankbeamte u. andere vergessene Prosa. Hg. Dieter Sudhoff. Paderb. 1989 (E.en, Ess.s, Aufzeichnungen u. Briefe, die nicht im ›Gesamtwerk‹ enthalten sind). – Sämtl. Werke in drei Bdn. Hg. D. Sudhoff. Oldenb. 2002. Literatur: Nanette Klemenz: H. U. Eine Monogr. Bonn 1970. – Manfred Linke (Hg.): H. U. Eine Einf. in sein Werk u. eine Ausw. Wiesb. 1971. – Hans J. Schütz: H. U. In: Ders.: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen‹. Mchn. 1988, S. 276–281, 331. – D. Sudhoff: H. U. Leben – Werk – Wirkung. Würzb. 1990. – Carina Lehnen: Krüppel, Mörder u. Psychopathen. H. U.s Roman ›Die Verstümmelten‹. Paderb. 1990. Klaus Völker

Unger, Alfred H(ermann), * 20.1.1902 Hohensalza, † 8.11.1989 Köln. – Bühnenautor. Der Arztsohn studierte Philosophie in Köln u. Berlin (Promotion 1924), war Feuilletonist, Film- u. Theaterkritiker u. Chefdramaturg der Ufa. – Neben dem religiösen Bekenntnisroman Die Geschichten um den großen Nazarener (Bln. 1926) schrieb U. in den 1920er Jahren Komödien u. Volksschauspiele. Menschen wie Du und ich (ebd. 1929) wurde von Max Reinhardt, Leopold Jessner u. Alfred Polgar mit dem »Zehntausend-Mark-Preis

1813 Berlin. – Erzählerin, Essayistin, Übersetzerin.

Die Tochter des preuß. Generals Rudolf Graf von Rothenburg, der dem Kreis um Friedrich II. angehörte, u. der Marquise de Vieuville wurde in Potsdam bei dem Hof- u. Garnisonsprediger Johann Peter Bamberger u. seiner schriftstellerisch tätigen Frau Antoinette, geb. Sack, erzogen. Später kam sie, wahrscheinlich als Erzieherin, in das Haus des Berliner Druckers Johann Georg Unger u. heiratete in den frühen 1780er Jahren dessen Sohn, den aufstrebenden Verleger Johann Friedrich Unger. Die Beziehung des kinderlosen Ehepaars, dessen Freundeskreis Chodowiecki, Moritz, Reichardt u. Zelter angehörten, war durch enge berufl. Zusammenarbeit geprägt. U. unterstützte ihren Mann u. a. durch Verbindungen zum preuß. Hof. Sie veröffentlichte die meisten ihrer Werke in seinem Verlag, den sie nach Ungers Tod 1804 weiterführte, bis sie 1809 Konkurs anmelden musste. U. war vielseitig literarisch tätig. Sie übersetzte frz. Werke, z. B. von Beaumarchais, Marivaux, Mercier u. Rousseau, u. veröffentlichte Zeitschriftenartikel, darunter im »Berlinischen Magazin der Wissenschaften und Künste«, in der »Berlinischen Monatsschrift« u. im »Journal von und für Deutschland«, in

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denen sie sich mit histor. u. sozialen Themen F. H. U. u. die Autorschaftsfrage. Diss. Univ. of auseinandersetzte. Ihr bes. Interesse galt der Alberta, Edmonton 2004. – Inge Stephan: Das Pädagogik, dem sie z. B. im »Vaterländischen Konzept der ›schönen Seele‹. Zur geschlechtl. Lesebuch für Land- und Soldatenschulen« Codierung einer philosophisch-religiösen Figuration im Gender-Diskurs um 1800 – am Beispiel der (Bln. 1799), bes. aber in ihren – anonym er›Bekenntnisse einer schönen Seele‹ v. Goethe (1795/ schienenen – Romanen Ausdruck verlieh. U. 96) u. U. (1806). In: Dies.: Inszenierte Weiblichkeit. wandte sich, in der Tradition der Aufklärung Codierung der Geschlechter in der Lit. des 18. Jh. stehend, gegen feudalistische Tendenzen u. Köln 2004, S. 189–204. – Regine Schwarzmeier: propagierte ein bürgerlich-einfaches, patri- Kontextualisierung v. Ehe u. Ehelosigkeit. Weibl. archalisch-sittl. Lebensideal. Die größte Re- Lebensentwürfe in den Romanen v. F. H. U. Diss. sonanz fand die produktive Autorin mit ih- Vanderbilt Univ., Nashville, Tenn., 2005. – Cindy rem Roman Julchen Grünthal. Eine Pensionsge- P. Brewer: The Seduction of the Beautiful Soul: schichte (ebd. 1784), der zwei weitere Auflagen Anxiety of Influence in F. U.’s ›Bekenntnisse einer schönen Seele von ihr selbst geschrieben‹. In: Mo(1787. 1798) u. eine Nachdichtung von Jonatshefte 98 (2006), S. 45–67. hann Ernst Stutz (1788) erlebte; später geAndrea Hahn / Karin Vorderstemann rieten ihre Schriften in Vergessenheit. Seit einigen Jahren wird im Zuge des Genderdiskurses U.s literar. Werk verstärkt untersucht Unger, Heinz Rudolf, * 7.8.1938 Wien. – u. als intertextuelle Auseinandersetzung mit Erzähler, Lyriker, Verfasser von Fernsehdem männlich dominierten Genre des Bil- u. Hörspielen, Theaterstücken u. Lieddungsromans neu bewertet. texten, Librettist. Weitere Werke: Naturkalender für die heranwachsende Jugend. Bln. 1789. – Der Mondkaiser. Eine Posse in 3 Aufzügen. Aus dem Französischen frei übersetzt. Ebd. 1790. – Gräfin Pauline. 2 Tle., ebd. 1800. – Albert u. Albertine. Ebd. 1804. – Bekenntnisse einer schönen Seele [...]. Ebd. 1806. – Die Franzosen in Berlin. Lpz./Züllichau 1809. Literatur: Magdalene Heuser: ›Spuren trauriger Selbstvergessenheit‹. Möglichkeiten eines weibl. Bildungsromans um 1800: F. H. U. In: Kontroversen, alte u. neue. Akten des VII. Internat. Germanisten-Kongresses. Gött. 1985. Bd. 6, Tüb. 1986, S. 30–42. – Gerhard Kutzsch: Die Ungers, ein Künstler- u. Verlegerpaar vor 200 Jahren [...]. In: Der Bär 7 (1988), S. 101–113. – Susanne Zantop: Aus der Not eine Tugend ...: Tugendgebot u. Öffentlichkeit bei F. H. U. In: Untersuchungen zum Roman v. Frauen um 1800. Hg. Helga Gallas u. M. Heuser. Tüb. 1990, S. 132–147. – Ursula Kirchhoff: F. H. U.s ›Julchen Grünthal‹. Ein Erziehungsroman als verkappter weibl. Adoleszenzroman. In: Jugendlit. u. Gesellsch. Hg. Horst Heidtmann. Weinheim 1993, S. 56–63. – Marianne Henn u. Britta Hufeisen: ›Bekenntnisse einer schönen Seele‹ aus weibl. Sicht. F. H. U.s Roman. In: Frauen. MitSprechen, MitSchreiben. Beiträge zur literaturu. sprachwissenschaftl. Frauenforsch. Hg. M. Henn u. a. Stgt. 1997, S. 48–68. – Birte Giesler: Literatursprünge. Das erzähler. Werk von F. H. U. Gött. 2003. – Diana Spokiene: ›Was bleibt [...] deinem Geschlecht anders übrig, als die List. Bekenntnisse einer Giftmischerin. Von ihr selbst geschrieben‹.

U., gelernter Schriftsetzer, später Verlagshersteller, arbeitete nach 1960 als Werbetexter, 1963–1968 als Zeitungsredakteur, danach als freier Schriftsteller in Wien. Seine Texte beschäftigten sich zunächst v. a. mit polit. Themen. So schrieb er die Liedtexte zum szen. Pop-Oratorium Die Proletenpassion (zus. mit der Musikgruppe »Die Schmetterlinge«. Urauff. 1976), das aus der Perspektive der Unterdrückten histor. Ereignisse seit den Bauernkriegen exemplarisch behandelt. Die sprachl. Prägnanz der Lieder, die U. von der Kritik bescheinigt wurde, durchdringt ebenso seine Lyrik u. Theaterarbeiten. Das Stück Unten durch (Urauff. 1980. In: Die Republik des Vergessens. Drei Stücke. Wien 1987) handelt in »acht Bildern vom Anfang des Krieges« von der Bereitschaft, den österr. Nationalsozialismus zu verdrängen. Eine vergleichbare Thematik enthält auch das Stück Zwölfeläuten (ebd.), das 2001 von Harald Sicheritz verfilmt u. im selben Jahr von U. in einer Prosafassung veröffentlicht wurde (Innsbr.). Es zeigt im Übergang vom Nationalsozialismus zur Zeit nach 1945 die bruchlose Kontinuität einer dörflichen opportunistischen Welt. Die krit. Zeitgenossenschaft der Stücke macht U. zum viel gespielten Theaterautor auch außerhalb Österreichs. Der sarkast. Ton der Theater-

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stücke wird im Werk U.s durch die Mittel der Unger, Hellmuth, * 10.2.1891 NordhauSatire u. Ironie begleitet. In den Liedern u. sen am Harz, † 13.7.1953 Freiburg i. Br. – der Lyrik treten neben sozialkrit. Tönen Biograf, Dramatiker, Romancier. weitere hervor, die entgegengesetzt erscheinen: Die Gedichte In der verkehrten Welt U. studierte in Würzburg, Rostock, Halle u. (Innsbr. 2006) spielen mit dem Formenkanon Leipzig Medizin u. lebte als Augenarzt u. der Tradition, deuten diese Formen jedoch freier Schriftsteller in Berlin u. Bad Harzim Sinne der ästhetischen Erfahrung um. Sie burg. 1909 begann U.s rege Publikationstäwerden zum Residuum unhintergehbarer tigkeit mit Das Tiefenbachlied. Eine Dichtung (Gera). Es folgten Die Lieder der hellen Tage (ebd. Lebensbezüge. 1912) u. die nationalistischen Kriegsbücher Neben Kinder- u. Jugendbüchern, die vom Sturm im Osten. An Österreichs Seite in den KarAufbruch zur integren Person handeln, hat U. auch Libretti zu den Opern La Papessa von paten und Galizien (Chemnitz 1916), Schlichtes Jean-Francois de Guise, Verdammte Engel von Heldentum. Novellen und Skizzen aus dem großen Karlheinz Schrödl, zur Opera Buffa Meister Krieg (ebd. 1917). Nach dem Weltkrieg schrieb U. mehrere Kater von Wilhelm Dieter Siebert u. zur Kammeroper Spartacus von Jean-Francois de vom Spätexpressionismus beeinflusste Dramen wie Die Kentaurin (Lpz. 1919), ein myGuise verfasst. Weitere Werke: In der Stadt der Barbaren. tholog. Stück um eine junge AmazonenfürsWien/Mchn. 1971 (L.). – Venceremos. Wien 1974 tin, das Kammerspiel Der verlorene Sohn (ebd. (L.). – Verdammte Engel – arme Teufel. Ebd. 1979 1919), das Mutterlieb’ u. -leid behandelt, (Dramen). – Das Lied des Scorpions. Ebd. 1979 (L.). dazu literarisch ambitionierte Komödien u. – David u. Overkill. Ebd. 1981 (L., P.). – Mir kommt histor. Schauspiele. Seit Ende der 1920er die Schreibe hoch. Ebd. 1988 (L.). – Die Proleten- Jahre verfasste U. Abenteuer- (Eisland. Roman passion. Wien/Zürich 1989. – Die Fliege am einer Expedition. Bremen 1928. Pack-Eis. Bln. Broadway. Wien 1989 (Überarbeitung: Mae-Fly. 1936) u. Arztromane – sein Buch Sendung und Eine heiße Story. Wien 2005) (Kinderbuch). – Rosalinde im Spiel der Winde. Wien 1991 (Kinder- Gewissen (Bln. 1936) diente Wolfgang Liebebuch). – Odysseus, an den Mast geschnürt. Wien neiner als Vorlage zu seinem Euthanasie-Film 1992 (L.) – Tao Tui. Das Buch der Windungen. Wien Ich klage an (Urauff. 1941) – sowie populär1993 (L.) – Wahl-Los. 1994 Wien (L.). – Ein Strich wissenschaftl. Biografien u. Darstellungen zieht durch die Welt. Wien 1994 (Kinderbuch). – der medizinischen Forschung: Helfer der Florentin Flunker im Maskenland. Wien 1994 Menschheit. Der Lebensroman Robert Kochs (Lpz. (Kinderbuch). – Das Kellerkind. Wien 1995 (E.). – 1929. Motive verfilmt von Hans Steinhoff in: Karneval der Götter. Innsbr. 1999 (R.). – Das Lied Robert Koch. Helfer der Menschheit. Urauff. der Wasserflöhe. Wien 2000 (Kinderbuch). – Das kleine kecke Haus. Wien 2000 (Kinderbuch). – Lö- 1936), Germanin. Geschichte einer deutschen Großtat (Bln. 1938. Motive verfilmt von wenslauf. Innsbr. 2004 (R.). Literatur: Kurt Adel: Aufbruch u. Tradition. Goebbels’ Schwager Max Kimmich. Urauff. Wien 1982, S. 203 ff. – Johanna Mallinger: H. R. U. 1943), Wilhelm Konrad Röntgen (Hbg. 1949) u. – ein Portrait. Diplomarbeit Univ. Salzburg. 1984. Virchow. Ein Leben für die Forschung (ebd. 1953). – Karl Müller: ›wir von der blauen Donau!‹ Le- In ihnen stilisierte U. – mit nationalem Pabenslüge – staatstragender Mythos – krit. Volks- thos – bedeutende Mediziner zu Führernastück. Fritz Kortner, Fritz Hochwälder u. H. R. U. turen u. mystifizierte wissenschaftl. ForIn: MAL 26 (1993), H. 3/4, S. 273–312. – Helga schung zu einem dunkel-genialen SchaffensSchreckenberger: Vergangenheitsbewältigung im akt. Volksstück. H. R. U.s Trilogie ›Die Republik des Vergessens“. In: ebd., S. 231–246. – Helmut Pöckl: H. R. U.: Das Frühwerk. Kurzgeschichten, frühe, experimentelle Bühnenstücke, experimentelle Lyrik. Diplomarbeit Univ. Wien 1996. Waldemar Fromm

Weitere Werke: Gottes Bote. Lpz. 1918 (D.). – Der Geächtete. Ebd. 1918 (Schausp.). – Grettir. Ebd. 1918 (Schausp.). – Der große Fries. Ges. Balladen. Dresden 1919. – Blocksberg. Zwei N.n. Lpz. 1919. – Schnurpels. Ebd. 1919 (R.). – Mammon. Ebd. 1920 (Kom.). – Die Verklärung Falaises. Ebd. 1921 (D.). – Morells Milliarden. Ebd. 1921 (R.). – Die Nacht.

693 Ebd. 1922 (D.). – Karneol. Ebd. 1922 (D.). – Spiel der Schatten. Ebd. 1922. – Mutterlegende. Ebd. 1922 (D.). – Menschikow u. Katharina. Ebd. 1923 (D.). – Palette oder Ein Held dieser Zeit. Ebd. 1924 (Tragikom.). – Der verliebte Beifu (nach einer N. v. Robert Austerlitz). Ebd. 1924 (Lustsp.). – Goddins ewige Masken. Eine dramat. Symphonie. Ebd. 1924. – Die Insel der Affen. Ebd. 1926 (Kom.). – Legende vom Tod. Ebd. 1928 (D. nach einer Legende v. Selma Lagerlöf). – Heimkehr nach Insulinde. Bln. 1930 (R.). – Opferstunde. Ebd. 1934 (D.). – Die Schweizer Reise. Ebd. 1934 (R.). – Vom Siegeszug der Heilkunde. Großtaten der Medizin. Mchn. 1936. – Das gesegnete Jahr. Bln. 1938 (R.). – Unvergängliches Erbe. Das Lebenswerk Emil v. Behrings. Oldenb. 1940. – Die Männer v. Narwik. Ein Buch der Kameradschaft. Ebd. 1942. – Helfer u. Soldaten. Ein Buch vom Kriege. Bln. u.a. 1943. – Tage der Bewährung. Ebd. 1944. – Der Schwan v. Avon. Ein Shakespeare-Roman. Wien 1948. – Louis Pasteur. Bildnis eines Genies. Hbg. 1950. – Narkose. Forscher, Helfer, Scharlatane. Ebd. 1951. Literatur: Claudia Sybille Kiessling: Dr. med. H. U. (1891–1953). Dichterarzt u. ärztl. Pressepolitiker in der Weimarer Republik. u. im Nationalsozialismus. Husum 1999. – Jasmin Grande: H. U. Schriftsteller, Arzt, Propagandist des ›Dritten Reichs‹. In: Verfolger u. Verfolgte. ›Bilder‹ ärztl. Handelns im Nationalsozialismus. Hg. Richard Kühl u. a. Bln. 2010, S. 195–210. Walter Olma / Red.

Ungerer, Tomi (Jean-Thomas), * 28.11. 1931 Straßburg/Elsass. – Grafiker, Karikaturist, Illustrator u. Autor von Bilderbüchern für Kinder u. Erwachsene. U.s gewaltiges Œuvre – über 140 Bücher u. mehr als 40.000 Zeichnungen – reicht vom Kinderbuchklassiker, über skandalumwitterte erotisch-pornografische Bilderbuchsatiren, bis hin zu höchst erfolgreichen Werbegrafiken. Aufgrund seiner unangepassten, genreübergreifenden Arbeiten erfuhr U. neben Anerkennung oftmals Ablehnung u. Kritik. Dennoch gilt der bekennende Elsässer u. Europäer heute als einer der bedeutendsten Kinderbuchautoren – neben zahlreichen anderen Auszeichnungen erhielt er 2004 den Hans-Christian-Andersen-Preis – u. Karikaturisten sowie als wichtiger Vermittler zwischen der dt. u. der frz. Kultur, der von sich selbst sagt, »[...] von deutscher Seite den Sinn

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fürs Abgründige, die Sentimentalität mit unfreiwillig komischem Unterton, von französischer Seite die Ausgelassenheit eines Rabelais und die feine, beißende Ironie und von angelsächsischer Seite den Ulk, den staubtrockenen Humor, den Nonsens, also das Absurde [...]« in sich zu vereinen. Nach dem frühen Tod des Vaters 1934 – eines bekannten Straßburger Uhrmachers – wuchs U. in der Nähe von Colmar/Elsass auf. Nach der Besetzung durch die dt. Truppen wurde er gezwungen, Deutsch zu lernen, was nach dem Krieg wieder verboten wurde. Die Schulzeit war von Kriegserlebnissen geprägt u. endete für U., dem in einem Zeugnis gar Perversität u. Subversion attestiert wurden, ohne offiziellen Abschluss 1950. Nach unsteten Wanderjahren schiffte er sich 1956 nach den USA ein. Obgleich U. bereits Anfang der 1950er-Jahre eine Zeichnung im »Simplicissimus« veröffentlichen konnte, gelang ihm der große Durchbruch erst 1957 in New York mit dem ersten Band einer Serie von Mellops-Kinderbüchern (New York. Dt. erstmals Mchn. 1962), die bis 1963 erschien. In den Abenteuern einer exzentr. Schweinefamilie spiegelt sich U.s Kritik an der amerikan. Konsumgesellschaft. Nachhaltige Erfolge im Kinderbuchbereich waren ebenso Die drei Räuber (Mchn. 1961; Verfilmt 2009, Regie: Hayo Freitag) sowie Das Biest des Monsieur Racine (New York 1971. Dt. Zürich 1972), dessen Helden, zwei kindl. Schelme, im Gegensatz zu ihren Vorbildern bei W. Busch u. H. Hoffmann ungestraft davonkommen. Kein Kuß für Mutter (New York. 1973 Dt. Zürich 1974) ist eine Verballhornung von Ein Kuß für den kleinen Bären (1970) seines Freundes Maurice Sendak u. Absage eines kleinen Katers an seine überfürsorgl. Mutter, in dem U. eigene Kindheitserlebnisse verarbeitet. Nach 20-jähriger Pause in der Kinderbuchproduktion erschien 1997 Flix (Zürich), 1999 Otto. Autobiographie eines Teddybären (Zürich), eine Auseinandersetzung mit Krieg u. Holocaust u. 2007 Neue Freunde (Zürich), das einen iron. Blick auf den Kunstbetrieb wirft. U.s Kinderbücher zeichnet aus, dass sie sich oft sinnfreier, absurd-grotesker Mittel zur krit. Darstellung gesellschaftl. Missstände bedienen u. dabei stets ohne belehrende Mo-

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ral auskommen, ohne deswegen unmoralisch Epoche. Hg. Benedikt Erenz. Hbg. 2007, S. 32–35. zu sein, wofür er v. a. in den USA heftig kri- – T. Willer (Hg.): T. U. Das T. U. Museum in Strasbourg. Werkkatalog zur ständigen Aussteltisiert wurde. Neben seiner Tätigkeit als Kinderbuchau- lung. Mit 210 Illustrationen u. Texten v. Thérèse Willer u. Claire Hirner. Zürich 2008. tor arbeitete U. in den USA als Werbegrafiker, Constanze Drumm u. a. für die »New York Times«, sowie als Zeichner für zahlreiche Zeitschriften wie »Life«, »Harper’s Bazaar«, »Fortune« u. Ungern-Sternberg, (Peter) Alexander »Esquire«. In den 1960er Jahren erschienen Frhr. von, auch: Sylvan, A. v. Sternberg, mehrere Bände mit U.s satir. Zeichnungen, * 22.4.1806 Gut Noistfer bei Reval/Estdarunter The Party (New York 1966. Dt. Zü- land, † 24.8.1868 Gut Dannenwalde/ rich 1969), worin U. drastisch die moralische Mecklenburg. – Verfasser von Novellen, Verkommenheit, Gier u. Dummheit der New Märchen, Romanen, Erinnerungen. Yorker High Society vorführt. In Fornicon (New York 1970. Dt. Zürich 1970) nimmt er Aus altem balt. Adelsgeschlecht stammend, in satirisch-obszönen Zeichnungen mechani- wuchs U. in einer literarisch interessierten sierter Sexualität den Sexwahn der besseren (sein Vater, 1800–1802 Vizekurator der UniGesellschaft aufs Korn. Nach Plakatentwür- versität Dorpat, war mit Kotzebue befreunfen gegen den Vietnamkrieg u. für die Frie- det), von der Brüdergemeine in Herrnhut densbewegung wurde U. 1972 mit der Pla- geprägten Umgebung auf. Nach einem 1826 katgestaltung für den Wahlkampf Willy in Dorpat aufgenommenen Studium der Kameralwissenschaften erhielt er statt der anBrandts beauftragt. 1970 verließ U. New York u. verbrachte gestrebten Staatsstelle 1830 in St. Petersburg einige Jahre in Kanada; seit 1977 lebt er in von Kaiserin Alexandra ein Stipendium zur Irland u. seit 1988 zeitweise auch wieder in Ausbildung als Maler (von seinem anerkannStraßburg, wo 2007 das Musée Tomi Ungerer ten Zeichentalent zeugen etwa auch die Il– Centre international de l’Illustration eröff- lustrationen zu Tutu. Lpz. 1846. Neuausg. net wurde, in dem in wechselnden Ausstel- Meersburg 1936. Mikrofiche Mchn. u. a. lungen neben Zeichnungen, Postern, Bü- 1990–94). Der Cholera ausweichend, kam U. chern, Grafiken, Skulpturen, Fotos u. Pres- nach Dresden, wo er Tieck kennenlernte; seartikeln auch U.s umfangreiche Sammlung 1831–1834 hielt er sich am Hof der verwitweten Großherzogin Stephanie von Baden in histor. Spielzeuge präsentiert wird. Mannheim auf. Seine Novelle Die Zerrissenen Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Zürich): T. U.’s Weltschmerz. Eine Bilanz der trauri- (Stgt. 1832) gab einer Zeitstimmung den gen Errungenschaften des Fortschritts. 1961. – Namen. Ihr Erfolg, wie die Bekanntschaft mit Crictor. 1963. – Der Mondmann. 1966. – Zeralda’s Schwab u. Lenau, bestimmte seinen EntRiese. 1970. – Papa Schnapp u. seine noch-nie-da- schluss, sich der Schriftstellerei zuzuwenden. gewesenen Geschichten. 1973. – T. U.s Märchen- 1834–1841 lebte U. in Weimar, dann in Berbuch. 1975. – Totempole. Erotische Zeichnungen lin (u. a. im Kreis um Varnhagen). Die Revo1968–1975. 1976. – Das Kamasutra der Frösche. lution 1848 veranlasste ihn zur polit. Stel1982. – Rigor Mortis. 1983. – Heute hier, morgen lungnahme in streng royalistischem Sinne: fort / Here Today, Gone Tomorrow. 1983. – Die Die Royalisten, Die beiden Schützen, Die KaiserGedanken sind frei. Meine Kindheit im Elsaß. wahl (alle Bremen 1848/49); er wurde Mitar1993. – Die Blaue Wolke. 2000. – Es war einmal beiter der »Kreuzzeitung«. Im Auftrag des mein Vater. 2003. – Expect the Unexpected. 2006. russ. Gesandten von Meyendorff war er BeLiteratur: Thérèse Willer: T. U.: The ›Picasso‹ richterstatter bei der Frankfurter Nationalof Caricature. In: Graphis. The International Journal of Design and Communication 59 (2003), Nr. versammlung u. beim Erfurter Parlament 348, S. 18–37. – Thomas David: Der Zeichner T. U. (1850). Da er bald von dem extremen Standim Gespräch über seinen großen Lehrer u. die be- punkt abrückte, verdarb er es mit allen Parfreiende Kraft des Humors. In: Wilhelm Busch. Das teien. Etwa 1850 heiratete U. Luise von WalGenie des Humors. Sein Leben, seine Kunst, seine dow. Seine Reise nach Wien 1851 schildert

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Literatur: Heinrich Pröhle: A. Frhr. v. U. In: Ein Fasching in Wien (Wien 1851). Seit 1854 lebte U. in Dresden; seit 1862 körperlich u. ADB. – Joachim Kühn: Ein vergessener Baltengeistig verfallend, starb er auf dem Gut seines dichter: A. v. S. In: Preuß. Jbb. 180 (1920), S. 101 ff., 216 ff., 344 ff. – Anneliese Molsberger: Schwagers. Adel u. Adelsgesinnung in den Zeitromanen A. v. U. war ein leicht schreibender, auch aus U.s. Diss. Halle/Wittenb. Würzb. 1929. – Edgar materiellen Gründen ungemein produktiver Weil: A. v. S. Bln. 1932. – Winfried Freund: Die Autor (etwa 50 Bücher, dazu zahlreiche No- Diabolisierung des aufgeklärten Geistes: A. v. U.vellen in Almanachen). In seinen Anfängen S., ›Die Doppelgängerin‹ (1834). In: Ders.: Literar. war er stark Tieck u. auch Wieland ver- Phantastik. Die phantast. Novelle v. Tieck bis pflichtet; wegweisend blieb ihm die frz. Li- Storm. Stgt. u. a. 1990, S. 111–120. – Goedeke teratur des 18. Jh. (Diderot, Voltaire, La Fon- Forts., S. 393–405 (Werkverz.). Jürgen von Ungern-Sternberg / Red. taine u. andere). So ist er am besten als (satirischer) Beobachter des gesellschaftl. Lebens (Physiologie der Gesellschaft. Zuerst in: Urania Unibos, Versus de Unibove, 11. Jh. oder 1844. Neuausg. Bln. o. J. [1923]. Zuletzt früher (?) Hann. 2005. Erinnerungsblätter. 6 Tle., Bln./ Das »Gedicht vom Einochs« – von Jacob Lpz. 1855–60. Neuausg. Potsdam/Bln. 1919. Grimm 1834 in Brüssel in einer Handschrift Mikrofiche Mchn. u. a. 1990–94) u. als amüdes 11. Jh. entdeckt u. 1838 erstmals ediert – santer Plauderer im Märchenton (Schiffer-Saist ein kurzes mlat. Epos, das möglicherweise gen. 2 Tle., Stgt. 1837. Tutu. Braune Märchen. schon im 10., eher aber wohl im 11. Jh. in Bremen 1850. Neuausg. Bonn 1986, mit BiNiederlothringen entstanden ist. Sein unbebliogr. Mikrofiche Mchn. u. a. 1990–94). kannter Verfasser war sicherlich ein hochgeNicht zufällig sind gerade diese Werke im 20. bildeter Geistlicher, der sich nicht nur in BiJh. wieder aufgelegt worden. Bei den Zeitge- bel u. Liturgie sondern auch in dem im Volk nossen haben allerdings die eindeutig erot. umlaufenden weltl. Erzählgut auskannte. Braunen Märchen, mit denen er das »frivol- Inwieweit er auf Vorbilder aus der ›littérature witzige« Märchen in die dt. Literatur ein- orale‹ oder bereits schriftlich fixierte Vorlaführen wollte, seinen aus polit. Gründen gen zurückgreifen konnte, lässt sich nicht schon wankenden Ruf endgültig ruiniert. entscheiden. Seine Schwankdichtung besteht Auf seine Weise war U. auch um die sozia- aus 216 vierzeiligen, ambrosian. Strophen u. len Fragen der Zeit bemüht, v. a. um die verknüpft geschickt zahlreiche Motive solStellung des Adels. In Paul (3 Bde., Lpz. 1845) cher Erzählungen, wie sie sich – durchweg findet sich daneben bereits eine Darstellung später belegt – bei vielen Völkern wiederfindes Elends der schles. Weber. Dabei blieb er den. Beispiele sind u. a. Das Bürle der Brüder freilich einem unbestimmten Harmonieideal Grimm, der norweg. Schwank Store-Per og verpflichtet. Seine konservative Abneigung Vesle-Per (vgl. Der große und der kleine Klaus von gegen den dt. Einigungsversuch 1848/49 H. Ch. Andersen) oder die Storia di Campriano führte U. zu einer bemerkenswerten Vision contadino aus Italien. Die zeitlich nächsten des Jahres 1949: ein von den Russen besetztes Zeugnisse dieser Traditionslinie sind die Berlin, ein zwischen Ost u. West (Frankreich) Schwankepen (Schwankromane, ›fabliaux‹) geteiltes Deutschland, von dem nur das in altfrz. u. mhd. Sprache (z. B. Le pauvre clerc, Fürstentum Liechtenstein einen letzten Rest Der Pfaffe Amis, Neithart Fuchs). Neben den volkstüml. Motiven begegnet auch das ›forbildet (Kaiserwahl, S. 105 ff.). tuna‹-Thema sowie die Gegensatzpaare Tor Weitere Werke: Galathee. Stgt. 1836 (R.). – Fortunat. Ein Feenmärchen. 2 Tle., Lpz. 1838. – u. Weiser oder arm u. reich, die auch in der Berühmte dt. Frauen des 18. Jh. 2 Bde., ebd. 1848. – späteren satir. Literatur des MA (bes. im Die Dresdner Galerie. Gesch.n u. Bilder. 2 Bde., Ysengrimus) wiederkehren. Eingebettet in einen Rahmen weniger ebd. 1857/58. – Die Doppelgängerin u. a. dämon. Erzählungen. Hg. Hildegard Gerlach. Freib. i. Br. Strophen, welche die fiktive Erzählsituation (Vortrag am Hofe eines [geistlichen ?] Herrn) 1982.

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u. die Intentionen des Dichters vage andeu- S. 252–305 (mit dt. Übers.). – Andries Welkenhuyten, wird in vier Episoden vom Kampf des sen: Het Lied van boer Eenos. Leuven 1975. In: armen Bauern Unibos (Einochs), dem das Syrinx reeks 1 (mit niederländ. Übers.). – Thomas Schicksal immer nur einen Ochsen für die A.-P. Klein: Versus de Unibove. Neued. mit krit. Komm. In: Studi Medievali, ser. III 32, Spoleto Feldarbeit zugesteht, mit der Dorfobrigkeit 1991, S. 843–86. – La beffa di U. A cura di F. Bertini erzählt. Vogt, Dorfschulze u. Pfarrer neiden e F. Mosetti Casaretto. Alessandria 2000 (mit ital. U. den Besitz eines Silberschatzes, den er Übers., theolog. Deutung). nach dem Tod seines Ochsen durch Zufall Literatur: Zum Unibos: Bernhard Schmeidler: erlangt hat. Verdächtigt, das Geld unrecht- Kleine Forsch.en in literar. Quellen des 11. Jh. In: mäßig erworben zu haben, behauptet U., Histor. Vjs. 20 (1920/21), S. 138. – Joseph Müller: soviel Geld beim Verkauf der Ochsenhaut auf Das Märchen vom U. Diss. Köln 1934. – Maurits de dem städt. Markt eingenommen zu haben. Meyer: Vlaamsche sprookjesthema’s in het licht der Die drei Dorfoberen schlachten ihre Ochsen, Romaansche en Germaansche kultuurstroomingen. ernten aber in der Stadt nur Spott u. Strafe. Leuven 1942, S. 133–163. – Volker Honemann: U. Um ihrer sicheren Vergeltung zu entgehen, u. Amis. In: Kleinere Erzählformen im MA. Paderborner Colloquium 1987. Hg. Klaus Grubmülbleibt U. nur die Flucht in eine weitere List. ler u. a. Mchn. 1988, S. 67–82. – Benedikt Konrad Unter der Vorspiegelung, seiner angeblich Vollmann: U. In: VL. – Jean Batany: U. Sermon von ihm selbst getöteten Frau mit dem Spiel pieux, pamphlet subversif ou jeu de carnaval? In: einer Flöte wieder zu jugendl. Schönheit zu Favola, mito ed altri saggi di letteratura e filologia verhelfen, gelingt es U. erneut, die drei um- in onore di Gianni Mombello. Ed. Antonella zustimmen u. ihnen die vermeintl. Zauber- Amatuzzi et Paola Cifarelli, Franco-italica, 23–24, flöte zu verkaufen. Nach dem vergebl. Opfer 2003, S. 239–254. – Teja Erb: Die Revolte des ihrer Ehefrauen schwören sie U. tödl. Rache, Bauern Einochs. Betrachtungen zu einer v. Jacob erliegen aber nur wieder der eigenen Gier, als Grimm entdeckten mlat. Dichtung. In: Brüder Grimm Gedenken. Bd. 15, Stgt. 2003, S. 186–200. – eine von U. präparierte Stute anstelle von Kot Zur Märchen- u. Erzählforschung: Brüder Grimm: Silbermünzen von sich gibt. Da der Kauf der Kinder- u. Hausmärchen. Hg. Heinz Rölleke. Stute sich als Fehlinvestition erweist, soll U. Bd. 1–3, Stgt. 1980 (bes. Nr. 61). – Norske Folkeein ein Faß eingesperrt im Meer sterben. Un- ventyr. Hg. Peter Christen Asbjørnsen u. Jørgen terwegs lassen seine drei Gegner sich zu ei- Moe. Christiania [Oslo] 1842–52. – Storia di Camnem Umtrunk im Wirtshaus einladen. In- priano contadino. A cura di Albino Zenatti. Bologna zwischen überredet U. einen mit seiner Herde 1884. Nachdr. ebd. 1968. – Antti Aarne u. Stith vorbeiziehenden Schweinehirten, den Platz Thompson: The types of the folktale. A classificaim Faß mit ihm zu tauschen u. verschwindet tion and bibliography. Helsinki 1961 (bes. Nr. mit den Tieren. Als der für tot gehaltene 1535). – Hans-Jörg Uther: The types of international folktales. A classification and bibliography. Einochs zwei Tage später mit einer Schwei- Based on the system of Antti Aarne and Stith neherde im Dorf erscheint u. berichtet, dass Thompson. Helsinki 2004. – EM 13, Sp. es auf dem Grunde des Meeres Schweine in 1192–1202. – Jan M. Ziolkowski: Fairy tales from Hülle u. Fülle gäbe, stürzen sich die drei before fairy tales. The medieval Latin past of wonvoller Gier ins Meer. derful lies. Ann Arbor 2007, bes. S. 125–163. Der Dichter, den überhaupt ein nüchterner Teja Erb Blick auf die Realitäten auszeichnet, hat erstmals in der mittelalterl. Literatur den Unruh, Friedrich Franz von, * 16.4.1893 Gegensatz zwischen gesellschaftl. Oben u. Berlin, † 16.5.1986 Merzhausen bei FreiUnten künstlerisch gestaltet. burg i. Br. – Novellist, Essayist. Ausgaben: Jakob Grimm (zus. mit Andreas Schmeller): Lat. Gedichte des X. u. XI. Jh. Gött. 1838, S. 354–383. – Paul van de Woestijne: De Klucht van boer Eenos naar een Latijnisch gedicht uit de 11e eeuw. Versus de Unibove. Antwerpen 1944 (mit niederländ. Übers.). – Karl Langosch: Waltharius, Ruodlieb, Märchenepen. Bln. 1956,

Das siebte Kind eines preuß. Generals u. einer badischen Mutter war der ältere Bruder Fritz von Unruhs. U. besuchte die Schule in Detmold, kam elfjährig ins Kadettenkorps, war dann ein Jahr Page der Kaiserin Victoria Augusta u. wurde nach dem Abitur als 17-jäh-

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riger badischer Leibgrenadier. Der hochde- menschneider. Bodman 1972. – Das Liebespaar. korierte u. schwer verletzte Offizier nahm Ebd. 1979. – Schlußbericht. Ebd. 1974. – Ermuti1919 den Abschied u. studierte Philosophie, gung. Berg/Bodman 1981. Literatur: Johannes Klein: Gesch. der dt. NoGeschichte u. Naturwissenschaften. velle. Wiesb. 1960, S. 622–639. – Hermann Pongs: U. schrieb seit 1918 Essays für verschiedene Ist die Novelle tot? Eine Untersuchung zur NoZeitungen u. Zeitschriften u. lebte von 1924 vellenkunst F. F. v. U.s. Stgt. [1961]. – Hartmut an als freier Schriftsteller. Erst 1935 fand er Fröschle: F. F. v. U.: Renaissance der Novelle. In: zur formstrengen, der großen Tradition ver- Dt. Hochschullehrerztg., Nr. 3 (1962), S. 12–23. – pflichteten Novelle. Seine Hauptthemen sind Leander Hotaki u. Günter Schnitzler: Gesteigertes der Krieg, schonungslos, aber zgl. im Geist Dasein u. die ›Liebe zum Unbedingten‹. Der Dicheurop. Versöhnung gezeichnet (Verlorener Pos- ter F. F. v. U. In: F. F. v. U. Werke, 2007, Bd. 1, S. ten. Bln. 1935), die Liebe als Erfüllung u. Be- XIII–LXI (mit Bibliogr.). – Sarah Reuß: F. F. v. U. währung (Der Tod und Erika Ziska. Essen 1937) (1893–1986). Eine biogr. Skizze. In: ebd., Bd. 5, sowie die existenzielle Herausforderung des Teilbd. 1, S. IX–CXCV. Hartmut Fröschle / Red. Individuums durch Lebenskrisen anderer Art (Der innere Befehl. Ebd. 1939. Heidrun. Ebd. 1942. Die Apfelwiese. Rothenb. o. d. T. 1957), Unruh, Fritz von, * 10.5.1885 Koblenz, auch in histor. Darstellung (Der Verräter. Essen † 28.11.1970 Diez bei Limburg. – Dra1941). Ein Kunstmärchen ist Der Spiegel matiker, Romancier, Redner. (Mchn. 1951), während die »preußische Novelle« Tresckow (ebd. 1952) ganz in der Tra- Im preuß. Offiziersgeist erzogen, der früh dition der strengen Gattungsform steht, mit mit seinen künstlerischen Neigungen kollider sich U. in Die unerhörte Begebenheit (Bod- dierte, entschied sich U. nach der erfolgreiman 1976) auch theoretisch auseinander- chen Uraufführung seines Dramas Offiziere setzte. Die acht Geschichten in Der Besuch (Bln. 1912) durch Max Reinhardt 1911 in (ebd. 1971) zeigen U.s Auseinandersetzung Berlin gegen die Offizierslaufbahn. Bei mit der Kurzgeschichte. In den Essays der Kriegsausbruch meldete er sich freiwillig, Sammlung Wie Adler in den Gewittern. Deutsche doch während der Schlacht von Verdun 1916 Dichter als Mahner und Helfer (ebd. 1985) hebt (Opfergang. Bln. 1919) schwor er für immer U. die Kraft großer dt. Dichter (Hutten, Höl- dem Krieg ab u. wurde zum kämpferischen Pazifisten (Oh, tritt den ernsten Krieg des Friedens derlin, Kleist u. Droste-Hülshoff) hervor. an. Vor der Entscheidung. Ebd. 1919, S. 57). U.s zeitkrit. Essayistik reicht von 1918 Die Dramentrilogie Ein Geschlecht (Lpz. (Reformation. Lpz.) bis 1983 (Jahrtausendwende. 1918), Platz. Ein Spiel (Mchn. 1920) u. Dietrich Bodman) u. nimmt gelegentlich einen pro(vollendet 1957. Abgedr. in: Sämtliche Werke. phetenhaften, auch warnenden Ton an (GeBd. 3) gestaltet mit den Mitteln der expressinnung. Werther/Bergedorf 1924. Nationalsosionistischen Dramatik das kollektiv erfahrezialismus. Ffm. 1931. Klage um Deutschland. ne Kriegserlebnis. Gleichzeitig beschwor U. Bodman 1973). Seine Autobiografie (Wo aber in hohem Sendungspathos die Utopie einer Gefahr ist. Ebd. 1965. Ehe die Stunde schlug. o. O. Gesellschaft, die den Völkerfrieden verwirk1967) ist ein bedeutendes Zeitdokument hulicht u. die Geschlechter ausgesöhnt hat. Mit manistisch-konservativer Haltung. zahllosen Bühnenaufführungen u. hohen Weitere Werke: Werke. Hg. Leander Hotaki. 6 Auflagen galt er in der frühen Weimarer ReBde. in 7 Teilbdn., Freib. i. Br. u. a. 2007. – Stufen publik als einer der bedeutenden dt. Dichter der Lebensgestaltung. Hbg.-Bergedorf 1928. – (1915 Kleist-Preis, 1926 Schiller-Preis, 1948 Hutten. Stgt. 1935. – Hölderlin. Ebd. 1937. – Die Goethe-Preis der Stadt Frankfurt). Heimkehr. Essen 1938. – Bruderdorf. Ebd. 1942. – Als Mahner für den Frieden u. Seher komDie Sohnesmutter. Karlsr. 1946. – Die jüngste Nacht. Ebd. 1948. – Vineta. Düsseld. 1948. – Liebe menden Unheils wurde er zum mitreißenden wider Willen. Karlsr. 1950. – Nach langen Jahren. Redner in großen Veranstaltungen, im VorMchn. 1951. – Das Wagnis. Rothenb. o. d. T. 1955. kriegsdeutschland zuletzt am 18.3.1932 im – Die Schulstunde. Esslingen 1963. – Tilman Rie- Berliner Sportpalast vor 20.000 Zuhörern.

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NS-Deutschland zwang ihn zur Flucht über Bonn 1975. – Günter Scholdt u. Norbert Jacques: F. Italien u. Frankreich (Internierung 1940) in v. U. u. der Expressionismus. In: JbDSG 19 (1975), die USA. Der Stil des amerikan. Theaters war S. 63–97. – M. Durzak: Das expressionist. Drama. seinem Ton unangemessen, so wandte er sich Mchn. 1979. – F. v. U. zum 100. Geburtstag u. 15. Todestag. Koblenz 1985 (Kat., Bibliogr. bevorzugt einer dramat. Prosa zu. Ein apoS. 133–161). – Dieter Kasang (Hg.): Wilhelminiskalypt. Hitler-Roman, der dessen Höllensturz mus u. Expressionismus. Das Frühwerk F. v. U.s visionär gestaltet (The End is not yet. New York 1904–1921. Stgt. 1980. – Karola Schulz: Fast ein 1947), wurde in den USA zum großen Erfolg. Revolutionär. F. v. U. zwischen Exil u. Remigration Auch in Frankreich wurde U. als einem Re- (1932–1962). Mchn. 1995. – Stefan Greif: F. v. U. präsentanten des »anderen Deutschland« In: Dt. Dramatiker des 20. Jh. Hg. Alo Allkemper u. großes Interesse entgegengebracht. Ivan Goll Norbert O. Eke. Bln. 2000, S. 155–172. – Barbara übersetzte den Roman ins Französische. Die Beßlich: L’Empereur zwischen Expressionismus u. dt. Fassung Der nie verlor (Bern 1948) hatte Exil. Napoleon-Dramen v. Hermann Essig, F. v. U., Walter Hasenclever u. Georg Kaiser. In: JbDSG 46 hingegen, wie U.s Werke überhaupt, nur (2002), S. 250–278. – Bodo Rollka: Der Schwur v. noch ein schwaches Echo in Deutschland. Der Verdun, oder: Die drei Paris- u. Frankreich-Reisen Versuch, nach der ehrenvollen Einladung zur des F. v. U. In: Berlin-Paris (1900–1933). Begeg»Rede an die Deutschen« zur Jahrhundert- nungsorte, Wahrnehmungsmuster, Infrastrukturfeier der Nationalversammlung am 18.3.1948 probleme im Vergleich. Hg. Hans Manfred Bock u. in der Paulskirche wieder in Deutschland Fuß Ilja Mieck. Bern u.a. 2005, S. 135–152. – Volker zu fassen, misslang. U. kehrte in die USA Weidermann: Das Buch der verbrannten Bücher. Köln 2008, S. 100–102. Hiltrud Häntzschel / Red. zurück, wo er bis 1962 lebte. U.s bis ins Alter hartnäckig beschworene Illusion vom Reich des Friedens u. der Liebe Unruh, Karl, * 29.6.1913 Frankfurt/M. – hielt der Wirklichkeit nicht stand u. klang, Buchhändler, Romancier. etwa im Dietrich-Drama, zuweilen wie eine Parodie auf den Expressionismus. Die war- Nach dem Abitur 1934 in Dresden wurde U. nenden Appelle seiner polit. Reden gegen Verlagsbuchhändler. Bis zum Beginn des Ungeist, mangelnde Menschenliebe u. Mili- Zweiten Weltkriegs, den er als Infanterist in tarismus haben ihre Gültigkeit aber nicht Frankreich u. Russland mitmachte, arbeitete U. in einem Berliner Verlag. Nach schwerer verloren. Verwundung u. einjährigem Heimaturlaub Weitere Werke: Louis Ferdinand. Prinz v. als Kompaniechef nach Italien versetzt, geriet Preußen. Bln. 1913 (D.). – Flügel der Nike. Ffm. 1925. – Phaea. Bln. 1930 (Kom.). – Zero. Ffm. 1932 er 1944 in amerikan. Gefangenschaft. Nach (Kom.). – Fürchtet nichts. Köln 1952 (R.). – Mächtig seiner Rückkehr ließ er sich 1946 in Frankseid ihr nicht in Waffen. Nürnb. 1957 (Reden). – furt/M. nieder, wo er wieder im Buchhandel Der Sohn des Generals. Ebd. 1957. – Im Haus der u. als Dozent an der Deutschen BuchhändPrinzen. Ffm. 1967. – Kaserne u. Sphinx. Ebd. 1969 lerschule arbeitete. (autobiogr. R.e). – Sämtl. Werke. Bln. 1977–91 U.s schmales Œuvre ist der Bewältigung (bisher nur Bde. 2–5, 7–9, 11–13, 17). – Der Briefw. des Kriegserlebnisses gewidmet, das von ihm F. v. U.s mit Arthur Schnitzler. Hg. Ulrich K. u. »Millionen seiner Gefährten in aller Welt« Goldsmith. In: MAL 10 (1977), H. 3/4, S. 69–127. zwar »weder gesucht noch gewollt« wurde, Literatur: Robert Meister: F. v. U. Bln. 1925. aber, »was immer man auch gegen den Krieg Neudr. Nendeln 1967. – Alwin Kronacher: F. v. U. sagen kann«, als Erlebnis »groß, stark und Introduction by Albert Einstein. New York 1946. – erschütternd war« (Unruh). Die Grenzen seiFriedrich Rasche: F. v. U. Rebell u. Verkünder. Der nes literar. Ansatzes sind aber schon mit dem Dichter u. sein Werk. Hann. 1960. – Judith A. stark autobiografisch geprägten Roman Alles Taylor: Death escape and rebirth in F. v. U.s ›Ein Geschlecht‹. In: GR 44 (1969), S. 110–120. – Man- Fleisch ist wie Gras (Bln./Witten 1960) abgefred Durzak: Nachgeholter Expressionismus. Zur steckt. Im Mittelpunkt der Erinnerungen des Vollendung v. F. v. U.s Dramen-Trilogie ›Ein Ge- Ich-Erzählers an die letzten Kriegstage in schlecht‹. In: JbDSG 18 (1974), S. 559–605. – Ina Italien, an Gefangenschaft u. Rückkehr nach Götz: Tradition u. Utopie in den Dramen F. v. U.s. Deutschland steht die Geschichte einer Frau,

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die, nachdem ihr Mann ermordet wurde, vier auf den Schlachtfeldern Europas gefallene Söhne zu beklagen hat. Die heroische Töne weitgehend meidende Schilderung des Todes der Söhne, der Bericht vom gefassten Sterben der Mutter, nachdem sich die Hoffnung auf die Rückkehr des jüngsten Sohnes zerschlagen hat, wird zum Anlass der Frage nach der »Haltung« im Tod, die den Krieg nicht anders denn als gegebenes Faktum hinzunehmen vermag. Diese Tendenz prägt auch U.s materialreiche Auseinandersetzung mit der Legende von Langemarck (Koblenz 1986. 1997), nach der die dt. Jugend in den Flandernkämpfen von 1914 die feindl. Stellungen mit dem Deutschlandlied auf den Lippen erobert haben soll. Die Kämpfe erweisen sich dem erfahrenen Frontoffizier als ein durch Inkompetenz der Führung u. Unerfahrenheit der Truppe heraufbeschworenes »barbarisches Gemetzel«, eine Beschreibung, die den Eindruck erweckt, es werde hier unter Hinnahme der Gegebenheit des Kriegs einer »vernünftigen« Kriegführung das Wort geredet. Michael Geiger

Unseld, Siegfried, * 28.9.1924 Ulm, † 26.10.2002 Frankfurt/M.; Grabstätte: ebd., Nordfriedhof. – Verleger, Literarhistoriker, Autor. U., Sohn eines städt. Beamten u. Vater des Verlegers Joachim Unseld, lernte bei Heimatabenden des Jungvolks Hans Scholl kennen u. war von Ende 1942 bis Mai 1945 Soldat. 1946 holte er sein Abitur am Ulmer Schubart-Gymnasium nach u. wurde von seinem Deutschlehrer Eugen Zeller mit Büchern Hermann Hesses vertraut gemacht. Die Begegnung mit Hesses Siddharta (als dem »zu sich Gekommenen«) führte zu dem Wunsch, eine Verlagslehre zu absolvieren, zu studieren u. sich intensiv mit Hesses Werk zu beschäftigen. 1946 wurde U. Volontär im Ulmer Aegis-Verlag, zum Wintersemester 1947/48 schrieb er sich als Student der Germanistik, Philosophie u. Bibliothekskunde an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen ein. Bis 1951 hörte er u. a. bei Wilhelm Weischedel, Theodor Eschenburg u. Carlo Schmid. Der Werkstudent, der sich sein Studium durch

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Aushilfsarbeiten im Verlag J. C. B. Mohr Paul Siebeck verdiente, entwickelte früh den Wunsch, verlegerische Verantwortung zu übernehmen. Auf Vermittlung H. Hesses suchte er im Okt. 1951 Peter Suhrkamp in Frankfurt auf, im Jan. 1952 trat er als Assistent der Geschäftsleitung in dessen Verlag ein, 1958 wurde er Gesellschafter, 1959 Suhrkamps Nachfolger. 1963 erwarb er den Insel Verlag, 1968 den juristischen Fachverlag Lutzeyer (Nomos), 1990 den Jüdischen Verlag. 1981 gründete er den Deutschen Klassiker Verlag; außerdem war er u. a. an der Gründung des HörVerlages (1993) beteiligt. U. wurde mehrfach für seine herausragende verlegerische Arbeit gewürdigt: HermannHesse-Gedenkmedaille (1967), Bundesverdienstkreuz Erster Klasse (1973), GoethePlakette der Stadt Frankfurt (1977), Großes Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland (1979; mit Stern 1993), RicardaHuch-Preis der Stadt Darmstadt (1984), Premio Editore Europeo der Stadt Turin (1998), Goldene Goethe-Medaille der Goethe-Gesellschaft Weimar (1998), Ehrendoktorwürde der Universität Hyderabad, Indien (1999), Hessischer Kulturpreis (1999), Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg (2000), Médaille de Chevalier de l’Ordre des Arts et des Lettres (2001), Ehrenbürger der Stadt Frankfurt/M. (2002). 1959 initiierte er mit der Goethe-Universität Frankfurt eine Stiftungsgastdozentur für Poetik, seit 1993 hatte er die Honorarprofessur für Literarisches Leben an der Universität Heidelberg inne. Bereits 1947 hatte U. begonnen, für die »Schwäbische Donau-Zeitung«, die Zeitschrift »Pandora«, die Tübinger »Studentischen Blätter« u. andere Medien zu arbeiten. Seine zahlreichen Publikationsmöglichkeiten nutzte er später strategisch zur Profilierung seines Verlags u. seiner Autoren. Seine, keineswegs vollständige, Bibliografie (1999) verzeichnet 765 Positionen (darunter Bücher, Herausgaben, Beiträge in Büchern u. Periodika, Vorträge u. Übersetzungen) u. lässt die folgenden Schwerpunktsetzungen erkennen: Neben H. Hesse werden die Hausautoren W. Benjamin, B. Brecht, M. Frisch, W. Koeppen, U. Johnson, R. M. Rilke sowie M. u. R. Walser am häufigsten gewürdigt, gefolgt von S. Be-

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ckett, E. Bloch, H. Lenz, H. Mayer u. G. Scholem; zahlreiche Arbeiten gelten auch P. Suhrkamp u. H. M. Ledig-Rowohlt sowie der Arbeit des herstellenden u. vertreibenden Buchhandels (Buchgestaltung, Preisbindung etc.), der Sprach- u. Literaturpolitik in Westdeutschland (u. der gesellschaftl. Einflussnahme von Autoren), der Klassiker-Pflege u. der Förderung junger Literatur. Am häufigsten äußerte sich U. über die Aufgaben des Verlegers, über das Verhältnis des »Büchermachers« zu seinen Autoren, über Aspekte der Wirkung u. Wertung sowie der Produktion u. Rezeption von Literatur. Zusammen mit Willy Fleckhaus revolutionierte er die Buchgestaltung im Nachkriegsdeutschland u. gab auch der Verwertung der Autorenrechte neue Impulse. U., der sich als Student einen »weiten Wissenschaftsbegriff« zugelegt hatte, verdankt entscheidende Anregungen E. Auerbach (Mimesis), E. R. Curtius (Kritische Essays zur europäischen Literatur), L. Spitzer (Stilstudien) u. G. Lukács (Theorie des Romans). Er wurde bei Friedrich Beißner promoviert, in dessen Oberseminar er sich u. a. mit Walter Jens, Johannes Poethen u. Martin Walser anfreundete. Die unpublizierte Dissertation (Hermann Hesses Anschauung vom Beruf des Dichters. Tüb. 1951) wurde Basis weiterer Beschäftigung mit Hesse sowie zahlloser Publikationen zum Autor. Auch mit Goethes Wahlverwandtschaften befasste sich U. zunächst nur, weil Hesse den Roman »als zentrale Lektüre« empfohlen hatte; Goethe wurde schließlich der zweite bedeutende Fixstern in U.s Kosmos, seine literarhistor. Monografie Goethe und seine Verleger (Ffm. 1991) kann als persönl. Bekenntnis u. als Facharbeit über unternehmerisches Handeln gelesen werden. Dem Mitschöpfer der »Suhrkamp-Kultur« (G. Steiner) gelang es, bedeutende Autoren wie Th. Bernhard, P. Handke, W. Koeppen u. später auch I. Bachmann an sich zu binden; das Theorie- u. Wissenschaftsprogramm seines Hauses entwickelte er mithilfe von Th. W. Adorno, H. Blumenberg, J. Habermas, D. Henrich, N. Luhmann, A. Mitscherlich u. J. Taubes zu einem gesellschaftspolit. prägenden Instrument; in den 1960er u. 1970er Jahren gab er der Literatur Lateinamerikas eine verlegeri-

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sche Heimat; von anderen Verlagen (darunter Kösel, Rhein, Scherz & Goverts, Kossodo) übernahm er bedeutende Autorenrechte. Einblick in sein Credo geben seine Chronik u. diverse Briefwechsel mit U. Johnson (1999), Th. W. Adorno (2003), W. Koeppen (2006), P. Weiss (2007) oder Th. Bernhard (2009), die aus dem Nachlass herausgegeben worden sind. Zu den »Schreibübungen des Verlegers« gehören die Skigeschichte Abfahrt (1968) oder die Betrachtung Glückliche Stunden mit Kutteln (1981). Einige seiner Autoren, darunter T. S. Eliot (Kater Morgan stellt sich selber vor), P. Handke (Die linkshändige Frau. 1976), M. Walser (Brief an Lord Liszt. 1982) u. U. Berkéwicz (Engel sind schwarz und weiß. 1992) haben U. literarisch poträtiert. Weitere Werke: Hermann Hesse. Eine Werkgesch. Ffm. 1973. Revidiert u.d.T.: Hermann Hesse. Werk u. Wirkungsgesch. Ffm. 1985. – Der Autor u. sein Verleger. Ffm. 1985 (auch engl., frz., ital.). – Uwe Johnson: Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Mit einem Nachw. v. S. U. Ffm. 1985. – ›Den Besten unserer Zeit genugthun‹. Anton Kippenberg. In: Insel-Almanach auf das Jahr 1996. Ffm. 1995, S. 3–51. – Uwe Johnson: ›Für wenn ich tot bin‹. Mit einer Nachbemerkung. Ffm. 1997. – Goethe u. der Ginkgo. Ein Baum u. ein Gedicht. Ffm./Lpz. 1998. – Briefe an die Autoren. Hg. von Rainer Weiss. Ffm. 2004. – Chronik. Hg. Raimund Fellinger. Bln. 2010 ff. – Herausgaben: In memoriam Peter Suhrkamp. [Privatdruck.] Ffm. 1959. – Peter Suhrkamp: Briefe an die Autoren. Peter Suhrkamp zum Gedächtnis seines 70. Geburtstages am 28. März 1961. [Privatdruck.] Ffm. 1961. Neuausg. Ffm. 1963. – Heinrich Maria Ledig-Rowohlt zuliebe. FS zu seinem 60. Geburtstag am 12. März 1968. Reinb. 1968. – Hermann Hesse – Peter Suhrkamp. Briefw. 1945–1959. Ffm. 1969. – Der Marienbader Korb. Über die Buchgestaltung im Suhrkamp Verlag. Willy Fleckhaus zu ehren. Hbg. 1976. – ›Wohin ich in Wahrheit gehöre‹. Ein Uwe Johnson-Lesebuch. Ffm. 1994. Literatur: Der Verleger u. seine Autoren. S. U. zum sechzigsten Geburtstag. Ffm. 1984. – S. U.s Geburtstag am 28. September 1989 [Privatdruck]. Zusammengest. von W. Schneider. Ffm. 1989. – Der Verleger u. seine Autoren. S. U. zum siebzigsten Geburtstag. Ffm. 1994. – Verleger als Beruf. S. U. zum fünfundsiebzigsten Geburtstag. Ffm. 1999. – S. U. Veröffentlichungen 1946 bis 1999. Eine Bibliographie. Zum 28. September 1999. Bearb. von B. Zeeh. Ffm. 1999. – 50 Jahre Suhrkamp Verlag.

701 Dokumentation zum 1. Juli 2000 [Privatdruck]. Ffm. 2000. – 50 Jahre S. U. im Suhrkamp Verlag. Redaktion R. Fellinger [Privatdruck]. Ffm. 2002. – P. Michalzik: Unseld. Eine Biogr. Mchn. 2002. – ›Ins Gelingen verliebt und in die Mittel des Gelingens‹. S. U. zum Gedenken. Redaktion R. Fellinger. Ffm. 2003. Lutz Hagestedt

Unser vrouwen klage. – Gereimte Marienklage des 13. Jh.

Unterdörfer

Marienklage (14. bzw. 15. Jh.) sowie in der Überlieferung von Bruder Philipps Marienleben wieder. Das Schlussgebet des Spiegel ist vielfach in Gebetbüchern tradiert. Ausgabe: Gustav Milchsack: U. v. k. In: PBB 5 (1878), S. 193–357, hier S. 193–281 (beide Redaktionen). Literatur: Gustav Milchsack, a. a. O., S. 282–357; Ergänzung in: PBB 7 (1880), S. 201 f. – Gerd Seewald: Die Marienklage im mlat. Schrifttum u. in den german. Lit.en des MA. Diss. Hbg. 1953, bes. S. 57–78. – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986, bes. S. 397, 489–491. – Edgar Büttner: Die Überlieferung v. ›U. v. k.‹ u. des ›Spiegel‹. Erlangen 1987 (mit dem lat. Text nach Seewald, S. 184–206). – Georg Satzinger u. HansJoachim Ziegeler: Marienklagen u. Pietà. In: Die Passion Christi in Lit. u. Kunst des SpätMA. Hg. Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tüb. 1993, S. 241–276, bes. S. 243, 256–259. – H.-J. Ziegeler: ›U. v. k.‹. In: VL. – Klaus Klein: Bekannte Reste einer unbekannten Sammelhs. ›U. v. k.‹ u. Konrads v. Heimesfurt ›Unser vrouwen hinvart‹. In: ZfdA 133 (2004), S. 195–197. – Karin Schneider: Die dt. Hss. der Bayer. Staatsbibl. München. Die mittelalterl. Fragmente Cgm 5249–5250. Wiesb. 2005, S. 95 f., 106 f. Gisela Kornrumpf

Der sog. Bernhardstraktat, eine lat. Marienklage (verfasst vor 1205), ist sowohl selbstständig wie als Teil einer Predigt des Zisterziensers Oglerius de Trino (1136–1214) überliefert. Ebenso wie die etwas jüngere, Anselm von Canterbury zugeschriebene Interrogatio de passione Domini hatte der Traktat beträchtl. Einfluss auf die spätmittelalterl. Passionsliteratur u. wurde in mehrere europ. Volkssprachen übertragen. Unter den dt. Versfassungen war U. v. k. in zwei vor 1300 entstandenen Bearbeitungen am erfolgreichsten, während Hoffmanns Marienklage, die Leidener Marienklage, die Königsberger Marienklage u. Nr. 13 des Buchs der Märtyrer nur aus je ein oder zwei Textzeugen bekannt sind. Die »Urklage« lässt sich allenfalls streckenweise rekonstruieren; ihr Dichter hat die Unterdörfer, Gottfried, * 17.3.1921 lat. Vorlage teils getreu, teils frei wiedergeZschornau bei Kamenz, † 9.9.1992 Uhyst/ geben u. auch Verse Wolframs von EschenOberlausitz. – Lyriker, Erzähler. bach (aus der Klage des Markgrafen Willehalm um seinen Neffen Vivianz) verwendet. Nach dem Krieg, den er als Soldat im Osten Redaktion I (über 1200 Verse; zehn Hand- miterlebte, u. der Kriegsgefangenschaft bis schriften bis 1472) blieb der Vorlage wohl 1949 ließ U. sich als Revierförster in Uhyst/ insg. näher. Redaktion II mit dem Titel Der Oberlausitz nieder. Diese beiden LebenssiSpiegel (fast 1500 Verse; sieben Handschriften tuationen bestimmen weitgehend U.s dichbis etwa 1500, Auszug K bereits im 3., al- terische Arbeit: Geistige Bewältigung des lenfalls 4. Viertel des 13. Jh. geschrieben Kriegserlebnisses war wohl der eigentl. An[Karin Schneider, brieflich 14.7.2002]) über- trieb seines Schreibens, dem die Beschaunahm aus der »Urklage« vermutlich einzelne lichkeit der Uhyster Gegend zugute kam. in Redaktion I übergangene Abschnitte – v. a. Allerdings konnte er erst 1959 mit dem Gedas Lob des Evangelisten Johannes –, erwei- dichtband Du lebst vom Du (Bln./DDR) debüterte den Bestand aber insbes. zu Beginn u. tieren, dem bald eine erste Sammlung von änderte das Konzept: Aus dem »Bericht eines Erzählungen u. Prosaskizzen folgte (Dem individuellen Kontemplationserlebnisses« Holzhaus gegenüber. Ebd. 1960). Wie bei keiwurde hier eine »Kontemplationsanleitung«, nem anderen Schriftsteller der DDR ist nicht vielleicht für einen Nonnenkonvent be- nur die Lyrik, sondern auch die Prosa fast stimmt (Büttner). durchweg von eigenen Erfahrungen geprägt Größere Passagen aus Redaktion I finden u. folgerichtig durch die Ich-Perspektive gesich in der Böhmischen u. der Bordesholmer kennzeichnet. Seine Werke warten nicht mit

Frau Untreue

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zeitgenöss. stilistischen Mitteln auf, sind eher als traditionell zu bezeichnen. Dennoch ist U. manches gelungen; Werke, die sich durch sprachl. Dichte, bildhafte Genauigkeit u. maßvolle Zurückhaltung der Gefühle auszeichnen u. ihm den Respekt seiner sich weltkundig gebenden Schriftstellerkollegen einbrachten. Abgesehen von einzelnen Reisegedichten ist U.s dichterische Welt räumlich abgesteckt durch die Grenzen seiner Heimat; seine bes. Zuneigung gilt den Bäumen, ohne dass jedoch menschl. Beziehungen unberücksichtigt blieben. War im Debüt eine gewisse Nähe u. a. zu Manfred Hausmann noch unverkennbar, gewann bald das große Vorbild Bobrowskis die Oberhand, was im zweiten Gedichtband, Ich will den Bogen setzen (Bln./DDR 1964), zu einer freieren Handhabung der Form u. zu einer beachtl. Straffung der Sprache führte, eine Entwicklung, die sich in Wildtaubenruf (ebd. 1973; E.en u. L.) fortsetzte. Themen u. Motive seines Werks blieben jedoch unverändert: Kindheit, Natur, Liebe, Gott u. immer wieder die Mitschuld am Krieg. Der Auswahlband seiner Prosa, Weltreise in das Lange Holz (ebd. 1984), lenkte erstmals die Aufmerksamkeit der offiziellen Literaturkritik auf ihn. Weitere Werke (Erscheinungsort jeweils Bln./ DDR): Von Abend zu Abend. 1965 (Liebesgesch.n). – Nicht die Bäume allein. 1968 (E.en u. Skizzen). – Regenzeit u. Reiherruf. 1971 (E.en u. Betrachtungen). – Jahresringe. 1981 (E.en). – Wege u. Wälder. 1986 (P.). – Ich möchte einen Kranich sehen. E.en, Gedichte u. ein Tgb. Hg. vom Uhyster Heimatverein e.V. Zusammengestellt v. Johanna Gruner. Bautzen 2004. – Als die Sümpfe blühten. Ebd. 2010. Literatur: Ernst-Otto Luthardt: Stille Prosa. In: NDL 33 (1985), H. 7, S. 139–141 (zu ›Weltreise in das Lange Holz‹). – Monika Jeschke: Lit. v. u. über G. U. In: Korrespondenzblatt 11 (2009), S. 9–11. Ad den Besten / Red.

Frau Untreue. – Anonyme Minnerede des 16. Jh. Der 1756 Reimpaarverse umfassende Text lässt sich als Minnerede nur insofern einordnen, als dass er die narrativen Einkleidungsformen der Gattung (Ich-Sprecher, Spaziergangseinleitung, Gespräch, Begegnung mit

personifizierten Tugenden, monologisch vorgetragene Lehre/negative Lehre) übernimmt. Inhaltlich geht es statt um Minnelehre um Tugendklage u. Lasterschelte, wodurch der Text sich in den Kontext zeitgenössischer satir. Revuen nach dem Muster von Brants Narrenschiff einfügt. Der Ich-Sprecher verirrt sich u. trifft dann auf einen Edelmann, der ihn zu einem nahe gelegenen Königshof bringen will, an dem »Frau Untreue« regiert. Auf dem Weg treffen sie auf die vom Hof vertriebene »Frau Treue« mit ihren sechs Schwestern »Gerechtigkeit«, »Wahrheit«, »Glaube«, Frömmigkeit«, »Geduld« u. »Besitzverzicht«. In einer von einem Herold angeführten Revue treten nun Repräsentanten des korrumpierten Hofes (der Hofmann, die »Hofmeisterin Hoffart« u. ihre Hofdamen »Unkeuschheit«, »Gier«, »Geiz«, »Hass«, Zorn«, »Trägheit«) sowie der Stände (Ritter, Verwalter, Kellermeister, Koch, Amtmann, Schultheiß, Tagelöhner, Hacker, Meier, Bauer, Bürger, Wucherer, Jude, Handwerker, Geselle, Krämer, Kaufmann, Mönch u. Nonne, Landsknecht, Huren u. Buben, Säufer u. Schlemmer) auf u. bekennen sich zu Lug u. Betrug. Im Anschluss hebt Frau Treue den christl. Grund der Tugenden hervor, beklagt die Glaubensvergessenheit der Welt u. kündigt das Gottesgericht an. In einem Epilog erklärt der Sprecher, er habe die Prophezeiungen der Frau Treue zu weiterer Verbreitung aufgeschrieben. Er schließt mit einer Bitte um trinitar. Beistand zur Besserung der Welt u. zum Schutz der Kirche. Überliefert ist der Text in einem unfirmierten u. undatierten Druck mit dem Titel Vntrew / Vinantz vnd Argelist Der Welt zusamen beschriben ist (nach VD 16 [Ffm.: Christian Egenolff d.Ä., um 1535]). Seine 33 Holzschnittillustrationen sind wohl nicht spezifisch für diesen Druck entstanden. Der Bibliophile Wilhelm Werner von Zimmern fertigte um 1550 eine Abschrift an (Karlsruhe, BLB Hs. St. Georgen 86, 96r-136r), die den Text des Drucks metrisch glättet u. mit stilistisch einheitl. Illustrationen versieht. Literatur: VD 16, U 202. – Tilo Brandis: Mhd., mittelniederdt. u. mittelniederländ. Minnereden. Mchn. 1968, Nr. 446. – Christoph Hagemann: Geld oder Liebe. Untrew finantz u. argelist. Untersu-

703 chung u. Ed. einer Minnerede der Reformationszeit. Magisterarbeit TU Dresden (masch.) 2006. – Jacob Klingner: Minnereden im Druck. Bln. 2010, S. 268–272, 278. Jacob Klingner

Der Unverzagte. – Sangspruchdichter des letzten Drittels des 13. Jh.

Unzer Ausgaben: Friedrich Heinrich v. der Hagen (Hg.): Minnesinger. Bd. 3, Lpz. 1838, S. 43–46. – Esther Collmann-Weiß (Hg.): Kleinere Spruchdichter des dreizehnten Jahrhunderts: Der Hardegger, Höllefeuer, Der Litschauer, Singauf, Der U. (mit Übers. u. Komm.). Stgt. 2005. Literatur: Helmut Tervooren: Einzelstrophe oder Strophenbindung? Diss. Bonn 1967, S. 206–214. – RSM 5. – H. Tervooren: Sangspruchdichtung. Stgt. 1995. – Frieder Schanze: Der U. In: VL. – E. Collmann-Weiß (s. Ausgaben).

Der U. war ein vagierender Berufsdichter u. -sänger, der in Konkurrenz zu anderen Frieder Schanze / Red. Sangspruchdichtern u. sonstigen Unterhaltungskünstlern seinen Lebensunterhalt mit dem Vortrag eigener Sangspruchstrophen an Unzer, Johann August, * 29.4.1727 Halle, den Höfen adliger Herren verdiente. Die Je- † 2.4.1799 Altona. – Arzt. naer Liederhandschrift (J) überliefert von ihm U., Gatte der Johanne Charlotte Unzer, war insg. 22 Strophen in drei verschiedenen Töeiner der bekanntesten Mediziner seiner Zeit. nen u. zu diesen jeweils die Melodie, die der Er verkörperte wie kaum ein Zweiter den U. selbst geschaffen hat. Sein Wirken fällt in Typus des philosophischen Arztes, wie ihn die Zeit König Rudolfs von Habsburg das 18. Jh. hervorgebracht hatte. Mühelos (1273–1291), dessen Geiz er in einer iron. wechselte er in seinen Schriften von mediziLobstrophe aufs Korn nimmt, wie es ähnlich nischen zu philosophischen Betrachtungen Meister Stolle u. der Schulmeister von Eßoder ins Feld der schönen Literatur. Auch lilingen taten. Sonst aber hält er sich mit polit. teraturhistorisch bedeutsam ist seine mediÄußerungen zurück u. erinnert höchstens zinische Wochenschrift »Der Arzt« (12 Tle., einmal die geistl. Fürsten, welche die Welt Hbg. 1759–64. Neue umgearbeitete Ausg. 6 durch Krieg »erfreuen«, an die ewige VerBde., ebd. u. a. 1769. 21770), die in der Manier geltung, oder er mahnt die Fürsten allg. an des »Spectator« Belehrendes u. Unterhaltenihre Amtspflichten u. warnt sie vor schlechten des auf launige Weise verband u. eine der Ratgebern. Den Gattungskonventionen der populärsten Wochenschriften der dt. AufkläSangspruchdichtung entsprechend ist das rung überhaupt war. Medizinhistorisches Hauptanliegen des U. die Moraldidaxe. Sie Interesse verdient U. als einer der Pioniere der ergeht in Gestalt der direkten Belehrung u. modernen Neurophysiologie. Ursprünglich Ermahnung, etwa des jungen Mannes oder vom Animismus herkommend (sein Lehrer des Ritters durch die Aufzählung von Tu- war der Stahl-Schüler Johann Junker), trat U. genden, oder äußert sich als Kritik an nega- in der Frage nach dem Bewegungsprinzip tiven Verhaltensweisen. Immer wieder erregt belebter Körper aus der Alternative Animisbeim U. wie bei allen auf die Freigebigkeit mus/Mechanismus heraus u. beschrieb im anderer angewiesenen »gernden« der Geiz Anschluss an Haller, Whytt u. Tissot die der reichen Herren Anstoß. Deutlich wird konstitutive Rolle des Nervensystems in Tierden Herren gesagt, dass ihr gesellschaftl. u. Humanphysiologie: Erste Gründe einer PhyAnsehen von Lob oder Tadel der fahrenden siologie der eigentlichen thierischen Natur thieriSänger abhängt, u. der U. schreckt dabei nicht scher Körper (Lpz. 1771. Engl. London 1851). vor drast. Äußerungen u. vor Drohungen Weitere Werke: Gedanken v. dem Einflusse der zurück. Weder inhaltlich noch formal erhebt Seele in ihren Körper. Halle 1746. – Slg. kleiner er sich über das durchschnittl. Niveau des Schr.en. 3 Tle., Rinteln/Lpz. 1766/67. – MediciniGenres. Gleichwohl scheint er bei den Zeit- sches Hdb. Lpz. 1770. 51794. – Herausgeber: Gesellgenossen einiges Ansehen genossen zu ha- schaftl. Erzählungen. 4 Tle., Hbg. 1752/53. – Der ben; sein Kollege Rumsland konnte ihn in physikal. u. ökonom. Patriot. 3 Tle., ebd. 1756–58. einer Polemik neben Konrad von Würzburg Literatur: DSB 13. – Helga Lefèvre: J. A. U. In: u. dem Meißner nennen. BLSHL 6 (1982), S. 287–289. – Stefan Schneider:

Unzer Hypochondrie bei J. A. U. (1727–1799). Eine Untersuchung zum Verständnis v. Gesundheit u. Krankheit in Medizin u. Lit. der dt. Spätaufklärung. Diss. Heidelb. 1987. – Stefan Bilger: Üble Verdauung u. Unarten des Herzens. Hypochondrie bei J. A. U. (1727–1799). Würzb. 1990. – Winfried Freund: Literar. Phantastik. Die phantast. Novelle v. Tieck bis Storm. Stgt. u. a. 1990. – Matthias Reiber: Anatomie eines Bestsellers: J. A. U.s Wochenschrift Der Arzt (1759–1764). Gött. 1999. – Yvonne Wübben: Limitierte Anthropologie. Grenzen des medizinisch-philosoph. Wissenstransfers am Beispiel von J. A. U. In: Physis u. Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jh. Hg. Manfred Beetz. Gött. 2007, S. 49–68. Wolfgang Riedel / Red.

Unzer, Johann Christoph, * 17.5.1747 Wernigerode, † 20.8.1809 Göttingen. – Arzt; Journalist, Bühnenautor.

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entwickelte sich zum radikalen Demokraten, begrüßte den sozialen Vertiefungsprozess der Revolution u. stand mit dt. u. frz. Republikanern in Hamburg u. Altona in Verbindung. Er nahm auch an dem vom demokratischen Schauspieldirektor Johann Friedrich Ernst Albrecht geleiteten Altonaer Nationaltheater, das 1796–1801 bestand, regen Anteil. Ausgabe: Hinterlassene Schr.en poet. Inhalts. 2 Bde., Altona 1811. Online-Ausg. Mchn. 2007. Literatur: Walter Grab: Demokrat. Strömungen in Hamburg u. Schleswig-Holstein zur Zeit der ersten frz. Republik. Hbg. 1966. – Franklin Kopitzsch: Grundzüge einer Sozialgesch. der Aufklärung in Hamburg u. Altona. 2 Bde., Hbg. 1982. – Dieter Lohmeier: J. C. U. In: BLSHL, Bd. 6, S. 289–291. – Hans-Werner Engels: J. C. U. In: Demokratische Wege. Dt. Lebensläufe aus fünf Jahrhunderten. Hg. Manfred Asendorf u. Rolf v. Bockel. Stgt./Weimar 1997, S. 650 f. Walter Grab † / Red.

U., Bruder von Ludwig August Unzer u. Neffe von Johann August Unzer, genoss eine Unzer, Johanne Charlotte, geb. Ziegler, sorgfältige humanistische Bildung u. wurde * 27.11.1725 Halle, † 29.1.1782 Altona. – 1771 an der Göttinger Medizinischen FakulLyrikerin. tät promoviert. Er ließ sich als Arzt in Altona nieder u. begrüßte als Redakteur der aufklä- Als Tochter des zum Pietismus neigenden rerischen Wochenzeitung »Neuer gelehrter Organisten Johann Gotthilf Ziegler Merkurius« (1772–80) die Auflösung des Je- (1688–1747) u. seiner Ehefrau Anna Elisasuitenordens. 1775–1792 unterrichtete er beth, geb. Krüger, genoss U. die typische ErPhysik u. Naturgeschichte an der Altonaer ziehung der Töchter des Mittelstands, die Gelehrtenschule, dem Christianeum. U.s sich jedoch, neben Kenntnissen im FranzösiTrauerspiel Diego und Leonore (Altona 1775), schen, auf religiöse u. häusl. Bereiche bedas die Zerstörung einer Liebesbeziehung schränkte. Ihr Interesse an Philosophie u. zwischen einer Katholikin u. einem Protes- Naturwissenschaften (wie an weltl. Literatur) tanten durch den intoleranten kath. Klerus verdankte sie dem Einfluss ihres Onkels, des vorführt, wurde auf Einspruch des kaiserl. Mediziners Johann Gottlob Krüger Gesandten in Hamburg vom Spielplan abge- (1715–1759), der in Halle lehrte, v. a. aber setzt. Sein Lustspiel Die neue Emma (ebd. 1778) dessen Schüler, ihrem späteren Ehemann Johat die Liebe zwischen der Tochter Karls des hann August Unzer (geb. 1727), der schon als Großen u. Eginhard zum Inhalt. Die Wie- Student u. Magister eine gewandte Feder land’sche Übersetzung des King Lear bearbei- führte. Als Musikschüler Zieglers hatte er tete er für die Bühne. Zugang zu U.s Vaterhaus u. versorgte die U. forderte in Reden u. Gedichten Gewis- Freundin mit Kollegheften, die er mit reichen sensfreiheit u. kritisierte die »Dummheit pädagog. Anmerkungen u. Illustrierungen herrschsüchtiger Prälaten«. Er war mit aus der zeitgenöss. Literatur versah. 1751 Klopstock, Voß u. Knigge befreundet u. nahm übernahm er eine Praxis im dän. Altona, wo gemeinsam mit diesen Revolutionsfreunden er als angesehener Arzt u. popularwissenam »Freiheitsfest« in Hamburg teil, das an- schaftl. Schriftsteller 1799 starb. Wann u. wo lässlich des ersten Jahrestags des Bastille- genau die Eheschließung (1751) erfolgte, ist sturms am 14.7.1790 vom Handelsherrn Ge- unbekannt, U.s Veröffentlichungen von 1751 org Heinrich Sieveking veranstaltet wurde. U. erschienen jedenfalls noch unter ihrem

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Mädchennamen. – Auf Betreiben ihres Onkels, der damals Prorektor in Helmstedt war, wurde U. zum Ehrenmitgl. der Deutschen Gesellschaften in Helmstedt u. Göttingen ernannt u. empfing aus seinen Händen 1753 den Lorbeerkranz einer »Kayserlich gekrönten Dichterin«. Solche Ehrungen von Frauen waren um die Mitte des Jahrhunderts nichts Außergewöhnliches mehr; für die Verleger, die damit auf den Titelseiten Reklame machten, wie für die Autorinnen selbst bedeuteten sie klingende Münze. – Seit der Mitte der 1750er Jahre dichtete U. nur noch selten. Das Bedürfnis versiegte einfach, u. der finanzielle Anreiz interessierte die wohlhabende Gattin Johann August Unzers wohl nicht mehr. Der Grundriß einer Weltweißheit für das Frauenzimmer u. seine Fortsetzung Grundriß einer natürlichen Historie und eigentlichen Naturlehre, die Krüger unter dem Namen seiner Nichte 1751 bei seinem Verleger C. H. Hemmerde in Halle erscheinen ließ, haben erst in jüngerer Zeit Aufsehen erregt. Der gebildete Zeitgenosse kannte natürlich die lat. Quellen u. wusste, auch aus dem scherzhaft-iron. Vorwort u. den launigen Anmerkungen Krügers, dass von U. nicht einmal die Übersetzungen ins Deutsche stammen konnten. Die vier Teile der Grundrisse bilden wenig mehr als Abrisse der Logica von Christian Wolff, der Metaphysica von Alexander G. Baumgarten, der Systema naturae von Linné u. der Naturlehre (= Physik) von Krüger selbst (3 Bde., 1740–49). Von diesem u. Johann August Unzer sind auch gelegentl. Zusätze. Schon in ihren Vorreden von 1751 (an denen Krüger sicher beteiligt war) hatte U. betont, dass der Sache nach nichts von ihr stamme, nur die »Einkleidung des Vortrags«, Beispiele u. Erläuterungen habe sie beigesteuert. In ihren Vorreden zur zweiten Auflage (1767; die neue Vorrede zur Weltweißheit ist 1761 datiert! Bearb. Neuaufl. Aachen 1995) nannte sie nicht nur ihre Quellen u. den Haupthelfer (ihren Mann, von dem auch die meisten »Exempel und Verzierungen« herrührten), sondern gestand auch freimütig, dass der systemat. Vortrag von Logik, Metaphysik u. Physik nur wenig mit wahrer Frauenbildung zu schaffen habe u. dass eine »Philosophie für

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das Frauenzimmer weit anders eingerichtet« sein müsse; sie »wüntschte ietzt sehr, daß man mich nicht zu dieser Unternehmung [...], der ich weder ietzt, noch vielweniger damals gewachsen war, verleitet hätte«. Die Frage, was in diesen Grundrissen überhaupt von U. stammt, ist bis heute ebensowenig geklärt wie die Frage, wieviele Ausgaben davon existierten. Selbst das entschiedene Eintreten für eine Frauenbildung in den Vorreden zur ersten Auflage ist seit der Frühaufklärung, v. a. in den (Moralischen) Wochenschriften bis hin zu Krüger u. Unzer, gang u. gäbe. – Der schalkhafte Einfall jedoch, eine Frau als Lehrerin von Frauen auftreten zu lassen, wird dem Verleger erhebl. Mehreinnahmen, der armen Zieglerin eine ansehnl. Mitgift eingebracht haben. Berühmt wurde U. erst durch ihren Versuch in Scherzgedichten (1751), dessen Vorrede sie mit ihrem Namen zeichnete. Eine Jungfer, die in Rokokoversen vom trunkenen Bacchus, von Amor (»dem geilen Sohn der Venus«) u. sonstigen Tändeleien singt, war natürlich eine Sensation u. wurde für den Verleger Hemmerde zum Verkaufsschlager (21753. 3 1766; jeweils mit unbekannt vielen Nachdrucken). In der Vorrede zur zweiten Auflage vermutete U. dann auch selbst, dass diese Sammlung ihren Erfolg v. a. dem Geschlecht der Autorin zu danken hatte. In den 30 Gedichten von 1751 stand Gleim mit seinem Versuch in scherzhaften Liedern (1744/45) als Vorbild im Vordergrund; in den 29 neuen Stücken von 1753 trat Hagedorn deutlicher hervor. Die alten Gedichte wurden sorgfältig verbessert, manche Geschmacklosigkeit geändert, viele blieben jedoch auch stehen u. neue kamen hinzu. Auffallend sind die reine Sprache u. die Mannigfaltigkeit der Formen in Vers, Rhythmus u. Reim. Ihre Vorbilder erreichte U. jedoch nur selten; am besten sind die Stücke, in die sich empfindsamere Töne mischen. Genau da liegt auch der Wert des Versuchs in 42 sittlichen und zärtlichen Gedichten (Halle 1754. 2., verbesserte, jedoch nicht erw. Aufl. 1766). Die wenigen »sittlichen«, d. h. erhabenen religiösen u. moralischen Gedichte halten sich ganz im Rahmen des Konventionellen. Erst in den »zärtlichen« Gedichten, die »eine sanfte Gemütsbewegung« ausdrü-

Unzer

cken, »die Sprache des Herzens reden« (Vorrede) u. vornehmlich an Freunde u. den geliebten »Damis« (ihren Mann) gerichtet sind, zeigt die Dichterin wieder ihr Bestes u. Persönlichstes. Ihr Gesamtwerk (rund 125 Gedichte) gehört aber nur zu den zweit- u. drittrangigen Leistungen der Zeit; mit der urspr. dichterischen Potenz z. B. einer Karschin lässt sich U. nicht vergleichen. Weitere Werke: Fortgesetzte Versuche in sittl. u. zärtl. Gedichten. Rinteln: G. Chr. Berth 1766 (52 S., meist Gelegenheitsgedichte aus der Zeit vor 1756). – Einzelne Gedichte in: Der Christ bei den Gräbern. Ztschr., hg. v. Johann Friedrich Löwen. Buchausg. Hbg. 1753. – Hamburgische Beyträge zu den Werken des Witzes u. der Sittenlehre. Hg. Johann Dietrich Leyding, J. F. Löwen. H.e 1 u. 2, Hbg. 1753. Literatur: Roethe: J. C. U. In: ADB. – Thomas Gehring: J. C. U.-Ziegler 1725–82. Ein Ausschnitt aus dem literar. Leben in Halle, Göttingen u. Altona. Diss. Bern/Ffm. 1973. – Dt. Dichterinnen vom 16. Jh. bis heute. Hg. Gisela Brinker-Gabler. Köln 2007, S. 143–148. Alfred Anger

Unzer, Ludwig August, * 22.11.1748 Wernigerode, † 13. oder 14.1.1774 Ilsenburg bei Wernigerode. – Lyriker, Ästhetiker.

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mit Devisen auf Deutsche Gelehrte, Dichter und Künstler ([Lemgo] 1772), in dem Zitate aus der Weltliteratur anderen Dichtern als charakterisierende Sentenzen zugeordnet werden. Die »Frankfurter gelehrten Anzeigen« (Nr. 49, 1772) beurteilten das Unternehmen als »elende oder mittelmäßige Burschenarbeit, in dem Winkel eines Städtchens voll Provincialgeschmack, an einem gähnenden Nachtische, mehr von blätternden Fingern, als nachsinnenden Gedanken gesammlet«. Vor seinem frühen Tod veröffentlichte U. – Bruder von Johann Christoph Unzer u. Neffe von Johann August Unzer – außer einigen Gedichten in Musenalmanachen noch zwei Bände Naivetaeten und Einfaelle (Gött. 1773). Die schalkhaft-witzigen, epigrammat. Kurzgedichte sind mit »Vorberichten« über die Ästhetik des »Natürlichen« u. über die von ihm damit ins Leben gerufene Gedichtgattung der »Naivetaet« versehen. Weitere Werke: Nachrichten v. den ältern erot. Dichtern der Italiener. Hann. 1774. – Lyr. Anth. Hg. Friedrich Matthisson. 9. Tl., Zürich 1805, S. 221–236. Literatur: Frankfurter gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772: Nr. 15, S. 98–100. Nr. 49, S. 321–324. Nr. 91, S. 605. Nr. 98, S. 649 (Rez.en). – Eduard Jacobs: L. A. U. In: ADB. – Heinrich Blume: Jakob Mauvillons u. L. A. U.s ›Ueber den Werth [...]‹ als Vorläufer der Sturm- u. Drangperiode. Freistadt (Kaiser Franz Josef-Staatsgymn.) 1908, S. 3–36. Gudrun Schury / Red.

Nach dem Besuch des Lyzeums in Wernigerode u. dem Jurastudium an der Universität in Halle versuchte sich der Kandidat der Rechte u. Hofmeister U. gleich mit seiner ersten Publikation in der Literaturkritik (UeUpschlacht, Niclaus, * letztes Viertel des ber den Werth einiger Deutschen Dichter [...]. 14. Jh., † erstes Viertel des 15. Jh. – VerBriefw. mit Jacob Mauvillon. 2 Tle., Ffm./ fasser einer Lieddichtung. Lpz. 1771/72). Zugleich mit der Ablehnung Gellerts hob er darin die Qualitäten Klop- Nur zwei Erwähnungen von U. sind überliestocks, Wielands, Ramlers, Gessners, Gleims fert: die nach 1415 entstandene Lieddichu. anderer hervor u. reflektierte über Publi- tung, in deren letzter Halbstrophe er sich als kumsgeschmack, Stil, Kritik u. den ganzen Verfasser u. zugleich die Stadt Brandenburg »Zustand der Litteratur« in Deutschland. a. d. Havel als seinen Hauptwirkungsort 1772 erschienen seine Versuche in kleinen nennt, u. der aus einer Brandenburger Gedichten (Halberst.) in anakreontisch-petrar- Sammlung des 15. Jh. stammende Vermerk, kist. Stil. Auch seine Zehn geistlichen Gesänge dass U. 1416 eine Urkunde ausfertigte. Als (Lpz. 1773) verwenden antikisierende For- Zeitgenosse von Engelbert Wusterwitz nutzte men u. Stilelemente, sind jedoch – offen- er bei der Abfassung seines Liedes dessen sichtlich unter Klopstocks Einfluss – sprach- Chronik. Die Lieddichtung erzählt in 14 lich ausdrucksvoller u. in ihrer pantheisti- Strophen mit 8-zeiligen Schweifreimen (aaschen Thematik alles andere als pietistisch. abcccb) vom Sieg des hohenzollernschen Kritische Beachtung fand U.s schmaler Band Markgrafen Friedrich I. über die Brüder

Urlsperger

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Dietrich und Johann von Quitzow im Jahre 1414. Der Text gelangte im 16. Jh. in eine Magdeburger Chronik u. von dort in Aufzeichnungen eines Rathenower Stadtschreibers. Diese Handschrift ist wahrscheinlich nach dem Zweiten Weltkrieg verloren gegangenen. Mit den Editionen u. Übersetzungen (u. a. Fontanes) v. a. des 19. Jh. erhielt das Lied eine neue, an seiner Historizität interessierte Öffentlichkeit. Literatur: Walther Specht: Thomas Neumanns Rathenower Chronik. In: Jahresbericht des Histor. Vereins zu Brandenburg a. H. 43/44 (1912), S. 109–114. – Volkslied des Brandenburger Niklas U. auf Markgraf Friedrich I. u. seinen Sieg über die Quitzows 1414 nach der wiederaufgefundenen Hs. hg. v. W. Specht u. übersetzt v. Otto Tschirch. In: ebd., S. 73–76. – Burghart Wachinger: N. U. In: VL. Clemens Bergstedt

Urlsperger, Samuel, * 20.8.1685 Kirchheim unter Teck, † 20.4.1772 Augsburg. – Pietistischer Prediger, Liederdichter, Publizist. U. entstammte einer aus Oberösterreich u. Böhmen nach Württemberg emigrierten protestantischen Exulantenfamilie. Nach dem Studium der Theologie an der württembergischen Landesuniversität Tübingen 1703–1707 unternahm der junge Geistliche 1708–1713 Bildungsreisen zu den bedeutendsten Zentren des damaligen Protestantismus. In Halle machte er die Bekanntschaft des Pietisten August Hermann Francke, der U.s Denken maßgeblich beeinflusste. Ein Aufenthalt in London, wo er 1710–1712 als Prediger an einer dt. Kirche wirkte, brachte ihn in Kontakt mit der die protestantische Mission unterstützenden »Society for Promoting Christian Knowledge«, zu deren Mitgliedern er auch nach der Rückkehr ins Reich Kontakte pflegte. 1712 erhielt U. eine Professur für engl. Kirchengeschichte an der Universität Halle, kehrte aber bereits 1714 in das heimatl. Herzogtum Württemberg zurück u. wirkte dort als Hofprediger Herzog Eberhard Ludwigs. Nachdem er sich mit seinem Dienstherrn wegen dessen »Doppelehe« überworfen hatte, übernahm U. trotz des Widerstands

der lutherisch-orthodoxen Stadtgeistlichkeit 1722 das Amt des Pastors bei St. Anna in Augsburg, das er bis 1765 innehatte. Die luth. Hauptkirche der wohlhabenden Medienmetropole Augsburg bot U. eine hervorragene Ausgangsbasis für seine Publikationstätigkeit. Aufgrund seiner rhetorischen Begabung u. des intensiven publizistischen Einsatzes für die innerprotestantische Solidarität im Fall der Salzburger Emigranten u. die luth. Weltmission nach jesuitischem Vorbild erlangte U. bald über die Grenzen der schwäb. Reichsstadt hinaus Bekanntheit im protestantischen Heiligen Römischen Reich. In U.s Œuvre spielten neben der theolog. Gelegenheitsliteratur wie den Leichenpredigten u. den histor. Abrissen, die er 1730, 1748 u. 1755 aus Anlass der jeweiligen luth. Jubiläen verfasste, zwei Räume, »Ost-Indien« u. »West-Indien«, eine herausragende Rolle, die er medial fokussierte: Der spätere Senior, d.h. Hauptgeistliche an St. Anna, trat mit zahlreichen, teils umfängl. Druckschriften, v. a. Predigten, Solidaritätsaufrufen u. von ihm redigierten Tagebuch- u. Briefsammlungen pietistischer Geistlicher in Ostindien u. Nordamerika an die Öffentlichkeit, um für eine Lebensführung im Sinn des Pietismus zu werben u. zgl. die Missionen finanziell zu unterstützen. Der zeitgenöss. Leser u. Hörer erhielt so die Möglichkeit, sich anhand verschiedener Textgattungen einen Eindruck von den mehrere 1000 Kilometer entfernten Vorgängen in Ebenezer (Georgia) zu verschaffen. Zugleich transportierten die Berichte auch neues Wissen über die nordamerikan. Tier- u. Pflanzenwelt nach Europa u. leisteten so einen Beitrag zum transatlant. Kulturtransfer. Mit U. erlangte Augsburg als Zentrum des süddt. Pietismus luth. Prägung letztmalig überregionale Bedeutung. Werke: Kurtze histor. Nachricht aus den Berichten der Königl. Dänischen Missionarien in OstIndien, zu Tranquebar auf der Cüste Coromandel, von dem Bekehrungs-Werck der Ost-Indischen Heyden [...]. Augsb. 1730. – Ausführl. Historie derer Emigranten [...] aus dem Ertz-Bisthum Saltzburg. 4 Tle., Lpz. 1733/34 u. ö. – Altes u. Neues aus dem Liederschatz der Evang. Kirche,

Ursinus oder vermehrtes geistreiches Gesang-Buch [...]. Augsb. 1748. – American. Ackerwerck Gottes; oder zuverlässige Nachrichten, den Zustand der american. u. von salzburg. Emigranten erbauten Pflanzstadt Ebenezer in Georgien betreffend [...]. 2 Bde., Augsb. 1754/55. Literatur: Reinhard Schwarz (Hg.): S. U. (1685–1772). Augsburger Pietismus zwischen Außenwirkungen u. Binnenwelt. Bln. 1996. – Stefan W. Römmelt: Georgien in Teutschland. Der Augsburger Pastor S. U. (1685–1772) u. die pietist. Publizistik über das Siedlungsprojekt Eben-Ezer (Georgia). In: Grenzüberschreitungen. Die Außenbeziehungen Schwabens in MA u. Neuzeit. Hg. Wolfgang Wüst, Georg Kreuzer u. David Petry. Augsb. 2008, S. 249–266. – James Van Horn Melton: From Alpine Miner to Low-Country Yeoman: The Transatlantic Worlds of a Georgia Salzburger 1693–1761. In: Past & Present 201 (2008), S. 98–140. Stefan W. Römmelt

Ursinus, Zacharias, * 18.7.1534 Breslau, † 6.3.1583 Neustadt a. d. Hardt. – Reformierter Theologe, Hauptverfasser des Heidelberger Katechismus. Geboren als Sohn des Diakons Andreas Beer, latinisiert Ursinus, besuchte U. die Schule an St. Elisabeth, wo der Breslauer Reformator Ambrosius Mobinus sein Lehrer war. Die Immatrikulation an der Universität Wittenberg 1550 brachte ihn in Kontakt mit Philipp Melanchthon, der sich in einem Brief an den Breslauer Arzt Crato von Crafftheim um finanzielle Unterstützung für U. bemühte. Crafftheim blieb bis zum Lebensende ein väterl. Freund u. theolog. Gesprächspartner. 1557 brach U., mit einem Empfehlungsschreiben Melanchthons ausgestattet, zu einer Studienreise in die Schweiz (Zürich, Basel, Bern, Lausanne, Genf) u. nach Frankreich auf, wo er die Bekanntschaft Heinrich Bullingers, Petrus Martyr Vermiglis u. Johannes Calvins machte. Nach der Rückkehr wurde U. im Sept. 1558 Lehrer an der Breslauer Elisabethschule. In Zuge von Auseinandersetzungen um das Verständnis des Abendmahls im darauffolgenden Jahr reichte er seine Entlassung ein u. ging 1560 über Wittenberg, Heidelberg u. Basel nach Zürich. Hier erreichte ihn im Juli 1561 ein Ruf an die Universität Heidelberg, nachdem der ursprünglich be-

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rufene Martyr Vermigli abgesagt hatte. Anfangs lehrte er an dem 1555 gegründeten, von Kurfürst Friedrich III. für die Theologenausbildung ausgebauten Sapienzkolleg. 1562 zum Dr. theol. promoviert, wurde er als Nachfolger Caspar Olevians Theologieprofessor an der Theologischen Fakultät. Seine Aufgabe bestand darin, über die loci communes zu lesen. In diesem Zusammenhang entstanden 1562 eine Summa theologiae u. ein Catechismus minor. Sie bildeten unmittelbare Vorstufen zum Heidelberger Katechismus von 1563. Während U. als dessen hauptsächl. Verfasser unzweifelhaft ist, besteht Uneinigkeit über die Anteile Olevians u. einer kurpfälz. Theologenkommission bei der Endredaktion. In den Auseinandersetzungen in der Kurpfalz, ob die Kirchenzucht nach Züricher Vorbild von der weltl. Obrigkeit im Rahmen der allgemeinen Sittenzucht oder wie in Genf von einem kirchl. Gremium zu handhaben sei, vertrat U. die an Genf orientierte Position. Im Zuge der luth. Restauration nach dem Tod Friedrichs III. am 26.10.1576 unter dessen Sohn Ludwig VI. wurde er entlassen. Friedrichs jüngerer Sohn Johann Casimir behielt in seinen Territorien die an Melanchthon u. Calvin orientierte Reformation bei u. gründete mit dem Collegium Casimirianum in Neustadt a. d. H. eine entsprechend ausgerichtete Hochschule, an der U. seit 1578 lehrte. U.’ Schriften wurden in den beiden, postum 1584–1589 u. 1612 gedruckten Gesamtausgaben der theolog. Werke veröffentlicht. Neben der am Collegium Casimirianum gehaltenen, unvollendet gebliebenen JesajaVorlesung waren das insbes. die DogmatikVorlesungen aus den Jahren 1562–1567, die Loci theologici. Als theolog. Hauptwerk U.’ gelten die erst 1598 von David Pareus herausgegebenen Erläuterungen zum Heidelberger Katechismus. Durch dessen außerordentl. Verbreitung hat U.’ Theologie umfassend gewirkt. Der Heidelberger Katechismus wurde der wichtigste Katechismus bzw. Bekenntnistext im reformierten Bereich u. gehört heute – in zahlreiche Sprachen übersetzt – zu den am meisten verbreiteten deutschsprachigen Bekenntnistexten überhaupt. Die

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Theologie U.’ verbindet wie die des Heidelberger Katechismus Anliegen Melanchthons u. Calvins, schöpft aber auch aus anderen Reformatoren. Dies zeigt sich in der Lehre vom Abendmahl, das als geistl. Speisung, die Anteil an den Gütern Christi schenkt, verstanden wird. Die leibl. Realpräsenz Christi in den Elementen lehnt der Katechismus wie U. selbst ab. Die Prädestinationslehre wird erst in den späteren Schriften U.’, noch nicht im Heidelberger Katechismus herausgestellt. Ausgaben: Volumen Tractationum Theologicarum [...]. Hg. Johann Jungnitz. 2 Bde., Neustadt a. d. H. 1584 u. 1589. – Opera Theologica [...]. Hg. Quirinus Reuter. 3 Bde., Heidelb. 1612. Literatur: Karl Sudhoff: C. Olevianus u. Z. U. Leben u. ausgew. Schriften. Elberfeld 1857. – August Lang: Der Heidelberger Katechismus u. vier verwandte Katechismen. Darmst. 1967. – Erdmann K. Sturm: Der junge Z. Ursin. Sein Weg vom Philippismus zum Calvinismus (1534–1562). Neukirchen 1972. – Derk Visser: Z. U. The reluctant reformer. His life and times. New York 1983. – Ders. (Hg.): Controversy and conciliation. The Reformation and the Palatinate 1559–1583. Allison Park, Pennsylvania 1986. – Ders.: Z. U. (1534–1583). Melanchthons Geist im Heidelberger Katechismus. In: Melanchthon in seinen Schülern. Hg. Heinz Scheible. Wiesb. 1997, S. 373–390. – Harm Klueting: U. Z. In: TRE. – Ulrich Hutter-Wolandt: Z. U. In: Bautz, Bd. 12 (1997), Sp. 953–960. – Dagmar Drüll: Heidelberger Gelehrtenlexikon 1386–1651. Bln. u. a. 2002, S. 536–538. – Johannes Ehmann: Z. U. u. der Heidelberger Katechismus [...]. In: Luther 81 (2010), S. 90–103. Christoph Strohm

Ursprung von Mainz.  Spätmittelhochdeutsche Erzählung über die Geschichte von Mainz, terminus post quem ca. 1335. Beim Ursprung von Mainz handelt es sich um eine in der handschriftl. Überlieferung rund 20 Oktavseiten umfassende anonyme Geschichte von Mainz in Prosa von den sagenhaften Anfängen der Stadt bis in die Mitte des 13. Jh. Als terminus post quem ihrer Entstehung ist die Zeit um 1335 anzusetzen, auf die im Text angespielt wird. Der durch das Verfasserlexikon geprägte Titel Ursprung von Mainz verweist dabei auf einen themat. Schwerpunkt der fiktionsreichen chronikal. Dar-

Ursprung von Mainz

stellung, in dem offenbar auch der Grund für die Aufnahme des Textes in das historiografische Buch von Kaiser Sigismund des in Mainz gebürtigen Geschichtsschreibers Eberhard Windeck (ca. 1380–1440) liegt (»WindeckFassung«). Windeck fügte die Geschichtserzählung im Zusammenhang der Frage in sein Buch ein, »warumbe die stat Trier dreizenhundert jor elter wer wann Rom« (Windecke, S. 456): Im Ursprung von Mainz werden die Anfänge von Mainz unter Bezugnahme auf die bekannte Trierer Trebeta-Sage auf »xij meyster«, wie es im Wortlaut der gegenüber Windeck detailfreudigeren Fassung des Christian Gheverdis aus dem frühen 16. Jh. heißt, beziehungsweise »grosz Astronomj vnd auch magici« aus Trier zurückgeführt (»Gheverdis-Fassung«, zit. bei Goerlitz, S. 66); diese hätten rund fünfhundert Jahre nach der Gründung Triers durch Trebeta Mainz erbaut. Auf diese Weise betont die volkssprachige Erzählung das hohe Alter der Stadt Mainz, die dadurch wenn nicht Trier, so doch Rom übertrifft. In Anbetracht des polit. Aufstrebens der Bürgerschaft von Mainz seit dem 13. Jh., in dem die patriz. Geschlechter weit reichende städt. Freiheitsrechte erreicht hatten, erscheint es dabei als bezeichnend, dass die Gründung der Freien Stadt nicht auf einen Monarchen zurückgeführt wird, sondern auf eine Gruppe weithin bekannter Gelehrter aus der städt. Oberschicht, denen in der Erzählung in Abgrenzung von einer älteren, lateinisch-klerikalen Überlieferungstradition positiv gedeutete magisch-naturphilosophische Fähigkeiten zugeschrieben werden. Dementsprechend gilt ein besonderes Interesse des anonymen Verfassers den Freiheitsrechten, welche die Bürger von Mainz im Verlauf ihrer Geschichte erworben hätten; zur Beglaubigung wird auf Monumente wie den röm. »Eichelstein« (Kenotaph des Drusus Germanicus im Gebiet der heutigen Mainzer »Zitadelle«) verwiesen. So wird ebenso von röm. Kaisern erzählt, die Mainz mit Privilegien ausgestattet hätten u. dort bestattet seien, wie von der Zerstörung der Stadt durch den heidn. König Etzel u. ihrem Wiederaufbau durch König Dagebrecht. Von da aus fährt der Text in großen Sprüngen, bei denen das erzählerische Interesse insbes. auch

Ursula-Legende

der 1160 erfolgten Ermordung des Erzbischofs Arnold von Selenhofen gilt, fort bis in die Zeit des Erzbischofs Siegried II. von Eppstein u. Kaiser Friedrichs II. in der ersten Hälfte des 13. Jh. Im 15. und 16. Jh. wurde der Ursprung von Mainz außer von Windeck u. Gheverdis in krit. Weise u. a. auch von dem benediktin. Humanisten Hermannus Piscator rezipiert. Über Piscator gelangte die Kenntnis des Textes an Nicolaus Serarius, den Verfasser der lange maßgebl. Geschichte von Mainz aus dem Jahr 1604. Durch ihn blieben einige der im Ursprung von Mainz erzählten Geschichten über Mainz auch außerhalb der Überlieferung Eberhard Windecks bis in das 19. u. 20. Jh. hinein bekannt. Seit den 1990er Jahren wird dem Text in der Forschung neue Aufmerksamkeit entgegengebracht. Ausgabe: Windeck-Fassung in: Eberhard Windecke: Denkwürdigkeiten zur Gesch. des Zeitalters Kaiser Sigismunds. Hg. Wilhelm Altmann. Bln. 1893, S. 456–465, c. 373–375.  Exzerpte aus der Gheverdis Fassung bei Goerlitz (2005).  Abdruck eines Fragmentes außerdem in: Die Chroniken der mittelrhein. Städte. Mainz, Bd. 2. Hg. Carl Hegel. Lpz. 1882, S. 241–243. Literatur: Uta Goerlitz: Humanismus u. Geschichtsschreibung am Mittelrhein. Tüb. 1999, S. 258–269.  Klaus Graf: U. der Stadt M. In: VL.  U. Goerlitz: Facetten literar. Lebens in Mainz zwischen 1250 u. 1500. In: Lebenswelten Gutenbergs. Hg. Michael Matheus. Stgt. 2005, S. 59–87 (Text), 189–214 (Literaturverz. zum gesamten Bd.).  Franz Joseph Felten: Mainz u. das frühmittelalterl. Königtum. In: Robert Folz (1910–1996)  Mittler zwischen Frankreich u. Dtschld. Hg. ders., Pierre Monnet u. Alain Saint-Denis. Stgt. 2007, S. 51–96, hier S. 80–90.  Vgl. auch die Literatur zu Eberhard Windecke (Bd. 12). Uta Goerlitz

Ursula-Legende, seit dem 9. Jh. Ursula mit ihren elftausend Jungfrauen bildet eine der größten Heiligenscharen des MA; von zweifelhafter Historizität genießt sie seit der Revision des röm. Heiligenkalenders von 1969 nur noch einen lokal zugelassenen Kult (Köln); Fest am 21.Oktober. Ursula, christl. engl. Prinzessin, wird von einem Heidenprinzen umworben; sie stimmt der Ehe nach vorgängiger Bekehrung des

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Bräutigams zu. In der Wartefrist sammelt sie elftausend Jungfrauen zur Belehrung u. Bekehrung auf elf Schiffen um sich. Ein Sturm treibt die Flotte zum Kontinent, dann rheinaufwärts bis Basel; über nächtl. Engelserscheinungen bei Ursula hat mittlerweile der Himmel die Führung der frommen Scharen übernommen. So pilgert man zu Fuß weiter nach Rom; Papst Cyriacus gibt trotz Widerspruch der Kardinäle sein Amt auf, um sich dem nunmehr das Martyrium suchenden Heer anzuschließen; das Kardinalskollegium tilgt daraufhin seinen Namen aus den Papstlisten. Auf der Rückkehr stößt der Zug bei Köln auf den die Stadt belagernden Hunnenfürsten; die wilden Horden löschen die frommen Scharen aus. Ihr Tod rettet zgl. die Stadt vor der weiteren Belagerung u. Eroberung. Diese Erzählung repräsentiert die im HochMA konsolidierte »Normalfassung« der Legende; ihr geht eine seit dem FrühMA in immer dichter werdenden Spuren verfolgbare u. erzählerisch immer weiter ausgreifende Legendenbildung voraus. Ansatzpunkt bildet die lat. Inschrift auf einer in der Kölner Ursulakirche erhaltenen Tafel (sog. ClematiusInschrift); sie nimmt auf spätantike Verhältnisse Bezug u. hält fest, an diesem Ort habe Clematius, ein Mann von senatorischem Rang, zu Ehren jungfräul. Märtyrerinnen von Neuem eine Basilika aufgerichtet. Es finden sich weder Angaben zu Zahl noch zu Herkunft u. Namen dieser Jungfrauen; eine Datierung fehlt. Echtheit der Tafel bzw. ihrer Inschrift sind nicht restlos gesichert. Vorab in schriftl. Quellen (Einträge in liturg. Kalender, Litaneien, der Sermo »in die natali« u. die Passio I u. II) lässt sich nun seit dem 9. Jh. die Entstehung einer Legende verfolgen. Zu Beginn tauchen Namen der Märtyrerinnen auf, sie konsolidieren sich in der Elfzahl. Der Sermo (wohl 10. Jh.) enthält noch keinen zusammenhängenden Bericht, aber Kerne einer künftigen Erzählung (Herkunft der Märtyrerinnen von auswärts, angeblich aus Britannien, Präsenz auch von verheirateten u. verwitweten Frauen); er beruft sich bei oft eingeräumtem Nichtwissen auf mündl. Quellen. Wichtig ist der Sermo zudem durch den offenbar schon vollzogenen

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Sprung von Elf zu Elftausend. Die genauen Gründe dafür (Irrtum? fromme Selbsttäuschung? frommer Betrug?) sind unklar u. umstritten. Plausibel wirkt die Erklärung, man habe den übergesetzten Strich über »XI«, meist Markierung einer Zahl, hier als Multiplikator für »1000« missverstanden. Erzählerischen Zusammenhang erreicht die Legendenbildung in der Passio I (auch: »Fuit tempore pervetusto«; um 975). Ins 11. Jh. gehört die Passio II (»Regnante Domino«). Sie unterscheidet sich wenig durch den Inhalt, wohl aber durch größeren Umfang, den eingängigen u. gewandten stilistischen Habitus u. ungleich breitere Überlieferung (mit einigem Variantenreichtum); geschrieben ist sie offensichtlich für das Kölner Ursula-Stift. Die seit röm. Zeit situierte Begräbnisstätte der frommen Jungfrauen befand sich außerhalb der frühmittelalterl. Stadtmauern in einem röm. Gräberfeld. Bei Stadterweiterungen des frühen 12. Jh. wurde nun dieses Feld angeschnitten. Die dabei zu Tage gekommenen zahlreichen Gebeine erbrachten für die Zeitgenossen den materialen Beweis für die mittlerweile gebildete Legende – u. sie stellten wertvolle Reliquien dar! Zwischen 1155 u. 1164 ist eine eigentl. Grabungskampagne der Deutzer Benediktiner belegt. Die Verwendung von Gebeinen als Reliquien setzte aber deren De-Anonymisierung voraus. Zudem fand man Gebeine u. Grabschriften von Männern u. Kindern, was einen Bedarf nach Interpretation u. Erweiterung der bestehenden Legende auslöste. In beiden Fällen gaben Visionen die begehrten Antworten. Der Deutzer Abt Gerlach gelangte hiefür namentlich an die Schönauer Nonne Elisabeth (1129–1164). Auf Befragung u. Vorlage von Grabungsfunden lieferte sie visionär erlangte Auskünfte über Namen u. nähere Geschichte der vermeintl. Heiligen; sie schlugen sich nieder in der weit verbreiteten Schrift Revelationes de sacro exercitu virginum Coloniensium. Zwischen 1183 u. 1187 entstanden schließlich erneut, vielleicht in PrämonstratenserKreisen, anonyme Revelationes noch fantastischeren Inhalts. Damit war die Legendenbildung abgeschlossen; durch die zahlreichen Reliquientranslationen verbreitete sich der Kult rasch

Ursula-Legende

europaweit; für dessen Intensität zeugt etwa auch die Bildung verschiedener Bruderschaften im 14. u. 15. Jh.; die Legende fand Eingang in das mittelalterl. »Normallegendar«, die tausendfach verbreitete Legenda aurea des Jacobus a Voragine. Parallel dazu kam es zur Rezeption in den Vulgärsprachen; dabei lassen sich neben Legenden auch andere Texttypen (Predigten, Chronikeinlagen, Lieder, geistl. Spiele, Bruderschaftsbücher, humanistische Reden) nachweisen. – Der Kölner Jesuit Hermann Crombach trug zur gegenreformatorischen Sicherung der angefochtenen Legende ein umfangreiches Foliowerk (samt nachgereichtem Ergänzungsband) zusammen, die S. Ursula vindicata (1647) – »incredibili credulitate« wie ein Ordensgenosse des 19. Jh. spottete. – Begleitet wird der mittelalterl. u. frühneuzeitl. Kult von zahlreichen plastischen u. malerischen Bildwerken (am bekanntesten der große Zyklus von Vittore Carpaccio für die venezian. Scuola di Sant’Orsola, heute in der Accademia); dazu kommen die bes. in Köln bemerkenswerten architekton. Zeugnisse. Ausgaben: Lateinische Basistexte: Acta Sanctorum Oktober Bd. 9 (1858), S. 73–303 (umfassendste, aber nicht vollständige neuzeitl. Textedition mit hist.-krit. Abh.). – Johann Hubert Kessel: St. Ursula u. ihre Gesellsch. Köln 1863 (›Sermo‹ u. ›Passio II‹, mit dt. Übers.) – Wilhelm Levison: Das Werden der Ursula-Legende. In: Bonner Jbb. 132 (1927), S. 1–164 (einsprachiger Abdruck von: ClematiusInschrift, ›Passio I‹ u. ›II‹, weiteren Zeugnissen). – Joachim Vadian: Lat. Reden. Hg. Matthäus Gabathuler. St. Gallen 1953 (mit einer lat. Rede auf die Elftausend Jungfrauen). – Arbogast Strub: Gedächtnisbüchlein [1511]. Hg., übers. u. komm. v. Hans Trümpy. Glarus 1955 (Jb. des Histor. Vereins des Kantons Glarus 56), S. 66–220 (mit einer Rede auf St. Ursula: S. 72–103). – Franz-Dieter Sauerborn: Heinrich Glarean u. die Kölner Ursula-Legende v. 1507. In: Zwingliana 24 (1997), S. 19–57 (mit Ed. verschiedener Texte des frühen 16. Jh.). – Deutsche Legenden: Ursula-Legenden im Kölner Druck. Hg. U. Rautenberg. Köln 1992. – U. Rautenberg: Ursula u. die elftausend Jungfrauen. In: VL (Gesamtübersicht mit weiterführender Bibliogr.). Literatur: Levison 1927 (s. Ausgaben; krit. Aufarbeitung der Legendenbildung bis 1200). – Die hl. Ursula u. ihre Elftausend Jungfrauen. Köln 1978 (Ausstellungskat.). – André Schnyder: Die Ursula-

Urweider bruderschaften des SpätMA. Bern 1982. – Frank Günter Zehnder: St. Ursula. Legende – Verehrung – Bilderwelt. Köln 1985 (mit Bibliogr.). André Schnyder

Urweider, Raphael, * 5.11.1974 Bern. – Lyriker, Dramatiker, Musiker. U., Sohn des reformierten Pfarrers u. Schriftstellers Andreas Urweider, studierte Germanistik u. Philosophie in Fribourg. Sein 1999 mit dem Leonce-und-Lena-Preis der Stadt Darmstadt ausgezeichneter Gedichtzyklus Manufakturen wurde im folgenden Jahr mit sieben weiteren Zyklen in der Sammlung Lichter in Menlo Park (Köln) veröffentlicht. Menlo Park ist der legendäre Ort des think tank von Thomas Edison, der wie eine Reihe anderer Forscher u. Entdecker – von Magellan bis Neil Armstrong – als Gegenstand der Gedichte wiederkehrt. 2002 erhielt S. für den in Prosa vorgetragenen Text Steine den 3satPreis bei den Klagenfurter Literaturtagen, 2004 den Clemens-Brentano-Preis für den Lyrikband Das Gegenteil von Fleisch (Köln 2003), in dem die Steine in lyr. Form wiederkehren. 2008 folgte mit Alle deine Namen (Köln) ein weiterer Gedichtband. Darüber hinaus verfasste S. zusammen mit dem Regisseur Samuel Schwarz u. a. die Theaterstücke Neue Mitte (Urauff. Maxim-Gorki-Theater Berlin 2001) u. Zombies – Herbst der Untoten (Urauff. Dt. Schauspielhaus Hamburg 2003). Neben Tätigkeiten als musikal. Autor, u. a. für die Aufführung von Elfriede Jelineks Sportstück in Zürich, ist U. Mitglied der HipHop-Gruppe »LDeeP«. Literatur: Fredi Lerch: Lichter in Menlo Park [Rez.]. In: Wochenzeitung, 31.5.2000. – Michael Braun: Faltenwürfe. R. U.s jüngste lyr. Wahrnehmungskunde. In: Frankfurter Rundschau, 12.11.2003. – Karla Reimert: R. U. In: LGL. – Andreas Stuhlmann: Reading U. – a new voice in Swiss poetry. In: From the Margins to the Centre. Irish Perspectives on Swiss Culture and Literature. Hg. Patrick Studer u. Sabine Egger. Oxford u. a. 2007, S. 345–362. – Roman Bucheli: Das Alphabet der Liebe. R. U. buchstabiert die Leidenschaften. In: NZZ, 29.3.2008. J. Alexander Bareis

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Ury, Else, * 1.11.1877 Berlin, † 13.1.1943 Auschwitz. – Mädchenbuchautorin. U. stammte aus einer assimilierten jüd. Fabrikantenfamilie. Sie schrieb zunächst Gedichte u. humoristische Beiträge für die »Vossische Zeitung«; um 1900 folgten erste Kinderbücher. In der Reihe Kränzchenbibliothek des Stuttgarter Union Verlags spezialisierte sie sich auf Erzählungen für junge Mädchen. U. wurde am 6.1.1943 von der Gestapo verhaftet u. am 12. Jan. nach Auschwitz deportiert; der Zug erreichte Auschwitz am 13.1.1943. Als ›nicht arbeitsfähig‹ eingestuft, wurde U. noch am selben Tag ermordet. Zwar dominiert in U.s Büchern das traditionelle Bild von der abhängigen Frau, die wahres Glück nur in Ehe u. Familie findet, doch werden auch Studium u. Karriere thematisiert (Lillis Weg. Stgt. 1925). U.s Werke, reich an patriotischen Bekenntnissen, erreichten hohe Auflagen. 1934 wurde U. aus dem Reichsverband dt. Schriftsteller ausgeschlossen u. erhielt Publikationsverbot. Berühmt wurde U. durch die NesthäkchenSerie (10 Bde., Bln. 1918–32), die Geschichte der wohlbehüteten Bürgertochter Annemarie von der Kinderstube bis ins Greisenalter. Nach dem Zweiten Weltkrieg in zwei Neubearbeitungen (1950 Maria Schlatter, 1984 Gunter Steinbach) erfolgreich wiederaufgelegt (Düsseld.), zeigt die populäre Serie (Gesamtauflage über fünf Mio.) beispielhaft die Wertvorstellungen dt. Mädchenerziehung. Weihnachten 1983 strahlte das ZDF einen sechsteiligen Fernsehfilm der NesthäkchenSerie aus. Marianne Brentzel schrieb die erste literar. Biografie U.s mit dem provokanten Titel Nesthäkchen kommt ins KZ (Zürich/Dortm. 1992), nachdem sie im WDR-Zeitzeichen vom 12.1. 1988 gehört hatte, dass U. Jüdin war u. in Auschwitz ermordet wurde. Seitdem ist das wissenschaftl. Interesse an der Mädchenbuchautorin stetig gewachsen, während sie zuvor eher als konservative ›Heile-Welt‹-Autorin abgetan wurde. Besonders der Frage, ob jüd. Elemente in den Büchern U.s zu finden sind, wird nachgegangen. Antonia Grunenberg zeigt in ihrer Untersuchung Die Welt war

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Urzidil

so heil (Bln. 2006), in der sie den Briefwechsel S. 217–228. – Klaus-Ulrich Pech: Ein Nesthaken als von 1938 bis 1943 zwischen U. u. ihren Ver- Klassiker. E. U.s ›Nesthäkchen‹-Reihe. In: Klassiker wandten auswertet, dass es sich bei den Urys der Kinder- u. Jugendlit. Hg. Bettina Hurrelmann. um eine völlig assimilierte Familie handelte, Ffm. 1995, S. 339–357. – Gisela Wilkending: Spuren dt.-jüd. Vergangenheit in den kinder- u. für die eine systemat. Vernichtung der Juden mädchenliterar. Werken E. U.s. In: ›Hinauf und außerhalb ihrer Vorstellung lag. Gisela Wil- Zurück/ in die herzhelle Zukunft‹. Dt.-jüd. Lit. im kending erkennt vorsichtige Anspielungen 20. Jh. FS Birgit Lermen. Hg. Michael Braun u. a. auf das Jüdische, die sie als geheime Subtexte Bonn 2000, S.177–188. – Barbara Asper: E. U. In: liest. Sie versteht die Weltkriegsromane Nest- KJL. – Jennifer Redman: Nostalgia and optimism in häkchen und der Weltkrieg (1916) – dieser Ro- E. U.’s ›Nesthakchen‹ books for young girls in the man wurde nach 1945 nicht mehr aufgelegt Weimar Republic. In: GQ 79 (2006), H. 4, –, Flüchtlingskinder (1917) u. Lieb Heimatland S. 465–483. – B. Asper u. a.: Wiedersehen mit (Stgt. 1919) zudem als Romane, die gerade Nesthäkchen. E. U. aus heutiger Sicht. Bln. 2007. – M. Luke: E. U. – a Representative of the GermanInternierung u. Deportation thematisieren. Jewish Bürgertum. In: Publications of the Institute Brentzel sieht in ihrer Neufassung der Bio- of German Studies 93 (2009), S. 77–94. grafie Mir kann doch nichts geschehen ... (Bln. Ulrike Leuschner / Elke Kasper 2009) zwar in U.s Mädchenbüchern keine Hinweise auf die jüd. Tradition, aber sie verweist auf das Märchen Im Trödelkeller, das Urzidil, Johannes, * 3.2.1896 Prag, † 2.11. U. 1908 für einen Wettbewerb der B’nei 1970 Rom; Grabstätte: ebd., Campo SanB’rith schrieb, u. die Erzählung Die erste Lüge, to Teutonico. – Erzähler, Lyriker, Publidie vom Laubhüttenfest handelt. Die Aus- zist, Essayist, Kulturhistoriker. stellung des Museums Charlottenburg-Wilmersdorf Wiedersehen mit Nesthäkchen. E. U. aus Der als Sohn einer zum Katholizismus konheutiger Sicht wird in einem Sammelband do- vertierten tschech. Jüdin u. eines deutschnakumentiert, dessen erster Teil sich mit dem tionalen Vaters geborene U. bekam nach dem Leben U.s in Berlin beschäftigt. Im zweiten frühen Tod der Mutter eine nationalistische Teil geht es um die unbekannten Bücher U.s, Tschechin zur Stiefmutter. In U.s engstem ihr Plädoyer für die Berufsausbildung von Familienumfeld spiegelt sich somit in beiFrauen, aber auch um den Alltag u. Überset- spielhafter Weise jene multikulturelle böhm. zungen des Werks U.s. Beeindruckend sind Gesellschaft wider, die durch Shoa u. Zweiten Weltkrieg unwiederbringlich zerstört wurde. die vielen Bilddokumente. Bereits als Schüler des Prager Graben-GymWeitere Werke: Studierte Mädel. Stgt. 1906. – Kommerzienrats Olly. Bln. 1913. – Bubi u. Mädi. nasiums lernte U. im legendären Café Arco Bln. 1923. Forts. u. d. T. Professors Zwillinge. 3 die anderen Schriftsteller des so genannten »Prager Kreises« kennen. Diese große Zeit Bde., ebd. 1927–29. Neudr. Düsseld. 1952. Literatur: Malte Dahrendorf: E. U. In: LKJL 3. der Prager dt. Literatur hat U. später in etli– Susanne Zahn: Töchterleben. Studien zur Sozi- chen Essays u. auch Erzählungen beschriealgesch. der Mädchenlit. Ffm. 1983. – Christa ben, zumal in Da geht Kafka (Zürich 1965. Rotzoll: Erzählerin unserer Kindheit: die U. In: Erw. Mchn. 1966; Ess.s). 1913 erschienen Dies.: Frauen u. Zeiten. Stgt. 1987, S. 22–36. – erste Gedichte U.s im »Prager Tagblatt«, Sylvia Rogge: Späte Erkenntnis. Das Verhältnis der 1916 dann auch in F. Pfemferts »Aktion«. jüd. ›Nesthäkchen‹-Autorin E. U. zu Dtschld. In: Bald trat U., der von klein auf fließend Tribüne 28 (1989), H. 111, S. 211–215. – Birgit Tschechisch sprach, auch mit tschech. Steiner: Der weiblich ›selbstvergessene Blick‹ als Schriftstellern u. Künstlern wie P. Bezrucˇ, J. Lebensziel: ›Studierte Mädel‹ v. E. U. In: Fundeu. K. Cˇapek oder J. Zrzavy´ in freundschaftl. vogel (1993), H. 109, S. 6–32. – Guy Stern: Leben, ˇ ´ Werk u. Ermordung der E. U. Ein Ess. über die Kontakt, wovon der Band Zivot s cˇ eskymi malírˇ i Nesthäkchen-Autorin. In: Gegenbilder u. Vorur- (Horní Planá/Hluboká 2003; Essays, Briefe, teil. Aspekte des Judentums im Werk deutschspra- Dokumente) beredt Zeugnis gibt. Nach der chiger Schriftstellerinnen. Hg. Renate Heuer u. Matura studierte U. 1914–1919 an der dt. Ralph-Rainer Wuthenow. Ffm./New York 1995, Karl-Ferdinands-Universität in Prag Germa-

Urzidil

nistik (v. a. bei A. Sauer), Slawistik u. Kunstgeschichte, 1916–1918 zeitweise mit Unterbrechung durch bzw. parallel zum Kriegsdienst in der österr. Armee. Seit 1919 war U. für die dt. Gesandtschaft bzw. Botschaft in Prag tätig, seit 1922 als Pressebeirat. 1919 erschien auch sein erstes Buch, der expressionistische Gedichtband Sturz der Verdammten, auf Vermittlung M. Brods in Leipzig bei K. Wolff. Weitere literarische Texte wurden in Zeitschriften wie (lanciert von A. Polgar) »Der Friede« (Wien), W. Przygodes »Die Dichtung« (Berlin) oder dem von U. selbst redigierten »Der Mensch« (Brünn/Brno) veröffentlicht. Unter dem Titel Das Vermächtnis eines Jünglings gab U. das Werk des frühverstorbenen Prager Dichters K. Brand heraus (Vorw. F. Werfel, Wien u. a. 1921). Außerdem war U. in den zwanziger u. Anfang der dreißiger Jahre Prager Korrespondent des »Berliner Börsen-Couriers« u. von »Wolffs Telegraphenbureau« (Berlin) sowie bis zur Flucht ins Exil 1939 ständiger Mitarbeiter des »Prager Tagblatts« u. der »Bohemia« (Prag). Insgesamt erschienen in diesen rund zwanzig Jahren eine große Menge Zeitungsartikel von U., die ihn als »Publizist zwischen den Nationen« (G. Trapp) zeigen, der sich im Sinne des Bolzano’schen Bohemismus u. entgegen den lauter werdenden Nationalismen beider Seiten für einen friedl. Ausgleich zwischen Tschechen u. Deutschen innerhalb des gemeinsamen Staates einsetzt. U. heiratete 1922 die Dichterin Gertrud(e) Thieberger (1898–1977), die aus einer jüd. Gelehrtenfamilie stammte. U. selbst hatte, obwohl zeit seines Lebens gläubiger Katholik, stets eine besondere Affinität zum Judentum wie auch zur Freimaurerei, der er in Prag als Logenmitglied auch formal anhing. 1924 hielt U. bei einer Gedenkfeier für F. Kafka in Prag neben M. Brod u. H. Demetz eine der Trauerreden. Einer Anregung Sauers folgend, erarbeitete U. sein literarhistor. Hauptwerk Goethe in Böhmen (Wien/Lpz. 1932), das zum hundertsten Todestag Goethes veröffentlicht wurde. Auch danach befasste sich U. ständig weiter mit dem Thema, so dass dreißig Jahre später eine deutlich überarbeitete u. erweiterte Ausgabe erschien (Zürich 1962, nochmals überarb. ebd. 1965), die bis heute zu

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ihrem Thema als unübertroffen gilt. Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten in Deutschland wurde U. wegen seiner polit. Ansichten u. als so genannter Halbjude 1933 (formal erst im Januar 1934) aus dem diplomatischen Dienst des Deutschen Reiches entlassen. Statt für dt. schrieb U. nun vermehrt auch für Schweizer Zeitungen wie die »Neue Zürcher Zeitung« oder den »Journal des Nations« (Genf, unter dem Pseud. Jean Dupont). Die Urzidils verbrachten in diesen Jahren die Sommer oft in Josefsthal u. Glöckelberg im Böhmerwald, nahe Oberplan/ Horní Planá, dem Geburtsort des von ihnen verehrten A. Stifter; Freunde wie W. Haas, P. Kornfeld, H. Steiner-Prag oder E. Utitz folgten ihnen dorthin. Diese Aufenthalte spiegeln sich in einigen nahezu naturmagischen Erzählungen u. Gedichten U.s wider, die z. T. erst später entstanden. In dieser Zeit selbst erschienen neben zwei Übersetzungen U.s aus dem Tschechischen (Benesˇ ’ Grabrede auf T. Masaryk u. J. Papousˇ eks Benesˇ -Biographie, beide Prag 1937) v. a. zwei kunsthistor. Werke U.s, die sein starkes Interesse für die tschech. Kultur belegen: zum einen die Monografie Wenceslaus Hollar, der Kupferstecher des Barock (in Zusammenarbeit mit Franz Sprinzels. Wien/ Lpz. 1936) u. zum anderen die Überblicksdarstellung Zeitgenössische Maler der Tschechen – Cˇapek, Filla, Justitz, Sˇpala, Zrzavy´ (Preßburg/ Bratislava 1936). Nach der Besetzung Prags durch Nazideutschland flohen U. u. seine Frau 1939 in letzter Minute über Österreich u. Italien nach Großbritannien, dabei wie auch späterhin nicht nur finanziell großzügig unterstützt von der engl. Schriftstellerin Bryher. Dieser widmete U. später dankbar drei seiner Bücher, so die Übersetzung Avon (Bln./Ffm 1955) des Shakespeare-Buches By Avon River ihrer Lebensgefährtin Hilda Doolittle. Zunächst in London wohnend, dann im ländl. Viney Hill, Gloucestershire, stand U. in engem Kontakt zur tschechoslowak. Exilregierung unter E. Benesˇ u. schrieb (z. T. unter dem Pseud. Antibarbaros) für Exilzeitungen wie »Cˇzechoslovak v Anglii«, »Central European Observer« u. »Obzor«. Später distanzierte U. sich jedoch tief enttäuscht von Benesˇ , weil er dessen Pläne zur Vertreibung der

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Deutschen aus der Tschechoslowakei ablehnte. Auf Drängen Bryhers, die um die Sicherheit der Urzidils fürchtete, emigrierten diese 1941 per Schiff nach New York. Da U.s Einkommen als Journalist u. Verlagslektor u. das seiner Frau als Babysitter nicht hinreichte, verdingte U. sich mit einigem ökonomischem Erfolg als Lederhandwerker, eine Tätigkeit, die sich in einigen seiner Texte wie etwa Über das Handwerk (Krefeld 1954, Ess.) niederschlug. Erst die Anstellung beim Sender »Voice of America« in den Jahren 1951 bis 1953 verschaffte dem Ehepaar finanzielle Sicherheit. In Amerika gehörten die Urzidils wie das ihnen befreundete Ehepaar Zuckmayer zum Kreis um die Journalistin u. Nazigegnerin Dorothy Thompson u. ihren, ihnen schon aus Prag bekannten Mann, den Künstler Maxim Kopf. Sie waren bestens in der deutsch-österreich-jüd. Exilantenszene New Yorks integriert, wo beide regelmäßig im »Aufbau« publizierten u. später zu den engagierten Förderern des Leo Baeck Institute gehörten. U. pflegte aber auch den Kontakt zu den zahlreichen in alle Welt verstreuten Freunden u. Bekannten aus der Prager Zeit, z. B. zu E. von Kahler im nahen Princeton, Brod in Tel Aviv, Haas in Hamburg oder Zrzavy´ in Prag. Schon 1946 wurden die Urzidils US-amerikanische Staatsbürger, ein Signal für den Entschluss, nicht nach Europa zurückzukehren. U. ließ sich auch, mehr als die meisten anderen Emigranten, »tief [...] auf die Kultur des Gastlandes« (E. Schwarz) ein, befasste sich insbes. mit Emerson, Thoreau, Whitman sowie zeitgenöss. amerikan. Lyrik u. schlug in etlichen Radiobeiträgen oder Essays wie Das Glück der Gegenwart. Goethes Amerikabild (Zürich 1958) oder Amerika und die Antike (ebd. 1964) Brücken zwischen alter u. neuer Welt. Schon 1945 erschien auf Deutsch in New York die StifterErzählung Der Trauermantel (Mchn. 1955); in der längeren Erzählung hatte U. damit das ihm u. seiner »Poesie der Augenblicke« (C. Magris) gemäße Genre gefunden. Mit den beiden der Erinnerung als Vergegenwärtigung gewidmeten Erzählungszyklen Die verlorene Geliebte (Mchn. 1956) u. Prager Triptychon (ebd. 1960) gelangte U. zu

Urzidil

spätem Ruhm u. Ansehen; Preise u. Würdigungen folgten. Zeichnet das erste Buch U.s Leben bis zur Ankunft in New York ausschnittweise nach, sind im zweiten fünf Erzählungen aus der Geschichte von U.s Heimatstadt nach Art eines mittelalterl. Altarbildes komponiert. In den folgenden Jahren erschienen nun regelmäßig neue Bände mit Erzählungen U.s, die meist, aber nicht nur in Böhmen oder den USA spielen. U.s einziger Roman, Das große Halleluja (Mchn. 1959), »der große Amerika-Roman, den die Exilliteraturforschung allenthalben vermißt« (V. Popp), zeichnet in ausgefeilter Montagetechnik ein facettenreiches Panorama der USA, wie U. sie seit seiner Ankunft erlebt hatte. Daneben veröffentlichte U. zahlreiche kulturhistor. Essays u. Artikel in deutsch-, englisch- oder tschechischsprachigen Zeitschriften. Zu U.s Erfolg trugen auch die ausgiebigen Lesereisen bei, bei denen er v. a. im deutschsprachigen Raum viel Zuspruch erhielt u. Kontakte zu Schriftstellerkollegen, auch der jüngeren Generation (H. Böll, C. Busta, F. Wurm), pflegte. Böhmen u. Prag besuchte er – »Meine Heimat ist, was ich schreibe.« – allerdings nie mehr. Bei einer solchen Lesereise starb U. völlig unerwartet in Rom, wo er sein Grab auf dem dt. Pilgerfriedhof fand. Den Nachlass U.s u. seiner Frau verwahrt das Leo Baeck Institute in New York. Trotz aller Anerkennung geriet U. bald nach seinem Tode im deutschsprachigen Raum weitgehend in Vergessenheit; dagegen wurde er im europ. Ausland, v. a. in Frankreich u. Italien, seit den siebziger Jahren immer wieder übersetzt u. wissenschaftlich rezipiert. Nach der Wende 1989 setzte auch in seiner böhm. Heimat eine noch immer anwachsende U.-Renaissance ein, die sich mit verschiedenen Publikationen von u. zu U. nun auch im deutschsprachigen Raum anzudeuten scheint. Nicht zuletzt U.s Wortschöpfung »hinternational«, »nicht überoder unterhalb« der Nationen, u. die dahinter stehende Idee einer Überwindung des Nationalismus gewinnen an Attraktivität u. lenken den Blick auf U. als Mittler zwischen Deutschen u. Tschechen, Christen u. Juden, Europa u. Amerika. Während man früher U.

Usingen

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meist als klass. Erzähler in der Tradition rispondenza inedita di J. U. Diss. Pisa 2009. – Goethes u. Stifters sah, wird in jüngerer Zeit Steffen Höhne u. a. (Hg.): J. U. (1896–1970) – ein vor allem die spezif. Modernität von U.s er- ›hinternationaler‹ Schriftsteller aus Böhmen. Wien zählerischem Werk betont. Dessen hohe u. a. 2011. – Aktuelle u. detaillierte Primär- u. Sekundärbibliographie im Internet unter www.joQualität charakterisiert eine nuancenreiche hannes-urzidil.cz bzw. www.urzidil.de. Sprache, ein hintergründiger Humor, eine Klaus Johann doppelbödige Ironie, die jede Idylle als scheinbar entlarvt, sowie ein Changieren zwischen Stilen u. Genres. Das alles kennUsingen, Bartholomäus Arnoldi von, um zeichnet U. als Vertreter der literar. Moderne, 1462/64 Usingen/Taunus, 9. 9. 1532 u. »es ist hoch an der Zeit, ihn als zeitgenösWürzburg. – Augustiner-Eremit, Theolosischen Autor zu begreifen« (P. Demetz).

ge, Philosoph.

Weitere Werke: Die Stimme. Bln. 1930 (L.).– Die Memnonssäule. Wien 1957 (L.). – Die Tschechen u. Slowaken. In: Die Welt der Slawen. Bd. 1. Hg. Hans Kohn. Ffm. 1960. S. 113–205 (histor. Studie). – Das Elefantenblatt. Mchn. 1962 (E.en). – Geschenke des Lebens. Graz/Wien 1962 (L., E.en, Ess.). – Entführung u. sieben andere Ereignisse. Zürich 1964 (E.en). – Lit. als schöpfer. Verantwortung. Ebd. 1965 (Ess.). – Prag als geistiger Ausgangspunkt. New York 1965 (Ess.). – Die erbeuteten Frauen. Zürich 1966 (E.en). – Prag. Glanz u. Mystik einer Stadt (zus. mit Anselm Jaenicke). Krefeld 1966 (Bildband). – Bist du es, Ronald? Zürich 1968 (E.en). – The living contribution of Jewish Prague to modern German literature. New York 1968 (Ess.). – Väterliches aus Prag u. Handwerkliches aus New York. Zürich 1969 (autobiogr. Skizzen). – Die letzte Tombola. Ebd. 1971 (E.en). – Bekenntnisse eines Pedanten. E.en u. Ess.s aus dem Nachl. Ebd. 1972. – O cˇeské a neˇmecké kulturˇe (zus. mit Ferdinand Peroutka). Prag 2008 (Gespr.). – HinterNational. J. U. Ein Lesebuch v. Klaus Johann u. Vera Schneider. Potsdam 2010 (mit Biogr., Bibl. u. CD mit Tondokumenten). Literatur: Gerhard Trapp: Die Prosa J. U.s. Zum Verständnis eines literar. Werdegangs vom Expressionismus zur Gegenwart. Bern 1967. – Stella P. Rosenfeld: J. U.’s Prague and Bohemian stories. Major aspects of subject matter and theme. Diss. Cleveland, Ohio, 1976. – Hedwig Pistorius: J. U. u. das Exil. Diss. Wien 1978. – Christa Helling: J. U. u. Prag. Versuch einer Interpr. Triest 1981. – Peter Herren: Beharren u. Verwandeln. Bern 1981. – Johann Lachinger u. a. (Hg.): J. U. u. der Prager Kreis. Linz 1986. – Isabelle Ruiz: J. U. Le dernier conteur pragois de langue allemande entre l’engagement et la distance. Diss. Paris 1997. – Aldemar Schiffkorn (Hg.): Böhmen ist überall. Internat. J.U.-Symposion in Prag. Linz 1999 (mit Bibliogr.). – Klaus Johann: Bibliogr. der Sekundärlit. zu J. U. In: brücken. N. F. 13 (2005), S. 383–428. – Valentina Sardelli: A colloquio con il proprio passato: la cor-

U. wurde im Wintersemester 1484 an der Universität Erfurt immatrikuliert. Seit 1491 Magister an der Philosophischen Fakultät, war er 1501–1504 einer der Lehrer Martin Luthers. 1512 trat U. als 50-Jähriger bei den Augustiner-Eremiten ein, studierte Theologie u. war seit der Promotion (16.10.1514) Mitgl. der Theologischen Fakultät. Er war Prediger im Augustinerkloster. 26.4.1518 nahm er an der Heidelberger Disputation teil; Luther überzeugte ihn nicht von seiner Theologie. 1521 war U. Dekan der Theologischen Fakultät u. seit 20.4.1522 Domprediger in Erfurt. Mit den reformatorischen Prädikanten setzte er sich in Predigt u. Schrift auseinander. Am 17.5.1525 übersiedelte er ins Augustinerkloster Würzburg u. fand Verbindung zu Fürstbischof Konrad II. von Thüngen (1519–1540). Er beteiligte sich 1527/28 an Klostervisitationen, nahm 1530 als Theologe u. Prediger am Augsburger Reichstag teil u. arbeitete an der Confutatio Confessionis Augustanae mit. Im Sommersemester 1531 wurde U. durch den Rektor der Universität Erfurt empfangen. Im Sept. 1531 widerlegte er den Druck der Confessio Augustana Melanchthons; er vollendete das Werk im Manuskript (1978 in Würzburg gedruckt). – U. wurde in der alten Augustinerkirche bestattet. 1900 fand die Erhebung seiner Gebeine u. Übertragung in die neue Augustinerkirche (ehem. Dominikanerkirche) statt; sein jetziges Grab befindet sich in der Wand des rechten Seitenschiffes. U.s philosophische Schriften betreffen das Artes-Studium. Er verfasste sie während seiner Tätigkeit in der Artistenfakultät (1491–1514). Es sind Kompendien, in denen

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Usinger

er den philosophischen Stoff zusammenfasste Usinger, Fritz (Friedrich Wilhelm), * 5.3. u. pädagogisch geschickt vermittelte. In der 1895 Friedberg/Wetterau, † 9.12.1982 Naturphilosophie u. Dialektik arbeitete er die Friedberg/Wetterau; Grabstätte: ebd. – verbreiteten Lehrbücher des Petrus Gerticz Lyriker u. Essayist. von Dresden zu umfangreichen Kompendien Der Sohn eines Oberreallehrers u. Chordirium. Ihnen gab er zur Vertiefung Übungsbügenten studierte – mit Unterbrechung durch cher in Quästionenform bei. In seinen zwei den Ersten Weltkrieg – 1913–1920 Romagrammat. Schriften äußerte er sich zu Syntax nistik, Germanistik u. Philosophie in Münu. Stilistik. U. wurde auch von den Humachen, Heidelberg u. Gießen. Nach Staatsexnisten geschätzt. amen u. Promotion arbeitete U. 25 Jahre im U. war Nominalist, aber auch aufgeschlos- höheren Schuldienst u. lebte von 1949 an als sen für die neuen Strömungen. Es zeigte sich freier Schriftsteller wieder in Friedberg. U. an den Herausforderungen, die er bewältigte. war mit Hans Arp, Ernst Wilhelm Nay, KasiIn den Erfurter Kontroversschriften griff er mir Edschmid, Rudolf Kassner, Erich Kästauf die hl. Schrift u. die Kirchenväter zurück, ner, Alfred Mombert, Karl Wolfskehl u. Carl was er als Prediger an der Marienkirche Zuckmayer befreundet. 1946 mit dem Georg(Dom) seit 1522 tat in der Auseinanderset- Büchner-Preis ausgezeichnet, war er 15 Jahre zung mit Johann Lang, Johannes Culsamer u. Vizepräsident der Darmstädter Akademie für Egidius Mechler. Dabei legte er seinen kath. Sprache und Dichtung u. Mitgl. der Mainzer Standpunkt zu den Fragen der Rechtferti- Akademie der Wissenschaften und der Litegung, guten Werke, Heiligenverehrung, des ratur. Sein Nachlass befindet sich im DeutZölibats u. der Siebenzahl der Sakramente schen Literaturarchiv Marbach. dar (Kanzelkrieg). Die Würzburger Schriften Bis Ende der 1940er Jahre hielt U.s Lyrik zur kath. Lehre stellen die Gnade, den Glau- die Nähe zur Geisteswelt der Antike, Goethes, ben u. die Werke als für das christl. Leben Hölderlins u. Georges. Die strengen klass. unverzichtbar heraus. U. schrieb über die Formen (Ode, Hymne, Elegie, Sonett) domiLehre vom Fegefeuer u. die Fürbitte für die nieren die Zyklen Das Wort (Darmst. 1931), Verstorbenen, thematisierte die Anrufung u. Die Stimmen (ebd. 1934) u. Die Geheimnisse Verehrung der Heiligen. In seiner Schrift Ec- (ebd. 1937). Doch dem Gedicht des Erben clesia Lutherana Libellus fasste er die haupt- gelingt nur noch eleg. Einfühlung in die sächlichsten Kontroverspunkte zusammen. Geistnatur der belebten Welt, nicht mehr die Literatur: Bibliografien: VD 16. – Martin v. Hase: Versinnlichung des Logos, der er in seinen Bibliogr. der Erfurter Drucke v. 1501–1550. Essays über die geistigen Väter von Klopstock Nieuwkoop 31968. – Charles H. Lohr: Latin Aris- bis Rilke nachspürte (Geist und Gestalt. Ebd. totle Commentaries II: Renaissance Authors. Flo- 1939). In Hermes (ebd.) werden 1942 ewige renz 1988. – Weitere Titel: Erich Kleineidam: Uni- Mächte – in gebotener Dunkelheit – gegen versitas Studii Erffordensis. Tl. 2, Lpz. 21992; Tl. 3, die nur temporären aufgerufen. Nach dem ebd. 1980. – Remigius Bäumer: B. v. U. OESA (ca. Zweiten Weltkrieg bekannte der Niemandsge1464–1532). In: Kath. Theologen der Reformatisang (Offenbach 1957) die Erschütterung aller onszeit. Hg. ders. u. Erwin Iserloh. Bd. 2, Münster 1985, S. 27–37. – Adolar Zumkeller: Mss. v. Wer- bisherigen Gewissheiten. Zugleich fand U. ken der Autoren des Augustiner-Eremitenordens in zur lakon. Rhapsodik, die sein Spätwerk mitteleurop. Bibl.en. Würzb. 1966, 89 f. – Thomas auszeichnet. Zur Bewältigung der Krise verBeckmann u. A. Zumkeller: Gesch. des Würzburger half ihm die Astrophysik. In kühnen SprachAugustinerklosters v. der Gründung im Jahre 1262 bildern u. Paradoxien wird in den folgenden bis zur Gegenwart. Würzb. 2001, S. 749 (Register). »planetarischen« Gedichtzyklen die sinnhaf– Sebastian Lalla: Secundum viam modernam. te Verknüpfung der ird. Erscheinungs- u. Ontologischer Nominalismus bei B. A. v. U. Würzb. Gedankenwelt mit dem »Ungeheuer Unend2003. – Willigis Eckermann u. J. Klaus Kipf: Ar- lichkeit« (Tellurische und planetarische Dichtung. noldi (Textoris), B. v. U. In: VL Dt. Hum., Bd. 1, Mainz 1964; Vortrag) versucht. Die Titel sind 2008, Sp. 47–57. Willigis Eckermann Programm: Der Stern Vergeblichkeit (Mchn.

Uslar

1962), Canopus (Wiesb. 1968), Der Planet (Darmst. 1972), Galaxis (Offenbach 1975). U.s lyr. Kosmologie ist ebenso wenig bekannt geworden wie die Essayistik des »literarischen Weltbürgers« (Karl Krolow), die von Heraklit bis zu Dada reicht u. das Gewicht der Welt gegen den kosm. »Unraum« behauptet. Weitere Werke: Der Ewige Kampf. Darmst. 1918 (L.). – Das Wirkliche. Ebd. 1947 (Aufsätze). – Welt ohne Klassik. Ebd. 1960 (Ess.s). – Tellurium. Elf Ess.s. Neuwied 1966. – Himml. Heimkehr. Lahnstein 1976 (L.). – Grund u. Abgrund. Merzhausen 1979 (L.). – Zwei Freunde: Carl Zuckmayer u. F. U. Ein Briefw. (1919–1976). Zusammengestellt v. Gerald P. Martin. Mainz 1984. – Werke. ›Friedberger Ausgabe‹ in 6 Bdn. Waldkirch 1984–87. – Stefan George. Aachen. 1988 (Ess.). – Helma Sutz: Freund meines Lebens. Briefe an F. U. 1932–1982. Hg. Ursula Wissner. Norderstedt 2006. Literatur: Bibliografien in: Die Götter lesen nicht. FS zum 80. Geburtstag. Bonn 1975. – Andreas Nentwich: F. U. Bibliogr. Waldkirch 1989. – Gesamtdarstellungen: Gertrud Bäumer: Der Dichter F. U. Stgt. 1947. – Siegfried Hagen: F. U. Endlichkeit u. Unendlichkeit. Bonn 1973. – Christine R. Barker: Das dichterische Weltbild F. U.s. Merzhausen 1978. Andreas Nentwich / Red.

Uslar, Moritz von, eigentl.: Hans Walther Freiherr von Uslar-Gleichen, * 25.7.1970 Köln. – Journalist, Erzähler, Dramatiker, Essayist. U. wuchs in Berlin (West) u. im reformpädagog. Internat Birklehof (Hinterzarten) auf. Nach einem Volontariat bei der Zeitschrift »Tempo« war er 1992–2004 als Redakteur u. Autor beim »SZ-Magazin« tätig. 2006–2008 arbeitete er als Kulturredakteur für den »SPIEGEL«; inzwischen schreibt er für »DIE ZEIT«. U.s literar. Werk umfasst Kurzgeschichten, Kolumnen, Drehbücher, Theaterstücke u. Romane. 2004 erhielt er den Montblanc Literaturpreis. Nach einigen erzählerischen u. dramat. Arbeiten wurde der in Berlin lebende Autor einem größeren Publikum erstmals durch seine Tätigkeit als Interviewer der Reihe 100 Fragen an ... beim »SZ-Magazin« bekannt. In den von ihm mit bewusst schneller u. dadurch Reflexion minimierender Fragetechnik nach stets gleicher Methodik durchgeführten

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Interviews von Prominenten, 2004 in Auswahl als Buch veröffentlicht (100 Fragen an .... Köln 2004), sahen einige Beobachter eine Weiterentwicklung der Interviewform. Allgemein gilt U. als einer der bekanntesten Vertreter der Pop-Literatur. Ähnlich anderen Autoren, mit denen er häufig zusammen genannt wird (z. B. Kracht, von Stuckrad-Barre), ist seine Arbeit durch enge Wechselwirkung zwischen Journalismus u. Literatur gekennzeichnet. U. wird seit seinen ProminentenInterviews als gewandter Akteur in der Medienszene wahrgenommen u. nicht selten mit der ambivalenten Bezeichnung ›Starjournalist‹ versehen. Sein Debütroman Waldstein oder Der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005 (Köln 2006) wirkt wie eine »postmoderne Parodie auf Medienreflexionen des klassischmodernen Bildungsromans« (Wehdeking), stilistisch flott u. in atemlos-theatral. Sprache. Hanna Rudolph u. Roland Koberg erarbeiteten 2006 eine Bühnenfassung in der Box des Deutschen Theaters in Berlin. Aus einem dreimonatigen Aufenthalt in der brandenburgischen Kleinstadt Zehdenick 2009 ging das Buch Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung (Köln 2010) hervor. Zahlreiche Rezensionen bezogen sich vorwiegend auf die ungewöhnl. Entstehungssituation des Buches – großstädtischer westdt. Popliterat in der ostdt. Provinz – u. attestierten U., dass er sich mit einem ausgeprägten »Gespür für Rhythmus« (Kreye) gekonnt am Vorbild des »New Journalism« im Sinne von Tom Wolfe orientiere. Weitere Werke: Wie sehen Sie denn aus? Über Geschmack läßt sich nicht streiten. Warum eigentlich nicht? Eine Stilkritik (zus. mit Rebecca Casati). Mchn. 1999 (Kolumnen). – Freunde. Urauff. Gött. 2000 (D.). – Freunde II. Urauff. Hann. 2001 (D.). – 100 Fragen an Heiner Müller. Eine Séance (zus. mit Thomas Oberender). Urauff. Bln. 2005 (D.). – Am Trallafitti-Tresen. Das Werk v. Udo Lindenberg in seinen Texten. Hg. u. besprochen v. Benjamin v. Stuckrad-Barre u. M. v. U. Hbg. 2008. Literatur: Roland Koberg: ›Da rührt sich etwas‹. Zu M. v. U.s Roman ›Waldstein [...]‹. Eine Wegbeschreibung auf die Bühne. In: Autoren am Dt. Theater. Texte über u. von Jon Fosse u. a. Hg. ders., Bernd Stegemann u. Henrike Thomsen. Bln. 2006, S. 99–105. – Andrian Kreye: Dort passiert vor allem: nichts. In: SZ, 5.10.2010 (Rez.). – Volker

719 Wehdeking: Film, Musik u. Neue Medien in der dt. Gegenwartslit. In: Literar. Medienreflexionen. Künste u. Medien im Fokus moderner u. postmoderner Lit. Hg. Sandra Poppe u. Sascha Seiler. Bln. 2008, S. 205–222. Stephanie Düsterhöft

Uz Wirkungsgesch. v. U.s ›Freut Euch des Lebens‹. In: ebd., S. 322–327. Andrea Hahn

Uz, Johann Peter, * 3.10.1720 Ansbach, † 12.5.1796 Ansbach; Grabstätte: ebd., Usteri, Johann Martin, * 12.4.1763 Zürich, Friedhof Zu Heilig Kreuz. – Jurist; Ana† 29.7.1827 Rapperswil. – Idyllendichter kreontiker, Lyriker. u. Zeichner. U., Sohn des früh verstorbenen GoldU., Sohn eines angesehenen Zürcher Kaufmanns, bereiste nach dem Besuch öffentl. Schulen u. einem Studium am Collegium humanitatis die Schweiz sowie 1783/84 Deutschland, Belgien, Holland u. Frankreich, wobei er mit Gessner, Lavater, Claudius, Goethe u. Klopstock in Kontakt kam. Nach seiner Rückkehr trat er in die väterl. Handlung ein, die er 1803 übernahm u. 1804 aus wirtschaftl. Gründen aufgab. Bis zu seinem Tod widmete sich U., neben seiner Tätigkeit in verschiedenen öffentl. Ämtern, seinen literar. u. zeichnerischen Interessen. Er trat als Mittelalterforscher u. Herausgeber alter Handschriften, v. a. aus dem 16. Jh., als Zeichner u. Kunstsammler sowie als Idyllenu. Liederdichter in Erscheinung. Unter seinem Vorsitz konstituierte sich 1806 die schweizerische Allgemeine Künstlergesellschaft. Seine in der Tradition empfindsamer Lyrik stehenden Dichtungen, die er z. T. in Zürcher Mundart, z. T. hochdeutsch abfasste, huldigen einer einfachen, beschaul. u. bescheidenen Lebensweise im Schoß der Natur u. der Religion. Nachruhm war nur seinem 1793 für die Zürcher Künstlergesellschaft verfassten, später vertonten Gedicht Freut euch des Lebens beschieden, das nicht nur Aufnahme in den dt. Volksliedkanon gefunden hat, sondern auch ins Dänische u. Englische übersetzt u. in amerikan., dt. u. frz. Literatur zitiert worden ist. Ausgaben: Dichtungen in Versen u. Prosa v. J. M. U. Nebst einer Lebensbeschreibung des Verfassers. Hg. David Heß. 3 Bde., Bln. 1831. – Erzählungen. Lpz. 1879. Literatur: Albert Nägeli: J. M. U. Diss. Zürich 1906. – Leif Ludwig Albertsen: ›Freut Euch des Lebens‹ [...]. In: GRM 16 (1966), S. 277–283. – Calvin S. Brown: Nochmals U.s Gassenhauer. In: GRM 17 (1967), S. 327 f. – Rudolf Majut: Zur

schmieds Friedrich August Uz u. der aus einer Schwabacher Goldschmiedefamilie stammenden Elisabeth Reisenleiter († 1779), studierte nach dem Besuch des Ansbacher Gymnasium Carolinum illustre 1739–1743 Jurisprudenz in Halle. Die Fortsetzung der Studien in Leipzig brach er nach einem Semester ab u. kehrte noch im Aug. 1743 nach Ansbach zurück. Dort verbrachte U. sein weiteres von Bescheidenheit u. Mäßigung bestimmtes Leben. Seit 1748 Justizsekretär, wurde er 1763 Assessor am Landgericht Ansbach, dessen Leitung er 1790 übernahm. Berühmt ist U.s annähernd 5000 Bücher umfassende Privatbibliothek. Sie enthält neben über 900 jurid. Arbeiten v. a. Ausgaben, Texte u. Übersetzungen griech. u. lat. sowie ital., span., frz., engl. u., im gleichen Umfang, dt. Dichter, Romanciers u. Satirenschreiber, ferner, in z. T. erhebl. Größenordnung, Bücher zur Geschichte, Philosophie, Theologie, Literarhistorie, Philologie u. Epistolografie. Auffällig ist der hohe Anteil von 210 Bänden u. Sammelschriften zur Theorie u. Geschichte der »schönen Wissenschaften«, also insbes. zur Rhetorik u. Poetik einschließlich Verslehre sowie Ästhetik des Altertums u. der gesamten frühen Neuzeit. Dieses ästhetisch-theoret. u. poetolog. Interesse zeichnet U. unter den Autoren der Anakreontik aus, auch wenn er selbst eine »Ars poetica« der Zärtlichkeit zu schreiben verweigerte. Es verweist zgl. auf eine grundlegende Anregung jener zunächst in Halle konzentrierten literar. Schule: auf Alexander Gottlieb Baumgarten u. Georg Friedrich Meier. Deren philosophische Kollegs haben Gleim, Götz, Rudnick u. U. gehört u. vor allem deren Schriften zur »Kunstkritik« z. T. eifrig zur Kenntnis genommen, beispielsweise Meiers Gedancken von Schertzen (1744) u. bes. Baumgartens ersten Entwurf einer Äs-

Uz

thetik in den Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (1735). Problem u. Tendenz dieser kunstphilosophischen Arbeiten sind die Aufwertung der »cognitio sensitiva« als eigenständige Instanz u. zgl. die Grundlegung der »Sinnlichkeit« als Thema u. Kriterium der Künste im Sinne der von Baumgarten erörterten Kategorie der »ubertas aesthetica«. Hieran knüpften die Hallenser Anakreontiker auf allen Ebenen ihrer Poesie an. In wechselseitiger Bestimmung durchdringen sich demnach themat. Aspekte der erot. Dichtung u. Formzüge der Musa iocosa bezeichnenderweise in der von der histor. u. zeitgenöss. Poetik vernachlässigten lyr. Dichtkunst. Das zeigt auf anschaul. Weise bes. das Erstlingswerk Lyrische Gedichte (Bln. 1749) – ein schmales Bändchen, das U. auf Drängen Gleims u. unter krit. Anteilnahme Ramlers u. Christian Nikolaus Naumanns nach sorgfältiger Bearbeitung der Texte anonym herauskommen ließ. Programmatisch eröffnet dabei Die Lyrische Muse (1742), eine »Ode über die Ode« (an Gleim, 29.3.1746), die Sammlung u. nimmt Thema u. Tonfall der folgenden 28 Gedichte vorweg: »Denn nur von Lust erklingt mein Saitenspiel, / Und nicht von Leichenvollem Sande.« Wenn dann ab der zweiten, erheblich vermehrten Ausgabe (Lyrische und andere Gedichte. Ansbach 1755) Lobgesang des Frühlings (1742) die erste Stelle einnimmt, ist dieser Austausch keineswegs weniger programmatisch: Die Ode will eine poetische Hommage an Gleim sein, den »deutschen Anakreon« (z. B. am 3.7.1747 an Gleim). Traditionen werden darin sichtbar, aus denen U. das Selbstverständnis seiner dichterischen Existenz motiviert: aus den Anakreonteen, der bukol. Dichtung, der Kunstwelt Horaz’, der Poésie fugitive Chaulieus, Chapelles, Gressets usw. Leitend ist dabei das Interesse an dem Bild einer Kuss-, Trink-, Scherz-, Sing-, Tanz- u. Geselligkeitskultur, also einer Sinnlichkeit, die in der von den Anakreontikern selbst so genannten Gestalt der »Tändelei« u. »Kleinigkeit« ihr Formkorrelat findet. U. wurde mit dieser Poesie ungewollt in innerliterar. Auseinandersetzungen der Zeit hineingezogen (Zürcher Schule um Bodmer; Wieland in den

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Sympathien von 1754; Gottschedschule u. Johann Jakob Dusch) u. geriet zgl. in Konflikt mit der Adiaphora-Lehre des Pietismus. U.s literar. Schaffen gliedert sich in zwei Phasen: Während der Lyriker bis Mitte der 1750er Jahre zusammen mit seinen Studienkollegen Gleim u. Götz die Hallenser Anakreontik vertrat, widmete er sich in seiner zweiten Schaffensperiode stärker der Lehr- u. religiösen Dichtung, um gegen 1765 seine dichterische Produktion zu beenden. So dominiert bei ihm seit 1753 mehr u. mehr die, wie er selbst sagte, »ernsthafte« weltl. u. geistl. Dichtung (etwa das noch von Herder gerühmte u. von Schiller zum Anlass poetischen Wetteifers genommene Lehrgedicht Theodicee von 1753 oder Das Erdbeben u. Demüthigung vor Gott von 1768). Das können v. a. das fünfte u. sechste Buch der erweiterten Ausgaben illustrieren (Poetische Werke. 2 Tle., Lpz. 1768. Sämmtliche Poetische Werke. 2 Bde., ebd. 1772). 1773–1775 publizierte U. noch eine von ihm selbst maßgeblich mitgetragene Prosaübersetzung des Horaz in drei Teilen; Ende der 1770er Jahre war er »auf Landesfürstlichen Befehl« Mitarbeiter an dem Neuen Anspachischen Gesangbuch (o. O. 1781). Aus dem Bewusstsein heraus, sich als Schriftsteller »überlebt« zu haben (Brief an Gleim am 27.2.1782), beschränkte er sich in den späten Jahren weitgehend darauf, seine früheren Dichtungen zu ›verbessern‹ u. neu herauszugeben. Diese Autorbiografie muss dabei als für die Zeit typische gelten, lassen sich doch bei Hagedorn, Gellert u. Gleim ähnl. Entwicklungen nachweisen. Nachdem er lange Zeit v. a. wegen seiner anakreont. Dichtungen wahrgenommen wurde, hat die Forschung in jüngerer Zeit begonnen, auch U.s zweite Schaffensperiode u. seine Beschäftigung mit Horaz genauer in den Blick zu nehmen. Mit der bibliogr. Erfassung seines Werks sowie der Registrierung der Bestände seiner Bibliothek sind inzwischen wichtige Vorarbeiten für eine intensive Auseinandersetzung mit U.s dichterischem Wirken geleistet. Weitere Werke: Ausgabe: Sämtl. Poet. Werke. Hg. August Sauer. Stgt. 1890. Neudr. Darmst. 1964. – Einzeltitel: Die Oden Anakreons, in reimlosen Versen. Nebst einigen andern Gedichten (zus.

721 mit Johann Nikolaus Götz). Ffm./Lpz. 1746. – Sieg des Liebesgottes. Eine Nachahmung des Popischen Lockenraubes. Stralsund u. a. 1753. – Versuch über die Kunst stets fröhlich zu seyn. Lpz. 1760. – Poet. Werke [...]. Nach seinen eigenhändigen Verbesserungen hg. v. Christian Felix Weisse. Wien 1804. – Briefe: Briefe v. J. P. U. an einen Freund. aus den Jahren 1753–82. Hg. August Henneberger. Lpz. 1866. – Briefw. zwischen Gleim u. U. Hg. Carl Schüddekopf. Tüb. 1899. – Briefw. zwischen U. u. Friedrich Nicolai 1758–96 in der Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz Berlin. Manuskript. Nachl. Nicolai: Bd. 76. Literatur: Erich Petzet: J. P. U. Ansbach 1896. – Fritz Aschka: J. P. U. In: Fränk. Klassiker. Hg. Wolfgang Buhl. Nürnb. 1971, S. 360–368. – Herbert Zeman: Friedrich v. Hagedorn, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, J. P. U., Johann Nikolaus Götz. In: Dt. Dichter des 18. Jh. Hg. Benno v. Wiese. Bln. 1977, S. 135–161. – Newell E. Warde: J. P. U. and German Anacreonticism. Ffm. u. a. 1978. – C. Perels: Der Traum des Aufgeklärten. Zu J. P. U.’ ›Der Schäfer‹. In: Gedichte u. Interpretationen. Hg. Karl Richter. Bd. 2, Stgt. 1983, S. 140–149. – Theodor Verweyen: ›Halle, die Hochburg des Pietismus, die Wiege der Anakreontik‹. Über das Konfliktpotential der anakreont. Poesie als Kunst der ›sinnl. Erkenntnis‹. In: Zentren der Aufklärung 1: Halle. Aufklärung u. Pietismus. Hg. Norbert Hinske. Heidelb. 1989, S. 209–238. – Ders. u. Gunther Witting: Zur Rezeption Baumgartens bei U., Gleim u. Rudnick. In: ZfdPh 113 (1994), S. 496–514. – Dorothee Kimmich: Inszenierungen des geglückten Tags. Zur impliziten Poetik bei J. P. U. u. Johann Wilhelm Gleim. In: Dichtungstheorien der Frühaufklärung. Hg. T. Verweyen u. HansJoachim Kertscher. Tüb. 1995, S. 158–175. – Ernst Rohmer u. T. Verweyen (Hg.): Dichter u. Bürger in der Provinz. J. P. U. u. die Aufklärung in Ansbach. Tüb. 1998. – Isa Leonhard: Bibliogr. zum Werk des J. P. U. In: ebd., S. 267–276. – E. Rohmer: Die Bibl. als geselliger Ort. J. P. U. u. sein Freundeskreis in Ansbach. In: Geselligkeit u. Bibl. Lesekultur im 18. Jh. Hg. Wolfgang Adam u. Markus Fauser. Gött. 2005, S. 311–331. – Wilhelm Kühlmann: Das Erdbeben von Lissabon als literar. Ereignis. J. P. U.’ Gedicht ›Das Erdbeben‹ im historisch-epochalen Kontext. In. Kühlmann (2006), S. 608–653. Theodor Verweyen / Gunther Witting / Kristin Eichhorn

Uzarski

Uzarski, Adolf, auch: Lambert Broich, * 14.4.1885 Ruhrort (heute zu Duisburg), † 14.7.1970 Düsseldorf; Grabstätte: ebd., Nordfriedhof. – Satiriker, Kinderbuchautor, Grafiker, Kunstmaler u. Buchillustrator. Nach dem Architekturexamen meldete sich U. 1906 an der Düsseldorfer Kunstgewerbeschule bei Fritz Helmuth Ehmcke an; dort wurde er Mitgl. der Künstlervereinigung Ring. 1909 erhielt er erste werbegrafische Aufträge vom Düsseldorfer Kaufhaus Tietz; seit 1913 entstanden buchkünstlerische Arbeiten. Die Wandlung von der Kriegsbegeisterung (bis 1916) zum Pazifismus belegt die Lithografiefolge Totentanz (1917). 1918 wurde U. Gründungsmitgl. des Immermannbundes, 1919 Gründungs- u. Vorstandsmitgl. des expressionistischen Jungen Rheinlands. Er zählte zum Kreis um die Düsseldorfer Bäckersfrau u. spätere Kunsthändlerin Johanna Ey. Der streitbare U. führte 1925 eine Spaltung der Gruppe herbei, beteiligte sich aber weiterhin führend an Nachfolgeorganisationen wie der Rheingruppe u. der Rheinischen Sezession. Nach 1933 schrieb er unter dem Pseud. Lambert Broich für die »Düsseldorfer Nachrichten«. 1935 standen seine Veröffentlichungen auf der Liste des »schädlichen und unerwünschten Schrifttums«. U.s Aufnahmeanträge in die Reichsschrifttumskammer u. Reichskammer der bildenden Künste wurden abgelehnt; seit 1939 erhielt er als Schriftsteller u. 1940 als bildender Künstler Arbeitsverbot. Seine bissig-krit. Reaktionen auf die restaurative Nachkriegszeit konnten nicht verhindern, dass er bei seinem Tod fast völlig vergessen war. U. verfasste – neben Kinderbüchern – zehn Romane u. einen Erzählband, die er alle mit eigenen Illustrationen versah. Die Verbindung von zeitkrit. Anspruch mit ausschweifendem Humor machte ihn in der Literaturszene der 1920er Jahre zu einer Ausnahmeerscheinung. Sein erster Roman, Die spanische Reise. Aus den Papieren des weiland Gemeinderatsmitglieds Aribert Müffer (Düsseld. 1919), nutzt die satirisch-burleske Gestaltungsweise des span. Schelmenromans; es entsteht ein »Spießerspiegel«, der das Unverständnis ei-

Uzarski

nes kleinbürgerl. dt. Touristen für fremdländ. Kultur u. Bräuche bloßstellt. 1921 folgte Möppi (Mchn.), Memoiren aus der Perspektive eines Hundes, sein wohl erfolgreichstes Werk. In Tun Kwang-Pipi. Erlebnisse und Abenteuer der Expedition nach Europa nebst einem Bericht des Herrn Gustav Hetzer im Anhang (Potsdam 1924) geißelt U. den dt. Militarismus u. aufkommenden Nationalismus, eine Tendenz, die er nach 1945 wieder aufnahm (z.B. 1953–1957 in der satir. Wochenzeitung »Der neue Michel« [seit 1954 »Der deutsche Michel«]). Weitere Werke: Das Chamäleon. Ein Heldenbuch. Mchn. 1922. – Die Reise nach Dtschld. Potsdam 1924. – Herr Knobloch. Eines großen Mannes

722 Glück u. Ende. Mchn. 1926. – Kurukallawalla. Eine sensationelle Geschichte. Ebd. 1927. – Der Fall Uzarski. Eine grausige Kriminalgeschichte. Ebd. 1928. – Das Hotel zum Paradies. Ebd. 1929. – Beinahe Weltmeister. Ein heiterer Boxroman. Ebd. 1930. – Panoptikum. Narren, Gauner, Biedermänner. Bln. 1955. – A. U. 1885–1970. Gemälde, Grafik. Düsseld. 1985. Literatur: Marlene Lauter: Bilder zum Lesen. Das graph. u. maler. Werk v. A. U. Köln/Wien 1990, S. 261–292. – Wilfried Kugel: A. U. (1885–1970). In: Lit. v. nebenan. 1900–1945. 60 Portraits v. Autoren aus dem Gebiet des heutigen NordrheinWestfalen. Hg. Bernd Kortländer. Bielef. 1995, S. 361–365. Michael Matzigkeit / Red.

V Vacano, Emil (Mario), eigentl.: E. Alois Vadian, Vadianus, eigentl.: Joachim von Ferdinand V., auch: Speranza, * 16.11. Watt, * 29.11.1484 St. Gallen, † 6.4.1551 1840 Schönberg/Mähren, † 9.6.1892 St. Gallen. – Arzt, Reformator, neulateiKarlsruhe. – Erzähler, Journalist. nischer Dichter, Geschichtsschreiber u. Geograf. V., Sohn eines Catastral-Oberinspectors, verlebte seine Jugend abwechselnd in Galizien u. St. Pölten. Nach einer kurzen Ausbildungszeit in einem Kapuzinerkloster versuchte er sich als Zirkusreiter u. Kleindarsteller (Sacher-Masoch hat diese Phase von V.s Leben in Miß Ella beschrieben. In: Falscher Hermelin. Neue Folge. Bern 1879). Schon bald trat V. als Autor hervor, zuerst mit den 1861 in Berlin erschienenen Mysterien des Welt- und Bühnenlebens (2 Bde.). Das Wanderleben behielt er bei; Brünn, Wien, immer wieder St. Pölten u. Karlsruhe sind die wichtigsten Stationen. Seine farbigen Lebensbilder aus der Welt des Theaters, seine flüssigen, oft autobiografisch gefärbten Prosaskizzen, seine flimmernden Genrebilder u. seine zuweilen beschlagnahmten Sensationsromane fanden viele Nachahmer. Auch als Mitarbeiter diverser Zeitschriften (u. a. »Über Land und Meer«) verfasste er zumeist Leichte Waare, so der Titel von 1887 erschienenen Theaterplaudereien (Lpz.).

Weitere Werke: Die Töchter der Schminke. Abentheuer-Roman. Bd. 1: Mondschein-Cavaliere. Bln. 1863. – Dornen (zus. mit Emerich Graf Stadion). 2 Bde., Pest 1869. – Schriften. 10 Bde., Bln. 1894. Literatur: Ludwig Fränkel: E. V. In: ADB. – Goedeke Forts., S. 413–420 (Werkverz.). Michael Farin / Red.

V. zählt zu den bedeutendsten Humanisten der Schweiz u. Schülern des Conrad Celtis mit einem umfangreichen Œuvre an nlat. Poesie u. philolog. Studien. Als ein erstaunlich vielseitiger Gelehrter hat sich der langjährige Bürgermeister, Reformator u. Geschichtsschreiber um seine Heimatstadt St. Gallen verdient gemacht. In seiner Auseinandersetzung mit dem geografischen Wissen der Antike u. durch seinen krit. Umgang mit histor. Quellen hat V. wichtige Impulse für nachfolgende wissenschaftl. Arbeiten gegeben. Er vermachte seine umfangreiche Bibliothek mit ca. 1250 Titeln u. seine ca. 2000 Stücke umfassende Briefsammlung testamentarisch der Stadt St. Gallen, die den Grundstock der heutigen Kantonsbibliothek Vadiana bilden. Zu den Schwerpunkten der Sammlung zählen allen voran theolog. Werke, gefolgt von Schriften zu Rhetorik u. Poetik, zur Historiografie sowie zu Philosophie u. Medizin. In St. Gallen als ältester Sohn einer Kaufmannsfamilie, die ihren Wohlstand dem Leinwandhandel verdankte, geboren, studierte u. lehrte V. nach dem Besuch der städt. Lateinschule von 1501 bis 1518 an der Universität Wien. 1504 erlangte er den Grad des Baccalaureus, 1508 den des Magister artium. Seitdem hielt er eigene Vorlesungen über antike Autoren wie Horaz, Sallust, Cicero, Plinius den Älteren u. den Jüngeren. 1516 wurde er Professor für Rhetorik; im Wintersemester 1516/17 war er Rektor. 1512–1517 hatte er ein Medizinstudium durchlaufen,

Vadian

das er mit der Promotion zum Doctor medicinae beschloss. Sein Aufenthalt in Wien spiegelt einen jungen, schöpferischen Charakter wider, der sich diversen humanistischen Studien widmete. In dieser Zeit entstanden etwa 40 Publikationen, die auf V. zurückzuführen sind, von denen De poetica et carminis ratione (Wien 1518), gerichtet an seinen Bruder Melchior, u. die Scholien zu den Libri de situ orbis tres (Wien 1518) des Pomponius Mela, eines antiken Geografen, die bekanntesten u. erfolgreichsten waren. In der Poetica, die aus einer 1513 gehaltenen Vorlesung hervorging, bespricht V. antike u. zeitgenöss. Dichter; er erläutert die Notwendigkeit, antike Schriften zu lesen u. geht auf ihre Überlieferung ein. Die Libri de situ orbis tres, eine Beschreibung der antiken Welt in drei Büchern, edierte V. u. fügte ihnen ausführl. Kommentare (Scholien) hinzu, in denen er das antike Weltbild mit seinem zeitgenöss. Kenntnisstand abglich. Damit hatte V. sich als ein kompetenter Geograf eingeführt, der sich in der erweiterten Fassung der Libri von 1522 sowie in späteren Werken immer wieder den neuen geografischen Erkenntnissen seiner Zeit mit großer Aufmerksamkeit widmete. In Wien dichtete V. eine größere Anzahl an nlat. Dedikationen (Widmungen), panegyr. Gedichten (Fürsten- u. Städtelobe), Elegien (Klagegedichte) sowie ein dramat. Werk, den Gallus pugnans (Kampfhahn). In einer nicht gehaltenen Begrüßungsrede für Kaiser Maximilian I. (publiziert 1516) gibt V. sich als ein heimatverbundener Eidgenosse zu erkennen, der die Sprache u. den Freiheitswillen, insbes. den der Schweizer, als herausragende Merkmale einer dt. Mentalität preist. In dem nur fragmentarisch überlieferten Lobgedicht Patria illustrata wiederholt er das Lob auf seine Heimat. Trotz seiner Anerkennung u. Erfolge – er wurde am 12.3.1514 durch Maximilian I. in Linz zum Poeta laureatus (gekrönter Dichter) erhoben – schenkte V. nach seinem Fortgang aus Wien (1518) der lat. Poesie nur noch wenig Aufmerksamkeit. Sein philolog. Interesse blieb hingegen bestehen. Zwischen 1510 u. 1517 gab er Werke antiker, mittelalterl. u. zeitgenöss. Autoren heraus, u. a. von Cicero, Ovid, Sallust, Plinus

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dem Jüngeren, Ulrich von Hutten u. Conrad Celtis; in der Stiftsbibliothek St. Gallen fand er den Hortulus (Vom Gartenbau) des Walahfrid Strabo, den er in Wien edierte. Als während der Reformation das Kloster St. Gallen zeitweise aufgehoben wurde (1529–1532), nutzte V. die Gelegenheit, die dort aufbewahrten Handschriftenbestände ausgiebig zu studieren u. befreundeten Sammlern u. Druckern für die Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen. Dabei ging eine unbekannte Anzahl von Handschriften in seinen Besitz über oder ganz verloren. Bis zu seinem endgültigen Weggang aus Wien unternahm V. vier größere Bildungsreisen: die erste (1506/07) führte ihn von Villach nach Triest, Venedig u. Padua; die zweite (1513) nach Ofen (Buda), wo er die Bibliotheca Corvina in Augenschein nahm; die dritte (1518) nach Zürich u. Luzern; die vierte (1518/19) nach Leipzig, Posen, Breslau, Krakau u. Olmütz. 1518 kehrte V. nach St. Gallen zurück, wurde Rat u. Arzt der Stadt; aufgrund einer im Folgejahr ausbrechenden Pestilenz übersetzte er ein Pestbuch aus dem Lateinischen ins Deutsche (Ein kurtz und trüwlich underricht wider die [...] pestilentz). Am 18.8.1519 heiratete V. Martha, die Schwester seines ehemaligen Schülers u. späteren Täuferführers Konrad Grebel, der aus einer Züricher Ratsherrenfamilie stammte. Nach dem Tod seines Vaters Lienhard – er war Ratsherr im Kleinen Rat von St. Gallen gewesen – folgte V. 1521 in dessen Amt u. wurde 1526 zum Bürgermeister der Stadt gewählt. In dieser Funktion trieb er die Reformbewegungen in St. Gallen voran u. sorgte für die Durchsetzung des evang. Bekenntnisses in der Stadt zu Ostern 1527. Damit hatte die zweite eidgenöss. Stadt (nach Zürich) diesen Schritt vollzogen. Im Okt. 1523 u. im Jan. 1528 wurden V. die (Mit-)Präsidentschaften für die Zweite Züricher Disputation u. das Berner Reformationsgespräch angetragen. Beide Treffen festigten den Zwiespalt der religiösen Gruppen allerdings, anstatt Wege aus der Glaubensspaltung zu eröffnen. V. trug maßgeblich dazu bei, dass die Benediktinerabtei St. Gallen aufgehoben wurde, indem er nach Rück-

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sprache mit Ulrich Zwingli u. der Stadt Zürich durch den »Bildersturm« auf die Klosterkirche am 23.2.1529 die gewaltsame Besetzung der Klosterbesitzungen einleitete, allerdings gleichfalls an deren Restitution 1532 (infolge des Zweiten Kappelerkriegs 1531) beteiligt war. Mit seiner Schrift zum apostol. Glaubensbekenntnis (Brevis indicatura Symbolorum. 1522) wird V.s persönl. Auseinandersetzung mit den reformatorischen Strömungen seiner Zeit (insbes. mit Martin Luther u. Philipp Melanchthon in Wittenberg sowie mit Ulrich Zwingli in Zürich) erstmals fassbar. Am 10.1.1523 begann er in seinen Vorträgen über die Apostelgeschichte, die er sorgfältig in lat. Sprache vorbereitet hatte, seine Bedenken zu der gegenwärtigen Praxis der röm. Kirche einem größeren gelehrten Kreis in St. Gallen vorzustellen. Diese Vorträge u. jene des St. Galler Theologen Johannes Kessler über die »Lesinen« in den Zunftstuben der Stadt bildeten den eigentl. Ausgangspunkt der Reformation in St. Gallen. Aus den zu V.s Lebzeiten nicht publizierten Lektionen über die Apostelgeschichte gingen 1534 die Epitome trium terrae habitatae partium hervor, geografische Erläuterungen zu den Reisen der Apostel. Weitere theolog. Schriften folgten, v. a. zum Abendmahlsstreit zwischen den reformatorischen Lagern, den V. in seinen Aphorismorum libri sex de consideratione eucharistiae (Zürich 1536) für überwindbar hielt. In mehreren Schriften wandte er sich jedoch gegen das spiritualistische Abendmahlsverständnis des schles. Reformators Caspar von Schwenckfeld (1489–1561), mit dem er einen mehrjährigen schriftl. Disput führte (z. B. Antilogia. Zürich 1540. Pro veritate carnis triumphantis Christi. Zürich 1541). Aus V.s theolog. Schriften spricht eine enge Verbindung humanistischer Bildung mit reformatorischem Verantwortungsbewusstsein. Wie viele seiner Gesinnungsgenossen wandte er sich intensiv dem bibl. Quellenstudium zu. Er forderte eine bessere Ausbildung der Geistlichen (v. a. in Griechisch u. Lateinisch), volkssprachige Bibelübersetzungen u. eine auf die Hl. Schrift sich berufende Unterweisung im Evangelium. Was dort nicht stehe, könne für keinen Christen ver-

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pflichtend sein. Deswegen lehnte er u. a. den Zölibat für Geistliche ebenso ab wie das Verbot, das Blut Christi während des hl. Abendmahls der Gemeinde zu gewähren (Laienkelch). Den Ablasshandel u. die Heiligenverehrung wies er mit dem Argument zurück, dass der Mensch allein durch Gottes Gnade zum Glauben u. zu guten Werken befähigt sei. Infolgedessen kommen den Menschen keine selbstständigen Verdienste beim Tun guter Werke zu u. sie besitzen deshalb keinen freien Willen. Von den (Wieder-)Täufern u. »Sakramentsverächtern« seiner Zeit distanzierte V. sich: Für ihn ist der Glaube die Voraussetzung für den Empfang der Sakramente u. insbes. die Taufe unzweifelhaft ein die göttl. Gnade vermittelndes Sakrament. Die acht histor. Schriften V.s fanden bis in die 1870er Jahre, in denen Ernst Götzinger die ersten Editionen veranstaltete, kaum Resonanz (fünf Werke in dt., drei in lat. Sprache). Seitdem stoßen sie jedoch auf größeres Interesse, das gelegentlich von patriotischen Wertungen überformt ist. Doch es fehlt bis auf wenige Ausnahmen noch an quellenkrit. u. vergleichenden Studien (Gamper 2006, S. 13). V. gilt als pragmat. Historiograf im Vergleich zur myth. Darstellungsform seines Zeitgenossen u. später als »Vater der Schweizergeschichte« gefeierten Aegidius Tschudi. Seine Schriften sind geprägt von kurzen subjektiven u. teilweise bissigen Kommentaren; z. T. gerichtet an ein breites Publikum, wirken sie belehrend, moralisierend u. ironisch im Sinne der humanistisch geprägten Auffassung von der Historia als Lehrmeisterin des Lebens. Daher befinden sich auch in den poetischen, geografischen u. theolog. Schriften V.s histor. Exkurse in Vorbildfunktion. Die Geschichte der Schweiz, ganz besonders die von St. Gallen, u. die (idealisierten) Anfänge des Christentums bilden die Schwerpunkte in V.s histor. Schaffen. Es diente ihm dazu, sich mit der Genese seiner unmittelbaren Gegenwart als Bürgermeister u. Reformator auseinanderzusetzen, um aus der Geschichte auch eine Rechtfertigung für sein persönl. Handeln abzuleiten. Das wird besonders deutlich in seiner Größeren u. seiner Kleineren Chronik der Äbte (1529/32 bzw. 1545/

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46) zur Klostergeschichte St. Gallens. In diesem Zusammenhang entstand ein 1529–1533 geführtes Diarium, das als Materialsammlung für den Abschluss der Klostergeschichte gedacht war. Als Reformator lag V. daran, die zerstrittene christl. Kirche wieder zusammen u. zu ihren Wurzeln zurückzuführen. Seine kirchengeschichtl. Schriften präsentieren denn auch jene »urchristlichen« Vorbilder, die u. a. den Weg für eine Reformierung des Kloster- u. Konzilswesen weisen sollten (z. B. Vom Mönchs- und Nonnenstand und seiner Reformation. 1548). Darüber hinaus sind von V. eine fragmentar. Geschichte der frühen röm. Kaiser u. der fränk. Könige überliefert (1545). Letztere wurde wie auch Abschnitte aus der Kleineren Chronik der Äbte in den chronikal. Schriften des Stammheimer Pfarrers Johannes Stumpf verarbeitet. Ausgaben: Alamannicarum rerum scriptores. Hg. Melchior Goldast. Ffm. 1606. – J. v. W. (V.): Dt. Histor. Schr.en. Hg. Ernst Götzinger. 3 Bde., St. Gallen 1871–79. – Die Vadian. Briefslg. der Stadtbibl. St. Gallen. Hg. Emil Arbenz u. Hermann Wartmann. 7 Bde., St. Gallen 1890–1913. – Judas Nazarei: Vom alten u. neuen Gott, Glauben u. Lehre (1521). Hg. Eduard Kück. Halle 1896. – J. V.: Zwei Schr.en zur Heimatkunde. Ueber die Stadt St. Gallen. Ueber den obern Bodensee. Hg. Wilhelm Ehrenzeller. St. Gallen 1943. – Walahfrid Strabo: Hortulus. Vom Gartenbau, erstmals veröffentlicht v. J. v. W. Hg. Werner Näf u. Mathäus Gabathuler. St. Gallen 1942. 21957. – Der ›Gallus pugnans‹ des J. v. W. Hg. Bruno Zimmel. Diss. Wien 1947. – Wiener Renaissance. Hg. Otto Rommel. Wien/Zürich 1947 (S. 288–306: Auszüge aus der ›Poetica‹, S. 316–320: Brief an Kardinal Matthaeus Lang). – Die Faustusekloge u. die Wappenelegie des J. v. W. Hg. Herwig Biebl. Diss. Wien 1948. – Friedrich Steinbock: Das lyr. Werk des J. v. W. Diss. Wien 1950. – J. V.s Lat. Reden. Hg. Mathäus Gabathuler. St. Gallen 1953. – Brevis Indicatura Symbolorum. Hg. Conradin Bonorand. St. Gallen 1954. – Elisabeth Brandstätter: Arbogast Strub: Biogr. u. literaturhistor. Würdigung, mit dem ›Gedächtnisbüchlein‹. Hg. Hans Trümpy. St. Gallen 1955. – Conradin Bonorand: V.s Weg vom Humanismus zur Reformation u. seine Vorträge über die Apostelgesch. (1523). St. Gallen 1962 (S. 141–172: Textauszüge). – Ernst G. Rüsch: Ein unbekanntes pädagog. Werks V.s. In: Zwingliana 12 (1965), S. 184–190 (Dedikationsepistel v. 1511). – Wilhelm Theopold: Doktor u. Poet dazu. Dichterärzte aus

726 sechs Jahrhunderten. Mainz 1968 (S. 43–48: ausgew. Gedichte). – Guido Kisch: Gestalten u. Probleme aus Humanismus u. Jurisprudenz. Bln. 1969 (S. 179–181: Epistola dedicatoria ad Laurentii Vallae). – Bibliotheca Vadiani. Die Bibl. des Humanisten J. v. W. nach dem Kat. des Josua Kessler v. 1533. Hg. Verena Schenker-Frei. St. Gallen 1973. – J. V.: De Poetica (1518). Hg. Peter Schäffer. 3 Bde., Mchn. 1973–77. – SpätMA – Humanismus – Reformation. Texte u. Zeugnisse. Hg. Hedwig Heger. Bd. 2, Mchn. 1978 (S. 88 f.: ›Ad poetices Tyrones elegia‹; S. 104–110: Auszug aus ›De poetica‹). – Die Dedikationsepisteln von u. an V. Hg. Conradin Bonorand u. Heinz Haffter. St. Gallen 1983. – E. G. Rüsch: V. 1484–1984. Drei Beiträge. St. Gallen 1985 (Texte v. 1526, 1531, 1537). – V.: Vom Mönchu. Nonnenstand u. seiner Reformation (sog. Berner Codex), 1548. Hg. E. G. Rüsch. St. Gallen 1988. – Über die Stadt St. Gallen. Hg. ders. St. Gallen 1996. – Über Gesang u. Musik im Gottesdienst. Über Wallfahrten. Hg. ders. St. Gallen 1998. – J. v. W.: Die Grössere Chronik der Äbte. Abtei u. Stadt St. Gallen im Hoch- u. SpätMA (1199–1491) aus reformator. Sicht. Bearb. v. Bernhard Stettler. 2 Bde., Zürich 2010. Literatur: Bibliografien: Eine Gesamtausgabe fehlt; ein Verzeichnis der gedruckten u. ungedruckten Schriften bis 1518 bei Werner Näf: Vadian. Analekten. St. Gallen 1945, S. 44–60; weitere Schriften- u. Literaturverzeichnisse in Auswahl: Gustav Scherer: Verz. der Manuscripte u. Incunabeln der Vadian. Bibl. in St. Gallen. St. Gallen 1864. Nachdr. 1976. – VD 16. – Erich Wenneker: J. V. In: Bautz. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, 2006, S. 2197–2204. – Rudolf Gamper: V.s histor. Schr.en. – Eine Übersicht. In: Gamper 2006 (s. Lit.), S. 13–20. – Kosch. – Gertraud Gamper (Hg.): Kat. der Inkunabeln in der Kantonsbibl. St. Gallen. Vadian. Slg. der Ortsbürgergemeinde u. Eigenbestand. Zürich 2010. – Weitere Titel: Gleichermaßen für Ausgaben u. Literatur unentbehrlich: VadianStudien. Untersuchungen u. Texte. St. Gallen 1945 ff. – Johannes Kesslers Sabbata mit kleineren Schr.en u. Briefen. Hg. Emil Egli u. Rudolf Schoch. St. Gallen 1902 (S. 601–609: ›Joachimi Vadiana vita‹, erste Biogr. V.s.). – Werner Näf: V. u. seine Stadt St. Gallen. 2 Bde., St. Gallen 1944 u. 1957. Nachdr. ebd. 1984. – Dora F. Rittmeyer: V.-Bildnisse. Versuch einer vergleichenden Übersicht v. St. Gallen aus gesehen. St. Gallen 1948. – Heinz Haffter: Humanistische Gelegenheitspoesie um den Handschriftenentdecker u. Editor V. In: Schweizer Beiträge zur Allg. Gesch. 18/19 (1960/ 61), S. 208–218. – Bernhard Hertenstein: J. v. W. (V.), Bartholomäus Schobinger, Melchior Goldast.

Vaihinger

727 Die Beschäftigung mit dem Althochdeutsch v. St. Gallen in Humanismus u. Frühbarock. Bln./New York 1975, S. 19–87 (S. 27: eine Aufzählung noch ungedruckter histor. Schr.en in dt. u. lat. Sprache). – Johannes Kessler: Die Rede der Klosterbibl. zu St. Gallen an den Herrn Bürgermeister J. v. W. MDXXXI. Hg. Ernst G. Rüsch. St. Gallen 1984. – V. u. St. Gallen. Kat. zur Ausstellung zum 500. Geburtstag im Waaghaus St. Gallen. Redaktion Peter Wegelin. St. Gallen 1984. – Conradin Bonorand: V. u. Graubünden. Aspekte der Personen- u. Kommunikationsgesch. im Zeitalter des Humanismus u. der Reformation (im Anhang: Reiseberichte, Briefe, Diarien). Chur/Bottmingen 1991. – Ders.: J. V. In: Füssel, Dt. Dichter, S. 345–358. – Renate Frohne: Städt. Chronistik zur Zeit der Reformation. In: St. Gallen. Gesch. einer literar. Kultur. Hg. Werner Wunderlich. Bd. 1, St. Gallen 1999, S. 299–328. – Rudolf Gamper: V.s Arbeit an der Beschreibung des ›Oberbodensees‹. In: Schr.en des Vereins für Gesch. des Bodensees u. seiner Umgebung. Friedrichshafen 1999, S. 99–156. – Gerhard Alicke: V.s Pomponius Mela. In: Daphnis 29 (2000), S. 379–412. – R. Gamper: ›Ain thurer u. werder schatz von buchern‹. 450 Jahre Vadianische Bibl. in St. Gallen. In: Librarium. Ztschr. der Schweizer. Bibliophilen-Gesellsch. 44 (2001), S. 2–15. – Gerhard Alicke: Bibliophiles aus V.s Briefw. Studie zu Editionen des Humanismus im deutschsprachigen Raum. In: Biblos 51 (2002), S. 5–40. – Albert Schirrmeister: Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jh. Köln u. a. 2003. – R. Frohne: Denkstrukturen u. Arbeitstechniken des St. Galler Humanisten J. v. W. [...] Etymologien u. Namensklärungen in V.s Scholien zu Pomponius Mela[s] ›De chorographia‹, Basel 1522. Trogen 2004. – Rainer Haas: Exportgut: Evangelium. Reformatorische Lit. aus Dtschld. [u. Nachbarländern] in engl. Ketzerprozessen u. Listen verbotener Bücher 1526–1546. Nordhausen 2004, S. 186. – R. Gamper (Hg.): V. als Geschichtsschreiber. St. Gallen 2006. Mario Müller

Vaerst, (Friedrich Christian) Eugen von, auch: Chevalier de Lelly, * 10.4.1792 Wesel, † 16.9.1855 Herrendorf bei Soldin. – Verfasser von Werken zur Lebenskunst, von Reiseberichten u. Gedichten. Als Sohn eines Offiziers wurde V., der seine Schulzeit teilweise bei Jean Paul in Bayreuth verbrachte, ebenfalls Offizier. 1818 quittierte er den Dienst. Danach in Berlin, verkehrte er mit E. T. A. Hoffmann u. Ludwig Devrient.

1825 übernahm er die »Breslauer Zeitung« u. bereiste Westeuropa als Auslandskorrespondent. Cavalier-Perspective. Handbuch für angehende Verschwender (Lpz. 1836. Neuausg. Mchn. 1911) ist das Selbstporträt eines dt. Lebemannes in Paris. 1840 wurde V. Direktor des Breslauer Theaters; 1847 zog er sich auf Gut Herrendorf zurück. Sein Hauptwerk ist die Gastrosophie oder Lehre von den Freuden der Tafel (2 Bde., Lpz. 1851. Neuausg. Mchn. 1975). Weitere Werke: Hundert Sonette (zus. mit zwei Freunden). Breslau 1825. – Polit. Neujahrsgeschenk. Ebd. 1831. – Die Pyrenäen. 2 Bde., ebd. 1847. Literatur: Max Hippe: F. C. E. Frhr. v. V. In: ADB. – Felix Poppenberg: Kavalierperspektive. In: Ders.: Menschlichkeiten. Bln. 1919, S. 92–99. – Henk J. Koning: F. C. E. Baron v. V. (1792–1855). Weltmann, Literat, Zeitungsredakteur u. Theaterdirektor in Breslau. In: Schlesien 38 (1993), 1, S. 34–42 (Tl. 1); 2, S. 74–83 (Tl. 2). Wilfried Ihrig / Red.

Väterbuch ! Vitaspatrum Vaihinger, Hans, * 25.9.1852 Nehren bei Tübingen, † 17.12.1933 Halle. – Philosoph. V. stammte aus einem schwäbisch-pietistischen Pfarrhaus. Er studierte Theologie u. Philosophie am Tübinger Stift, in Leipzig u. Berlin u. habilitierte sich 1877 in Straßburg. 1884 wurde er a. o. Prof., 1894 Ordinarius in Halle. Wegen eines Augenleidens ließ er sich 1906 emeritieren. Bekannt wurde V. durch die Gründung der »Kant-Studien« 1897 u. der Kant-Gesellschaft 1905 sowie der Neubegründung der »Annalen der Philosophie« 1919. V.s Name ist mit der Lehre des philosophischen »Fiktionalismus« verbunden, die er selbst als »idealistischen Positivismus« bezeichnete. In seinem Hauptwerk, der Philosophie des Als Ob (Bln. 1911. Neudr. der 9./10. Aufl. Aalen 1986), wird die Fiktion zum erkenntnistheoret. u. wissenschaftl. Grundbegriff. »Fiktionen« sind Hilfskonstruktionen, um bestimmte theoret. (wissenschaftliche) oder prakt. (ethische) Ziele zu erreichen; sie sind »inadäquate, subjektive, bildliche Vor-

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stellungsweisen, deren Zusammentreffen mit Halle 1983. – Willi Hirdt: Luigi Pirandello u. H. V. der Wirklichkeit von vornherein ausge- In: Italia viva. FS Hans Ludwig Scheel. Hg. ders. schlossen ist« (Die Philosophie des Als Ob, Tüb. 1983, S. 187–199. – Klaus Ceynowa: Zwischen Pragmatismus u. Fiktionalismus: H. V.s ›PhilosoS. 606). phie des Als Ob‹. Würzb. 1993. – Werner Raupp: H. Dem fiktionalistischen Ansatz liegt die V. In: Bautz. – Andrea Wels: Die Fiktion des Betiefe Skepsis V.s gegenüber einem zum greifens u. das Begreifen der Fiktion. Dimensionen Selbstzweck gewordenen rationalen Denken u. Defizite der Theorie der Fiktionen in H. V.s zugrunde. V. war vom Irrationalen in Natur Philosophie des Als Ob. Ffm. u. a. 1997. – Regina u. Geschichte fasziniert, was er selbst auf die Meyer: H. V.: 150. Geburtstag. In: Mitteldt. Jb. für Einflüsse Friedrich Albert Langes u. Scho- Kultur u. Gesch. 9 (2002), S. 234–236. – Philipp penhauers zurückführte (Selbstdarstellung, Burkard: Dürrenmatts ›Stoffe‹. Zur literar. Transs. u., S. 5). In der neuzeitl. Verselbständigung formation der Erkenntnistheorien Kants u. V.s im Spätwerk. Tüb. u. a. 2004. des rationalen Denkens sah V. das »Gesetz Thomas Zwenger / Red. von der Überwucherung des Mittels über den Zweck« am Werk, denn in Wirklichkeit komme dem Denken u. Erkennen bloß die Valangin, Aline, eigentl.: A. Rosenbaumdienende Funktion eines Mittels zur Errei- Ducommun, * 9.2.1889 Vevey/Kt. Waadt, chung des Lebenszwecks zu. Als solches eig- † 7.8.1986 Ascona. – Künstlerin, Musikenet es sich aber nicht, ein Gegebenes in rin, Erzählerin, Lyrikerin. theoret. Erkenntnis zu erfassen. Nicht die Wahrheit macht den Wert der wissenschaftl. Die Enkelin des Friedensnobelpreisträgers Erkenntnis aus, sondern das prakt. Ziel, dem Elie Ducommun wuchs in Vevey u. Bern auf sie dient. Dafür ist es nur wichtig, die Er- u. begann 1904 in Lausanne eine Ausbildung kenntnis so zu betrachten, als ob sie wahr als Pianistin, die sie jedoch einer Handverletzung wegen vorzeitig beenden musste. wäre. Nach einem Zwischenspiel als Klavierlehrerin Diese Metaphysik, die teilweise an Nietzu. Übersetzerin im Elsass zog V. 1915 nach sches Vorstellungen von den Verfälschungen Zürich, wo sie zuerst Analysandin, dann der Wirklichkeit erinnert, verbindet sich bei Schülerin C. G. Jungs war u. schließlich selbst V. mit der Erkenntnistheorie des Positivisals Psychoanalytikerin arbeitete. 1917–1936 mus u. Historismus des ausgehenden 19. Jh. war sie mit dem berühmten Strafverteidiger Er hat damit sowohl einer einseitig spekulaWladimir Rosenbaum verheiratet. Ihr Domitiven Metaphysik als auch einem naiven zil im »Baumwollhof« beim Bahnhof StadelRealismus entgegengewirkt. Dies verband hofen wurde bald zu einem literar. Treffihn mit Kant, um dessen Philosophie er sich punkt, wo Autoren wie Joyce u. Canetti verdurch seinen zweibändigen Commentar zu kehrten. In der Zeit des Faschismus gewährte Kants Kritik der reinen Vernunft (Stgt. 1881. das Ehepaar Rosenbaum in Zürich ebenso wie 1892) große Verdienste erworben hat. in der Sommervilla »La Barca« in ComoloWeitere Werke: Hartmann, Dühring u. Lange. gno/Tessin verfolgten Emigranten (u. a. TuIserlohn 1876. – Die Philosophie der Gegenwart in cholsky, Silone, Marchwitza) Zuflucht. LiteSelbstdarstellungen. Bd. 3, Lpz. 1923 (Autobiogr.). rarisch dargestellt ist dies in Rudolf Jakob Literatur: Bernhard Fließ: Einf. in die Philo- Humms Roman Carolin (Zürich 1944), wo V. sophie des Als-Ob. Lpz. 1922. – Paul Spickermann: als Gania auftritt. Das V.sche Als-Ob. In: Bausteine zu einer PhilosoV. selbst debütierte 1936, u. zwar in frz. phie des Als-Ob. Bd. 2, Mchn. 1922. – Aloys Wenzl: Sprache, mit den bei der Pariser Edition SaDas Verhältnis der Einsteinschen Relativitätstheogesse erschienenen Dictées: nach musikal. rie zur Philosophie des Als-Ob. In: ebd., Bd. 9, 1924. – Otto Ritschl: Die doppelte Wahrheit in der Klangstrukturen gebaute Gedichte, die 1939 Philosophie des Als-Ob. Gött. 1925. – Stefanie im Band L’Amande clandestine (Paris) ihre Willrodt: Semifiktionen u. Vollfiktionen in V.s Fortsetzung fanden. 1937 – V. hatte sich inPhilosophie des Als-Ob. Lpz. 1934. – Thomas zwischen von Rosenbaum getrennt u. lebte Conrad: H. V. u. seine Philosophie des Als Ob. Diss. mit ihrem zweiten Mann, dem Komponisten

Valencak

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Wladimir Vogel, abwechselnd in Brüssel, Paris u. im Tessin – erschienen in Zürich als erstes dt. Buch ihre Geschichten vom Tal. Wie beim Folgeband Tessiner Novellen (Zürich 1939) handelt es sich dabei um genau beobachtete Szenen aus dem Tessiner Volksleben, die allem Sentimentalen u. Folkloristischen abhold sind u. ebenso gut von einem genuinen Tessiner Autor stammen könnten. Das gleiche gilt von V.s erstem Roman, Casa Conti (Bern 1941), einer Tessiner Familiensaga, u. von Die Bargada (Zürich 1944), dem Roman eines Hofes, der nur gedeiht, solange er von Frauenhand bewirtschaftet wird. In dem Roman Victoire oder Die letzte Rose (ebd. 1946) gestaltete sie die Geschichte ihrer Familie, während sie sich mit Das Dorf an der Grenze (entstanden 1945, publiziert Zürich 1982) an das brisante Thema der schweizerischen Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg heranwagte. Spät erst wandte sie sich auch der deutschsprachigen Lyrik zu, zeigte sich aber mit Bänden wie Traumschalmei (Karlsr. 1969) oder Aussagen (ebd. 1971) unvermittelt auf der Höhe der zeitgenöss. Avantgarde. In ihren letzten Jahren schrieb sie nicht mehr, sondern fertigte in ihrem Haus »Villerna« in Ascona Gobelins nach Motiven von Hans Arp an. Literatur: Peter Kamber: Geschichte zweier Leben – Wladimir Rosenbaum & A. V. Zürich 1990. Zuletzt Ffm. 2002. – Eveline Hasler: Aline u. die Erfindung der Liebe. Roman. Zürich 2000. Charles Linsmayer

Valencak, Hannelore, verwitwete Kofler, verh. Mayer, * 23.1.1929 Donawitz/Steiermark, † 9.4.2004 Wien. – Lyrikerin, Erzählerin, Roman- u. Jugendbuchautorin. Aufgewachsen in der steir. Industriestadt Kapfenberg, studierte V. Physik (Promotion 1955) u. arbeitete zunächst als Metallurgin in ihrer Heimatstadt, ehe sie 1962 nach Wien übersiedelte. Dort übte sie den Beruf einer Patentsachbearbeiterin aus, bis sie 1975 beschloss, als freie Schriftstellerin zu leben. V. debütierte als Lyrikerin in dem Gemeinschaftsband Vier junge Kapfenberger (Graz/ Wien/Mchn. 1954), trat jedoch schon bald auch als Verfasserin von Kurzgeschichten in

Erscheinung (später gesammelt in den Bänden Morgen werden wir es wissen. Salzb. 1961 u. Erzählungen. Wien 1973). Zwar unterliegt sie hier nicht selten dem zeittypischen Zwang zur existenziellen Parabel, doch gelingen ihr immer wieder auch nüchterne Bestandsaufnahmen der Nachkriegsgesellschaft u. eindringl. Zeichnungen weibl. Charaktere. Für ihren ersten Roman Feuer auf steinernem Herd erhielt V. 1957 einen staatl. Förderungspreis; im Druck erschien er allerdings erst vier Jahre später, u. d. T. Die Höhlen Noahs (Wien). Inspiriert von der damals allgegenwärtigen Angst vor einer atomaren Auseinandersetzung der Supermächte, entfaltet er ein Endzeitszenario u. weist darin starke inhaltl. Parallelen zu Marlen Haushofers Roman Die Wand auf, der jedoch ungleich größere Beachtung fand u. inzwischen längst Klassikerstatus genießt, während V.s Buch rasch in Vergessenheit geriet. In der Folgezeit veröffentlichte sie noch vier weitere Romane, die teils in der Tradition des realistisch erzählten, gegenwartsnahen Gesellschaftsromans stehen (Ein fremder Garten. Wien 1964. Vorhof der Wirklichkeit. Wien 1972), teils aber auch typische Merkmale der fantastischen Literatur aufweisen (Zuflucht hinter der Zeit. Wien 1967. Magisches Tagebuch. Wien 1981), u. konzentrierte sich daneben fast ausschließlich auf das Schreiben von Jugendbüchern (u. a. Meine schwererziehbare Tante. Wien/Heidelb. 1975. Regenzauber. Ebd. 1976. Das Treueversprechen. Ebd. 1978.), die auf breite Resonanz stießen u. in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Von Krankheit gezeichnet, konnte V. in ihren letzten Lebensjahren kaum noch etwas publizieren. Nach ihrem Tod erfuhr ihr Werk, das stets im Schatten kanonisierter Größen der Nachkriegszeit gestanden war, allmählich eine deutl. Aufwertung vonseiten der Kritik u. der Literaturwissenschaft. Die Neuausgabe ihres Romans Zuflucht hinter der Zeit (unter dem von ihr selbst stammenden Alternativtitel Das Fenster zum Sommer) wurde 2006 zu einem Überraschungserfolg. Weitere Werke: Lyrik: Nur dieses eine Leben. Wien 1966. – Mein Tag, mein Jahr (zus. mit Doris Mühringer). Ebd. 1983. – Ausgew. Gedichte. Wien 2008. – Kinder und Jugendbücher: Montag früh ist nicht das Leben. Wien/Heidelb. 1970. – Ich bin

Valentin Barbara. Ebd. 1974. U. d. T. Barbara. Wien 1986. – Meine unbezahlbare Schwester. Ebd. 1984. – Bettina u. das eiserne Versprechen. Mödling 1989. – Wanderbuch: Wanderwege rund um Wien. Ebd. 1982. Literatur: Brigitte Mattner-Begusch: Die vierte Dimension. Eine Analyse der Zeitgestaltung in den Romanen H. V.s. Diplomarbeit Graz 1994. – Karin Wolf: ›Meine Stoffe beziehe ich zu einem großen Teil aus meinem Leben und aus meiner Umwelt.‹ Hauptaspekte der Romane H. V.s. Diplomarbeit. Wien 2003. – Evelyne Polt-Heinzl: Kein Raum zum Schwungholen. H. V. – Chronistin des Frauenlebens nach 1945. In: Im Keller. Der Untergrund des literar. Aufbruchs nach 1945. Hg. Dies u. Daniela Strigl. Wien 2006, S. 53–64. Christian Teissl

Valentin, Karl, eigentl.: Valentin Ludwig Fey, * 4.6.1882 München, † 9.2.1948 Planegg bei München. – Volkssänger, Komiker, Kabarettist. V.s Vater, Kompagnon eines kleinen Speditionsgeschäfts, stammte aus Darmstadt; die Mutter kam aus Zittau in Sachsen. In der Münchner Vorstadt Au geboren, blieb V. in konsequenter Trotzhaltung dem kleinbürgerl. Vorstadtmilieu zeitlebens verbunden. Zu Hause wurde Hochdeutsch gesprochen, u. dass V. später »nichts als ein Münchner Volkssänger« sein wollte, ist Ausdruck des gebrochenen Verhältnisses eines hypochondr. Menschen zum Bodenständigen. Dem »gelernten Münchner« aus protestantischer Familie fehlte in kath. Umgebung die naive Heimatsicherheit. In valentinesker Logik schrieb er später in einer Szene: »Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.« In der Selbstbiographie (in: Karl Valentins Panoptikum. Mchn. 1952) heißt es: »Karl Valentin erlernte im Alter von zwölf Jahren die Abnormität.« Neben der Arbeit in einer Sargschreinerei besuchte er eine Varietéschule. Nach dem Tod des Vaters 1902 führte er das Geschäft in wenigen Jahren an den Rand des Ruins. Anders als die auf groteske Weise ungeschickten Figuren in seinen Stücken hatte V. beachtl. manuelle Fähigkeiten. Requisiten u. Bühnenbilder für seine Auftritte u. Filme baute er oft selbst. Zunächst ging er mit einem tonnenschweren Musikapparat, seinem Orchestrion mit 20 Instrumenten, erfolglos

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auf Tournee nach Leipzig, Halle, Berlin. Er trat dort als Musikclown unter dem Pseud. Charles Fey auf. Wieder in München, verdingte er sich als Zitherspieler in Gaststätten. Ermutigenden Erfolg hatte er 1907 mit seinem komischen Stegreifsolo Das Aquarium, in dem Alltägliches absurd erzählt wird. V. wurde als Kabarettist an den »Frankfurter Hof« engagiert; dort lernte er seine künstlerische Partnerin Liesl Karlstadt (eigentl.: Elisabeth Wellano) kennen, mit der zusammen er bis 1939 (seit 1912 auch in eigenen Filmen) u. dann noch einmal kurz vor seinem Tod 1948 auftrat. 1915 übernahm V. die Direktion des Münchner Kabaretts Wien-München; nach 1919 suchte der junge Brecht seine Nähe. Seit 1922 bestritt V. mit eigenen Programmen Nachtvorstellungen an den Münchner Kammerspielen. Er wurde zu Gastspielen nach Berlin u. Wien eingeladen, wo ihn Tucholsky (»Höllentanz der Vernunft um beide Pole des Irrsinns«), Karl Kraus (»Philosophischer Komiker«), Franz Blei (»den Tiefsinn des Blödsinns entdeckt«) dem Zeitalter empfahlen. Der spindeldürre, ungeniert seine körperl. Hässlichkeit einsetzende Schauspieler galt dem Publikum als sehens- u. hörenswertes Unikum. Feuchtwanger beschrieb in seinem MünchenRoman Erfolg (1930) einen Besuch bei der Orchesterprobe des Komikers Balthasar Hierl (d. i. Karl Valentin): »Alle einfachsten Dinge gerieten sogleich ins Problematische [...]. Todernst, dürr, hoffnungslos, die Waden um die Stuhlbeine gewickelt, traurig, verstockt, emsig, gewissenhaft [...].« Von den mehr als 500 Texten, die V. als Spielvorlage erfand u. immer wieder improvisierend veränderte, waren am erfolgreichsten mit etwa 800 Aufführungen Die Orchesterprobe (1921) u. mit jeweils mehr als 400 Aufführungen Die verflixten Notenständer (1922), Das Brillantfeuerwerk (1926) u. Im Senderaum (1926); alle vier Stücke wurden auch verfilmt. Als »Juxmuseum der denkenden Menschen« richtete V. 1934 ein eigenes AntiMuseum ein; der Grusel- u. Lachkeller sollte seine dramatisch-anarchistischen Apokalypsen u. seine verdrehte Sprachfantasie in einer Art früher concept art ausstellen. In sein

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Panoptikum steckte V. sein gesamtes Vermögen. Nachdem es schon nach kurzer Zeit wegen Unrentabilität geschlossen werden musste, versuchte er sich mit einem eigenen Kellertheater, der Ritterspelunke; dort spielte er mit der neuen Partnerin Annemarie Fischer v. a. die blutrünstige Posse vom Ritter Unkenstein. Nach der 120. Aufführung wurde ihm 1940 von den Nationalsozialisten die Schließung des Lokals nahegelegt; die Elendstendenzen u. anarchistische Aufsässigkeit seiner Stücke – beispielsweise im Umzug, in dem ein Räumbagger Hab u. Gut einer Familie beiseite schafft – erschienen nicht opportun. V. zog sich ins Privatleben zurück u. trat nach dem Krieg nur noch gelegentlich auf. Er starb an einem Rosenmontag, fast vergessen, an Lungenentzündung u. Unterernährung. Erst seit den 1960er Jahren wird V.s geistige Verwandtschaft mit den Sprachspielen der Dadaisten gewürdigt, deren künstlerische Ironie u. Arroganz ihm allerdings fremd blieben; daneben wurden Affinitäten zu den absurden Dramen Becketts u. Ionescos u. Gemeinsamkeiten zwischen V.s Buchbinder Wanninger u. Kafkas Josef K. entdeckt. V. machte auf die latente Feindseligkeit der Sprache aufmerksam, die mehr entzweit als verbindet. »Valentinaden« haben später Achternbusch, Philip Arp u. Gerhard Polt verfasst, die ebenso wie V. das Kommunikationsmittel Sprache verwenden, um Missverständnisse u. Unordnung zu schaffen, wie sie aus V.s berühmtem Satz herauszuhören sind: »Mög’n täten wir schon wollen, aber dürf’n haben wir uns nicht getraut.« Weitere Werke: Humoristische Zeitungsannoncen. Mchn.: Selbstverlag o. J. [1920?]. – Blödsinns-Vorträge. Ebd. o. J. [1920]. – Originalvorträge. Ebd. 1926. – Brillantfeuerwerk. Ebd. 1938. – Valentiniaden. Ebd. 1941. – Der Knabe Karl. Jugendstreiche. Aus dem Nachl. Bln. 1951. – Kurze Rede langer Sinn. Texte v. u. über K. V. Hg. Helmut Bodmaier. Ebd. 1990. Ausgaben: Ges. Werke. Mit einer Erinnerung v. Ernst Buschor: Der Museumsdirektor K. V., u. einem Tucholsky-Ess.: Der Linksdenker. Ebd. 1961. – Sturzflüge im Zuschauerraum. Der ges. Werke anderer Teil. Vorw. v. Kurt Horwitz. Ebd. 1969. – Ges. Werke. 4 Bde., ebd. 1981. – Sämtl. Werke in

Valentin acht Bdn. Auf der Grundlage der Nachlaßbestände [...] hg. v. Helmut Bachmaier u. Manfred Faust. Mchn. 1991–97. – Ergänzungsbd.: Dokumente, Nachträge, Register. Hg. M. Faust u. Gerhard Gönner. Mchn. 2007 (alle Bde. zus. als Sonderausg. Mchn. 2007). Literatur: Wilhelm Hausenstein: Die Masken des Münchner Komikers K. V. Mchn. 1948. – Helmut Schwemmer: K. V. Eine Analyse seines Werkes mit einem Curriculum u. Modellen für den Deutschunterricht. Ebd. 1977. – Klaus Pemsel: K. V. im Umfeld der Münchner Volkssängerbühnen [...]. Ebd. 1981. – Michael Schulte: K. V. Hbg. 1982. – K. V. Volks-Sänger? DADAist? Mchn. 1982 (Kat.). – Armgard Seegers: Komik bei K. V. Die sozialen Mißverhältnisse des Kleinbürgers. Köln 1983. – Gudrun Köhl, Hannes König u. Erich Ortenau: K. V. in der Gesch. der Komiker. Mchn. 1984. – Klaus Zeyringer. Die Komik K. V.s. Ffm. u.a. 1984. – Michael Glasmeier: K. V. Der Komiker u. die Künste. Mchn. 1987. – Friedrich Tuber: K. V. u. die Konstituenten seiner Komik. Stgt. 1987. – Gisela Freilinger-Valentin: K. V.s Pechmarie. Erinnerungen der älteren Tochter [...]. Mchn. 1988. – Matthias Biskupik: K. V. Eine Bildbiogr. Lpz. 1993. – Paul Michel: ›... ma sagt halt so‹. K. V. u. die Sprache. In: Hören-Sagen-Lernen. Bausteine zu einer Gesch. der kommunikativen Kultur. Hg. Ursula Brunold-Bigler u. Hermann Bausinger. Bern 1995, S. 489–501. – Roland Keller: K. V. u. seine Filme. Mchn. 1996. – Alfons Schweiggert: K. V. u. die Frauen. Ebd. 1997. – Barbara Bronnen: K. V. u. Liesl Karlstadt: Blödsinnskönig – Blödsinnskönigin. Bln. 1998. – Julian A. Garforth: Samuel Beckett u. K. V. ›Streit mit schönen Worten‹. In: Der unbekannte Beckett u. die dt. Kultur. Hg. Therese Fischer-Seidel u. Marion Fries-Dieckmann. Ffm. 2005, S. 261–281. – Monika Dimpfl: K. V. Biogr. Mchn. 2007. – Klaus Gronenborn: K. V. Filmpionier u. Medienhandwerker. Bln. 2007. – A. Schweiggert: K. V. Der Münchnerischste aller Münchener. Mchn. 2007. Arnd Rühle / Red.

Valentin, Thomas, eigentl.: Gerold Armin V., * 13.1.1922 Weilburg/Lahn, † 22.12. 1980 Lippstadt (Freitod). – Romancier, Lyriker, Dramatiker. Der Beamtensohn war nach dem Studium der Germanistik, Geschichte u. Psychologie in Gießen u. München 1947–1962 Lehrer in Lippstadt. Mit 40 Jahren schied er aus dem Schuldienst aus u. wurde freier Schriftsteller. 1964 ging er für zwei Jahre als Chefdrama-

Valentin

turg an das damals zukunftsweisende Theater der Freien Hansestadt Bremen. Nach dem Rückzug von der Bühne konzentrierte sich V. auf seine schriftstellerische Arbeit. Zwischen 1966 u. 1972 suchte er für jeweils mehrere Monate im Jahr Erholung u. Inspiration auf Sizilien; seit 1972 besaß er ein Haus am Gardasee. Italien, das Land, das ihn besonders faszinierte, machte er auch zum Schauplatz seines Romans Natura Morta. Stilleben mit Schlangen (Hbg./Düsseld. 1967). Seit 1969 arbeitete V. mit dem Fernsehsender von Radio Bremen zusammen, für den er mehrere Drehbücher schrieb. Sie basieren z. T. auf seinen Erzählungen u. wurden mit Erfolg verfilmt. Fünf seiner Drehbücher hat V. noch zu Lebzeiten veröffentlicht. Bereits seit den frühen 1940er Jahren schrieb V. Gedichte, Erzählungen u. Short Stories. Im ersten Roman, Hölle für Kinder (Hbg. 1961), in den einige seiner Kurzgeschichten eingegangen sind, erdrosselt ein Mann einen kleinen Jungen, um ihn vor selbsterlebter Lieblosigkeit u. Grausamkeit zu bewahren. Damit hatte V. sein Thema gefunden: den unüberbrückbaren Konflikt zwischen den Generationen, die geprägt sind von der gerade erst abgeschüttelten Last des Kriegs u. des Faschismus. In seinem wichtigsten Buch, dem Schulroman Die Unberatenen (ebd. 1963. 2., rev. Ausg. 1968), kündigte sich die später in die 68er-Bewegung mündende Jugendrebellion gegen die restaurative Gesinnung der dt. Nachkriegsgesellschaft an. Der Roman wurde 1965 in Bremen für die Bühne eingerichtet u. diente Peter Zadek als Vorlage für den Film Ich bin ein Elefant, Madame (1969), ein zentrales Werk des Jungen Deutschen Films. Das Thema des beschädigten Lebens, das auch schon in Hölle für Kinder von zentraler Bedeutung war, nahm V. in seinem Roman Grabbes letzter Sommer (Bln./Ffm./Wien 1980) wieder auf. Der Titel spielt auf Hesses Künstlernovelle Klingsors letzter Sommer an. Mit deutl. Bezügen zu Büchners Lenz entwirft V. Grabbe als einen leidenden Künstler, einen gescheiterten Christus geradezu, der »zwischen zwei Epochen eingeklemmt« ist. Sein Handeln, sein Denken sind voller Widersprüche, an ihnen geht Grabbe schließlich

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elend zugrunde: Einerseits fühlt er sich der Realität verfallen, möchte er die eigene Gegenwart schonungslos, ohne jede Spur von Idealismus, in Szene setzen. Andererseits bewundert er die Heroen des Altertums u. flüchtet sich vor der Wirklichkeit in eine Fantasiewelt. Nicht zuletzt hofft er, zu Wirkungslosigkeit verdammt, auf ein Nachleben in der ewigen Welt der Kunst. Zugleich mit der Arbeit am Roman hat V. das Drehbuch zu einem Fernsehfilm (Radio Bremen 1980) mit demselben Titel geschrieben. Drehbuch u. Film erhielten 1981, nach V.s Tod, den AdolfGrimme-Preis in Gold, der Regisseur Sohrab Shadid Saless den Sonderpreis des nordrheinwestfäl. Kulturministers. V.s Romane durchleuchten die Gegenwart u. den Einfluss der jüngsten Vergangenheit anhand exemplarischer Schicksale. Der Autor legt Wert auf die genaue Darstellung des histor. Hintergrunds. Seine unsentimentale Sprache ist die des Alltags seiner Figuren. An Formexperimenten war V. nicht sonderlich interessiert; er erhoffte sich von seinen Werken vielmehr »Spannung, Unterhaltung, Mitgefühl, Nachdenklichkeit, Abbau von Vorurteilen und Aufbau von kritischem Verständnis sich selbst, seinen Nachbarn, seinem Kreis gegenüber«. Seine traditionellen Erzähltechniken hatten indes einen entscheidenden Nachteil: V. konnte damit nur einen Teil der Wirklichkeit erfassen, in die er doch vollständig einzudringen suchte. Innerhalb der Nachkriegsliteratur war V. ein Einzelgänger. Auch wenn ihn Hermann Hesse schätzte u. das Echo der Kritik zumeist positiv war, wurde V. nur durch seine Fernsehspiele (Anna und Totò. Paderb. 1974. LiebesGeschichte. Düsseld. 1980) einem größeren Publikum bekannt. Um die Bewahrung seines Andenkens u. die wissenschaftl. Erschließung seines Œuvres kümmert sich seit 1996 die T.-V.-Gesellschaft in Lippstadt. In ihrem Auftrag hat Hartmut Steinecke von 1998 bis 2002 eine zwölfbändige Werkausgabe herausgegeben (Werke in Einzelbänden. Oldenb.). Die Gesellschaft verleiht zudem alle vier Jahre den T.-V.-Literaturpreis. Erster Preisträger war 1993 der Schweizer Markus Werner.

Valentin und Namelos

733 Weitere Werke: Die Fahndung. Hbg. 1962. Überarb. Tb.-Ausg. u.d.T. Fahndung oder die Reise zu sich selbst. Ffm. u.a. 1979 (R.). – Nachtzüge. Hbg. 1964 (E.en). – Rotlicht. Baden-Baden 1967 (E., mit Bibliogr.). – Jugend einer Studienrätin. Mit einem Vorw. v. Gerhard Beckmann. Düsseld. 1974 (E.en., L., Fernsehsp.). – Adlerhöhe. Reinb. 1976 (D.). – Niemandslicht. Gedichte 1953–1980. Düsseld. 1980. – Schnee vom Ätna. 33 sizilian. Gesch.n. Ffm./Bln./Wien 1981. – T.-V.-Lesebuch. Mit einem Vorw. v. Hartmut Steinecke. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Heinz Schlüter. Paderb. 1997. Als Tb.: T.-V.-Lesebuch. Zusammengestellt u. mit einem Nachw. v. Norbert Otto Eke u. Dagmar OlaszEke. Köln 2008. Literatur: R. C. Andrews: The German SchoolStory. Some Observations on Paul Schallück and T. V. In: GLL 23 (1969/70), S. 103–112. – Irmela Schneider: T. V. In: KLG. – Willi Kröger: T. V. oder Der Prophet im Vaterlande: Lippstadt tut sich schwer mit einem großen Autor. In: Jb Westf. 46 (1992), S. 124–128. – Heinz Schlüter: Die T.-V.Gesellsch. in Lippstadt. In: Lit. in Westf. 4 (1998), S. 361–365. – Ders.: T. V. (1922–1980). In: Literaten u. Lit. aus Lippstadt. Hg. Heimatbund e.V. Lippstadt 1999, S. 107–128. – Westf. Autorenlex. 4. – Hartmut Steinecke: T. V. In: LGL. – Walter Gödden: ›Ich will nichts Elitäres schreiben‹. In: Westfalenspiegel 56 (2007), H. 6, S. 40–42. – Ulrich Straeter: Aber das da! Mit T. V. in Sizilien. In: Lit. in Westf. 11 (2010), S. 263–273. Ingrid Heinrich-Jost † / Alexander Schüller

Valentin und Namelos. – Mittelniederdeutscher Roman des 14. Jh. Der V. u. N. zugrundeliegende Stoff aus dem weiteren Umfeld der Karlsepik war in mehreren Bearbeitungen verbreitet: Von einer offensichtlich sehr umfangreichen mittelniederländ. Versfassung des 13. Jh. sind nur drei Fragmente aus der zweiten Hälfte des 14. Jh. erhalten; eine nach mittlerweile unangefochtener Meinung aus ihr hervorgegangene, kürzende mittelniederdt. Dichtung ist in der sog. Stockholmer Sammlung (wohl frühes 15. Jh.) u. in dem sog. Hartebok aus dem Besitz der Hamburger Flandernfahrergesellschaft (geschrieben zwischen 1476 u. 1481) überliefert; mit dieser stimmt ein ostmitteldt. Fragment fast wörtlich überein, das nur in einem Abdruck von 1784 bekannt ist; eine mitteldt. (niederschlesische) Prosabearbeitung liegt in einer Abschrift von 1465 vor; eine altschwed.

Prosaversion mit Versen enthalten drei Handschriften des 16. Jh. Der Autor der mittelniederdt. Versfassung (2646 Verse) wird für einen mutmaßlich im fläm. Brügge tätigen Niederdeutschen gehalten. Seine Geschichte verbindet Motivkomplexe abenteuerlich-märchenhafter höf. Epik u. der Chanson de geste: Aufgrund einer Intrige werden Phila, der Frau des ungarischen Königs Crisostimus u. Tochter König Pippinghs von Frankreich, ihre Zwillingssöhne genommen; Valentîn wächst unerkannt am frz. Hof auf u. zeichnet sich im Krieg gegen die span. Sarazenen aus; Namelôs lebt als wildes Tier, bis er gefangen u. domestiziert wird. Unwissentlich verbunden durch die Kräfte der Natur u. der Elemente bestehen sie gemeinsam viele Abenteuer auf Valentîns Suche nach seinem Vater. Schließlich wird die Herrscherfamilie wieder vereint; die Protagonisten heiraten u. werden Könige. In einer stark erweiterten u. veränderten Fassung des Stoffs, dem »Volksbuch« Valentin und Orson, das im letzten Drittel des 15. Jh. verfasst worden sein muss, enden die beiden Helden nach einer sie in Schuld verwickelnden, mehrsträngigen Handlung als Büßer. Der Roman war in frz., engl. u. niederländ. Drucken vom späten 15. bis ins 20. Jh. sowie in dt. u. ital. Fassungen des 16. u. 17. Jh. verbreitet; eine isländ. handschriftl. Bearbeitung entstammt dem 17. Jh.; Dramatisierungen sind in Deutschland, England, Spanien u. Frankreich nachweisbar. Ausgaben: V. u. N. Die niederdt. Dichtung. Die hochdt. Prosa. Die Bruchstücke der mittelniederländ. Dichtung. [...] Analyse des Romans ›Valentin & Orson‹. Hg. Wilhelm Seelmann. Norden/Lpz. 1884. – Namnlös och Valentin. Krit. Ausg. mit nebenstehender mittelniederdt. Vorlage. Hg. Werner Wolf. Uppsala 1934. – Loek Geeraedts: Die Stockholmer Hs. Cod. Holm. Vu 73 [...]. Ed. u. Untersuchung einer mittelniederdt. Sammelhs. Köln/ Wien 1984. – V. u. N. Mittelniederdt. u. Nhd. Hg., übers. u. komm. v. Erika Langbroek u. Annelies Roeleveld unter Mitarb. v. Arend Quak. Amsterd./ Atlanta, GA 1997. Literatur: Hartmut Beckers: V. u. N. In: VL (Lit.). – Ulrike Zellmann: Doppelte Gewalt. Die niederdt. Lesart des Zwillingsromans ›V. u. N.‹. In: Schnittpunkte. Dt.-Niederländ. Literaturbeziehungen im späten MA. Hg. Annette Lehmann-

Valentinus Benz, Ulrike Zellmann u. Urban Küsters. Münster u.a. 2002, S. 145–166. – Erika Langbroek: Die Jungfrau u. das wilde Tier in der Erzählung ›V. u. N.‹. In: ABäG 59 (2004, = Erotik, aus dem Dreck gezogen. Hg. Johan H. Winkelman u. Gerhard Wolf), S. 139–153. – Annelies Roeleveld, E. Langbroek u. Evert Wattel: Valentin and Namelos discover their parentage. Narrative elements in the family tree of an international medieval tale. In: Studies in Stemmatology II. Hg. Pieter van Reenen, August den Hollander u. Margot van Mulken. Amsterd./Philadelphia 2004, S. 285–304. – Ralf G. Päsler: Text u. Textgemeinschaft. Zu mittelniederdt. Sammelhandschriften u. zur niederdt. u. niederschles. Überlieferung v. ›V. u. N.‹. In: Ber.e u. Forsch.en. Jb. des Bundesinstituts für Kultur u. Gesch. der Deutschen im östl. Europa 15 (2007) S. 27–41. – Jens Pfeiffer: ›The Good, the Bad and the Ugly‹. Zur Figurenzeichnung im mittelniederdt. Versroman ›V. u. N.‹. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen u. Literaturen 245 (2008), S. 241–257. – Silke Winst: Freundespaar u. Bruderpaar: Verflechtungen v. Freundschaft u. Verwandtschaft in spätmittelalterl. Bearb.en v. ›V. u. N.‹ u. ›Amicus u. Amelius‹. In: Verwandtschaft, Freundschaft, Bruderschaft. Soziale Lebens- u. Kommunikationsformen im MA. Hg. Gerhard Krieger. Bln. 2009, S. 427–439. – Emmanuelle Poulain-Gautret: Adapter le combat épique à la prose, translation et création: le motif de la place assiégée dans Ogier le Danois, Valentin et Orson, Les Trois fils de rois. In: Mettre en prose aux XIVeXVIe siècles. Hg. Maria Colombo Timelli, Barbara Ferrari u. Anne Schoysman. Turnhout 2010, S. 215–224. – URL: http://www.handschriftencensus.de/werke/822. Sabine Schmolinsky

Valentinus, Basilius ! Basilius Valentinus Vallentin, Berthold, auch: König Schmerz, * 13.2.1877 Berlin, † 13.3.1933 Berlin. – Lyriker, Historiker, Jurist. V. entstammte einer ostjüd. Familie. Er studierte Jura u. Geschichte in Berlin u. war Schüler des Universalhistorikers u. Kulturphilosophen Kurt Breysig. Bei ihm lernte er Friedrich Wolters kennen, mit dem ihn eine lebenslange enge Freundschaft verband. Die beiden bildeten den Kern des sog. Niederschönhausener Kreises, der ein dezidiert antipositivistisches, künstlerisch inspiriertes u. ganzheitlich orientiertes Verständnis von

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Wissenschaft entwickelte. V. wurde 1900 mit einer Schrift über »Die Draufgabe des gemeinen Rechts« zum Dr. iur. promoviert. 1901 ließ V. eine Handvoll epigonaler Gedichte (o. O. [Bln.]), vorwiegend in Sonettform, privat drucken. Ende 1902 lernte er bei Breysig Stefan George kennen. Wie die übrigen Angehörigen des Niederschönhausener Kreises (Wolters, Kurt Hildebrandt, Wilhelm u. Friedrich Andreae) schloss er sich eng an George an. Die Beschäftigung mit dessen Werk veranlasste ihn zu einer unter dem Pseudonym »König Schmerz« ebenfalls im Privatdruck hergestellten Dichtung (Bln. 1903) mit den Zyklen Die Lieder des Landenden und von neuer Fahrt, Die Krypte der tieferen Ergiessungen u. Die strenge Feier, deren enge Anlehnung an George in dessen Kreis zuerst den Eindruck einer »prachtvoll bösartigen Parodie« (F. Gundolf) erweckte. V. schickte George die folgenden Bände Sinfonia. Der Kaiser u. Sinfonia. Dem Andenken des Grafen Oskar Korniss (Bln. 1904) mit der aufgedruckten Verfasserangabe »vom Meister des König Schmerz«. Sie feiern in einer lyrisierenden Prosa Napoleon, V.s lebenslangen Heros. Den mit musikal. Formbezeichnungen überschriebenen Abschnitten ist eine »Introduction« vorangestellt, die mit den ergriffen stammelnden Worten beginnt: »Rimbaud rimbaud rote fanfaren über die ebene eskadrons auf tänzelnden pferden brüchiges land.« George würdigte in seinem Dankesbrief zwar den »neugebärenden urgrund«, mahnte aber zu Klarheit u. unterstrich, dass man von dem »Rimbaud der Illuminationen« schon weit abgerückt sei. Im Sommer 1904 stattete V. George einen Besuch in Bingen ab, dem weitere folgten. Seit 1909 gehörte er dann zum engsten Kreis um George u. nahm in Berlin an den intensiven Gesprächen, die zur Gründung des »Jahrbuchs für die geistige Bewegung« (1910–12) führten, sowie an den Diskussionen über dessen Beiträge teil. V. sollte zunächst als Mitherausgeber zeichnen, aber mit Rücksicht auf seine berufl. Stellung als Amtsrichter in Spremberg, die er von 1907 bis 1917 inne hatte, nahm er davon Abstand. Zu dem aggressiv-kulturkrit. »Jahrbuch« trug er die beiden Aufsätze Zur Kritik des Fortschritts u.

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Valvasor

Zur Kritik von Presse und Theater bei. Im Erste- Valvasor, Johann Weichard, Weikhard, ren operiert V. mit der klassisch-lebensphi- Frhr. von, * Mai 1641 Laibach, getauft losophischen Antithese von Fortschritt Laibach 28.5.1641, † Aug. oder Sept. 1693 (»Zergliederung«) vs. Kultur (»das Geistgan- Gurkfeld/Krsˇ ko; Grabstätte: Schloss Galze«), die er nur in der Kunst, letztlich der lenegg (Oberkrain). – Kosmograf, PolyDichtung Georges bewahrt sieht. Im anderen histor. Beitrag attackiert er die Bearbeitung antiker Autoren u. Shakespeares für die moderne Nach Besuch der jesuitischen Lateinschule in Bühne u. eine Presse, die auf ständige Ner- Laibach, einer Reise nach Bayern (1659) u. Teilnahme an einem Türkenfeldzug (1663/ venreizung ihrer Leser ziele. Ab der X. Folge (1914) war V. Mitarbeiter 64) begab sich V. »propter curiositatem« auf an den »Blättern für die Kunst«. Eine weitere Reisen (u. a. nach Frankreich, Italien Sammlung seiner Dichtungen erschien 1927 u. Afrika). Seit 1572 lebte er auf Schloss Wabei Bondi u. d. T. Heroische Masken (Bln.). Sei- gensperg/Bogensˇ perk (Unterkrain), wo er nem Steckenpferd Napoleon widmete er eine eine reichhaltige Bücher- u. Grafiksammvoluminöse Monografie (Bln. 1923), der 1926 lung, dazu Münzen u. Instrumente zusamder Ergänzungsband Napoleon und die Deut- mentrug u. 1678 eine Kupferstecherwerkstatt schen (Bln.) folgte. V. will den »Mensch Na- errichtete, während seiner letzten Lebenspoleon sicht- und erlebbar« machen. Ent- jahre in Gurkfeld (Unterkrain); seit 1681 sprechend dem Gestalt-Begriff des George- wirkte er auch in Laibach. Als ViertelhauptKreises geht es ihm nicht um geschichtswis- mann Krains führte er 1683 krainische senschaftl. Quellenkunde, sondern um »in- Hilfstruppen gegen die Türken; 1687 wurde nere Echtheit, die sich aus der Gesamter- er Mitgl. der Royal Society. V. tat sich auf dem scheinung erschliesst.« V. schafft einen He- Gebiet des Metallgusses hervor, stellte sich roenmythos, der Napoleon als das Idealbild ausweislich seiner Darlegungen zum Zirdes Politikers als Künstler erscheinen lässt, knitzer See naturforscherl. Aufgaben, erwarb der als schöpferische Persönlichkeit dem kartografische Verdienste u. unterhielt ein Staat die ästhetische Form eines Kunstwerks Labor (Briefwechsel mit dem Alchemiker Joaufprägt. hann de Monte-Snyder); hauptsächlich wid1931 publizierte V. noch eine Studie über mete er sich der historiografischen u. topoWinckelmann (Bln.), die besonderes Gewicht grafischen Erkundung Krains. auf das Ideal der Freundschaft legt. Anfang Gemeinsam mit Johann Werex (Wiriex), 1932 erlitt er einen Schlaganfall, der die Andreas Trost, Johann Koch u. anderen Einweisung in eine Heilanstalt zur Folge Bildkünstlern schuf V. ein Bildbuch über die hatte. Vom Selbstmord seiner jüd. Frau Diana Passion Christi (Dominicae passionis icones. im Febr. 1933 erfuhr V. nicht mehr. Aus seiWagensperg 1679. Nachdr. u. d. T. Pasijonska nem Nachlass veröffentlichte das Castrum Peregrini 1960 erstmals u. 1967 in erweiterter knjizica. Laibach 1970), nach Vorlage der MeForm seine Gespräche mit Stefan George tamorphosen-Fassung von Crispin de Passe 1902–1931 (Amsterd.), deren Akzent auf der eine Ovid-Bilderausgabe (Metamorphoseos IcoZeit vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum nes. Wagensperg 1680. Nachdr. Laibach 1984) Jahr 1931 liegt, als V. eine Anwaltskanzlei in u. ein dreiteiliges Theatrum mortis humanae (Wagensperg/Laibach 1682. Bearb. von Joze Berlin betrieb. Weitere Werke: Zug von Masken. o. O. 1907. – Mlinaric mit Begleittexten von Emilijan CeDer Engelsstaat. In: Grundrisse u. Bausteine zur vec. Maribor/Novo mesto 1969. Nachdr. mit Staats- u. zur Geschichtslehre. FS Gustav Schmol- Nachwort von Hartmut Freytag. Hildesh. ler. Hg. B. V. u. a. Bln. 1908, S. 41–120. 2004. Nachdr. o. O.: Nabu Press 2010), das Jürgen Egyptien aus Anlass der Pestzuggeschehnisse von 1679 eine Adaption von Hans Holbeins d.J. Totentanz-, Todesarten- u. Höllenpeindarstellungen bot.

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Schwerpunkt von V.s Bildwerken bilden Neuber: NOLI ACRIA / IN ACRI ALO. J. W. V.s ›Die aus patriotischen Impulsen erwachsene To- EHRE Deß Hertzogthums Crain‹ (1689). In: Zur pografien, unter ihnen Die Ehre Deß Herzogth- Gesch. der österr.-slowen. Literaturbeziehungen. ums Crain (4 Tle., Nürnb. 1689. Hg. Janez Hg. Andreas Brandner u. Werner Michler. Wien 1998, S. 71–89. – Hartmut Freytag: Über das Krajec. Novo mesto 1877/1879. Nachdr. Lai›Theatrum mortis humanae tripartitum‹ u. seinen bach/Mchn. 1970/1974), eine unter Einfluss Autor J. W. zu V. In: Den Tod tanzen? Hg. Renate des Historiografen Johann Ludwig Schönle- Hausner u. Winfried Schwab. Anif, Salzburg 2002, ben entstandene, von Erasmus Francisci in S. 35–61. – Maria Bidovec: Raccontare la Slovenia – »reines Teutsch« gebrachte, textlich erwei- Narratività ed echi della cultura popolare in ›Die terte u. drucktechnisch betreute Landesbe- Ehre Deß Hertzogthums Crain‹ di J. W. V. Florenz schreibung, mit der es V. gelang, die Tradi- 2008. – Irmgard Palladino unter Mitarb. v. Maria tion der gelehrt-enzyklopäd. Realienkunde Bidovec: J. W. v. V. (1641–1693). Protagonist der fortzuführen u. eine enorme Fülle aus Wissenschaftsrevolution der Frühen Neuzeit. Leschriftl. Überlieferung u. eigener Beobach- ben, Werk u. Nachlass. Wien 2008. – DBE. Joachim Telle tung geschöpfter Informationen über Krain zu vereinen. Ihr Reichtum an landes-, wirtschafts-, kriegs-, literar-, sprach-, sitten- u. Vanderbeke, Birgit, * 8.8.1956 Dahme/ naturkundl. Informationen sichert der dickBrandenburg. – Roman- u. Sachbuchleibigen Ehre Crains den Rang eines kulturautorin. geschichtlich bedeutenden Quellenwerks, ihrem Urheber den Ruf eines »krainischen 1961, kurz vor dem Mauerbau, siedelte V. mit Herodot« (Belsazar Hacquet, 1784); ihr ihrer Familie in die BR Deutschland über, was »einfacher, ausdrucksstarker, klarer« u. sie auch im Hinblick auf ihr Werk nachhaltig »bildhafter Stil« rückt V. in den Kreis baro- prägte: »Ich war praktisch von eben auf jetzt cker Schriftsteller »von Format« (Hornung). fremd, erst im Lager, dann in der Umgebung, Weitere Werke: Topographia ducatus Carnio- wo ich aufgewachsen bin. Ich bin ganz lange liae modernae. Wagensperg/Laibach 1679. Ausw. ein Ostkind gewesen.« Diese Erfahrung habe u. d. T. Topographia arcium Lambergianarum. die Niederschrift ihres bislang bekanntesten Wagensperg 1679. Nachdr. Laibach/Mchn. 1970. – Textes Das Muschelessen (Bln. 1990) ausgelöst, Topographia archiducatus Carinthiae modernae. mit der sie im Aug. 1989 begann, als sie sich Wagensperg/Laibach 1681. Ausw. u. d. T. Topogra- »klarmachte, daß all diese Leute, die vom phia Carinthiae Salisburgensis. Wagensperg 1681. Osten in den Westen kommen, ›Ostmen– Opus insignium armorumque (Wappenbuch, schen‹ sein werden«. Im Mittelpunkt der Erentstanden 1687/88). Faks. u. Kommentarbd. Laizählung steht denn auch eine aus der DDR bach 1993. – Topographia [...] Carinthiae [...] completa. Nürnb. 1688. Hg. Janez Krajec. Novo stammende Familie, die auf die Rückkehr des mesto 1882. Faks. Ffm./Klagenf. 1928. Klagenf. Vaters wartet, um bei einem Muschelessen 1975. – V.s medizinisch-naturkundl. Schriften dessen erhoffte Beförderung zu feiern. Aller›Lumen naturae‹ u. ›Flos physico-mathematicus‹ dings kommt er nicht zum erwarteten Zeitgelangten nicht in Druck. punkt nach Hause; stattdessen wird die Literatur: Peter v. Radics: J. W. Frhr. v. V. In: scheinbar intakte Idylle in einem atembeADB. – Ders.: J. W. F. v. V. Laibach 1910 (mit raubenden Tempo erzählerisch demontiert: Briefabdr.). – Branko Reisp: Kranjski polihistor J. Der abwesende Vater entpuppt sich als TyV. v. V. Ebd. 1983 (mit Textproben). – Pyritz 2, rann, der mit roher Gewalt seine Frau u. die S. 696–698. – Herwig Hornung: J. W. v. V. In: Ze- Kinder beherrscht u. seinen kleinbürgerl. man 2 (1986), S. 1087–1091. – B. Reisp: KorˇesLebenszielen unterwirft. Die Familie begehrt pondenca J. V. V. z Royal Society. Laibach 1987 (mit nun aber gegen ihn, der vermutlich einem Briefabdr.). – Ders. u. a.: Janez Vajkard V. Laibach 1989 (Ausstellungskat.). – Bozˇena Kukolja u. Vla- Autounfall zum Opfer gefallen ist, auf u. erdimir Magic´ : Bibliotheca Valvasoriana. Katalog probt die vielleicht endgültige Emanzipatiknjizˇnice Janeza Vajkarda Valvasorja. Laibach/Za- on. Mit Muschelessen gelang V. mit wenigen greb 1995. – Vladimir Magic´ : Die Bibl. V.s. In: Strichen ein Sittengemälde der BundesrepuGutenberg Jb. 72 (1997), S. 331–341. – Wolfgang blik in den 1960er Jahren. Der Erzählung war

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ein großer Erfolg beschieden: 1990 wurde V. 2006. – Fehlende Teile. Bln. 1992 (E.). – Gut genug. dafür mit dem Bachmann-Preis ausgezeich- Hbg. 1993 (E.). – Ich will meinen Mord. Bln. 1995 net, was allerdings in der öffentl. Wahrneh- (E.). – Friedl. Zeiten. Hbg. 1996 (E.). – Alberta mung zunächst dadurch überschattet wurde, empfängt einen Liebhaber. Bln. 1997. – abgehängt. Ffm. 2001 (E.). – Gebrauchsanweisung für Süddass zwei aussichtsreiche Konkurrenten wefrankreich. Mchn./Zürich 2002 (Sachbuch). – gen eines angebl. Regelverstoßes aus dem Schmeckt’s? Kochen ohne Tabu. Ffm. 2004 (SachWettbewerb genommen worden waren. V.s buch). – Sweet Sixteen. Ffm. 2005. – Die sonderbare Text setzte sich dennoch durch u. avancierte Karriere der Frau Choi. Ffm. 2007. zum ›Kultbuch‹, das bis heute beliebte Literatur: Richard Wagner (Hg.): ›Ich hatte ein Schullektüre geblieben ist. Verantwortlich bißchen Kraft drüber‹. Zum Werk v. B. V. Ffm. dafür war auch der sich entwickelnde »V.- 2001. – Jürgen Grambow: Lachen am Abgrund. Sound« (T. v. Wallmoden), der sich besonders Gespräch mit B. V. In: NDL 50 (2002), H. 6, durch »stilisierte Naivität, kalkulierte Lako- S. 67–81. – Meike Feßmann: B. V. In: LGL. – Thedel nie, Parataxe, sich wiederholende Motive« (K. v. Wallmoden u. Katrin Blumenkamp: B. V. In: KLG. Blumenkamp) auszeichnet. Sascha Feuchert V. legte in rascher Folge weitere Texte vor, die sich – bei aller Leichtigkeit des Tons – fast Varenius, Bernhardus, * 1622 Hitzacker, ausnahmslos auch gesellschaftskritisch ver† 1650 (?) Amsterdam (?). – Geograf. stehen lassen u. dabei nicht nur die patriarchale Gesellschaft der frühen BR Deutschland Der Sohn des Pastors u. Braunschweiger oder den sich zur Raserei in der New Eco- Hofpredigers Heinrich Varenius (1595–1636) nomy steigernden Kapitalismus in den Blick u. Bruder des Rostocker Theologen August nehmen, sondern ebenso die »linken« Gene- Varenius (1620–1684) studierte in Helmstedt rationen in ihrer Spießigkeit entlarven. Im- (1636), am akadem. Gymnasium in Hamburg mer mehr verdichtet sich dabei in V.s Werk (1640) unter J. Jungius, dann in Königsberg ein Gegenbild, das sie in verschiedenen Va- (1643) u. Leiden, wo er 1649 den mediziniriationen durchspielt: die Entsagung von der schen Doktorgrad erwarb. Darnach war er modernen Lebenswelt u. der Ausstieg in ein wohl als Hauslehrer oder als Verlagsmitar(ländliches, individuelles) Idyll, in dem der beiter tätig. Bemühungen um eine akadem. Mensch wieder zum Selbstversorger wird Anstellung scheiterten. Mit seinen Hambur(etwa in Ich sehe was, was Du nicht siehst. Bln. ger Lehrern Jungius u. Johann Adolf Tassius 1999, oder in Geld oder Leben. Ffm. 2003). Be- verband ihn ein sporad., doch vertraul. sonders deutlich tritt dies in V.s Roman Das Briefwechsel. Sein Erstlingswerk Descriptio lässt sich ändern (Mchn./Zürich 2011) hervor, Regni Iaponiae (Amsterd. 1649 u. ö.; dt. von in dem die namenlose Ich-Erzählerin aus Ernst Christian Volkmann. Unter Mitarb. von gutem Hause von ihrem Leben mit Adam Lydia Brüll u. kommentiert von Martin berichtet: Als Sohn einer kinderreichen Fa- Schwind u. Horst Hammitzsch. Darmst. milie war er im Gegensatz zu seiner Frau 1974. Mchn. 2000) beschloss eine seit 1626 immer schon »draußen« u. gehörte zu jenen bei Elzevir erscheinende Reihe wissenschaftl. Menschen, die seine Schwiegereltern ver- Landeskunden u. ist die früheste, wenngleich ächtlich »diese Leute« zu nennen pflegen. kompilatorische Gesamtdarstellung Japans. Mit Adam, dem Optimisten u. Alleskönner, Mit der kurz darauf folgenden, völlig eigenan dessen Händen »der Dreck festgewachsen ständigen Geographia generalis (ebd. 1650 u. ö) war; das war mit Seife nicht abzukriegen« schuf V. die systemat. Grundlage der moder(S. 10), u. den gemeinsamen Kindern gelingt nen geografischen Wissenschaft. Das Werk der Erzählerin schließlich der Aufbruch in erlebte bis ins 18. Jh. (u. a. in einer Bearbeitung durch Newton, Cambridge 1672) zahlein radikal alternatives Leben. Weitere Werke: (Hg.): ›Fresse schon meine reiche lat., engl., frz., holländ. u. russ. AusFingerspitzen wie Spargelköpfe‹. Bettel- u. Brand- gaben, wurde in Deutschland aber erst durch briefe. Ffm. 1990. Überarb. u. erw. Neuausg. Alexander von Humboldt u. die neuere Foru. d. T. ›Ich bin ganz, ganz tot, in vier Wochen‹. Bln. schung in seiner wahren Bedeutung erkannt.

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V. unterschied klar die allgemeine von der speziellen Geografie. Erstere begriff er als Erfahrungswissenschaft von der Oberflächengestalt der Erde, die neben der mathematisch-astronomischen Beschreibung der Erde als Himmelskörper auch die Besonderheiten der phys. Geografie einschließlich der Ozeanografie, Hydrografie u. Klimatologie zu behandeln habe. In der speziellen Geografie legte V. den Grund zu Humanökologie u. vergleichender Länderkunde. Fortführen konnte V. diese Ansätze nicht: Mit dem Druck der Geographia verlieren sich V.’ Spuren. Weitere Werke: Tractatus de Iaponiorum religione. Amsterd. 1649. – Neun Briefe an J. Jungius verzeichet in Nilüfer Krüger: Supellex Epistolica Uffenbachii et Wolfiorum. 2. Teilbd. Hbg. 1979, S. 1055, vgl. Avé-Lallement (s. u.). Literatur: Friedrich Ratzel: B. V. In: ADB. – Robert C. B. Avé-Lallement: Des Dr. Joachim Jungius aus Lübeck Biefw. mit seinen Schülern u. Freunden. Lübeck 1863, passim. – Siegmund Günther: V. Lpz. 1905. – Gottfried Lange: Das Werk des V. Eine krit. Gesamtbibliogr. In: Erdkunde 15 (1961), S. 1–18. – Rainer Kastrop: Ideen über die Geographie [...] bei V. [...]. Diss. Saarbr. 1972. – Martin Schwind: Die wissenschaftsgeschichtl. Stellung der ›Descriptio Regni Japonia‹. In: Übers., s.o., S. XVII–XXXIX. – B. V. (1622–1650). Der Beginn der modernen Geographie. Begleitbd. zur Ausstellung. Bearb. Wolfgang Griep. Eutin 2001. 32009. – Margret Schuchard (Hg.): B. V. (1622–1650). Leiden 2007. Christoph Meinel / Wilhelm Kühlmann

Varnhagen von Ense, Karl August, * 21.2.1785 Düsseldorf, † 10.10.1858 Berlin; Grabstätte: ebd., Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde. – Kritiker, Historiker, Lyriker, Journalist, Herausgeber; Diplomat. Kindheit u. Jugend des nicht aus dem ritterbürtigen Familienzweig stammenden V. verliefen unruhig. Die Ehe der Eltern war konfessionell gespalten. V. wurde in der kath. Konfession des Vaters erzogen, seine Schwester Rosa Maria (später verh. Assing) in der protestantischen ihrer Mutter. Die ersten Lebensjahre verbrachte V. in der Stadt seines Vaters, Düsseldorf, 1790 zog die Familie in

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die Heimatstadt der Mutter nach Straßburg. 1792 trennten sich Vater u. Sohn von Mutter u. Schwester u. übersiedelten zunächst nach Aachen, dann wieder nach Düsseldorf. Hier hatte V. ab 1793 erstmals öffentl. Schulunterricht, zeitweise als Pensionär in Herdt, später unterrichtete ihn sein Vater allein. 1794 zog dieser mit ihm nach Hamburg, wohin 1796 Mutter u. Schwester nachfolgten. Als der Vater 1799 überraschend starb, war V. bereits entschlossen, den väterl. Arztberuf zu ergreifen. Auf Empfehlung Prinz Louis Ferdinands von Preußen wurde er in Berlin in die Medizinisch-chirurgische Pepinière aufgenommen. 1803 trat er mit Protest gegen die ihm hier vermittelte rationalistische Aufklärungsphilosophie wieder aus u. nahm eine Hauslehrerstelle in der Familie des Fabrikanten Cohen an, die sich zu einem Zentrum literar. Lebens entwickelte, auch dank der wachsenden literar. Interessen V.s u. seines Freundes Wilhelm Neumann; mit ihm gründete er den »Nordsternbund« (Mitgl. auch Hitzig). Ab 1804 gab V. zusammen mit Chamisso drei Jahrgänge des »grünen« Musenalmanachs (Bln.) heraus u. begann in den »Nordischen Miszellen« journalistische Arbeiten zu veröffentlichen. Im selben Jahr kehrte er nach Hamburg zurück u. wurde dort Hauslehrer in der Familie des Bankiers Jakob Hertz. In dessen Frau Fanny fand V. eine aufopferungsbereite Freundin. Im Frühling 1806 setzte er seine medizinischen Studien in Halle fort, beschäftigte sich jedoch mehr mit Griechisch u. Philosophie unter dem Einfluss von Wolf u. Steffens. Preußens Niederlage u. Besetzung durch die Franzosen im Herbst 1806 erzwangen den Abbruch des Studiums. 1807 begann V. gemeinsam mit Neumann mit der Ausarbeitung eines Romans in der Nachfolge von Goethes Wilhelm Meister: Die Versuche und Hindernisse Karls (Bln./Lpz. 1808). In Berlin hörte er Fichtes Reden an die deutsche Nation u. lernte seine spätere Frau Rahel Robert, ehemals Levin, näher kennen. Um sein unterbrochenes Medizinstudium fortsetzen zu können, wechselte V. im Herbst 1808 an die Universität Tübingen, wo er mit Kerner, Uhland u. mit dem Verleger Cotta bekannt wurde. Im Frühling 1809 beschloss er nach

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der ersten spektakulären Niederlage Napoleons, in den Dienst der siegreichen österr. Armee unter der Führung des Erzherzogs Karl zu treten. In der Schlacht von Wagram am 5./ 6.7.1809 wurde V. durch einen Schuss »in die Lende« (Clemens Brentano an Görres) schwer verwundet; nach seiner Rekonvaleszenz verkehrte er in Wien in den Salons der Familien Arnstein-Pereira u. bei Karoline Pichler. Von Wien aus nahm V. erneut zu Cotta Kontakt auf u. war von da an ein regelmäßiger Mitarbeiter seiner Presseorgane, zunächst beim »Morgenblatt für gebildete Stände«. Als Sekretär des Fürsten Bentheim reiste er nach Prag u. nach Westfalen u. nahm 1810 in Paris an einer Audienz Napoleons teil. Er lernte in Prag u. Teplitz u. a. Beethoven, Brentano, Stein u. Metternich kennen u. trat auch mit Goethe wenigstens in eine briefl. Verbindung. Als Frucht dieser Bemühungen erschienen 1812 im »Morgenblatt« Bruchstücke Ueber Goethe aus V.s Briefwechsel mit Rahel. Im Winter 1812/13 bereitete V. seine Eingliederung in die russ. Armee vor, nachdem Napoleon in Russland gescheitert war. Er trat im März 1813 in Hamburg in den Stab des russ. Obersten Tettenborn ein u. nahm an der Eroberung Bremens, dem Winterfeldzug gegen Dänemark u. den Kämpfen in Nordfrankreich teil. Am 27.9.1814 heiratete er in Berlin Rahel u. begleitete anschließend in Vorbereitung seines Übertritts in den preuß. Staatsdienst den Fürsten Hardenberg zum Wiener Kongress. Als Chronist seiner Zeit präsentierte sich V. 1814 mit der anonym erschienenen Geschichte der Hamburgischen Begebenheiten während des Frühjahrs 1813 (London, recte Bremen) u. – unter seinem vollen Namen – mit der Geschichte der Kriegzüge des Generals Tettenborn während der Jahre 1813 und 1814 (Friedrichstadt, recte Stgt./Tüb.). Eine Geschichte des Wiener Kongresses blieb unausgeführt; dagegen erschien ebenfalls noch 1814 die anonyme Flugschrift Deutsche Ansicht über die Vereinigung Sachsens mit Preußen (Lpz.), in der V. die preuß. Territorialansprüche auf sächs. Gebiet verteidigte. Während des Zweiten Pariser Friedens 1815 war V. Pressechef bei Hardenberg u. kommentierte die Verhandlungen regel-

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mäßig in offiziösen Artikeln im Hamburger »Deutschen Beobachter« u. in der »Allgemeinen Zeitung«. Ebenfalls 1815 erschienen V.s Deutsche Novellen (Stgt.) u. Vermischte Gedichte (Ffm.). 1816 wurde V. preuß. Geschäftsträger, 1817 Minister-Resident am badischen Hof in Karlsruhe. Durch seine Unterstützung preuß. Interessen in Süddeutschland u. seine Verbindungen zu den führenden Repräsentanten der badischen Verfassungsbewegung machte er sich schon bald beim Adel u. bei den restaurativen Politikern unbeliebt. Noch vor Beginn der Karlsbader Konferenz gegen die Reformbewegung unter Professoren u. Studenten wurde V. im Juli 1819 auf persönl. Intervention Metternichs abberufen u. in Berlin zur Disposition gestellt. Mit V.s Rückkehr nach Berlin begann 1819 ein äußerlich ruhigerer Lebensabschnitt. Zusammen mit Rahel gestaltete er ein geistiges Zentrum öffentl. Goethe-Verehrung, deren äußeres Zeichen 1823 die von V. herausgegebene Sammlung Goethe in den Zeugnissen der Mitlebenden (Bln.) wurde. Seine Biographischen Denkmale (5 Bde., ebd. 1824–30) enthalten unterschiedlich umfangreiche Lebensdarstellungen u. a. von Dichtern wie Fleming, Canitz u. Besser, aber auch von so unterschiedl. Gestalten wie Blücher u. Zinzendorf; außerhalb dieser Reihe schlossen sich weitere Biografien als Einzelpublikationen an. 1826 wurde V. Gründungsmitgl. der Hegelschen Sozietät für wissenschaftl. Kritik, an deren Jahrbüchern er in den ersten Jahren regelmäßig mitwirkte. Als Rezensent war er bereits während seiner Studienzeit hervorgetreten u. setzte sich jetzt als Kritiker für Arnim, Heine u. Ranke ein. Um 1830 begann er seine autobiogr. Aufzeichnungen u. Korrespondenzen, aber auch seine journalistischen Arbeiten zu ordnen. 1833 erschienen seine gesammelten Rezensionen Zur Geschichtschreibung und Litteratur (Hbg.), 1834, nach Rahels Tod, die dreibändige Nachlassedition Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde (Bln.), in dem erstmals Abschnitte seiner Denkwürdigkeiten öffentlich bekannt wurden. Die Jahre 1834/35 standen für V. erneut im Zeichen polit. Verdächtigung, nachdem er für das Junge Deutschland Partei ergriffen hatte

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u. in einer direkten Auseinandersetzung mit Hofgesellschaft hin anlegte, wirkte sich auf seinem unmittelbaren polit. Gegenspieler V.s Nachruhm ungünstig aus. Die deutschMetternich sogar als Gutachter von diesem zu nationale Kritik von Haym u. Treitschke warf einer Denkschrift aufgefordert wurde. 1837 ihm Nestbeschmutzung vor, nicht ohne anbegannen seine Denkwürdigkeiten in der ersten tijüd. Polemik gegen den Ehemann der Rahel Folge abschnittweise u. später bandweise ge- u. Herausgeber ihrer Briefe. In pietätvoller sammelt zu erscheinen (Mannh., später Lpz.; Nachfolge V.s bewegte sich dagegen auf dem die Abschlussbände 8 u. 9 postum 1859). Das Feld preuß. Lokalgeschichte in essayistischer Vorbild Goethes als Verfasser autobiogr. Form Fontane in seinen Wanderungen durch die Schriften wirkt auch in den sich seit Mitte der Mark Brandenburg. 1830er Jahre vermehrenden TagebuchnotiAusgaben: Literaturkritiken. Hg. Klaus F. Gille. zen nach. Tüb. 1977. – Komm.e zum Zeitgeschehen. PubliV.s Entwicklung im Zeichen des Vormärz zistik. Briefe. Dokumente 1813–58. Hg. Werner u. der Revolution von 1848 gestaltete sich Greiling. Lpz. 1984. – Werke in 5 Bdn. Hg. Konrad immer radikaler. Seine Enttäuschung über Feilchenfeldt. Ffm. 1987–94. – K. A. V. v. E., die Erfolge von Restauration u. Reaktion Heinrich Düntzer: ›durch Neigung und Eifer dem Goethe’schen Freundeskreis angehören‹. Briefw. machten ihn zum Streiter für sozialreforme1842–1858. Hg. Bernd Tilp. 2 Bde., Ffm. 2003. – V. rische Ideen, zu denen er Ansätze bereits v. E. u. Cotta: Briefw. 1810–1848. Textkritisch hg. beim späten Goethe u. vor allem in der Lehre K. Feilchenfeldt, Bernhard Fischer u. Dietmar Prades Saint-Simonismus festgestellt hatte. 1848 vida. 2 Bde., Stgt. 2006. – Aus dem Nachlasse V.s v. engagierte er sich noch einmal kurz mit der E. Blätter aus der preuß. Gesch. 5 Bde. Mit einer Flugschrift Schlichter Vortrag an die Deutschen Einl. hg. v. Nikolaus Gatter. Nachdr. der Ausg. Lpz. über die Aufgabe des Tages (Bln.). Seinen Le- 1868/69. Hildesh. 2008. bensabend beschloss V. in der geselligen ObLiteratur: K. Feilchenfeldt: V. v. E. als Histohut seiner Nichte Ludmilla Assing, die sich riker. Amsterd. 1970. – Johannes Sembritzki: K. A. immer mehr zur Mitarbeiterin u. schließlich V. v. E. als Zeuge des zeitgenöss. Theaters in Bln. sogar zur – wenn auch umstrittenen – Ver- (1819–58). Diss. Bln. 1970. – Terry H. Pickett: The walterin seines Nachlasses entwickelte. Bet- Unseasonable Democrat: K. A. V. v. E. Bonn 1985. – Cornelia Fuhrmann: V. v. E.s Denkwürdigkeiten tine von Arnim u. Alexander von Humboldt als ›Dichtung und Wahrheit‹. Ffm. u. a. 1992. – waren V.s vertrauteste Gesprächspartner der Ursula Wiedenmann: K. A. V. v. E. Ein Unbequeletzten Lebensjahre; unter den Jüngeren, für mer in der Biedermeierzeit. Stgt. u. a. 1994. – Nidie er sich immer noch als literaturkrit. Au- kolaus Gatter: ›Gift, geradezu Gift für das unwistorität einzusetzen bereit war, befanden sich sende Publicum‹. Der diarist. Nachlaß v. K. A. V. v. Hettner u. Keller. E. u. die Polemik gegen Ludmilla Assings EditioV. ist als poetischer Autor ohne Nachwir- nen (1860–1880). Bielef. 1996. – Almanach der V.kung geblieben. Seine lyr. u. erzählerischen Gesellsch. 1 f. (2000 f.). Konrad Feilchenfeldt Werke sind, verglichen mit seinen Lebenserinnerungen u. den Tagebüchern (14 Bde., Lpz. Varnhagen von Ense, Rahel (Antonie 1861–70. Register: Bln. 1905), von geringeFriederike), geb. Levin, 1810 umbenannt rem Umfang u. Gewicht. Das frz. Vorbild der in Rahel Robert, * 19.5.1771 Berlin, Denkwürdigkeiten, aber auch seiner essayisti† 17.3.1833 Berlin; Grabstätte: ebd., schen Porträts kennzeichnet V.s Nachruhm in Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde. – der dt. Literaturgeschichte. Seine autobiogr. Autorin literarischer Briefe u. TagebüTexte werden als Quelle, in der Regel für cher, Kritikerin. Klatschgeschichten, zitiert u. gelegentlich auch systematisch ausgewertet. Als ältestes Kind eines vermögenden jüd. Die Tatsache, dass bei der erstmaligen Kaufmanns u. Bankiers erlebte V. eine behüVeröffentlichung der Tagebuchnotizen die tete Kindheit u. Jugend. Die autodidaktische Herausgeberin zusammen mit Ferdinand Beschäftigung mit dt. u. vor allem frz. LiteLassalle ihre Textauswahl auf eine gezielte ratur vermittelte ihr früh ein hoch entwiDiskreditierung der Berliner u. Potsdamer ckeltes Bewusstsein von ihrer eigenen krit.

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Begabung sowohl im Bereich der Dichtung als auch des Theaters u. der Musik u. später der Politik. Nach dem Tod des Vaters (1790) kümmerte sie sich mit ihrer Mutter um die Erziehung jüngerer Geschwister. Durch ihre intellektuelle Ausstrahlung gelang es V., in ihrer wenn auch bescheidenen Wohnung ein Zentrum geselligen u. kulturellen Austauschs zu gestalten, an dem in Berlin Angehörige aus allen Ständen, auch Adlige, Militärs u. Künstler, teilnehmen konnten, ohne dabei gegen die Etikette zu verstoßen. In ihrem sog. Ersten Salon empfing sie von den 1790er Jahren an Prinz Louis Ferdinand von Preußen, Friedrich Schlegel, Jean Paul, Brentano u. viele andere bedeutende Zeitgenossen. Die gedankl. Grundlage dieser Form von Lebensgestaltung formulierte 1799 Schleiermacher in seinem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. Zu diesem Geselligkeitsideal gehörte auch der schriftl. Dialog in Form des Briefwechsels. V.s erste Briefpartner waren der spätere Arzt u. Philosoph David Veit (1771–1814) u. Carl Gustav von Brinckmann. In diesen Jahren bestanden auch erste Liebesbeziehungen, in denen sie das Ideal einer die Standesunterschiede überwindenden Geselligkeit jedoch erfolglos zu verwirklichen hoffte. Ihr Verlöbnis mit dem Grafen Karl von Finckenstein scheiterte 1800 ebenso wie ihre Beziehung zum span. Gesandtschaftssekretär Don Raphael d’Urquijo 1804. Infolge des Zusammenbruchs u. der Besetzung Preußens durch die Franzosen im Herbst 1806 wurde V.s gesellschaftl. Lebensstil zunächst die wirtschaftl. Grundlage entzogen. Unter ihren damaligen Beziehungen verstärkte sich nunmehr der Einfluss ihrer Freundinnen, namentlich der ehemaligen Geliebten Louis Ferdinands, Pauline Wiesels, u. der Schriftstellerin Regine Frohberg (Rebecca Friedländer, 1783–1850). Unter ihren männl. Gesprächs- u. Briefpartnern traten 1808/1809 Karl August Varnhagen, ihr späterer Mann, u. Alexander von der Marwitz zu ihr in nähere Beziehung. Durch Karl August wurde V. auf die Bedeutung ihrer Brieftexte gezielt aufmerksam gemacht. Schon damals setzte im Freundeskreis ihrer jüngeren Verehrer ein kultartiges Interesse für ihre Lebensansichten u. Urteile ein, so dass ihre Briefe z.T. wie

Varnhagen von Ense

Zirkularschreiben Verbreitung fanden. Die folgenden Jahre der Trennung von Karl August, aber auch von Marwitz, waren die Voraussetzung eines um so intensiveren Dialogs in Briefen. 1812 trat sie mit einer Folge von Bruchstücken Ueber Goethe, die aus V.s Briefwechsel mit Karl August in Cottas »Morgenblatt« veröffentlicht wurden, erstmals als Autorin, wenn auch anonym, an eine literar. Öffentlichkeit, der sie von da an in zahlreichen weiteren, ebenfalls anonymen Zeitschriften- u. Zeitungsbeiträgen gegenwärtig blieb. Ihr weiterer Briefwechsel mit Karl August hielt auch während der militärischen Auseinandersetzungen mit Napoleon an; gelegentlich diente er auch der Weitergabe politisch bedeutsamer Informationen zwischen hochgestellten Persönlichkeiten des öffentl. Lebens, mit denen die V.s aufgrund ihrer weitreichenden persönl. Beziehungen in unmittelbarer Verbindung standen. V. verließ beim Eintritt Preußens in den Krieg gegen Napoleon Berlin u. zog sich nach Prag zurück, wo sie bei der Versorgung u. Verpflegung verwundeter Soldaten mitwirkte. Nach Kriegsende heiratete sie am 27.9.1814 Karl August Varnhagen, nachdem sie vier Tage zuvor, am 23.9.1814, getauft worden war. Sie besuchten gemeinsam den Wiener Kongress. 1816–1819 lebten sie im Großherzogtum Baden. V. blieb jedoch, obwohl Gattin eines akkreditierten Diplomaten, am badischen Hof eine Außenseiterin. Nach der Abberufung ihres Mannes kehrten sie nach Berlin zurück. V.s letzte Lebensjahre standen im Zeichen einer von ihnen beiden öffentlich verbreiteten Goethe-Verehrung. Gleichzeitig bereitete sie mit ihrem Mann die Herausgabe ihrer eigenen Briefe u. Aufzeichnungen vor, von denen inzwischen weitere Texte erschienen waren. Als V. starb, konnte ihr Mann sich bei der Herausgabe ihres Nachlasses bereits auf Vorarbeiten stützen. Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde (3 Bde., Bln.), noch in ihrem Todesjahr erschienen, dokumentiert den Ausschnitt eines Briefœuvres, das in seiner Konzentration auf die seel. Befindlichkeit einer Frau u. assimilierten jüd. Christin unmittelbaren Einblick in V.s Persönlichkeit u. Charakteranlage ge-

Vasovec

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währt. Dabei unterliegt der einzelne Brief Vasovec, Ernst, * 21.9.1917 Müglitz an der einer literar. Gestaltung, die im Rückgriff auf March/Mähren, † 14.12.1993 Wien. – Erv. a. zeitgenöss. Autoren u. in der Verarbei- zähler, Lyriker. tung ihrer Werke als Zitat einen theatral. V. kam als 14-Jähriger nach Wien u. war nach Gestus vermittelt. V.s Briefwerk ist ein Beleg Studium u. Militärdienst als Hauptschullehfür die gattungsgeschichtl. Verwandtschaft rer, v. a. in Hartberg/Steiermark, tätig. – V. zwischen Brief u. Drama. Ihre theaterkrit. veröffentlichte in der Nachkriegszeit zahlÄußerungen innerhalb der Briefe bilden eireiche Novellen u. Erzählbände (u. a. Der Weg nen eigenen Schwerpunkt u. wurden aushinab. Paderb. 1949. Das Unbegreifliche. Ebd. zugsweise auch in Form von Zeitungsartikeln 1953. Heimweg zu Agathe. Der verwunschene schon zu ihren Lebzeiten verbreitet u. beWeiher. Beide Wien/Stgt. 1953), die sich an achtet. Die Nachwirkung der Briefe V.s war Erzähler der Ersten Republik, u. a. an Ferdiv. a. bei den Vertretern des Jungen Deutschnand von Saar, anlehnen. V. publizierte u. a. land, von denen Heine u. Börne mit V. auch in der Anthologie Stimmen der Gegenwart; er persönlich bekannt geworden waren, beerhielt den Förderungspreis zum Österreiachtlich. Das im Jungen Deutschland propachischen Staatspreis (1953) u. den Andreasgierte Bild von der emanzipierten Frau fand Gryphius-Preis (1981). Seine materialreiche, in V.s Briefen u. Zeugnissen ein unmittelbalose zusammenhängende Romantrilogie Der res Vorbild, auf das sich die jungdt. Kritiker Stein des Sisyphos (Gütersloh 1969), Sodom oder nachdrücklich beriefen. Als Repräsentantin das Vorbestimmte und das Zugefügte (Mchn. der Frauenbewegung war die Briefschreibe1978) u. Vom Ende der Welt (ebd. 1981) verrin V. aber auch um 1900 populär u. verschränkt verschiedene histor. Ebenen. Der breitet. biblisch-apokalypt. Sodomstoff wird in Sodom Ausgaben: Ges. Werke. Hg. Konrad Feilchenmit den histor. Ereignissen in Österreich von feldt u. a. 10 Bde., Mchn. 1983. – Briefw. mit Pau1938 bis zu den 1970er Jahren verknüpft u. line Wiesel. Hg. Barbara Hahn. Mchn. 1997. – ›Ich will noch leben, wenn man’s liest‹. Journalistische Geschichte als ein Ineinandergreifen von Beiträge aus den Jahren 1812–1829. Hg. Lieselotte Vorbestimmung u. Fügung definiert. Der Kinskofer. Ffm. 2001. – Briefw. mit Ludwig Robert. letzte Teil ist ein Endzeitroman mit visionäHg. Consolina Vigliero. Mchn. 2001. – Familien- rem Ausblick auf eine neue Menschengenebriefe. Hg. Renata Buzzo Màrgari Barovero. Mchn. ration. 2009. Literatur: Hannah Arendt: R. V. Lebensgesch. einer dt. Jüdin aus der Romantik. Mchn. 1959. 7 1987. – Barbara Hahn u. Ursula Isselstein (Hg.): R. Levin V. Gött. 1987. – Heidi Thomann Tewarson: R. Levin V. Reinb. 1988. – B. Hahn (Hg.): ›Im Schlaf bin ich wacher‹. Die Träume der R. Levin V. Ffm. 1990. – Hermann Patsch: ›Als ob Spinoza sich wollte taufen lassen‹. Biographisches u. Rechtsgeschichtliches zu Taufe u. Trauung R. Levins. In: JbFDH 1991, S. 149–178. – U. Isselstein: Studien zu R. Levin V. Der Text aus meinem beleidigten Herzen. Torino 1993. – Claudia Christophersen: ›... es ist mit dem Leben etwas gemeint‹. Hannah Arendt über R. V. Königst./Ts. 2002 (mit einer Ed. des Briefw. zwischen Hannah Arendt u. Klaus Piper über R. V.). Konrad Feilchenfeldt

Weitere Werke: Der silberne Leuchter. Wien 1954 (L.). – Die Fahnenflucht. Ebd. 1958 (N.n). – Die göttl. Gelegenheit. Ebd. 1966 (N.n). – Über den Rand hinaus. Mchn. 1982 (E.en, N.n). – Der Turm u. a. E.en. Ebd. 1990. – Vor dem Fenster die Nacht. Graz/Wien/Köln 1991 (R.). Literatur: Friedrich Heer: Sodom in Wien u. andernorts. Zum Roman ›Sodom‹ v. E. V. In: LuK 14 (1979), H. 133, S. 168–173. – Michael Mitchell: The Tradition of the ›Big‹ Novel in Austria [...]. In: MAL 23 (1990), H. 3/4, S. 1–15. – Krzysztof Lipin´ski: E. V. Ein steir. Grenzgänger. In: Grenzgänge u. Grenzgänger in der österr. Lit. Hg. Maria Kl/an´ska. Kraków 2002, S. 223–230. Christine Schmidjell / Red.

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Vegesack, Siegfried von, * 20.3.1888 Gut Blumbergshof bei Valmiera (Wolmar)/ Livland, † 26.1.1974 Burg Weißenstein bei Regen. – Romancier, Erzähler, Übersetzer. Nach dem Abitur in Riga 1907 hatte V. in Dorpat das Studium der Geschichtswissenschaften aufgenommen, war der schlagenden Verbindung Livonia beigetreten u. hatte bei einer Mensur ein Auge eingebüßt. Doch gehörte er nie zu jenen Burschenschaftern, die dem Nationalsozialismus den Weg ebneten: Das Verlangen der Reichsschrifttumskammer nach einer schriftl. Erklärung, »stets für die Deutsche Dichtung im Sinne der Nationalen Regierung« einzutreten, lehnte er ab; schon 1920 war er in der »Weltbühne« gegen antisemitische Tendenzen vorgegangen, u. als die NS-Zeitschrift »Wille zum Reich« 1937 von ihm einen Widerruf verlangte, weigerte er sich. Dabei bedeutete »deutsch« zu sein für V., der als Balte bis 1918 die russ. Staatsbürgerschaft besessen hatte, keine Selbstverständlichkeit. Die sozialen u. ethn. Spannungen, die sich im Baltikum aus dem Verhältnis zwischen herrschendem Adel u. unterdrücktem Volk sowie aus der Abhängigkeit des dt. Adels von der russ. Regierung ergeben hatten, beherrschen die Baltische Tragödie (Bln. 1936), die er zum Thema seines Erzählwerks wählte. Er beschrieb darin den Untergang einer Kultur, die V. ungeachtet der Problematik des Kolonialismus geliebt hatte. Blumbergshof (1933), der erste Teil seiner Trilogie, schildert auf der einen Seite das Herrenhaus u. die »Herren«, eingeschlossen die »Jungherren«, zu denen er selbst gehörte, u. auf der anderen das »Gesinde«, die abhängigen Leute. Der »Großherr«, der Vater, regiert seinen Hof wie ein Fürst: »Einmal hatte Aurel gesehen, wie zwei uralte Bäuerchen vor dem Vater auf der Veranda in die Knie gefallen, auf den Knien bis zu ihm gerutscht waren und kniend seine Hand küssten. Der Vater war wirklich fast wie der liebe Gott und auch wie Gott oft lange unsichtbar.« Mit den Analytikern der Zeit u. den sozialen Verhältnissen kam V. kaum in Berührung. Die polit. Entwicklung in Deutschland blieb ihm ebenso unbegreiflich

Vegesack

wie die Nachrichten über die lett., estn., dann russ. Revolutionen 1905 bis 1907: »Das Reich ist in Aufruhr. Aber in Blumbergshof [...] ist es noch ruhig. Wenn der Postbote nicht jeden Mittwoch und Sonnabend mit den Zeitungen käme, wüsste man gar nicht, was alles da draußen geschieht. Und es geschieht Unglaubliches«, heißt es im zweiten Band der Trilogie mit dem problemat. Titel Herren ohne Heer (1934). Das Deutschtum im Baltikum wird gewaltsam beseitigt; den Überlebenden bleibt die Wahl zwischen Russifizierung oder Übersiedlung nach Deutschland. V. entschied sich für Deutschland, wo er sich nichts anderes wünschte »als ein Stückchen Erde, nicht mehr, als man selbst mit zwei Händen bebauen kann«. Er fand es rund um den Weißensteiner Burgkasten. Der »Turm« wurde ihm zur neuen Heimat, zur lebenslangen Wirkungsstätte, die ihm das Herrenhaus Blumbergshof ersetzen musste. 1936–1938 u. erneut 1959 u. 1960 reiste V. nach Südamerika, wo er auf Menschen traf, die er dort nicht vermutet hatte: auf Wolgadeutsche schwäb. Abkunft, die am Rio Paraná eine neue Heimat gefunden hatten. Zurückgekehrt, veröffentlichte V. sein Südamerikanisches Mosaik (Mchn. 1962) u. den Roman Die Überfahrt (ebd. 1967), Dokumente der Heimat- u. Identitätssuche u. wie Jaschka und Janne. Baltische Erzählungen (ebd. 1965) zgl. einfühlsame Reisebücher. Auf Burg Weißenstein, wo er im 31. Lebensjahr sein der Natur u. der Verinnerlichung zugewandtes Leben begann, wurde V. zum scharf beobachtenden Volkskundler, der das Leben der Menschen seiner Umwelt beschreibt, ihre Armut u. ihren harten Alltag, ihre Bräuche, Sagen u. Legenden, u. er entwickelte sich darüber zum meisterl. Erzähler. Niemals wurde er laut oder pathetisch; ein feiner Humor überglänzt nicht nur viele seiner Erinnerungen, sondern führte auch zu humoristischen Veröffentlichungen, unter denen das Tierbuch Spitzpudeldachs (Bln. 1936) u. Schnüllermann (Mchn. 1953), ein Jedermanns-Buch, herausragen. Menschenschicksale interessierten ihn jedoch am meisten, u. es gelang ihm, sein eigenes Geschick mit den Schicksalen der Menschen seiner Umgebung zusammenzusehen u. zu verweben.

Veghe Weitere Werke: Die kleine Welt vom Turm aus gesehen. Verse. Bln. 1925. – Liebe am laufenden Band. Ebd. 1929 (R.). – Das fressende Haus. Ebd. 1932. – Totentanz in Livland. Ebd. 1935 (R., 3. Tl. der Baltischen Tragödie). – Meerfeuer. Ein Sommer auf Rönno. Ebd. 1938 (R.). – Unter fremden Sternen. Eine Reise nach Südamerika. Bremen 1938. – Das Kritzelbuch. Gesch.n u. Gedichte. Ebd. 1939. – Aufruhr in Quebrada. Eine Erzählung aus Argentinien. Bln. 1940. – Eine dunkle Gesch. Eine Erzählung aus Chile. Bremen 1942. – Der Lebensstrom. Ebd. 1943 (L.). – Die kleine Hausapotheke. Gesch.n u. Gedichte. Hbg. 1944. – Soldaten hinterm Pflug. Ein Erlebnisber. aus dem Osten. Bln. 1944. – Das ewige Gericht. Eine Dichtung. BadenBaden 1947. – Der Pfarrer im Urwald. Eine Erzählung aus Brasilien. Ebd. 1947. – Im Land der Pygmäen. Tüb. 1953. – Der letzte Akt. Heilbr. 1957 (R., Forts. der Baltischen Tragödie). – Der Pastoratshase. Altlivländ. Idyllen. Bln. 1957. 171983. – Vorfahren u. Nachkommen. Aufzeichnungen aus einer altlivländ. Brieflade 1667–1887. Ebd. 1960. 41981. – Als Dolmetscher im Osten. Aufzeichnungen aus Rußland. Hann. 1965. – Die Welt war voller Tanten. Heilbr. 1970. 111987. – Briefe. 1914–1971. Hg. Marianne Hagengruber. Grafenau 1988 (mit Kurzbiogr. u. Bibliogr.). – Übersetzungen: Nicolaj Gogol: Die Nase u. a. Gesch.n. Mchn. 1921. – Ders.: Der Njewski-Prospekt. Potsdam 1948. – Nicolaj Leskov: Lady Macbeth v. Mzensk. Bln. 1921. – Ders.: Der Mensch im Schilderhaus u. a. Gesch.n. Ebd. 1922. – Vladimir Nabokov: König, Dame, Bube. Ebd. 1930. – Iwan Turgenjew: Drei E.en. Mchn. 1925. – Ders.: Erste Liebe. Stgt. 1927. Literatur: Franz Baumer: S. v. V. Heimat im Grenzenlosen. Heilbr. 1974. – Zu Gast im Turm. S. v. V. zum 100. Geburtstag. Zusammengestellt v. Marianne Hagengruber. Grafenau 1988. – DietzRüdiger Moser: Auf der Suche nach Heimat u. Identität. Zum 100. Geburtstag S. v. V.s. In: Lit. in Bayern 12 (1988), S. 46–51. – Michael Garleff: Verlorene Welt u. geistiges Erbe. Geschichtsdeutung deutschbalt. Schriftsteller. S. v. V. u. Gertrud v. den Brincken. In: Unerkannt u. (un)bekannt. Dt. Lit. in Mittel- u. Osteuropa. Hg. Carola L. Gottzmann. Tüb. 1991, S. 299–322. – C. L. Gottzmann: S. v. V. Die balt. Tragödie in Aurel v. Heidekamp. In: Dies.: Studien zu Forschungsproblemen der dt. Lit. in Mittel- u. Osteuropa. Ffm. u. a. 1998, S. 185–204. – Boris Röhrl: Die revidierte Moderne. S. v. V. – Das gescheiterte Experiment einer ›neuen Heimatliteratur‹ im Dritten Reich. In: Die totalitäre Erfahrung. Dt. Lit. u. Drittes Reich. Hg. Frank-Lothar Kroll. Bln. 2003, S. 75–99. – Günter Scholdt: S. v. V. Ein Deutschbalte im Dritten Reich. In: Europ. Di-

744 mensionen deutschbalt. Lit. Hg. F.-L. Kroll. Ebd. 2005, S. 93–132. Dietz-Rüdiger Moser / Red.

Veghe, Johannes, * um 1430 Münster, † 21.9.1504. – Geistlicher Schriftsteller. V. trat früh in das Münstersche Fraterhaus »Zum Springborn« ein; als Fraterherr studierte er in Köln (Matrikeleintrag am 28.10.1450: »Joh[annes]. ten Loen al[ias]. Veghe, cl[ericus]. Mon[asteriensis].«). Seit 1470 ordnete er das neu entstehende Fraterhaus in Rostock; 1475 wurde er in Münster Rektor. Infolge seiner schwachen Gesundheit wechselte er 1481 ins Schwesternhaus Münster-Niesing über. V. ist einer der eindrucksvollsten Schriftsteller der westfäl. Devotio moderna. Nicht alle seiner anonym überlieferten Traktate haben sich erhalten. Während der Täuferunruhen retteten die Niesink-Schwestern die Handschriften vor dem Untergang. Die ältesten sind Die gheistlike jagd u. Marientroest. Das bedeutendste Buch, Wyngaerden der sele, schrieb Franz Jostes V. 1883 zu (die jüngere Forschung hat die Zuschreibungen als irrig eingestuft, vgl. dazu Schmidtke). Wyngaerden der sele stammt nach Ansicht der älteren Forschung aus der Blütezeit des Humanismus in Münster u. erinnert an Ruysbroeks Zierde der geistlichen Hochzeit. Peters suchte jüngst zu zeigen, dass der in zwei Handschriften (SB Berlin, Ms. germ. fol. 549, u. NordrheinWestfäl. StA. Münster, Altertumsverein Münster, Mscr. 55) überlieferte Text im Kloster Frenswegen entstanden u. in Münster nur ins Westfälische umgesetzt wurde. Unter dem Bild aus Hhld 7,12 wird das geistl. Leben entfaltet: »Mane surgamus ad vineas«. »Mane« bedeutet den Anfang des geistl. Lebens, »surgamus« ist die Aufforderung zum Fortschreiten in der Vereinigung des Menschen mit Gott. Der Weg ist die Bezeichnung der Unio mystica. Sprache u. Beschreibung des Weinbergs sind blumig, wie allg. in der myst. Literatur. Die erhaltenen Predigten u. Collationen berühren sich im Stil mit den Traktaten. Ausgaben: J. V. Ein dt. Prediger des 15. Jh. [...]. Hg. Franz Jostes. Halle 1883 (24 Predigten). – Lectulus noster floridus, unser Blumenbettchen [...].

Vehe

745 Niederdt. v. J. V. Hg. Heinrich Rademacher. Hiltrup 1938. – Wyngaerden der sele [...]. Niederdt. v. J. V. [...]. Hg. H. Rademacher. Hiltrup 1940. Literatur: Philipp Strauch: J. V. In: ADB. – Hermann Triloff: Die Traktate u. Predigten J. V.s [...]. Halle 1904. – Alois Bömer: J. V. In: Westfäl. Lebensbilder. Bd. 1, Münster 1930, S. 166–182. – H. Rademacher: Mystik u. Humanismus in der Devotio moderna [...]. Hiltrup 1935. – Henning Junge: J. V. Sprache, Stil, Persönlichkeit. Diss. Hbg. 1954. – Felix Wortmann: J. V. u. die ihm zugeschriebenen Traktate. In: Münsterische Beiträge zur niederdt. Philologie. Köln 1960, S. 47–77. – Monasticon fratrum vitae communis. Hg. Wolfgang Leesch. Tl. 2: Dtschld. Brüssel 1979, S. 189–198. – Monika Costard: Zwischen Mystik u. Moraldidaxe. Dt. Predigten des Fraterherren J. V. u. des Dominikaners Konrad Schlatter in Frauenklöstern des 15. Jh. In: Ons Geestelijk Erf 69 (1995), S. 235–259. – Dietrich Schmidtke: J. V. In: VL. – Norbert Nagel: Der münster. Fraterherr J. V. d.J. († 1504). Aspekte einer genealogisch ausgerichteten Schreibsprachbiographie. In: Stadt, Kanzlei u. Kultur im Übergang zur frühen Neuzeit. Hg. Jan R. Veenstra. Ffm. u. a. 2004, S. 133–187. – Ders.: Zum 500. Todestag des münster. Fraterherrn J. V. am 21. Sept. 2004. In: Korrespondenzblatt des Vereins für niederdt. Sprachforsch. 111 (2004), S. 58–62. – Robert Peters: Von Frenswegen nach Münster. Zwei Fassungen des ›Wyngaerden der sele‹. In: ZfdPh 127 (2008), Sonderheft, S. 87–117. Robert Stupperich † / Red.

Vehe, Michael, * um 1480 Biberach, † April 1539 Halle. – Dominikaner, Theologe, Gesangbuchherausgeber. V. trat um 1500 im Kloster Wimpfen, dem er später als Prior vorstand, in den Dominikanerorden ein. In Heidelberg, wo er 1506 das Studium aufnahm u. 1513 zum Dr. theol. promovierte, wurde er 1515 Prior des Dominikanerkonvents. Kardinal Albrecht von Mainz berief ihn 1520 zum Propst des neuen Stifts in Halle, zgl. zum geistl. Rat u. Kanzler der Universität. Als Inquisitor nahm V. unter anderem am Augsburger Reichstag 1530 teil. In einer Reihe von Schriften seit 1531 verteidigte er die kath. Lehre. V.s letztes Werk, Ein new Gesangbüchlin geystlicher Lieder (Lpz.: Nickel Wolrab 1537), ist das erste kath. Gesangbuch mit Noten nach dem Hymnarius von Sigmundslust (1524). Die Anordnung der zum Gesang nach der

Predigt u. bei Prozessionen bestimmten Lieder folgt dem Kirchenjahr. Ein erster Nachtrag enthält sieben Lieder, u. a. ein von Sebastian Brant übersetztes Marienlied, ein zweiter Nachtrag fünf Lieder von G. W. [Georg Witzel]. Insgesamt bietet V. 52 Liedtexte u. 47 Melodien (eine davon doppelt). Für 19 Lieder gibt es ältere Quellen, v. a. das luth. Gesangbuch bei Klug (1533). 32 Texte u. 31 Melodien sind neu. In der Vorrede nennt V. den Bürgermeister von Halle, Caspar Querhamer, u. eine weitere Person (wohl Georg Witzel) als Dichter. Unklar ist, welche Texte ihm selbst zuzuschreiben sein könnten, bezeichnet er sich doch nur als Sammler. Der Hauptteil der neuen Lieder wird Querhamer zugeschrieben, der dem silbenzählenden Verfahren seiner Zeit folgt, dabei aber unzulässig viele Tonbeugungen vornimmt. Als Schöpfer neuer Melodien nennt V. neben Querhamer Johann Hoffmann u. Wolfgang Heintz. V.s Gesangbüchlin kam kaum in Umlauf, da sowohl Leipzig (1539) – ein großer Teil der Auflage ging verloren – als auch Halle (1541) lutherisch wurden. Eine zweite Ausgabe erschien 1567 in Mainz; die von V. gesammelten Lieder fanden aber erst über das Gesangbuch Johann Leisentrits (1567), der sie insg. übernahm, ihren Weg auch in andere Gesangbücher. Ausgaben: Von dem Gesatz der nyessung des heyligen hochwirdigen Sacraments, in eyner gestalt (1531). Lpz. 1532. Internet-Ed. in: VD 16. – Wie, underschydlicher weiss, Gott u. seine auserwelten Heiligen, von uns Christen sollen geehret werden [...]. Lpz. 1532. Internet-Ed. in: VD 16. – Errettung der beschueldigten kelchdyeb vom newen Bugenhagischen galgen. Lpz. 1535. Internet-Ed. in: VD 16. – Assertio sacrorum quorundam axiomatum, quae a nonnullis nostri seculi pseudo prophetis in periculosam rapiuntur controversiam. Lpz. 1535. Internet-Ed. in: VD 16. – Ein new Gesangbüchlin [...]. Lpz. 1537. Nachdr. hg. v. Walter Lipphardt. Mainz 1970. Literatur: Bibliografien: Klaiber, S. 293. – VD 16. – Weitere Titel: Wilhelm Bäumker: M. V. In: ADB. – Nikolaus Paulus: Die dt. Dominikaner im Kampfe gegen Luther (1518–1563). Freib. 1903. – Johannes Kulp: Sonderbd. [zum Hdb. zum EKG]. Gött. (auch Bln.) 1958, Register. – Franz Schrader: M. V. In: Kath. Theologen der Reformationszeit. Hg. Erwin

Vehse Iserloh. Bd. 4, Münster 1987, S. 15–28. – Erich Wenneker: M. V. In: Bautz. – Michael Kreuzer: Maria in den geistl. Liedern Martin Luthers u. in M. V.s ›New Gesangbüchlin geystlicher Lieder‹ v. 1537. In: Forum kath. Theologie 13 (1997), S. 18–31. – Walther Lipphardt (Clytus Gottwald): M. V. In: New Grove. – Konrad v. Rabenau: Der Buchbinder für M. V. u. Andreas Poach in Halle/S. In: Einband-Forsch. 12 (2003), S. 37–48. – Franz Schrader: M. V. OP [...]. Kath. Theologe u. Propst des Neuen Stifts in Halle. In: Mitteldt. Lebensbilder [...]. Hg. Werner Freitag. Köln u. a. 2004, S. 55–68. – Kai Bremer: Religionsstreitigkeiten. Volkssprachl. Kontroversen zwischen altgläubigen u. evang. Theologen im 16. Jh. Tüb. 2005, Register. – Anthony Ruff: M. V. In: MGG, Bd. 16 (Pers.), Sp. 1382 f. Klaus Düwel / Red.

Vehse, Carl Eduard, * 18.12.1802 Freiberg, † 18.6.1870 Dresden; Grabstätte: ebd., Trinitatisfriedhof. – Jurist, Historiker, Archivar u. Publizist. Der Sohn des kurfürstlich-sächs. Floßmeisters u. Senators der Stadt Freiberg besuchte zunächst (1816–1819) das Freiberger Gymnasium, ehe er seit Herbst 1819 an der Bergakademie Theoretische u. experimentelle Physik bei Busse, Chemie u. Technische Chemie bei Lampadius, Oryktognosie (Geowissenschaften) bei Mohs u. Zivilbaukunst bei Garbe hörte. Am 26.10.1820 schrieb sich V. in die Universitätsmatrikel der Universität Leipzig ein u. studierte dort bis 1823 Rechtswissenschaften u. Geschichte, anschließend (bis 1824) die gleichen Fächer an der Universität Göttingen. Besonders beeinflusst wurde er von den Leipziger Professoren Christian Ernst Weiße (Prof. für Kriminalrecht) und Karl Heinrich Ludwig Pölitz (Prof. für Staatswissenschaften). Am 24.11.1825 wurde er mit einer in Latein verfassten rechtsgeschichtl. Arbeit über die sächsisch-hess. Erbverbrüderung in Leipzig promoviert. Nachdem er kurzzeitig als Privatdozent in Leipzig gearbeitet hatte, übertrug man ihm im Febr. 1825 eine Stelle als Archiv-Sekretär am Geheimen Archiv Dresden (seit 1834 Hauptstaatsarchiv), 1833 die eines Archivars. In letzterer Funktion vertrat V. als einer der ersten überhaupt die Grundsätze des Provenienzprizips.

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1838 schloss sich V. dem böhm. Bußprediger Stephan an u. wanderte mit dessen Gruppe (einer neuprotestantischen Sekte) nach Nordamerika aus. 1840 enttäuscht nach Deutschland zurückgekehrt, verarbeitete er diese Reise literarisch in Die Stephan’sche Auswanderung nach Amerika (Dresden 1840). Alle danach erfolgten Bemühungen um seine Wiederanstellung im Hauptstaatsarchiv scheiterten. V.s wissenschaftl. Werk ist überaus vielschichtig u. umfangreich. Neben den von ihm in Dresden gehaltenen 41 Vorlesungen über Die Weltgeschichte aus dem Standpunkte der Cultur und der nationalen Charakteristik (2 Bde., Dresden 1842) bzw. Ueber die gesellige Stellung und die geistige Bildung der Frauen in England, Amerika, Frankreich und vornehmlich in Deutschland (Dresden 1842) veröffentlichte er v. a. histor. Werke, so Das Leben und die Zeiten Kaiser Ottos des Großen [...] (Dresden 1829) sowie die Tafeln der Geschichte. Die Hauptmomente der äußern politischen Verhältnisse [...] der Völker [...] (2 Abt.en, Dresden 1834/35). Aber auch Shakespeare als Protestant, Politiker, Psycholog und Dichter (2 Bde., Hbg. 1851) stammt aus seiner Feder. Geradezu revolutionär (für Deutschland) sind dessen 1848 bei der II. Ständekammer eingereichten Ausführungen zur Öffnung des Hauptstaatsarchivs »im Interesse der Wissenschaft und der politischen Aufklärung des Volkes«. V.s nicht unumstrittenes u. dessen ungeachtet bedeutsamstes Werk – wenn auch z. T. als Skandalgeschichtsschreibung abgetan – ist die seit 1851 in insg. 48 Bänden erschienene Geschichte der deutschen Höfe seit der Reformation. Sein darin verbreiteter Beitrag über »Prinz Schnaps« (Herzog Wilhelm von Mecklenburg) brachte dem Autor eine halbjährige Gefängnisstrafe ein. Nach der 1856 erfolgten Ausweisung aus Berlin lebte V. bis zu seinem Tod abwechselnd in Deutschland, der Schweiz u. Italien. Literatur: Franz Schnorr v. Carolsfeld: E. V. In: ADB. – Hans Beschorner: E. V. In: Sonderabdruck aus: Archival. Ztschr. Hg. v. der Bayer. Archivverwaltung. Bd. 45 (Dritte Folge, Bd. 12), Mchn. 1939, S. 289–304. – Manfred Kobuch: E. V. (1802–1870). Aspekte seines Wirkens als Demokrat, Historiker u. Archivar. In: Archivmitt.en 1 (1985), S. 31–36. – Herbert Kaden: Vom Hörer physikal., chem. u.

Veit

747 mineralog. Vorlesungen zum promovierten Juristen, Historiker u. Archivar. Der ungewöhnl. Bildungsweg des Freiberger Bergakademisten C. E. V. (1802–1870). Freiberg 2003. – Goedeke Forts. Herbert Kaden

Veiras, Hans Franz, eigentl.: Jean-François de Veyras, * 1576/77 Payerne/Schweiz, † 15.11.1672 Zürich. – Satiriker.

tholizismus an sich. Das Werk, lange Gravisset zugeschrieben, wurde von V. wohl lat. abgefasst u. von einem Unbekannten, womöglich Gravisset, übertragen u. bearbeitet. Die Heutelia ist bei aller satir. Verzeichnung eine bedeutende Quelle zur Kulturgeschichte der Schweiz. V. kann als Satiriker Johann Balthasar Schupp u. Johann Michael Moscherosch an die Seite gestellt werden. Weiteres Werk: Theophilus, oder, Die heilsame

Der Sohn eines hugenott. Mediziners lebte betrachtung von der Göttlichen liebe [...]. o. O. 1598–1610 vorwiegend in Straßburg als [Heidelb.] 1611. Hausgenosse u. Sekretär des Humanisten Ausgabe: Heutelia. Hg. Walter Weigum. Mchn. Jacques Bongars. Anschließend war V. bis 1969. 1620 frz. Sekretär des pfälz. Kurfürsten u. Literatur: W. Weigum: ›Heutelia‹. Eine Satire späteren »Winterkönigs« in Heidelberg u. [...]. Frauenfeld/Lpz. 1945. – Joseph B. Dallet: »er Prag. Daraufhin zog er als Exulant nach begehrte ›Heuteliam‹ zusehen«. Die V.-Rezeption Straßburg, wo er mit Gelehrten wie Lingels- bei Grimmelshausen. In: Simpliciana 12 (1990), heim, Bernegger, Janus Gruter u. Zincgref S. 267–290. – Guillaume van Gemert: Kuhschweizer u. Butterfresser. Schweizer Befindlichkeit u. verkehrte. Von etwa 1630 an hielt er sich fast Leitbilder schweizer. Zukunftsorientierung in H. F. ununterbrochen in der Schweiz auf, haupt- V.’ ›Heutelia‹ (1658). In: Vivat Helvetia. Die Hersächlich in Zürich. Er betätigte sich vermut- ausforderung einer nationalen Identität. Hg. Jattie lich als Französischlehrer u. Übersetzer. Die Enklaar u. a. Amsterd. u. a. 1998, S. 127–140. – ganze Zeit über wurde er als Glaubens- Rosemarie Zeller: Heutelia zwischen Reisebeflüchtling von öffentl. Hand u. von privaten schreibung, Utopie u. Satire. In: Simpliciana 22 Gönnern, bes. von Jakob Gravisset, Herr von (2000), S. 291–311. Guillaume van Gemert / Red. Liebegg, finanziell unterstützt. V. gilt heute als Verfasser der Heutelia, der Veit, Philipp, auch: Sebastian, * 13.2.1793 bald indizierten Satire auf die Schweiz (HeBerlin, † 18.12.1877 Mainz; Grabstätte: vtelia = Helvetia) in Form eines Reiseberichts, ebd., Hauptfriedhof. – Maler. die 1658 anonym, vielleicht in Zürich, erschien. Angeregt wurde V. wohl von der Icaria Der Sohn Dorothea Schlegels u. Stiefsohn des Johannes Bisselius. Der Reiseweg der krit. Friedrich Schlegels wuchs in den Kreisen der Heutelia-Beobachter führt von Schaffhausen Jenaer u. Wiener Romantiker auf. 1808–1811 über u. a. Zürich, Schloss Liebegg, Luzern, studierte er an der Dresdner Akademie, u. a. Bern, Freiburg u. Lausanne nach Genf. Ört- bei Caspar David Friedrich. 1813/14 nahm V. lichkeiten u. Personen sind durch zumeist als Freiwilliger an den Befreiungskriegen teil. leicht zu entschlüsselnde Decknamen ver- Sein erstes nazaren. Bild – eine Muttergottes fremdet. Der Ich-Erzähler, ein Calvinist, wer- mit Kind u. Johannesknaben – vollendete er tet in Gesprächen mit seinen Weggefährten, 1815 für St. Jakob in Heiligenstadt (Wien). dem Lutheraner Latigladius (wohl Jakob Le- 1815–1830 hielt er sich in Rom auf u. schloss onhart Breitschwerdt), zumeist Tirvvinguus sich Overbeck, Cornelius u. anderen Nazare(Württemberger) genannt, u. einem Muftus, nern an. Mit ihnen arbeitete er 1816/17 an d.h. einem kath. Geistlichen, sowie mit Heu- den Fresken der Casa Bartholdy u. 1818–1824 teliern u. reisenden Engländern die schweize- an den Wandbildern im Casino Massimo. rischen Zustände. Dabei interessiert er sich 1830–1843 war V. Direktor des Städelschen bes. für die kirchlich-religiöse Situation, der Kunstinstituts in Frankfurt/M. In dieser Zeit Tirvvinguus für Politik u. Rechtswesen. Beide entstanden u. a. das Fresko Die Einführung der polemisieren mit dem Muftus, richten sich Künste u. vier Kaiserbilder für den Frankfurdabei aber eher gegen den Papst (Protheus) u. ter Römer. Seit 1853 wirkte V. als ehrenamtl. die Jesuiten (Bonzi Corvini) als gegen den Ka- Direktor der Gemäldegalerie in Mainz, wo er

Velde

auch nach seinen Entwürfen den Dom ausmalen ließ. V.s früheste Lyrik sind während des Feldzugs 1813/14 verfasste religiöse Sonette von pietistischer Haltung. 1815 widmete er seinem Freund Eichendorff ein Sonett als Antwort auf dessen Gedicht An Philipp Veit. V.s Lied vom Steuermann – Pius VII. geltend – wurde 1815 in Fouqués »Frauentaschenbuch« veröffentlicht. Dieses wie auch die 1823 in den Wiener »Oelzweigen« abgedruckten Gedichte Lied u. Liebessehnen publizierte V. unter dem Pseud. »Sebastian«. Mit dem Martyrium dieses Heiligen befasste sich V. auch immer wieder in Gemälden u. Zeichnungen. Während seiner Frankfurter Zeit formulierte er kunsttheoret. Gedanken, die er seit 1853 in Mainz vortrug (Zehn Vorträge über Kunst. Hg. Ludwig Kaufmann. Köln 1891). V. rechtfertigte das idealistische Konzept nazaren. Historienmalerei gegenüber dem sich durchsetzenden Realismus. Anonym erschien 1860 seine humoristische, auf die Mainzer Galerie anspielende Schrift Redende Bilder. Ein Traum (Lpz. 1860). Weitere Werke: Künstlerkämpfe nebst einem Wort über Kirchen-Restauration. In: Historischpolit. Bl. für das kath. Dtschld. 60 (1867), S. 452–472. – Ueber die christl. Kunst. In: Frankfurter Zeitgemäße Broschüren 2 (1869), S. 1–20. – Dorothea v. Schlegel geb. Mendelssohn u. deren Söhne Johannes u. P. V. Briefw. Hg. Johann Michael Raich. Mainz 1881. Literatur: Martin Spahn: P. V. Bielef./Lpz. 1901. – Norbert Suhr: P. V. Weinheim 1991. – Manfred Kunz: Das Altarbild von P. V. in der kath. Pfarrkirche St. Peter u. Paul, Bad Camberg. In: Histor. Camberg 24 (1994), S. 35–43. – Oliver Mack: Beobachtungen bei der Restaurierung der Germania des P. V. aus der Frankfurter Paulskirche. Zur Materialität einer polit. Ikone. In: Anzeiger des German. Nationalmuseums 1999, S. 291–295. – Klaus Günzel: P. V. In: Ders.: Die dt. Romantiker. 125 Lebensläufe. Ein Personenlexikon. Düsseld. u. a. 2001, S. 355–358. Norbert Suhr / Red.

Velde, Carl Franz van der, * 27.9.1779 Breslau, † 6.4.1824 Breslau. – Erzähler, Dramatiker. Nach nur zweieinhalbjährigem Studium der Rechte in Frankfurt/O. trat der Sohn eines

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kgl. Finanzbeamten in den Justizdienst ein. Berufsbedingt blieb V. im näheren Umkreis von Breslau, wo er kurz vor seinem Tod noch zum Justizkommissar ernannt wurde. Nach dramat. Anfängen wagte sich V., ermuntert durch den Erfolg kleinerer Erzählungen wie der Tartarenschlacht (in: Dresdener Abendzeitung, 1818. Buchausg.: Schriften 3. Dresden 1819), die schles. Sagenmotive aufnimmt, oder der karib. Freibeutergeschichte Der Flibustier (in: Dresdener Abendzeitung, 1818. Schriften 2. 1819), an umfangreichere histor. Stoffe. Vor dem Hintergrund einer Verschwörung zur Zeit Karls XII . von Schweden verbindet Arwed Gyllenstierna (in: Dresdener Abendzeitung, 1822. Schriften 13/ 14.1823) histor. Fakten, trivialromant. Versatzstücke u. Motive des Abenteuer- u. Liebesromans zu einer ebenso spannenden wie sentimentalen Geschichte. Dem gleichen, stets effektvoll arrangierten Schema folgen, trotz stoffl. Vielfalt u. häufig exotischer Sujets wie in der Eroberung von Mexico (in: Dresdener Abendzeitung, 1820. Schriften 5 bis 7. 1821), alle seine histor. Prosatexte. Zur Beliebtheit seiner Werke trug nicht zuletzt die Publikationsform bei, die fortsetzungsweise Veröffentlichung in Hells Dresdener »Abendzeitung«, der V. zeitlebens treu blieb. Nahezu alle Texte wurden dramatisiert oder vertont, mehrfach nachgedruckt u. in zahlreiche europ. Sprachen übersetzt. Eine wohlwollende Tageskritik sah in V. sogar den »deutschen Scott«. Alexis würdigte sein Erzähltalent als Unterhaltungsautor, sprach ihm aber »dichterisches Vermögen« ab. Ausgabe: Sämmtl. Schriften. 27 Bde., Dresden 1830–32. 7. Aufl. in 10 Bdn., Lpz. 1862. Literatur: Walther Matthey: Die histor. E.en des C. F. v. d. V. [...]. Stgt. 1928. Josef Morlo

Velius, Vehelius, Caspar Ursinus, eigentl.: Bernhard (?), * ca. 1493 Schweidnitz/ Schlesien, † 5.3.1539 Wien. – Neulateinischer Dichter, Historiograf. V. immatrikulierte sich 1505 in Krakau u. studierte u. lehrte 1508 als Schüler von Rhagius Aesticampianus in Leipzig. Mit Bischof Matthäus Lang begab er sich 1511 nach Italien, wo er sich nach Studien in Bologna

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1512–1514 im Kreis des Johannes Göritz in Rom aufhielt (zwölf Epigramme in den Coryciana. Rom 1524). 1515 nahm er am Preßburg-Wiener Fürstenkongress teil u. war – befreundet u. a. mit Vadian u. Georg von Logau – tätiges Mitgl. der »Sodalitas Collimitiana« um Georg Tannstätter. 1517 von Kaiser Maximilian I. zum Dichter gekrönt, wurde er auf Vermittlung seines Gönners, des Bischofs Johann V. Thurzó von Breslau, dort Kanoniker, übernahm nach einer Italienreise 1524 den Rhetoriklehrstuhl an der Universität Wien u. amtierte seit 1526 als Hofhistoriograf u. Prinzenerzieher. Möglicherweise endete er durch Selbstmord in der Donau wegen dauernder Querelen mit seiner Ehefrau. V. gehört zu den bedeutendsten humanistischen Poeten der Generation nach Celtis im dt. Kulturraum. Die Poematum libri quinque (Basel 1522. Zuvor viele Einzeldrucke) vereinigen zahlreiche panegyr. Gedichte auf seine Gönner, auf das habsburgische Kaiserhaus u. dessen Verbündete sowie auf Vorbilder wie Erasmus, dessen »nivea Latinitas« beim Übertragen aus dem Griechischen V. im Genethliacon D. Erasmi rühmt, sowie Spottepigramme. Einblick in den Freundeskreis der Wiener Humanisten geben Gedichte wie die Sodalitatis Collimitianae Invitatio; religiöse Gedichte feiern den Schutzheiligen Österreichs, den hl. Leopold, u. ein umfängl. Gedicht des dem alten Glauben treu gebliebenen Poeten, der später die Reformation scharf angriff, dankt der Gottesmutter für die Errettung aus vielerlei Gefahren. In einer Epistel aus Rom wird die Heimat Schlesien als Rom ebenbürtig angesehen. Der Sammlung angeschlossen ist eine Übertragung griech. Epigramme ins Lateinische. Eine weitere kleinere Gedichtsammlung, die u. a. die Beschreibung einer Reise von Basel nach Wien in einem Briefgedicht an Erasmus enthält, erschien 1524 in Wien; zahlreiche spätere Dichtungen, vielfach Preisgedichte auf Freunde u. das Kaiserhaus, wurden verstreut publiziert. Einige Gedichte der Poematum libri quinque nahm Gruter in die Delitiae poetarum Germanorum auf (Bd. 6, Ffm. 1612, S. 992–1045). Von V.’ historiografischem Hauptwerk, einer Geschichte Ferdinands I., wurde erst 1762 von Adam Franz Kollar ein Bruchstück

Velius

zum Schicksal Ungarns u. d. T. De bello Pannonico libri decem in Wien gedruckt. Es wurde noch von Ranke sehr geschätzt. Wichtige Aufschlüsse über seinen literar. Verkehr (Abdruck von Briefen u. Gedichten) bietet die neuere Edition der Korrespondenz von Stanislaus Thurzó (2007; s. weitere Werke). Weitere Werke und Teilausgaben: HL, S. 139–157 (Textausw.), S. 1020–1032 (Bio-Bibliogr. u. Komm.). – Martin Rothkegel: Der lat. Briefw. des Olmützer Bischofs Stanislaus Thurzó. Eine ostmitteleurop. Humanistenkorrespondenz in der ersten Hälfte des 16. Jh. Hbg. 2007, S. 65–68, 148–150, 174–185 u. ö. (Register). Literatur: Gustav Bauch: C. U. V. Budapest 1886 (Internet-Ed. in: SUB Gött.), S. 77–84 (mit Werkverz.). – Ders.: K. V. U. In: ADB. – Ellinger 1, bes. S. 484–493. – Hans Heckel: Gesch. der dt. Lit. Schlesiens. Bd. 1, Breslau 1929, S. 96–99. – Ders.: V. In: Schles. Lebensbilder. Bd. 4 (1931), S. 12–18. – Werner Näff: Vadian u. seine Stadt St. Gallen. Bd. 1, St. Gallen 1944, S. 219–221 (Lit.). – Hans AnkwiczKleehoven: Der Wiener Humanist Johannes Cuspinian. Graz/Köln 1959, passim. – Conradin Bonorand: Joachim Vadian u. der Humanismus im Bereich des Erzbistums Salzburg. St. Gallen 1980, S. 215–217 (Lit.). – Hans Thieme: C. U. V. (1493–1539). Ein vergessener schles. Humanist. In: Schlesien. Eine Vjs. für Kunst, Wiss., Volkskunde 25 (1980), H. 4, S. 203–206. – Manfred P. Fleischer: Späthumanismus in Schlesien. Mchn. 1984 (Register). – Hermann Wiegand: Hodoeporica [...]. Baden-Baden 1984, bes. S. 46 f. – Stephan Füssel: Riccardus Bartholinus Perusinus [...]. Ebd. 1987, passim. – Contemporaries (Lit.). – Ulrich Schlegelmilch: Die Romelegie des U. V. (el. 3): Spiegel der antiquar. Forsch. um 1500 – u. Huldigung für Angelo Colocci? In: Mentis amore ligati. Lat. Freundschaftsdichtung u. Dichterfreundschaft in MA u. Neuzeit. Hg. Boris Körkel, Tino Licht und Jolanta Wiendlocha. Festg. Reinhard Düchting. Heidelb. 2001, S. 435–459. – Jörg Robert: ›Exulis haec vox est‹. Ovids Exildichtungen in der Lyrik des 16. Jh. (C. U. V., Conrad Celtis, Petrus Lotichius Secundus, Joachim Du Bellay). In: GRM 52 (2002), S. 437–462. – Klaus Fetkenheuer: C. U. V., ein Geburtstagsgedicht auf Erasmus v. Rotterdam (Text, Übers., Komm., Erläuterungen). In: Mlat. Jb. 45 (2010), Nr. 2, S. 267–306. – Ders: C. U. V.: Siebzehn Spottepigramme (1522): Text, Übers., Anmerkungen, literar. Kontext. In: Nlat. Jb. 12 (2010), S. 67–104. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2154–2156. Hermann Wiegand / Red.

Velser

Velser, Michel ! Mandeville, Jean de

750 S. 626 f. – Ders.: Gegen eine ganze Zeit. H. Graf v. V. (1818–1854): Leben, Lit., Kunst. Diss. Hildesh. 2006.  Goedeke Forts. Christian Juranek / Red.

Veltheim, Hans Graf von, * 19.7.1818 Braunschweig, † 5.4.1854 Gut Harbke bei Venator, Balthasar, eigentl.: B. Jäger, Helmstedt. – Dramatiker, Karikaturist. * 1594 Weingarten/Pfalz, † 11.2.1664 V. besuchte das Collegium Carolinum in Meisenheim/Pfalz. – Dichter u. SchriftBraunschweig, danach die Universitäten in steller. Berlin u. Göttingen, legte die juristische Staatsprüfung aber erst nach Privatunterricht 1841/42 ab. Ursprünglich nicht erbberechtigt, war er nach mehreren Selbstmorden in der Familie Majoratsherr geworden. Als Sohn des – nach der Revolution von 1830 aufgestiegenen – leitenden Braunschweigischen Staatsministers Werner von Veltheim zum Hofdienst herangezogen, widmete er sich doch v. a. der Literatur, der Musik u. der bildenden Kunst. Mit der ihm eigenen altständ. Tendenz zeichnete V. scharfe Karikaturen auf das frz. Julikönigtum (Héliogabale XIX ou biographie du dixneuvième siècle de la France. Braunschw. 1843). V.s Dramatische Versuche (ebd. 1846) bestehen aus Seekönig (ein zurückgekehrter Herrscher findet sein Volk in völlig anderer Verfassung vor) u. Splendiano (ein sich selbst suchender junger Mann gerät in polit. Wirren u. zerbricht daran). Nach einer großen Italienreise 1847, zusammen mit dem befreundeten Zoologen Johann Heinrich Blasius, entstanden unter dem Eindruck der 48er-Ereignisse in Braunschweig Die Erben der Zeit (18. Jh.: Intrigen in einem ital. Kleinstaat zeigen die Machtgier Einzelner u. das Desinteresse des Volkes) sowie End’ und Anfang (Eroberung Roms durch die Goten), publiziert u. d. T. Dramatische Zeitgemälde (ebd. 1850). Die Wirkungslosigkeit seiner Produktion, die familiären Verhältnisse sowie eine vererbte Krankheit bewogen V. zum Selbstmord; mit ihm erlosch der gräfl. Zweig der Familie. Die Grundtendenz seiner unterschätzten histor. Dramen ist der Untergang einer Zeit am Materialismus einer neuen. Individuen, die sich idealistisch orientieren, gehen an ihrer Epoche zugrunde.

Literatur: P. Zimmermann: H. Graf v. V. In: ADB. – Christian Juranek: H. Graf v. V. In: Braunschweigisches Biogr. Lexikon. 19. u. 20. Jh. Hg. Horst-Rüdiger Jarck u. Günter Seel. Hann. 1996,

Der aus reformierter Familie stammende V. besuchte das Gymnasium in Neustadt/Weinstraße. Philipp Pareus, Sohn des bekannten Theologen, ernannte ihn auf Geheiß des Schweizer Späthumanisten Johann Jacob Grasser zum Poeta laureatus (1614). Nach Studien an der Heidelberger Universität (Immatrikulation 25.10.1613) verwaltete V. wohl auf Vermittlung Georg Michael Lingelsheims die Stelle eines pfälz. Hofsekretärs (1617–1622). Briefe u. Gedichtbeiträge bezeugen enge Kontakte mit Julius Wilhelm Zincgref u. mit Martin Opitz, der V. später in seiner Prosaekloge Hercinie (1630) auftreten ließ. Die militärische Niederlage der Pfalz (Eroberung Heidelbergs im Sept. 1622) entließ V. in eine schwierige Zukunft. Vorübergehend fand er eine Bleibe im Haus des nach Straßburg geflüchteten Lingelsheim, erhielt dann durch Vermittlung Berneggers schließlich eine Hauslehrerstelle im Gefolge des Augsburger Patriziers Markus von Rechlingen (ausgedehnte Reisen 1628–1631, u. a. nach Paris, Genf, Lyon). Wiederum wohl durch Lingelsheims Empfehlung konnte V. den jungen Pfalzgrafen Friedrich von Zweibrücken auf einer Kavalierstour durch Frankreich u. die Niederlande begleiten (1632–1634; zum Stammbuch s. Literatur). Mit der Regentschaft Friedrichs (1635) fand auch V. für den Rest seines Lebens eine gesicherte Position in der Verwaltung des Zweibrücker Territoriums. Als Landschreiber (1639), später auch als Hofrat u. Präfekt (1652) des Amtes Meisenheim, z.T. mit diplomatischen Aufträgen unterwegs, widmete sich V. nur noch gelegentlich literar. Tätigkeit (Kontakte u. a. mit Moscherosch). Eine Sammelausgabe seiner Gedichte kam nicht zustande. Bekannt wurde V. stattdessen zunächst durch biografisch-panegyr. Schriften

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Venatorius

(u. a. auf Janus Gruter u. den Feldherrn Mi- 100 (1980), S. 25–45. – Parn. Pal., S. 208–211, chael Obentraut, den »deutschen Michel«). 292–294. – Johannes Schöndorff: B. V. u. seine dt. Ein an den Polen Andreas de Lesno gerichte- Satiren. In: WBN 21 (1994), S. 95–107. – Stefan tes Werk schildert die entsetzl. Greuel des Trappen: Grimmelshausen u. die menippeische Satire. Tüb. 1994 (Register). – Walter (2004), Dreißigjährigen Kriegs (Epistola de CalamitaS. 313–315. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, tibus Ducatus Bipontini. Ffm. 1638). Besondere S. 2158–2162. Wilhelm Kühlmann Beachtung verdienen zwei locker gefügte Prosaerzählungen, die in der älteren Forschung Grimmelshausen zugeschrieben Venatorius, Thomas, auch: T. Jäger, wurden, darunter die Kurze und kurtzweilige Gechauf(f), Jagauf, * 1490 Nürnberg, Beschreibung der zuvor unerhörten Reise welche † 4.2.1551. – Humanist, protestantischer Herr Bilgram von Hohen Wandern ohnlängsten in Theologe. die Newe Ober-Welt des Monds gethan (Ffm. 1660 u. ö. Aus dem Frz. nach der Vorlage des Der Humanist aus dem Pirckheimer-DürerEngländers Francis Godwin: Man in the Moon. Kreis war einer der bedeutenden Theologen 1638. Dt. zuerst Wolfenbüttel 1659. Nachdr. der reformatorischen Frühzeit. Vorgeschult hg. v. Thomas Bürger. Wolfenb. 1993). Es durch den Nürnberger Astronomen Johannes handelt sich um kompilatorisch angereicher- Schoner, bezog er mehrere Universitäten u. te u. mit biogr. Erinnerungen versetzte Zeit- studierte dort u. a. Mathematik. 1520 bewog bilder in der weiteren Tradition der menip- ihn sein Freund Willibald Pirckheimer zur peischen Satire, gewiss nicht unbeeinflusst Rückkehr nach Nürnberg. 1544 gab V. zum ersten Mal die Werke des von den Gesichten (1640 ff.) J. M. MoscheArchimedes (Opera [...] omnia. Basel. Internetroschs. V.s politisch-moral. Gesinnung, z.T. Ed. in: SLUB Dresden) heraus. Humanistischmit hofkrit. Akzent, ergibt sich aus seiner Antrittsrede im Kreis der Hofräte (Adlocutio ad universal gebildet, tat er sich auch dichterisch u. philologisch hervor: Er schrieb lat. GeCollegas Consiliarios), die u. d. T. Der politische dichte, übersetzte Aristophanes Plutos Bußprediger 1785 aus dem Manuskript veröf(Nürnb. 1531) sowie aus der Bibliothek Düfentlicht wurde (in: Patriotisches Archiv für rers Leon Battista Albertis kunsttheoret. Deutschland 3, 1876, S. 289–310). Erst durch Schrift De pictura (Basel 1540) u. edierte aus die neue spektakuläre Gesamtausgabe (2001, dem Nachlass Willibald Pirckheimers dessen s. u.) kann V. wohl auch eine markante Serie lat. Übersetzung von Xenophons Helleniká lat. Versporträts von Herrschern u. Feldher(u. a. in: Opera [...] omnia [...]. Basel 1551. Inren des Dreißigjährigen Kriegs zugeschrieternet-Ed. in: VD 16. V.s Epistola nuncupatoria, ben werden (Pictura Loquens. Lyon 1637. GeS. 558–563, ist datiert auf den 21.4.1532). sammelte Schriften. Bd. 1, S. 324–373). Vor allem aber wirkte V. in seiner VaterWeitere Werke: Petri de Spina [...] Vita. 1625. stadt als protestantischer Theologe. Als PreZweibrücken 1732. – Seltzame Traum-Geschicht diger u. immer wieder als Unterhändler tätig, von Dir u. Mir. o. O. [Zweibrücken] 1656. – Briefe: verfasste er zgl. ein wichtiges Korpus reliBriefe G. M. Lingelsheims, M. Berneggers u. ihrer giöser Schriften. Zunächst von Osianders Freunde. Hg. Alexander Reifferscheid. Heilbr. mystisch-spekulativer Theologie abhängig, 1889. wandte sich V. später mehr der luth. DogAusgabe: Ges. Schr.en. Hg. Georg Burkard u. matik zu. Seit 1523 war er Prediger der HosJohannes Schöndorff. 2 Bde., Heidelb. 2001 (Werke pital- u. Dominikanerkirche, seit 1533 Pastor u. Briefe, ggf. mit Übers.en; Werkverz.). zu St. Jakob. Seit 1534 für das Nürnberger Literatur: Rudolf Buttmann: Ein Stammbuch Schulwesen verantwortlich, verfasste er eine B. V.s. In: Westpfälz. Geschichstbl. 17, Nr. 4, 5, 7 u. 8 (1913). – Erich Volkmann: B. V. Diss. Bln. 1936 humanistische Katechismusbearbeitung für (mit Werkverz. u. Übersicht über die ältere Lit.). – die dortigen Lateinschulen, den Catechismus Martin Germann: Arte et Marte [...]. Die Grün- minor (Nürnb. 1535). Sein 1529 erschienener dungsidee der Bürgerbibl. Zürich nach B. V.s Lob- Traktat De virtute christiana, libri III (ebd.) ist gedicht v. 1643/1661. In: Zürcher Tb. 1981, N. F., eine frühe selbstständige evang. Ethik, ori-

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entiert an der Idee eines vom Glauben getragenen Ethos. In seinem allegor. Drama Draco mysticus, sive venatio (ebd. 1530) schildert V. in Anlehnung an das Ringen der göttl. Kräfte gegen die Mächte der Finsternis den Kampf des Gottstreiters Luther u. seiner Anhänger gegen die heidn. Götter u. den »römischen Drachen«. Weitere Werke: Axiomata quaedam rerum christianarum. Nürnb. 1526. – Eyn kurtz underricht den sterbenden menschen gantz tröstlich [...]. Ebd. 1527 u. ö. – Querela ditis. Dialogus. o. O. um 1530. – Ein kurtze unterricht von beyden sacramenten, dem Tauff u. Nachtmal Christi. Ebd. 1530. – Ermanung zum Creutz in der zeyt der verfolgung. Ebd. 1530. Ausgabe: Internet-Ed. etlicher Werke in: VD 16. Literatur: Bibliografie: VD 16 (unter Gechauf). – Weitere Titel: Georg Andreas Will: Nürnbergisches Gelehrten-Lexicon [...]. 4. Tl., Nürnb./Altdorf 1758. Nachdr. Neustadt an der Aisch 1997, S. 83–87. – Christoph Ernst Luthard: Gesch. der christl. Ethik. Bd. 2, Lpz. 1893, S. 88 f. – Paul Tschackert: T. V. In: ADB. – Theodor Kolde: T. V., sein Leben u. seine litterar. Thätigkeit. In: Beiträge zur bayer. Kirchengesch. 13 (1907), S. 97–121, 157–195. – Ders.: T. V. In: RE. – Gerhard Pfeiffer: Quellen zur Nürnberger Reformationsgesch. [...]. Nürnb. 1968. – Andreas Osiander: Gesamtausg. Hg. Gerhard Müller. Bde. 1–3, 5 u. 6, Gütersloh 1975–85, Register. – Robert Stupperich: Reformatorenlexikon. Gütersloh 1984, S. 212. – Stephan Füssel: T. V. In: Contemporaries. – Humanismus in Erfurt. Hg. Gerlinde Huber-Rebenich u. Walther Ludwig. Rudolstadt/Jena 2002, Register. Ingeborg Dorchenas / Red.

Vennemann, Kevin, * 1977 Dorsten. – Prosaautor. V. studierte Germanistik, Anglistik, Judaistik u. Geschichte in Köln, Innsbruck, Berlin u. Wien. Im Alter von 25 Jahren veröffentlichte er mit dem Erzählungsband Wolfskinderringe (Köln 2002) seinen wenig beachteten literar. Erstling. Der drei Jahre danach publizierte Roman Nahe Jedenew (Ffm. 2005) wurde dagegen in zahlreichen Feuilletons emphatisch lobend besprochen. Er handelt von zwei Zwillingsschwestern, die sich in ein Baumhaus gerettet haben, nachdem ihre Familienangehörigen von poln. Bauern im Verein mit dt. Soldaten ermordet worden waren. Der

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Bauernhof, auf dem sie aufgewachsen sind, ist nur noch ein »schwelendes Etwas«, auf dem Teich schwimmt ein leuchtend weißes Kleid einer jungen Mutter u. daneben das Nachthemd ihrer Tochter, von der es heißt, sie sei noch »viel zu klein, um schon dazuzuzählen«. Dass hier ein Pogrom an zwei jüd. Familien verübt wurde, wird nur allmählich u. nur dem aufmerksamen Leser deutlich. Auch Orts- u. Zeitangaben bleiben ungenau, aber wegen der Desorientierung über das Wo, Wann u. Warum erzeugt der Text eine ungeheure Spannung. Erst am Ende erschließt sich, dass er den ›stream of consciousness‹ einer der beiden Zwillingsschwester kurz vor ihrem Tod abbildet. Dabei gleitet die Schilderung der Gegenwart immer wieder in Erinnerungen an Vergangenes über. Durch die Fragmentierung u. Rekombination von Erlebtem, Empfundenem u. Erinnertem ergibt sich ein mehrfach paradoxer Effekt: Der Text hinterlässt erstens den Eindruck großer Unbestimmtheit, der aber zgl. gepaart ist mit hoher Detailgenauigkeit; er verleiht zweitens einem Kind eine Sprach- u. Ausdruckskraft, die es nie u. nimmer haben könnte, weil verschiedene Wahrnehmungs- u. Beschreibungsformen sich durchmischen u. so das Erzähl-Ich passagenweise zu einem personalen oder sogar auktorialen Erzähler transformiert wird. Diese erzähltechn. Manöver verhindern eine identifikatorische Einfühlung; dennoch entsteht der Eindruck von enormer Nähe. V.s zweiter Roman Mara Kogoj (Ffm. 2007) knüpft thematisch an Nahe Jedenew an. In einer Folge von Interviews wollen der Slowene Tone Lebonja u. die Slowenin Mara Kogoj Bürger aus Kärnten zu ihrer Biografie u. polit. Überzeugung befragen. Als Proband meldet sich u. a. der sechzigjährige Ludwig Pflüger, ein reaktionärer Schwadroneur, der in einer ebenso chaotischen wie selbstgerechten Suada unter Verweisen auf Erzählungen seines Vaters ein Massaker an elf Mitgliedern der Familien Sadovnik u. Kogoj, das am 25.4.1945 von Angehörigen des SSPolizeiregiments 13 verübt wurde, zur Bluttat slowen. Partisanen erklärt. Dieser Rekonstruktion der Denk- u. Sprechweise eines Geschichtsrevisionisten samt der mit ihr ver-

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bundenen Plausibilisierungsstrategien wird zwar schließlich als Kontrapunkt eine Erwiderung Mara Kogojs entgegengesetzt, aber es ist längst klar, dass sich jede Diskussion erübrigt. Am Ende stehen sich die Protagonisten zweier unvereinbarer Geschichtsbilder nicht weniger unversöhnbar gegenüber als am Anfang. – V. wurde 2007 mit dem Heimrad-Bäcker-Förderpreis u. 2009 mit dem Margarete-Schrader-Preis ausgezeichnet. Weiteres Werk: Beiderseits. BR 2007 (Hörsp.). Gunther Nickel

Verdion, Otto Bernhard, * 1719, † 5.8. 1800 Gut Löbitz bei Naumburg/Saale. – Romanautor.

scheinlichsten Zufälle als weise Fügungen Gottes darstellt. Diese das »Chaos« der wechselnden Schicksale, denen die statisch gezeichneten Charaktere unterworfen sind, gestaltende Ordnung sichert zusammen mit dem Thema »Sieg der Vernunft und Tugend über die Triebnatur« u. der Schilderung von Verhaltensformen u. Details häusl. Lebens der Zeit den Wirklichkeitsbezug der im »exotischen« Milieu angesiedelten u. zügig erzählten Handlung. Dass V. seinem Publikum v. a. Lesevergnügen bereiten wollte, zeigt sich u. a. darin, dass der Bösewicht nur dazu dient, spannende Abenteuer auszulösen u. nicht, wie in Schnabels Fata, die Frage nach der Bedeutung des Bösen in der Welt aufzuwerfen. Literatur: Ernst Weber u. Christine Mithal: Dt.

Über V. ist bisher nur bekannt, dass er kur- Originalromane zwischen 1680 u. 1780. Eine Bisächs. geheimer Kammerrat war u. Romane bliogr. [...]. Bln. 1983. Ernst Weber schrieb. Ob ihn die Not zwischen Studium u. Anstellung zu literar. Aktivitäten trieb oder Vermehren, Isa, * 21.4.1918 Lübeck, ob er sein Erzählen als Tätigkeit der Neben† 15.7.2009 Bonn; Grabstätte: Bonnstunden betrachtete, muss offenbleiben. Er Pützchen, Klosterfriedhof. – Ordensgilt als Verfasser von Wunderbare Begebenheit schwester, Verfasserin von Lebenserinnewelche sich mit einem Göttingischen Studenten rungen u. Sachbüchern. zugetragen hat [...] ([Jena] 1744. Tle. 2 u. 3 u. d. T. Der merckwürdigen Geschichte des Göttin- Als Tochter eines Rechtsanwalts wurde V. in gischen Studenten MONS. V** zweyter [bzw. dritter] ein alteingesessenes Lübecker PatriziergeTeil. Ffm./Lpz. [Eisenach] 1746 u. 1748. schlecht hineingeboren. Ihre Familie gehörte 2 1749), Leben und besondere Begebenheiten Peter der evang. Konfession an, war aber mit der Roberts, eines gebohrnen Engelländers (Dresden Kirche nicht besonders eng verbunden. Schon 1743. Fortgesetzt u. d. T. Zweyte Reise und be- früh entwickelten sich die Charakteristika sondere Begebenheiten Peter Roberts. Ebd. 1745. ihres Denkens: das Bedürfnis nach einer fes2 1763. 31771) u. Das Abentheuerliche Mädgen ten Ordnung, die sie später als Ordens(ebd. 1768), einer fiktiven Übersetzung aus schwester fand, die Verachtung des bloß Badem Französischen. Doch soll er bei Johann nalen, die sie vor der ideolog. VereinnahNicolaus Gerlach Nachf. (Dresden), der in den mung durch die Nationalsozialisten bewahr1740er bis 1760er Jahren über zwei Dutzend te, u. die Suche nach einem allzeit gültigen Abenteuer- u. Reisegeschichten verlegte, Orientierungspunkt, der sie für alles Religiöse empfänglich machte. Als V.s Vater 1924 noch weitere Romane veröffentlicht haben. V. war den Auflagen nach ein erfolgreicher zum Syndikus bei der Hapag berufen wurde, Autor. Dabei unterscheiden sich seine Ro- siedelte die Familie nach Hamburg über, von mane in Stoff- u. Themenwahl wie in der dort aus 1929 nach Travemünde. Schließlich Verbindung von Elementen des hohen u. kehrte V. mit Mutter Petra, die später als niederen Gattungstyps kaum von anderen Journalistin arbeitete, u. ihren beiden Brüder Zeit. Der Ereignisreihung der Robinso- dern nach Lübeck zurück; der Vater blieb alnade Leben [...] Peter Roberts gibt V. zum einen lein in Hamburg zurück u. sah seine Familie dadurch Struktur, dass er ihr die constantia- fortan nur noch am Wochenende. In Lübeck Thematik des höfisch-histor. Romans unter- besuchte V. das Ernestinengymnasium. legt, zum anderen, indem er die unwahr- Schnell offenbarte sich ihr musikal. Talent;

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sie begeisterte sich v. a. für das Ziehharmonikaspiel. Wegen ihres eigenwilligen Kopfes u. ihrer Weigerung, die Nazifahne zu grüßen, war V. nach der »Machtergreifung« an ihrer Schule nicht mehr wohl gelitten. Da somit das Abitur in unerreichbare Ferne gerückt war, beendete V. 1933 ihre Schullaufbahn mit der Mittleren Reife. Sie zog in das kosmopolitischere Berlin, wo sie sich mit ihrer musikal. Begabung den Lebensunterhalt verdienen wollte u. sich bei Werner Finck vorstellte. Nach ihrem gelungenen Einstand trat V. regelmäßig in Fincks »Katakombe« auf, zunächst unter dem Pseudonym Hanna Dose. Sie wirkte an Sketchen mit, stand zumeist aber allein, als Sängerin, auf der Bühne. Mit ihrem Schifferklavier u. ihrer natürl. Stimme konnte sie die Zuhörer mitreißen, ebenso mit ihrer erfrischend frechen Art. Ihre Version von Eine Seefahrt, die ist lustig wurde rasch bekannt. V. bekam sogar die Gelegenheit, in einigen Filmen mitzuwirken (u. a. Musik im Blut. 1934. Grüß mir die Lore noch einmal. 1934). Die Verhaftung Fincks 1935 bedeutete für V. eine Zäsur; ihre Karriere wurde dadurch aber keineswegs beendet. Sie gab weiterhin Konzerte in verschiedenen dt. Städten, war in Radiosendungen zu Gast u. nahm Schallplatten auf. Doch die Existenz als Künstlerin erfüllte V. immer weniger, sie suchte nach einer intellektuellen Herausforderung: Darum bewarb sie sich am staatl. Berliner Abendgymnasium. Außerdem studierte sie die Schriften Otto Karrers, dessen Gedanken sie für den Katholizismus einnahmen. Das Interesse an der anderen Konfession vertiefte sich durch ihre Bekanntschaft mit Isa Gräfin Plettenberg, einer theologisch hochgebildeten u. zugleich frommen Frau. Sie unterwies V. systematisch in der kath. Glaubenslehre; bald nahm auch V.s Bruder Erich an den Gesprächen teil. 1938 konvertierte V. zum Katholizismus, im folgenden Jahr auch ihr Bruder. Im Febr. 1939 legte V. das Abitur ab u. wohnte für ein Jahr im Studentinnenheim des Ordens »Sacré Cœur«, wo sie sich noch intensiver in die Grundfragen des Glaubens einführen ließ. Dort spürte sie erstmals ihre Berufung zum geistl. Leben. Zugleich plante sie, sich an der Universität zu immatrikulieren. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges

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machte dieses Vorhaben unmöglich. V. meldete sich freiwillig zum Roten Kreuz. Im Febr. 1944 lief ihr Bruder Erich, Gehilfe u. Berater des Militärattachés in Istanbul u. inzwischen verheiratet mit Gräfin Plettenberg, zu den Engländern über. Zusammen mit ihrer Familie wurde V. daraufhin in »Sippenhaft« genommen. Die folgenden Monate verbrachte sie in verschiedenen Konzentrationslagern. Nach der Befreiung drängte sie ihr Vater dazu, die Erlebnisse aus diesen furchtbaren Monaten aufzuschreiben, daraus entstand ihr bekanntestes Werk Reise durch den letzten Akt. Ravensbrück, Buchenwald, Dachau: eine Frau berichtet (Hbg. 1946. Neuaufl. Reinb. 1979. Zuletzt 2005). 1948 bat sie ihr einstiger Förderer Finck, sein neues Ensemble zu verstärken, u. so trat V. der »Mausefalle« bei. Ihre Mitarbeit blieb Episode. Nach wie vor wollte sie lieber der Gemeinschaft von »Sacré-Cœur« beitreten, als ihre alte Karriere wieder aufnehmen. Nach den Vorgaben des Ordens brauchte sie dazu allerdings einen Studienabschluss. In Bonn begann sie deshalb 1947 ein Lehramtsstudium mit der Fächerkombination Englisch u. Deutsch, das sie 1951 mit dem Staatsexamen abschloss. Während ihres Studiums wohnte sie im »Herz-Jesu-Kloster« von Pützchen. Nach ihrem Referendariat wurde sie Lehrerin an der klostereigenen St. Adelheid-Schule, einem Mädcheninternat. 1959 legte sie die Ewigen Gelübde ab u. übernahm das Amt der Schulleiterin. Zehn Jahre später wechselte sie von Bonn nach Hamburg, an die SophieBarat-Schule, der sie bis 1983 vorstand. Ihren Lebensabend verbrachte sie an der Seite einiger älterer Schwestern; zusammen bewohnten sie eine Villa in der Bonner Südstadt, die ihnen der Orden zur Verfügung gestellt hatte. Erneut wurde V. jetzt einem breiten Publikum bekannt. Als erste Frau lieferte sie Beiträge für die ARD-Sendung »Das Wort zum Sonntag«. In ihrem wichtigen Buch Reise durch den letzten Akt, einem der ersten publizierten Erfahrungsberichte aus den Konzentrationslagern, gibt V. Einblick in eine Welt des »entselbstete[n] Menschsein[s]«. Auch die Häftlinge werden hier zu Tätern, zu »verkapselten Menschen«. Egoistisch auf ihr eigenes

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Wohlergehen bedacht, bekämpfen sie sich, anstatt sich das schwere Los ihrer Gefangenschaft gegenseitig zu erleichtern. Den bedrückenden Einblicken in die menschl. Psyche zum Trotz weigert sich V., die Vorstellung vom Wert des Menschen aufzugeben. Aus ihrer christl. Überzeugung heraus ruft sie vielmehr dazu auf, auch in dem »entsetzlichsten anderen« noch den liebenswerten Nächsten zu erkennen. Weitere Werke: Mutter Barat. Gestalt u. Sendung der Stifterin des Sacré Cœur (zus. mit E. Smith). Bln. 1966. – Zeugnis aus dunkler Vergangenheit. Der anonyme Märtyrer u. die Wahrheit des Personalen. Würzb. 1984. – Helmuth James Graf Moltke. Eine Skizze. In: Vom Widerstand lernen. Von der Bekennenden Kirche bis zum 20. Juli 1944. Hg. Regina Claussen u. Siegfried Schwarz. Bonn 1986, S. 87–92. – Die Frau als Eva (zus. mit Inge Dunkelberg). Köln 1990. – Die Frau als Venus (zus. mit I. Dunkelberg). Köln 1990. – Aufstand zum Leben. Wegbereitungen für Ostern. Freib. i. Br. u.a. 1996. – Der Mensch – das Kostbarste! Erfahrungen u. Gedanken. Annweiler 2008. Literatur: Ingrid Geschwenter-Blachnik: I. V. (* 1918). Ja-sagen zu Gott u. seinen Geschöpfen. Schule als Ort praktizierter Nächstenliebe. In: Religionspädagoginnen des 20. Jh. Gött. 1997, S. 273–285. – Matthias Wegner: Ein weites Herz. Die zwei Leben der I. V. Bln. 2004. – Gabriele Knapp: I. V. (geb. 1918). Musikerin, KZ-Überlebende, Ordensfrau, Pädagogin. In: Ztschr. für Museum u. Bildung 63 (2005), S. 85–98. – Barbara Degen: ›Das Herz schlägt in Ravensbrück‹. Die Gedenkkultur der Frauen. Opladen 2010. Alexander Schüller

Vermehren, Johann Bernhard, * 6.6.1777 Lübeck, † 29.11.1803 Jena. – Lyriker, Essayist. Der Sohn eines Kaufmanns besuchte seit 1784 das Lübecker Katharineum. 1796 ging V. nach Jena, wo er promoviert wurde u. als Privatdozent an der Philosophischen Fakultät der Universität lehrte. Dort wurde er mit Friedrich Schlegel u. dessen frühromant. Ideen bekannt. V.s Œuvre ist, bedingt durch seinen frühen Tod an einer Krankheit, sehr schmal. 1800 legte V. als selbstständige Publikation ein nahezu 30-seitiges, in Versen abgefasstes Lobgedicht Über Schiller’s Maria Stuart (Jena)

Vershofen

vor. Sein weitaus umfangreichstes Werk, die Briefe über Friedrich Schlegel’s Lucinde zur richtigen Würdigung derselben (ebd. 1800), stellt innerhalb des Skandals u. der publizistischen Auseinandersetzungen, die Schlegels Lucinde von 1799 auslöste, eine der wenigen apologetischen Stimmen dar. Allerdings werden V.s Betrachtungen weder den inhaltl. noch den formalen Intentionen des Romans gerecht, vielmehr deutet er ihn massiv im Sinne seiner eigenen, konservativen Vorstellungen über Ästhetik u. Liebe um. V. gab für die Jahre 1802 u. 1803 einen »Musen-Almanach« (Lpz. bzw. Jena) heraus, für den er selbst eine Reihe von wenig originellen Gedichten verfasste (auch F. Schlegel gehörte zu den Beiträgern). Themen der Romantik, bes. aber der antiken Klassik spielen in ihnen eine Rolle. Eine bevorzugte Form ist das Sonett, das V. sogar zum Thema eines eigenen Sonetts machte. Weiteres Werk: Schloß Rosenthal. Ein Mährchen. Bln. 1803. Walter Olma

Vershofen, Wilhelm, * 25.12.1878 Bonn, † 30.4.1960 Tiefenbach/Allgäu. – Erzähler, Wirtschaftswissenschaftler. Nach einer Kaufmannslehre studierte V. in Bonn u. Jena Kunstgeschichte, Philosophie u. Germanistik (1904 Dr. phil.), danach Volkswirtschaft. Als Handelskammersyndikus in Sonneberg reorganisierte er nach 1916 die erzgebirg. Glas- u. die thüring. Spielwarenindustrie. 1923 gründete er das Institut für Wirtschaftsbeobachtung in Nürnberg u. erhielt einen Ruf als Professor für Wirtschaftswissenschaften an die dortige Handelshochschule. 1933 erfolgte aus polit. Gründen seine Emeritierung, worauf er sich als freier Schriftsteller nach Tiefenbach zurückzog. V. gründete 1912 zusammen mit Josef Winckler u. Jakob Kneip den Bund der Werkleute auf Haus Nyland. Das Programm ihrer Zeitschrift »Quadriga« (1912–14. 1918–22 u. d. T. »Nyland«) sprach sich für eine Synthese von »Imperialismus und Kultur, von Industrie und Kunst, von Wissenschaft und Wirtschaft« aus, wandte sich sowohl gegen die »L’art pour l’art-Anmaßung« des George-Kreises u. gegen »weltfremdes

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Ästhetentum« als auch gegen jegl. Kontakt mit der organisierten Arbeiterbewegung u. nahm Elemente der faschistischen Arbeitsideologie vorweg. Auch V.s Werk ist der Ästhetisierung der kapitalistischen Industriewelt verpflichtet. Sein bekanntester Roman, Der Fenriswolf (Jena 1914), ist eine Montage aus fiktiven Dokumenten, die anhand der Monopolisierung der Wasserkraft in Norwegen die Funktionsweise moderner Marktwirtschaft zeigen will. Der Industrieroman Das Weltreich und sein Kanzler (ebd. 1917) beschreibt am Beispiel eines amerikan. Kupfermonopols die kapitalistische Wirtschafts- u. Finanzwelt. Weitere Werke: Wir Drei (zus. mit Josef Winckler u. Jakob Kneip). Bonn 1904 (L.). – Die Reisen Kunzens v. der Rosen, des Optimisten. Jena 1910. – Das brennende Volk. Kriegsgabe der Werkleute auf Haus Nyland. Ebd. 1915 (L.). – Tyll Eulenspiegel. Ein Spiel v. Not u. Torheit. Ebd. 1919. – Swennenbrügge. Das Schicksal einer Landschaft. Siegburg/Lpz. 1924 (R.). – Rhein u. Hudson. Elf Grotesken. Wiesb. 1929. – Licht im Spiegel. Köln 1934. – Poggeburg. Die Gesch. eines Hauses. Lpz. 1934. – Seltsame Gesch.n. Essen 1938. – Zwischen Herbst u. Winter. Aus den Erinnerungen des Dirk Brüggemann. Essen 1938 (R.). – Das Jahr eines Ungläubigen. Stgt./Bln. 1942. – Philosophische Schr.en. Hg. Georg Bergler. Mchn. 1966. Literatur: Wilhelm Meridies: W. V. Ein rhein.westfäl. Dichterphilosoph der Gegenwart. Stgt. 1959. – Georg Bergler: W. V. In: Wolfgang Buhl (Hg.): Fränk. Klassiker. Nürnb. 1971. – Rainer Stollmann: Ästhetisierung der Politik. Literaturstudien zum subjektiven Faschismus. Stgt. 1978. – Josef Winckler: Briefw. 1912–1966. Bearb. v. Wolfgang Delseit. Köln 1995, passim (s. Register). Sabina Becker / Red.

Vertlib, Vladimir, * 2.7.1966 Leningrad. – Erzähler, Essayist u. Übersetzer. Nach Stationen in Israel, Italien, den Niederlanden u. den USA, die von Aufenthalten in Österreich unterbrochen wurden, siedelte V. 1981 mit seinen jüd. Eltern endgültig nach Österreich über, wo er nach der Matura ein Studium der Volkswirtschaft absolvierte (1984–1989). Er debütierte mit autobiografisch geprägten Prosatexten, in denen Erfahrungen der Emigration, der Heimatlosigkeit u. des Identitätsverlusts reflektiert werden

(Abschiebung. Salzb./Wien 1995. Zwischenstationen. Wien/Mchn. 1999. Überarb. Ausg. Mchn. 2005). V. erkennt in diesen Erfahrungen die Signatur der Epoche. Auch die jüd. Themen, mit denen er sich in seinen folgenden Romanen beschäftigt, dienen ihm »als Symbol, um allgemein gültige Themen zu behandeln und menschliche Schicksale zu beschreiben« (Reise zu meinen Wurzeln. In: NU 2004, S. 15–18, hier S. 18). In dem Roman Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur (Wien/ Mchn. 2001), der Erinnerungen seiner Großmutter an die Leningrader Blockade u. den Antisemitismus der Stalin-Ära verarbeitet, thematisiert V. das jüd. Leben nach der Shoah, von dem er mit Ironie, satir. Witz u. groteskem Humor erzählt. Diese Stilmittel verwendet V. auch in anderen Texten. In dem Roman Letzter Wunsch (Wien/Ffm. 2003) verfolgt er die Frage weiter, was heute jüd. Identität sei. Gabriel Salzinger, der IchErzähler, darf seinen Vater nicht neben der Mutter auf dem jüd. Friedhof begraben, weil dieser kein ›echter‹ Jude gewesen ist. Die christl. Mutter seines Vaters war zwar 1933 »aus Prinzip« zum Judentum konvertiert, doch nach orthodox-jüd. Gesetz ist sie keine Jüdin. Von »Lebensgeschichten«, denen die österr. NS-Vergangenheit ihre Spuren aufgedrückt hat, handelt der Erzählband Mein erster Mörder (Wien 2006). In dem Roman Am Morgen des zwölften Tages (Wien 2009) wird eine gescheiterte Liebesbeziehung zu einem Araber für die Erzählerin zum Anlass, über das Verhältnis der Nationalsozialisten zum Islam nachzudenken, denen ihr Großvater, ein bekannter Orientalist, während des Zweiten Weltkriegs als Soldat im Irak diente. V. verarbeitete in dem Roman histor. Quellen aus der Zeit des »Dritten Reiches«. Während V. sich zunächst auf die Darstellung von Migrationserfahrungen in der Gegenwart konzentrierte, stellt er in seinen späteren Veröffentlichungen das Trauma der Überlebenden u. Nachgeborenen des NS-Regimes in den Mittelpunkt. In seinen Dresdner Poetik-Vorlesungen (2006) bekennt er sich emphatisch zum Erzählen u. zu einer gesellschaftlich »engagierten Literatur«, welche die Hoffnung nicht verloren hat, das »die Welt durch Bücher [...] besser und erträglicher

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wird« (Spiegel im fremden Wort. Die Erfindung des Lebens als Literatur. Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen 2006. Mit einem Nachw. v. Annette Teufel u. Walter Schmitz sowie einer Bibliogr. Dresden 2007. 2., bearb. Aufl. 2008). Weitere Werke: Osteuropäische Zuwanderung nach Österr. (1976–1991). Unter besonderer Berücksichtigung der jüd. Immigration aus der ehemaligen Sowjetunion. Quantitative u. qualitative Aspekte. Wien 1995. Literatur: Thomas Kraft: V. V. In: LGL. – Sebastian Wogenstein: Topographie des Dazwischen: V. V.s ›Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur‹, Maxim Billers ›Esra‹ u. Thomas Meineckes ›Hellblau‹. In: Gegenwartslit. 3 (2004), S. 71–96. – Alfred Strasser: Einmal Leningrad – Wien – New York u. zurück. Stationen einer Odyssee in V. V.s Roman ›Zwischenstationen‹. In: Germanica 38 (2006), S. 103–113. – Hans-Joachim Hahn: ›Europa‹ als neuer ›jüd. Raum‹? – Diana Pintos Thesen u. V. V.s Romane. In: Von der nationalen zur internat. Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Lit. u. Kultur im Zeitalter globaler Migration. Hg. Helmut Schmitz. Amsterd./N. Y. 2009, S. 295–310. Peter Langemeyer

Vesper, Bernward, * 1.8.1938 Frankfurt/ O., † 15.5.1971 Hamburg (Freitod). – Publizist, Verleger, Verfasser eines autobiografischen »Romanessays«. Als Sohn des nationalsozialistischen »Parteidichters« Will Vesper wuchs V. auf Gut Triangel/Niedersachsen auf, erlernte den Buchhandel u. schrieb erste Gedichte in deutschnationalem Ton. Zusammen mit seiner Kommilitonin Gudrun Ensslin gründete er einen Verlag, um die Werke seines Vaters herauszugeben. Seit 1961 studierte V. in Tübingen Germanistik; er engagierte sich in der Anti-Atomtod-Bewegung u. im SPD »Wahlkontor« u. gab die Anthologie Gegen den Tod. Stimmen deutscher Schriftsteller gegen die Atombombe (Stgt. 1964) heraus. In den Jahren der Studentenbewegung wurden die VoltaireFlugschriften (1966 ff.) u. -Handbücher, für die V. Autoren wie Heinrich Böll, Che Guevara, Jean-Paul Sartre, Peter Weiss gewann, ein wichtiges Forum linker Systemkritik. Mit seinem u. Gudrun Ensslins Sohn Felix lebte V. teilweise auf Reisen u. arbeitete nach 1969 an einem autobiogr. Projekt. 1971 nahm er

sich, nach längerer psychiatr. Behandlung, während eines Klinikurlaubs in HamburgEppendorf das Leben. V.s unvollendet gebliebener »Romanessay« Die Reise (hg. von Jörg Schröder. Jossa/Ffm. 1977. Ausg. letzter Hand Bln./Schlechtenwegen/Ffm. 1979) zeichnet das Bild des Autors als Opfer der faschistischen autoritären Erziehung u. wurde bald zum Erfolgs- u. Kultbuch der sog. 68er-Generation. Der Titel Die Reise bezieht sich v. a. auf die »Reise in die eigene Vergangenheit«, die sich bald als wichtigste Ausrichtung des Schreibprozesses erwies. Die »gegenwärtigen« Identitätskrisen, Protesthaltungen u. Ausbruchsversuche des Autors wie seiner Generation sollten als Spätfolgen der Erziehung u. als Versuche, diese lebensgeschichtl. Beschädigung aufzuarbeiten, interpretiert werden. V. belässt es jedoch nicht bei einseitigen Schuldzuweisungen. Er benennt u. reflektiert, zunehmend in den späten Notizen, auch eigene problemat. Aspekte, wenn er die Identifikation mit dem Nazi-Vater ausfantasiert oder den eigenen »Opportunismus« kritisiert. V.s Aufzeichnungen bilden eines der radikalsten u. authentischsten Selbstzeugnisse der Nachkriegsgeneration. Weitere Werke: Gerardo Diego: Versos. Gedichte. Bln. 1964 (Übers.). – Notstandsgesetze v. Deiner Hand. Briefe 1968/69 (zus. mit Gudrun Ensslin). Hg. Caroline Harmen. Ffm. 2005. Literatur: Heinrich Böll: Wohin die Reise gehen kann. In: Ders.: Werke. Essayistische Schr.en u. Reden. Bd. 3, Köln 1978, S. 497–502. – Michael Schneider: Über die Außen- u. Innenansicht eines Selbstmörders. In: Ders.: Den Kopf verkehrt herum aufgesetzt. Darmst./Neuwied 1981, S. 65–79. – J. Christoph Martin: Schreiben : Harakiri. Über B. V.s Romanessay ›Die Reise‹. Diss. Graz 1982. – Frederick Alfred Lubich: B. V.s ›Die Reise‹: Von der Hitler-Jugend zur RAF. Identitätssuche unter dem Fluch des Faschismus. In: German studies review 10 (1987), S. 69–94. – Christian Schultz-Gerstein: Die Zerstörung einer Legende. In: Ders.: Rasende Mitläufer. Bln. 1987, S. 37–43. – Jochen Vogt: Wir Kinder v. Murks u. Coca-Cola. In: Ders.: Erinnerung ist unsere Aufgabe. Opladen 1991, S. 89–104. – Andrew Plowman: B. V.s ›Die Reise‹. Politics and autobiography between the student movement and the act of self-invention. In: German studies review 21 (1998), S. 507–524. – Roman Luckscheiter: Der

Vesper revolutionäre Rausch. B. V.s Roman ›Die Reise‹ u. das psychedel. Bewußtsein v. 1968. In: Rausch. Hg. Helmuth Kiesel u. Dieter Dollinger. Bln. u. a. 1999, S. 273–292. – Horst Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiogr. Romane v. B. V., Christa Wolf u. Thomas Bernhard. Ffm. u. a. 2000. – GerritJan Berendse: Schreiben als Körperverletzung. Zur Anthropologie des Terrors in B. V. ›Die Reise‹. In: Monatshefte 93 (2001), S. 318–334. – Gerd Koenen: V., Ensslin, Baader. Urszenen des dt. Terrorismus. Köln 2003. – Ulrich Schall: B. V. In: LGL. – Michael Kapellen: Doppelt leben. B. V. u. Gudrun Ensslin. Tüb. 2005. – Henner Voss: Vor der Reise. Erinnerungen an B. V. Hbg. 2005. – Stephan Resch: Provoziertes Schreiben. Drogen in der deutschsprachigen Lit. seit 1945. Ffm. 2007. – Sven Glawion: Sicherer Aufbruch in die Vergangenheit. B. V. ›Die Reise‹ (1977/79). In: NachBilder der RAF. Hg. Inge Stephan u. Alexandra Tacke. Köln u. a. 2008, S. 24–38. – Axel Schalk: Nach dem Aufstand ist vor dem Aufstand. Autobiogr. Prosa im Kontext der Altachtundsechziger: Urs Jaeggi, Uwe Timm, B. V. In: Lit. für Leser 32 (2009), H. 4, S. 211–220. – Alois Prinz: Rebellische Söhne. Die Lebensgesch.n v. B. V., Hermann Hesse, Klaus Mann, Franz Kafka, Martin Luther, Franz v. Assisi, Michael Ende u. ihren Vätern. Weinheim 2010. Jochen Vogt / Red.

Vesper, Guntram, * 28.5.1941 Frohburg bei Leipzig. – Lyriker, Erzähler, Hörspielautor. V. war sechzehn, als seine Familie die DDR verließ. Nach dem Abitur auf dem Internat in Friedberg/Hessen veröffentlichte V. drei Gedichtbände, ehe 1970 der Prosaband Kriegerdenkmal ganz hinten (Mchn.) erschien. Er versammelt eine Vielzahl von meist nur zwei oder drei Druckseiten umfassenden Erzählungen über das Leben auf dem Dorf: »träge, deprimierende Stillleben« (Karl Krolow), die von List u. Heimtücke, Mord u. Totschlag berichten u. von dem Unglück, der Welt nicht gewachsen zu sein. In ihr lässt V. die Figuren dieser bizarren Geschichten stranden wie einen Haufen Schiffbrüchiger. »In welcher Welt wir leben. Was wir wollen. Wer wir sind«: Drei Sätze aus dem Erzählzyklus Nördlich der Liebe und südlich des Hasses (ebd. 1979), Stoff genug für unendlich viele Geschichten, Hörspiele u. Gedichte. Wie V.s dokumentarische Features referieren auch

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seine Hörspiele oft Kriminalfälle, an deren Beispiel er den Zustand der Gesellschaft, ihre geistige Verfassung u. die öffentl. Moral anschaulich zu machen sucht: ein verzweifeltes Verlangen nach Wahrheit, nach Zusammenhang u. Sinn, das auch in V.s Lyrik Ausdruck findet. Dem »elegischen, resignativen Grundton« (Paul Kersten) der frühen, in der ersten Hälfte der 1960er Jahre entstandenen Poeme setzen die neueren Gedichte (Die Illusion des Unglücks. Ebd. 1980) die intensive Reflexion entgegen, das »leise Rauschen zusammenhängender Gedanken«. Ihr Ziel ist die Erfahrung von Schönheit. Sie spendet Trost u. weckt Hoffnung auf ein Glück, das Die Inseln im Landmeer (Pfaffenweiler 1982) verheißen: utopische Orte, an denen für Augenblicke zu erfahren ist, wie unsere Welt zu verstehen sei. Das schließt auch die Erinnerung an die eigene Heimat samt ihrer »verschlissenen Landschaft« mit ein. »Irgendwo im Land«, heißt es im Buch zum Film Sächsisches Land (Freib. i. Br. 1991), »gibt es den Ort, die Straße, das Haus, wir haben dort die Kinderzeit verbracht, wir kommen schwer davon los«. Die bekenntnisreiche Textsammlung Lichtversuche Dunkelkammer (Ffm. 1992) spiegelt ein »Doppelbild des Gestern und Heute«. Den vorläufigen Höhepunkt seiner subtilen Erinnerungsprosa bilden die autobiogr. Miniaturen in Auftakt mit Arnold Z. (Bln. 2009). Weitere Werke: Am Horizont die Eiszeit. Mchn. 1963 (L.). – Fahrplan. Stierstadt 1964 (L.). – Gedichte. Gütersloh 1965. – Frohburg. Neue Gedichte. Ffm. 1985. – Laterna magica. Pfaffenweiler 1985 (E.). – Ich hörte den Namen Jessenin. Ffm. 1990 (L.). – Ein Winter am Anfang. Ffm. 1991 (E.). – Oblomowtag. Warmbronn 1992 (E.). – Die Erinnerung an die Erinnerung. Documentagedichte. Pfaffenweiler 1994 (L.). – Fortdauer des Augenblicks. Warmbronn 1995. – Frohburg. Mchn. 2000 (L.). – Wer ertrinkt, kann auch verdursten. Blieskastel 2002 (E.). – Bullenbuch u. Mordgesch. Frohburger Schreibversuche. Warmbronn 2008. – Stomps in Gießen. Bln. 2008 (E.). Literatur: Franz Josef Görtz: Wie Angst entsteht. In: FAZ, 25.8.1981. – Fritz J. Raddatz: Mitleid, Trauer u. Empörung. In: Die Zeit, 13.9.1985. – G. V., Peter Waterhouse: Texte, Dokumente, Materialien. Moos 1987. – Sibylle Cramer: G. V. In: LGL. – Hans-Jürgen Schrader: ›Daheim ist daheim‹.

759 Frühe Impulse neuer ›Heimat‹.Vermessung bei Adolf Muschg, G. V. u. Alois Brandstetter. Würzb. 2008. – F. J. Görtz: G. V. In: KLG. Franz Josef Görtz / Günter Baumann

Vesper, Will, Wilhelm, * 11.10.1882 Barmen bei Wuppertal, † 14.3.1962 Gut Triangel bei Gifhorn. – Erzähler, Lyriker, Essayist, Übersetzer, Herausgeber, Literaturfunktionär. V. legte stets Wert auf den Hinweis, einem althess. Bauerngeschlecht zu entstammen. Nach dem Abitur 1904 hörte er in München Vorlesungen in Geschichte u. Germanistik u. knüpfte Kontakte zu den Verlagen Langewiesche in Ebenhausen u. C. H. Beck. Im Ersten Weltkrieg war V. Soldat, später wissenschaftl. Hilfsarbeiter im Generalstab. Nach zwei Jahren als Feuilletonredakteur der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« in Berlin lebte er als freier Schriftsteller u. wurde 1923 Herausgeber der von Eduard Zarncke begründeten Monatsschrift »Die Schöne Literatur« (seit 1931 u. d. T. »Die Neue Literatur«). Am Beginn von V.s schriftstellerischer Karriere steht in Langewiesches Reihe »Die Bücher der Rose« die Anthologie Die Ernte. Aus acht Jahrhunderten deutscher Lyrik (Ebenhausen 1906), die bis in die 1960er Jahre zum dt. Bücherschatz gehörte. Dieser Lyriksammlung folgten zahlreiche weitere (Aus tausend Jahren. Deutsche Balladen und Kriegslieder. Ebd. 1912. Der deutsche Psalter. Ein Jahrtausend geistlicher Dichtung. Ebd. 1914); sie machten V. bis 1945 zu einem der anerkannten Vermittler dt. Dichtung. Hinzu kamen seine Editionen populärer Briefsammlungen (Goethe, Humboldt, Mörike) u. Leseausgaben von der Bibel über Grimmelshausen, Cervantes, Goethe, Hölderlin bis Immermann, Gotthelf u. Stifter in der Absicht, die Vergangenheit dem Volk näher zu bringen. Ein zweiter Schwerpunkt dieser emsigen Vermittlertätigkeit lag in V.s »Neuerzählungen« zumeist mittelalterl. dt. Literatur. In volkstüml., aber nicht simplifizierendem Stil gelang es V., etwa in Tristan und Isolde. Ein Liebesroman (Ebenhausen 1911), die Liebesgeschichte dem Leser aus hehrer Ferne herbei-

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zuholen. Auf ähnl. Weise verfuhr er mit der Nibelungen-Sage (Oldenburg 1921), der GudrunSage (ebd. 1922) u. der Historie von Reinecke dem Fuchs (ebd. 1928). Parallel dazu war V. seit 1903 (Lieder. Barmen) selbst produktiver Autor, Dichter in nahezu allen gängigen Literaturgattungen. Die Summe seiner Lyrik, einer wohlklingend reibungslosen Routineproduktion um Liebe, Natur, Mütterlichkeit, Krieg, bleibende Werte, Menschsein, zog er in der ersten Gesamtausgabe, Kranz des Lebens (Mchn. 1934); später kamen dezidiert völkische, darunter eine Vielzahl von Führergedichten, u. noch nach 1945 Widmungsgedichte an die nationalsozialistischen Weggenossen (Wilhelm Schäfer, Hermann Burte, Erwin Guido Kolbenheyer, Agnes Miegel) hinzu (Letzte Ernte. Triangel 1962). In histor. Erzählungen selektierte u. mythisierte V. aus der Geschichte eine »volkhafte« Tradition (Martin Luthers Jugendjahre. Mchn. 1918. Die Wanderung des Herrn Ulrich von Hutten. Ebd. 1922. Der Bundschuh zu Lehen. Lpz. 1925). In dem Roman Das harte Geschlecht (Mchn. 1931) wollte V. »dem nachwachsenden Deutschland verlorengegangene Härte und strenge Haltung gegenüber den Nöten des Lebens zurückgewinnen« (in: Deutsche Jugend. 30 Jahre Geschichte einer Bewegung. Bln. 1934, S. 314). Er ist angesiedelt in der Umbruchzeit der gewaltsamen Christianisierung in Norwegen u. Island u. feiert die Erdscholle als umkämpften Lebensraum u. Blut als rass. Blut der Geschlechterkette, als männlichkämpferisches u. Opferblut. Am Ende wird mit der Taufe des Helden Ref u. seiner Familie das »Wie-du-mir-so-ich-dir«-Ritual der Ehre durchbrochen u. ein humanes Miteinander propagiert. Mitgl. der NSDAP seit 1931, wurde V., Herausgeber der »Neuen Literatur«, mit seiner Berufung in die Preußische Akademie der Dichtung 1933, in die Reichsschrifttumskammer u. zum Gauobmann des NS-Reichsverbandes deutscher Schriftsteller zu einem der einflussreichen Literaturfunktionäre des »Dritten Reichs«. Er war aktiv an der Vorbereitung der Bücherverbrennung 1933 (in Dresden als deren Hauptredner) beteiligt, ebenso – unterstützt vom Vorsitzenden der

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Parteiprüfungskommission zum Schutz des Vetsch, Jakob, * 28.10.1879 Nesslau/KanNS-Schrifttums Philipp Bouhler – an der ton St. Gallen, † 22.11.1942 Zürich. – Kontrolle über öffentl. u. kommerzielle Verfasser utopischer Schriften. Leihbibliotheken, Buchhandel, Presse u. Der Sohn eines Appenzeller Lehrers studierte Film. In der Rubrik »Unsere Meinung« in der in Zürich dt. Philologie (Dr. phil. 1907), dann »Neuen Literatur« bekämpfte er ausschließJurisprudenz (Dr. jur. 1917) u. stand als Selich mit rassistisch-antisemitischen Argukretär des Schweizer Bierbrauerkartells vor menten alles »volksschädliche« Schrifttum, einer glanzvollen Wirtschaftskarriere, als er jüd. Verlage u. Autoren u. schmähte den 1922 überraschend alle Ämter niederlegte u. Kontakt zwischen jüd. Verleger u. arischem seine Utopie Die Sonnenstadt. Ein Roman aus der Autor als »literarische Rassenschande« (in: Zukunft für die Gegenwart (Zürich 1922) Die Neue Literatur, 1937, S. 103). Gegen schrieb, die er in 40.000 Exemplaren gratis Ende des »Dritten Reichs« scheint V. wegen verschickte. V. beschrieb darin das sorgenseiner Wertschätzung religiös-konfessionelfreie Leben in einer Zürich nachgezeichneten ler Dichtung in Schwierigkeiten mit der Parutop. Sonnenstadt des Jahres 2100 u. übte aus tei geraten zu sein. Mit dem Jahrgang 1943 dieser Perspektive vernichtende Kritik an der wurde die Zeitschrift eingestellt. Nach 1945 kapitalistischen Gesellschaft. Das Pamphlet pflegte V. bei Dichtertreffen mit alten u. sollte zusammen mit den gleichzeitig publineuen Freunden auf seinem Gut Triangel die zierten Mundistischen Schriften zum Kultbuch antimoderne, rechtskonservative Tradition von V.s »Mundismus« werden, der sich die weiter. Einen persönlichen, beklemmenden Realisation der Sonnenstadt-Utopie zum Ziel Eindruck hiervon gibt der autobiogr. Rosetzte. V.s gutgemeinter, mit der »Freigeldmanessay Die Reise des Sohns Bernward Vestheorie« verwandter Reformvorschlag stieß per, auf dessen – u. Gudrun Ensslins – Inauf den einhelligen Widerstand der Zeitgeitiative die postume, über einen Band nicht nossen. V. wurde als Campanella-Plagiator hinausgelangte Gesamtausgabe in Einzelausgaverdächtigt, als Propagator der freien Liebe ben (Mchn. 1963) der Werke V.s zurückgeht. verschrien u. konnte sich, nachdem er BankWeitere Werke: Briefw. Paul Ernst – W. V. rott gemacht hatte, einer psychiatr. Begut1919–1933. Einf., Ed., Komm. Alexander Reck. achtung nur durch die Flucht nach LiechWürzb. 2003. tenstein entziehen. Dort u. in Oberägi bei Literatur: Albert Soergel: W. V. In: Dichtung u. Zug, wo er zuletzt lebte, sagte er sich, innerDichter der Zeit. Dritte Folge. Dichter aus dt. Volkstum. Lpz. 1934. – Joseph Wulf: Lit. u. Dich- lich völlig gebrochen, von seinen utop. Ideen tung im Dritten Reich. Eine Dokumentation. Gü- los. tersloh 1963. – Dietrich Strothmann: Nationalsozialistische Kulturpolitik. Bonn 21963. – Ernst Loewy: Lit. unterm Hakenkreuz. Ffm. 1966. – Gisela Berglund: Der Kampf um den Leser im Dritten Reich. Die Literaturpolitik der ›Neuen Lit.‹ (W. V.) u. der ›Nationalsozialist. Monatshefte‹. Worms 1980. – Lex. ns. Dichter. – Susanne Schwabach-Albrecht: W. V. (1882–1962). In: Lit. v. nebenan. 1900–1945. 60 Portraits v. Autoren aus dem Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalen. Hg. Bernd Kortländer. Bielef. 1995, S. 366–370. – Uwe Day: Hohepriester des Hitlerkultes u. literar. Inquisitor. Über W. V. In: Griffel 9 (2000), S. 61–73. Hiltrud Häntzschel / Red.

Literatur: Charles Linsmayer: Von der Euphorie zur bitteren Erkenntnis. J. V. u. sein Roman ›Die Sonnenstadt‹. In: J. V.: Die Sonnenstadt. Neu hg. v. C. Linsmayer (Frühling der Gegenwart. Bd. 23). Zürich 1982, S. 296–352. Charles Linsmayer

Vetter, Vötter, Conrad, auch: Andreas de Cornu, Conrad Andreae, Martin Huber, Hueber, Hüber, * 1548 Engen/Schwaben, † 11.10.1622 München. – Jesuit, Prediger, Polemiker. Nach Kaplansjahren an der Kirche des Damenstifts in Hall trat V. 1576 in den Jesuitenorden ein. Ab 1588 wirkte er als Domprediger in Regensburg, wo er viele Protestanten zur Konversion bewegte. Seit seinem

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Noviziat, wo er durch seine rhetorische Be- auch Friedrich Spee – unter Nutzung von gabung auffiel, war V. mit Jakob Gretser be- Besonderheiten des Oberdeutschen, wenn die freundet, von dessen Schriften er einige ins Metrik es erforderte. Hier tritt neben die Deutsche übersetzte. Eine Vielzahl Johannes Liedpflege die an den Exerzitien des Ignatius Pistorius u. Gretser verpflichteter Kontro- von Loyola orientierte Kontemplation. versschriften machte ihn bekannt. V. verarWeitere Werke: Der beständige Luther. Ingbeitete hier die bei seinen Vorbildern entwi- olst. 1593. – Der Demüthige Luther. Ebd. 1595. – ckelten Gedanken zu dt. Flugschriften von Der Wahrhafftige Luther. Regensb. 1595. – Der geringem Umfang in leicht verständl., bild- christl. Luther. Ebd. 1597. – Der Engelische Luther. hafter Predigersprache, die bei der einfachen Ingolst. 1598. – Der Gravitetische Luther. Ebd. Bevölkerung Anklang fanden u. die ihn zu 1599. – Der Andechtige Luther. Ebd. 1603. – Martyrologium Romanum. Das ist: Römischer Kircheneinem Propagandisten der Gegenreformation kalender [...] verteutscht. Durch Conradum Vetter machten. Viele Schriften befassen sich bes. [...]. Dillingen 1599 (von fremder Hand verb. u. mit Luther, dessen Werke V. gut kannte. verm. Neuaufl. Köln 1652; weitere Aufl. Mchn. Ausgangspunkt für seine Beschäftigung mit 1690 u. 1707). dem Reformator waren die Anatomiae Lutheri Ausgaben: Münchener DigitalisierungsZendes Pistorius. Sie lieferten ihm Stoff für eine trum. Digitale Bibliothek. Reihe eigener Polemiken, die er teils pseudLiteratur: Bibliografien: Backer/Sommervogel 8, onym veröffentlichte u. in denen sich Luther Sp. 617–635. – Dünnhaupt 6, S. 4134–4171. – vor dem Jüngsten Gericht rechtfertigen muss. Weitere Titel: Wilhelm Bäumker: Das kath. dt. KirDabei geriet V. häufig in öffentl. Kritik – chenlied [...]. Bd. 1, Freib. i. Br. 1883, S. 174 ff. – nicht nur bei Protestanten. Mnemotechni- Guido Maria Dreves: C. V. In: ADB. – Kneller: C. V. schen Zwecken dient V.s Katechismus Petri Ca- In: Wetzer u. Weltes Kirchenlexikon. Bd. 12, Freib. 2 nisii für die gemeine Layen und die junge Kinder, i. Br. 1901, S. 872 f. – Nikolaus Scheid: C. V. In: The Catholic Encyclopedia. Hg. Charles G. Herum besser Gedächtnis willen in Reim verfasset bermann u. a. Bd. 5, New York 1912, S. 394. – (1599. Mchn. 1753). Zu seinen gegenreforDieter Breuer: Oberdt. Lit. 1565–1650. Mchn. matorischen Schriften gehören auch mehrere 1979. – DBA. – Hans Georg Kemper: Dt. Lyrik der Veröffentlichungen zum Regensburger Reli- frühen Neuzeit. Bd. 3, Tüb. 1988, S. 165. gionsgespräch von 1601. Verdient machte er Franz Günter Sieveke sich ferner als Übersetzer um die Verbreitung der Werke seines Ordensbruders Jeremias Viebahn, Fred, * 16.4.1947 GummersDrexel. bach. – Romancier, Erzähler, Dramatiker. Neben Polemiken verfasste V. auch aszetische Schriften, z.B. das Mortificationsbüchlein Der Sohn eines Finanzbeamten machte 1966 (Ingolst. 1599) oder ein Geistliches Creutz und in Köln Abitur u. studierte dort bis 1971 ohne Trostbüchlein (Augsb. 1605). Ferner war er ei- Abschluss Germanistik, Theaterwissenschaft, ner der Jesuiten, die recht früh die Bedeutung Psychologie u. Philosophie. Gleichzeitig endes dt. Kirchenlieds für die Ausbreitung der gagierte er sich als Juso in der SPD. 1973 ging Reformation erkannten. So gab er selbst ein V. nach Berlin u. war von 1974 bis 1976 im meist Übersetzungen aus dem Lateinischen Vorstand des VDS. Als writer-in-residence in enthaltendes Gesangbuch heraus (Rittersporn. Iowa lernte er 1976 die afroamerikan. Ingolst. 1605), in dem er in zyklisch ange- Schriftstellerin Rita Dove kennen, die er 1979 ordneten Kirchenliedern das Thema der heiratete u. deren Werk er seither ins Deutgeistl. Ritterschaft aufgriff. Eine zweite sche übersetzt. 1977 war V. Gastdozent für Sammlung von dt. Kirchenliedern – ebenfalls Germanistik an der State University of Texas meist Übersetzungen – erschien u. d. T. Para- in Austin, 1977–1979 am Oberlin College in deißvogel (ebd. 1613. Neuausg. von Gerhard Ohio, wo in dieser Zeit auch zwei seiner Dünnhaupt. Stgt. 1999). Sie enthält v. a. Theaterstücke (Das Naturtheater von Oklahoma. Neufassungen älterer Lieder u. Hymnen. 1978; Schurz oder Die Streiche der Geschichte. Noch vor der metr. Reform Opitz’ befolgt V. 1979) uraufgeführt wurden. 1981, als Rita des Prinzip der Alternation – ähnlich wie Dove eine Professur an der Arizona State

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University erhielt, zog er mit ihr nach Phoe- kenntnis münden, bei allem polit. Engagenix; seit 1989 leben sie in Charlottesville ment doch nur die eigene Freiheit im Sinn (Virginia). Seit 2005 gehört V. dem Vorstand gehabt zu haben. Folgerichtig behandelt V.s nächster Roman, Die Fesseln der Freiheit (Köln des Auslands-P.E.N. an. V.s erzählerisches Werk ist durch die krit. 1979. Überarb. Tb.-Ausg. Ffm. 1981. AmeriBezugnahme der jeweils neuesten Publikati- kan. Neufassung u. d. T. The Stain. Santa Cruz on auf die vorhergehende als Prozess ständi- 1988), der als Ausdruck tiefgreifender Unsiger Selbstkorrektur konzipiert. V. schließt cherheit zwischen Ich- u. personaler Erzähldabei in einen der Selbstreflexion äußerl. situation schwankt, die Beziehungskrisen eiHandlungsablauf, etwa eine Autofahrt oder nes Malers, der hofft, vergangenem Scheitern eine Ferienreise, Erinnerungsfragmente, be- zu entfliehen, indem er in der Gegenwart liebig abbrechende Selbstaussagen u. Le- neue Bindungen eingeht. Vermittels der Asbensanschauungen ein: Ausdruck einer sich soziationstechnik, die Kameraausschnitte vadem Erzählduktus verweigernden Sponta- riabler Brennweite aneinandermontiert u. neität des eigenen Selbst. In umgangssprachl. teilweise überblendet, bricht die Form des bis pornografischer Redeweise aufbegehrend Romans die Fesseln des Erinnerns auf u. hält gegen die Welt der Eltern u. das Bildungs- Geschichte offen. ideal der Schule, versucht V. im Stil eines Literatur: Christian Hartwig Wilke: F. V. In: underground-Autors, eigene Sinnlichkeit u. KLG. Michael Geiger / Jürgen Egyptien Vitalität gegen den Intellektualismus des Studentenprotests auszuspielen. Viebig, Clara, verh. Cohn, * 17.7.1860 Während V. in den frühen Texten des ErTrier, † 31.7.1952 Berlin; Grabstätte: zählbands Erfahrungen (Villingen 1968) in der Düsseldorf, Nordfriedhof (Grabstein von Gestaltung einer von sexuellen Fantasien geErnst Barlach). – Romanautorin, Novelprägten Traumwelt noch das unverbindl. listin, Dramatikerin. Spiel mit der Realität genoss, sieht sich in V.s erstem Roman, Die schwarzen Tauben oder Gi- Die Tochter eines aus Posen stammenden tarren schießen nicht (Hbg. 1969), der Ich- Oberregierungsrats verbrachte ihre frühe Erzähler nach der Zustellung seines Muste- Kindheit in Trier u. zog dann mit ihrer Farungsbescheids ausdrücklich zu einer Stel- milie nach Düsseldorf, wo sie die Luisenlungnahme herausgefordert. Um die Kriegs- schule, eine sog. Höhere Töchterschule, bedienstverweigerung als einzige Möglichkeit suchte. Im Alter von 16 Jahren verbrachte sie darzustellen, sich selbst treu zu bleiben, re- ein Pensionsjahr bei einem Freund ihres Vakapituliert Jo Huschina in einem assoziativ ters in Trier. Die von hier in die Eifel untergesteuerten Erinnerungsprozess die eigene nommenen Ausflüge wirkten nach auf V.s Lebensgeschichte. In V.s zweitem Roman, Das späteres literar. Werk. Nach dem Tod des Haus Che oder Jahre des Aufruhrs (Hbg. 1973), Vaters (1881) war sie regelmäßig zu Gast bei erinnert sich Jo – nach der Jahrtausendwende Verwandten in der Provinz Posen. 1883 sievon einer seit den 1970er Jahren in der BR delte sie mit der Mutter nach Berlin um u. Deutschland herrschenden Militärdiktatur besuchte dort die Musikhochschule, um ein zum Tode verurteilt – an die Zeit der Stu- Gesangstudium zu absolvieren. Seit 1894 erdentenbewegung, deren Geschichte von den schienen kleinere Prosaarbeiten in der Machthabern unterdrückt wird. In Larissa oder »Volkszeitung«. 1895 lernte V. den jüd. VerDie Liebe zum Sozialismus (Leverkusen 1976) leger Fritz Theodor Cohn kennen, den sie weckt der Telefonanruf seiner russ. Reise- 1896 heiratete. Cohn war Mitinhaber der führerin – mit ihr hatte sich der Ich-Erzähler, Berliner Verlagsbuchhandlung Fontane & Co. Journalist u. Schriftsteller wie V. selbst, über (seit 1903 Fleischel & Co.), in der bis 1914 alle die Enttäuschung des real existierenden So- ihre Romane erschienen. In der NS-Zeit war zialismus in einer kurzen, aber um so hefti- V. bemüht nicht aufzufallen; erst nach dem geren Liebesbeziehung hinweggetröstet – Tod ihres Mannes (1936) wurde sie in die eine Flut von Erinnerungen, die in dem Be- Reichsschrifttumskammer aufgenommen.

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1937 zog sie zu ihrem Sohn nach Brasilien, kehrte aber schon nach einigen Monaten nach Hause zurück. Seit 1941 lebte sie im schles. Mittelwalde. 1946 vertrieben, kam sie zurück nach Berlin u. fristete dort, inzwischen fast vergessen, bis zu ihrem Tod ein kärgl. Dasein. Dabei war V. um die Jahrhundertwende eine der meistgelesenen Romanautorinnen, u. das nicht nur im dt. Sprachraum: Vortragsreisen führten sie in europ. Großstädte u. in die USA. Ihr schriftstellerisches Selbstverständnis richtete sich v. a. an Zola aus, dessen Germinal auf sie die Wirkung einer »Offenbarung« hatte, wie in einer autobiogr. Skizze von 1909 festgehalten: »Und wenn ich hundert Jahre alt würde, ich würde den Tag dieses Eindruckes nie vergessen; er ist bestimmend für mein ganzes Schaffen geworden«. Die »deutsche Zolaïde«, wie die Spätnaturalistin V. bald genannt wurde, hatte 1897 einen ersten Erfolg mit der Novellensammlung Kinder der Eifel (Bln.). Als Charakteristika ihres Erzählstils lassen sich hier schon – V. sollte sich weitgehend treu bleiben – erkennen: die psychologisch eindringl., plast. Darstellung namentlich unterer Volksschichten, die sich, meist vergeblich, gegen Natur, Schicksal u. soziale Härten im Daseinskampf zu behaupten suchen; die um Lebensechtheit bemühte exakte, Triebschicksale genetisch einkreisende Milieubeschreibung; die stimmungsvollen Bilder einer düsteren, rückständigen Landschaft, mit welcher der Mensch in sinnl. Einklang steht, die ihn aber auch in Abhängigkeit hält; dabei trotz deutl. Verbundenheit mit ihren Figuren ein nüchterner, direkter erzählerischer Zugriff. Die Eifel, von V. erstmals als Literaturregion zur Geltung gebracht, gibt auch den Hintergrund ihres humoristischen Romans Das Weiberdorf (Bln. 1900), dessen derb-drast. Realismus – während ihre Männer Arbeit im Kohlenpott suchen müssen, nehmen sich die Frauen des einzig Zurückgebliebenen an – zu öffentl. Empörung Anlass gab. Gegen den Aberglauben gerichtet ist der kirchenkrit. Roman Das Kreuz im Venn (Bln. 1908), in dessen Zentrum die Echternacher Springprozession steht.

Viebig

In ihren Romanen und Erzählungen (sowie wenigen Dramen) bevorzugte V., die nur auf erlebte, ihr vertraute Gegenden erzählerisch zurückgriff u. daher oft als »Heimatdichterin« klassifiziert wird, außerdem die Rheinlandschaft u. das Posener Land als Schauplätze. In Die Wacht am Rhein (Bln. 1902), einem von V.s Rückgriffen in die (jüngere) Vergangenheit, wird der zunehmenden Verpreußung im Zuge der Reichsgründung der positive Aspekt abgewonnen, »wie gut dem leichten rheinischen Blut die Mischung mit dem schweren, strengeren Preußenblute getan hat«. Das schlafende Heer (Bln. 1904) schildert die Germanisierungsversuche der poln. Ostmark in den 1880er Jahren, die am Sektierertum scheitern. Die Hälfte ihrer Romane sind aber in der expandierenden Reichshauptstadt Berlin angesiedelt: Das tägliche Brot (Bln. 1900; über Dienstmädchennöte), Einer Mutter Sohn (Bln. 1906; moralische Deformation infolge Vererbung), Die vor den Toren (Bln. 1910; Heimatverlust von Tempelhofer Bauern durch Bodenspekulation) u. Eine Handvoll Erde (Bln. 1915; Sehnsucht des Stadtmenschen nach eigenem Grund u. Boden). V., deren letzter Roman Der Vielgeliebte und die Vielgehasste (Stgt. 1935; über die Verbindung Friedrich Wilhelms II. mit Wilhelmine Enke) 1935 erschien, erfährt mit Neuauflagen v. a. ihrer Romane u. Erzählungen aus der Eifel (im Rhein-Mosel-Verlag) in jüngster Zeit wieder größere Aufmerksamkeit. 1992 wurde in Bad Bertrich eine C.-V.-Gesellschaft zur Pflege des literar. Erbes der Dichterin gegründet. Weitere Werke: Teilausgaben: Ausgew. Werke. 6 Bde., Bln. 1911. In 8 Bdn., Stgt. 1922. – Das Miseräbelchen u. a. Erzählungen. Hg. Bernd Jentzsch. Mit Nachw. v. Norbert Oellers. Olten/Freib. i. Br. 1981. – Einzeltitel: Rheinlandstöchter. Bln. 1897 (R.). – Barbara Holzer. Ebd. 1897 (D.). – Dilettanten des Lebens. Ebd. 1898 (R.). – Vor Tau u. Tag. Ebd. 1898 (N.n). – Es lebe die Kunst! Ebd. 1899 (R.). – Pharisäer. Ebd. 1899 (Kom.). – Die Rosenkranzjungfer. Ebd. 1901 (N.n). – Vom Müller Hannes. Ebd. 1903 (R.). – Naturgewalten. Ebd. 1905 (N.n). – Der Kampf um den Mann. Dramenzyklus. Ebd. 1905. – Absolvo te! Ebd. 1907 (R.). – Das letzte Glück. Ebd. 1909 (D.). – Die heilige Einfalt. Ebd. 1910 (N.n). – Das Eisen im Feuer. Ebd. 1913 (R.). –

Viebig Heimat. Ebd. 1914 (N.n). – Töchter der Hekuba. Bln./Stgt. 1917 (R.). – Das rote Meer. Ebd. 1920 (R.). – Unter dem Freiheitsbaum. Stgt. 1922 (R.). – Menschen u. Straßen. Großstadtnovellen. Lpz. 1923. – Der einsame Mann. Stgt. 1924 (R.). – Die Passion. Ebd. 1925 (R.). – Franzosenzeit. Ebd. 1925 (N.n). – Die goldenen Berge. Ebd. 1928 (R.). – Die mit den tausend Kindern. Ebd. 1929 (R.). – Charlotte v. Weiß. Bln. 1930 (R.). – Prinzen, Prälaten u. Sansculotten. Stgt. 1931 (R.). – Menschen unter Zwang. Ebd. 1932 (R.). – Insel der Hoffnung. Ebd. 1933. Literatur: Waldemar Gubisch: Untersuchungen zur Erzählkunst C. V.s unter besonderer Berücksichtigung der Heimaterzählungen. Diss. Münster 1921. – Gottlieb Scheuffler: C. V. Zeit u. Jahrhundert. Erfurt 1927. – O[tto] S[iegfried] Fleissner: Ist C. V. konsequente Naturalistin? In: PMLA 46 (1931), S. 917–929. – Sascha Wingenroth: C. V. u. der Frauenroman des dt. Naturalismus. Diss. Freib. i. Br. 1936. – Albert Schneider: C. V. Esquisse biographique et bibliographique. In: Annales Universitatis Saraviensis 1952, S. 392–400. – Doris Rigaud: Das Land um Mosel u. Eifel im Schaffen C. V.s. In: Trierisches Jb. 1956, S. 47–54. – Josef Polácek: Dt. soziale Prosa zwischen Naturalismus u. Realismus. Zu C. V.s Romanen ›Das Weiberdorf‹ u. ›Das tägl. Brot‹. In: Philologica Pragensia 6 (1963), S. 245–257. – Urszula Michalska: C. V. Versuch einer Monogr. Posznan´ 1968. – Dies.: C. V.s Briefe (1943–1945) an Anni Krieger. In: Studia Germanica Posnaniensia 1 (1971), S. 27–34. – Victor W. Carpenter: A Study of C. V.’s Novellen. Diss. Ann Arbor/Mich. 1978. – Doris S. Dedner: From Infanticide to Single Motherhood. The Evolution of a Literary Theme as Reflected in the Work of C. V. Diss. Indiana University 1979. – Mary Wexler Klei: C. V.’s Eifel Works, 1897–1925. An Evaluation of their View of Society with Consideration of their Place in the Female Literary Tradition. University of Cincinnati 1989. – Frank Wilhelm: Der luxemburg. Literaturkritiker Charles Becker u. die Eifelschriftstellerin C. V. In: FS Albert Schneider. Hg. Fernand Hoffmann u. Joseph Kohnen. Luxembourg 1991, S. 151–162. – Barbara Krauß-Theim: Naturalismus u. Heimatkunst bei C. V. Darwinistisch-evolutionäre Naturvorstellungen u. ihre ästhet. Reaktionsformen. Bern u. a. 1992. – Michel Durand: Les romans berlinois de C. V. Contribution à l’étude du naturalisme tardif en Allemagne. Bern/Bln. 1993. – Edyta Pol/czyn´ska: Die Heimatfrage im Roman ›Das schlafende Heer‹ v. C. V. In: Heimat u. Heimatlit. in Vergangenheit u. Gegenwart. Hg. Hubert Orl/owski. Poznan´ 1993, S. 31–42. – Walter Olma: Das Polenbild im dt.

764 Heimatroman: C. V.s Erfolgsroman ›Das schlafende Heer‹ als Beispiel. In: Studien zur Kulturgesch. des Polenbildes 1848–1939. Hg. Hendrik Feindt. Wiesb. 1995, S. 102–129. – Maria-Regina Neft: C. V.s Eifelwerke 1897–1914. Imagination u. Realität bei der Darstellung der Landschaft u. ihrer Bewohner. Münster 1998. – Godela Weiss-Sussex: Two Literary Presentations of Maidservant Life in Early Twentieth-century Berlin: C. V.’s ›Das tägl. Brot‹ (1901) and Georg Hermann’s ›Kubinke‹ (1910). In: GLL 51 (1998), S. 342–359. – Hermann Gelhaus: Dichterin des sozialen Mitleids: C. V. In: Deutschsprachige Schriftstellerinnen des Fin de siècle. Hg. Karin Tebben. Darmst. 1999, S. 330–350. – Gudrun Loster-Schneider: Modernität, Tradition u. Geschichtsreflexion im histor. Roman der 20er Jahre, C. V.s ›Unter dem Freiheitsbaum‹. In: Jh. zur Lit. der Weimarer Republik 5 (1999/2000), S. 215–251. – Rita Morrien: Nach dem Sturm: Mütterlichkeit, Sexualität u. Ansätze einer krit. Relektüre der christl. Schöpfungs- u. Heilsgeschichte bei C. V. u. Gabriele Reuter. In: ebd., S. 145–165. – Christel Aretz (Hg.): C. V. im Spiegel der Presse. Dokumentation. Bad Bertrich 2000. – Caroline Bland: Prussian, Rhinelander or German? Regional and National Identities in the Historical Novels of C. V. In: Travellers in Time and Space. The German Historical Novel. Hg. Osman Durrani. Amsterd./New York 2001, S. 383–399. – Andrea Müller: Mutterfiguren u. Mütterlichkeit im Werk C. V.s. Marburg 2002. – G. Loster-Schneider: Ein ›Waterloo‹ bürgerl. Geschlechtermythen: Rabenmütter, vaterlandslose Gesellen, Mordbrennerstöchter u. die Genealogie der Gewalt in C. V.s ›Unter dem Freiheitsbaum‹. In: Cultural Link Kanada – Dtschld. FS zum dreißigjährigen Bestehen eines Austausches. Hg. Beate Henn-Memmesheimer u. David G. John. St. Ingbert 2003, S. 189–209. – Volker Neuhaus u. M. Durand (Hg.): Die Provinz des Weiblichen. Zum erzähler. Werk v. C. V. / Terroirs au féminin. La province et la femme dans les récits de C. V. Bern 2004. – Anke Susanne Hoffmann: Wer kann sich rühmen, er habe in Berlin die Sonne untergehen oder ein Wetter heraufziehen sehen? (Walther Rathenau). Zur Darstellung urbaner Realitäten in der Novellistik C. V.s. In: Lit. für Leser 28 (2005), H. 3, S. 181–195. – Helga Abret: Die Revue Rhénane u. C. V. In: Europ. Begegnungen. FS Joseph Kohnen. Hg. Susanne Craemer u. a. Luxembourg 2006, S. 33–45. – Hermann Gelhaus: ›Barbara Holzer (1897)‹, ›Das Weiberdorf. Roman aus der Eifel (1899)‹, ›Pharisäer. Komödie in drei Akten (1899)‹. In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. G. Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb. 2006, S. 439–443. – Anke Susanne Hoff-

765 mann: Von den Rändern her gelesen. Zur Funktionalität der Dimension Natur im novellist. Œuvre C. V.s. Trier 2006. – Carola Stern: Kommen Sie, Cohn! Friedrich Cohn u. C. V. Köln, 2006. – Caroline Bland: Sacrifice for the Nation? World War One in the work of Lily Braun (1865–1916) and C. V. (1860–1952). In: Schwellenüberschreitungen. Politik in der Lit. von deutschsprachigen Frauen 1780–1918. Hg. Caroline Bland u. Elisa MüllerAdams. Bielef. 2007, S. 249–270. – M. Durand: Entre roman historique et biographie. ›Der Vielgeliebte u. die Vielgehasste‹ de C. V. In: Médiation et conviction. Mélanges offerts à Michel Grunewald. Hg. Pierre Béhar u. a. Paris 2007, S. 419–436. – M. Durand: Une disciple allemande de Zola. C. V. (1860–1952). In: Dynamique des peuples et constructions identitaires. Hg. Béatrice Fleury u. Jacques Walter. Nancy/Metz 2008, S. 135–148. – Charlotte Marlo Werner: Schreibendes Leben. Die Dichterin C. V. Dreieich 2009. – C. Aretz u. Peter Kämmereit (Hrsg.): C. V. Ein langes Leben für die Lit. Dokumentation zum 150. Geburtstag. Zell/ Mosel 2010. Arno Matschiner / Michel Durand

Viebing, Konrad Heinrich, auch: Roselieb, * 1630 Schöningen, † 1691 Ummendorf bei Eilsleben. – Evangelischer Pfarrer, Erbauungsschriftsteller.

Vier Haymonskinder

Bereits angekündigte Werke blieben unveröffentlicht. Die stark unter dem Einfluss Zesens stehende Weisemunde ist ein Gemisch aus Roman u. Erbauungsbuch. Von zweifelhaftem Erfolg war V.s Versuch, gelehrte Dichter-Hirten durch handfeste Schafzüchter zu ersetzen. Befremdend für viele Leser war die enge Anlehnung des Schicksals der Wolf- u. Drachentöterin Weisemunde an die Passion Christi. Während der erste Teil des Werks »Weisemundgens« Leben, Tod u. Bestattung schildert, ist der zweite Teil ihrer »Wiederkunft« u. »königlichen Heimfahrt« gewidmet. Hier werden alle Entsprechungen zur bibl. Vorlage sichtbar: das leere Grab, Emmaus, der Fischzug, der Missionsauftrag. Zum Erbauungsbuch im engeren Sinn wird die Weisemunde durch die Darstellung u. Ausdeutung von Begebenheiten im Umkreis des Rosenschäfers Wiechmann. Da wird vorbildl. Verhalten aufgezeigt u. belohnt, sündhaftes angeprangert u. bestraft. Durch Lieder wird zur Hausandacht angeregt u. mit erzieherischem Ernst die Lehre vermittelt, dass Gott seine Auserwählten »einsalzet« u. für die Ewigkeit haltbar macht »durch sauer Elend / scharfes jammer Saltz / und bittern Kreutzpfeffer«. – Der iron. Abstand, mit dem Neumeister 1695 V.s Roman in De poetis germanicis bespricht, dürfte nicht untypisch für die Aufnahme des Werks bei den Zeitgenossen gewesen sein.

Nach einer pro forma-Einschreibung in die Matrikel der Universität Helmstedt am 18.6.1638 begann V. dort am 23.1.1650 das Studium u. wurde zum Magister artium promoviert. 1668 nahm Philipp von Zesen Weitere Werke: Unschätzbares preißwürdiges ihn als »Der Hurtige« in die Deutschgesinnte Nahmens Kleinod [...]. Helmstedt 1681. InternetGenossenschaft auf (vgl. Lobschallendes Ehren- Ed. in: VD 17. – Grosser Trost in grosser Noht [...]. getöhne [...]. Magdeb. 1669. Internet-Ed. in: Ebd. 1682 (Leichenpredigt). Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: HAB Wolfenb.), 1677 krönte er V. zum Dichter (vgl. Zesen: Die hurtige Dicht Kunst [...]. Bibliotheca Germanorum Erotica & Curiosa. Hg. o. O. 1677. Internet-Ed. in: ebd.). Erst als 50- Hugo Hayn u. Alfred N. Gotendorf. 9 Bde., Mchn. Jähriger veröffentlichte V. sein Erstlingswerk, 1913–29. Nachdr. Hanau 1968, Bd. 6, S. 533. – Pyritz, S. 700. – Heiduk/Neumeister, S. 111, 254 f., die »geistliche Schäferei« Der unvergleichlichen 484, 550. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2164 f. – [...] Weisemunden Lebens- und Leidens-Geschicht Hans-Günter Appuhn: K. H. V. In: Braunschwei(Helmstedt 1680), der 1684 ein Zweiter Teil gisches biogr. Lexikon 8. bis 18. Jh. Hg. Horst-Rü(ebd.) folgte. Danach erschien außer Gele- diger Jarck u. a. Braunschw. 2006, S. 720. genheitsschriften noch das Erbauungsbuch Ulrich Maché / Red. Geistlicher Zeitvertreiber (Ffm. u. a. 1688), eine wenig strukturierte Sammlung »gottgefälli- Vier Haymonskinder ! Reinolt von ger Lesefrüchte« u. persönl. Kommentare. Montelban Die ungünstige Aufnahme der Weisemunde (von V. schon 1684 beklagt) sowie verlegerische Schwierigkeiten wirkten entmutigend.

Vierkandt

Vierkandt, Alfred, * 4.6.1867 Hamburg, † 24.4.1953 Berlin. – Soziologe, Kulturphilosoph.

766 Weitere Werke: Naturvölker u. Kulturvölker. Lpz. 1896. – Die Stetigkeit im Kulturwandel. Ebd. 1908. – Der Dualismus im modernen Weltbild. Bln. 1923. – Familie, Volk u. Staat [...]. Stgt. 1936.

V. habilitierte sich nach dem Studium der Literatur: Paul Hochstim: A. V. A Sociological Mathematik, Physik, Erdkunde u. Philoso- Critique. New York 1966. – Gottfried Eisermann: phie 1894 für Erdkunde in Braunschweig u. Bedeutende Soziologen. Stgt. 1968, S. 74–92. – 1900 für Völkerkunde in Berlin. 1913 wurde Wilhelm Bernsdorf: A. V. In: Internat. Sozioloer dort a. o., 1921 o. Prof. für Soziologie. Von genlexikon. Hg. ders. Bd. 1, 2., neubearb. Aufl. den Nationalsozialisten 1934 emeritiert, Stgt. 1980, S. 466–471. – Manfred Lindemann: Über ›Formale‹ Soziologie. Systematische Unterlehrte V. seit 1946 wieder an der Universität suchung zum ›Soziologischen Relationismus‹ bei in Berlin. 1945 wurde er Vorsitzender der Georg Simmel, A. V. u. Leopold v. Wiese. Diss. Bonn Kant-Gesellschaft. 1986. – Ulrich Hertzsch: Die Problematik des ErNach dem Ersten Weltkrieg überwand V., ziehungsgeschehens in der Phänomenologie der beeinflusst von Georg Simmel, Ferdinand Gruppe nach A. V. Diss. FU Bln. 1988 (Mikrofiche). Tönnies u. Theodor Litt, seine bisherige v. a. – Christian Sehested v. Gyldenfeldt: Von A. V. zu positivistische Orientierung zugunsten der Carl v. Clausewitz. Walther Malmsten Schering u. Husserl’schen Phänomenologie. Insbesonde- die Quellen gemeinschaftl. Handelns in Frieden u. re in der zweiten, völlig umgearbeiteten Krieg. Münster u. a. 2002. Richard Heckner / Red. Auflage seiner Gesellschaftslehre (Stgt. 1928. 1 1923) versucht V., durch das Verfahren der »Wesensschau« die Vielfalt sozialer Phäno- Vierordt, Heinrich, * 1.10.1855 Karlsruhe, mene auf im Kern kulturübergreifend ge- † 17.6.1945. – Lyriker. dachte Grundformen der Vergesellschaftung Der Vater war Karlsruher Etappenkommanzurückzuführen. Bemerkenswert hierbei ist dant u. Stadtrat. V. studierte in Berlin, Leipdie in der dt. Soziologie frühe Ablehnung zig u. Heidelberg Germanistik, wo er 1881 einer substantiellen zugunsten einer funk- mit einer Arbeit über Die Einwirkung der alttionalen Betrachtungsweise. V. löste den Ge- deutschen Studien auf den Göttinger Hainbund gensatz von Gemeinschaft u. Gesellschaft promoviert wurde; 1894 heiratete er die (Tönnies) durch den übergreifenden Begriff Sängerin Anna Heldburg. Zahlreiche Studides Sozialverhältnisses auf. Demnach sind enreisen führten ihn nach Skandinavien, Menschen durch eine jeweils besondere Form England, Frankreich, Italien u. Griechenland. »innerer Verbundenheit« u. durch »Reso- In seiner epigonalen Bildungsbürger- u. Nananz« miteinander verschränkt. Als bedeu- turlyrik bedichtete er in spätromantischtendste Sozialverhältnisse gelten »Rechtsver- klassizist. Stil alles von den Bauklötzen der hältnis«, »Machtverhältnis«, »Kampfver- Tochter über das dt. MA, die klass. Stätten hältnis« u. vor allem »Gemeinschaftsver- Italiens bis hin zur Marseillaise u. zu Jesus; hältnis«. Unter Letzterem subsumiert V. die meisten seiner Werke erlebten mehrere »Gruppen« mit gefühlsmäßig u. geistig be- Auflagen. Befreundet oder bekannt war er jahter Ordnung u. gemeinsamen Zielen, aber u. a. mit Scheffel, Geibel, Bodenstedt. 1914 unterschiedl. Graden von Intimität (Freund- veröffentlichte V. auf Flugblättern grausaschaft, Familie, Nation, Betrieb etc.). mere Kriegslieder als andere: »O du In seiner Lehre von der Gruppe, in der Deutschland, jetzt hasse; mit eisigem Blut, / Abgrenzung der Soziologie von der Psycho- Und türmte sich berghoch in Wolken hinein / logie sowie in der Differenzierung von allg. Das rauchende Fleisch und das Menschenge(formaler) Soziologie u. Kulturwissenschaft bein!« Bereits vor dem Krieg war er zum baliegt V.s Verdienst. Das von ihm herausgege- dischen »neuen Lesebuchklassiker« avanbene Handwörterbuch der Soziologie (Stgt. 1931. ciert, an dem man später, anlässlich seines 80. 2 1959. Gekürzte Studienausg. 1982) fasst den Geburtstags, v. a. das »fremdwortgereinigte zeitgenöss. Erkenntnisstand der Soziologie Schriftdeutsch« u. die frühzeitige Willkommenheißung »des kämpferischen Aufstiegs zusammen.

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des neuen völkischen Staates und seines Führers« pries. So unbedeutend der heute völlig Vergessene als Dichter ist, so symptomatisch ist er für die Geschichte der dt. Bildung. Weitere Werke: Gedichte. Karlsr. 1879. – Lieder u. Balladen. Heidelb. 1881. – Akanthusbl. Dichtungen aus Italien u. Griechenland. Ebd. 1888. – Vaterlandsgesänge. Ebd. 1890. – Gemmen u. Pasten. Tagebuchbl. aus Italien. Karlsr. 1902. – Meilensteine. Heidelb. 1904 (L.). – Kosmoslieder. Ebd. 1905. – Dt. Hobelspäne. Stoßseufzer u. Stammbuchbl. Ebd. 1909. – Dtschld. hasse! Kriegsruf (1 Blatt). Karlsr. 21914. – Dt. Ruhmesschilder u. Ehrentafeln. Widmungen u. Weihungen. Heidelb. 1914. – Das Buch meines Lebens. Erinnerungen. Ebd. 1925. Forts. u. d. T. Aus dem Schattenspiel meines Lebens. Ebd. 1935. Literatur: Julius Werner: H. V. u. seine Dichtungen. Heidelb. 1890. – Heinrich Lilienfein: H. V. Ebd. 1905. – P. Mehlhase: Ein neuer Lesebuchklassiker. Eilenburg 1913. – Fritz Wilkendorf: H. V. Ein Gedenkblatt zu seinem 80. Geburtstag. In: Die bad. Schule 2 (1935), S. 218–220. – Fritz Löffler: H. V. In: Mein Heimatland 27 (1940), S. 337 f. – Ludwig Vögely: Heinrich Hansjakob u. H. V. Streiflichter auf eine Dichterfreundschaft. In: Badische Heimat 67 (1987), 1, S. 21 ff. – Reiner Haehling v. Lanzenauer: Der vergessene Dichter H. V. In: Die Ortenau 74 (1994), S. 507–514. Walter Pape / Red.

Viertel, Berthold, * 28.6.1885 Wien, † 24.9.1953 Wien; Grabstätte: ebd., Zentralfriedhof. – Regisseur; Lyriker, Essayist, Übersetzer u. Bearbeiter von Dramen. Der Sohn einer aus Galizien stammenden jüd. Kaufmannsfamilie (der Vater besaß eine Möbelhandlung, die Mutter betrieb ein Schirmgeschäft) besuchte das Mariahilfer Gymnasium u. 1904–1910 die Universität in Wien, ohne die vorgesehene Dissertation abzuschließen. Seine überzeugendsten Lehrmeister traf er im Caféhaus: Peter Altenberg u. Karl Kraus. In dessen Zeitschrift »Die Fackel« erschienen erstmals Gedichte von ihm u. zahlreiche kunstkrit. Aufsätze. V. gehörte zu den raren Krausianern, die den »Timon von Wien« auch kritisieren durften, ohne die Aufkündigung der Freundschaft zu riskieren. Ab 1912 arbeitete V. als Dramaturg u. Regisseur an der Wiener Volksbühne. 1914–1918

Viertel

war er Reserveoffizier in Serbien u. Galizien. 1918–1922 inszenierte er als Oberregisseur am Dresdner Schauspielhaus insbes. alle wichtigen expressionistischen Dramen. Max Reinhardt holte ihn 1922 an das Deutsche Theater in Berlin, wo V. bald auch am Staatstheater inszenierte. 1923 gründete er das Schauspielerensemble »Die Truppe« gegen die ungeistige Unterhaltungsroutine der maßgebl. Berliner Bühnen. Das von Karl Kraus auch finanziell unterstützte Theater kam über einige viel beachtete Inszenierungen (Stücke von Kaiser, Musil, Kraus, O’Neill u. Synge) nicht hinaus. V. drehte die Filme Nora, Die Perücke u. Die Abenteuer eines Zehnmarkscheines, inszenierte in Düsseldorf bei Luise Dumont u. ging Ende 1927 nach Hollywood (schrieb dort das Drehbuch zu Our Daily Bread für Friedrich Wilhelm Murnau u. schuf die Filme Seven Faces, The Magnificant Lie, The Sacred Flame). 1932 kehrte er nach Europa zurück. Salka Viertel (die Schauspielerin Salomea Steuermann, 1892–1978, mit der V. seit 1918 in zweiter Ehe verheiratet war) blieb in Hollywood, wurde Drehbuchautorin u. schrieb später ihre Autobiografie (The Kindness of Strangers. New York 1969. Dt.: Das unbelehrbare Herz. Hbg./Düsseld. 1970). Nach dem Reichstagsbrand emigrierte V. nach London, wo er drei Filme realisieren konnte (u. a. Little Friend mit Christopher Isherwood, der über die Zusammenarbeit mit V. den Roman Praterveilchen schrieb). 1939–1947 lebte er in Hollywood u. New York, während des Kriegs nur gelegentlich inszenierend, aber viel schreibend, übersetzend u. an antifaschistischen Aktivitäten teilnehmend. 1947/48 arbeitete er für die BBC in London. Über Zürich kehrte er 1949 nach Wien zurück, wo er bis zu seinem Tod hauptsächlich am Burgtheater inszenierte. Vom 15. Lebensjahr an schrieb V. Gedichte u. autobiogr. Reflexionen, die seine labilen Empfindungen u. sein künstlerisches Rechtfertigungsbestreben thematisieren. Er betrachtete die Geschichte der Literatur als einen »Scherbenberg menschlicher Haltungen und Verhaltungen«. Dichterische Praxis u. Theaterarbeit verstand V. als Aufgabe, das Leben zu bestehen, sich nicht in ihm zu verlieren, sondern es mutig zu meistern, gegen

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Literatur: B. V. Eine Dokumentation. Nachdie »Phrase« u. alle leeren Scheinwelten anzukämpfen: »Ans Steuer greife, starke Hand! richten aus dem Kösel-Verlag. Sonderheft. RedakUnd steure mutig, denn es gilt die Fahrt tion F. Pfäfflin. Mchn. 1969. – Josef Mayerhöfer: B. durch keines Freundes Land!« (aus Farewell). V. Regisseur u. Dichter. In: Biblos-Sch.en. Bd. 82. Österr. Nationalbibl. Wien 1975. – B. V. im ameriDie Gedichtbände (exemplarisch ist der Titel kan. Exil. Bearb. v. F. Pfäfflin (Marbacher Magazin des letzten: Der Lebenslauf. New York 1946) 9). Marbach/N. 1978. – V.s Welt. Der Regisseur, geben Zeugnis von einer Bewusstsein schaf- Lyriker, Essayist B. V. Ausstellungskat. des österr. fenden, konstruktiven Funktion des Dichters Theatermuseums (mit Beiträgen v. B. V., E. Frey, gegen die destruktiven Verlockungen des Klaus Völker, P. Roessler, F. Pfäfflin u. Wolfgang Rausches, der Verblendung u. gegen das Glück). Wien 1988. – Traum v. der Realität: B. V. Aufgezehrtwerden vom gefühllosen Lebens- Hg. S. Bolbecher, K. Kaiser u. P. Roessler (Zwialltag. Mit seinem Schreiben in rettender schenwelt 5). Wien 1998. Klaus Völker »Einsamkeit« bleibt der Dichter dem Leben auf der Spur (Die Spur. Lpz. 1913), er folgt, die Viertel, Salka, eigentl.: Salomea Sara Kreuzpfade der Gefühle abschreitend, der Steuermann, * 15.6.1889 Sambor, † 20.10. »Bahn« des Lebens (Die Bahn. Hellerau 1921). 1978 Klosters (Schweiz). – Schauspielerin Seine Exilgedichte, wie die Brechts mit dem u. Drehbuchautorin. Herzen gedacht u. mit dem Kopf gedichtet, wollen Kampf des Einzelnen sein gegen V., Tochter eines jüd. Rechtsanwalts u. BürGleichgültigkeit u. das Absterben der Ge- germeisters im damals österr.-ungar. Sambor fühle sowie Hilfe leisten bei dem Bemühen, (dem heutigen Sambir in der Ukraine), erdem Ungeheuerlichen gegenüber bei Besin- lernte den Schauspielerberuf nach ersten nung und Gefühl zu bleiben. Aufgabe des Auftritten in Pressburg unter Max Reinhardt Dichters in dunkler Zeit ist, der Hoffnung in Berlin u. seit 1913 in Wien, wo sie Berthold Funken zu entfachen u. die »plastische Kraft Viertel kennenlernte, den sie 1918 heiratete. des Zweifels und der Verzweiflung« walten Über Berlin siedelte die Familie 1928 in die zu lassen (Vorw. zu: Fürchte dich nicht! New USA über, wo sie auch nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten ihr Exil York 1941). In seinem von zärtl. Ironie durchsetzten fanden. Nachdem die Ehe 1947 geschieden Theaterroman Das Gnadenbrot (Hellerau 1927) wurde, zog V. in den Süden Kaliforniens, behandelt V., ausgehend von einer Auffüh- kehrte aber 1953 nach Europa zurück, als ihr rung der gleichnamigen Komödie Turgen- unter den Repressionen der McCarthy-Ära die jews, die jeden Künstler betreffenden Fragen Arbeitserlaubnis entzogen wurde. Bekannt von Notwendigkeit u. Grenzen künstleri- ist sie weniger durch ihre literar. Arbeit geworden als durch ihre im Exil segensreiche scher Demut u. künstlerischen Hochmuts. Weitere Werke: Karl Kraus. Ein Charakter u. gesellschaftl. Vernetzung: Als Freundin u. die Zeit. Dresden 1921. – Die Bacchantinnen des Vertraute der menschenscheuen Filmlegende Euripides. Hellerau 1925 (D.). – Die schöne Seele. Greta Garbo hatte sie eine exponierte StelEine Komödie. Ebd. 1925. – Dichtungen u. Doku- lung in Hollywood; außerdem verkehrten in mente. Hg. Ernst Ginsberg. Mchn. 1956. – Schr.en ihrem Haus in Santa Monica, dessen Salon zum Theater. Hg. v. Gert Heidenreich unter Mit- zum internat. Treffpunkt der Intellektuellen arbeit v. Manfred Nöbel. Geleitwort v. Herbert wurde, Bertolt Brecht, Charlie Chaplin, SerIhering. Ebd. 1970. – Die Überwindung des Über- gej Eisenstein, Lion Feuchtwanger, Thomas menschen. Exilschr.en. Hg. Konstantin Kaiser u. Mann, Arnold Schönberg u. a. m. Peter Roessler in Zusammenarbeit mit Siglinde Zunächst trat V. in den USA in Filmen auf, Bolbecher. Wien 1989. – Tribüne u. Aurora. Wiefür die Berthold Viertel Regie führte, bis sie land Herzfelde u. B. V.: Briefw. 1940–1949. Hg. Friedrich Pfäfflin. Mainz 1990. – Kindheit eines auf Anraten der Garbo begann, Drehbücher Cherub. Autobiogr. Fragmente. Hg. S. Bolbecher u. zu schreiben, mit denen sich der StummK. Kaiser. Wien 1991. – Das graue Tuch. Gedichte. filmstar auch für den Tonfilm empfahl, darHg. K. Kaiser. Mit einem Nachw. v. Eberhard Frey. unter Queen Christina (Königin Christine, 1933), The Painted Veil (Der bunte Schleier, 1934), Anna Wien 1994.

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Karenina (1935) u. Conquest (Maria Walewska, 1937). Ihre Autobiografie The Kindness of Strangers (New York 1969), die ein herausragendes Zeugnis einer warmherzigen u. emanzipierten Frau abgibt, erschien 1970 in der mehrfach aufgelegten dt. Version als Das unbelehrbare Herz. Ein Leben in der Welt des Theaters, der Literatur und des Films (übers. von Helmut Degner u. S. V.).

u. sich trivialliterar. Handlungsmuster bedient, gewinnt eine arme, aber rechtschaffene Magd nach einigen Verwechslungen u. Missverständnissen einen wohlhabenden Bauern zum Mann. V. erhielt 1930 den Adalbert-Stifter-Preis, 1955 den Handel-Mazzetti-Preis u. 1975 den Kulturpreis des Landes Kärnten. Sie lebte in Bruckendorf/Kärnten.

Weitere Werke: Two-Faced Woman (Die Frau mit den zwei Gesichtern). 1941 (Filmdrehb.). – Deep Valley (Das tiefe Tal). 1947 (Filmdrehb.). – L’amante di Paride (Frauen). 1954 (Filmdrehb.). – Wolgaschiffer. 1959 (Filmdrehb.). Literatur: Sieglinde Fliedner-Lorenzen: Marta Feuchtwanger, Nelly Sachs, S. V., drei Schriftstellerinnen im Exil 1933–1945. Bonn 2003. – Katharina Prager: ›Ich bin nicht gone Hollywood!‹ S. V. – Ein Leben in Theater u. Film. Wien 2007.

Weitere Werke: Der Märtyrer u. Lilotte. Paderb. 1935. – Die Heldenjungfrau. Klagenf. 1936 (Pseud.). – An der Eisenwurzen. Ebd. 1948 (Gesch.n). – Aelia. Eine Frau aus Rom. Graz 1952 (R.). – Licht im Fenster. Mödling bei Wien 1953 (R.). – Die Trauermesse. Ebd. 1961 (R.). – Nachtquartier. Klagenf. 1971 (R.). – Kleiner Bruder. Ebd. 1976 (N.). – Katzen in Venedig. Ebd. 1976 (E.).

Günter Baumann

Viesèr, Dolores, eigentl.: Wilhelmine Maria Aichbichler, auch: Maria Valdez, * 18.9.1904 Hüttenberg, † 24.12.2002 Klagenfurt. – Erzählerin, Romanschriftstellerin.

Literatur: Erika Klenk: D. V. Eine Kärtner Heimatdichterin. Diss. Wien 1949. – Lilo Ellersdorfer: Die Erzählkunst D. V.s. In: Fidibus 27 (1999), H. 2, S. 3–104. – Herma SchotkovskyStorfer: Aber in der Erinnerung leben sie noch! Gerhard Glawischnig, Wilhelm Rudnigger, Johannes Ciesciutti, D. V. Klagenf. 2003. – Helga Abret: Eine christl. Alternative in den Dreißigerjahren. D. V.s histor. Roman ›Hemma v. Gurk‹ (1938). In: Dichtung im Schatten der großen Krise. Erika Mitterers Werk im literaturhistor. Kontext. Hg. Martin G. Petrowsky in Zus. mit H. Abret. Wien 2006, S. 199–217. Johann Sonnleitner / Red.

Nach einer entbehrungsreichen Kindheit in Kärnten arbeitete V. als Köchin in Tirol, wo sie ihren ersten Roman, Das Singerlein. Die Geschichte einer jungen Seele (Mchn. 1928. Vietta, Egon, eigentl.: Karl Egon Fritz, Neuaufl. Klagenf. 1981), verfasste. Das Wai* 11.1.1903 Bühl bei Baden-Baden, senkind Hans, Sohn eines Wandermusikan† 29.11.1959 Baden-Baden. – Essayist, ten, findet als Chorknabe Aufnahme bei den Erzähler, Dramatiker, Kritiker. Franziskanern. Als ihn die sozial aufgestiegene Mutter nicht anerkennt, wird er tod- Nach dem Jurastudium war V. Regierungsrat. krank. Über diese schwierige, von Ausweg- Er veröffentlichte Romane mit konservativlosigkeit u. Verzweiflung geprägte Lebenssi- humanistischer Aussage (Der Engel im Diestuation hilft ihm der Glaube an Gott hinweg. seits. Freib. i. Br. 1929). Später wandte er sich Bereits mit diesem Roman, der thematisch u. Reisebeschreibungen zu – vorwiegend aus stilistisch der kath. Schriftstellerin Enrica von dem Mittelmeerraum –, die auch antike MyHandel-Mazzetti u. der Heimatkunst ver- then nachgestalten (Romantische Cyrenaika. pflichtet ist, gelang V. ein beeindruckender Hbg. 1941), u. verfasste Schauspiele, die Erfolg, der ihr die Existenz als freie Schrift- klassische u. moderne Gedankenwelt konstellerin ermöglichte u. an den sie v. a. mit trastiv verbinden. Nach dem Krieg wurde V. histor. Romanen wie Der Gurnitzer. Ein Hel- einflussreicher Literatur- u. Kunstkritiker; er denleben aus der Türkenzeit (Mchn. 1931) u. schrieb u. a. für »Das Kunstwerk«. Hemma von Gurk (ebd. 1940. Neuaufl. Klagenf. Als Dramentheoretiker forderte er die 1988) anschließen konnte. In der Erzählung Wiedergeburt des Theaters im Sinn einer Der Bänderhut (Wien 1956), die von den kon- Resakralisierung (Katastrophe oder Wende des kreten sozialen u. histor. Bezügen abstrahiert deutschen Theaters. Düsseld. 1955); er beklagte

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den »Rückfall auf die Probleme von gestern« u. die Veränderung des Theaters zur Anpassungsinstitution ohne Impulse für das geistige Leben der Zeit. V. wirkte an der Neuentdeckung Georg Trakls, Hermann Brochs u. Ernst Barlachs für das dt. Lesepublikum mit. Weitere Werke: Die Kollektivisten. Freib. i. Br. 1930 (R.). – Empfindsame Reise durch Lappland. Ffm. 1937. – Der Tanz. Eine kleine Metaphysik. Ebd. 1938. – Ritt durch den Fezzan. Ebd. 1939. – Theologie ohne Gott. Zürich 1946. – Goethe in Italien oder Die italiän. Reise. Säckingen am Rhein 1947 (Kom.). – Georg Trakl. Eine Interpr. seines Werkes. Hbg. 1948. – Briefe über den Tanz. Ebd. 1948. – Corydon. Ffm. 1948. – Mediterranea. Düsseld. 1948. – Die Vögel ehren Aristophanes. Hbg. 1948 (Kom.). – Monte Cassino. Mysteriensp. Krefeld 1950. – Die Seinsfrage bei Martin Heidegger. Stgt. 1950. – Zauberland Kreta. Wien u. a. 1952. – Die drei Masken. Ffm. 1952 (Schausp.). – Italien mit u. ohne Renaissance. Stgt. 1954. – Europa ist in Asien gebettet. Darmst. 1955. – Alexander scheitert an Indien. Auf den Spuren Alexanders vom Punjab bis Istanbul. Bern 1957. Literatur: Manfred Ohl: E. V. Seine Denk- u. Erfahrungswelt als ontolog. Vorstellung im 20. Jh. Eine Bearb. seines Nachlasses. Diss. Wien 1969. – Viktor Otto: Ganymed in der Unterwelt. Hadesfahrt u. Homoerotik: Thomas Mann, E. V., Gustav René Hocke. In: Studi Germanici N. S. 38 (2000), S. 475–497. – Gregor Streim: Erfahrung der anderen Moderne. Dt. Reiseberichte in den 30er Jahren (Hanns Johst, Heinrich Hauser, Lothar-Günther Buchheim, E. V.) In: Berlin, Paris, Moskau. Reiselit. u. die Metropolen. Hg. Walter Fähnders. Bielef. 2005, S. 135–152. – Silvio Vietta: Der Briefw. zwischen Hermann Broch u. E. V. In: Hermann Broch. Neue Studien. FS Paul Michael Lützeler. Hg. Michael Kessler. Tüb. 2003, S. 347–362. – Ders.: E. V. u. Gottfried Benn. Krit. Dialog in schwieriger Zeit. In: Gottfried Benn. Wechselspiele zwischen Biogr. u. Werk. Hg. u. eingel. v. Matías Martínez. Gött. 2007, S. 272–292. Christian Schwarz / Red.

Vieweg, (Hans) Friedrich, * 11.3.1761 Halle/Saale, † 25.12.1835 Braunschweig. – Verleger. Der Handwerkerssohn besuchte das Gymnasium in Halle u. absolvierte, vielleicht angeregt durch Nicolai, eine Buchhändlerlehre in der Hallischen Waisenhausbuchhandlung. Seit 1782 als Gehilfe in der Handlung von

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Johann Carl Bohn in Hamburg (»Distelparadies«), lernte er Joachim Heinrich Campe kennen, dessen Tochter Charlotte er 1795 heiratete. 1786 gründete V. in Berlin eine eigene Verlagsbuchhandlung, die er binnen Kurzem zu einem angesehenen Unternehmen ausbauen konnte. Zu den Autoren zählten Bahrdt, Gentz, Wilhelm von Humboldt, Moritz, die Brüder Schlegel u. Voß. Friedrich Freiherr von der Trencks Merkwürdige Lebensgeschichte erfuhr bei V. bis 1787 zwei Auflagen. 1797 erwarb V. für die hohe Summe von 1000 Reichstalern in Gold die Rechte an Goethes Hermann und Dorothea (zuerst im »Taschenbuch für 1798«). 1799 folgte V. seinem Schwiegervater nach Braunschweig, einerseits, um der verschärften preuß. Zensur zu entgehen, andererseits, weil er nach dem Willen des Braunschweiger Herzogs Karl Wilhelm Ferdinand ein Buchhandelszentrum begründen sollte – ein Plan, der sich jedoch nicht verwirklichen ließ. V. vergrößerte seinen Verlag kontinuierlich, erwarb eine Druckerei u. übernahm die von Campe gegründete Schulbuchhandlung. 1825 wurde der älteste Sohn Eduard (1796–1869) Teilhaber; der Verlag hieß seitdem »Friedr. Vieweg & Sohn«. Die schöne Literatur u. die Geisteswissenschaften traten in den Hintergrund; wesentliche Veröffentlichungen waren z. B. noch die Übersetzung von Andersens Märchen, Kellers Grüner Heinrich (erste Fassung), Hettners Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Der Verlag erhielt durch Eduard Vieweg u. dessen Sohn Heinrich (1826–1890; seit 1855 Geschäftsteilhaber), der sich bes. dem Aufbau des Zeitschriftenbereichs widmete, das bis heute charakterist. Profil eines naturwissenschaftl. Verlags, in dessen bedeutendem Katalog sich der Aufstieg von Naturwissenschaft u. Technik ebenso in Fachpublikationen wie in sorgfältig gestalteten populärwissenschaftl. Veröffentlichungen niedergeschlagen hat. Seit 1974 gehörte das Unternehmen zur Verlagsgruppe Bertelsmann; seit 1975 befindet sich der Verlagssitz in Wiesbaden. 2008 wurde der Verlag, seit 2004 eine Marke der GWV Fachverlage GmbH mit Sitz in Wiesbaden, mit dem seit 1999 ebenfalls zu den GWV Fachverlagen (seit 2010 Springer Fachmedien

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Wiesbaden GmbH) gehörenden B. G. Teubner Verlag zusammengeführt (Vieweg + Teubner). – V.s jüngste Tochter Bianca (1814–1879) war mit dem Verleger George Westermann (1810–1879) verheiratet. Literatur: Verlagskat. v. Friedr. Vieweg & Sohn in Braunschweig 1786–1911. Braunschw. 1911 (mit Verlagsgesch.). – Ernst Adolf Dreyer (Hg.): Friedr. Vieweg & Sohn in 150 Jahren dt. Geistesgesch. Ebd. 1936 (mit Dokumenten). – Gelehrsamkeit ein Handwerk? Bücherschreiben ein Gewerbe? Dokumente zum Verhältnis v. Schriftsteller u. Verleger im 18. Jh. in Dtschld. Hg. u. mit Nachw. u. Anmerkungen v. Evi Rietzschel. Ffm. 1983. – Friedr. Vieweg & Sohn. Verlagskat. 1786–1986. Braunschw./Wiesb. 1986. – Thomas Jentzsch: Verlagsbuchhandel u. Bürgertum um 1800. Dargestellt am Beispiel der Buchhändlerfamilie Vieweg. In: AGB 37 (1992), S. 167–251. – Martina Graf: Buch- u. Lesekultur in der Residenzstadt Braunschweig zur Zeit der Spätaufklärung unter Herzog Karl Wilhelm Ferdinand (1770–1806) (= AGB 42). Ffm. 1994, S. 64–66 u. ö. (Register). – Gerd Biegel: J. F. V. In: Braunschweigisches Biogr. Lexikon. 19. u. 20. Jh. Hg. Horst-Rüdiger Jarck u. Günter Scheel. Hann. 1996, S. 630 f. – H. Buske: V., F., & Sohn Verlagsges. mbH., Wiesbaden. In: Lexikon des gesamten Buchwesens. 2., völlig neu bearb. Aufl. Hg. Severin Corsten u. a. 58. Lfg., Stgt. 2009, S. 117 f. Matthias Richter / Red.

Viga, Diego, eigentl.: Paul Engel, * 7.6. 1907 Wien, † 27.8.1997 Quito. – Romancier, Erzähler, Essayist. V. arbeitete nach Abschluss seines Medizinstudiums als Gynäkologe u. Endokrinologe in Wien, ehe er sich 1938 der Verfolgung durch den NS-Staat durch Flucht nach Südamerika entzog. Bis 1950 lebte er als Ärzteberater, Laborleiter u. Universitätsprofessor für Pharmakologie in Kolumbien, danach als Professor für Biologie u. Pathologie der Universität Quito in Ecuador. Neben einer Reihe von Romanen, die ausschließlich in der lateinamerikan. Realität wurzeln u. den Zusammenprall von Reich u. Arm, Stadt u. Land, von kreol. Oberschicht u. landlosen Bauern literarisch gestalten, greift V. immer wieder das Schicksal des jüd. Bürgertums seiner Heimatstadt Wien, Verfolgung, Tod u. Flucht auf. Im Mittelpunkt seines 1969 in Leipzig erschienenen Romans

Die Parallelen schneiden sich, der acht Lebensläufen nachspürt, steht, unverhohlen autobiografisch, ein junger Arzt, dessen enge, auf Wissensdurst u. Forschung beschränkte Weltsicht sich allmählich zum Bewusstsein polit. u. sozialer Verantwortlichkeit weitet. Auch in späteren Werken kommt V. immer wieder auf sein Thema zurück – die Emigration jüd. Österreicher, die Notwendigkeit, ihr Leben neu zu überprüfen, nach der Ankunft im Gastland u. erneut 1945, nach der Niederlage des Nationalsozialismus (Das verlorene Jahr. Halle 1980, Ffm. 1985). Obwohl V. seine Romane u. Erzählungen z. T. auf spanisch verfasste u. über genaue Kenntnisse der lateinamerikan. Literatur verfügte, stand er in der Tradition des deutschsprachigen Entwicklungsromans. Er selbst nannte Kellers Grünen Heinrich das Buch, das ihn von der Kindheit bis ins Alter begleitet hat, das ihm gezeigt hat, »daß er nicht allein in der Welt dasteht«. V., der in Ecuador mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet wurde, hat sich in seiner alten Heimat Österreich vergeblich um einen Verlag bemüht. Als deutschsprachiger Exilautor wurde er nur in der DDR bekannt. Weitere Werke: Romane: Der Freiheitsritter. Lpz. 1955. – Schicksal unterm Mangobaum. Ebd. 1957. – Die sieben Leben des Wenceslao Perilla. Ebd. 1958. – Der geopferte Bauer. Ebd. 1959. – Die Indianer. Ebd. 1960. – Waffen u. Kakao. Ebd. 1961. – Die sonderbare Reise der Seemöwe. Ebd. 1964. – Station in Esmeraldas. Ebd. 1973. – Die Konquistadoren. Ebd. 1975. – Die Lose v. San Bartolomé. Ebd. 1977. – Weltreise in den Urwald. Ebd. 1979. – Aufstieg ohne Chance. Halle 1982. – Ankläger des Sokrates. Ebd. 1987. – Sachbuch: Nachdenken über das Lebendige. Lpz. 1977. Literatur: Dietmar Felden: D. V. Arzt u. Schriftsteller. Lpz. 1987 (mit Bibliogr.). Erich Hackl / Red.

Vigilantius

Vigilantius, Publius, auch: V. Axungia, V. Arbilla, Arbilla Bacillarius, wahrscheinlich identisch mit Georg Schmerlin u. Gregorius Arvinianus Torquatius Februarius Trebotis, * 1485 Straßburg (?), † 12.7.1512 zwischen (Bad) Wimpfen u. der Ravensburg bei Sulzfeld. – Professor für Beredsamkeit, neulateinischer Dichter. V., dessen Œuvre aufgrund seines Lebensalters – er wurde nur 27 Jahre – klein ist, wird v. a. mit der Gründung der Universität Frankfurt/O. u. seinem bekanntesten Schüler, Ulrich von Hutten, in Verbindung gebracht. Über V.’ familiäre Verhältnisse gibt es keine Anhaltspunkte; auch ist nicht gewiss, welche Ausbildung er durchlief u. wo er studierte. Allein seine Immatrikulation in Erfurt 1505 ist sicher; Grimm (1938, S. 82) geht von einem Studium in Tübingen aus; Kampschulte (1858, S. 103) identifiziert V. mit dem 1500 in Heidelberg immatrikulierten Georgius Schmerlin aus dem etwa 40 km nördlich von Straßburg gelegenen Surburg im Unterelsass. Von Heidelberg könnte er 1503 nach Speyer u. 1504 nach Nürnberg gegangen sein, bevor er nach Erfurt u. anschließend zur entstehenden Universität Frankfurt/O. weiter zog. Hier wie da wirkten bekannte Gelehrte, die auf V.’ Schaffen Einfluss gewonnen haben: Sebastian Brant in Straßburg, Heinrich Bebel in Tübingen, Jakob Wimpfeling in Speyer, Pangratz Bernhaupt gen. Schwenter in Nürnberg. Conrad Celtis soll vorbildlich auf V.’ Drama Histori Herculis gewirkt haben. Petreius Eberbach, der in der Nenia [...] in obitu pudiciss. feminae Dorotheae de Clunis. Cum aliquot epitaphiis P. Vigilantij (1512) über V.’ Ermordung berichtet, weiß ergänzend die enge Verbindung mit humanistischen Dichterkreisen in Erfurt (Herbord von der Marthen) u. Wittenberg (Georg Spalatin, Balthasar Fabricius) zu loben. Wenn die überzeugend dargelegte Auffassung Wuttkes (1987) stimmt, dass V. u. Gregorius Arvinianus Torquatius Februarius Trebotis dieselbe Person sind, können V. eine lateinischsprachige Histori Herculis, die in einer dt. Übertragung von Pangratz Bernhaupt überliefert ist, u. zwei Nürnberger Einblatt-

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drucke zugeschrieben werden (kritisch zu dieser Zuschreibung Worstbrock, VL Dt. Hum., Sp. 181 f.). Bernhaupt fügte seiner Übertragung zwei Titel von Brant u. weitere Verse aus z.T. anonymen Quellen hinzu; sichere Aussagen über die Gestalt der lat. Vorlage können nicht getroffen werden. Auf den beiden Einblattdrucken mit Holzschnitten von Hans Baldung Grien ist vermutlich V. als ein mit Efeukranz gekrönter Dichter dargestellt, was mit seiner späteren Selbstbeschreibung übereinstimmen würde. Während der eine Druck Maria mit dem Kind zeigt, aber ohne Text überliefert ist, wird auf dem anderen Druck eine Abbildung des hl. Rochus mit dazugehöriger Ode präsentiert. Dabei handelt es sich um Einzelblätter, von denen man sich Schutz vor Krankheiten erhoffte; Rochus wurde bei Pesterkrankungen angerufen. V. kam noch vor Eröffnung der Viadrina (1506) nach Frankfurt u. nahm im Rathaus mit einer Rede über den Brief des Horaz an die Brüder Piso De arte poetica den Lehrbetrieb auf. Seine Berufung u. die von Johannes Rhagius Aesticampianus hatten das Ziel, dem Profil der Viadrina eine humanistische Prägung zu verleihen. Ihr eifrigster Förderer war der Universitätskanzler, der Lebuser Bischof Dietrich von Bülow. Dieser berief V. u. vertraute ihm seine in Frankfurt studierenden Neffen an. Trotz dieser wichtigen Aufgaben gehörte V. nicht dem Kollegium der Universität an; Poetik- u. Rhetorikvorlesungen waren hier wie auch an etlichen anderen Universitäten fakultativ. Es wird angenommen, dass V. einen Kreis von Hausschülern anzog, aus dem sich die »erste Frankfurter Dichterschule« herausbildete, zu der u. a. Hutten zählte. Im Frankfurter Humanistenkreis galt V. als der »Beredteste aller Deutschen« (»Vigilantium [...] Germanorum disertissimum«; Brief Ulrichs von Hutten an Jacob Fuchs vom 13.6.1515. In: Ders.: Schriften, Bd. 1, S. 43). Wohl aus diesem Grund hielt er am 26.4.1506 die feierl. Rede zur Eröffnung der Universität, die er im folgenden Jahr, ergänzt um eine Beschreibung der Stadt u. Universität sowie um Epigramme von Rhagius, Joachim von Bülow, Hutten u. Heinrich Brumann, u. d. T.

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Publij Vigilantij Bacillarij Axungie [...] Franckphordianae urbis ad Oderam, et gymnasij litterarij introductionis ceremoniarumque observatarum descriptio herausgab. Diese zeichnet sich nicht nur durch ihre sprachl. Vorbildlichkeit aus. Für die Gründung der Viadrina ist sie die einzige überlieferte Darstellung. Sie entstand einerseits als Dokumentation der Eröffnungsfeier, andererseits sollten mit ihr Studenten u. Lehrer geworben werden, besonders an den Universitäten Erfurt u. Leipzig. In dieser Eigenschaft als berufener ›Orator‹ der Universität duldete V. keine Konkurrenten; so ließ er den unberechtigt lesenden Nürnberger Studenten Johannes Babel aus Frankfurt vertreiben, der darüber 1506 in Leipzig eine Klageschrift publizierte (Bauch 1900, S. 101 f.). In Frankfurt las V. über die röm. Dichter Plautus, Valerius Maximus u. Publius Annius Florus, über Ovids Metamorphosen, über die Kirchenväter Laktantius u. Eusebius von Caesarea u. über dessen De praeparatione evangelica sowie über Hermes Trismegistos; zur Vorlesung über Ciceros Tusculanae disputationes kam er vermutlich nicht mehr. Bekannter noch als die Descriptio sind V.’ Bellica progymnasmata, ein Bericht über ein kurfürstl. Turnier in Neuruppin, der postum durch den aus Elbing stammenden Achatius Freund (Philostorgus) herausgegeben wurde. Er ist eine lat. Übersetzung des heute verlorenen, auf Deutsch verfassten Berichts des brandenburgischen Rats Johann Schrag. Die Bellica progymnasmata waren ein wichtiges Auftragswerk des Kurfürsten, der dieses Turnier mit den Mecklenburger Herzögen als glänzenden Höhepunkt der Feierlichkeiten anlässlich des von ihm vermittelten Friedens zwischen Dänemark u. Schweden ausrichten ließ. Zudem scheint V. sich damit persönlich dem Kurfürsten empfohlen zu haben, denn nach eigenen Angaben suchte er mit Unterstützung Joachims I. auf einer Italienreise seine Griechischkenntnisse zu verbessern, um im Anschluss die Erziehung des Kurprinzen zu übernehmen. Auf dieser Reise wurde er von »Räubern« durch einen Pfeil tödlich verwundet. Der Präsident der Akademie der Wissenschaften, Jakob Paul von Gundling, hat die

Vigilantius

Turnierbeschreibung 1718 neu auflegen lassen unter dem Eindruck, bei dem Neuruppiner Turnier handle es sich um das erste in der brandenburgischen Geschichte. Zwischen einer zweiten Auflage im Folgejahr u. einer dritten in den Scriptores rerum Brandenburgensium, 1751–1753 von Joachim L. Schmelzeisen herausgegeben, erschien 1728 eine anonyme dt. Übertragung unter dem Titel Tapferkeit des Märckischen Adels. Darüber hinaus verfasste V. ein Grußwort an die Leser in Ulrichs von Hutten Klagen gegen Wedeg und Henning Loetz, für deren Herausgabe er gemeinsam mit Hermann Trebelius verantwortlich ist; ebenda versichert Hutten in der 10. Elegie von seinem ehemaligen Lehrer: »Musen, euere Zier trägt Vigiliantius vor« (Mohnike 1816, S. 265). Außerdem erwähnt er ein Bändchen Gedichte, das V. 1507 publiziert haben soll. Es ist allerdings nicht überliefert u. von keinem anderen zeitgenössischen oder späteren Dichter rezipiert worden. Bei den vom Frankfurter Universitätsprofessor u. Bibliothekar Bec(k)mann aufgeführten Epigrammen u. Liedern des V. (1707, cap. VII, S. 234) handelt es sich um die Nenia von 1512. Sie enthält Briefe, Gedichte u. Epigramme über V. nebst einer Totenklage auf Dorothea, die Gemahlin des brandenburgischen Rats Eitelwolf von Stein. Bec(k)mann, dessen kurze Vita des V. das Andenken an den Frankfurter Professor nach knapp zwei Jahrhunderten neu belebte, führt in seinen beiden Bibliothekskatalogen der Frankfurter Universität (von 1676 u. 1707) keine Schrift von diesem. Die Dichternamen, die V. sich gab, geben teils lat. Übertragungen seines dt. Namens (Arvinianus, Axungia, Arbilla) oder seiner Herkunft (Trebotis = Triboker, german. Stamm, der nach Caesar u. Tacitus in der Gegend um Straßburg siedelte) wieder, teils drücken sie die programmat. Haltung von V. aus: Publius (in Anlehnung an Publius Vergilius Maro?), Bacillarius (Stab im Sinne eines Zepters). Vom Namen ›Vigilantius‹ wird u. a. angenommen, dass er auf die Comoedia de optimo studio iuvenum (1501) des Humanisten Heinrich Bebel zurückgeht, in der am Beispiel des begabten Bauernsohnes Vigilantius

Vigilis von Weißenburg

über den Stellenwert der studia humanitatis disputiert wird. Ausgaben: Johann Christoph Bec(k)mann: Memoranda Francofurtana. Frankfurt 1676. – Ders.: Notitia universitatis Francofurtanae. Frankfurt 1707. – Gottlieb C. F. Mohnike (Hg.): Ulrich Huttens Klagen gegen Wedeg Loetz u. dessen Sohn Henning, zwei Bücher aus einer höchst seltenen Druckschrift des sechzehnten Jh. Greifsw. 1816, S. 316 f. (Hendecasyllabon ad Lectorem). – Gustav Bauch (Hg.): Aus dem ersten Jahrzehnt der Univ. u. die ältesten Dekanatsbücher der Juristen u. Mediziner. FS zur 400-jährigen Jubelfeier der Alma Mater Viadrina. Breslau 1906, S. 1–32 (Descriptio). – Bellica progymnasmata a divo Joachimo [...] Marchione Brandenburgensi [...] celebrata (Frankf./ O. 1512). Nachdr. hg. v. Verein für Gesch. der Mark Brandenburg. Bernburg 1937. – Dass. Internet-Ed.: VD 16 digital. – Friedrich W. H. Hollstein: German engravings etchings and woodcuts ca. 1400–1700. Bd. 2, Amsterd. 1954, S. 117 (Einblattdr. St. Rochus). – Heinrich Grimm: Die Holzschnittillustration in den Drucken aus der Universitätsstadt Frankfurt a. d. Oder bis zum Jahre 1528. Mainz 1958 (Abb. 2: Descriptio; Abb. 6: Bellica progymnasmata). – Dieter Wuttke (Hg.): Die ›Histori Herculis‹ des Nürnberger Humanisten u. Freundes der Gebrüder Vischer, Pangratz Bernhaupt gen. Schwenter. Köln/Graz 1964. – Hans Baldung Grien. Das graph. Werk. Bearb. v. Matthias Mende. Unterschneidheim 1978, S. 44 u. Nr. 15 (Einblattdr. Maria mit Kind). Literatur: Hermannus Trebelius: Nenia [...] in obitu pudiciss. feminae Dorotheae de Clunis, cum aliquot Epitaphiis P. Vigilantij. Frankf./O. 1512. Internet-Ed. in: HAB Wolfenbüttel. – Wilhelm Kampschulte: Die Univ. Erfurt in ihrem Verhältnis zu dem Humanismus u. der Reformation. Bd. 1, Trier 1858. – Ulrichs v. Hutten Schr.en. Hg. Eduard Böcking. Bd. 1, Lpz. 1859. Nachdr. Aalen 1963, Nr. 26. – Gustav Bauch: Die Anfänge der Univ. Frankfurt a. d. O. u. die Entwicklung des wiss. Lebens an der Hochschule (1506–1540). Bln. 1900. – Friedrich Wagner: Das Turnier zu Ruppin 1512. In: Hohenzollern-Jb. 5 (1901), S. 99–120. – Georg Schuster u. Friedrich Wagner: Die Jugend u. Erziehung der Kurfürsten v. Brandenburg u. Könige v. Preußen. Bln. 1906. – Heinrich Grimm: Ulrichs v. Hutten Lehrjahre an der Univ. Frankfurt (Oder) u. Jugenddichtungen. Frankf./O., Bln. 1938. – Dieter Wuttke: Ist Gregorius Arvinianus identisch mit P. V.? In: FS Otto Schäfer. Hg. Manfred v. Arnim. Stgt. 1987, S. 43–77 (enthält alle bildl. V.-Darstellungen). – Ralf-Rüdiger Targiel: Ulrich v. Hutten u. Frankfurt (Oder). In: Ulrich v. Hutten. Ritter, Hu-

774 manist, Publizist 1488–1523. Ausstellungskat. Schlüchtern. Bearb. v. Peter Laub. Kassel 1988, S. 167–174. – Bernhard Kytzler: Marchia resurge, erhebe Dich Du Mark. [...]. Wiesb. 1992 (Ausstellungskat.), Nr. 25. – Hans-Erich Teitge: Der Buchdruck des 16. Jh. in Frankfurt an der Oder. Verz. der Drucke. Wiesb. 2000, Nr. 10 u. 85. – Michael Höhle: Univ. u. Reformation. Die Univ. Frankfurt (Oder) v. 1506 bis 1550. Köln u. a. 2002. – Franz Joseph Worstbrock: Bernhaupt, Pangratz. In: VL Dt. Hum. – Flood, Poets Laureate, Bd. 1, S. 101 f. (Gregorius Arvinianus). Mario Müller

Vigilis von Weißenburg, Heinrich, † 16.7.1499 Nürnberg. – Prediger. Die Biografie des einst offenbar weit gerühmten elsäss. Franziskaner-Observanten lässt sich nur notdürftig rekonstruieren: Erstmals ist V. 1476 urkundlich als Guardian des Klosters Leonberg fassbar, der den Generalvikar des Ordens bei Visitationen begleitet. Später wirkte er als Beichtvater u. Prediger der Klarissen von Alspach bei Kaisersberg u. 1487–1499 bei jenen von Nürnberg, jedoch nicht in Bamberg. Das in Handschriften weit verbreitete, gewichtige homiletische Werk V.’ ist nahezu gänzlich unerschlossen u. unerforscht. Es wird umrissen im Totengedenkbuch von St. Clara in Nürnberg: Demnach hat V. »gepredigt die guten pücher, die wir noch haben, die VIII seligkeiten, VII gab des heiligen geist, ein tractat vber die ewangelia der suntag vber daz gancz iar, das alphabet vnd vil ander tractat«. Zu diesen Letzteren dürfte der Traktat Von dem heilgen swygenhalten (Ausgabe in: Ruberg 1978, S. 253–292) zählen, der nach Überlieferung, Wortwahl, Stil, Gliederungsmodus u. Quellen (neben biblischen u. patristischen bes. Bernhard von Clairvaux, Thomas von Aquin u. Bonaventura) zu anderen Texten V.’ passt. Der Prosatraktat, der aufgrund seiner strengen Punkt-für-Punkt-Systematik in scholast. Umkreis gehört (Ruberg 1978), behandelt das Thema des maßvollen Schweigens (»Es ist nit alwegen sicher, zü vil ist bitter«) sowie dessen Bedeutung im geistl. Leben. Bernhardinischer Braut-Mystik verpflichtet zeigt sich die Predigt von den 7 Graden der vollkommenen Liebe (Ausgabe in: Ruh 2, S. 128–150), in der das Verhältnis »zwischen

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Cristo Ihesu vnd seiner gemachelen der selen« behandelt wird. Ein Nonnenkonvent ist auch das Zielpublikum der Lehre »wor jn bestot ein grunt eins e weßlichen, woren closterlichen leben« (Teiledition in: Ruh 1, S. 157–163), in dem V. als ernsthafter u. begabter Seelenführer (Ruh 1956) die Nonnen zu rechtem Verhalten ermahnt u. dabei auch die kleinen Übel u. Verstöße gegen die Andacht beim Gebet erwähnt: »Do sol nit sin swetzen, lachen, kopff zü samen stossen, lichtuertikeit vnd allenthalben vmb sich gaffen, sunder do sol sin zücht, ernst, andacht [...].« Auch sollen die Nonnen rechtzeitig zum Gebet eintreffen – u. »nit wen man daz ander zeichen lüttet noch jn dem Kreutzgang sin vnd dan jn den cor jagen«. Literatur: Kurt Ruh: Bonaventura deutsch. Bern 1956. – Ders. (Hg.): Franziskan. Schrifttum im dt. MA. Bd. 1, Mchn. 1965, S. 157–163. Bd. 2, Mchn./Zürich 1985, S. 128–150. – Uwe Ruberg: Beredtes Schweigen in lehrhafter u. erzählender dt. Lit. des MA. Mchn. 1978. – Ders.: Von dem heilgen swygenhaltten. In: VL. – Hans-Jochen Schiewer: H. V. v. W. In: VL. Walter Buckl / Red.

Vilar, Esther, auch: Makla Wagn, * 16.9. 1935 Buenos Aires. – Sachbuchautorin, Erzählerin u. Dramatikerin. Die Tochter eines jüd., nach Argentinien emigrierten Landwirts studierte seit 1960 als Stipendiatin in der BR Deutschland Soziologie, Medizin u. Psychologie u. arbeitete, nach Assistenzarztjahren an einem bayerischen Krankenhaus (bis 1963), als freie Übersetzerin u. Schriftstellerin an häufig wechselnden Wohnorten. Die Lust an der Provokation prägte die frühen Bücher V.s, in denen sie sich mit gesellschafts- u. sozialpolit. Themen auseinandersetzte. Dem Verhältnis der Geschlechter widmete sie ihre berühmte Trilogie Der dressierte Mann (Gütersloh 1971), Das polygame Geschlecht (Mchn. 1974) u. Das Ende der Dressur. Modell für eine neue Männlichkeit (ebd. 1977), deren erster Band in 21 Sprachen übersetzt u. in mehr als zwei Mio. Exemplaren verkauft wurde. Ihre These, dass nicht der Mann die Frau unterdrücke, sondern die Frau den Mann ausbeute, brachte V. die Feindschaft

Vilar

aller Feministinnen, Bombendrohungen u. tätl. Angriffe ein. Aufsehen erregte die diesbezügl. Fernsehdiskussion mit der Feministin Alice Schwarzer (Febr. 1975). Mit ihren späteren Sachbüchern (Alt – Ein Manifest gegen die Herrschaft der Jungen. Ebd. 1980. Die Antrittsrede der amerikanischen Päpstin. Ebd. 1982; auch als Theaterstück. Der betörende Glanz der Dummheit. Düsseld. 1987) konnte V. nicht immer an die gewaltige (Medien-)Resonanz ihrer Anfänge anknüpfen. Mit einer gewissen Eintönigkeit blieb neben dem antikath. Affekt v. a. das Verhältnis der Geschlechter V.s beherrschendes Thema, so in der Novelle Die Mathematik der Nina Gluckstein (Bern 1985) u. in dem Roman Rositas Haut (Düsseld. 1990). Direkt gegen die Ehe wandte sich die zweimal geschiedene Autorin in ihrem Buch Heiraten ist unmoralisch (Bergisch Gladbach 1994). Mit wechselnden Erfolgen liefen V.s Theaterstücke über in- und ausländ. Bühnen: so (im Gefolge Ibsens) Helmer oder ein Puppenheim (Urauff. 1980; gedr. Ffm. 1981) u. Liebeslied für einen ruhelosen Mann, in dem die Ilias von Penelope diktiert wird (Urauff. 1984). Es dominierte hier der Typus des witzigen, manchmal satir. Boulevarddramas, u. a. in Das Lächeln des Barrakuda (Urauff. 1994), im Zweipersonenstück Speer (Urauff. 1998; gedr. mit Beiträgen u. a. von Klaus Maria Brandauer. Bln. 1998) u. in dem nach dem eigenen grotesken Frauen- u. Briefroman konzipierten Drama EiferSucht (Urauff. 2000; als Roman »für drei Faxmaschinen und ein Tonbandgerät« Bergisch Gladbach 1999), in dem drei Frauen denselben Mann lieben. Unter dem Pseudonym Makla Wagn schrieb V. mit dem Philosophen u. zeitweiligen Ehemann Klaus Wagn mehrere Kriminalfernsehspiele (nach Munzinger-Archiv, elektronisch). Weitere Werke: Mann u. Puppe. ComicRoman. Mchn. 1969. – Der Sommer nach dem Tod von Picasso. Ein Spiel. Ebd. 1969. – Die Lust an der Unfreiheit. Erläuterungen zur Theorie des Genetivismus. Ebd. 1971. – Die Fünf-Stunden-Gesellsch. Argumente für eine Utopie. Ebd. 1978. – Bitte keinen Mozart. Satir. Roman. Ebd. 1981. – Die 25Stunden-Woche. Arbeit u. Freizeit in einem Europa der Zukunft. Mit einem Vorw. v. Oskar Lafontaine. Düsseld. 1990. – Die Erziehung der Engel. Wie lebenswert wäre das ewige Leben. Düsseld. 1992.

Villaume

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Überarb. Fassung Aschaffenburg 2009. – Katholikinnen aller Länder vereinigt euch. Bergisch Gladbach 1995. – Denkverbote. Tabus an der Jahrtausendwende. Ebd. 1998. – Die sieben Feuer v. Mademoiselle. Ebd. 2001 (R.). – Reden u. Schweigen in Palermo. Erotik-Thriller. Tüb. 2008. Rita Mielke / Wilhelm Kühlmann

Villaume, Peter, * 16.7.1746 Berlin, † 10.6.1825 Fuirendal/Fünen. – Theologe u. Pädagoge. V. stammte aus einer Hugenottenfamilie; sein Vater war Strumpffabrikant. Er gehörte zu den Vertretern der philanthropischen Bewegung in Deutschland. Nach dem Studium der Theologie war er Prediger der frz.-reformierten Gemeinden in Schwedt/Oder u. in Halberstadt, wo er 1779/80 zusammen mit seiner Frau eine »Erziehungsanstalt für Frauenzimmer aus gesittetem Stand und von Adel« gründete. 1787 wechselte er als Professor der Moral und schönen Wissenschaften ans Joachimsthalsche Gymnasium nach Berlin, schied aber 1793 freiwillig (veranlasst durch das Wöllner’sche Religionsedikt) aus u. zog sich auf die Insel Fünen zurück, wo er schriftstellerisch u. praktisch an einer Erziehungsanstalt (Bernstorffminde) weiterwirkte. Seitdem ist V., von wenigen Erwähnungen abgesehen, aus dem Kreis der philanthropischen Reformdiskussion entschwunden. V. ist als Verfasser von Schriften zur Nationalerziehung bedeutend. In seiner Begeisterung für die Französische Revolution wusste er sich mit Campe eins; wie dieser wurde er von der frz. Nationalversammlung 1796 zum Mitgl. des neu errichteten Nationalinstituts zu Paris ernannt. Bekannt wurde er v. a. durch die Schriften Über die Erziehung zur Menschenliebe (Dessau 1784) u. Über das Verhältnis der Religion zur Moral und zum Staate (Libau 1791) sowie durch Arbeiten, die als Antworten auf Preisfragen frz. Akademien (Abhandlungen, das Interesse der Menschheit und der Staaten betreffend. Altona 1794. Neudr. Ruggell 1984) entstanden sind. In ihnen trat V. gegen feudalstaatl. Erziehung u. für Gleichberechtigung des Bürgers durch Bildung in einem demokratischen »Volksstaat« ein.

Am bekanntesten wurden seine Beiträge (insg. fünf) zu Campes Enzyklopädie Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens. Mit seinem Beitrag zu Band 8 (1787, S. 213 ff.), Von der Bildung des Körpers in Rücksicht auf die Vollkommenheit und Glückseligkeit des Menschen oder über die physische Erziehung, legte V. die Grundlage für die Leibeserziehung u. Sportpädagogik, auf der später sowohl Johann Christoph Friedrich GutsMuths (Gymnastik für die Jugend. 1793) wie Jahn (Die deutsche Turnkunst. 1816) weiterbauten. Weitere Werke: Gesch. des Menschen. Lpz. 1783. 21788. Neudr. der 2. Aufl. Ruggell 1984. – Philothée oder die ersten Lehren der Religion. 5 Bde., Bln./Libau 1788. – Anfangsgründe zur Erkenntniss der Erde, des Menschen u. der Natur. 5 Bde., ebd. 1791. – Geographie u. Gesch. für die Jugend [...]. 2 Bde., Lpz. 1792. – Vermischte Abh.en. Bln. 1792. Neudr. Ffm. 1981. Literatur: Bibliografie: Rosemarie Wothge: Ein vergessener Pädagoge der Aufklärung: P. V. In: Wiss. Ztschr. der Martin-Luther-Univ. Halle/Wittenberg (Gesellschafts- u. Sprachwiss. Reihe). April 1957, S. 429–454. – Weitere Titel: Gustav Funk: Die Pädagogik V.s. Diss. Lpz. 1894. – Hajo Bernett: Die pädagog. Neugestaltung der bürgerl. Leibesübungen durch die Philanthropen. Schorndorf 1960. – Helmut König: Zur Gesch. der Nationalerziehung in Dtschld. Bln./DDR 1960, S. 350–405. – Herwig Blankertz (Hg.): Bildung u. Brauchbarkeit. Texte v. Joachim Heinrich Campe u. P. V. Braunschw. 1965. – Gernot Koneffke: Die ›Gesch. des Menschen‹ u. die ›Abhandlungen das Interesse der Menschheit betreffend‹: P. V. u. das Dilemma der Pädagogik am Ende der Manufakturperiode. In: Ders.: Pädagogik im Übergang zur bürgerl. Herrschaftsgesellschaft. Studien zur Sozialgesch. u. Philosophie der Bildung. Wetzlar 1994, S. 79–121. – Jürgen Storost: Langue française – langue universelle? Die Diskussion über die Universalität des Französischen an der Berliner Akademie der Wiss.en. Zum Geltungsanspruch des Deutschen u. Französischen im 18. Jh. Hbg. 22008, S. 325–338. Rudolf W. Keck / Red.

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Villers, Alexander (Heinrich) von, * 12.4. 1812 Moskau, † 16.2.1880 Neulengbach/ Niederösterreich. – Briefschreiber u. Erzähler.

Vilmar

Deutsch geschrieben« seien, »einem Deutsch der erlebten, durchdachten, ganz Ausdruck gewordenen Sprache«. Literatur: Wilhelm Weigand: A. v. V. In: ›Briefe eines Unbekannten‹. Bd. 1. Hg. ders. u. Karl Graf Lanckoron´ski. Lpz. 1910, S. 7–68. – Hans Heinz Hahnl: A. v. V. In: Ders.: Vergessene Literaten. Wien 1984, S. 63–66. – Ralph-Rainer Wuthenow: Briefgespräche. A. v. V.’ ›Briefe eines Unbekannten‹. In: Briefkultur im 19. Jh. Hg. Rainer Baasner. Tüb. 1999, S. 239–249. – Lajos Gracza: Unveröffentlichte Briefe v. Franz Liszt an A. de V. In: Studia musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae 47 (2006), 1, S. 39–62. – Goedeke Forts.

Der Sohn eines frz. Emigranten u. einer Sächsin begann, nach Konflikten in Elternhaus u. Schule, eine Buchdruckerlehre in Leipzig, dann ein Studium am Dresdner Polytechnikum; beides scheiterte an V.’ rebellisch-exzentr. Wesen. 1830 schickte ihn der Vater nach Paris, wo er eine Stelle als Volontär annehmen sollte, sich aber vielmehr einem ausgeprägten Bohemeleben widmete. BedeuHartmut Vollmer / Red. tend für seine geistige Entwicklung wurde die Bekanntschaft mit Franz Liszt, den V. auf einigen Reisen begleitete. Eine Hauslehrerstelle, Villinger, Hermine, auch: H. Wilfried, die ernsthafte Beschäftigung mit Musik u. * 6.2.1849 Freiburg i. Br., † 3.3.1917 Naturwissenschaft, die Ausbildung als Mu- Karlsruhe. – Erzählerin u. Jugendbuchsiklehrer sowie sprachwissenschaftl. Interes- autorin. sen konnten V.’ zügelloses Leben bannen. Von den Zeitgenossen als »Dichterin des Nach verspätetem Abschluss des Abiturs u. Schwarzwalds« gefeiert, gehört V., Tochter Jurastudiums trat er in sächs. Diplomaten- eines Geheimen Kriegsrats, mit ihren spätdienste ein u. war in Frankfurt/M., Paris, realistischen Erzählungen in die Tradition Berlin u. schließlich Wien tätig, wo er 1860 der regional verankerten kath. Belletristik, zum Legationsrat befördert wurde. Mit sei- die um die Jahrhundertwende eine Blüte ernem Abschied 1870 zog sich V. – mit seinem lebte. Mit Ebner-Eschenbach (die V. testaweltmänn. Auftreten vormals ein Habitué der mentarisch bedachte) in deren Alter verbunSalons der Wiener Aristokratie – stadtmüde in den, fand V. durch anschaul., mit schalkhafdie ländl. Einsamkeit Neulengbachs zurück. tem Humor geschriebene Erzählbände wie V., der es stets ablehnte, ein Buch zu Aus meiner Heimat (Stgt. 1887. Bln. 31896), schreiben – er publizierte lediglich einige Unter Bauern (ebd. 1894) oder Aus dem Badener Feuilletons; Romanfragmente, Märchen u. Land (ebd. 1898) überregionale Beachtung. Legenden blieben unveröffentlicht –, erntete Sie verfasste auch Lustspiele u. Mädchenbümit seinen Briefen, die postum zuerst von cher (Schulmädchengeschichten. Bln. 1893). seinem Freund Rudolf Graf Hoyos gesammelt Literatur: Reiner Wild: H. V. In: LKJL. – Betherausgegeben wurden (Briefe eines Unbe- tina Wild: Die Versöhnung v. alter u. neuer Zeit. H. kannten. Wien 1881) u. nachfolgend in ver- V. u. die christl. Dorfgesch. In: Poetische Ordnunschiedener Auswahl erschienen (Peter Müller gen. Zur Erzählprosa des dt. Realismus. Hg. Ulrich legte 1983 in Wien die elfte Edition vor), ei- Kittstein u. Stefani Kugler. Würzb. 2007, nen beachtl. literar. Erfolg. In einem reichen S. 253–272. Eda Sagarra u. lebendigen Stil verfasst, zeugen die Briefe von der tiefen Naturverbundenheit u. dem Vilmar, August Friedrich Christian, ausgeprägten Schönheitssinn V.’; die Reize * 21.11.1800 Solz bei Bebra, † 30.7.1868 der Außenwelt – scharf beobachtend u. stauMarburg. – Literarhistoriker, evangelinend registriert – werden mit innerer Konscher Theologe. templation in brillanter Diktion verwoben. Schaukal, der wie Thomas Mann, Kassner, Nach dem Theologie- u. Philologiestudium Blei u. Doderer zu den Bewunderern V.’ in Marburg 1818–1820 ging der anfänglich zählte, rühmte zu Recht an diesen Briefen, rationalistisch-aufklärerisch gesinnte Pfardass sie »in einem schlechthin klassischen rerssohn in den Schuldienst; er wurde 1831

Vintler

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für die Liberalen in die kurhess. Ständeversammlung entsandt. Gleichwohl wandte sich V. in dieser Zeit der kirchl. Orthodoxie zu. Theologisch bedeutete dies die Orientierung an »objektiven Tatsachen« des Heils in der Kirche als dem Leib Christi u. die Suche nach einem »positiven«, rational nicht verfügbaren Glaubensgrund (zusammenfassend: Die Theologie der Tatsachen wider die Theologie der Rhetorik. Marburg 1856), politisch die Forderung nach hierarch. Kirchengliederung unter Ablehnung der Laienverantwortung sowie nach Trennung von Staat u. Kirche, zudem die Unterstützung des Monarchismus. Seit 1833 Direktor des Gymnasiums Marburg, verfasste V. u. a. Vorlesungen über die Geschichte der deutschen National-Literatur (ebd. 1845. 26 Auflagen bis 1905) im Geist der polit. Reaktion u. mehrere Studien zur altdt. Literatur. Der scharfe Polemiker V. wurde Wortführer der kirchlich-konservativen Partei in Kurhessen, 1848–1851 als Redakteur des »Hessischen Volksfreundes«, seit 1850 als Vortragender Rat im Innenministerium unter dem reaktionären Ludwig Hassenpflug. Nach dessen Rücktritt 1855 wurde V. wegen seiner Kritik am landesherrl. Kirchenregiment, das in den reformierten Kirchen galt, auf eine Theologieprofessur in Marburg abgeschoben. Weitere Werke: Zur Litteratur Johann Fischarts. Marburg 1846. – Dt. Namenbüchlein. Ebd. 1855. – Zur neuesten Kulturgesch. Deutschlands. 3 Tle., Ffm. 1858–67. – Lebensbilder dt. Dichter u. Germanisten. Ebd. 1869. – Prakt. Erklärung der Hl. Schrift. 6 Bde., Gütersloh 1880–88. Literatur: Wilhelm Hopf: A. V. 2 Bde., Marburg 1913. – Gerhard Müller: Die Bedeutung A. V.s für Theologie u. Kirche. Mchn. 1969. – Friedrich Wilhelm Hopf: A. V., der Christuszeuge. Bleckmar 1976. – Waltraud Fritsch-Rößler: Zum Subskribentenverz. der ›Vorlesungen über die Geschichte der deutschen National-Literatur‹ (1845) v. A. F. C. V. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgesch. 15 (1990), 1, S. 84–94. – Klaus-Gunther Wesseling: A. V. In: Bautz. – Goedeke Forts.

fürstl. Rat u. Amtmann Niklaus Vintler, der die Burg Runkelstein umbauen u. mit Wandmalereien verzieren ließ. V. ist 1407 als Pfleger des Gerichts Stein auf dem Ritten, 1416 als Amtmann des Herzogs Friedrich von Tirol u. 1417 als dessen Gesandter in Venedig bezeugt. 1411 beendete V. Die pluemen der tugent, eine Versbearbeitung (10.172 Verse) des ital. Prosawerks Fiore di virtù des Fra Tommaso (Gozzadini? um 1300), das in Europa weit verbreitet war. In didakt. Absicht werden gute menschl. Eigenschaften u. erstrebenswerte (soziale) Zustände wie Liebe, Freude, Friede, Barmherzigkeit, Weisheit, Gerechtigkeit, Mäßigkeit usw. sowie ihr Gegenteil in Beschreibungen, Sentenzen philosophischer, bibl. u. theolog. Autoritäten u. Exempla vorgeführt. Der Übertragung, bei der er dem Original im Wesentlichen nur eine Einleitung u. einige Exempla hinzufügte, ließ V. einen Teil folgen (ab V. 7028), den er nach den in einigen Handschriften als Anhang der Fiore überlieferten Ammaestramenti de’ Filosofi verfasste. Hier finden sich lange, von V. selbst stammende Textpassagen, in denen er im Ton einer Zeitklage an Erscheinungen seiner Gegenwart Kritik übt: an den habgierigen, ihre Pflichten vernachlässigenden Adligen, an putzsüchtigen, hochmütigen Frauen, am weit verbreiteten Aberglauben u. an magischen Praktiken. V., der sich als Laie bezeichnete, verstand neben dem Italienischen einige lat. Wörter u. kannte dt. Dichtungen. Seine wichtigste, häufig zitierte Quelle ist die historischmoraldidakt. Kompilation des Valerius Maximus in der Übersetzung Heinrichs von Mügeln. Zudem benützte er den Gewissensspiegel Martins von Amberg. V. zählt zu den frühen Vermittlern der ital. Literatur im dt. Sprachraum. Sein Werk ist in fünf Handschriften des 15. Jh. erhalten u. wurde 1486 in Augsburg gedruckt.

Richard Heckner / Red.

Ausgabe: Die pluemen der tugent. Hg. Ignaz V. Zingerle. Innsbr. 1874.

Vintler, Hans, † 1419 Südtirol. – Bearbeiter eines Lehrgedichts.

Literatur: Oswald v. Zingerle: H. V. In: ADB. – Albrecht Classen: Zur Rezeption nordital. Kultur des Trecento im Werk Oswalds v. Wolkenstein. Göpp. 1987, S. 43 f. u. ö. – Franz-Josef Schweitzer: Die Rezeption der ›Summa theologiae‹ des Thomas

V. gehörte einer berühmten Südtiroler Adelsfamilie an; sein Onkel war der landes-

779 v. Aquin im ›Fiore di virtù‹ u. in den ›Blumen der Tugend‹ des H. V. In: Die Funktion außer- u. innerliterar. Faktoren für die Entstehung dt. Lit. des MA u. der frühen Neuzeit. Hg. Christa Baufeld. Göpp. 1994, S. 141–154. – Ders.: H. V.s ›Aberglaubensliste‹ u. der Hexenbegriff. In: Lit. u. Sprache in Tirol. Hg. Michael Gebhardt u. Max Siller. Innsbr. 1996, S. 281–292. – Elisabeth De Felip-Jaud: Die Sprichwörter in H. V.s ›Pluemen der tugent‹ u. in Tommaso Gozzadinis ›Fiore di Virtù‹. In: ebd., S. 269–278. – Dies.: ›Wer do ze palde lauft, [das] der auch dester öfter straucht‹. Die Sprichwörter in H. V.s ›Pluemen der tugent‹. In: Lit. u. Sprachkultur in Tirol. Hg. Johann Holzner u. a. Innsbr. 1997, S. 175–198. – F.-J. Schweitzer: Tugend u. Laster in illustrierten didakt. Dichtungen des späten MA. Hildesh. u. a. 1993. – M. Siller: Die Standesqualität der Vintler v. Bozen zu Beginn des 15. Jh. Prolegomena zu einer Interpr. v. H. V.s ›Blumen der Tugend‹ (1411). In: Durch aubenteuer muess man wagen vil. Hg. Wernfried Hofmeister u. Bernd Steinbauer. Innsbr. 1997, S. 447–462. – JanDirk Müller: H. V. In: VL (Lit.). Sabine Schmolinsky / Red.

Viragh, Christina, * 23.1.1953 Budapest/ Ungarn. – Erzählerin, Dramatikerin, Übersetzerin. V. emigrierte 1960 mit der Familie in die Schweiz u. studierte an der Universität Lausanne Philosophie, frz. u. dt. Literatur. 1985–1987 war sie Lehrassistentin für Fanzösisch an der Universität von Manitoba/ Winnipeg (Kanada). Zurück in der Schweiz, begann sie ihre Arbeit als Übersetzerin aus dem Französischen u. Ungarischen u. als freie Schriftstellerin. 1994/95 war V. Stipendiatin am Schweizer Institut in Rom, wohin sie anschließend ihren Lebensmittelpunkt verlegte. V.s literar. Werk umfasst fünf Romane, zwei dramat. Stücke u. mehrere Beiträge in literar. Zeitschriften. Die Romane – Unstete Leute (Stgt. 1992), Rufe von Jenseits des Hügels (ebd. 1994), Mutters Buch (ebd. 1997), Pilatus (Zürich 2003) u. Im April (ebd. 2006) – thematisieren, wie Vergangenheit u. Erinnerung im Kontext einer unvertrauten Gegenwart neue Realitäten schaffen. Charakteristisch für V.s überwiegend weibl. Figurenpersonal, das sich innerhalb der Prosawerke u. der dramat. Stücke teilweise überschneidet, ist die Erfahrung von Verlust, Fremdheit u. Desorientie-

Viragh

rung – es sind traumat. Umbruchssituationen, denen die Figuren mit fragmentar. Erinnerungsbildern begegnen. Kausalität u. Linearität werden in der Konstruktion dieser Erinnerungsprozesse häufig durchbrochen. V.s literar. Schreiben zeichnet sich durch die Verwandlung autobiogr. Momente in Fiktion sowie durch die unterschiedlich starke Reflexion des Erzählvorgangs selbst aus, mittels welcher Schreiben als Verwirklichung des Erinnerten thematisiert wird. Dies gilt auch für V.s dramat. Stücke Damals draussen (1992; Hörspiel, SWF 1995) u. Chaostheorie (Urauff. Luzern 2005). Neben ihren eigenen Werken erfuhren V.s kongeniale Übersetzungen zahlreicher Werke bekannter ungarischer (z.B. Kertész, Márai, Szerb) u. frz. Autoren (z.B. AlainFournier, Proust) breite Aufmerksamkeit. V.s herausragende Leistungen als Übersetzerin wurden 2009 mit dem Zuger ÜbersetzerStipendium für die Übersetzung der Parallelgeschichten (2005) von Péter Nádas gewürdigt. Zu ihren Auszeichnungen gehören ferner der Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung 1992, das Arbeitsstipendium Ilse-Langner-Dramatikerinnenwettbewerb 1999, der Werkpreis Innerschweizer Literaturförderung 2000 u. der Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung 2003. Weitere Werke: Alltäglich liegen Wörter herum. In: Schreibweisen. Autorinnen u. Autoren aus der Schweiz über ihre Arbeit. Hg. Christine Tresch. Zürich 1994, S. 71 f. – Wunschdenken. In: Beckett Pause. Minidramen. Hg. Lucas Cejpek. Wien 2007, S. 48–50. – Übersetzungen: Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen. Bln. 1996. – Alain-Fournier: Der große Meaulnes. Nachw. v. Hanno Helbling. Zürich 1997. – Sándor Márai: Die Glut. Mchn./ Zürich 1998. – Antal Szerb: Reise im Mondlicht. Nachw. v. Pete´ r Esterha´ zy. Mchn. 2003. Literatur: Caroline Weber: Mentale Vorgänge sind nie ungefährlich. C. V. In: Stück-Werk 4. Deutschschweizer Dramatik. Hg. Veronika Sellier u. Harald Müller. Bln. 2005, S. 153–155. – Urs Bugmann: C. V. In: LGL. – Peter Rusterholz u. Andreas Solbach (Hg.): Schweizer Literaturgeschichte. Stgt./Weimar 2007, S. 418. Maria Böhmer

Virchow

Virchow, Rudolf (Ludwig Carl), * 13.10. 1821 Schivelbein/Pommern, † 5.9.1902 Berlin; Grabstätte: ebd., Friedhof der St.Matthäi-Gemeinde. – Pathologe, Anthropologe, Archäologe; Politiker. Der einzige Sohn des Stadtkämmerers von Schivelbein begann 1839 nach der Reifeprüfung in Köslin ein Medizinstudium in Berlin, promovierte 1843 unter Johannes Müller mit der Dissertation De rheumate praesertim corneae u. wurde Unterarzt in der Charité, 1846 Prosektor. 1847 war V. Mitbegründer des »Archivs für pathologische Anatomie und Physiologie für klinische Medizin« u. habilitierte sich unter Müller mit der Arbeit De ossificatione pathologica. Mit den in seinen Mitteilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie (Bln. 1848) niedergelegten Ergebnissen einer im Auftrag der preuß. Regierung unternommenen Reise begründete er die moderne Sozialhygiene. Aufgrund seiner Kritik an den preuß. Behörden u. wegen seiner polit. Tätigkeit 1848 wurde er 1849 als Prosektor der Charité abgesetzt u. folgte einem Ruf auf den Pathologielehrstuhl in Würzburg. Dort arbeitete er seine Epoche machende Zellularpathologie aus: 1855 veröffentlichte er – im achten Band des seit 1852 von ihm allein herausgegebenen »Archivs« – den Aufsatz über Cellular-Pathologie (Buchausg. Bln. 1858), mit dem berühmten Satz: »Omnis cellula a cellula«. Zusammen mit anderen Gelehrten gab er 1854–1876 das sechsbändige Handbuch der speziellen Pathologie und Therapie (Erlangen) heraus. 1856 wurde V. nach Berlin zurückberufen u. zum Direktor des Pathologischen Instituts der kgl. Charité sowie zum Ordinarius an der Universität Berlin ernannt; 1859 wurde er Professor am Königlichen Friedrich-Wilhelm-Institut. 1857 erschienen seine für die damalige Anthropologie grundlegenden Untersuchungen über die Entwicklung des Schädelgrundes [...] (Bln.). 1861 begründete V. die linksliberale Deutsche Fortschrittspartei mit u. wurde im Preußischen Abgeordnetenhaus zu einem exponierten Gegner Bismarcks, der ihn 1865 zum Duell forderte, das aber nicht ausgetragen wurde; der Begriff »Kulturkampf« für

780

ihrer beider Frontstellung gegen die kath. Kirche stammt von ihm. 1870 war V., der auch Forschungen über prähistor. Siedlungsformen durchführte, Gründungsmitgl. der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte u. redigierte u. a. die »Zeitschrift für Ethnologie« (seit 1870) u. die »Nachrichten über deutsche Alterthumsfunde« (seit 1890). Er unternahm zahlreiche Reisen, die ihn nach Kleinasien, Griechenland u. in den Kaukasus führten. 1888 reiste er mit Schliemann, mit dem er Ausgrabungen durchführte, nach Ägypten u. verhalf ihm zur Anerkennung in Deutschland. 1886 eröffnete V. das auf seine Anregung hin gebaute Berliner Völkerkundemuseum. Mit außerordentl. Arbeitskraft hat V. in nahezu allen Bereichen der Medizin, Anthropologie u. Archäologie eine enorme Fülle von neuen Erkenntnissen erarbeitet. Durch konsequente Anwendung der naturwissenschaftlich-mechan. Methodik auf die Medizin hat er einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf die Ausbildung des neuzeitl. Medizinalwesens genommen. Das Leben indessen war für ihn »nur eine besondere Art der Mechanik, und zwar die allerkomplizierteste Form derselben«. Weitere Werke: Ges. Abh.en zur wiss. Medizin. Ffm. 1856. – Goethe als Naturforscher [...]. Bln. 1861. – Vier Reden über Leben u. Krankheit. Ebd. 1862. – Glaubens-Bekenntnis eines modernen Naturforschers. Ebd. 1873. – Die Korrespondenz zwischen Heinrich Schliemann u. R. V. 1876–1890. Hg. Joachim Herrmann. Bln. 1990. – Über Griechenland u. Troja, alte u. junge Gelehrte, Ehefrauen u. Kinder. Briefe v. R. V. u. Heinrich Schliemann aus den Jahren 1877–1885. Hg. Christian Andree. Köln u. a. 1991. – R. V. u. Emil du BoisReymond: Briefe 1864–1894. Hg. Klaus Wenig. Marburg 1995. – Sämtl. Werke. Hg. C. Andree. Bern u. a. 1992 ff. – C. Andree: R. V. – Vielseitigkeit, Genialität u. Menschlichkeit. Ein Lesebuch. Hildesh. u. a. 2009. Literatur: Julius Schwalbe (Hg.): V.-Bibliogr., 1843–1901. Bln. 1902. – Wilhelm Ebstein: V. als Arzt. Stgt. 1903. – Erwin H. Meyer: R. V. Wiesb. 1956. – Ernst Ackerknecht: R. V. als Arzt, Politiker, Anthropologe. Stgt. 1957. – Klaus Panne: Die Wissenschaftstheorie v. R. V. Diss. Düsseld. 1967. – Christian Andree: R. V. als Prähistoriker. 3 Bde.,

Virdung

781 Köln/Wien 1976–86. – Manfred Vasold: R. V. der große Arzt u. Politiker. Stgt. 1988. – Lelland J. Rather: A commentary on the medical writings of R. V.: based on Schwalbe’s V.-bibliography 1843–1901. San Francisco 1990. – Byron A. Boyd: R. V.: the scientist as citizen. New York u. a. 1991. – Heinz Otremba: R. V.: Begründer der Zellularpathologie. Eine Dokumentation. Würzb. 1991. – Heinz David: R. V. u. die Medizin des 20. Jh. Mchn. 1993. – Heinrich Schipperges: R. V. Reinb. 1994. – Regina Fengler: R. V. u. die Veterinärmedizin seiner Zeit: Kontakte, Beziehungen, Einflüsse. Diss. FU Bln. 1997. – C. Andree: R. V. Leben u. Ethos eines großen Arztes. Mchn. 2002. – Constantin Goschler: R. V. Mediziner, Anthropologe, Politiker. Köln u. a. 2002. – Geraldine Saherwala (Hg.): Zwischen Charité u. Reichstag: R. V. Mediziner, Sammler, Politiker [Ausstellungskat.]. Bln. 2002. – C. Goschler: ›Wahrheit‹ zwischen Seziersaal u. Parlament: R. V. u. der kulturelle Deutungsanspruch der Naturwiss.en. In: Neue Wege der Wissenschaftsgesch. Hg. Wolfgang Hardtwig. Gött. 2004, S. 219–249. – C. Andree: Von ›beständiger Treue‹ u. ›begrabenen Hoffnungen‹: R. V. u. Theodor Mommsen. In: Theodor Mommsen. Wiss. u. Politik im 19. Jh. Hg. Alexander Demandt, Andreas Goltz u. Heinrich Schlange-Schöningen. Bln. u. a. 2005, S. 103–120. – Irmtraud Balkhausen: Der Staat als Patient. R. V. u. die Erfindung der Sozialmedizin v. 1848. Marburg 2007. – Volker Becker: Der Einbruch der Naturwiss. in die Medizin: Gedanken um, mit, über, zu R. V. Bln. u. a. 2008. – Brian L. D. Coghlan u. Leon P. Bignold: V.’s eulogies. R. V. in tribute to his fellow scientists. Basel u. a. 2008. – Eva Johach: Krebszelle u. Zellenstaat. Zur medizin. u. polit. Metaphorik in R. V.s Zellularpathologie. Freib. i. Br. 2008. – Axel W. Bauer: R. V. – von der Pépinière zur Charité. Stgt. 2010. – Ingo Wirth (Hg.): Neue Beiträge zur V.-Forsch. FS Christian Andree. Hildesh. 2010. Roland Pietsch / Red.

Virdung, Johann, * 14.3.1463 Haßfurt/ Unterfranken, † 1538/1539 Heidelberg (?). – Astronomisch-astrologischer Sachschriftsteller. Nach Studien in Leipzig (1481), einer Italienreise (1482/83), Aufenthalten in Leipzig (1484), Krakau (Baccalaureus 1486) u. Leipzig (Magister artium 1491) hatte V. seit 1493 das Amt eines Mathematicus u. Büchsenmeister (›bombardista‹) am Hof von Kurfürst Philipp u. Ludwig V. in Heidelberg inne. Er betätigte sich außerdem seit 1521 als Hofapotheker u.

lehrte nach Erlangen der medizinischen Doktorwürde (um 1529) an der Heidelberger Universität Astronomie u. Medizin. Seine Anteilnahme an naturkundlich-magischen Bestrebungen bekunden V.s Aufenthalt bei Nicholas of Fairmont in England (1503) u. Bekanntschaft mit »Georgius Sabellicus Faustus iunior« (1507), dem in Legendendunkel gehüllten »astrologus« u. »magus secundus« Faust. Sein Briefwechsel mit Johannes Trithemius u. freundschaftl. Beziehungen mit Adam Wernher, Jacob Curio oder Johann Sinapis nötigen anzunehmen, dass V. der humanistischen Bewegung gegenüber eine aufgeschlossene Haltung einnahm. V. schuf mit seinem Hauptwerk Nova medicinae methodus ex mathematica ratione morbus curandi (Ettlingen 1532. Auch Hagenau 1533. Venedig 1584 [mit einem Kommentar von Johannes Paulus Gallucius]) ein reichhaltiges Fachbuch, aus dem Ärzte Kenntnisse über astromedizinische Grundprinzipien u. Praktiken schöpfen konnten. Seine zweite Hauptschrift, ein auf astronomischen Vorlesungen V.s beruhendes Hilfsmittel für Horoskopsteller u. Prognostikenverfasser, erschien postum (Tabulae resolutae de supputandis siderum motibus. Hg. Jacob Curio. Nürnb. 1542). V.s einst beträchtl. Ansehen beruhte hauptsächlich auf seiner astrolog. Praxis (Horoskope für Melanchthon, Franz von Sickingen), insbes. jedoch auf seinen vielerorts gedruckten Tagesschriften astrolog. Inhalts, deren Zahl bis 1540 auf über 50 Veröffentlichungen anwuchs. Dieses spätestens seit 1487 entstandene Textcorpus birgt eine gegen ein Prognosticon (Toledobrief) des fiktiven pers. Hofastrologen Lucas (nicht etwa Luca Gaurico) gerichtete Invectiua (Heidelb. o. J. [1512]), eine Außlegung vber die zaichen die do gesehen worden seind auff dem Schloß hohen Vrach (o. O. u. J. [Augsb. 1514]), eine Außlegung der zeichen die [vom 5.-7. Jan. 1520 zu Wien] gesehen worden sein (Oppenheim o. J. [1520]), mit der V. ein »erster Grundriß der meteorologischen Optik« gelang (Hellmann 1914, S. 14), u. ›Auslegungen‹ bestimmter Kometen (1506, 1531) sowie einer Sonnenfinsternis (1513). Vor allem aber setzt sich V.s umfängl. Corpus astrolog. Tagesschriften aus Jahresprognostiken zusammen, ›Judicien‹ bzw.

Virdung

›Praktiken‹, in denen sich zuweilen Weltuntergangsprophetie mit Reformaufrufen verband. Ausweislich seiner mehr als 15-mal gedruckten Practica Teütsch (ebd. 1521 u. ö.), einer Adaption der Pronosticatio von Johann Lichtenberger, stand V. im Streit um die Sintflutprognose für das Jahr 1524 auf Seiten der besonneneren Partei. Weitere Werke: Handschriftlich überliefert in einigen Cod. Pal. lat. (Rom, Bibl. Apost. Vaticana), erfasst von Schuba (1992). Literatur: Siegmund Günther: J. V. In: ADB. – Karl Sudhoff: Jatromathematiker vornehmlich im 15. u. 16. Jh. Breslau 1902, bes. S. 49–51. – Gustav Hellmann: Beiträge zur Gesch. der Meteorologie 1. Bln. 1914. – Alexander Birkenmajer: Formula. In: Isis 19 (1933), S. 364–378, bes. S. 364–372. – Lynn Thorndike: J. V. of Hassfurt again. In: ebd. 25 (1936), S. 363–371. – Ders.: Another V. Manuscript. In: ebd. 34 (1942/43), S. 291–293. – Ders.: J. V. of Hassfurt: dates of birth and death. In: ebd. 37 (1947), S. 74. – Ernst Zinner: Gesch. u. Bibliogr. der astronom. Lit. in Dtschld. zur Zeit der Renaissance. Stgt. 21964, s.v. – Ursula Bruckner: Wenzel Faber v. Budweis oder J. V. In: Beiträge zur Inkunabelkunde 3. F., 4 (1969), S. 123–140. – Peter Hans Pascher (Hg.): Praktiken des 15. u. 16. Jh. Klagenf. 1980 (Textproben). – Max Steinmetz: J. V. v. Haßfurt, sein Leben u. seine astrolog. Schr.en. In: Flugschr.en als Massenmedium der Reformationszeit. Hg. Hans-Joachim Köhler. Stgt. 1981, S. 353–372. – Paola Zambelli: Fine del mondo o inizio della propaganda? In: Scienze, Credenze occulte, Livelli di Cultura. Convegno Internazionale di Studi. Florenz 1982, S. 291–368, bes. S. 330 f. – Wolf-Dieter Müller-Jahncke: Astrologisch-mag. Theorie u. Praxis in der Heilkunde der frühen Neuzeit. Stgt. 1985, s.v. – Joachim Telle: J. V. In: Bibliotheca Palatina. Ausstellungskat., Textbd. Hg. Elmar Mittler. Heidelb. 1986, S. 106–108. – Heike Talkenberger: Sintflut. Prophetie u. Zeitgeschehen in Texten u. Holzschnitten astrolog. Flugschr.en 1488–1528. Tüb. 1990, S. 165–168, 460–465. – Mieczysl/aw Markowski: Astronomica et astrologica Cracoviensia ante annum 1550. Florenz 1990, s.v. – Ludwig Schuba: Die Quadriviums-Hss. der Codices Palatini Latini in der Vatikanischen Bibl. Wiesb. 1992, s.v. – Martina Backes: Das liter. Leben am kurpfälz. Hof zu Heidelberg im 15. Jh. Tüb. 1992, S. 158. – Francis B. Brevart: J. V. In: VL. – Winfried Dotzauer: War Dr. Faust in Kreuznach? Der Brief des Abtes Johannes Trithemius an den Mathematiker J. V. vom 20. 8. 1507. In: Bl. für Pfälz. Kirchengesch. u. religiöse Volkskunde 66/67 (1999/

782 2000), S. 453–487. – Helmut Claus: Astrolog. Flugschr.en v. Johannes V. u. Balthasar Eißlinger d.Ä. als ›Leitfossilien‹ des Speyerer Buchdrucks der Jahre 1514 bis 1540. In: AGB 54 (2001), S. 111–155. – Dagmar Drüll(-Zimmermann): Heidelberger Gelehrtenlexikon 1386–1651. Bln./Heidelb./New York 2002, S. 232 f. – Jaumann Hdb., Bd. 1, S. 686 f. – Gerd Mentgen: Astrologie u. Öffentlichkeit im MA. Stgt. 2005, S. 120 f., 250–252. – DBE. – Benedek Láng: Unlocked Books. Manuscripts of Learned Magic in the Medieval Librarys of Central Europe. University Park, Pennsylvania 2008, S. 255–264 (›The Hermetic Collection of Johannes V. of Hassfurt‹). Joachim Telle

Virdung, Michael, * 5.6.1575 Kitzingen, † 28.10.1637 Altdorf. – Philologe, Jurist, Dramatiker. V., Sohn des Ratsherren Matthäus Virdung, studierte Geschichte, Rhetorik u. Recht in Straßburg u. Jena (seit Frühjahr 1593), möglicherweise auch in Heidelberg. Am 13.1.1597 wurde er in Jena durch Nicolaus Reusner zum Dichter gekrönt (vgl. ders.: Honesto et erudito Michaeli Wirdungo Franco, poetae laureato [...] actum [...] Idibus Ianuarij, anno Christi 1597. Jena 1597). Seit Januar 1605 lehrte er an der Altdorfer Semiuniversitas zunächst Geschichte, zwei Jahre später auch Beredsamkeit, seit 1624 Politik u. Geschichte. Von V. sind keine Schriften überliefert, die über Inhalt u. Methode seines rhetorischen Unterrichts Aufschluss geben können. Besser sind wir über seine histor. Vorlesungen informiert, in denen er vorzugsweise über röm. Geschichte las. Zusammen mit dem Straßburger Matthias Bernegger hat er einen Kommentar zu Tacitus’ Agricola veröffentlicht (Commentarius in C. Iulii Agricolae vitam scriptore Cor. Tacito. Additae sunt in eundem Taciti libellum annotationes Matthiae Berneggeri. Straßb. 1617. Erw. Nürnb. 1637). Postum erschien eine Sammlung von bis dahin teilweise unveröffentlichten akadem. Reden (Orationes varii argumenti [...]. Nürnb. 1642), darunter auch seine Antrittrede (An, quomodo et quando sapienti ad rempublicam sit accedendum?), in der er seine Vorstellungen von der Funktion der histor. Bildung für die Ausbildung zum ›homo politicus‹ darlegte. An anderen Stellen (vgl. z.B. den Agricola-Kommentar u. die Ora-

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tiones) wertete er die Historie – programma- neulat. Tragödien. Text, Übers. u. Interpr. v. Antisch im Gegensatz zur Einschätzung des dreas Hagmaier. Mchn./Lpz. 2006. Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – WeiFaches Geschichte als unbedeutend in der Schule von Philipp Scherbius – auf zu einer tere Titel: Christoph Adam Rupert: Oratiuncula de genere, vita et obitu [...] Michaelis Virdungi [...]. »philosophia quaedam exemplis utens«. Literaturgeschichtlich bemerkenswert ist Altdorf 1637. – Georg Andreas Will: Nürnbergisches Gelehrten-Lexicon [...]. 4. Tl., Nürnb./AltV. als Verfasser der Dramen Saul (Jena 1595) u. dorf 1758. Nachdr. Neustadt an der Aisch 1997, Brutus (zus. mit dem Saul u. d. T. Tragoediae S. 90–93. – Johannes Bolte: M. V. In: ADB. – Paul novae duae [...]. Jena 1596) sowie Thrasea (zus. Dandorfer: Die Autoritäten in den Vorlesungsvermit den beiden anderen, umgearbeiteten zeichnissen der philosoph. Fakultät der Univ. AltDramen in: Tragoediae [...]. Nürnb. 1608. dorf (1624–1808/09). Teil I. Diss. Erlangen-Nürnb. 1609). Im Gegensatz zu den früheren nlat. 1974, S. 108 (Vorlesungsverz. von 1624 u. 1636). – Dramatikern sieht V. weniger Terenz, son- Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 1209–1211; Tl. 2, dern die griech. Tragiker u. stärker noch Se- S. 1398. – Wolfgang Mährle: Academia Norica. neca als Vorbilder an. Er beschränkt Hand- Wiss. u. Bildung an der Nürnberger Hohen Schule in Altdorf (1575–1623). Stgt. 2000, S. 290, 310–314 lung u. Darstellung auf höchstens 27 kleinu. Register. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, formatige Seiten; sprachlich wirken die Stü- S. 2167–2169. cke häufig gesucht u. unbeweglich. Saul u. Markus Mollitor / Reimund B. Sdzuj Brutus ähneln einander formal wie inhaltlich (Monologe der Feinde des Helden, Selbstmord des Helden nach verlorener Schlacht im Virginal. – Heldendichtung des 13. Jh. in 4. Akt, versöhnl. Schluss durch den Edelmut Strophen (Bernerton) aus dem Stoffkreis des triumphierenden Gegners u. Ä.). Im um Dietrich von Bern. Thrasea widersetzt sich der Held, ein röm. Senator, dem Tyrannen Nero, wird von die- Drei Handschriften des 15. Jh. überliefern in sem zum Tode verurteilt u. begeht Selbst- einer jeweils eigenen Version die Geschichte mord; dabei lässt V. Thrasea eine geradezu der ersten Abenteuer des jungen Dietrich von christl. Unsterblichkeitslehre verkünden. Die Bern, der die Forschung nach dem Namen der Dramen scheinen keinen nachhaltigen Ein- weibl. Hauptperson den Titel V. gegeben hat fluss ausgeübt zu haben; allerdings war V.s (heute nicht mehr verwendete Titel: Dietrichs Saul Vorlage von Wolfhart Spangenbergs erste Ausfahrt, Dietrich und seine Gesellen, Dietrichs Drachenkämpfe): 1. eine Handschrift der gleichnamigem dt. Drama (1606). Universitätsbibliothek Heidelberg (cpg 324), Weitere Werke: Hercules togatus sive laudatio funebris [...] principis [...] Georgii Friderici Mar- um 1440 in der Werkstatt Diebolt Laubers in chionis Brandeburgici. Schwabach 1604. – Oratio Hagenau geschrieben; 2. das Dresdner Heldende concordia et discordia earumdemque fructibus. buch von etwa 1472; 3. Linhart Scheubels HelNürnb. 1608. – Speculum idololatriae novantiquae, denbuch von etwa 1480/90. sive oratio de fructu ex veteri historia capiendo Die Version der Heidelberger Handschrift adversus idololatriam [...]. Nürnb. 1612. – Oratio- (h = V10), 1097 Strophen, hat in groben nes duae, quarum prior caussas caritatis annonae, Zügen folgenden Inhalt: I: Dietrich von Bern, posterior autem ejus mali remedia exponit. Altdorf der noch nicht weiß, was Aventiure ist, zieht 1624. – Alexander novantiquus, sive Magni Gustavi mit seinem Waffenmeister Hildebrand ins Adolphi [...] cum Alexandro rege quondam MacWaldgebirge, um gegen den Heiden Orkise edoniae etc. cognomento Magno comparatio [...]. zu kämpfen, der ins Land der Königin VirgiAltdorf 1633. nal eingefallen ist. In harten Kämpfen gegen Ausgaben: Saul tragoedia nova: Ex 1. lib. Reg. Orkises Heiden behalten sie die Oberhand. cap. 28. 31. [...]. Jena 1595. Internet-Ed.: ULB Sachsen-Anhalt. – Iuvenilia. Tributa in quaedam Hildebrand kann ein Mädchen aus dem Geapospasmatia [griech.] carminum variorum: Item folge der Virginal befreien, das man durch librum epigrammatum: et duas tragoedias: Saul et Losentscheid zum Tribut für Orkise beBrutum. Nürnb. 1598. Internet-Ed.: CAMENA. – stimmt hatte. Das Mädchen lädt die Helden M. A. Muret, ›Iulius Caesar‹, M. V., ›Brutus‹. Zwei nach Virginals Residenz Jeraspunt ein, geht

Virginal

voraus u. berichtet Virginal von seiner Befreiung. Die Königin sendet den Zwerg Bibung als Boten zu den Helden. II: Diese sind unterdessen in schwere Kämpfe mit Drachen geraten. Hildebrand befreit einen Ritter – Rentwin, Sohn des Helferich von Lune – aus dem Maul eines Drachen. Mit Rentwin u. dem herbeigeeilten Helferich begeben sich die Helden auf dessen Burg Arona, wo sie herzlich empfangen u. aufs beste bewirtet werden. Nach 14 Tagen machen sie sich, von dem nachgereisten Bibung erneut eingeladen, auf den Weg nach Jeraspunt. III: Unterwegs verirrt sich Dietrich, gelangt zur Burg Muter, wird dort von dem Riesen Wicram überwältigt u. von dessen Herrn Nitger gefangen gesetzt. Nitgers Schwester Ibelin sorgt für den Gefangenen. Mit ihrer Hilfe kann er einen Boten nach Jeraspunt schicken. Über seine Gefangenschaft informiert, sammeln Dietrichs Freunde Helfer zu seiner Befreiung u. ziehen nach Muter. In elf Zweikämpfen, an denen auch Dietrich – von Nitger freigegeben – teilnimmt, wird Nitgers Riesen-Truppe erschlagen. IV: In abenteuerl. Fahrt, auf der neuerlich Riesen u. Drachen zu bestehen sind, ziehen Dietrich u. die Befreier nach Jeraspunt, wo Virginal sie empfängt u. ein prächtiges Fest für sie ausrichtet. Auf die Nachricht von einer drohenden Belagerung Berns verabschieden sich Dietrich u. seine Gesellen u. kehren nach Hause zurück. In der Version des Dresdner Heldenbuchs (d = V11), 130 Strophen (Auszug aus einer längeren Vorlage), fehlt der Muter-Teil (III); im Arona-Teil (II) bzw. im Anschluss an diesen finden sich weitere Episoden, die Dietrich Gelegenheit geben, sich im Kampf zu bewähren; das Fest auf Jeraspunt (IV) gipfelt in der Hochzeit zwischen Dietrich u. Virginal. Die Version von Linhart Scheubels Heldenbuch (w = V12), 866 Strophen, bietet einen Mischtext aus den Versionen, welche die beiden anderen Handschriften repräsentieren. Hinter den Fassungen der drei vollständigen Handschriften steht eine rege Textentwicklung, die wenigstens rudimentär bezeugt ist in Bruchstücken von zehn weiteren Handschriften, deren älteste in der 1. Hälfte des 14. Jh. geschrieben wurden. Noch weiter zurück führt eine Parallele zur Rentwin-Epi-

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sode (II) in der norweg. Thidrekssaga, einer Art Dietrich-Roman, der um die Mitte des 13. Jh. verfasst wurde. Die Muter-Episode (III) schließlich bietet die Möglichkeit, den Text an uralte Sagentradition anzubinden: Das Motiv von Dietrichs Gefangenschaft bei Riesen u. seiner Befreiung durch seine (bzw. einen seiner) Gesellen, das auch dem Sigenot zugrunde liegt, ist schon im altengl. Waldere (Handschrift um 1000) bezeugt. Man wird annehmen dürfen, dass der Text, auf den die handschriftl. Überlieferung zurückgeht, um die Mitte oder in der zweiten Hälfte des 13. Jh. unter Benutzung traditioneller Motive verfasst wurde. Wie dieses Gedicht im Einzelnen aussah, lässt sich nicht sagen: Wiederholte Versuche der Forschung, es durch Abheben von Entwicklungsschichten aus dem überlieferten Bestand zu rekonstruieren, sind gescheitert. So muss man sich zur literaturhistor. Einordnung des Werks an die vorliegenden Versionen halten, in erster Linie an h. Drei Aspekte sind dabei vorrangig von Bedeutung: 1. Das Werk bietet eine Art Summe von Motiven u. Motivsequenzen, die typisch sind für die aventiurehafte Dietrichepik im Besonderen u. die späte Heldenepik im Allgemeinen. 2. Das vielfältige Motivmaterial wird zusammengehalten durch ein Erzählprogramm, das v. a. aus der frz. Heldenepik der Chansons de geste bekannt ist u. in der Dietrichepik ein Gegenstück im Wunderer hat: Bericht von den »enfances« (Jugendtaten) eines Helden, hier kombiniert mit der Erziehung des jungen Fürsten zur rechten Einstellung zum höf. Frauendienst. 3. Erzählerisch realisiert ist der Vorwurf durch eine professionell gehandhabte Technik der Aufspaltung u. Verknüpfung von Handlungssträngen u. der Ausfaltung eines komplizierten Geflechts von Motivresponsionen. Ausgaben: Dietrichs erste Ausfahrt. Hg. Franz Stark. Stgt. 1860 (Version w). – Dt. Heldenbuch. Tl. 5. Hg. Julius Zupitza. Bln. 1870. Neudr. Dublin/ Zürich 1968 (Version h). – D. Dresdener Heldenbuch u. die Bruchstücke des Berlin-Wolfenbütteler Heldenbuchs. Ed. u. Digitalfaks. Hg. Walter Kofler. Stgt. 2006 (Version d). Literatur: Joachim Heinzle: Mhd. Dietrichepik. Mchn. 1978. – Ders.: Einf. in die mhd. Diet-

785 richepik. Bln./New York 1999 (Bibliogr.). – Ders.: V. In: VL. – Sonja Kerth: Gattungsinterferenzen in der späten Heldendichtung. Wiesb. 2008. – Victor Millet: German. Heldendichtung im MA. Eine Einf. Bln./New York 2008. Joachim Heinzle

Vischer, Friedrich Theodor (geadelt 1870), * 30.6.1807 Ludwigsburg, † 14.9.1887 Gmunden am Traunsee; Grabstätte: ebd., Evangelischer Friedhof. – Ästhetiker. Die Gymnasialzeit in Stuttgart, seit 1821 das theolog. Seminar Blaubeuren u. seit 1825 das Tübinger Stift, wo die Freundschaft mit David Friedrich Strauß begründet wurde, förderten den hoch begabten Pfarrerssohn, der 1814 den Vater verloren hatte, in Studien der Theologie, Philosophie, Literatur u. Kunst. Nach einem Vikariat 1830 wurde V. im Herbst 1831 Repetent im Seminar zu Maulbronn u. erhielt auf der Magisterreise 1832/ 33 u. a. in Göttingen, Berlin, Dresden, Wien u. München Anregungen in Kunst u. Philosophie. V. wirkte 1833–1836 als Repetent am Tübinger Stift, gab die Theologie zugunsten der Ästhetik auf u. habilitierte sich 1836 in Tübingen, wo er seit 1837 eine a. o. Professur, seit 1844 das neu eingerichtete Ordinariat für Ästhetik innehatte. Reisen 1839/40 u. 1843 nach Italien u. Griechenland dienten dem Kunststudium. Seine freimütige Antrittsrede führte zu Angriffen von theolog. Seite u. einer zweijährigen Suspension vom Amt. 1848 wurde V. als liberaler Kandidat von Reutlingen-Urach in die Nationalversammlung gewählt, wo er mit der gemäßigten Linken stimmte, in der Einheitsfrage der großdeutschen Partei u. schließlich der preuß. Lösung zuneigte. 1855 folgte V., unter schwierigen Umständen nun von seiner Frau Thekla Heinzel (verh. 1844) getrennt lebend, einem Ruf an das neu gegründete Polytechnikum Zürich. Ab 1866 lehrte er wieder in Württemberg am Polytechnikum Stuttgart. Polemisch gegen V. u. D. F. Strauß gerichtet war der viel diskutierte Roman auf der Folie der Biografie V.s Eritis sicut Deus von Wilhelmine Canz (3 Bde., Hbg. 1854. Dies.: Aufschlüsse über ›Eritis sicut Deus‹. Bremen/Lpz. 1860; beide Titel anonym).

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Zu V.s poetischen Werken gehört die frühe Selbstmörder-Erzählung Ein Traum (etwa 1830), welche die Krise im Übergang von der Theologie zur Literatur u. Ästhetik spiegelt. Faust. Der Tragödie dritter Theil von Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky (Tüb. 1862. 2., völlig veränderte u. vermehrte Aufl. 1886) parodiert Goethes Faust II u. seine Ausleger. Die Lyrischen Gänge (Stgt./Lpz. 1882. 2 1888. 51909) fassen die kräftig entschiedene, bekenntnishaft direkte u. humoristische Lyrik V.s zusammen. Aus Empörung über das undeutsch-unsittl. Spielhöllenmilieu schrieb er Epigramme aus Baden-Baden (Stgt. 1867). Der postume Sammelband Allotria (Hg. Robert Vischer. Ebd. 1892) enthält u. a. die frühen Schartenmayer Gesänge in Bänkelsangmanier zusammen mit dem »Heldengedicht« Der deutsche Krieg 1870–71 (Nördlingen 1873). Der bekenntnishafte, philosophisch-humorist. Roman Auch Einer (2 Bde., Stgt. 1879) war fünf Jahrzehnte Erfolgsbuch im gebildeten Bürgerhaus. Die Sammlung der verstreuten Aufsätze u. Reden Kritische Gänge (2 Bde., Tüb. 1844. N. F. 6 H.e, Stgt. 1860–73) u. Altes und Neues (3 Bde., ebd. 1881/82. N. F. Hg. Robert Vischer. Ebd. 1889) bildet das Zentrum des Gesamtwerks. In der Intention zielen sie »auf Einen Punkt: keine Transzendenz, keine Mythen, keine Allegorie, sondern Geist der Wirklichkeit!« Gegenüber den extremen Linkshegelianern rechnet V. sich mit Strauß u. Feuerbach zu denen, »welche den Geist als allgemeine Substanz erkennen«. Die Tübinger Antrittsrede (1844) u. die Verteidigungsrede für Strauß, die Polemik gegen Eichendorff u. die Auseinandersetzung mit Gervinus, auch die Schriften u. Reden aus der Parlamentszeit u. bis 1864 bes. zur dt. Frage (Frisch gewagt! 1863) bezeugen die hohe Kultur u. Gewalt öffentl. Rede, die V. zu Gebote stand. Die Charakteristiken zu Literatur u. Kultur sind beispielhaft: u. a. zu Mörike, Strauß, Uhland, die neueren Faustdeutungen, Overbeck, Herwegh, Eugène Sue, Shakespeare, später zu Strauß’ Voltaire, Hebbel u. Keller, zu Karikatur, Mode u. Zynismus. Eine seltene Verbindung von intellektueller Klarheit, Entschiedenheit des Urteils u. ethisch warmer, sinnl. Präsenz kennzeichnet den in seiner Haupt-

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zeit kraftvoll unangestrengten, plastisch lakonischen, dabei weiträumigen Stil V.s. Bereits in der Habilitationsschrift Ueber das Erhabene und Komische (Stgt. 1837) liegt das Konzept zu V.s Hauptwerk im Umriss vor. Der Plan zu einer neuen Gliederung der Ästhetik (1843) lässt in Auseinandersetzung mit Hegel viele Motive V.s erkennen. Die Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen (3 Tle. in 7 Bdn., Reutl. u. a. 1846–57. Bd. 8, 1858; Register. Hg. R. Vischer. 6 Bde., 1922/23) ist als Totalsystem zu verstehen, das in Ablösung der Theologie u. Versinnlichung der Philosophie die schöne Diesseitigkeit einer ausdrücklich pantheistisch aufgefassten Welt in ihrer ästhetischen Repräsentanz auszuschreiten unternimmt. Das Schöne ist Organon der höchsten Welterkenntnis. Die der Metaphysik entlehnte absolute Idee der »Einheit des Denkens und Seins« ist für V. Ausgangspunkt für die Systematik des Schönen u. die Erkenntnis der realidealen Wirklichkeit im Medium der Kunst. Den stärksten Hinweis auf die universale Dimension von V.s Ästhetik gibt die Behandlung des Naturschönen. Im Sinne der entwicklungsgeschichtlich orientierten Naturauffassung der Jahrhundertmitte (Oken, Darwin) entfaltete V. »die objektive Existenz des Schönen« (im Gegensatz zur subjektiven Existenz des Schönen in der Fantasie) als Enzyklopädie des Naturreichs u. der Menschenwelt, als Natur- u. Weltgeschichte. Die »Metaphysik des Schönen« u. die Akzentuierung des Naturschönen erfüllen auch die Funktion, die objektive Existenz des Schönen gegenüber subjektiven Theorieansätzen (Transzendentalismus, Romantik) zu bestärken. V.s Ästhetik folgt damit einem realistischen Impetus. Die Darstellung der Fantasie u. ihrer Geschichte hat trotz der z.T. platonisierenden Argumentation klass. Bedeutung erlangt. In der Abwertung der »allgemeinen« (kollektiven u. mythischen, d. h. unfreien) Fantasie gegenüber der »besonderen« (individuellen, künstlerischen, d. h. freien) Fantasie kommt neben der antiromant. Bevorzugung der Kunst vor der »Naturpoesie« V.s Grunderfahrung der Emanzipation vom ReligiösMythischen zur Geltung. Bei V. ist im Gegensatz zu Hegel die Moderne emanzipiert

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vom Christentum: Ihre Signatur ist geistgeprägte Immanenz, ihr Kennzeichen die von myth. Kollektivfantasie zur unverstellten Wirklichkeit befreite Fantasie. Dass in Hinblick auf die Zerrissenheit u. Überreflektiertheit der Gegenwart die Moderne zgl. Zukunftsideal ist, dem geistig u. gesellschaftspolitisch eine »Umgestaltung des ganzen Lebens« vorausgehen muss, vermittelt V.s Ansatz mit linkshegelian. Konzepten. Erst die Kunst realisiert die »subjektiv-objektive Wirklichkeit des Schönen«. In ihrer Gegenständlichkeit ist sie kommunikative Mitte zwischen Zuschauer/Leser u. Künstler. Dadurch, dass die Kunst von den Mängeln des Naturschönen u. der Subjektivität des bloßen Innenbildes der Fantasie befreit ist, wird sie, punktuell, vollkommene Erscheinung des Weltzusammenhangs, »absichtslos, wie ein Werk der Natur« u. zgl. ganz »aus dem Geiste« stammend, der jeden Rest bloßer Natur in ihr tilgt. Ist der idealistische Glaube an die Kunst als vorrangiges Medium der Welterkenntnis hier scheinbar ungebrochen, so sind Welt u. Kunstwelt doch so differenziert, konkret u. unüberschaubar unendlich dargestellt, dass jedes Systemverdikt verstummt u. die Wirklichkeit zu ihrem Recht kommt. Begriff, Typologie u. Entwicklung des Stils u. ein poetischer Realismus der »indirekten Idealisierung« stehen im Mittelpunkt von V.s Kunstlehre. Aus der komplexen Systematik der Einteilungsformen der Künste entwickelt er in mehreren Bänden (die Musik ist von Karl Köstlin bearbeitet) in differenzierten Analysen, Charakterisierungen u. Urteilen Wesen u. Geschichte der Einzelkünste in einer bis dahin unbekannten Universalität, Fülle u. Konkretheit, die Kunst u. Kunstwissenschaften des Jahrhunderts nachdrücklich beeinflussten. Die Schriften der Spätzeit, Kritik meiner Ästhetik (1866–73) u. Das Symbol (1887), müssen nicht als Widerruf der Aesthetik gelesen werden. Offen für zeitgenöss. sensualistische u. psycholog. Ansätze, entwickelt V. an dem Punkt der Berührung von Fantasie u. Naturschönem eine Symboltheorie als Basis für die Ästhetik. Er eliminiert das Naturschöne in seiner weiten Entfaltung als objektiv strukturierte Wirklichkeit, bewahrt es jedoch em-

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pirischer gefasst u. belässt es in metaphys. 1914–22. – Dichterische Werke. 5 Bde., Lpz. 1917. Rätselhaftigkeit. Symbolisierung ist »un- – Briefw. zwischen Eduard Mörike u. F. T. V. Hg. R. willkürliche und dennoch freie, unbewußte Vischer. Mchn. 1926. – Briefw. zwischen Strauß u. und in gewissem Sinne doch bewußte Na- V. Hg. Adolf Rapp. 2 Bde., Stgt. 1952/53 (Bibliogr.: Bd. 2, S. 330–340). – Nachlass und Sammlung: DLA u. turbeseelung, der leihende Akt, wodurch wir Universitätsbibl. Tübingen. dem Unbeseelten unsere Seele [...] unterleLiteratur: Bibliografien: Bautz 12 (1997). – gen«. Diese Beseelung gilt auch für die »reiKosch 25 (2005). – Goedeke Forts. – Weitere Titel: nen Formen«, etwa in der Baukunst, womit er Richard Weltrich: F. T. V. In: ADB. – Eduard v. die formalistische Schule für widerlegt hält. Hartmann: Die dt. Ästhetik seit Kant. Bln. 1866. – Die absolute Idee heißt nun »Harmonie des Max Diez: F. T. V. u. der ästhet. Formalismus. Stgt. Weltalls«, das Schöne ist »das in sich selbst 1889. – Erich Heyfelder: Ästhet. Studien. Bd. 1: gespiegelte, im Spiegel verklärte Leben«. Klassicismus u. Naturalismus bei F. T. V. Bln. 1901. Auch das Alleinheitsmotiv kehrt wieder: – Ottomar Keindl: F. T. V. Prag 31907, S. 29–36 »Hinter der Täuschung liegt und gibt ihr (Verz. sämtl. Schr.en u. Aufsätze V.s). – Adolf Rapp: Recht die Wahrheit aller Wahrheiten, daß das F. T. V. u. die Politik. Tüb. 1911. – Hermann Weltall, Natur und Geist in der Wurzel eines Glockner: F. T. V.s Ästhetik in ihrem Verhältnis zu Hegels Phänomenologie des Geistes. Lpz. 1920. – sein muß.« Je nachdem, ob man hier Ansätze Ders.: F. T. V. u. das 19. Jh. Bln. 1931. – Ewald einer neuen irrationalistischen Konzeption Volhard: Zwischen Hegel u. Nietzsche. Der Ästheoder aber eine Reinterpretation des Systems tiker F. T. V. Ffm. 1932. – Fritz Schlawe: F. T. V. der Ästhetik erkennt, wird das Urteil über V.s Stgt. 1959. – Willi Oelmüller: F. T. V. u. das ProSpätphase differieren. blem der nachhegelschen Ästhetik. Ebd. 1959 (mit V.s impulsive, kämpferische Persönlichkeit Bibliogr. u. Nachl. S. 215–220). – Hermann Kinder: verhalf der Wirklichkeitssicht der entschie- Poesie als Synthese. Ffm. 1973. – Gottfried Wildenen Immanenz, wie sie nicht nur von lems: Das Konzept der literar. Gattung. Tüb. 1981. Linkshegelianern vertreten wurde, mit weit – Wendelin Haverkamp: Aspekte der Modernität. Untersuchungen zur Gesch. des ›Auch Einer‹ v. F. reichenden Folgen im 19. Jh. zu bürgerl. ReT. V. Diss. Aachen 1981. – Wendelin Göbel: F. T. V. präsentanz. Er war ein engagierter Lehrer u. Grundzüge seiner Metaphysik u. Ästhetik. Würzb. Redner u. in seiner Spätzeit eine ästhetische 1983. – Philip Ajouri: Erzählen nach Darwin. Die Instanz in Deutschland. Sein leidenschaftli- Krise der Teleologie im literar. Realismus. Bln. ches polit. u. öffentl. Eingreifen, sein vehe- 2007. – Barbara Potthast u. Alexander Reck (Hg.): F. menter Patriotismus u. eth. Rigorismus, das T. V. u. das 19. Jh. Heidelb. 2010 (Beihefte zum nachdrückl. Eintreten für Tiere u. Tierschutz, Euphorion). Ulfert Ricklefs die Wanderleidenschaft, die Lust an »kneipender« Geselligkeit, sublimste Kunstaffini- Vischer, Melchior, auch: Emil Fischer, tät u. außerordentl. Geistesschärfe kenn- * 7.1.1895 Teplitz-Schönau, † 21.4.1975 zeichnen eine komplexe u. lebensvolle Per- Berlin. – Dramatiker, Erzähler. sönlichkeit. Die zeitgenöss. u. postume Breitenwirkung des ästhetischen Gesamtwerks, An der Prager Universität studierte V. Gerdas durch die Ausgaben des Sohns, des manistik, Kunstgeschichte u. Philosophie. Kunstwissenschaftlers Robert Vischer, neu Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete er als ins Bewusstsein trat, ist erheblich. Kaum zu Autor u. Redakteur der »Prager Presse« u. überschätzen sind auch die von ihm inner- schrieb eine Reihe von Prosaarbeiten, für die halb des Spannungsfelds von idealistischer er 1923 den Kleist-Preis erhielt. Später Tradition u. Säkularisierungsprozess des 19. wandte er sich verstärkt dem Theater zu, Jh. ausgehenden Wirkungen u. Impulse schrieb selbst Stücke u. erregte als Regisseur in Würzburg, Bamberg, Baden-Baden u. am (Hettner, Vaihinger, Treitschke, Steiner). Weitere Werke: Vorträge. Hg. Robert Vischer. Frankfurter Schauspielhaus Aufsehen. Wäh1. Reihe: Das Schöne u. die Kunst. Zur Einf. in die rend des »Dritten Reichs« betätigte er sich Aesthetik. Stgt. 1898. 2. Reihe: Shakespeare-Vor- mit Biografien von Burchard Christoph von träge. 6 Bde., Stgt./Bln. 1899–1905. – Krit. Gänge. Münnich (Münnich. Ingenieur, Feldherr, Hoch2., verm. Aufl. Hg. R. Vischer. 6 Bde., Mchn. verräter. Ffm. 1938) u. Jan Hus (2 Bde., ebd.

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1940) als zwar genau recherchierender, aber Im philosoph. Roman wird nicht philosophiert. im Stil unorthodoxer Geschichtsschreiber. Über M. V.s Miniaturenroman ›Der Hase‹. In: NZZ, Nach dem Krieg schrieb er zunächst für den 4.8.1988. – Peter Engel: Vom Prager Avantgardis»Tagesspiegel« in Berlin, zog dann nach Ost- ten zum Berliner Unterhaltungsschriftsteller. Die Wandlungen des M. V. In: Prager Profile, Berlin, um beim »Neuen Deutschland« zu S. 417–437. – Hans Peter Hartmann: Alpenzu arbeiten, kehrte aber bald enttäuscht in den schritt er. Der Schriftsteller M. V. In: AvantgardisWesten zurück u. lebte bis zu seinem Tod in tische Lit. aus dem Raum der (ehem.) Donaumonärml. Verhältnissen. archie. Hg. Eva Reichmann. Stgt. 1997, S. 209–229. V.s Dada-Roman Sekunde durch Hirn (Hann./ – Christian Jäger: Von F. zu V – u. wieder zurück. Lpz./Wien/Zürich 1920; mit einem Titelblatt M. V. u. die minoritäre Lit. In: Jb. zur Lit. der von Kurt Schwitters. Bln. 1964), ein »un- Weimarer Republik 3 (1997), S. 139–171. – Ders.: heimlich schnell rotierender Roman« (Un- Der Anbiedermann als Brandstifter. M. V. u. der tertitel), stellt nach dem Motto »zu wenige Nationalsozialismus. In: Spielräume des EinzelLeute haben den Mut vollkommenen Blöd- nen. Dt. Lit. in der Weimarer Republik u. im Dritten Reich. Hg. Walter Delabar. Bln. 1999, sinn zu sagen« das abenteuerl. Leben des Jörg S. 169–184. – Jens Steutermann: M. V. ›Sekunde Schuh während seines Absturzes vom Bau- durch Hirn. Ein unheimlich schnell rotierender gerüst im Zeitrafferstil dar. Der Roman ist ein Roman‹. In: Ders.: Zur Gänze zerfallen. Destrukdadaistischer Streich, ein Schundroman, der tion u. Neukonzeption v. Raum in expressionist. Tempo u. Simultaneität der Vorgänge ge- Prosa. Ffm. 2004, S. 228–233. konnt vermittelt. Seriöser ist der Roman Der Walter Ruprechter / Red. Hase (Hellerau 1922), der die paranoide Zerstörung eines Menschen- u. Hasenlebens aus Visio S. Pauli. – Mitteldeutsche apokader Perspektive der beiden Protagonisten er- lyptische Dichtung in bairischer Überarzählt u. durch seine Schlichtheit besticht. beitung, zweite Hälfte des 12. Jh. Weitere Werke: Ausgaben: Sekunde durch Hirn. Der Teemeister. Der Hase u. a. Prosa. Hg. u. mit einem Nachw. v. Hartmut Geerken. Mchn. 1976. – Sekunde durch Hirn. Der Hase. Hg. u. Nachw. Peter Engel. Ffm. 1988. – Werkauswahl M. V. Hg. Peter Engel. In: Prager Profile. Vergessene Autoren im Schatten Kafkas. Hg. Hartmut Binder. Bln. 1991, S. 439–465. – Einzeltitel: Der Teemeister. Hellerau 1922 (R.). – Debureau. Potsdam 1924 (D.). – Fußballspieler u. Indianer. Ebd. 1924 (D.). – Chaplin. Tragigroteske in sechs Bildern. Ebd. 1924. Zus. mit ›Fußballspieler u. Indianer‹ hg. v. Sigrid Hauff. Mchn. 1984. – Kind einer Kameradschaftsehe (zus. mit Eva Vischer). Bln. 1931 (R.). – Elisabeth geht zum Film (zus. mit ders.n). Salzb. 1932 (R.). – Diana. Lpz. 1934 (R.). – Das Theaterschiff. Ebd. 1935 (R.). – Junger Witwer mit Kind. Bln. 1936 (R.). – Eine Stadt sucht ein Kind. Ebd. 1937 (R.). – Liebeswunder. Ebd. 1938 (R.). – Ein Mädchen weiß nicht wohin. Ebd. 1938 (R.). – Peke Wotaw. Ein dt. Junge unter Indianern [...] nacherzählt v. Emil Fischer. Stgt. 1941. – Makwoh. Der weiße Indianerhäuptling [...] nacherzählt v. dems. Ebd. 1942. – Unveröffentl. Briefe u. Gedichte. Vor- u. Nachw. Raoul Schrott. Siegen 1988. – Muß wieder ein Morgen sein. Gedichte 1930–60. Wien/Darmst. 1989. Literatur: Jürgen Serke: Böhmische Dörfer. Wien/Hbg. 1987, S.163–181. – Hans Blumenberg:

Unter dem Titel sind die Reste zweier Stücke zusammengefasst, die das Fragment eines Doppelblattes aus einer Handschrift vom Ende des 13. Jh. überliefert: je zwei Bruchstücke eines S. Paulus (89 Verse) u. eines Die Zukunft nach dem Tode (94 Verse) genannten Textes. Die urspr. Reihenfolge beider Komplexe ist aus dem Überlieferungsbefund nicht ablesbar. Die S. Paulus-Fragmente erzählen im Anschluss an 2 Kor 12 u. die apokryphe Paulusapokalyptik, wie ein Engel Paulus die Himmelsburg des Paradieses als Ort der ewigen Seligkeit zeigt u. einen vor ihr liegenden Reinigungsort erläutert. Dort sitzen Seelen auf sturmgepeitschten Bäumen über einem schreckl. Abgrund u. blicken sehnsuchtsvoll auf die Paradiesesburg. In den Fragmenten der Zukunft nach dem Tode heißt der Teufel schadenfroh eine arme Seele willkommen. Sie erblickt u. a. die Qualen eines Feuers, dessen Hitze einen Berg zum Glühen bringen könnte, u. eines Wassers, dessen Kälte ein glühender Berg nicht lindern würde. Die Seele verflucht die Schwäche ihres sündigen Leibes, der Teufel aber freut sich der Rache, die er an der Seele nehmen kann, welche ei-

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gentlich dazu bestimmt war, den Platz des gefallenen Luzifer einzunehmen. In einer Strafpredigt wird der Seele ewige Verdammnis durch das Jüngste Gericht vorhergesagt. Die Rettung der erlösten Seele dagegen wird ganz wie im Gedicht Die Hochzeit als Heimführung der Gottesbraut im Sinne einer geistl. Kontrafaktur der Brautwerbungsformel mündl. Dichtungstradition dargestellt. Für die Zusammengehörigkeit beider Komplexe in einem größeren Gedicht könnten die Überlieferungsgemeinschaft u. die gemeinsame Ableitbarkeit aus der apokryphen Paulusapokalyptik sprechen. Unterschiede in Thematik, Reim- u. Verskunst u. der poetischen Technik machen auch die Annahme von zwei Gedichten verschiedener Autoren möglich, die zu einer Sammlung kleiner Dichtungen apokalypt. Inhalts beigetragen hätten. Ausgaben: Carl Kraus (Hg.): Dt. Gedichte des 12. Jh. Halle 1894, Nr. 8 u. 9 (Kommentar). – Friedrich Maurer (Hg.): Die religiösen Dichtungen des 11. u. 12. Jh. Bd. 2, Tüb. 1965, Nr. 33 (Lit.). Literatur: Hermann Brandes: Visio S. Pauli. Halle 1885. – Elisabeth Peters: Quellen u. Charakter der Paradiesesvorstellungen in der dt. Dichtung vom 9.-12. Jh. Halle 1915, S. 108–123. – Peter Dinzelbacher: Die Verbreitung der apokryphen ›V. P.‹ im mittelalterl. Europa: In: Mlat. Jb. 27 (1992), S. 77–90. – Volker Mertens: V. S. P. II. In: VL. Ernst Hellgardt / Red.

Visio Philiberti, Visio Fulberti. – Mittelalterliche Verserzählung, 12. Jh. Die im Frankreich des 12. Jh. entstandene aufrüttelnde Erzählung von der Traumvision des Mönchs Fulbertus/Philibertus liegt auch einer größeren Anzahl dt. Fassungen zugrunde: Der Visionär erblickt, wie eine kurzfristig aus der Hölle entlassene Seele ihren noch nicht bestatteten Leichnam besucht, u. hört einem erbitterten Streitgespräch zwischen Leib u. Seele zu. Die Seele wirft dem Leib die Schwäche vor, mit der er den Lockungen der Welt erlegen ist. Um seiner Sünden willen ist sie nun der Hölle überantwortet worden. Der Leib hält dem entgegen, die Seele sei ihm übergeordnet gewesen u. habe ihre Herrschaftspflicht vernachlässigt. Die Seele bekennt sich als mitschuldig, legt

Visio Philiberti

aber dem Leib seine häufige Unbotmäßigkeit zur Last. Schließlich erscheint der Teufel, der die Seele mit strafenden, schadenfrohen u. höhnischen Reden den schreckl. Peinigungen der Hölle zuführt. Das den Kern der Erzählung bildende Streitgespräch ist letztlich wohl oriental. Ursprungs. Die lat. Überlieferung des MA greift das Thema auch unabhängig von der Rahmengebung durch die V. P. mehrfach auf (Hildebert von Tours, Abaelard). In Deutschland wird es zuerst in der Klage Hartmanns von Aue als Streit zwischen Herz u. Leib greifbar u. scheint dort die bereits etablierte Visionsfassung für das Thema der höf. Minne umzuwerten. Die dt. Vers- u. Prosafassungen der V. P. folgen, beträchtlich an Zahl, in Handschriften u. Drucken des 13.-15. Jh. lat. Vorlagen, unter denen der Dialogus inter corpus et animam (90 Vagantenstrophen) bes. einflussreich ist. Außer der Version Heinrichs von Neustadt bleiben all diese dt. Bearbeitungen anonym. Ausgaben: Theodor Georg v. Karajan: Frühlingsgabe für Freunde älterer Lit. Wien 1839, S. 85 ff., 145 ff. – Dialogus inter corpus et animam. In: M. Edélestand Du Méril: Poésies populaires latines antérieures au douzième siècle. Paris 1843, S. 217–230. – Max Rieger: Zwei Gespräche zwischen Seele u. Leib. In: Germania 3 (1858), S. 396–407. – Karl Bartsch: Die Erlösung. Mit einer Ausw. geistl. Dichtungen. Quedlinb./Lpz. 1858, Nr. 32. – Wilhelm Seelmann: Wo de sele stridet mit dem licham. In: Niederdt. Jb. 5 (1880), S. 21–45. – Heinrichs v. Neustadt ›Apollonius von Tyrland‹, ›Gottes Zukunft‹ u. ›V. P.‹. Hg. Samuel Singer. Bln. 1906. Nachdr. 1967. Literatur: Gustav Kleinert: Über den Streit zwischen Leib u. Seele. Diss. Halle 1880. – Herman Brandes: Zur ›Visio Fulberti‹. Programm Potsdam 1897. – Maria Geiger: Die V. P. des Heinrich v. Neustadt. Tüb. 1912. Nachdr. 1970. – Christian Kiening: Contemptus mundi in Vers u. Bild am Ende des MA. In: ZfdA 123 (1994), S. 409–457. – Robrecht Lievens: Een derde Middelnederlandse berijming van de V. P. In: Tijdschrift voor Nederlandse Taal- en Letterkunde 113 ( 1997), 4, S. 336–48. – Nigel F. Palmer: V. P. In: VL (mit Ausg. u. Lit.). – Neil Cartlidge: In the Silence of a Midwinter Night. A Re-Evaluation of the Visio Philiberti. In: Medium Ævum 75 ( 2006), 1, S. 24–45. Ernst Hellgardt / Red.

Visio Tnugdali

Visio Tnugdali, auch: V. Tundali. – Mittellateinische Jenseitsvision des irischen Mönches Marcus, zwischen 1149 u. 1153; vgl. auch den Artikel ›Alber‹.

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– all dies hat zur Verbreitung der V. T. beigetragen. Ausgaben: V. T. Lat. u. altdt. Hg. Albrecht Wagner. Erlangen 1882, S. 3–56. – Brigitte Pfeil: Die ›Vision des Tnugdalus‹ Albers v. Windberg. Lit.- u. Frömmigkeitsgesch. im ausgehenden 12. Jh. Mit einer Ed. der lat. ›V. T.‹ aus Clm 22254. Ffm. 1999.

Die Jenseitsreise, die den irischen Adligen Tnugdalus während seines Scheintodes durch Fegefeuer u. Hölle zum Himmel geführt hatte, war einer der beliebtesten Erzähltexte Literatur: Nigel F. Palmer: ›V. T.‹. The German des europ. MA. Erhalten sind insg. 43 Über- and Dutch translation and their circulation in the setzungen in 15 Sprachen; sie gehen zurück later Middle Ages. Mchn. 1982. – Jacques Le Goff: auf die lat. Aufzeichnungen eines Bruder Die Geburt des Fegefeuers. Stgt. 1984, bes. Marcus, die selbst in mindestens 159 Hand- S. 229–232 (frz. Paris 1981). – N. F. Palmer: Bruder schriften u. fünf frühen Drucken überliefert Marcus. In: VL. – Rodney Mearns: The vision of Tundale. Heidelb. 1985. – Hedwig Röckelein: Otsind. Im deutschsprachigen Raum entstanloh, Gottschalk, Tnugdal. Individuelle u. kollektive den bereits im 12. Jh. der sog. Niederrheinische Visionsmuster des HochMA. Ffm. 1987. – N. F. Tundalus, mittelfränkische Versfragmente, Palmer: Die Hs. der niederrhein. ›Tundalus‹sowie die Versübersetzung des Geistlichen Bruchstücke. In: Lit. u. Sprache im rheinischAlber, seit dem späten 14. Jh. dann zwölf maasländ. Raum. Besorgt v. Helmut Tervooren u. Hartmut Beckers. Bln. 1989. – Thomas Kren: The verschiedene Prosaversionen. Alber führt die Entstehungsgeschichte der visions of Tondal. From the library of Margaret of V. T. als Wahrheitsbeleg an: Ein Mönch habe York. Malibu, Calif. 1990. – N. F. Palmer: Tundasie im Regensburger Nonnenkloster St. Paul lus. In: VL. Anette Syndikus / Red. nach dem Bericht des reuigen Tnugdalus aus dem Jahr 1148 verfasst. Marcus selbst betont seine persönl. Kenntnis. Zwar nennt er die Visiones Georgii. – Nicht vor 1354, laÄbtissin G. (Gisila, von St. Paul) als Auftrag- teinische Jenseitsschilderung des Ritters geberin, doch scheint er auch für das Georg Grissaphan von Ungarn, auch: »Schottenkloster« St. Jakob geschrieben zu Crissafan u. ä., * 1329 (?), † unbekannt, Verfasser (provençalischer haben. Darauf lassen die rühmende Erwäh- anonymer nung irischer Könige, Gründer u. Wohltäter Augustinereremit?), spätmittelalterliche des Klosters sowie zahlreiche Hinweise auf Übersetzungen. irische Verhältnisse schließen. Ritter G., historisch sonst nicht nachgewieSchon in der mhd. Versfassung ist ein sen, unternahm wegen vieler Morde unter wichtiges Charakteristikum der V. T. zu- Ludwig I. von Ungarn eine Bußwallfahrt von gunsten direkt einsichtiger Ermahnungen Apulien zum Purgatorium S. Patricii, einer übergangen: Zwischen den Beschreibungen Pilgerstätte auf Station Island im Lough Derg der Folterstrafen werden diffizile theolog. (Donegal, Irland), wo er sich zwischen Dez. Fragen, insbes. zur Gerechtigkeit Gottes, er- 1353 u. Febr. 1354 aufhielt. Dort ermöglichte örtert. Während die »Dämonen« angesichts eine Höhle schon zu Lebzeiten einen Jender ihnen vorenthaltenen Sünderseele Gott seitsbesuch in corpore (!). G. erfüllte die der Ungerechtigkeit zeihen, belehrt der En- strengen Einlassriten, wie sie auch im Tractagel über das Erbarmen mit den Reuigen u. tus de Purgatorio S. Patricii des H[enricus] de den Sinn der Strafen: die Menschen vom Saltrey überliefert sind. Nach 24 Stunden Unrecht abzuhalten. Schon im Fegefeuer er- kehrte er zum Erstaunen der wartenden kennt die Seele, dass die größte Strafe die Menge unversehrt ins Diesseits zurück. Die Trennung von Gott ist. Aufzeichnung der als »visiones« bezeichneDie Verbindung religiöser Inhalte mit einer ten Jenseitswanderung G.s erfolgte vermutansprechenden Erzählung, der sicher ver- lich bald darauf. G. durchwandert Schaubürgte Augenzeugenbericht u. die eindring- plätze immer raffinierter werdender Teulich vorgeführte Notwendigkeit der Umkehr felsanfechtungen u. Straforte für Sünder, wo

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Vita beatae Virginis Mariae et Salvatoris rhythmica

er nur knapp dank seines Notgebets dem Untersuchung mit synopt. Ed. der Übers. u. Red. C. Verderben entrinnt, bevor der Erzengel Mi- Bln. 2006. Literatur: Bernd Weitemeier: Lat. Adaptation chael erscheint u. ihn über die Höllenbrücke (mit Höllenschau) ins irdische Paradies führt. and German Translation. In: The Medieval TransVon hier aus wird G. die Christusschau ge- lator. Bd. 5. Hg. Roger Ellis u. a. Turnhout 1996. währt. Die V. G. überliefern sechs Begleit- u. S. 99–119. – Nigel F. Palmer: V. G. In: VL. – Katherine Walsh: Pilger, denen Santiago nicht geBeglaubigungsbriefe, die auf das Spannügte. In: Stadt u. Pilger. Hg. Klaus Herbers. Tüb. nungsfeld Wahrheit, Fiktion, Wirklichkeit 1999, S. 69–108. – Alexandra Prica: V. G. In: verweisen. Die V. G. lesen sich wie ein Kom- SchriftRäume. Hg. Christian Kienig u. a. Zürich pendium mittelalterl. Jenseitsmotive. Die 2008, S. 322–323. Bernd Weitemeier zeitgenöss. Textintention lag wohl in der Propagierung des Fegefeuer- u. Bußgedankens. Denn die Bekehrung des ritterl. VisioVita beatae Virginis Mariae et Salvatonärs ist nicht Ziel, sondern Voraussetzung für ris rhythmica. – Vor 1250 wohl in Südeine unversehrte Jenseitsreise; vgl. dagegen ostdeutschland verfasstes lateinisches z.B. die Visio Tnugdali. Aufbau u. GesamtMarienleben in 8031 Vagantenzeilen. konzeption verleihen den V. G. den Charakter einer Pilgerlegende, die exemplarisch die Die V. ist in vier Bücher eingeteilt, denen jeGottessuche nach- bzw. vorzeichnet. Im Ver- weils ein Prolog vorangestellt ist. Das erste gleich zu anderen Jenseitsberichten fallen die Buch (vv. 1–1477) schildert das Leben der Emotionalisierung u. das In-Szene-Setzen Eltern Joachim u. Anna, die Verkündigung u. berichtender Passagen auf, insbes. in den dt. Geburt Marias, ihre Erziehung, ihr Wirken Fassungen. De facto haben die V. G. auch als Tempeldienerin u. ihre Vermählung mit Werbung für die irische Pilgerstätte gemacht, Joseph. Das zweite Buch (vv. 1478–3621) wie die literar. Nachfolge zeigt (vgl. die Jen- handelt von der Verkündigung u. Geburt seitsberichte des Ramon de Perelhos u. des Jesu, den Wundern in der Geburtsnacht, der Laurentius Ratholdus de Pasztho). Die Be- Flucht nach Ägypten, dem siebenjährigen kanntheit der V. G. zeigt sich auch in indi- Aufenthalt dort u. der Rückkehr nach Nazarekter Überlieferung u. in Erwähnungen in reth; ausführlich wird von den zahlreichen Kindheitswundern Jesu berichtet. Den anderen Werken. Die V. G. sind in 20 lat. u. 27 frühnhd. teils Schluss bildet das in mehreren Handschriften fragmentar. Handschriften (14.-16. Jh.) auch gesondert überlieferte Soliloquium Jesu überliefert, zudem in einer alttschech. mit Maria über seine Menschwerdung u. den Handschrift (15. Jh.). Handschriften einer dt. Zweck seiner Sendung. Das dritte Buch Übersetzung sind teilweise mit kolorierten (vv. 3622–6061) beginnt mit Jesu Taufe im Federzeichnungen ausgestattet. Die vier dt. Jordan, beschreibt sein öffentl. Wirken u. Übersetzungen gehen auf unterschiedl. lat. seine Passion; deren Stationen sind von lanTextfassungen zurück. Schon früh gab es lat. gen Marienklagen begleitet, die in eine Serie u. dt. Lang- u. Kurzfassungen nebeneinander, von Klagen anderer über den Tod Jesu münsowohl in Kloster- als auch in Privatbiblio- den. Den Abschluss bildet Jesu Höllenfahrt. theken. Besonderes Interesse an den V. G. Das vierte Buch (vv. 6062–8031) umfasst in hatte die niederbayerische Adelsfamilie einem ersten Teil die Ereignisse von der Trenbach. Ergänzungen des Dominikaners Auferstehung über die Himmelfahrt bis Mathias Molendinator machen eine lat. Ver- Pfingsten; in einem zweiten, längeren Teil sion zu dem umfangreichsten Visionstext des werden die letzten Erdenjahre Marias geschildert, die wie eine Klosterfrau nach einer MA. Ausgaben: Louis L. Hammerich (Hg.): V. G. Ko- Regel lebt; auch diese regula Mariae ist in penhagen 1930. – Elfriede Herdaweski (Hg.): Die mehreren Handschriften gesondert überlieVisionen des Ritters G. v. U. von Nikolaus v. Astau fert. Es folgt der Bericht über ihr wundertänach der Hs. 2875 der Wiener Nationalbibl. Diss. tiges Wirken u. über ihren Tod im Kreis der masch. Wien 1948. – Bernd Weitemeier (Hg.): V. G. Apostel, die auf wunderbare Weise aus ihren

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Die Wirkung der V. war beträchtlich. Über Missionsgebieten geholt worden waren, sich um ihr Sterbebett versammelten u. sie nach 60 Handschriften mit dem vollständigen ihrem Hinscheiden im Tal Josaphat zu Grabe Text u. 16 mit Exzerpten sind erhalten. Die V. trugen. Den Schluss bildet die Schilderung wurde als Tischlektüre im Kloster benutzt; ihrer Auferstehung am dritten Tage u. ihrer – aber auch im Schulunterricht wurde sie verebenfalls als Exzerpt überlieferten – Him- wendet, wie der Bamberger Schulrektor melfahrt durch die neun Engelchöre, ihres Hugo von Trimberg († nach 1313) bezeugt; er Empfanges durch die Heiligen, Erzväter u. ließ das Werk abschreiben u. illuminieren, Propheten u. schließlich durch die drei göttl. am Schluss fügte er noch 61 eigene Verse Personen. Ein dreiteiliger Epilog, in dem der hinzu, in denen er auf sein Verhältnis zur V. Autor zur Kritik u. zur Verbreitung seines eingeht u. die leibl. Himmelfahrt Marias mit Marienlebens Stellung nimmt, schließt das Berufung auf Bernhard von Clairvaux vertritt. Noch größer war die Wirkung der V. Ganze ab. Das Werk ist in zahlreiche mit Überschrif- durch Übertragungen u. Bearbeitungen in ten versehene Kapitel unterteilt, die oft nur der Volkssprache, v. a. durch die gereimten wenige, gelegentlich sogar nur zwei Verse Marienleben von Walther von Rheinau, Bruumfassen u. den epischen Zusammenhang der Philipp u. Wernher dem Schweizer. Animmer wieder in Einzelbilder u. Details auf- dere Versdichter haben Teile der V. für ihre lösen, die bloß aneinandergereiht u. redak- Werke bearbeitet, zuletzt um 1400 Andreas tionell wenig verfugt sind. Charakteristisch Kurzmann, der das Soliloquium übertrug. In dt. Prosa übersetzte bereits vor 1330 der sog. für die Form des Werks sind die in Vögtlins Österreichische Bibelübersetzer umfangreiAusgabe nicht abgedruckten, aber von den che Partien, v. a. die Marienklagen; im 15. Jh. meisten Handschriften bezeugten gelehrten diente die V. als Quelle für mehrere ProsaTeile, die auf den Autor zurückgehen: der Marienleben. Auch eine Übersetzung ins AlProsaprolog, die vielen u. oft umfangreichen tirische ist in zwei Handschriften erhalten. Randglossen (Wort- u. Sacherklärungen, Ausgaben: Adolf Vögtlin (Hg.): V. b. V. M. e. S. r. Kommentierung exegetischer Probleme) u. Tüb. 1888. – Korrekturen u. Ergänzungen der in die Angaben der anerkannten Autoritäten Vögtlins Ausg. fehlenden Tle. (Prosaprolog, Randoder Werke, auf die der Verfasser sich in den glossen, Autorenangaben) bei Max Päpke: Das Prologen beruft. Marienleben des Schweizers Wernher. Mit NachDer Autor bezeichnet sein Werk als »com- trägen zu Vögtlins Ausg. der Vita Marie Rhythmica. pilatio« (v. 7975), für die er nach den Anga- Bln. 1913, S. 119–170. ben in den Prologen aus allen erreichbaren Literatur: Achim Masser: Bibel- u. Legendenlat. Quellen geschöpft habe, insbes. aus den epik des dt. MA. Bln. 1976, S. 102–111. – Hardo neutestamentl. Apokryphen u. ihren Bear- Hilg: Das ›Marienleben‹ des Heinrich v. St. Gallen. beitungen. Diese sieht er als wertvolle Er- Mit einem Verz. der deutschsprachigen Prosamarienleben bis etwa 1520. Mchn. 1981, S. 395–407. – gänzung der kanonischen Evangelien an, die Jozˇe Mlinaricˇ : Das Epos ›Vita Mariae metrica‹ als nur für das dritte Buch die Hauptquelle sind. Unterlage für das Marienlied des Karthäusers Die Apokryphen verteidigt er ausdrücklich Philipp v. Seitz. In: Analecta Cartusiana 116/2. unter Berufung auf anerkannte Autoritäten. Salzb. 1988, S. 29–39. – K. Gärtner: V. b. v. M. Wahrscheinlich war unter seinen wenigen e. s. r. In: VL. Kurt Gärtner / Red. direkt benutzten Quellen auch die Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen. Den Grundstock u. Leitfaden für seine Kompila- Vitaspatrum. – Sammlung von Viten u. tion bildet das Marienleben des Epiphanius; Aussprüchen frühchristlicher Eremiten. dessen Übersetzung ins Lateinische nennt er Mit dem (vulgärlateinischen) Titel wird im auch als eine seiner Hauptquellen; zu diesen MA eine in vielen Modifikationen seit dem 5./ gehörten noch die im MA weitverbreiteten 6. Jh. fassbare, großteils auf griech. Vorlagen apokryphen Evangelien des Pseudo-Matthäus beruhende lat. Sammlung spätantiker Viten, u. des Nikodemus. Aussprüche u. Exempel der ersten christl.

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Eremiten u. Mönche bezeichnet. In der Regel besteht das Werk aus zwei urspr. separaten Teilen. Der Vitenteil umfasst die AntoniusVita des Athanasius, die von Hieronymus verfassten Viten des Paulus Eremit, Hilarion u. Malchus, die Historia monachorum des Rufinus u. weitere Einzelviten. Der zweite Teil besteht aus Sammlungen von meist in Form eines Lehrgesprächs tradierten Aussprüchen u. Beispielhandlungen der ersten Eremiten (Verba seniorum, Apophthegmata, Dicta, Adhortationes patrum). Als Grundschrift asketisch-monast. Spiritualität wurden die V. kontinuierlich auf lateinisch u. seit dem MA in verschiedenen Volkssprachen bis weit in die Neuzeit tradiert; die bisher umfassendste Ausgabe der lat. V. brachte um 1615 der Jesuit Heribert Rosweyde heraus. Die älteste dt. V.-Übertragung ist das im letzten Viertel des 13. Jh. entstandene Väterbuch in 41.542 Versen. Wie das von demselben anonymen Priester verfasste Passional wird es allgemein als ein für die Bedürfnisse des Deutschen Ordens geschaffenes Werk eingeordnet, auch wenn dies bisher nicht stringent nachgewiesen werden konnte. Die Überlieferung (30 Handschriften, davon nur drei annähernd vollständig) brach um die Mitte des 14. Jh. wohl wegen der Konkurrenz mit den neu entstandenen Prosaübersetzungen ab. Das Väterbuch lässt sich in fünf Teile gliedern: 1. eine umfangreiche Antonius-Vita, in die auch die kurze Vita des Paulus Eremit u. Geschichten mit Antonius-Schülern integriert sind; 2. die Historia monachorum; 3. eine Auswahl von Aussprüchen aus den Verba seniorum; 4. die Viten von Eufrosyne, Abraham u. seiner Nichte Maria, Pelagia, Maria Aegyptiaca u. fünf Texte aus der Legenda aurea; 5. eine Schilderung des Jüngsten Gerichts, die auf verschiedenen Quellen beruht. Für den überwiegenden Teil der Texte griff der Verfasser auf eine (bisher nicht genau ermittelte) lat. V.-Handschrift zurück, die in Reihenfolge u. Auswahl der Stücke stark von der in der Ausgabe Rosweydes vertretenen Fassung abweicht. Die heilsgeschichtl. Orientierung, die auch die Struktur des Passionals prägt, gipfelt im eschatolog. Schluss, wird aber auch in mehreren Pro- u. Epilogen betont. Den Themen der höf. Dichtung, Eitelkeit u. Hochmut,

Vitaspatrum

trügerische Liebe u. Abenteuer, setzt der Dichter Weltflucht u. Askese, Liebe zu Gott u. Demut entgegen; die geistl. »militia Christi« ist wichtiger als der ritterl. Kampf, die Ordensgemeinschaft die erstrebenswerte Lebensform. Die freie Art der Übertragung der lat. Vorlagen wie der an der klassischen höf. Dichtung geschulte, nach dem Ideal des »sermo humilis« einfach gehaltene Erzählstil verleihen dem Väterbuch eine poetische Qualität, die es mit dem Passional zum Vorbild der Deutschordensdichtung werden lässt. Die dt. u. niederländ. Prosaübersetzungen entstanden in der Regel in Zusammenhang mit religiösen Reformbewegungen des 14. u. 15. Jh. Die ältesten u. populärsten dt. V. entstanden im alemann. Sprachraum in der ersten Hälfte des 14. Jh. zunächst als separate Viten- u. Verba seniorum-Übersetzung (18 bzw. 23 Handschriften), wurden aber im Laufe der Überlieferung häufig zu einem umfangreichen Kompendium zusammengefasst (20 Handschriften). Die Übersetzer dieser beiden in guter, flüssiger Prosa verfassten Teile der Alemannischen Vitaspatrum sind nicht bekannt; ihre frühe Rezeption fast ausschließlich im Umkreis der dt. dominikan. Mystik lässt ihre Entstehung innerhalb dieser spirituellen Bewegung möglich erscheinen. Im Zuge der Ordensreformen wurden sie im 15. Jh. im ganzen süddt. Raum verbreitet u. 1480–1520 13-mal gedruckt. Zwei weitere oberdt. Prosaübersetzungen nur der Verba seniorum waren erfolgreich im bair. Sprachraum: die von einem anonymen Geistlichen verfassten, mit einem Übersetzerprolog versehenen Bairischen Verba seniorum (15 Handschriften, neun Drucke) sowie eine in Melk für Zwecke der von dort ausgehenden benediktin. Reform vom Novizenmeister u. Prior Johannes von Speyer zwischen 1418 u. 1441 verfertigte Übersetzung der Verba seniorum (fünf Handschriften). In Nürnberg wurden die Alemannische Vitaspatrum u. die Bairischen Verba seniorum im ersten Drittel des 15. Jh. zu einem Werk kombiniert u. neu bearbeitet (13 Handschriften). Weitere drei oberdt. (Teil-)Übersetzungen der V. sind in je nur einer Handschrift erhalten.

Vitaspatrum

Ebenso populär waren die V. in den Niederlanden: Bald nach 1361 übersetzte der bekannte, anonyme »Bijbelvertaler van 1360« eine umfangreiche Vitensammlung (Der vader boec) wie eine Verba seniorumSammlung (Der vader collacien), die in 30 Handschriften v. a. aus dem südniederländ. Raum enthalten sind. Zu Beginn des 15. Jh. entstand in Kreisen der Devotio moderna eine nordmittelniederländ. Übersetzung von Historia monachorum u. Verba seniorum (17 Handschriften). Eine ripuar. V.-Sammlung (12 Handschriften) schließlich kombinierte sowohl die beiden niederländ. wie die alemann. V. zu einem Ganzen. Durch ihren hohen Stellenwert als Vermittler der frühchristl. monast. Spiritualität hatten die V. im geistl. Schrifttum des SpätMA eine enorme Wirkungsbreite; sie wurden in den Schriften Seuses u. Taulers, in Legendaren, Predigt- u. Exempelsammlungen, Beicht- u. Sündenspiegeln usw. rezipiert. Das Interesse an den Wüstenvätern überdauerte auch die Reformation: Luther veranlasste eine bereinigte lat. Ausgabe der V. durch Georg Major (1544), die 1604 ins Deutsche übersetzt wurde; ein Beispiel für die kath. Neurezeption ist die Ausgabe Rosweydes. In

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einer Auswahlbearbeitung aktualisierte Gottfried Arnold 1700 das Werk u. d. T. Vitae patrum oder das Leben der Altväter und anderer gottseeliger Personen; sie diente etwa Moritz’ Anton Reiser als Lektüre. Bis in die jüngste Zeit erfuhren v. a. die Verba seniorum immer neue dt. Übersetzungen. Ausgaben: Heribert Rosweyde (Hg.): Vitae patrum [...]. Antwerpen 1628. In: PL 73, 74. Viten des Hieronymus: PL 23, Sp. 17–62. Historia monachorum des Rufinus: PL 21, Sp. 387–462. – Karl Reissenberger (Hg.): Das Väterbuch. Bln. 1914. Nachdr. Dublin/Zürich 1967. – Ulla Williams (Hg.): Die Alemann. V. Tüb. 1992. Literatur: Karl Hohmann: Beiträge zum Väterbuch. Halle 1909. – Wolfgang Brückner: Das alternative Väterleben. In: Volkskultur u. Heimat. FS Josef Dünninger. Hg. Dieter Harmening u. Erich Wimmer. Würzb. 1986, S. 294–309. – Konrad Kunze, Ulla Williams u. Philipp Kaiser: Information u. innere Formung. Zur Rezeption der V. In: Wissensorganisierende u. wissensvermittelnde Lit. im MA. Hg. Norbert R. Wolf. Wiesb. 1987, S. 123–142. – Rüdiger Blumrich: Überlieferungsgesch. als Schlüssel zum Text [...]. In: Freiburger Ztschr. für Philosophie u. Theologie 41 (1991), S. 188–222. – U. Williams u. Werner J. Hoffmann: V. In: VL. – U. Williams: Vitae patrum. In: EM. Ulla Williams

in der deutschen Rechtschreibung

Auf dem neuesten Stand der amtlichen Rechtschreibregelung 2006 Mehr als 700 Infokästen erläutern die wichtigsten Änderungen

125 000 Stichwörter, darunter zahlreiche neue Wörter sowie häufig verwendete Eigennamen

Mit Empfehlungskästen bei Varianten für eine sinnentsprechende Schreibung Die deutsche Rechtschreibung 1216 Seiten, zweifarbig

Erschienen im Bertelsmann Lexikon Institut

für die deutsche Sprache

Das große Standardwerk der deutschen Gegenwartssprache

Mit 260 000 Stichwörtern, Anwendungsbeispielen und Redewendungen

Mit umfassenden Angaben zu Bedeutung und Herkunft der Wörter

Deutsches Wörterbuch 1728 Seiten, zweifarbig

Erschienen im Bertelsmann Lexikon Institut